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German Pages 334 Year 2018
Markus Gottschling Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Lettre
Markus Gottschling (Dr. phil.) ist Mitarbeiter an der Forschungsstelle Präsentationskompetenz am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. Schwerpunkte seiner Forschung sind neben Raum und Narration auch Wissenschaftskommunikation und die Rhetorik der Präsentation.
Markus Gottschling
Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur Subjekt und Raum bei Edgar Allan Poe und Christoph Ransmayr
Diese Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 2017 als Dissertation angenommen.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: VETLEBREEN, Norway, 2000, 157 x 237 cm, © Axel Hütte Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4329-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4329-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Einführung: Leere schaffen | 9
TEIL I: DIE RÄUME VON STILLSTAND UND BEWEGUNG 1
Stillstand und Bewegung: Die Dichotomisierung von Raum und Subjekt | 25
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Konzeptionen von Räumlichkeit zwischen Stillstand und Bewegung | 27 Eine dichotomisierte Debatte | 32 Der epistemologische Wert der Dichotomisierung | 39 Certeaus Raumtheorie der Bewegung | 46 Raum und Subjekt: Von Certeau zu Descartes und zurück | 49 Macht des Raums: Die Ideologien von Stillstand und Bewegung | 62
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Das Glatte und das Gekerbte: Am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung | 75
2.1 Das Glatte und das Gekerbte als räumliche Beschreibungsformationen | 79 2.2 Subjektformationen des Glatten und des Gekerbten | 87 2.3 Wege in die Schrift, Wege in die Literatur | 95 2.4 Vermischung und Differenz am Umschlagspunkt der Raumzustände | 103 2.5 Drei Überlegungen zur komplexen Differenz von Glattem und Gekerbtem | 108 3
Weiße Stellen: Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen | 121
3.1 Die Problematik des kerbenden Textes | 125 3.2 Stillstand und Bewegung als räumlich-textuelles Phänomen | 129 3.3 ›Spatial fictions‹: Literarischer Raum und die Bewegung des Subjekts | 135 3.4 Drei Untersuchungsebenen: Erzähler/Figur, Verloren Gehen, weiße Blätter | 144
TEIL II: IN DEN POLARGEBIETEN 4
Expeditionen ins Unbekannte: Karten, Reiseberichte, Polarliteratur | 155
4.1 4.2 4.3 4.4
Die Totenstarre des Raums und das Dispositiv der Entdeckung | 160 Papierexpeditionen: Karte, Reisebericht und der polare Konjunktiv | 172 Reiseberichte des Verschwindens: Das ›out-of-place element‹ | 180 Aneignung in Expedition und Literatur: Arktis und Antarktis | 185
5
Die Weiße des Papiers: Verloren Gehen in The Narrative of Arthur Gordon Pym | 209
5.1 Die Quellen und Mündungen des Romans | 212 5.2 »The appearance of truth«: Das Vorwort und die (Ent-)Plausibilisierung des Romans | 216 5.3 Bericht einer Reise in die eigene Subjektivität | 220 5.4 Die Vervielfältigung des Erzählens oder: Wer erzählt eigentlich wen? | 229 5.5 Tsalal, die Schrift und das Ich | 239 5.6 Verloren Gehen und Identitätsfindung auf einem weißen Blatt Papier | 246 6
Scheitern als Programm: Verloren Gehen in Die Schrecken des Eises und der Finsternis | 255
6.1 An der Geschichte mitschreiben: Romanstruktur und Erzählverfahren | 259 6.2 »Die Wirklichkeit ist teilbar«: Grundsätzliche Perspektiven und Aneignungen des Nordpolargebiets | 266 6.3 »Jeder berichtete aus einem anderen Eis«: Die Vervielfältigung der Wahrnehmung | 270 6.4 Ich ist eine Kompilation | 289 6.5 Die Produktivität des Scheiterns: Verloren Gehen im Ewigen Eis | 299 Schluss: Leere füllen | 307 Literatur | 315
Vorwort
Eine Dissertation entsteht niemals im leeren Raum einsamen Nachdenkens. Ohne die Unterstützung, die Hilfe und den Zuspruch Vieler wäre es mir nicht möglich gewesen, diesen Weg überhaupt und schon gar nicht erfolgreich zu gehen. Mein besonderer Dank gilt darum Prof. Dr. Dorothee Kimmich und Prof. Dr. Christoph Reinfandt für die Betreuung meiner Dissertation und ihre Unterstützung in Vorbereitung auf das Rigorosum. Ihre fachliche Offenheit, ihre konstruktiven Ratschläge, aber auch ihre Bereitschaft, mich meine eigenen Wege gehen zu lassen, haben diese Arbeit erst ermöglicht. Andreas Öffner, Elisabeth Häge, Caroline Merkel und Sara Bangert haben mich während des gesamten Prozesses begleitet. Von ihren Korrekturen, Anregungen und ihrer Kritik habe ich entscheidend profitiert. Für die zahlreichen Gesprächsund Leserunden möchte ich ihnen ebenso danken wie für all jene Momente, in denen die Dissertation nicht Thema war. Timo Stösser hat sich um das abschließende Korrektorat gekümmert, auch ihm sei herzlich gedankt. Dem Leiter der Forschungsstelle Präsentationskompetenz, Prof. Dr. Olaf Kramer, danke ich für sein Vertrauen und die Möglichkeit, mich neben der täglichen Arbeit an der Forschungsstelle einem anderen wissenschaftlichen Feld widmen zu können. Dem gesamten Team der Forschungsstelle, besonders Thomas Susanka, Carmen Lipphardt und Yvonne Wichan, gilt zudem mein Dank für ihr offenes Ohr und ihr kollegiales Entgegenkommen, gerade in der entscheidenden Phase. Meinen Eltern gebührt großer Dank für ihre unermüdliche Unterstützung, die mir Studium und Promotion erlaubt haben. Maria bin ich unendlich dankbar für ihre Geduld und Nachsicht in den letzten Jahren. Ohne deinen Glauben an mich wäre ich niemals so weit gekommen. Und schließlich ist Kolja maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich die Arbeit abschließen konnte. Danke! Tübingen, im Mai 2018
Einführung: Leere schaffen
Gewöhnlich beginnen Einführungen in diese Art literaturwissenschaftlicher Studien mit einem Auftakt zum Füllen einer Leere – einer Reflexion der zentralen Begrifflichkeiten oder einem historischen Ereignis, das den Leser medias in res ins Problembewusstsein führt.1 Diese Studie stellt nun, bevor sie eine Einführung in das Motiv des Verloren Gehens in der Literatur in Angriff nimmt, zunächst einen Begriff ins Zentrum, der im Verlauf nur mehr in Spuren aufgegriffen und verhandelt wird. Das hat seinen Grund: Es soll damit jene Leere erzeugt werden, die ein Füllen möglich, ja nötig macht, und so den Gegenstand der Untersuchung definieren. Denn das in dieser Studie untersuchte Verloren Gehen als Motiv der Verschaltung von Raum und Subjekt in Theorie und Literatur wäre weder denk- noch schreibbar ohne das Einfügen eines Spatiums. Dieses grenzt die beiden Konstituenten des Motivs voneinander ab und macht sie auf diese Weise zu Signifikanten eines Prozesses, der einen eigenschaftslosen, unüberblickbaren Zwischenraum erzeugt, dessen Ränder im besten Fall signalisieren, dass hier möglicherweise trotz einer elementaren Leere irgendetwas existiert, das darüber hinaus jedoch nicht weiter beschrieben, durchmessen und auserzählt werden kann – und das gerade darum ein Erzählen motiviert. Denn jeder Text, jede Beschriftung und jede Erzählung ist anzusehen als Versuch, eine Leere zu füllen, ein Kampf gegen den existenziellen horror vacui, den die weiße Seite des Papiers – und sei sie auch nur auf einem Monitor virtuell erzeugt – auslöst. Beschriftet ein Autor das Papier, so nimmt er dessen Raum für seine Geschichte ein, setzt Buchstaben und Wörter, um die Leere zu bannen. Zuweilen aber muss die Leere, die gefüllt werden soll, erst erzeugt oder gefunden werden, damit neue Literatur geschaffen werden kann. In einer epistemischen Verdopplung ist das spationierte Verloren Gehen als Erzeugen und Füllen der Leere sowohl literarischer Gegenstand, wie es auch als Metapher für ihre wissenschaftliche Methode dienen kann.
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer die weibliche Form mitgemeint.
10 | Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Der Begriff des Spatiums besitzt mehrere Bedeutungsebenen, die zunächst erschlossen und dann auf das in dieser Studie zu untersuchende Motiv des Verloren Gehens bezogen werden sollen: Als relevante Bedeutungsniveaus bestimmt werden können die schriftlinguistische sowie die typographische und, ausgehend von diesen beiden, die räumliche sowie, nochmals abstrahiert, die metaphorische und poetologische Ebene. Zunächst meint Spatium in seiner schriftlinguistischen Dimension den »Leerraum zwischen zwei Wörtern«,2 der einerseits als »syntaktische Sollbruchstelle«3 von Schrift dient und darüber auch die »›magische Macht‹« besitzt, Wörter als solche erst zu definieren:4 »Das Wort existiert also nicht per se, es erscheint nur im Text.«5 Spatien dienen somit einerseits der Abgrenzung, andererseits konstituieren diese Wortzwischenräume auch erst Buchstabensammlungen als Wörter. Zugleich erhält auch das Spatium selbst Bedeutung durch seine Umgebung; es wird als Zwischenraum erst wahrnehmbar durch die es umgebende Textfläche: Die »Bedeutung des Nichts wird durch seine Umgebung erzeugt«. In dieser Funktion als »Abgrenzungssignal« wird mit dem Spatium durch eine Differenzierungsoperation ein leerer Raum erzeugt, weil es als Nicht-Zeichen different ist von den Zeichen, die es umgeben. Dies erst macht Letztere zu semantischen Bedeutungsträgern. In der Typographie wiederum werden Spatien genutzt, um systematisch im Druckbild Leere zu erzeugen, sie sind Leerzeichen. Typographiehistorisch bezeichnen sie den Ausschluss, das heißt »nicht druckendes Blindmaterial im Bleisatz«, durch welches das Spationieren, »das Erweitern von druckendem Material im Handsatz, ermöglicht wird«. 6 Als solche sind sie ein Teil aller typographischen Elemente, die zusammen ein »diskursiv eingebundenes, konventionalisiertes semiotisches System auf der Textebene« bilden und somit die semiotische Repräsentation von Sprache darstellen. Spatien sind damit eingebunden in einen Prozess materieller Bedeutungsgebung: Indem sie im Zeichensystem eine Funktion repräsentieren, evozieren sie »kulturelles Wissen«, mit dem diese Funktion entschlüsselt, aber auch
2
Dürscheid/Spitzmüller: Schriftlinguistik, S. 308.
3
Ebd., S. 153.
4
Ágel/Kehrein: Das Wort, S. 6.
5
Dürscheid/Spitzmüller: Schriftlinguistik, S. 153.
6
Alle Zitate Fries: Spatien, S. 428, 409. Zur Reduktion der den Text unterbrechenden Fußnoten werden Nachweise gebündelt wiedergegeben: Lassen sich mehrere aufeinanderfolgende Zitate innerhalb eines Satzes oder Absatzes einem Text zuweisen, so erfolgt der Nachweis am Ende des das letzte Zitat enthaltenden Satzes und bezieht die vorausgehenden Zitate mit ein. Bei abweichender Seitenzahl werden die entsprechenden Stellen in der Reihenfolge ihres Auftretens wiedergegeben und können so zugeordnet werden.
Einführung: Leere schaffen | 11
aufgeladen werden kann.7 Deshalb kommt dem Spatium als gliederndem Wortabstand innerhalb der Druckzeile nicht nur eine Lesbarkeitsfunktion zu, es kann vielmehr auch als semiotisches Signal interpretierbare Wirkung zeitigen, etwa durch die Wahl der Weite eines Leerzeichens oder mittels seiner schieren Existenz.8 Um interpretiert werden zu können, ist jedoch spezifisches »›typographisches‹ Wissen« notwendig, das Spatium muss als Träger semiotischer Bedeutung zuerst erkannt werden.9 Eine solche bewusste Wahrnehmung des Spatiums als Träger semiotischer oder semantischer Bedeutung führt zurück auf den etymologischen Ursprung des Begriffs: In seiner Übersetzung bezeichnet das lateinische Wort ›spatium‹ einen Zwischenraum. Das Einfügen eines Spatiums als Differenzierungsoperation impliziert damit also auch die Erzeugung von Raum. Welcherart dieser Raum organisiert ist, ist dabei, wie sich im Verlauf der Studie zeigen wird, abhängig von den diesen Raum konstituierenden Subjekten und den Perspektiven, die sie auf ihn einnehmen. Allerdings ist mit dem lateinischen Begriff ›spatium‹ selbst bereits eine weitere Bedeutungsdifferenzierung aufgerufen, denn mit seinen etymologischen Nachfolgern, dem französischen ›espace‹ und dem englischen ›space‹ ist eben ein philosophisches Verständnis von Raum mitgedacht, das auf ein ›Dazwischen‹ abhebt und Bewegung im Raum fokussiert, währenddessen der deutsche Begriff ›Raum‹ eher auf eine gegebene Stätte, eine Verortung und damit eine Position im Raum verweist. Mit diesen beiden Konzeptionierungen von Räumlichkeit aufgerufen ist die raumtheoretische Frage, wie Raum nun eigentlich zu begreifen, zu denken und zu entwerfen sei. Diese Frage, die sich geradezu als Disput um das Verständnis von Räumlichkeit als ›Raum‹ respektive ›espace‹ realisiert hat, stellt eine wesentliche Antriebskraft jener Renaissance von Raumtheorien dar, die seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort ›spatial turn‹ zusammengefasst werden. Dabei verweist die Differenzierungsoperation der Raumkonzeptionierung in ›Raum‹ und ›espace‹ grundsätzlich auf eine Verschaltung von Raum- und Subjektkonstitution, die im Laufe der vorliegenden Studie mithilfe einer heuristischen Dichotomie der Begriffe Stillstand und Bewegung erschlossen wird. Während nun der Begriff des ›spatium‹ aufgrund seiner etymologischen Nähe in diesem Verhältnis eher der Bewegung zugeordnet scheint – was diese Studie insofern aufgreift, als die im Verlauf herangezogenen Theorien ebenfalls diese ›Seite‹ der Dichotomie privilegieren –, sollte dennoch zunächst festgehalten werden, dass das Spatium als Erzeugung von Raum gewissermaßen eine ›doppelte Artikulation‹ erlaubt: So lässt es eine Perspektivie-
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Beide Zitate Spitzmüller: Typographisches Wissen, S. 464. Sofern nicht anders angegeben sind Hervorhebungen immer im Original vorhanden.
8
Vgl. Willberg/Forssman: Lesetypographie, S. 79; Fries: Spatien, S. 427f.
9
Spitzmüller: Typographisches Wissen, S. 470.
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rung seiner jeweiligen Konstituenten zu, sowohl der Position als auch des Dazwischen – und das schließt nicht nur die ›räumliche‹, sondern auch die semantische und semiotische Bedeutungsebene des Spatiums mit ein.10 Ebenso eingeschlossen in die doppelte Artikulation des Spatiums sind auch jene Räume, die narrativ und metaphorisch erzeugt werden und sich als semantische Repräsentationen in Literatur zeigen. Wie das Spatium in der linguistischen und typographischen Dimension, so muss Raum in der Literatur auch als etwas Nichtgegebenes angenommen werden – zuvorderst ist hier an Stéphane Mallarmés Langgedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard zu denken, das den typographischen Weißraum zum elementaren Teil der Bedeutungskonstitution macht. 11 An Mallarmés Würfelwurf zeigt sich, dass Raum in der Literatur also nicht nur als Handlungsort erzeugt wird, sondern selbst Bedeutungsträger ist, was ihn zu einem poetologischen Element macht: »Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im [literarischen] Raum eine konkret anschauliche Manifestation.«12 Gleichzeitig ist jedem Narrativ grundsätzlich eine »›spatial form‹« zu eigen, die durch Techniken wie Fragmentierung, Montage und Gegenüberstellung mehr oder weniger stark betont werden kann.13 Zudem besitzt Literatur auch einen raumsemiotischen Aspekt: Das Spatium als Leerzeichen kann sich typographisch in der Semiotik des Textes zeigen und mit Bedeutung aufgeladen werden: Auf diese Weise hervorgehoben ist die Materialität ästhetischer Kommunikation – und das meint sowohl den Druck und damit das Schriftbild als auch die Abwesenheit von Text, jene unbeschriebenen Räume, die als semiotische Aussparungen in die Raumsemantik hineinwirken. Mit solcherlei raumsemantischem wie raumsemiotischem ›Spationieren‹ als Signifikant des Dazwischen ist weniger eine Abwesenheit von Raum bezeichnet als eine Abwesenheit von etwas oder jemandem im narrativen Raum. In die Narration hineinwirkende Spatien zeigen als leere Zwischenräume die Unsicherheit über die Position und damit auch über die Existenz von sich in ihnen befindlichen Subjekten. In der Literatur werden solche Subjekte häufig in einem Diskurs des Verschwindens verhandelt und als verschollene, verlorene und gelegentlich auch zurückgekehrte oder wiedergefundene Figuren thematisiert. Die Literaturgeschichte bietet einen reichen Fundus an solchen Verschollenen, vom mittelalterlichen Odysseus in Dante Alighieris Göttlicher Komödie über die Verschollenen der Neuzeit und Moderne, wie Washington Irvings Rip van Winkle, Max Frischs Stiller oder des Ich-Erzählers in
10 Zum Begriff der doppelten Artikulation vgl. Teil I, Kap. 1, S. 82 in dieser Arbeit. 11 Vgl. Mallarmé: Un coup de dés. 12 Hallet/Neumann: Raum und Bewegung, S. 11. 13 Ryan: Space, S. 424.
Einführung: Leere schaffen | 13
Wolfgang Hildesheimers Masante, bis hin zu Figuren in postmodernen Konstellationen des Verschwindens wie in Mark Z. Danielewskis House of Leaves, Paul Austers New York Trilogy oder Jonathan Lethems Chronic City. Auch wenn die Literaturwissenschaft nur zögerlich dieses Feld zu untersuchen beginnt, so ist das Verschwinden von Figuren dennoch als grundsätzlicher Topos der Literatur zu begreifen; zu einem explizit räumlichen Phänomen wird es, wenn der Text das Verschwinden als Spatium realisiert. 14 Solcherart die Verschwundenen aufnehmende Spatien stellen »Wahrnehmungsstörungen« derjenigen dar, die versuchen, sich ihrer Autorität über den Text zu versichern.15 Sie sind literarische Leerstellen, hermeneutische Imperative, die zunächst ihre Erzähler und im Anschluss auch den Leser zu einem interpretativen Akt herausfordern: »Der leere Raum wird zum Ort potentieller Bedeutungsgenerierung«. Insofern verkörpert die Leere des bedeutungsaufgeladenen Spatiums im Narrativ das »Skandalon« des horror vacui.16 Das Verlorengehen von Figuren als Erzeugen eines narrativen Spatiums äußert sich als Katastrophe im und für den Text; es bedroht sowohl die Existenz von Figuren als auch die des Textes selbst. Allerdings kann es auch als produktives Mittel des Erzählens verstanden werden: Wer verschwindet, erzeugt Leere und provoziert ein neuerliches Füllen dieser Leere. Das narrative Spatium verweist auf die Unauffindbarkeit des Subjekts und damit auf die Frage danach, was eigentlich mit Figuren passiert, die aus dem Text verschwinden und in die leeren Räume des Dazwischen eingehen. So absurd diese Frage zunächst klingen mag, so steht sie doch selbst im Zentrum jener Texte, die sich explizit mit dem Verschwinden von Figuren auf der Erzählebene auseinandersetzen. Wenn also im Folgenden das Verschwinden von Figuren in narrativen, in die Raumsemantik wie die Raumsemiotik ausgreifenden leeren Räumen als Motiv des Verloren Gehens bezeichnet wird, so greift bereits die Typographie jene Struktur auf, die die Texte selbst schaffen: Dem grammatikalisch korrekten »Verloren-
14 So beklagte Jochen Schimmang bereits 2003, dass das Verschwinden zwar von »herausragende[r] Bedeutung [...] in der neueren Literatur« sei, jedoch »selten [...] bemerkt worden [sei], welche große Rolle in der Literatur des zurückliegenden Jahrhunderts das Verschwinden in all seinen Variationen gespielt hat« (Schimmang: Verschwinden, S. 118). Dass Sascha Seilers 2016 erschienene Studie Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, die das Verschwinden als literarischer Topos detailliert untersucht, ebenso auf Schimmangs Zitat zurückgreift, um das Sujet überhaupt einleitend zu begründen, spricht deutlich für die Vernachlässigung, die das Thema auf wissenschaftlicher Ebene erfahren hat (vgl. Seiler: Anwesenheit, S. 13). 15 Frost: Whiteout, S. 28. 16 Beide Zitate Breuer: Empty Space, S. 25, 54; vgl. Wolfgang Isers Leerstellentheorie, die dieser etwa in Der Akt des Lesens erläutert.
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gehen« als Umschreibung des Verschwindens wird ein Spatium zwischengeschaltet. Auf diese Weise bezieht die Schreibweise Verloren Gehen gleichzeitig die oben herausgearbeiteten Bedeutungsebenen des Spatiums mit ein. So kann rekapituliert werden: Spatien dienen zur Abgrenzung und Differenzierung und zeigen Zwischenräume an, die doch nur in Abhängigkeit von ihrem sie konstituierenden Äußeren existieren. Zudem lassen sie sich als Nicht-Zeichen als Träger von Bedeutung im Sinne eines typographischen Wissens ausmachen, das sich im literarischen Text als Ausweißung zeigt, welche ihrerseits die Materialität des Papiers sichtbar macht – und damit auf die Faktur von Fiktion hinweist. Weil Spatien zudem selbst Räume bedeuten, können sie als Signifikanten unterschiedlicher Raumzustände sichtbar gemacht werden: als Raum zwischen zwei bedeutungstragenden Positionen einerseits, andererseits aber als Zwischenraum, der selbst Bedeutungsträger ist. Insofern sie eine solche Funktion einnehmen, ist es auch möglich, sie als poetologische Prinzipien im Text einzusetzen, als Leerstellen, die hermeneutische Imperative darstellen und Erzähler wie Leser aufrufen, sie zu füllen. Gleichzeitig signalisieren Spatien aber auch den horror vacui des Erzählens und regen die Reflexion darüber an, was es bedeutet, in Narrativen zu existieren und aus ihnen zu verschwinden. So kann das Spatium als Bedeutungsträger einer narrativen Operation begegnen, die nicht nur das Verschwinden der Subjekte in den narrativen Räumen der Polargebiete anzeigt, sondern auch seine eigenen Konstituenten betont. Damit sind nun die Bedeutungsebenen des Spatiums auf das es umgebende Motiv des Verloren Gehens übertragen. Als Verloren Gehen bezeichnet diese Studie eine spezifische narrative Situation im Verhältnis von Erzähler und Figur, ein die Konstitution von Raum und Subjekt verschaltendes Verschwinden von Figuren aus literarischen Texten, das in der Folge nicht nur eine narrative Reaktion der diese Figuren erzählenden Subjekte erzeugt, sondern die Selbstreferentialität des Narrativs selbst anzeigt – und in letzter Konsequenz auch den verloren gehenden Subjekten selbst literarische Handlungsmacht verleiht. Dabei spielt das Spatium als Zwischenraum zwischen Verloren und Gehen eine zentrale Rolle; es dient der Abgrenzung und Differenzierung der es umschließenden Termini und erzeugt die Begriffe Verloren und Gehen als eigenständige Konstituenten eines zusammenhängenden Motivs: Verloren sind jene literarischen Subjekte, die im Verlauf von Texten verschwinden, damit für ihre Erzähler unwahrnehmbar werden und nicht mehr aufgefunden werden können. Dieser Verlust aber bedeutet in den hier untersuchten Texten sowohl ein Scheitern als auch einen doppelten Gewinn: Zuerst verlangt das Erzeugen eines Spatiums durch einen Verlorenen nach einer Sinngebung dieses Verschwindens und das heißt: nach einem erneuten Text. So produziert jenes das Verschwinden der Figuren anzeigende Spatium selbst ein Narrativ. Zugleich markiert dies aber auch eine Katastrophe für das Erzählen, denn die verschwundenen Figuren werden eben nicht wieder aufgefunden. Sodann aber stellt auch dies einen Ge-
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winn dar – und zwar für die Verlorenen selbst. Deren Verschwinden, so lautet die im Verlauf der Studie zu überprüfende These, bedeutet nichts anderes als den Eintritt in den Zwischenraum, ein Gehen, das eine andere Konstitution des Raums – und, wie sich zeigen wird, auch der eigenen Subjektivität – anzeigt. Denn dieses Gehen verweist auf eine subjektive Perspektivierung von Raum als Bewegung im Dazwischen. So wird das Gehen im Verlauf der Studie als Erschaffung eines Raums ersichtlich mit der Konsequenz, dass der Gehende selbst nicht mehr wahrgenommen werden kann, was ihn im Umkehrschluss für die Beobachterposition des Erzählers – und in der Konsequenz auch des Lesers – zum Verlorenen macht. Infolgedessen wird das Spatium dieser Studie zum Signifikanten der Anerkennung der Existenz des verloren gehenden Subjekts selbst. Dies erklärt auch die weitgehende Verwendung des Motivs im Präsens: Nur für Erzähler, die die durch die Verloren Gehenden geschaffenen Leerstellen füllen wollen, die sie erzählend zurückholen möchten, die sie lesend im Zwischenraum suchen, werden die Subjekte zu Verloren Gegangenen; sie selbst müssen als Verloren Gehende verstanden werden. Damit sind auch die narrativen Konsequenzen des Verloren Gehens bezeichnet, die, so eine weitere These der Studie, sich am besten in jenen literarischen Räumen beobachten lassen, die den Spatien als weiße, papierne Zwischenräume gleichen: in den Polargebieten. Als unzivilisierte und unzivilisierbare Eisräume stellen Arktis und Antarktis selbst glaziale geographische Spatien dar und sind zugleich stumme Zeugen einer jahrhundertealten Historie von – immer wieder an den unwirtlichen Bedingungen scheiternden – Aneignungsversuchen des Menschen. Die narrative Verarbeitung solcher scheiternden Aneignungsversuche führt über das Motiv des Verloren Gehens auf die Frage nach den Bedingungen einer Existenz im leeren (Zwischen-)Raum von Polargebiet und Papier. In der Engführung von Papier und leerem Raum eingeschlossen ist die Selbstreferentialität der Literatur, eine Kommentarfunktion, die die Bedingungen des Erzählens als einer Form der Aneignung thematisiert. Texte, die das Verloren Gehen verhandeln, schreiben die Aneignung fort, sind aber auch dazu imstande, diese zu reflektieren, kommentieren und kritisieren. Auf diese Weise produziert das Verloren Gehen neue Erzählungen, neue Texte, die darüber hinaus in der Lage scheinen, dieses Fortschreiben infrage zu stellen. Auf welche Weise und mit welcher Konsequenz eine solche Infragestellung narrativ bewerkstelligt wird, werden die Analysen der Polargebietsliteratur en détail klären. Grundsätzlich aber, so wird sich im Verlauf der Studie schnell zeigen, stellt sich das Verloren Gehen als komplexes Verhältnis von Figur und Erzähler dar, welches sich auf raum- und subjektphilosophische Theorien beziehen lässt. Und mehr noch: Mit dem Verloren Gehen literarischer Figuren in den Polargebieten wird dem Verständnis von Raum eine Komplexität zurückgegeben, die in der theoretischen Abstrahierung entzogen worden war und die ihrerseits in einem spezifischen gegenseitigen Bezug von Raum und Subjekt zum Tragen kommt – als Ver-
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hältnis von Stillstand und Bewegung. Gemäß dem Zusammenhang von Theorie einerseits und literarischer Kompensation andererseits erfolgt die Argumentation in zwei Teilen: Der erste, theoretisch-methodologische Teil bündelt die abstrakten raumtheoretischen und subjektphilosophischen Grundlagen und überführt sie in eine literaturanalytische Methodologie. Im zweiten Teil schließlich erfolgt die Analyse des Verloren Gehens nach dieser Methodologie im Diskurs der Polargebietsliteratur. Das Verloren Gehen geht zurück auf spezifische Praktiken der Subjektivierung durch Perspektivierung, also den Blick auf – und auch das Verhalten im – Raum. TEIL I: DIE RÄUME VON STILLSTAND UND BEWEGUNG widmet sich den theoretischen und methodologischen Grundannahmen, die diese Praktiken raumphilosophisch durchdringen Unter die Begriffe ›Stillstand‹ und ›Bewegung‹ subsumiert werden im ersten Kapitel Stillstand und Bewegung: Die Dichotomisierung von Raum und Subjekt zunächst theoretische Konzeptionen, die sich mit der Konstitution, Wahrnehmung und Repräsentation von Räumen auseinandersetzen. Diese bereits oben angeklungene Einteilung der theoretischen Konzepte greift eine Struktur auf, die sich schon in den Theorien findet, weitet sie aber zu einem methodologischen Prinzip aus: Stillstand und Bewegung sind als dichotome Pole der Konzeption von Räumlichkeit zu begreifen. Als Dichotomie schließen die jeweiligen Raumzustände sich gegenseitig aus; ein Raum wird also entweder durch den Stillstand konstituiert oder durch Bewegung. Gleichzeitig, so wird die Argumentation zeigen, ist die philosophische Methode einer programmatischen Dichotomisierung auch immer durch eine Hierarchisierung geprägt: Mal ist Entweder besser als Oder, mal umgekehrt – nie jedoch können beide als gleichwertig angesehen werden, sonst ergäbe sich eben keine Dichotomie. Grundsätzlich nähert sich die Studie der Dichotomie von Stillstand und Bewegung und ihren Hierarchisierungen nun über Theorien, die den Pol der Bewegung priorisieren. Dies liegt einerseits deswegen nahe, weil mit dem Verloren Gehen ein literarisches Motiv beschrieben ist, das, wie zu zeigen sein wird, eine Explizierung der Raumkonstitution durch Bewegung in der Literatur darstellt. Andererseits erscheint es zudem leichter, jene kritikwürdigen Aspekte herauszuarbeiten, die der Dichotomie als Methode inhärent sind und als strukturelle Hierarchisierungstendenzen nicht nur von den Raumtheorien der Bewegung kritisiert, sondern von diesen zudem auch wiederholt wurden. Diese Vorbehalte gegenüber spezifischen Hierarchisierungstendenzen lassen sich generalisieren als Vorbehalte gegenüber der Methode der Dichotomisierung an sich. Daher wird die Dichotomie zwar zunächst genutzt, um das Feld zu systematisieren, anschließend aber sollen Stillstand und Bewegung, spätestens mit den literarischen Analysen, in ein produktives Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit überführt werden: Das Verloren Gehen wird sich als Motor von Erzählung aus den leeren Räumen der Polargebiete erweisen.
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Um dieses Verhältnis vorzubereiten, wird im Verlauf der ersten zwei Kapitel eine weitere Verbindung hergestellt: Stillstand und Bewegung sind als Formen der Konstitution von Raum an Perspektivierungen eines Subjekts gebunden, das sich zum Raum in Beziehung setzt. Dabei geht die Studie von einem raumkonstruktivistischen Ansatz aus, der Raum nicht nur als vom Menschen produziert begreift, sondern auch annimmt, dass die Konstitution des Raumes Auswirkungen auf das Subjekt zeitigt. Die spezifische Perspektive, die das Subjekts wählt, wird dabei mit den Überlegungen Michel de Certeaus zum entscheidenden Kriterium für die Konstitution des Raums: Das Subjekt eignet sich den Raum entweder über eine Position des Stillstands als ›Überblickssubjekt‹ an oder es ordnet sich dem Raum unter, indem es sich in ihm als ›Fußgängersubjekt‹ bewegt. An der Art der Konstitution des Raums jedoch lassen sich Subjektivierungspraktiken ablesen, die auch dann sichtbar werden, wenn das Subjekt selbst nicht in den Blick genommen werden kann, wenn es verloren geht. Was nun aber mit dem Subjekt am Übergang der Raumzustände passiert, wird im zweiten Kapitel Das Glatte und das Gekerbte: Am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung anhand der raumtheoretischen Ansätze von Gilles Deleuze und Félix Guattari erläutert. Zwar lassen sich auch das Glatte und das Gekerbte und die ihnen untergeordneten Subjektivierungsformen der Nomaden und der Sesshaften als dichotome Raumkonzeptionen von Bewegung und Stillstand begreifen, jedoch kann mit Deleuze und Guattari der Fokus auf die Übergänge zwischen beiden Raumformationen gelegt werden. So wird im Verlauf des Kapitels gezeigt, dass Räume durch unterschiedliche Perspektivierungen gleichzeitig gekerbt und glatt erscheinen können, also Stillstand und Bewegung eine ›Gleichräumlichkeit‹ aufweisen können. Zudem sind mit den Überlegungen von Deleuze und Guattari die Übergänge markiert, durch die das Subjekt seine Perspektive auf den Raum, folglich dadurch diesen und in der Konsequenz auch sich selbst aktualisiert: Aus Stillstand wird Bewegung und umgekehrt, weil auch glatte Räume gekerbt werden können und gekerbte Räume am Ende ihrer Einkerbung glatte Räume entstehen lassen. Es gibt also einen Umschlagspunkt zwischen den Raumzuständen, der die Räume und die sie konstituierenden Subjekte miteinander in ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit setzt. Zu diesen Überlegungen tritt im Verlauf des Kapitels noch eine weitere, die von der raumtheoretischen zu einer literaturtheoretischen Betrachtung führt: Literatur ist auch deshalb immer räumlich, weil sie sowohl semiotisch wie perspektivisch immer eine Kerbung darstellt. Der gedruckte Text ist selbst als Beschriftung von leerem Papier eine Kerbung und versetzt sowohl den Autor wie auch, in dessen Nachfolge, den Leser in die Position des den Raum überblickenden Subjekts. Das Verhältnis von Stillstand und Bewegung als Gleichräumlichkeit von Glattem und Gekerbtem führt im dritten Kapitel Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen schließlich zu der Frage, ob im gekerbten Raum der Literatur so etwas wie ein Er-
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zählen aus der Bewegung – ein glattes Narrativ – existieren kann. Mit Überlegungen zur Übertretung von Grenzen im Text wird diese Frage auf der Ebene der Figurenbewegung etabliert. Grenzübertretende Figuren haben, so die Argumentation dieses Kapitels, nicht nur Auswirkungen auf die Handlung sondern vielmehr auch auf die räumliche Gestaltung von Text. Sie übertragen die Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung in die Raumsemantik und Raumsemiotik. Texte, die solch eine Art Umgang mit dem Raum pflegen, können als ›spatial fictions‹ bestimmt werden.17 Wie sich zeigen wird, stört und verunsichert die Bewegung des Subjekts die Räumlichkeit von Texten, es kommt zu Abbrüchen, Um- und Überschreibungen: Die Texte scheitern an sich selbst. Solcherlei das Scheitern des Erzählens verhandelnde Texte weisen notwendigerweise eine selbstreflexive Dimension auf, sie kommentieren ihre eigenen Erzählbedingungen, weil ihr Erzählen auf eine räumliche Aktualisierung reagieren muss und so die Herstellung von Stillstand infrage gestellt wird. Daraus folgert die Studie drei Ebenen der Analyse von ›spatial fictions‹, mit denen das Verhältnis von Stillstand und Bewegung angemessen verdeutlicht werden kann: Erstens lässt sich dieses Verhältnis als Raum und Subjekt affizierende Perspektivierung dann adäquat untersuchen, wenn das Narrativ im Verhältnis von Erzähler und Figur den Umschlagspunkt aufgreift und selbstreflexiv wird, wenn also die Bedingungen und Beschränkungen positionellen Erzählens durch die Bewegung der Figur problematisiert werden. Zweitens kann diese Problematisierung als Verloren Gehen von Figuren verstanden werden, was auch die Reaktion der Erzähler, ihre Versuche, der verschwundenen Figuren narrativ wieder habhaft zu werden, in den Fokus rückt. Das Verloren Gehen wiederum hat drittens Rückwirkungen auf die Textgestalt, die Raumsemiotik. Aufgerufen ist mit ihm das Spatium, das der Verloren Gehende im Text hinterlässt und dessen Bedeutung nun für die Analyse zugänglich wird: Der Raum des Verloren Gehenden wird abgebildet in der realen wie metaphorischen Weiße des leeren Raums: Das glatte Erzählen des Verloren Gehens erzeugt eine unwahrnehmbare Bewegung in der Materialität des Papiers. Umgekehrt stellen die Romane, die vom Verloren Gehen berichten, Reisen auf den weißen Grund der Seite dar. Um anschließend an die theoretisch-methodische Grundlegung das narrative Verloren Gehen als Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung zu analysieren, blickt die Studie in TEIL II: IN DEN POLARGEBIETEN auf (literarische) Räume, in denen der Umschlagspunkt besonders deutlich zum Tragen kommt: die Polargebiete der Arktis und Antarktis. Dabei wird zunächst in Kapitel eins, Expeditionen ins Unbekannte: Karten, Reiseberichte, Polarliteratur, ein seit der frühen Neuzeit wirksames ›Dispositiv der Entdeckung‹ aufgezeigt, dessen Einfluss auf die Entde-
17 Vgl. Hallet: Fictions of Space.
Einführung: Leere schaffen | 19
ckung und Aneignung unbekannter Territorien sich auch im Bereich der Expeditionen in die Polargebiete und bis in die heutige Polarliteratur auswirkt. In diesem Dispositiv der Entdeckung verschaltet sind expeditive Entdeckungsfahrt, Kartographie, Reisebericht und fiktionale Literatur, die sich gegenseitig beeinflussende Stufen von geographischer, ökonomischer, semiotischer oder ästhetischer Aneignung darstellen. In den Karten und Berichten von Expeditionen, aber auch in den fiktionalisierten Abenteuergeschichten und den Expeditionen selbst zeigen sich die Auswirkungen der Aneignungen als Imaginationsleistungen, die einen semiotischen Überschuss erzeugen und als ›kartographische Imagination‹ oder als ›polarer Konjunktiv‹ bestimmt werden können: Karten und Berichte überschreiten die realen Expeditionen, indem sie sie imaginativ erweitern, Länder, Seewege, Erlebnisse hinzudichten; diese Überschüsse wiederum haben Rückwirkung auf neue Expeditionen, die zum Beweis imaginierter Topographien in immer entlegenere Gebiete ausziehen. 18 Bedeutsam für die vorliegende Untersuchung ist nun, dass ein solcher Überschuss nicht nur in der Produktion imaginativer Karten und Texten auftritt, sondern gerade auch im Tilgen von Elementen nachgewiesen werden kann: Als ›out-of-place elements‹ bestimmt Certeau solche textuellen Verschiebungen und Auslöschungen, die durch eine Kompilation von Reiseberichten und Karten entstehen.19 Entscheidend allerdings ist nun die Erweiterung von Certeaus Begriff auf die verloren gehenden Figuren der ›spatial fictions‹: Werden diese selbst als ›outofplace elements‹ begriffen, so kann ihr Verschwinden als Auslöser von Erzählung verstanden werden, einer wiederholten Aneignung, die doch scheitern muss, weil die Figuren selbst verloren bleiben. So ergibt sich ein narratives Paradox, das das Erzählen wiederum selbstreferentiell werden lässt und auf seine Möglichkeiten und Begrenzungen zurückverweist: Subjekt und Raum werden im Narrativ zu Konstituenten von scheiternder Erzählung und schaffen zugleich die Grundlage, das Verhältnis von Stillstand und Bewegung im Rahmen des Literarischen neu zu priorisieren. In den Polargebieten der Literatur nun zeigt sich das narrative Paradox erzählenden Scheiterns als eine die Bedingungen historischer Expeditionen wiederholende Aneignungspraxis. Denn die Geschichte der Polargebiete ist voll von scheiternden Expeditionen, die sich an der Eroberung der Leere versucht haben. Die Polargebiete firmieren so als Projektionsflächen, von denen höchste Faszination ausgeht, gerade weil sie nicht vollständig erobert und zivilisiert werden können. Die literarischen Adaptionen wiederholen die Subjektivierungsstrategien des Stillstands; sie reisen auf den Spuren der Entdecker und Eroberer, aber sie kartieren und benennen
18 Vgl. Dünne: Imagination; Felsch: Petermann. 19 Vgl. WtS, S. 142. Die am häufigsten zitierten Werke werden durch Siglen abgekürzt und zu Beginn des Literaturverzeichnisses nachgewiesen.
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aus einer statischen Position, sie nehmen ein und eignen an. Dabei ist es die absolute Spurlosigkeit der Polargebiete, die es den Texten erlaubt neue Spuren zu legen und Grenzen zu überschreiten. Mithilfe des Urtextes der Nacherzählung scheiternder Polarexpeditionen, Dantes Odysseus-Geschichte, wird dieses Prinzip rückgekoppelt werden an die Subjektivierungspraktiken menschlicher ›curiositas‹: Das Überschreiten der letzten Grenze führt zu einem Verschwinden als Erzeugung eines leeren Raums, das wiederum Nachfahrer auf den Plan ruft, die den verstummten Überschreiter, den Verloren Gehenden, wieder zurück in den Text holen und somit den leeren Raum füllen möchten. Weil dies aber nur imaginativ, als Projektion gelingen kann, bleiben die Verloren Gehenden selbst im glatten Raum der literarischen Polargebiete zurück, die Räume ihrer Subjektkonstitution sind die weißen Zwischenräume des Papiers, die darum die Wahrnehmung der Erzähler und Leser stören und das Narrativ entplausibilisieren. Sie sind Orte, die stattdessen die Selbstreferentialität des Erzählens aufzeigen, weil sie dessen Bedingungen gleichzeitig affirmieren und negieren. Mit Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym und Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis werden im zweiten und dritten Kapitel des zweiten Teils schließlich zwei für diese Struktur paradigmatische Texte auf ihren Umgang mit dem Verloren Gehen ihrer Figuren untersucht. Pym, so wird zu zeigen sein, dient der Verlust seines Protagonisten und Erzählers als Ende einer scheiternden Reise zum Selbst, eines Scheiterns, das dennoch als ein Gewinn gelesen werden kann. Denn zwar beendet Pyms Verloren Gehen in der Weiße des Papiers den Text, doch erzeugt gerade dies eine Leerstelle, die eine Vielzahl von Interpretationen und literarischen ›Nachfahr(t)en‹ auf den Plan ruft.20 Pym selbst dagegen verbleibt im weißen Raum der Antarktis, seine Rückkehr in den weißen Raum der Schrift kann als Konstitution eines Subjekts gedeutet werden, das die Literarisierungsstrategien des Dispositivs der Entdeckung nicht wiederholt. Ransmayrs Roman wiederum reiht sich in die Nachfahr(t)en Pyms ein, folgt einer ähnlichen Struktur und geht doch zunächst ganz anders mit seinen Quellen um: Er legt sie offen, führt eine postmoderne Dekonstruktion des polaren Heldentums durch und etabliert das Scheitern als Programm. Das Schreibprinzip des Erzählers ist das einer imaginativen Rekonstruktion: Multiperspektivisch vermischt er dokumentarische Fakten mit die Realität überschreitenden Vorstellungswelten. Als Resultat werden die Wahrnehmungen vervielfältigt und spiegeln so eine Struktur, die auch das Erzähler-Ich selbst als Kompilation erweist. Das Verloren Gehen ist darum einerseits nur ein Scheitern der imaginativen Rekonstruktion, andererseits stellt es den Sieg eines glatten, unwahrnehmbaren Erzählens über die stillstellende Erzählung dar.
20 Zum Begriff der Nachfahr(t)en vgl. Bay/Struck: Vorwort.
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*** Anliegen dieser Einführung war es, jene Leere zu beschreiben, in der die Notwendigkeit einer Untersuchung des Verloren Gehens fiktionaler Figuren aus der theoretisch-abstrakten Beziehung von Raum und Subjekt ersichtlich wird. Soll diese Leere nun im Folgenden durch die Studie gefüllt werden, so ist auf epistemologischer Ebene eine Reihe von zentralen Fragen zu stellen und von Thesen zu überprüfen. Erstens: Stillstand und Bewegung stehen als theoretische Abstraktionen von Raumund Subjektkonstitution in einem dichotomen Verhältnis. Was aber bedeutet ein Aufstellen respektive Nachvollziehen dieser Dichotomie für die Konzeption von Räumlichkeit und Subjekt? Welche Folgen hat eine solche Dichotomisierung in Bezug auf das menschliche Verständnis von Raum? Zweitens: Praktiken subjektiver Perspektivierung sind verantwortlich für die Gleichräumlichkeit von Stillstand und Bewegung, weswegen es dem Subjekt möglich ist, Raum – und damit auch: sich selbst – zu konstituieren beziehungsweise sein Verhältnis zum Raum über die Veränderung seiner Perspektive zu aktualisieren und verloren zu gehen. Wie lässt sich ein für das Verloren Gehen notwendiger Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung methodisch fassbar machen? Welche Konsequenzen zeitigt eine solche Veränderung für Subjekte und, besonders in der Literatur, ihre Beobachter? Drittens: ›Spatial fictions‹ – und besonders die der Polarliteratur – sind als Untersuchungsobjekt für die Konsequenzen des Verloren Gehens deshalb geeignet, weil sie die räumliche Subjektivierung durch Bewegung als Störung des Texts inkorporieren. Auf welche Weise zeigt sich der Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung in literarischen Texten? Welche Folgen haben die Aneignungspraktiken und Imaginationsleistungen des Dispositivs der Entdeckung für die in literarischen Texten handelnden Figuren und Erzähler? Viertens: Durch Verschiebungen und Imaginationsleistungen werden Figuren als Verloren Gehende erzeugt; anhand dieser Operationen begründen sich Texte nicht nur selbst, sondern treffen auch selbstreferentielle Aussagen über die Bedingungen des Erzählens und stellen gar ihre eigene Praxis der Raum- und Subjektkonstitution durch Stillstand infrage. Inwiefern ist es daher möglich, eine literarische Struktur zu konzipieren, die eine die Literatur selbst bedrohende Bewegung gegenüber der Stillstellung durch Erzählen priorisiert? Welche Aussagen über ihre eigenen Entstehungsbedingungen treffen Texte, die das Erzählen selbst infrage stellen? Diese Thesen und Fragen gilt es zu entwickeln, zu bedenken, zu verhandeln und zu beantworten, wenn nun das Füllen der Leere in Angriff genommen werden soll.
TEIL I: Die Räume von Stillstand und Bewegung
I got space and space got me I should be selling it by the pound The Jesus and Mary Chain: Snakedriver
1 Stillstand und Bewegung: Die Dichotomisierung von Raum und Subjekt
Die Entwicklung des raumtheoretischen Diskurses in den letzten Jahrzehnten – die gerne unter dem Schlagwort ›spatial turn‹ zusammengefasst wird und die Abkehr von der Zeit als epistemologischer Leitkategorie hin zum Raum meint – ist geprägt durch ein Verständnis von Räumlichkeit, das sich am ehesten anhand von Dichotomien und Dualismen beschreiben lässt.1 Was Raum meint und wie er zu verstehen und zu analysieren sei, wird nicht nur auf der Ebene wissenschaftlicher Debatten mithilfe dualistischer Begriffspaare wie ›Raum‹ und ›espace‹ oder ›Topographie‹ und ›Topologie‹ geführt und also über Dichotomisierungen heuristisch erschlossen. In vielen innerhalb dieser Debatten aufgegriffenen raumtheoretischen Grundlagentexten lässt sich wiederum dieselbe dichotomisierende Heuristik als Ordnungsstruktur der jeweiligen Raumkonzeptionen erkennen: So spricht Michel de Certeau von ›Sehen‹ und ›Gehen‹ als einander entgegengesetzten Praktiken der Raumaneignung, Tim Ingold entwickelt sein raumtheoretisches Linienkonzept anhand oppositionärer ›Fußgängerlinien‹ und ›Transportlinien‹ und Jurij M. Lotman verhandelt in seiner Semiosphärentheorie den Gegensatz von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹. Und auch wenn Gilles Deleuze und Félix Guattari innerhalb ihrer Überlegungen zum Raum unaufhörlich betonen, dass es sich im Falle ihrer Dichotomisierung nur um eine theoretische Setzung handelt, so kann ihre Einteilung des Raums in die Raumzustände ›glatt‹ und ›gekerbt‹, doch unproblematisch in eine Beziehung zu den dichotomen Begriffspaaren Certeaus, Ingolds oder Lotmans gesetzt werden.2 Denn alle diese Unterscheidungen, so werden die Ausführungen in diesem metho1 2
Zur Beziehung von Zeit und Raum vgl. Anm. 9. Alle diese raumtheoretischen Arbeiten bilden die Grundlage für die vorliegende Studie. Certeau und Ingolds Überlegungen zum Raum werden im Verlauf dieses Kapitels analysiert, Deleuze und Guattaris Konzept des Glatten und des Gekerbten ist das ausschließliche Thema des nächsten Kapitels, Lotmans Semiosphärentheorie schließlich ist Teil der Analysen von TEIL I, Kap. 3 Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen.
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dischen Teil der Studie zeigen, lassen sich zurückführen auf eine dieser Studie als raumtheoretische Leitdichotomie dienende Einteilung in die Begriffe ›Stillstand‹ und ›Bewegung‹. Als Dichotomie erweist sich das Begriffspaar von Stillstand und Bewegung sowohl hinsichtlich der Raumwahrnehmung als auch der Raumkonstitution. Zudem ist mit der Konstitution von Raum auch die Perspektive des Subjekts und damit dessen eigenes Selbstkonzept angesprochen. Die Raumkonstitution über Stillstand und Bewegung lässt immer auch Rückschlüsse zu auf die Konstitution des den Raum wahrnehmenden Subjekts. So wird sich im Laufe der methodischen Arbeiten dieses Teils Raumwahrnehmung als Raumkonstitution zeigen, die ausgelöst ist durch die Perspektive des Subjekts und die ihrerseits ebenso Auswirkungen auf die Konstitution des Subjekts zeitigt. In dieses Verhältnis von Raum und Subjekt eingebunden sind auch ideologische Wertungen, die sich sowohl auf die räumliche Verfassung als auch auf die Subjektkonstitution durch Raumwahrnehmung beziehen lassen – und die als Grundlage für bestimmte Priorisierungen zugunsten einer Seite der Dichotomie von Stillstand und Bewegung dienen. Dies allerdings macht die Dichotomie zu einer grundsätzlich problematischen Methode des Erkenntnisgewinns. Wenn nun aber im Folgenden die Leitdichotomie von Stillstand und Bewegung entwickelt und diskutiert wird, so besteht ihr Vorteil nicht nur darin, mit spezifischen dichotomischen Begriffspaaren strukturell identifizierbar zu sein – so wird sich beispielsweise das ebenfalls von Certeau eingebrachte Gegensatzpaar von ›Karte‹ und ›Route‹ zuordnen lassen, wobei ›Route‹ der Bewegung, ›Karte‹ dagegen dem Stillstand gleicht – und so diese Raumtheorien hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Strategien der Subjektkonstitution und -kontextualisierung zu systematisieren; darüber hinaus wird eine solche Einteilung es auch ermöglichen, das Verhältnis von Raum und Subjekt als Triebfeder von Narration – genauer: von Erzählen und Erzählt-Werden – zu verstehen und entsprechend zum Ansatzpunkt einer Untersuchung literarischer Texte zu machen. Aufgerufen ist mit der Dichotomie von Stillstand und Bewegung nämlich ein textuelles Raumverständnis, welches Raumkonstitution mit Erzählung verknüpft; es wird in Kapitel 3 im Vordergrund stehen. So wird anhand der Dichotomie von Stillstand und Bewegung auch die narrative Konstruktion von und der Umgang mit Räumlichkeit durch Erzähler und Figuren greifbar, deren Subjektivitätserfahrungen an die Konstitution der literarischen Räume, die sie entwerfen bzw. in denen sie sich bewegen, gebunden zu sein scheinen. In diesem Sinne lassen sich auch diegetische Subjekte über ihre Erfahrung von Räumlichkeit über die Dichotomie Stillstand und Bewegung fassen. Innerhalb der Literatur, so soll die Untersuchung von fiktionalen Polarnarrativen in Teil II zeigen, kann dieser Zusammenhang für die Analyse des Verhältnisses von Figur und Erzähler produktiv eingesetzt und damit der Frage nachgegangen werden, was mit den Erzählern und den Figuren passiert, wenn sie sich unzivilisier-
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ten Räumen aussetzen, aus ihnen heraus erzählen und in ihnen verschwinden. Literatur kann die fragwürdige Dichotomisierung von Raum in der Gesellschaft unterlaufen. Erkennen lässt sich das jedoch nur, wenn man erst einmal die unterschiedlich dichotomisierenden Ansätze über die Dichotomie Stillstand/Bewegung systematisiert, um dann zeigen zu können, dass sie die literarische Verhandlung von Raum eben nicht erschöpfend erfassen. So sollen die Lektüren dazu dienen, dem ideologisch aufgeladenen und dadurch zum Teil holzschnittartig zugespitzten Modell der Raumdichotomien wieder mehr Profil zu geben und somit die dem Thema angemessene Komplexität wieder in den Diskurs um die wechselseitige Konstitution von Raum und Subjekt einzuspeisen. Dazu wird die expeditive und literarische Aneignung der Polargebiete nachvollzogen und in einem nächsten Schritt eine detaillierte Textanalyse der Romane The Narrative of Arthur Gordon Pym von Edgar Allan Poe und Die Schrecken des Eises und der Finsternis von Christoph Ransmayr vorgenommen. Zunächst jedoch stehen Stillstand und Bewegung aber als dichotome Gegensätze im Zentrum der Überlegungen – damit sie als Grundlage für die literarischen Analysen dienen können, muss auch die Bedeutung der Dichotomie für den räumlichen Diskurs der Literatur geklärt werden. Eine Annäherung an diese Bedeutung soll über eine Skizze der Dualismen ›Raum‹ und ›espace‹ sowie ›Topographie‹ und ›Topologie‹, die Jörg Dünne und Stefan Günzel zufolge die (literatur-)wissenschaftliche Debatte um den ›spatial turn‹ prägen, erfolgen.3
1.1 KONZEPTIONEN VON RÄUMLICHKEIT ZWISCHEN STILLSTAND UND BEWEGUNG Raum als Analysekategorie hat innerhalb der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, besonders aber der Literaturwissenschaften, der Kulturwissenschaften und der Soziologie eine enorme Entwicklung erfahren, eine Verschiebung von einer eher marginalen zu einer zentralen epistemologischen Kategorie. Zwar haben Überlegungen, wie die gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Raum zu denken sei, in jeder wissenschaftsgeschichtlichen Epoche eine Rolle gespielt, dennoch lässt sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren ein qualitativer wie quantitativer Sprung ausmachen. So hat in den Jahrzehnten des Übergangs vom 20. ins 21. Jahrhundert der Austausch zwischen grundsätzlichen raumtheoretischen Überlegungen und kulturwissenschaftlich informierten Analysen und Lektüren zu einer bemerkenswerten Anzahl
3
Vgl. Dünne/Günzel: Vorwort.
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an Beiträgen geführt.4 Die Raumwende, der ›spatial turn‹, der »im Nachgang zu« Edward Sojas passenderweise im geo- wie topographisch so immens wichtigen Wendejahr 1989 veröffentlichter Schrift Postmodern Geographies ausgerufen wurde, bildet dabei nur den Nukleus einer ganzen Reihe von Begriffsbestimmungen, Denkformen und Analyseinstrumenten, die rund um den Raum entstanden sind.5 Raum ist im Zuge des ›spatial turn‹ aus der Kulturgeographie kommend zu einem ›travelling concept‹ im Sinne Mieke Bals geworden, das in alle humanities ausgreift und neue Ideen, Analysen und Denkweisen produziert.6 Den ›spatial turn‹ zu vollziehen, bedeute, eine »Raumperspektive« einzunehmen und die »soziale Produktion von Raum als einen vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess« zu betrachten, so Doris BachmannMedick; Raum werde zur »zentralen Wahrnehmungseinheit und zu einem theoretischen Konzept« – und damit von einem Behälter zu einem sozialen Konstrukt.7 Die
4
Neben den im Laufe der Studie genannten Handbüchern, Sammelbänden und Monographien sei hier exemplarisch verwiesen auf die rege Veröffentlichungspraxis der letzten Jahre mit mehreren hundert Publikationen zum Thema Raum wie bspw. Dünne/Mahler: Handbuch Literatur & Raum; Günzel: Texte zur Theorie des Raums oder Heuner: Klassische Texte zum Raum. Zum modernen Klassiker dieser Gattung avanciert, der in vieler Hinsicht stellvertretend für die Konjunktur der Raumtheorien ist, ist Dünne/Günzel: Raumtheorie. Siehe dazu auch Anm. 26.
5
Dünne/Günzel: Vorwort, S. 12; vgl. Soja: Postmodern Geographies. ›Spatial turn‹ stellt einen Sammelbegriff dar, dessen epistemologisches Potential so gewaltig scheint, dass in den letzten 25 Jahren zahlreiche soziologische, ethnologische, bild- und medienwissenschaftliche, geschichtswissenschaftliche und nicht zuletzt auch literaturwissenschaftliche Arbeiten entstanden und immer noch entstehen. Dies führt zu einem lebhaften Diskurs zwischen Theorie und kultur- bzw. literaturwissenschaftlicher Anwendung, dem in der vorliegenden Studie Tribut gezollt wird. So basiert die Rekapitulation des Raumdiskurses wie auch die Anwendung raumdiskursiver Ideen in den Analysen und Lektüren dieser Arbeit sowohl auf theoretischen wie anwendungsbezogenen Texten zum ›spatial turn‹. Zur Entstehung des Begriffs ›spatial turn‹ und seiner Nachbarbegriffe im Rahmen der ›cultural turns‹ vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 284-328.
6 7
Vgl. Bal: Travelling Concepts. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 285, 289, 284. »Raum gilt den Verfechtern des spatial turn weder als physikalische Gegebenheit noch, kantisch gesprochen, als apriorische Anschauungsform, sondern als ein soziales und kulturelles Konstrukt.« (Moser: Weltrand, S. 52) Diese Aussage Christian Mosers rekurriert auf den Raumkonstruktivismus Henri Lefebvres, der davon ausgeht, dass »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist« (Lefebvre: Produktion des Raums, S. 330). Dabei produzierten Gesellschaften ihren je eigenen Raum, indem sie sich ihn durch ihre je spezifischen Raumpraktiken aneigne-
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Welt in räumlichen Kategorien zu denken, meint also die soziokulturellen Produkte einer Gesellschaft auf ihre Interaktion mit den räumlichen Gegebenheiten zu überprüfen und dabei nicht nur das Handeln des Menschen im und sein Einwirken auf den Raum zu berücksichtigen, sondern auch umgekehrt das Einwirken des Raums auf den Menschen miteinzubeziehen.8 Dadurch verschiebt sich auch das Verständnis, was Raum nun eigentlich sei: Dünne und Günzel schreiben dazu im Vorwort zu ihrem einflussreichen Sammelband Raumtheorie, dass »zwei sehr unterschiedliche raumtheoretische Positionen« den Diskurs prägen. Diese werden, so Dünne und Günzel, über die Begriffe ›Raum‹ und ›espace‹ verhandelt, wobei ›Raum‹ in allen germanischen Sprachen für eine gegebene Stätte steht und statisch geprägt ist. Damit verweist der Begriff ›Raum‹ auf örtliche Lage und eine festgelegte Position,
ten. Diese Aneignung laufe über eine Dreiheit von räumlichen Beziehungen: (1) der räumlichen Praxis – und damit des Wahrgenommenen der gesellschaftlichen Raumproduktion, (2) der Raumrepräsentationen – was den »konzipierten Raum« der Wissenschaftler und Raumplaner meint – sowie (3) der Repräsentationsräume; als solche bezeichnet Lefebvre den gelebten Raum der Bewohner, der durch »Bilder und Symbole, die ihn begleiten« (ebd., S. 333), vermittelt werde. Die besondere Leistung Lefebvres ist es, Raum von einer deskriptiven zu einer analytischen Kategorie gemacht zu haben: Raum und Räumlichkeit werden als Variablen der menschlichen Erfahrung untersuchbar, Interdependenzen und Abhängigkeiten von Raumproduktion und Gesellschaft werden sichtbar – auf diesem Wege erhält Raum jenes epistemologische Potential, das den ›spatial turn‹ zu einer der einflussreichsten Theoriewenden der letzten Jahrzehnte macht: »Das Erkenntnisinteresse und das ›Objekt‹ verschieben sich von den Dingen im Raum zur Produktion des Raums selbst.« (Ebd.) 8
Anstelle der Vorstellung von Raum als Container, »als Behälter von Traditionen von kultureller Identität oder gar Heimat« tritt ein komplexeres Raumverständnis: Er gilt als »Gestaltungsfaktor sozialer Beziehungen, Unterschiede und Vernetzungen, als vielschichtiges oft widersprüchliches Ergebnis von Verortungen, Raumansprüchen, Ab- und Ausgrenzungen« (Bachmann-Medick: Turn(s), S. 402). Indem der ›spatial turn‹ Bachmann-Medick zufolge »das Synchrone über das Diachrone [...], das Systemische über das Geschichtliche« stellt, werden »Gleichzeitigkeit und räumliche Konstellationen hervorgehoben und eine zeitbezogene oder gar evolutionistische Vorstellung von Entwicklung zurückgedrängt« (dies.: Cultural Turns, S. 285). Die synchrone Orientierung stellt den ›spatial turn‹ in eine Entwicklungslinie von der strukturalistischen Sprachwissenschaft und Semiologie bis hin zu den vom ›linguistic turn‹ inspirierten ›cultural turns‹ des ausgehenden 20. Jahrhunderts, zu denen auch der ›spatial turn‹ selbst zu zählen ist. Mit der Hinwendung zur Synchronie und der Nähe zum Strukturalismus ist auch ein Denken der Differenz aufgerufen, das sich im ›spatial turn‹ und seinen methodologischen Grundsätzen zeigt. Zum ›linguistic turn‹ vgl. etwa Rorty: Linguistic Turn.
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von der aus ein Raum als solcher erst wahrgenommen werden kann. Dagegen führen Dünne und Günzel ›espace‹ auf das lateinische ›spatium‹ zurück, womit ein Zwischenraum evoziert wird, ein Intervall und damit ein »Raum für freie Bewegung«. ›Raum‹ und ›espace‹ verweisen daher auf »die Annahme einer absoluten, territorialen Verbindung einerseits und auf den Ausgangspunkt einer relationalen Verortung andererseits«. Bereits in der Bedeutungskonstitution des Begriffs ›Raum‹ scheint sich eine dualistische Struktur abzubilden, die auf die Raumkonstitution in Abhängigkeit vom den Raum wahrnehmenden und nutzenden Subjekt und damit zugleich auf die Subjektkonstitution abzielt.9 Versteht man die Konzeptionierung von ›Raum‹ als »wesenhafte Insistenz auf der territorialen Räumlichkeit«, so ergibt sich für das ihn wahrnehmende Subjekt eine Position des Stillstands: ›Raum‹ wird
9
Alle Zitate Dünne/Günzel: Vorwort, S. 10. Auch wenn mit der Bewegung ein zeitlicher Aspekt der räumlichen Nutzung prinzipiell aufgerufen ist, so markieren die vorgestellten Theorien und Kommentare vor allem die im ›spatial turn‹ symbolisierte grundsätzlichen Priorisierung des Raums über die Zeit: Als »Kind der Postmoderne« sei der ›spatial turn‹ Bachmann-Medick zufolge vor allem als Ablehnung des Historismus zu verstehen; er habe »die jahrhundertelange Unterordnung des Raums unter die Zeit« aufgebrochen (Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 284). Soja spricht in diesem Zusammenhang programmatisch von seinem Ziel »to spatialize the historical narrative« (Soja: Postmodern Geographies, S. 1). Schlögel hat diese Umbewertung ebenso vorangetrieben, ausgehend von der Einsicht, dass sich in Bezug auf das Verhältnis von Zeit und Raum »eine spontane, ›naturwüchsige‹ Dominanz der Temporalität eingespielt [hat], für die es keine wirklich stichhaltige Begründung gibt« (Schlögel: Räume und Geschichte, S. 33). Deshalb versucht er, dem Historismus als kultur- und geschichtswissenschaftlichem Paradigma eine Epistemologie des Raums entgegenzusetzen, um von einer chronistischen zu einer spatialen Theoriebildung zu kommen und so eine »gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt« entstehen zu lassen (Schlögel: Im Raume, S. 68). Exemplarisch für ein solches Denken kann die Bestimmung des Raum-ZeitVerhältnisses durch Boris Uspenskij angesehen werden. Dieser nimmt an, dass das räumliche Denken dem zeitlichen vorgelagert sei und »die Zeit [...] nach dem Raummodell gedacht, [...] in räumlichen Kategorien wahrgenommen« werde, weil die »Erfahrung der Raumwahrnehmung [...] einfacher und natürlicher als die Erfahrung der Zeitwahrnehmung« sei (Uspenskij: Semiotik, S. 24). Die These, dass das Gefühl für Raum in der menschlichen Entwicklung vor dem Gefühl für Zeit entwickelt wurde, ist jedoch nicht unumstritten. Dagegen lässt sich etwa André Leroi-Gourhan lesen, der davon ausgeht, dass Raum- und Zeitdenken gemeinsam die kulturelle Evolution des Menschen begründet hätten: »[G]eradeso existiert die raum-zeitliche Wahrnehmung von allem Anfang an und folgt bruchlos allen Stufen der Menschwerdung« (Leroi-Gourhan: Domestikation des Raums, S. 229).
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über die Wahrnehmung des Subjekts definiert, das sich selbst als im Zentrum stehend begreift und von seinem Standort, seiner ›gegebenen Stätte‹ aus den Raum als solchen beschreiben kann. 10 Dagegen erscheint die Subjektposition der ›espace‹Theorien dezentriert: Räumlichkeit wird über die Bewegung des Subjekts erfasst, dessen Verortung nicht mehr auf eine ›gegebene Stätte‹ verweist, sondern relational, als Bahn konzeptioniert werden muss. Damit gerät nicht nur das Subjekt in Bewegung, auch der Raum wird dynamisiert: Das Subjekt ist eingebunden in den Raum und nicht mehr von ihm zu trennen. Dieser Zusammenhang von Raumkonstitution und Subjektkonstitution wird im Laufe dieses Kapitels anhand verschiedener Raum- und Subjekttheorien genauer untersucht, für den Moment aber mag es ausreichen, den Zusammenhang zweier sich dichotom gegenüberstehender Wahrnehmungen und Konzeptionen von Raum entdeckt zu haben: ›Raum‹ verweist auf Stillstand, ›espace‹ auf Bewegung. Die Unterteilung sowohl in ›Raum‹ und ›espace‹ wie auch die in Stillstand und Bewegung können dabei zunächst nur einen »propädeutischen Wert«, wie ihn Dünne an anderer Stelle grundsätzlich jeder Fixierung räumlicher Ordnung zuschreibt, erlangen.11 In diesem Sinne stellen auch Stillstand und Bewegung propädeutisch auf eine Heuristik der Raumwahrnehmung und -konzeption ab, die sich allerdings, wie zu zeigen sein wird, auf verschiedensten Ebenen innerhalb des Raumdiskurses verfängt, im Bereich der Debatten um den richtigen wissenschaftlichen Umgang mit Raum ebenso wie auf grundlegender raumtheoretischer Ebene, sodass eine Vermittlung der dichotomen Begrifflichkeiten nicht innerhalb der Theorie, sondern nur über den Umweg einer literarischen Analyse möglich scheint. Die starke Trennung der Begrifflichkeiten liegt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, möglicherweise auch darin begründet, dass die Dichotomisierung – ursprünglich als Mittel der Einteilung und erster Schritt hin zu einer Vereinigung – im Laufe dieses Jahrhunderts selbst epistemologischen Wert gewonnen zu haben scheint. Die Konsequenz aus einer solchen Entwicklung lässt sich dann an den Raumtheorien, hier zunächst bei Certeau und Ingold, danach in Kapitel 2 in der Theorie des Glatten und Gekerbten bei Deleuze und Guattari ablesen. Bevor eine Übertragung der raumtheoretischen Dichotomisierungen auf die Literatur in Kapitel 3 dann zu den literarischen Analysen des zweiten Teils führt, muss zunächst nachvollzogen werden, was eine Trennung von Stillstand und Bewegung überhaupt bedeutet. Am besten lässt sich ein solches Explizieren der Dichotomie Stillstand und Bewegung anhand der Debatte um Auslegungen des ›spatial turn‹ in den Blick nehmen.
10 Vgl. Dünne/Günzel: Vorwort, S. 11. 11 Dünne: Imagination, S. 29.
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1.2 EINE DICHOTOMISIERTE DEBATTE Tatsächlich zeigt sich die Verbindung der dualistischen Raumkonstitution in einer prägenden Forschungsdebatte aus dem Umfeld des ›spatial turn‹, die sich bei der Suche nach dem richtigen Weg zur Wahrnehmung und damit Analyse von Räumen entspann – der Debatte um die Anwendungsgebiete von Topographie und Topologie. Beide bezeichnen Aufzeichnungsverfahren räumlicher Verfasstheit und Relationalität, die genutzt werden können, um Raum in semiotische Verhältnisse zu übertragen beziehungsweise solche Übertragungen zu analysieren und ihre Wirkweisen aufzuzeigen. Ihr Einfluss auf den Raumdiskurs lässt sich bereits daran festmachen, dass beide, obwohl generell als Unterströmungen des ›spatial turn‹ zu betrachten, als räumliche Wenden sui generis proklamiert und als ›topographical turn‹ beziehungsweise ›topological turn‹ bekannt geworden sind. 12 Dabei lassen sich grundsätzlich beide Theoriediskurse aufeinander beziehen und weisen große Gemeinsamkeiten darin auf, dass sie kartographische respektive diagrammatische Aufzeichnungen und Repräsentationen räumlicher Konstellationen in den Blick nehmen. Besonders die Vertreter des ›topological turn‹ erläutern ihre Arbeitsweise anhand der Gemeinsamkeiten mit der Topographie, zögern jedoch nicht, über Kritik am ›topographical turn‹ die Besonderheiten des topologischen Ansatzes zu erläutern, den sie methodisch im Vorteil sehen. Diese Kritik, auf die gleich noch im Detail einzugehen ist, knüpft sich eng an die Verortung des ›topological‹ wie des ›topographical turn‹ innerhalb des Dualismus von ›Raum‹ und ›espace‹ bzw. Stillstand und Bewegung: Topographie lässt sich als festschreibende Methode aufseiten des Stillstands eingliedern, dagegen versteht sich die Topologie als relationale Analyse von Räumlichkeit und ist darum der Bewegung zuzuordnen. Während also, wie Kai Brodersen notiert, die Topographie Räumlichkeit mithilfe ihrer »absoluten Lage auf der Fläche, die erst durch ein ›kartesisches‹ oder aber ein ›polares‹ Koordinatensystem, also durch Distanzen und Winkel« beschreibbar macht, registrieren topologische Relationen »die relativen Lageverhältnisse von durch Routen miteinander verbundenen Punkten in der Fläche (vor/hinter X, links/rechts von X)« – Topographie bezieht sich darum immer auch auf Territorialität, Topologie dagegen auf Relationalität. 13 Die Rekonstruktion der dualistischen raumtheoretischen Positionen von Topographie und Topologie kann darum deutlich machen, wie Raum vermittels des Begriffspaars Stillstand und Bewegung konstituiert beziehungsweise beschrieben werden kann.
12 Sigrid Weigel und Günzel haben die deutschsprachige Rezeption beider ›turns‹ zusammengefasst, vgl. Weigel: Zum ›topographical turn‹; Günzel: Topologie; ders.: Topological Turn. 13 Brodersen: Litora legere, S. 82.
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Die topographische Methode der Kulturwissenschaften bedient sich geographischer Aufzeichnungsverfahren und nutzt dazu in einem doppelten Sinne Karte und Kartographie – einerseits als Untersuchung von Karten, andererseits auch mittels kartographischer Aufzeichnung von (räumlichen) Repräsentationen, des ›mapping‹. 14 In diesem Sinne schreibt Bachmann-Medick der Geographie führende Funktion im interdisziplinären Theoriediskurs zu.15 Als Bedingungen für diese Entwicklung führt Karl Schlögel die »erschütternde und durchschlagende Erfahrung von den radikalen Veränderungen von Zeit und Raum im 20. Jahrhundert, die Wucht des Globalisierungsprozesses« an; er verweist zudem auf die »Produktion von Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit auf engstem Raum« im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Technologien und bezieht sich doch vor allem auf zwei »Raumrevolutionen«, die massiven Einfluss auf das Raumdenken hatten und haben: Den Fall der Mauer 1989 sowie die Anschläge auf die Türme des World Trade Center und ihr Fall am 11. September 2001.16 Mit diesen Ereignissen, so Schlögel, sei ein neuerliches Interesse an der Karte und ihrer geodeterministischen Repräsentationskraft angestoßen, was einen lange tabuisierten Diskurs wieder aktualisiert habe: die Geopolitik.17 Niels Werber zufolge zeichnet sich geopolitisches Denken
14 Dieses ist Weigel zufolge vor allem in den amerikanischen Cultural Studies zu einem Gemeinplatz geworden, der »die Ersetzung eines historiographischen Narrativs durch ethnologische Perspektiven« anzeigt. Der Preis einer so gearteten Ausweitung sei »ein Bruch mit der topographischen Herkunft theoretischer Konzepte« (Weigel: Zum ›topographical turn‹, S. 156, 159). Als Analyseinstrument wird ›mapping‹ somit nicht »nur auf Karten im engeren Sinne bezogen«, so Bachmann-Medick, vielmehr gerät es »zu einem allgemeinen (metaphorisierten) Ordnungsmuster, zu einem Modell der Organisation von Wissen: Mapping von Körpern und Raum, Mapping von Zukunft, Mapping der Postmoderne« (Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 300). ›Mapping‹ wird zu einem reinen Werkzeug der Kartierung von Repräsentationen – weil jedoch die Karte ebenso als hegemoniale Repräsentation von Machtverhältnissen dienen kann, wurde es allerdings auch möglich, den analytischen Blick zu wenden: von der Konstruktion hin zur Dekonstruktion und Rekonstruktion von Kartierungen. ›Mapping‹ macht es den Cultural Studies möglich, gesellschaftliche Formationen und Machtverhältnisse räumlich zu kartieren, zu analysieren und zu kritisieren. 15 Vgl. ebd., S. 285. 16 Schlögel: Im Raume, S. 62. Raumrevolution ist als Begriff durch Carl Schmitt geprägt worden, vgl. Schmitt: Land und Meer, S. 37-39. 17 Schlögel spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Neue[n] Geopolitik« und macht sich damit für einen Begriff stark, der historisch stark vorbelastet ist (Schlögel: Im Raume, S. 72). Geopolitik definiert Benno Werlen als »Theorie der Politischen Geographie, die auf der These des Geodeterminismus« beruht und als solche von einer »kausalen
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»durch die rigorose Reduktion von Komplexität aus; der Blick auf die Karte, auf die Verteilung der Ressourcen, auf Topographien und Demographien soll vereinfachen und zugleich für Evidenz sorgen«.18 Der geopolitische Diskurs verhandelt eindeutig ein Verständnis von Räumlichkeit als ›Raum‹ im Sinne der Unterscheidung Dünnes und Günzels; über die Festschreibung, den Stillstand, die zentrale Beobachterposition werden räumliche Verhältnisse aufgenommen und auf Karten übertragen. Die Kulturwissenschaften leiten ihr Interesse an der Topographie dagegen von topographischen Kulturtechniken ab. So argumentiert etwa Hartmut Böhme, dass »[k]ulturelle Organisation [...] mit den Kulturtechniken des Raumes« anfange.19 Die von Böhme benannten Techniken, also die Möglichkeiten zur aktiven Nutzung des Raums durch kulturelle Bearbeitung wie etwa das Herstellen von Pfaden, Häusern, Routen oder Äckern, bewirkten erst seine Produktion. Er verweist damit auf die sozialen, kulturellen und narrativen Transformationen von räumlichen Praktiken, auf ihre Aufzeichnungen und Repräsentationen.20 Eine Räumlichkeit fixierende Übertragung in Karte und Text stellt sich als Festschreibung und Übertragung in ein lesbares Produkt dar; so verwandeln sich bewegte Praktiken in stillstehende Tableaus. In diesem Sinne beziehen sich Sigrid Weigel zufolge topographisch orientierte Kultur- und Literaturwissenschaftler vor allem in Europa auf semiologisch-karto-
(Vor-)Bestimmtheit des menschlichen Handelns durch den Raum bzw. die Natur« ausgeht (Werlen: Sozialgeographie, S. 383). Der Begriff beruht vor allem auf den Überlegungen Friedrich Ratzels und wurde popularisiert durch Schmitt: Nomos der Erde. Die umfassende Kritik an geopolitischem Denken zielt vor allem darauf ab, dass mit diesem als wissenschaftlichem Begründungszusammenhang Schmitt die deutsche Expansionspolitik während des Dritten Reichs rechtfertigte. Schlögel erläutert, dass die deutsche Obsession mit dem Begriff Raum dazu führte, den Diskurs zum Raum zu tabuisieren: »Wer die Vokabel [Raum nach 1945] benutzte, gab sich als jemand von gestern [...] zu erkennen. [...] Raum zog eine ganze Kette von Assoziationen und Bildern nach sich« (Schlögel: Im Raume, S. 52). Bachmann-Medick spricht davon, dass der Nationalsozialismus »auf längere Zeit das Raumdenken und die Verknüpfung von Geschichte und Geographie einschneidend unterbrochen« habe (Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 287). Erst seit »Mitte der 1980er Jahre« lasse sich eine »Renaissance des Raumbegriffs« (ebd.) feststellen, in deren Verlauf der Begriff Geopolitik wieder zu einer wissenschaftlich gern gebrauchten Vokabel avanciere, auch im Zusammenhang mit dem Cyberspace als neuem Raum, den es einerseits geopolitisch zu besetzen, andererseits wissenschaftlich zu deuten gilt (vgl. Schlögel: Im Raume, S. 72-78; Werber: Geopolitik der Literatur). 18 Werber: Geopolitik zur Einführung, S. 12. 19 Böhme: Einleitung, S. XVIII. 20 Vgl. ebd., S. XIXf.
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graphische Repräsentation: Indem Kultur durch die Methode des ›mapping‹ kartiert werde, werde sie als Text lesbar, demzufolge schlage sich der ›topographical turn‹ in einer Verbindung von Karte und Textualität nieder. Besonders in der Literaturwissenschaft findet sich ein solches Verständnis von Topographie und ›mapping‹ wieder, da sich die topographische Praxis auf die Verarbeitung realer Territorien in Texturen (wie beispielsweise Fiktionen und Narrative) beziehen lässt. Jörg Döring und Christian Thielemann zufolge sind diesem »›Kultur-als-Text‹-Paradigma [...] hierzulande – wenig überraschend – vor allem die kulturwissenschaftlich gewandelten Philologien« gefolgt. So verweisen etwa Robert Stockhammers Arbeiten am Schnittpunkt von Kartographie und Literatur auf ein reziprokes Verhältnis von Raum, Karte und Literatur. Stockhammer mache, so Döring und Thielemann »mit Recht darauf aufmerksam, dass es für die methodische Operation der Lektüre der Entzifferung zunächst ganz und gar unerheblich bleibt, ob es der Raum selbst ist, der als beschrifteter lesbar wird, oder eine Repräsentation des Raums, die ihn uns textförmig verfügbar macht«.21 Stockhammer selbst spricht in seiner Monographie Kartierung der Erde von seinem Projekt, Kartierbarkeit und Kartizität der Literatur herauszuarbeiten: »Die Kartierbarkeit eines in der Literatur fingierten Geländes ist ein wesentlicher Aspekt [...]. Ein anderer ist die Kartizität der literarischen Beschreibung selbst, ihre Affinität oder Distanz zu kartographischen Darstellungsverfahren [...].«22
Dabei geht es ihm nicht um »eine Semantik der in Karte oder Text beschriebenen Räume – also nicht eine ›Poetik des Raums‹ [...], sondern [um] eine vergleichende Geschichte der Zeichensysteme, mit denen Räume repräsentiert und konstruiert werden«.23 Aufzeichnung wird damit zu einer literarisch-topographisch fixierenden Methode, die räumliche Praktiken in ein Beziehungssystem von Zeichen und Repräsentationen übersetzt. Ihren Höhepunkt findet diese Methode in Barbara Piattis Monographie Die Geographie der Literatur als Auftakt zum Projekt Ein literarischer Atlas Europas, bei dem Literaturwissenschaftler zusammen mit Kartographen topographische Repräsentationen von literarischen Räumen erstellten. 24 Der Versuch, Literatur zu kartographieren, ist gekennzeichnet von der Sehnsucht, fiktionale
21 Beide Zitate Döring/Thielemann: Einleitung, S. 17; als Vorreiter dieser Bewegung lässt sich Miller: Topographies ausmachen. 22 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 68. 23 Ebd. Siehe dazu auch ders.: TopoGraphien; Bachelard: Poetik des Raums. Neben Stockhammer verfolgt auch Dünnes Werk die Schnittstelle von Literatur und Topographie, etwa die bereits oben zitierte Monographie Die kartographische Imagination von 2011. 24 Vgl. Piatti: Geographie der Literatur.
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Räume lokalisierbar zu machen, indem sie in territorialer Realität verankert werden, wie die am Projekt beteiligten Anne-Kathrin Weber und Lorenz Hurni schreiben: »What gradually emerges from such maps is the (imaginary) space of literature, with its own dimensions and functions according to its own rules, but which is anchored in the ›reality‹ of existing spaces and places.«25 Die mit dem ›topographical turn‹ einhergehende Methode der Kartierung ist als Festlegung vonseiten der Vertreter der Topologie kritisch betrachtet worden. Schließlich, so meint mit Günzel einer der prominentesten Vertreter des topologischen Ansatzes, übersteige die Befragung der »Abbilder der Welt auf ihre Repräsentativität [...] die Topographie des Raums hin zu einer Identifikation strukturierender und konstitutiver Momente von Räumlichkeit«.26 Weniger aus einer topologischen Warte formuliert hieße dies: Die Grundlage einer topographischen Auseinandersetzung stellt stets die Analyse von physischen Territorialitäten dar, wobei dies meist über Kartierungen realisiert wird. Die Karte aber ordnet, verortet und zentriert; sie überträgt Raum in ein geometrisches Koordinatensystem und repräsentiert – oder scheint dies zumindest zu tun. Allerdings eröffne, so die ›topographische‹ Position, diese Rückbindung der Karte an den Raum die Untersuchung konkreter Verhältnisse und nicht nur von Relationen. So verweist Dünne darauf, dass topologisches ›mapping‹ nur eine »scheinbar ›objektive‹ Darstellung der Verteilung von Machtrelationen jenseits von konkreten Topographien zu suggerieren« imstande sei, wohingegen die der euklidischen Geometrie des Koordinatensystems verpflichteten »Zeichenregime der Karte [...] einen Schauplatz von Machtkämpfen eröffnen«, den es sich zu untersuchen mehr lohne, weil er an konkrete Territorialitätsbemühungen gebunden sei.27 Die auf den mathematischen Grundlagen Leonhard Eulers und Gottfried Wilhelm Leibniz’ gegründete topologische Raumwissenschaft begreift sich demgegenüber als Analyseinstrument, das sich nicht mehr auf exakte geometrischtopographische Repräsentation oder eine als Anker dienende Realität bezieht. Stattdessen versteht der topologische Ansatz Raum insofern relational, als dieser auch
25 Reuschel/Hurni: Mapping Literature. 26 Beide Zitate Günzel: Raum, S. 21. Der enorme Erfolg des bereits erwähnten Bandes Raumtheorie lässt sich aus dieser Perspektive neben seiner günstigen Erscheinungszeit vielleicht auch damit erklären, dass mit Dünne und Günzel die zwei Kommentatoren des ›spatial turn‹ als Herausgeber verantwortlich zeichnen, die in ihren Arbeiten sich jeweils auf eine der Analyseformationen Topographie (Dünne) und Topologie (Günzel) konzentrieren. Gerade weil der Band beide Positionen gleichberechtigt nebeneinanderstehen lässt, ohne sie ausführlich zu thematisieren, zu gewichten oder zu vereinigen, gelingt es ihm, einen konzisen Überblick zur Raumforschung zu geben. 27 Dünne: Nachwort, S. 191f.
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gestaucht, gekrümmt oder gelöchert repräsentiert werden könne und von seinen »Lagebedingungen«, seinen Knotenpunkten und Abhängigkeiten her gedacht werden müsse. Dabei ändere sich die Blickweise, wie Günzel meint: Zwar könne die topographisch-kritische Raumanalyse die Repräsentation dekonstruieren und als Dispositiv der Macht darstellen, indem »danach gefragt würde, was sich räumlich verändert, wenn etwa eine Karte vorgibt ›nur zu repräsentieren‹«. Dagegen werde »unter topologischen Gesichtspunkten zunächst danach gefragt, was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, etwas habe sich verändert«.28 Deshalb, so führt Günzel fort, mache es die Topologie möglich, »Transformationen« zu analysieren, »die zu einer Beibehaltung der Struktur trotz erkennbarer Veränderung der Topographie« bzw. zu »deren Veränderung, die selbst nicht räumlich wahrnehmbar« sei, führten. Zum Gewährsmann einer kulturwissenschaftlichen Übertragung des mathematischtopologischen Ansatzes wird ihm Lotman; Günzel erläutert den fundamentalen Unterschied zwischen Topographie und Topologie anhand Lotmans topologischen Verständnisses literarischer Handlungen: wo die Topographie nur Handlungen innerhalb einer Diegese aufzeichnet, verweist die Topologie auf eine »Überschreitung der gegebenen Struktur«, welche erst Ereignisse erzeuge.29 Auf diese Weise mache es die topologische Analyse erst möglich, Transgression und Bewegung überhaupt zu begreifen. Auch wenn Vittoria Borsò in ihrem Plädoyer für Topologie als literaturwissenschaftliche Methode schreibt, dass die Kulturwissenschaften Topographie »gewiss nicht im Sinne der Mimesis eines ›gegebenen‹ Raums, eines Behälters von Repräsentationen, die in einem mimetischen Verhältnis zur Welt stehen«, begreifen, so ist dies doch zumindest implizit genau der Vorwurf, den die Topologie der Topographie macht.30 Er wiegt darum so schwer, weil es im gesamten ›spatial turn‹ darum geht, Grenzverschiebungen zwischen Räumen zu bestimmen, zu verhandeln und interpretativ auszudeuten und damit zu einem neuen Raumverständnis zu gelangen. Ein solche Betrachtung der Raumverhältnisse und damit der Produktion, Aneignung und Nutzung, der Konstruktion und Dekonstruktion von Räumen will, wie Dorit Müller und Julia Weber notieren, »Raum nicht als absolute, sondern als relative Größe begreifen und davon ausgehen, dass räumliche Ordnungen sowohl Bedingung als auch Produkt technischer, sozialer, kultureller und medialer Prozesse sind«. 31 Das Bedürfnis, die Variabilität von Raumrepräsentationen zum Hauptgegenstand der Untersuchung zu machen, verschiebt den Analyseschwerpunkt: »Raum als Begriff einer physikalischen Entität« rückt als Untersuchungsgegenstand
28 Beide Zitate Günzel: Raum, S. 13, 21. 29 Alle Zitate Günzel: Topological Turn, S. 414. 30 Borsò: Topologie, S. 279. 31 Müller/Weber: Einleitung, S. 1.
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in den Hintergrund zugunsten der »Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte«. 32 Borsòs Thesen zur Topologie in den Kultur- und Literaturwissenschaften machen deren ständigen Bezug auf eine nichttopographische Dynamik der Räume deutlich und formulieren eine Kritik an der topographischen Methode, die noch zu stark im alten Containerdenken eines absoluten Raums stecke. Demgemäß rekapituliert sie auch mit Jorge Luis Borges die »Geburtsstunde der kulturwissenschaftlichen Topologie« als Ablösung von »der dem Strukturalismus innewohnenden kartesianischen Geometrie« und fordert eine Hinwendung zu den für Raumproduktion konstitutiven performativen Bewegungsakten. Topologie, das ist für sie die »Möglichkeit einer Epistemologie der Produktion von Raumdynamik«. Der Kartographie als Methode des ›topographical turn‹ wirft sie dagegen vor, »die Dynamik des ›bewohnten‹, gelebten Raums« zu »mortifizieren«, was ja nichts anderes bedeutet, als die dem Raum innewohnende Bewegung festzuschreiben und Stillstand zu produzieren.33 Eine solche Identifikation von Topologie mit Bewegung respektive Topographie mit Stillstand führt folgerichtig, wie bei Günzel und Borsò zu sehen ist, zu einer absoluten Abgrenzung beider Raumzugänge und damit zu einer Dichotomisierung von Räumlichkeit. Während eine topographische Untersuchung die Festschreibung und Metrisierung fokussiert und sich den Raumverhältnissen über das Mittel der Kartierung und ihrer Auswirkungen auf den Menschen annähert, so versucht die Topologie die Bewegungen, Beziehungen und Relationen darzustellen, die sich einer Festlegung verweigern – und bringt so die Beziehung Mensch-Raum in ein durch Verbindungslinien und Knotenpunkte geprägtes Verhältnis. 34 Die Grundlage dafür scheint der dichotome Charakter zu sein, den das Begriffspaar Stillstand und Bewegung in Bezug auf Räumlichkeit erhält. In der Tat, ob man nun Räumlichkeit in ›Raum‹ und ›espace‹ unterteilt oder ›topographical‹ und ›topological turn‹ voneinander trennt – die Begrifflichkeiten der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Raumtheorien lassen sich als Dichotomie von Stillstand und Bewe-
32 Günzel: Raum, S. 13. 33 Alle Zitate Borsò; Topologie S. 288-290. Der Kritik Borsòs an der Topographie ist nicht bedingungslos zuzustimmen, schließlich trifft auch auf den topologischen Ansatz zu, was Dünne an der Raumtheorie Lefebvres kritisiert: Eine rein relationale Analyse – Günzel bringt sie mit der Formel »Raum minus Metrik« auf den Punkt – rückt die Materialität des Raums ebenso in den Hintergrund und streicht eine der Variablen in der Sichtweise von Raum als Produkt (Günzel: Spatial Turn, S. 222; zu Lefebvres sozialkonstruktivistischer Raumtheorie vgl. oben Anm. 7; zur gesamten Kritik Dünnes an Lefebvre siehe Dünne: Imagination, S. 17-19). 34 Vgl. dazu die von Günzel beschriebene ›Lösung‹ des Königsberger Brückenproblems durch Euler. Günzel: Raum, S. 22.
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gung beschreiben. Mehr noch, es sind die Raumtheorien selbst, die, wie an den Beispielen von Certeau, Ingold sowie Deleuze und Guattari im Verlauf des ersten Teils dieser Arbeit gezeigt wird, auf Grundlage der Begriffe Stillstand und Bewegung operieren, über beide Begriffe Raum konstituiert und Raumwahrnehmung organisiert sehen. Zudem wird zu zeigen sein, dass für die Dichotomie von Stillstand und Bewegung stets das Subjekt und genauer: seine Perspektive auf und sein Umgang mit dem Raum eine konstitutive Rolle spielt, um schließlich die Verhandlung der dichotomisierten Raumzugänge in der Literatur in den Blick zu nehmen. Bevor dies alles geschehen kann, muss aber zunächst die epistemologische Bedeutung der Dichotomie als epistemischer Methode geklärt werden, um Stillstand und Bewegung als oppositionäre Begriffe besser begreifbar zu machen.
1.3 DER EPISTEMOLOGISCHE WERT DER DICHOTOMISIERUNG Im Raumdiskurs des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts lässt sich eine Konjunktur dichotomisierender Zugänge ablesen, gleichzeitig hat diese jedoch auch zu einem grundsätzlichen Unbehagen geführt. Henri Lefebvre, dessen sozialkonstruktivistische Überlegungen in den 1960er Jahren erst den Weg zur Renaissance der Raumtheorien und zum ›spatial turn‹ ebneten, übt im Rahmen seiner Überlegungen zum Raum heftige Grundsatzkritik an der Tendenz zu dichotomisierender Theoriebildung: Zweistellige Beziehungen, wie sie im 20. Jahrhundert häufig zu finden seien, reduzierten die Wirklichkeit »auf eine Opposition, einen Gegensatz, eine Widerstrebigkeit«, deren Binarismus »aus dem Leben, dem Denken, der Gesellschaft« das abzieht, »was die lebendige Tätigkeit ausmacht«. Dichotomien stellten Schwundstufen der Dialektik dar und sind als solche für den Marxisten Lefebvre nicht geeignet, um für Theoriebildung genutzt zu werden. Als Ursprung für die Kultivierung der dialektischen Schwundstufe »Dichotomie« nimmt Lefebvre einen falschen Umgang mit den Arbeiten von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx an, nach deren »titanische[r] Anstrengung« – eben der Entwicklung einer umfassenden dialektischen Methode – sich die Philosophie nicht weiterentwickelt und stattdessen »die intelligible Welt in Oppositionen und Oppositionssystemen festgelegt« habe. So konnte sich die Philosophie der aufhebenden Transgression der dialektischen Synthese entledigen, sich auf die oppositionäre Grundlage des dialektischen Gedankengangs von These und Antithese versteifen und eine eigentlich heuristische Methode zu einem gangbaren Weg des Erkenntnisgewinns erheben. Doch nicht nur die Philosophie sieht Lefebvre betroffen; so habe sich das dichotome Denken auch in »verschiedene[n] Spezialwissenschaften« ausgebreitet, die eben-
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falls mitgerissen worden seien vom vereinfachenden Denken der binären Opposition.35 Dichotomisierung hat demzufolge eine wissenschaftliche Aufwertung erfahren, meint allerdings ursprünglich allein die Einteilung oder ›divisio‹ eines Begriffs in zwei Glieder. Bereits Platon ordnet in seinen Überlegungen die begriffliche Teilung unter dem Namen διαίρεσις (dihairesis) der Dialektik als Methode des Erkenntnisgewinns zu, als »Gegenstück zur Zusammenführung«.36 Er verortet damit die Möglichkeit der dichotomen Begriffseinteilung in Opposition zur aufhebenden Begriffssynthese der Dialektik und nutzt die ›dihairesis‹ zur Klassifikation und Differenzierung, indem er einem Begriff zwei ihm untergeordnete, sich gegenseitig ausschließende Unterbegriffe zuordnet, aus diesen dann wiederum jeweils zwei weitere Unterbegriffe entwickelt usf., »bis zum untersten Artbegriff, welcher nicht mehr weiter teilbar sein soll«.37 Während die ›dihairesis‹ also von einem Oberbegriff abgeleitet wird, stellt die Dialektik für Platon bekanntlich die Möglichkeit zur Vereinigung der dichotom getrennten Glieder dar. Dabei schließt die Dialektik die der Dichotomie inhärente »Möglichkeit eines Widerspruchs« ein, sie darf aber in der Zusammenführung von These und Antithese in der Synthese keinen Widerspruch mehr enthalten.38 Seit der griechischen Antike ist die Dichotomie als Mittel der ›dihairesis‹ einerseits untrennbar mit der Dialektik verwoben, ihr jedoch gleichzeitig untergeordnet; im Laufe der Philosophiegeschichte hat sich diese Verbindung vor allem im deutschen Idealismus und der spekulativen Philosophie in einem dialek-
35 Alle Zitate Lefebvre: Produktion des Raums, S. 336f. 36 Hager: Dihairesis, Sp. 242; vgl. Menne: Methodologie, S. 84-86. Nach Platon gehören zur ›dihairesis‹ neben der Dichotomie auch entsprechend Trichotomie für drei Glieder, Tetratomie bei vieren usf. (vgl. Platon: Phaidros, §265f.). 37 Hager: Dichotomie, Sp. 232. Platon erläutert dieses Vorgehen im Dialog Sophistes anhand des Beispiels der Angelfischerei, ausgehend vom Begriff der τέχνη (téchne). Dabei bildet die Angelfischerei das unterste Glied, dem er dichotom die Harpunenjagd gegenüberstellt (vgl. Platon: Sophistes, §218e-221b). Trifft es zu, dass »die beiden Abteilungen die Gesamtheit des Einteilungsganzen ausschöpfen« (Menne: Methodologie, S. 86f.), so wird methodologisch von einer strengen Dichotomie gesprochen. Als Beispiel nennt Christian Thiel etwa die Einteilung in edle und unedle Metalle (vgl. Thiel: Dichotomie, S. 473). 38 Büttemeyer et al.: Dialektik, Sp. 165. Synthese stellt dabei nicht das einzige Verfahren der dialektischen Zusammenführung dar. Jürgen Ritsert erkennt dazu »mindestens vier Möglichkeiten« (Ritsert: Antinomie, S. 44): Neben der bereits erwähnten Synthese sind dies außerdem das Meson im Sinne eines mittleren Maßes oder Ausgewogenheit, der Mittelterm als Mitte zwischen Extremen in der Syllogistik sowie die Vermittlung der Gegensätze in sich innerhalb der spekulativen Antinomie.
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tisch-philosophischen System gefestigt, jedoch wurde die dichotomisierende Heuristik weiterhin allein zum Zweck der Vereinigung durch die Dialektik genutzt.39 Dialektik meint von Platon bis Hegel ein gesamtes theoretisches System, welches in Form des marxschen Historischen Materialismus im politischen System des Kommunismus gar zur vorherrschenden wissenschaftlichen Methode erhoben wurde. Die Dichotomisierung fungiert demgegenüber nur als propädeutisches Verfahren der Klassifikation und Einteilung, als Vorbereitung der dialektischen Operation der Synthese. In dem Maße, in dem die Dialektik als Ziel philosophischer Bemühungen im Laufe des 20. Jahrhunderts nach und nach außer Mode kam und schließlich kaum noch verfolgt wurde – wobei der Niedergang des Kommunismus mit dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion dieser Entwicklung sicherlich nochmals Vorschub leisteten –, steigerte sich die Bedeutung der Dichotomie. Für die Wissenschaft kann die Konjunktur der Dichotomie anhand der transdisziplinären Strömung des Strukturalismus nachvollzogen werden: Fußend auf der These Ferdinand de Saussures von der Differentialität des sprachlichen Zeichens, entwickelte sich der Strukturalismus zu einem der wirkmächtigsten geisteswissenschaftlichen Paradigmen des 20. Jahrhunderts.40 Die von den ethnologischen, literatur-
39 So finden sich dichotome Teilungen auch in F.W.J. Schellings Darlegungen zum Subjekt-Objekt-Dualismus, in Immanuel Kants Antinomien innerhalb seiner transzendentalen Dialektik sowie in Hegels Überlegungen zu Dialektik und Aufhebung wieder. Schellings Konzeption der Subjekt-Objekt-Spaltung betont die Trennung am stärksten, indem er vermutet, dass »[d]as Subjekt [...] sich nur im Gegensatz gegen das Objekt, das Objekt nur im Gegensatz gegen das Subjekt [behauptet], d.h. keines von beiden kann reell werden, ohne das andere zu vernichten, aber zur Vernichtung des einen durch das andere kann es nie kommen, eben deswegen, weil jedes nur im Gegensatze gegen das andere das ist, was es ist« (Schelling: System, S. 393; vgl. dazu auch Ritsert: Antinomie). Kant zufolge ist der Mensch ein ›antinomisches‹ Wesen, jedoch seien »die einzelnen inhaltlichen A[ntinomien] [...] grundsätzlich auflösbar«, wie Norbert Hinske mit Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft schreibt. Damit folge Kant »den Konziliationstheorien seines Zeitalters« (Hinske: Antinomie, Sp. 394). Hegels spekulative Philosophie schließlich ist ganz auf die Synthese ausgerichtet, wie sich beispielsweise in seinen über die Antinomien Kants hinausgehenden Überlegungen zur Vereinigung der Unterscheidung von Begriff und Realität oder seinen Vorlesungen zur Vernunft als Grundprinzip der geschichtlichen Entwicklung zeigt (vgl. Jaeschke: Hegel-Handbuch). 40 Daneben gilt es auch die Differenzierungsbemühungen der Systemtheorie um George Spencer-Brown und Niklas Luhmann anzuführen, ganz nach dem Programm SpencerBrowns, wonach die Systemtheorie der Anweisung »[d]raw a distinction« folge: »We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make
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theoretischen oder philosophischen Wegbereitern – wie Claude Lévi-Strauss, Roman Jakobson oder Roland Barthes – popularisierte strukturalistische Methode bediente sich der linguistischen Erkenntnisse Saussures und wendete diese gegen Annahmen der Metaphysik und transzendentalen Philosophie, die beide eng mit der Dialektik verwoben waren.41 Im Denken der Differenz erhält die Dichotomie ihre von Lefebvre kritisierte Aufwertung. Sie wird zur Basisoperation der Differentialität: So gründet Saussure sein linguistisches System auf binäre Differenzen: ›langue/ parole‹, ›signifiant/signifié‹ oder ›synchronie/diachronie‹.42 In diesem Sinne ist die Dichotomie als Unterscheidung zweier sich gegenseitig ausschließender Zustände die einfachste und grundsätzlichste Differenzleistung. Dichotomien dienen somit einer möglichst weitgehenden Komplexitätsreduktion, sie ermöglichen basale Strukturierungen, Differenzierungen und Klassifikationen, da mit ihnen komplexe Realitätsbeziehungen in Stemmata von Begriffsdualismen übertragen werden.43 Im Denken der Differenz entfällt die Syntheseleistung der Dialektik; Dichotomisierungen werden zu eigenständigen wissenschaftlichen Operationen, die den Mittelgrund im Spiel halten. Gleichzeitig jedoch ist in der Wissenschaftstheorie – nicht nur bei Lefebvre – Kritik gegenüber der Dichotomie formuliert worden, die versucht, nicht-dialektisch über Dichotomisierungen hinauszuweisen. Im Rahmen der von ihm entwickelten Dekonstruktion kritisiert etwa Jacques Derrida Dichotomien als normative, hierarchisierende Setzungen, da sie »evozierte metaphysische Vorannahmen« darstellten und das Denken beeinflussten sowie die Realität verzerrten.44 Den Einsatz von Di-
an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.« (Spencer-Brown: Laws of Form, S. 3) 41 Einen Überblick gibt Dosse: Geschichte des Strukturalismus. 42 Vgl. Saussure: Grundfragen. 43 Als solche können Dichotomien auch rein willkürliche oder theoretische Setzungen darstellen. Hierfür nennt Thiel beispielsweise die Unterteilung der Menschen in Ornithologen und Nicht-Ornithologen (vgl. Thiel: Dichotomie, S. 473). 44 Horatschek: Dichotomie, S. 129. Die Dekonstruktion erwiese sich demnach als Auflöserin dieser Dichotomien – oder zumindest als Umkehrerin der Hierarchien. Darum unternimmt Derrida im Rahmen der Untersuchung der Dichotomie Schrift und Rede den Versuch, zu zeigen, »daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge« (Derrida: Grammatologie, S. 29). Priorisiere die Metaphysik und damit die Philosophie bis Hegel das gesprochene Wort, so geht es Derrida um eine Umwertung und Popularisierung der Schriftlichkeit. Es zeige sich jedoch »die Idee der Wissenschaft und die Idee der Schrift« als »Wissenschaft von der Schrift« für uns nur deswegen sinnhaft, weil »ein bestimmter Begriff des Zeichens [...] und ein bestimmter Begriff des Verhältnisses zwischen gesprochenem Wort und Schrift schon feststeht« (ebd., S. 14). Darum sei diese
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chotomien verortet Anette Baldauf darum im Dispositiv der »Macht – die Macht, bestimmte Weltanschauungen, Konzepte und Kategorisierungen hegemonial durchzusetzen und sie als wahrhaft gültig, so ›wie es wirklich ist‹, zu präsentieren«.45 Bezogen auf den Raumdiskurs zeigt sich ein solches Bestreben ansatzweise in der oben beschriebenen Trennung von Topographie und Topologie durch Günzel und Borsò: Indem sie die Begriffe dichotom gegeneinander stellen, implizieren die Autoren Lesarten, die letzteren Begriff über ersteren priorisieren. Da Günzel und Borsò auf dieser Grundlage gegen das Verständnis eines Behälterraums und Festschreibungsmechanismen sowie für Relationalität und Dynamik in der Raumanalyse argumentieren, hierarchisieren sie die topologische zumindest gegenüber bestimmten Formen der topographischen Raumanalyse und schaffen eine wertende Differenzierung der Begriffe. Kritik an der hierarchisierenden Struktur von Dichotomien haben auch Wissenschaftler innerhalb anderer Disziplinen geübt: Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive formuliert beispielsweise Stefan Müller eine Theorie des Widerspruchs Jenseits der Dichotomie und ihrer klar abgegrenzten typologisierten Gegensätzlichkeit. So erkennt Müller zwar an, dass Dichotomien »zu klaren, eindeutigen Aussagen und zu überprüfbaren und nachvollziehbaren Beweisführungen« zwingen. Aus genau diesen Gründen habe man es aber mit einer Folge von »In- und Exklusionsmechanismen« zu tun, die durch binäre Setzung Begriffe über andere priorisierten und damit eine »Grundstruktur [...] repressiven Denken und Handelns« repräsentierten. Deshalb sei es von zentraler Bedeutung »Widerspruchskonfigurationen jenseits binärer Bestimmungen zu diskutieren« und eine Theorie des Widerspruchs zu formulieren, die eine Überwindung dichotomer Setzungen mit sich brächte.46 Elisabeth Mudimbe-Boyi, die aus den Kulturwissenschaften kommend Beyond Dichotomies blickt, führt Dichotomisierungen mit der Verschaltung von Subjekt und Raum eng: Die repressive Struktur der Dichotomie ist ihr zufolge untrennbar mit der Festlegung von Identität und Subjekt durch räumliche Konfigurationen verbunden. Im Zusammenhang mit Fragen, die die Globalisierung aufwerfe, möchte sie »a
Umwidmung so schwer zu erreichen. Als Ausweg sieht Derrida die phonologisch unscharfe ›différance‹, die »als Prozess des ständigen Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens [...] die fundamentale Priorität der Schrift vor der gesprochenen Sprache demonstrieren« soll (Zapf: Différance/Différence, S. 130). Durch die Verschiebung von ›e‹ zu ›a‹ führt Derrida die Präzision der Differenzierung und damit auch ihre hierarchisierende Macht ad absurdum. Mit seinen Wortschöpfungen kondensiert er »die Oppositionen auf möglichst ökonomische Weise in einzelnen Wörtern, deren wahre Bedeutung unter allen Umständen ›unentschieden‹ bleibt« (Thiel: Derrida S. 95). 45 Baldauf: Mit Derrida, S. 142. 46 Alle Zitate Müller: Jenseits der Dichotomie, S. 7.
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rethinking of such concepts as identity, nation and tradition, the local and the global« provozieren. Eine globalisierte Denkweise stelle »the necessity, the validity or the legitimacy of dichotomized representations of contemporary societies, cultures, and collective or individual identities« infrage. Gleichwohl hätten diese ›dichotomized representations‹ – genauer bezeichnet als räumliche Verhältnisse von »center/periphery, Empire/its Others, local/global« – auch weiterhin Bestand.47 Daher sei es von entscheidender Bedeutung für die Kritik von Dichotomisierungen, transgressive Konzeptualisierungen zu formulieren, die eine Abkehr sowohl von Dialektik als auch von Dichotomien darstellten. Eine solche legen Anil Bhatti und Dorothee Kimmich mit dem Konzept der Ähnlichkeit vor. Gegen den Begriff der Differenz, genauer: gegen die Dichotomien ›Identität/Alterität‹ sowie ›eigen/fremd‹ formulieren sie ein Programm, das eine »Affinität zu räumlichen Modellierungen von Nähe und Ferne« aufweist, die »Markierung von Differenzen« erlaubt, »aber nie einen Bruch oder Gegensatz« darstellt.48 So versuchen sie »das Verhältnis von Moderne und Imagination, Natur und Kultur, Mensch und Ding nicht dichotom, sondern angemessen komplex zu beschreiben«.49 Einem solchen, Dichotomien vermeidenden Programm scheinen grundsätzlich auch Dünne und Günzel in ihrem Raumtheorien-Band folgen zu wollen: Wenn sie im Vorwort eben keine »sprach- oder gar kulturdeterministische Ordnung« von ›Raum‹ als »wesenhafte[r] Instanz [...] der territorialen Räumlichkeit« gegenüber »relationaler, differenzieller Räumlichkeit« von ›espace‹ und vice versa vorschlagen und vielmehr das Bemühen in den Vordergrund stellen, eine Sammlung anzubieten, die »solchen einfachen Entgegensetzungen entgegenwirkt«, dann geschieht dies im Bewusstsein der Hierarchisierungsleistung von Dichotomien einerseits und der Affinität der Raumtheorie zur dichotomen Begriffseinteilung von Stillstand und Bewegung andererseits.50 Allerdings scheuen sie dennoch die Dichotomisierung als Heuristik ebenso wenig wie große Teile der von ihnen gesammelten Raumtheorien: Im Folgenden werden Theoretiker rezipiert, deren Raumkonzeptionen anhand der Dichotomie von Stillstand und Bewegung ausgerichtet werden können und deren Überlegungen den Kern des Diskurses über die räumlichen Dichotomien betreffen.51 Diese Studie verfolgt darum auch nicht das Ziel, die Dichotomie von Still-
47 Alle Zitate Mudimbe-Boyi: Beyond Dichotomies, S. xiif. 48 Bhatti/Kimmich: Einleitung, S. 13f. 49 Bhatti et al.: Ähnlichkeit, S. 240. 50 Dünne/Günzel: Vorwort, S. 11. 51 Doch auch alternative Konzeptionen von Raum lassen sich finden: Ein Blick in Michel Foucaults raumtheoretische Texte etwa zeigt den zumindest impliziten Versuch einer Überwindung der Dichotomisierung des Raums, insofern er sich nicht mit einer genauen Unterscheidung der Begrifflichkeiten aufhält und sich so keinem der Pole zuordnen lässt.
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stand und Bewegung zu überwinden, weder durch ihre Auflösung in Dialektik oder Dekonstruktion, noch durch ein Programm der Ähnlichkeit. Mit den Raumtheorien und später auch mit den literarischen Analysen soll vielmehr die Frage nach der Produktivität der Dichotomisierung von Raum in Stillstand und Bewegung gestellt werden, die normative und hierarchische Konsequenzen einer solchen Einteilung mitbedenkt. An die Stelle von Transzendenz und Aufhebung tritt, wie sich im Folgenden zeigen wird, bereits in den theoretischen Positionen die Frage nach der Konstitution von Räumen durch Dichotomisierung – und damit, im Sinne Mudimbe-Boyis, auch eine neue Sichtweise auf die Positionierung und Konstitution des innerhalb dieser räumlichen Dichotomie gebundenen Subjekts.
Vor allem in seiner Untersuchung der Heterotopien benutzt er ›lieu‹ und ›espace‹, ohne exakt zwischen ihnen zu differenzieren (vgl. Foucault: Heterotopien). In seinem Essay Von anderen Räumen konstatiert er zur Räumlichkeit: »Unsere Zeit ließe sich [...] als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.« (Foucault: Von anderen Räumen, S. 931) Die Differenz von Standpunkt und Intervall, von Stillstand und Bewegung, ist für Foucault abgelöst durch eine komplexe Vermischung, ein Ineinander von Lokalisierung und Ausdehnung. Die Gegensätze bestehen weiterhin, sind jedoch nicht mehr getrennt wahrnehmbar, sondern nur in ihrer Gleichzeitigkeit beschreibbar. In Foucaults Untersuchungen treten Nachbarschaftsbeziehungen als spatiale Techniken in den Vordergrund, die die Ablösung des Raums von gesellschaftlich vorgegebenen Raumnutzungen vorantreiben – wie Derrida erkennt Foucault in Dichotomisierungspraktiken die Bestrebung, Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten, etwa in der Trennung von privatem und öffentlichem Raum. Dies kann erklären, warum beispielsweise seine Überlegungen zu den Heterotopien eben nicht dichotomisiert sind, beispielsweise durch eine zum Prinzip der Raumkonstitution erhobene Trennung von Heterotopie und Nicht-Heterotopie. Dafür aber zahlen seine Leser den Preis, nicht auf eine trennscharfe Terminologie zurückgreifen zu können: Wo Derrida versucht, durch Buchstabenersetzung Machtverhältnisse zu dekonstruieren, geht Foucault den Weg, Dichotomien schlicht nicht zu reproduzieren, indem er Begriffe wie Ort und Raum synonym benutzt; bei Foucault wird Luhmanns Bonmot zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts – »Franzosen bevorzugen, bei ähnlichem Problembewusstsein, die Stilmittel der gepflegten Ungenauigkeit« (Luhmann, Fuchs: Reden und Schweigen, S. 20) – zum Programm einer Dichotomisierungsvermeidung.
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1.4 CERTEAUS RAUMTHEORIE DER BEWEGUNG Um die Konsequenzen der Wechselwirkung von Raum und Subjekt innerhalb der Dichotomie von Stillstand und Bewegung zu betrachten, ist es hilfreich, zunächst mit Certeaus Kunst des Handelns eine spezifische Raumtheorie in den Blick zu nehmen, von der aus im Anschluss weitergedacht und generalisiert werden kann. Certeaus Verständnis von Ort und Raum und sein daran anschließendes Konzept der Raumhandlungen entlang von ›Karte‹ (carte) und ›Route‹ (parcours) respektive Sehen und Gehen lassen sich als Versuch lesen, Bewegung als Raumpraxis gegen Distanz als Erzeugung von Raum zu priorisieren. Indem er räumliche Bewegung mit Sprechakten und Narrativen gleichsetzt, etabliert er damit für das Subjekt eine veränderte Form der Äußerung. Der Ort ist dabei für ihn »die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden«. Dabei ist es vor allem das Nebeneinander von Orten, das Orte als solche bestimmt. Zur Konstitution des Raums schreibt Certeau: »Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten [...]. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«52
Machen, Herstellen, Handeln stellen für Certeau die zentralen Kategorien zur Bestimmung von Räumen dar; im Handeln spiegeln sich die im Zusammenhang mit Böhme schon erwähnten Kulturtechniken des Raums wider, die dafür verantwortlich zeichnen, dass Räume produziert werden. Mit Maurice Merleau-Ponty und dessen Phänomenologie der Wahrnehmung unterscheidet Certeau weiter zwischen einem geometrischen und einem anthropologischen Raum, wobei der erste seinem Verständnis nach von Distanz geprägt ist, der zweite dagegen von Nähe. Ein Mensch, der sich auf dem World Trade Center befindet, so erläutert Certeau in seinem wahrscheinlich berühmtesten Beispiel, zeige, wie sich Distanz auf das menschliche Gedankengefüge auswirke: »Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ›besessen‹ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen«.53 Distanz, also Fernsicht, verleiht dem Raum Textualität, macht ihn lesbar und ermöglicht, ihn zu kartieren. Die kartographische Praxis wird von Certeau zum Prinzip einer distanzierten Weltsicht und Raumwahrnehmung erhoben, distanzierte Aufzeichnung
52 Beide Zitate KdH, S. 217f. 53 Ebd., S. 180.
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macht den Raum zu einem Ort und kehrt so den Prozess der Raumkonstitution – ›ein Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht‹ – um. In diesem Sinne produziert distanziertes Sehen eine Momentaufnahme, die Alltagspraktiken nicht festhält, sondern auslöscht. Die durch das Distanzsehen erzeugte »Karte erfaßt nicht nur einen physischen Ort, sondern Stillstand und Aussetzen der Selbstverständlichkeiten, auf denen unser Alltag beruht«, wie Schlögel schreibt.54 Demgegenüber beschreibt Certeau mit dem Gehen eine raumkonstitutive Praxis der Bewegung, die aus der Nähe operiert und die deswegen Räume erzeugt. ›Gehen‹ löscht Distanz aus, die Bewegung selbst macht eine distanzierte Betrachtung unmöglich. Damit stellt er der ›Karte‹ als Produkt distanzierten Sehens die ›Route‹ des Fußgängers als Raumerzeugungspraxis gegenüber: »Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens.« Gehen stellt Metrisierung und Kartographie – das Prinzip, »Handeln in Lesbarkeit zu übertragen« – infrage.55 So wird deutlich, dass bereits Certeau den zentralen Streitpunkt zwischen Topographie und Topologie verhandelt: Aufzeichnung und Repräsentation von Räumen auf der einen Seite treffen auf beziehungs- und bewegungsgebundene Erzeugung von Räumen auf der anderen Seite. Das Sehen steht damit paradigmatisch für die Erzeugung eines Ortes, das Gehen wird zum Emblem für die Erzeugung eines Raums. Durch eine konsequente Priorisierung des Gehens über das Sehen nutzt Certeau das Potential seiner Dichotomie und hierarchisiert Bewegung über Stillstand: Weil Gehen Räume eröffnet, indem es bedeutet, »den Ort zu verfehlen«, negiert es jegliche Praxis topographischer Aufzeichnung; indem man also den Raum per ›Route‹ erschließt, eliminiert man den Ort als Punkt und stärkt die Bahn oder Linie, die den Raum eröffnet. Der Gehende erzeugt einen »Nicht-Ort«, der nicht aus der Distanz betrachtet, nicht ver-ortet, nicht kartographiert werden kann – und damit auch nicht gelesen.56 Für Certeau ist die Dichotomie zwischen Ort und Raum ein zentrales produktives Moment der raumerzeugenden Praktiken: Orte und Räume bilden sich durch die Handlungen der Menschen, dieselbe räumliche Umgebung kann als Raum sowohl durch den distanzierten Blick, als ›Karte‹, wie auch durch das Vorübergehen, als ›Route‹, je anders produziert und konstituiert werden. Entscheidend ist nun, dass bei Certeau das Gehen verknüpft ist mit einer kommunikativen Funktion: Als Festlegung durch Distanzierung verhindert das Sehen für Certeau Kommunikation, dagegen versteht er
54 Schlögel: Im Raume, S. 31. 55 Beide Zitate KdH, S. 188f. 56 Beide Zitate ebd., S. 197. Dies steht im Gegensatz zu einer bestimmten Lesart Certeaus, die im Verlauf dieses Kapitels anhand der Überlegungen von Moritz Reiffers besprochen wird und die auch Kirsten Wagners Überlegungen zu Certeau und Barthes als Nachfolger der Leseakte Benjamins zugrunde legt (vgl. Wagner: Im Dickicht der Schritte, S. 178f.).
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das Gehen als Sprechakt, der gegenwärtig, diskontinuierlich und phatisch ist.57 Certeau begreift Kommunikation durch Gehen als unbedingt positiv besetzte Möglichkeit des Austauschs, der Widerständigkeit gegenüber den dominierenden Praktiken der Distanzierung erlaubt und Selbstverwirklichung ermöglicht. Dünne sieht darum Certeaus Leistung vor allem darin, »die strukturverändernde Kraft der Praktiken« beschreibbar zu machen, wobei die Praktiken »bestehende Dispositive gegen den strategisch geplanten Zweck ›taktisch‹ aneignen und dabei verändern«.58 Die Dichotomie von Stillstand und Bewegung äußert sich bei Certeau als Dichotomie von Ort und Raum, was besonders in der Bezeichnung des Raums als ›Nicht-Ort‹ augenfällig wird: Wird durch Gehen eine Äußerung erzeugt, tritt Bewegung als kommunikatives Leitprinzip auf und eröffnet einen Raum. Wo dagegen aus der Distanz solche Bewegungen kartographiert werden, macht »[d]ie sichtbare Projektion« der Aufzeichnung »gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat«; es herrscht Stillstand.59 Erst durch neuerliche Bewegung wird der Ort wieder in einen NichtOrt verwandelt. Certeaus Priorisierung tritt auch an dieser Stelle offen zutage: Es ist die Bewegung, die er gegenüber dem Stillstand favorisiert und deren Loblied er in Form der Fußgängerbewegung der ›Route‹ singt. Aus den bisherigen Überlegungen kann nun selbst eine heuristische Zusammenstellung des Begriffspaars Stillstand und Bewegung und seiner Analogiebildungen in den raumtheoretischen Diskursen geschaffen werden, die als Übersicht dienen soll: Neben Certeaus Raumtheorie und seinen Begriffen von Sehen und Gehen kann die Dichotomisierung von Räumlichkeit in Stillstand und Bewegung auch, wie gezeigt, um die grundsätzliche Zuordnung zu den Polen ›Raum‹ und ›espace‹ ergänzt werden. Anhand Certeaus Charaktermerkmalen für die distanzierende ›Karte‹ und die kommunikative ›Route‹ lassen sich auch Topographie sowie Topologie in die Liste aufnehmen, schließlich erscheinen sie spätestens durch Vermittlung der Begrifflichkeiten als distanzerzeugende topographische Praxis bzw. als topologische Übertragung von kommunikativen Praktiken des Gehens. Keinesfalls ist aus einer solchen Liste eine Übereinstimmung der vertikal zugeordneten Begriffe abzulesen. Hingegen ist sie geeignet, eine Reihe von Affinitäten herauszustellen und zugleich zu verdeutlichen, wie wirkmächtig die Aufteilung des Raumdiskurses in die Dichotomie von Stillstand und Bewegung ist. Nach den bis hier besprochenen Raumtheorien ergibt sich folgende, um weitere Begriffe zu ergänzende Übersicht:
57 Zu den Konsequenzen der Gleichsetzung von ›Gehen‹ und Sprechakt vgl. TEIL I, Kap. 3, S. 127f. in dieser Arbeit. 58 Dünne: Imagination, S. 29. 59 KdH, S. 188f.
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Stillstand
Bewegung
(Autoren)
›Raum‹
›espace‹
(Dünne/Günzel)
Topographie
Topologie
(Borsò, Dünne, Günzel, Stockhammer)
Sehen/›Karte‹
Gehen/›Route‹
(Certeau)
Ort
Raum/Nicht-Ort
(Certeau)
1.5 RAUM UND SUBJEKT: VON CERTEAU ZU DESCARTES UND ZURÜCK Gemeinsam ist all diesen Zugängen, dass sie Raum als abhängig von den Handlungen des Subjekts begreifen. Diese wiederum sind abhängig von der Perspektive, die das Subjekt gegenüber dem Raum einnimmt beziehungsweise über die es einen Raum schafft, in dem es sich konstituieren und kontextualisieren kann – was anhand der folgenden Überlegungen zum Subjekt gezeigt werden soll. Mit Sascha Seiler kann zunächst das von George Berkeley aufgestellte Grundprinzip empiristischer Erkenntnistheorien esse est percipi – Sein ist Wahrgenommenwerden – herangezogen werden: »Das wahrnehmende Subjekt im Raum nimmt ein Objekt wahr; dieses Objekt existiert, weil es vom wahrnehmenden Subjekt gesehen, gefühlt und/oder gehört wird. Das Objekt existiert also nur, sobald bzw. wenn es wahrgenommen wird.«60 Certeau selbst problematisiert dieses Verhältnis, indem er mit Sehen und Gehen zwei Praktiken der Raumerzeugung gegenüberstellt, die auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Wahrnehmung auf der einen und Raumkonstitution auf der anderen verweisen. Tertium comparationis dieses Zusammenhangs ist die Position des Subjekts, seine Perspektivierung – und damit auch seine Kontextualisierung und sein Selbstbewusstsein: In der Haltung zu Wahrnehmung von Räumlichkeit zeigt sich bei Certeau die Praxis der eigenen Subjektivierung. Zu dieser Verschaltung gelangt Certeau Ian Buchanan zufolge aufgrund der psychoanalytischen Prägung seiner Dichotomie von Sehen und Gehen. Der Zusammenhang von Subjekt und Raum ergibt sich demnach aus dem Einfluss, den Jacques Lacans Überlegungen zum Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion auf Certeau hatten.61 Jede Raumerfahrung, so Buchanan, stelle für Certeau nichts anderes dar als die Reinszenierung des Spiegelstadiums (stade du miroir) und damit eine Dezentrierung 60 Seiler: Anwesenheit, S. 26. 61 Vgl. Lacan: Spiegelstadium.
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des Subjekts. Grundsätzlich betroffen von dieser Reinszenierung sei »more or less anything that involves movement (including the movement of thought itself)«. Und in der Übertragung der Reinszenierung des Spiegelstadiums auf die Bewegung scheine das hinter den Überlegungen zu Karte und Route stehende Raumkonzept Certeaus auf: Im Erkennen seines eigenen Spiegelbilds löst das Kleinkind sich selbst von der Welt, erzeugt sein Ich, trennt in Subjekt und Umwelt – und erschafft so zugleich Raum: »Space is what allows the relation of perceiving to perceived to be formulated, it is the distance between subject and object that enables them to be distinguished from each other by perception.«62 Nur durch den Raum ist es möglich, sich als Subjekt von der Umwelt zu trennen. Raum kann demzufolge mit Certeau als Schaltstelle zwischen Subjekt und Objekt im Modus von Stillstand und Bewegung sichtbar gemacht werden: Die Selbstwahrnehmung des Subjekts wird zur Bedingung der Existenz von Raum. Auf diese Weise lassen sich Raumtheorien auch als Subjekttheorien fassen – und philosophische Überlegungen zur Subjekt-Objekt-Spaltung können auf ihre räumlichen Qualitäten überprüft werden. Allerdings ist Certeau weder der erste noch der einzige, der diesen Zusammenhang beschreibt; die Perspektivierung des Subjekts als Erzeugung von Raum erscheint als Komplex bereits an der Schwelle zur frühen Neuzeit, wie Hans Ulrich Gumbrecht notiert. Erfuhr sich der ›mittelalterliche Mensch‹ »als Teil der göttlichen Schöpfung«, was ihm nicht »die Illusion einer eigenständigen, ›objektiven‹ [...] oder gar vollständigen Weltauffassung« zuteil werden ließ, konstituierte sich das »›neuzeitliche Subjekt hingegen [...] durch eine Differenz: indem es eine Grenze zwischen sich und der Welt zog«. Gumbrecht beschreibt das frühneuzeitliche Subjekt mit systemtheoretischem Vokabular als »Beobachter erster Ordnung«, dessen Bemühungen um Selbstreferentialität ihm zum Schlüssel der Welt wurden.63 Deshalb ist mit diesem Bemühen um die Erkenntnis des Selbst nach Hans Blumenberg zugleich das Erwachen einer »selbstbewußten« Neugierde im Prozeß der theoretischen Neugierde verbunden. Diese verknüpft die Entdeckung des Selbst mit der Überschreitung des Bekannten und der Entdeckung und Eroberung der Welt: Das Hinausschauen auf noch nie zuvor Gesehenes und das Hinausgehen beziehungsweise -fahren in noch unentdeckte Gebiete wird dem frühneuzeitlichen Menschen zum Movens einer neugierigen Selbsterfahrung, die »die Resultate des zunächst angemaßten Blicks hinter den Schöpfungsprospekt als Bestätigung ihres Verdachtes wie ihres Rechtes auf das Vorenthaltene in die Energie des plus ultra umzusetzen vermochte«. 64 Zwei literarische Urszenen der ›selbstbewußten Neugierde‹ – Francesco Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux sowie Dante Alighieris
62 Beide Zitate Buchanan: Certeau, S. 114, 112. 63 Gumbrecht: Tod des Subjekts, S. 307. 64 Blumenberg: Prozeß, S. 17.
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Rekapitulation der Fahrt des Odysseus’ über das ›nec plus ultra‹ der Säulen des Herakles hinaus in der Göttlichen Komödie – werden im Verlauf dieser Arbeit noch genauer analysiert, da die in ihnen zum Ausdruck gebrachte transgressive Struktur der Weltaneignung eine zentrale Rolle für das Verständnis jener (post-)modernen Texte spielt, die das Zentrum der Untersuchung bilden.65 Daneben kann jedoch auch René Descartes’ ›cogito ergo sum‹ und damit die neuzeitliche Begründung von Subjektivität schlechthin als eine dritte Urszene der Raumtheorie des Subjekts im Modus von Stillstand und Bewegung verstanden werden. Indem er die »Zweiteilung der Welt« in ›res cogitans‹ (Denkendes) und ›res extensa‹ (Ausgedehntes) postuliert, begründet Descartes eine der wirkmächtigsten philosophischen Denkstrukturen der Neuzeit, den Dualismus von Subjekt und Objekt.66 Dabei ist für die vorliegenden Überlegungen zur Raumkonstitution als Subjektkonstitution entscheidend, dass Bewegung für Descartes eigentlich nichts anderes ist als »das Ereignis, durch das ein Körper aus dem einen Ort in einen anderen übergeht«.67 Das Subjekt konstituiert sich »durch eine Differenzerfahrung[,] indem es eine Grenze zwischen sich und der Welt« schafft und so eine »Abgrenzung des Subjekts von der Objektwelt« vollzieht.68 Diese Differenzleistung erzeugt im frühneuzeitlichen Subjekt Blumenberg zufolge »ein Bedürfnis, das man [...] als ›topographisches‹ klassifizieren könnte«: Um sich selbst zu erfahren, sucht es Übersicht über den Raum zu gewinnen, ihn für sich als Topographie anzueignen.69 Bestimmend für die Selbst- wie Raumwahrnehmung des Subjekts bleibt damit eine Verortung über eine distanzierte Position des Stillstands: Nur aus dem Stillstand heraus kann das Subjekt die ›res extensa‹ erkennen und damit sich selbst als ›res cogitans‹ konstituieren. Damit vollzieht das cartesianische Subjekt die, wie Gumbrecht notiert, »Institutionalisierung seiner Perspektive auf die Welt« als Subjektivierungsprozess.70 Das cartesianische Subjekt erzeugt Raum aus einer Position des Stillstands heraus und erkennt sich selbst durch die distanzierte, topographische Wahrnehmung von Raum aus einem erhöhten Standpunkt. Ein solcher erhöhter Blick »stiftet Ordnung«, wie Florian Welle schreibt: »Er verortet das betrachtende Subjekt, gibt ihm Halt, Ordnung und Orientierung. Und er impliziert immer auch
65 Zur Bedeutung der Besteigung des Mont Ventoux von Petrarca vgl. TEIL I, Kap. 2, S. 9093; zu Odysseus’ Südpolfahrt als Urszene der überschreitenden und überschreibenden Polarfahrt vgl. TEIL II, Kap. 4, S. 199-203. 66 Günzel: Physik und Metaphysik, S. 22. 67 Descartes: Prinzipien der Philosophie, Zweiter Teil, Satz 25, S. 119. 68 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 15f. 69 Blumenberg: Prozeß, S. 17. 70 Gumbrecht: Tod des Subjekts, S. 308.
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sowohl Aneignung als auch Verfügbarmachen eines zunächst Unverfügbaren.« 71 Der Stillstand des cartesianischen Subjekts ermöglicht also eine »Disziplinierung des Ich« und dadurch die Fixierung der Welt, eine Raumwahrnehmung, die aus der Distanz den Raum aneignet, alle wahrgenommenen Objekte im Raum auf sich selbst bezieht und somit zentriert und totalisiert.72 Gleichzeitig aber bleibt jede Perspektive eine individuelle, denn was das Subjekt konstituiert, ist ein Raum, der nur aus seiner eigenen Perspektive zugänglich erscheint. Daraus lässt sich nun folgern, dass die Konstitution des Subjekts an der Konstitution des Raums abgelesen werden kann, an der je spezifischen Perspektive, die das individuelle Subjekt gegenüber dem Raum einnimmt. Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Analyse von Subjektivierungsformen. Raum wird aber auch deshalb zum Paradigma der Analyse des Subjekts, weil der Blick auf die Raumkonstitution als Schaltstelle von Subjektkonstitution nötig ist. Dem Subjekt sind als Individuum die eigenen Subjektivierungsprozesse nämlich nicht zugänglich, da es sie immer nur uneigentlich dann thematisieren kann, wenn es in Problemkonstellationen eingebunden ist. Ralf Konersmann hat darauf hingewiesen, dass Selbsterkenntnis immer auch Selbstbespiegelung im Sinne der Dezentrierungserfahrung des Spiegelstadiums ist und das Subjekt nur »im Modus der Differenz« auf sich sehen kann.73 So wird Subjektivität erst dann erkennbar, wenn sie gleichzeitig auch Problem ist – dort, wo ›res cogitans‹ und ›res extensa‹, wo Selbstund Weltwahrnehmung auseinandertreten, wo, mit den Worten Dieter Henrichs, »Erfahrungszusammenhänge instabil« werden. 74 Diese instabilen Erfahrungszusammenhänge, die im frühneuzeitlichen Mensch, Blumenberg zufolge, ja ein ›topographisches Bedürfnis‹ nach Übersicht auslösten, versteht Moritz Reiffers in seiner Kulturgeschichte des Überblicks als perspektivische Mängel des Menschen. Diese
71 Welle: Fernrohr, S. 171. Welle argumentiert anhand von Barthes: Eiffelturm. 72 Bürger: Verschwinden des Subjekts, S. 37. 73 Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 25. 74 Henrich: Selbsterhaltung, S. 308. Konersmann bringt das Verständnis des Verhältnisses des Subjekts zu sich selbst auf folgende Formel: »Darzustellen ist eine Relation, in der das Subjekt sich als sein Gegenstand reflektiert, der sich umgekehrt in ihm reflektiert, so daß er, der es selber ist, ihm, und in eins damit es sich, in dieser seiner puren Gegenständlichkeit sofort entgeht, denn das Subjekt ist immer auch schon mehr als das, als was es sich erblickt, nämlich es selbst.« (Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 25) Damit ist das Subjekt in einem Unzulänglichkeitsverhältnis zu sich selbst gefangen, es kann sich immer nur mangelhaft nachvollziehen – um diese Mängel der Begriffsarbeit gleichzeitig zu thematisieren und zu überwinden, schlägt Konersmann die Metapher des Spiegels als Beschreibungsform des Subjektes vor und ruft damit notwendigerweise Lacans Überlegungen zum Spiegelstadium auf (vgl. ebd. S. 38-41).
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seien historisch unterschiedlich aufgetreten, hatten jedoch immer zur Folge, dass der neuzeitliche Mensch auf sie reagiert, indem er Selbstbestimmung metaphorisch über eine ganz bestimmte Art der Neuperspektivierung realisiert: den Überblick. Die Mängel selbst sind dabei »Mängel des Wissens und der Macht« und beruhen vor allem auf den neuzeitlichen Verunsicherungen des Subjekts und auf dessen Erkenntnis, dass »Macht und Wissen erreicht und gehalten werden müssen«. 75 Reiffers rekapituliert diese Mängel in einer Art Historie der Störungen der subjektiven Einheit: Ausgehend von den narzisstischen Kränkungen des Menschen nach Sigmund Freud führt er die Mängel und Verunsicherungen des neuzeitlichen Menschen auf: Von der Entdeckung der ›Neuen Welt‹ als »geographische[r] Revolution«76 der Renaissance sowie der kopernikanischen Wende, die das ptolemäische Weltbild ablöste und dem Menschen die »Erfahrung des Zentrums« nahm, über die funktionelle Ausdifferenzierung der Ökonomie, die Mobilisierung des Menschen und die Disziplinierung der Gesellschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis hin zum drohenden Verlust der Persönlichkeit in der Masse der Großstadt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erfährt sich das Subjekt im Laufe der Neuzeit immer wieder und im zeitlichen Verlauf immer stärker als dezentriertes, perspektivisch eingeschränktes, geradezu blindes Mängelwesen.77 Diese Dezentrierungen des Menschen, so macht Stefan Hesper klar, gründen sich in einer sich über die Moderne hinweg steigernden Pluralität der Perspektiven, die spätestens im beginnenden 20. Jahrhundert zu voller Blüte gelangt: »Die Mo-
75 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 22. 76 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 7. 77 Reiffers, S. 122; vgl. ebd., S. 299. Freud berichtet in Die Schwierigkeit der Psychoanalyse bekanntlich von den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit, der kosmologischen durch Kopernikus, der biologischen durch Darwin sowie der psychologischen durch ihn selbst. Konersmann erkennt darin die Ausbildung des neuzeitlichen Subjekts, das auf den »epochalen Bruch mit einer Welt, in der Selbst- und Wirklichkeitserfahrung eine Einheit bilden«, reagiere, indem es eine »charakteristische Doppelstruktur« ausbilde: »Einerseits ergeht nun die Aufforderung an das Ich, sein Bild vom Selbst in der Zeit als identisch zu bewahren, andererseits weiß es sich abhängig von den Veränderungen und Neuorientierungen einer Wirklichkeit, in der es sich als Einheit stabilisieren soll« (Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 25). So wird sich das Subjekt selbst problematisch, Reiffers kommt jedoch zum Schluss, dass es auf jede dieser Entwicklungen eine ›passende Antwort‹ parat hat: Das Subjekt wird »zum Mittel jener eigentümlichen Bewegung, durch die sich so manche Dezentrierung auf einer ›höheren Ebene‹ eigentlich in ihr Gegenteil verkehrt: indem sie gerade die Erkenntnis der die Souveränität des Subjektes ausschließenden Faktoren als Triumph des Wissens und der Macht dieses Subjekts erscheinen lässt« (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 237).
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dernität der Wahrnehmung zeigt sich darin, daß sie keinen festen Standort mehr hat und einer vielfachen Logik der Perspektivität unterworfen ist.«78 Ausgehend von der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca, die im nächsten Kapitel noch genauer auf ihre Leistung zur Verknüpfung von Subjektkonstitution und Raumkonstitution hin untersucht wird, erkennt Reiffers nun in der Selbstbestimmung durch die Metapher des Überblicks den Versuch, der Pluralität der Perspektiven entgegenzuwirken und »Fiktionen des Wissens und der Macht« zu erzeugen: Weil der – von Reiffers so ins Spiel gebrachte – »Blick im Unten«, das ist die Perspektivierung des Subjekts im Inneren gesellschaftlicher, ökonomischer oder räumlicher Diskurse, sich durch einen »Mangel an Wissen und damit verbundener Macht« auszeichnet, kann das im Unten verbleibende Subjekt »das Gesehene nicht in einen größeren Zusammenhang einordnen, [das Gesehene] bleibt unverstanden, ein Wirrwarr von Gegensätzen deren Zusammenhang nicht klar wird, deren nicht im Bereich der Wahrnehmung liegende Ursache und Zielsetzung [das Subjekt] sich passiv und gewissermaßen blind ausgesetzt findet.«79
Darum greife das Subjekt auf den distanzierten Überblick, auf den Blick von oben zurück, um sich selbst als Ganzes wahrzunehmen und durch die Konstitution des Raums im Raum sich selbst zu bestimmen: »Insofern stellt [der Überblick] eine Form dessen dar, was man auch als ›Rezentrierung‹ bezeichnet hat.«80 Das cartesianische ›cogito‹ als Begründung von Subjektivität bezeichnet damit nichts anderes als eine rezentrierende Antwort auf einen instabilen Erfahrungszusammenhang als Problematisierung von Subjektivität – eine Antwort, die gleichzeitig zur Begründung moderner Subjektivität schlechthin gerät. Als eine solche Rezentrierung zum Zweck der Erlangung von Wissen markiert ist der Überblick auch in D’Alemberts und Diderots Encyclopédie. Konersmann beschreibt deren Versuch, das Weltwissen zu überschauen, als »Einnahme eines überlegenen, und das kann hier nur heißen: erhöhten Blickpunktes, der zwar nicht mehr alle möglichen Perspektiven übergreift, [...] der aber doch ›Erhabenheit‹ geltend macht. Dem Auge präsentiert sich eine Ordnung, die zum einen als ›einfach‹ bestimmt ist, zum anderen als ›klar und übersichtlich‹.«81
78 Hesper: Schreiben ohne Text, S. 8. 79 Alle Zitate Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 22, 13. 80 Ebd., S. 22. 81 Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 140.
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Instabile Erfahrungszusammenhänge bzw. Mängel entzünden das topographische Bedürfnis des Subjekts und treiben es dazu an, sich, zum Zweck einer Selbstvergewisserung als ganzer Mensch, eines Ortes zu vergewissern, der eine einfache Ordnung schafft, die Klarheit und Übersichtlichkeit suggeriert; indem das Subjekt mittels Überblick und Rezentrierung auf diese Mängel reagiert, schafft es selbst aus der Distanzsicht den Raum – ohne dabei, und das ist nun entscheidend bei den Analysen sowohl Konersmanns als auch Reiffers’, sich wirklich seiner selbst bewusst zu werden. Denn der Überblick, die Wahrnehmung des Selbst als Ganzes, so betont Reiffers, muss Fiktion bleiben, kann nur »als verstanden imaginiert werden«. Zu einem entscheidenden Hilfsmittel und Medium für solche trügerischen Rezentrierungsversuche wird im Laufe der Neuzeit – und hiermit erfolgt die Rückbindung an Certeau – die Karte. Sie impliziert einen erhöhten Betrachterstandpunkt und erfüllt daher eben auch eine »Überblicks-Funktion«, aber sie tut dies nur scheinbar, da »neuzeitliche Karten-Bilder aussehen sollen wie Anblicke von oben, indem die von ihnen vorausgesetzten Projektionstechniken verleugnet werden«. 82 Eine solche Gleichsetzung von Überblick und Kartenblick hat Dünne kritisiert: Sie setze »immer schon die Annahme eines – imaginierten, geometrisch konstruierten oder tatsächlichen – Subjekts voraus, das die Erde von außen sieht«.83 Allerdings werde, so Dünne, auf diese Weise Perspektive – und damit der Subjekt-Blick – mit der Projektion der Karte verwechselt. Umso bezeichnender für die vom Kartenblick etablierte Fiktion des Wissens und der Macht ist allerdings, dass eine solche Gleichsetzung durch das Subjekt selbst vorgenommen wird, indem es Projektion und Perspektive miteinander verschaltet. Gerade weil das Subjekt den eigentlich »a-topischen Blick auf ein geographisches Objekt« zur Behebung eines Mangels an Überblicks verwendet, kommt es nach Richard Hoppe-Sailer zur Wahrnehmung von sich selbst als diesen rein geographischen Raum beherrschendem Ich und umgekehrt auch zur Konstruktion eines »Weltganze[n]« – das Kartographieren »partikuliert« die Welt »im gleichen Maße, in dem es den Zugriff auf das Ganze suggeriert«.84 Mit der Fiktion des Überblicks kann also der Raum selbst als der Austragungsort instabil gewordener Erfahrungszusammenhänge bzw. Mängel aufgefasst werden, der damit wiederum für die Bildung von Subjektivität konstitutiv ist: Die Konstitution des Raums als fiktive Perspektivierung ›von oben‹ durch den Menschen zeigt im Spiegelblick auch die Konstitution des Subjekts. Gleichzeitig wird über die Konstitution des Raums durch das Subjekt jenes Surplus sichtbar, das dem sich selbst beschauenden Subjekt verborgen bleibt. Wenn Certeau nun zuerst auf
82 Beide Zitate Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 241, 25. 83 Dünne: Imagination, S. 47. 84 Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 217.
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das World Trade Center steigt, um sich selbst über die Distanzsicht auf die Welt wahrzunehmen, so wiederholt dies die neuzeitliche, von Reiffers analysierte Strategie, um (Selbst-)Erkenntnis und Macht zu erlangen: der Einnahme eines distanzierten Rundumblicks, der eine Rezentrierung erlaubt. Mag diese Strategie für das Subjekt von Descartes bis D’Alembert und Diderot zumindest eingeschränkt geglückt sein, so nimmt spätestens Lacans ›stade du miroir‹ den Glauben an die Kohäsion des Menschen im Überblick – die Metapher des kartographisch-distanzierten Überblicks, wie sie Certeau verwendet, zeigt sich als Rekonstitutionsversuch eines sich als unzulänglich begreifenden (post-)modernen Subjekts, das über das Sehen die Weltwahrnehmung in Einklang mit der Selbstwahrnehmung zu bringen versucht. 85 Denn Lacan schreibt mit seinen Überlegungen zum Spiegelstadium dem Subjekt zu, dass es für sich selbst insofern problematisch wird, als es die Unzulänglichkeiten seiner eigenen (Re-)Konstitutionsversuche, »die nur asymptotisch das Werden des Subjekts« erreicht, erkennen kann und um die Aussichtslosigkeit seiner Kompensationsstrategie, mit der es »seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität« zu überwinden sucht, weiß. Insofern stellt sich dieses Wissen »jeder Philosophie entgegen, die sich unmittelbar vom cogito ableitet«.86
85 Allerdings ist die Kritik an der Rezentrierung schon vor Lacan aus unterschiedlichen philosophischen Warten formuliert worden. War, wie Reiffers anschaulich darlegt, die rezentrierende Funktion des Überblicks im Mittelalter noch nicht existent und erst durch die neuzeitliche Konzeption des Menschen als eigenständigem Subjekt als Problem in die Welt gekommen, so ließ sie sich, nachdem sie erkannt wurde, zunächst als »Hybris« der Einnahme einer göttlichen Position kritisieren (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 28; vgl. dazu auch ebd., S. 135-137). Auf diese Kritik folgte bei Cusanus im 15. Jahrhundert das Lob der Dezentrierung. Cusanus habe, so Reiffers, die Zentrierung des Menschen durch einen bis dahin angenommenen göttlichen Überblick in seinen Überlegungen verworfen unter der Annahme, dass der Mensch einen »in seiner Beschränkung und Subjektivität reflektierten« Blick nicht mehr an die »göttliche ›Blickform‹« zurückbinden kann und auf seine eigene Perspektive angewiesen ist. Diese »Säkularisierung des Sichtbaren« erzeugte jedoch gleichzeitig den Mangel an Überblick, der den Menschen erst zur Rezentrierungsoperation der Einnahme des Überblicks führte (ebd., S. 131). Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 141 verweist zudem auf Goethe, der die Kartenmetapher wie das gesamte Projekt der Enzyklopädie bereits in Dichtung und Wahrheit kritisiert hatte. Zuletzt führt Reiffers Nietzsche an, der »bestimmte Formen der Rezentrierung durch Reflexion auf ihre sprachlichen Bedingungen, allgemein auf das ›Perspektivische, die Grundbedingung allen Lebens‹, aufzulösen«, als Ziel seiner Philosophie ansah (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 236). 86 Lacan: Spiegelstadium, S. 63f. Die Entwicklungsstadien des Menschen erklärt Birgit Althans als Entfremdung von der Zentrierungserfahrung der ersten Subjektkonstitution:
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Sowohl die Metapher der Karte wie auch die des Spiegels verweisen damit bei Certeau auf die Unmöglichkeit einer stabilen Subjektivierung: Der Blick von oben als distanzierter Kartenblick stellt zwar einen (erneuten) Versuch des zentrierenden Spiegelblicks dar, er ermöglicht jedoch eben nicht Subjekt und Umwelt so in den Blick zu bekommen, dass die Subjektivierung glückt: »The whole fable of the visit to the World Trade Centre can be read as a search for a mirror in which to see a Gestalt of a kind sufficiently compelling to enable [Certeau] to put the everyday into perspective.«87 Genau dies aber bezeichnet einen instabil gewordenen Erfahrungszusammenhang: Das Subjekt kann nicht mehr aus erhöhter Position die Welt als Karte respektive Spiegel wahrnehmen – und damit sich selbst auch nicht mehr als ›ganzer Mensch‹. 88 Insofern beruht Certeaus ganzes Raumverständnis auf einer problematisch gewordenen Differenz zwischen Subjekt und Welt. Die Priorisierung der Bewegung gegenüber dem Stillstand zeigt sich nun bei Certeau im Ansatz, den Subjekt-Objekt-Dualismus nicht mehr cartesianisch denken zu wollen – denn genau dies impliziert der erhöhte Standpunkt des Blicks vom World Trade Center, den Certeau zu Beginn seiner Überlegungen zum Raum einnimmt: Dort findet sich Certeau, wie Ingold anmerkt, als »isolated Cartesian subject, standing aloof from the world«.89 Von dieser Position verabschiedet sich Certeau; er steigt hinab, geht zu den Menschen auf die Straße und versucht so, die Bewegung – und damit meint er die Kommunikation von Subjekten im Gehen – als Subjektkonstitution zu denken. Daniel Weidner nennt seinen Abstieg vom World Trade Center darum eine »theoretische Verschiebung von der Grammatik zur Rhetorik«. Indem Certeau mit einer »performativen Geste, mit einem rhetorischen Exordium« die Wende einleitet und sich selbst in die Straßen New Yorks begibt, verschiebt er die cartesianische Raumbestimmung und ersetzt die Suche nach einem Spiegel durch die Bewegung im Raum.90 Reiffers, der Certeaus Blick vom World Trade Center zum Ausgangs- wie Schlusspunkt seiner Überlegungen macht, beachtet diesen Abstieg kaum. Da der »Traum vom ›ganzen Menschen‹« mit dem Erleben des Menschen als »Masseteil-
»Das Kind muss sich im Verlauf seiner Identitätsentwicklung dann seinem Spiegelbild entfremden, gewahr werden, dass sein Bild seiner selbst ihm eben nicht gehört, dass es in einem Außen existiert, über das nicht verfügt werden kann – eben eine Existenz als Doppelgänger führt.« (Althans: Notwendigkeit des Verkennens, S. 59) 87 Buchanan: Certeau, S. 120. 88 Als Metaphern der Selbstreflexivität und Wissensgenese traten Karte und Spiegel im ausgehenden 18. Jahrhundert zudem zueinander in Konkurrenz (vgl. Konersmann: Lebendige Spiegel, S. 139-141). 89 L, 12f. 90 Beide Zitate Weidner: Rhetoriken, S. 269.
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chen« in der Großstadt als »Gegenstand einer (Selbst-)Beobachtung« ende, nutze Certeau eine neue Blickposition: Er werfe einen »Blick nach unten« – nach Reiffers eine dialektischen Synthese von überblickendem Stillstand und dezentrierter Bewegung –, der eine »Vermittlung zwischen demjenigen [Blick] von oben und der als ›mythisch‹ oder ›metaphorisch‹ gekennzeichneten Perspektive« der certeauschen Fußgänger darstelle. Reiffers behält hier insofern Recht, als die Großstadt einerseits den endgültigen Endpunkt für die Souveränität des Überblicks darstellt, andererseits aber vom Subjekt nicht grundsätzlich eine »Aufgabe des Überblicks« gefordert ist.91 Certeaus Leistung besteht allerdings darin, Raumkonstitution als Subjektkonstitution ohne den Überblick zu denken und damit den Praktiken der Fußgänger selbst Subjektivität zuzuschreiben, wenn auch nur eine Art unvollständige: Dem cartesianischen Subjekt, das durch den distanzierten Überblick Raum als Objekt und sich selbst als Subjekt produziert, setzt er das Subjekt der ›Route‹, den Fußgänger, entgegen, der sich je nur unvollständig begreifen kann – und, vor allen Dingen, will. Certeaus Unvermögen, durch den Blick vom World Trade Center einen Spiegel zu finden, »is then the point of the story. On such a quest, a pluralist can only redeem himself by failing to totalise«.92 Dies sieht Reiffers nicht, wenn er bei Certeaus Abstieg von einer Vermittlungsoperation spricht, die einen »Blick nach unten« erzeuge. Certeau geht es nicht um eine Vermittlung, es geht ihm um eine radikale Neukonzeption des subjektiven Raumerzeugens respektive der räumlichen Subjektkonstitution. Certeaus Fußgänger erheben keinen Anspruch auf Überblick: »[M]it dem Raum umzugehen bedeutet [...], am Ort anders zu sein und zum Anderen überzugehen«.93 Das certeausche Subjekt der ›Route‹ ist darum ein Subjekt der reinen Bewegung, dessen sich konstituierende Subjektivität umgekehrt eben nicht mehr erfasst werden kann vom cartesianischen Beobachter in der distanzierten Position. Das ist die Konsequenz, wenn Certeau davon spricht, dass der ›Akt des Vorübergehens‹ in der Aufzeichnung verloren geht. Bei Certeau sind darum Konzeptionen von Räumlichkeit eng verbunden mit Formationen des Subjekts, wobei Bewegung ein vom cartesianischen Subjekt des Stillstands differentes Ich erzeugt. Ein Ich, dessen Bewegungen zwar aus der Überblicksposition kartierbar erscheinen, aber immer nur zum Preis, dass die gegenwärtige Handlung des Bewegungssubjekts bei der Kartierung sich entzieht. Damit pluralisiert Certeau die ego-
91 Alle Zitate Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 292, 348. 92 Buchanan: Certeau, S. 120. Certeau konzipiere darum, Buchanan zufolge, mit den zwei Hauptpraktiken – »(1) die Zuschreibung von Namen an Orte und (2) das Erzählen von Geschichten über diese Orte« (KdH, S. 198) – Momente, die eine gänzliche Reinszenierung antizipieren lassen, und formuliere damit die Hoffnung auf eine komplette Wahrnehmung des Raums. 93 Ebd., S. 208.
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zentrische Raumwahrnehmung des Überblickssubjekts; anstatt einer Verortung über die Raumwahrnehmung erzeugt das Fußgängersubjekt Raum in der Bewegung. Certeau hat kein Vertrauen mehr in eine Subjektwerdung durch Distanz, ihm geht es auch nicht um eine Vermittlerposition. Sein Misstrauen in den Stillstand des Überblicks führt ihn zu einem Lob der dezentrierten, reinen Bewegung ohne Ziel.94 Damit zielt die certeausche Fußgängerbewegung auch auf eine andere Form der Subjektwerdung, als sie in André Mumots Irrwege zum Ich als charakteristisch für literarische Erkundungsgänge beschrieben worden ist: Sie ist weder »Reise, Wanderschaft, Bergbesteigung« noch »Spaziergang«, da sie, anders als die genannten, keine Teleologie der Einnahme eines erhöhten Standpunkts aufweist und damit auch nicht »zur breiten Darstellung und Analyse von psychologischen Entwicklungsprozessen und Wahrnehmungsstrategien bestimmter Umweltphänomene« dient. Verweisen jene auf das Ziel der Bewegung als »Lebenswanderschaft«, als gelungene Reflexion des Selbst durch die Einnahme einer erhöhten, stillstehenden Überblicksposition, so dient die Fußgängerbewegung allein dem Gehen als solchem, in dem Reflexion, Bewusstsein und Verortung fallengelassen werden gegenüber dem unvollständigen, unüberblicklichen wie unerblicklichen Subjekt der Pluralität.95 Die Fußgängerbewegung Certeaus soll darum in den literarischen Analysen nicht als Mittel zum Verständnis von Wanderungen, Spaziergängen oder Reisen dienen, sondern jene der cartesianischen Definition von Raum gegenüberstehenden irrenden Bewegungen erhellen, die keinen Anfang und, vor allen Dingen, kein Ziel zu haben scheinen.
94 Reiffers benutzt die beiden Konzeptionen des Vertrauens und Misstrauens in einer Art doppelter Artikulation: »Vertrauen in das Unbekannte oder Misstrauen in das Unbekannte. Diese beiden Haltungen wären es, die einen wahrhaft blinden [certeauschen] ›Wandersmann‹ kennzeichneten.« (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 349) Und weiter: »Drückt sich möglicherweise eine ›neue Unübersichtlichkeit‹ der Welt in einem [...] in der Fiktion durchgespielten Scheitern der modernen Form des Überblicks aus? [...] In jedem Fall ließe sich die entsprechende Haltung eben unter den Begriff des Misstrauens in das Unbekannte bringen. Jenseits des Überblicks bleibt so betrachtet nur dies: eine Haltung, von der kein Weg mehr führt zum Verständnis und zur Einwirkung.« (Ebd., S. 352f.) Jedoch scheint eher der Fall zu sein, dass Certeaus Fußgänger ihr Misstrauen eben nicht an das Unbekannte binden, sondern an die Überblicksposition – damit bleibt ihnen allein, dem Unbekannten zu vertrauen und den Blick im Unten beizubehalten. 95 Beide Zitate Mumot: Irrwege zum Ich, S. 10, 14; vgl. dazu auch, besonders für das 19. Jahrhundert, Mayer: Wissenschaft vom Gehen.
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Vorgänger Bevor die Fußgängerbewegung als Verweigerung des Überblicks und damit des Stillstands wieder auf ihre raumtheoretischen Konsequenzen bezogen und der literarischen Analyse zugeführt werden kann, soll die Dichotomie von Stillstand und Bewegung aufgrund ihres Charakters als Dichotomie von Subjektivierungsstrategien an ein allgemeineres Prinzip rückgebunden werden. Denn die Gegenüberstellung einer Subjektivierung mittels Stillstand und einer Subjektivierung durch Bewegung weist weit hinter ihre frühneuzeitliche cartesianische beziehungsweise (post-)moderne certeausche Fassung zurück: auf die grundsätzliche Unterscheidung von Sein und Werden. Certeaus bewegungspraxeologische Wende des SubjektObjekt-Dualismus zugunsten des im Gehen erzeugten, immer unvollständigen Subjekts lässt sich in Beziehung setzen zu Platons Rekapitulation und Bewertung der Flusslehre Heraklits im Dialog Kratylos: Nach Platon drückt sich die menschliche Existenz im Verständnis der Herakliteer unablässig im ununterbrochen wirksamen Prinzip des Werdens als Bewegung aus, das sich nicht aufhalten lässt, nicht stillstehen will: »Heraklit sagt doch wohl, alles sei in Bewegung und nichts habe Bestand, und indem er die Dinge mit der Strömung eines Flusses vergleicht, sagt er, man können den Fuß nicht zweimal in den nämlichen Fluß setzen.«96 Als antagonistisches Prinzip dazu setzt Platon ein Subjekt mit einem klaren Zentrum, welches er in Hestia, der Göttin des Herdfeuers verkörpert sieht. Sie ist das »Wesen der Dinge«, das Zentrum eines Seins, das auf den Kern, den Stillstand abhebt.97 So zeigt sich diese Dichotomie des Werden und Seins bei Platon wiederum als räumliche Dichotomie von Stillstand und Bewegung: Im Kratylos unterhält sich Sokrates mit Hermogenes und Kratylos über die Herkunft und die richtige Bezeichnung und Benennung von Dingen und Menschen – wobei der Streitpunkt zwischen den Diskutanten darin besteht, ob ein jedes Ding seine richtige Bezeichnung von Natur aus zugewiesen bekommen habe und diese rechtmäßigerweise besitze oder ob diese nur zufällig entstanden sei. In einer ausufernden etymologischen Kaskade führt Sokrates den Ursprung der Wörter auf das heraklitische Prinzip der Bewegung
96 Platon: Kratylos, §402. Verkürzt ist dieser Ausspruch als ›pantha rhei‹ (alles fließt) berühmt geworden. Er findet sich bei Simplikios in einem Kommentar zu Aristoteles. Wolfgang Röd zufolge könne Platons Annahme, Heraklit habe die Flusslehre vertreten, von der Forschung nicht bestätigt werden: »Die Annahme, daß die Fluß-Lehre in dieser Form Heraklitisch sei, wird in der Gegenwart kaum mehr vertreten. Die meisten Interpreten nehmen an, daß sich Plato durch gewisse extreme Ansichten von Herakliteern verführen ließ, die Fluß-Lehre Heraklit selbst zuzuschreiben« (Röd: Philosophie der Antike, S. 102). 97 Platon: Kratylos, §401.
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zurück: Alles Seiende und alles Wahre sei, so Sokrates, auf ein »göttliches Umherschweifen« zurückzuführen. Bewegung als Grundprinzip der Existenz und Wahrheit wird verkörpert durch den Buchstaben ›Rho‹, den man, als Zeichen der Bewegung und Strömung, in den entsprechenden Wörtern finde, so Sokrates. »Der Laut ρ also war, wie gesagt, allem Anschein nach ein treffliches Werkzeug der Bewegung für den Namengeber, um möglichste Ähnlichkeit mit der Bewegung zu erzielen«. In der Lüge äußere sich dagegen der Stillstand und das Zur-Ruhe-kommen – »›Lüge‹ aber ist das Gegenteil der Bewegung«.98 Doch Sokrates nimmt diese heraklitische Deutung wieder zurück und gelangt am Ende des Dialogs bei der Erkenntnis an, dass uns Wörter und Texte nicht alles über das Wesen der Dinge verraten – und sich schon gar nicht in steter Veränderung befinden können, da das Wesen der Dinge in ihren Ideen bestehe und damit eine objektiv gesicherte unabänderliche Realität ausgedrückt werde. Platon bedient sich also dichotomisierter räumlicher Kategorien: Während das Sein in der Deutung der Ideenlehre einen unhintergehbaren Kern besitzt, so ist es als Werden in der Deutung Heraklits einer ständigen Verwandlung und Bewegung unterworfen. Sich stets verändernd, vergehend und wiederkehrend ist es die Bedingung, vor der sich die gesamte Existenz abspielt: Werden und Sein sind in einem räumlichen Verhältnis der Bewegung und des Stillstands abgebildet. Eine solche Trennung aber weist wiederum nach vorn, auf Certeaus Ansatz eines distanzierten Überblickssubjekts und eines involvierten Fußgängersubjekts, und gibt der Verbindung von Räumlichkeit und Subjekt eine historische Dimension. Die je eigenen Affinitätsketten der Glieder der Dichotomie Stillstand und Bewegung können mit den Überlegungen zu Certeau und Platon deshalb um folgende Subjektkonstitutionsbereiche ergänzt werden:
98 Ebd., §421, 426.
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Stillstand
Bewegung
(Autoren)
›Raum‹
›espace‹
(Dünne/Günzel)
Topographie
Topologie
(Borsò, Dünne, Günzel, Stockhammer)
Sehen/›Karte‹
Gehen/›Route‹
(Certeau)
Ort
Raum/Nicht-Ort
(Certeau)
Überblickssubjekt
Fußgängersubjekt
(Certeau)
Blick von oben
Blick im Unten
(Reiffers)
Sein
Werden
(Platon, Heraklit)
Im Folgenden wird es darum gehen, diese Bereiche in einer weiteren theoretischen Ausformulierung kennenzulernen: Stillstand und Bewegung sind als hierarchisierende und hierarchisierte Konzepte zu verstehen, mit deren Formulierung immer auch Aussagen über die Einnahme und Negierung von subjektiven Machtpositionen getroffen werden.
1.6 MACHT DES RAUMS: DIE IDEOLOGIEN VON STILLSTAND UND BEWEGUNG Welche Konsequenzen nun ein Verständnis von Raum zeitigt, das die dezentrierende Bewegung statt den zentrierten Überblick favorisiert, kann exemplarisch auch anhand der Raum- und Linientheorie Ingolds nachvollzogen werden, dessen Überlegungen stark unter dem Einfluss Certeaus sowie des Malers Paul Klee stehen. Eine Untersuchung von Ingolds anthropologischer Raumtheorie der Linie soll nun nicht allein einer weiteren Vertiefung der bislang aufgestellten Überlegungen zu den dichotomen Ketten der Raumkonstitution dienen. Sie kann außerdem die bereits mit Derrida angeführte Tendenz der Dichotomie zur Hierarchisierung verdeutlichen und das ideologische Potential der Zweiteilung von Stillstand und Bewegung aufzeigen.99 Ingold bringt Certeaus Gedanken von der fixierenden ›Karte‹ und der 99 Auch Sybille Krämer betont die »Kraft zur [...] Konstitution«, die der Linie innewohnt: »Mit dem Linienzug verfügen wir über die ›Macht der Unterscheidung‹; die Linie erzeugt und gewährleistet die Möglichkeit Differenz zu setzen.« (Krämer: Figuration, S. 100)
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beweglichen ›Route‹ in seine Untersuchung zur Geschichte des wechselseitigen Einflusses von Linien auf Menschen ein – wobei auch er sich durchgehend eines dichotomen Klassifikationssystems bedient. In diesem Sinne bestimmt Ingold zwei oppositionäre Typen von Linien und damit auch zwei Typen von Bewegung: einerseits die Linie des ›wayfaring‹, die er in Anlehnung an Klees Linientheorie auch als »active line on a walk« bezeichnet, andererseits die Linie des ›transport‹, die sich als eine Punkt-zu-Punkt-Bewegung begreifen lässt. Nun mag es zunächst so scheinen, als ob hier die bei Certeau so charakteristische Einteilung in Stillstand und Bewegung aufgehoben sei, schließlich bezeichnen beide Linien Ingold zufolge ja Bewegungsformen. Er macht jedoch darauf aufmerksam, dass sich im Verhältnis zwischen ›wayfaring‹ und ›transport‹ genau jener Dualismus von Stillstand und Bewegung spiegelt, den auch Certeau in den Blick nimmt: Die aktive Linie nehme, so Ingold, den Fußgänger »on a journey that has no obvious beginning or end« und setze ihn so in Bewegung; »[t]he wayfarer is continually on the move«.100 Dagegen sei die Transportlinie als Gerade Klee zufolge der »Inbegriff des Statischen« und betone vor allem die Haltepunkte, welche die wahren Ziele des Transportreisenden darstellen.101 Daher zeige sich die Linie des Transports »with an array of interconnected destinations that can, as on a route-map, be viewed all at once«.102 Ingold zufolge lässt sich die – von Reiffers ja bereits als Mängelausgleichshistorie umschriebene – menschliche und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte auch als Siegeszug dieser Transportlinie im Prozess der Globalisierung lesen, als Produkt von Fragmentierungen auf den Untersuchungsfeldern Kartierung, Textualität und, vor allem, Reise.103 Die Verwandlung der ursprünglich dominierenden Fußgängerlinie in eine Transportlinie erweist sich in Ingolds Lesart als das Projekt der Moderne, angetrieben, so ließe sich nach den bisherigen Überlegungen ergänzen, vom cartesianischen Subjekt und dessen Verständnis einer Bewegung, die nur dazu dient, zum nächsten Ort des Überblicks zu gelangen. Ingold zeichnet nach, wie die Reise als Fußgängerbewegung ersetzt wurde durch die Ideologie des Tran-
100 Alle Zitate L, S. 73, 75. 101 Klee: Das bildnerische Denken, S. 109. 102 L, S. 73. 103 Ähnlich begreift auch Stockhammer die Entwicklung der Kartierung von der Chorozur Geographie. Die Chorographie beschreibt dabei weniger eine Positionierung im Raum als vielmehr einen Parcours, die aufgezeichnete Bewegung im Raum, die Stockhammer von Certeau übernimmt. Im Laufe der frühen Neuzeit nehmen chorographische Aufzeichnungspraktiken ab und geographische dominieren immer stärker (vgl. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 70-83). Die Genealogie der Kartographie wird wieder aufgegriffen in TEIL II, Kap. 4.1 Die Totenstarre des Raums und das Dispositiv der Entdeckung.
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sits von Tourismus und Handel, deren Bewegungen nun nicht mehr als ein Entlang zu verstehen seien, sondern als Hindurch auf dem Weg zum nächsten Haltepunkt.104 Auch bei Reiffers ist eine solche Entwicklung angelegt, wenn auch gewissermaßen in gegenläufiger Bewertung: Ihm dienen Tourismus, Handel und besonders die Naturwissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert als Beispiele für den Mangel an Überblick und den Versuch, diesen wiederherzustellen, den Menschen zu rezentrieren. 105 Der Siegeszug der Transportlinie kann darum als Festigung der Wahrnehmung von Räumlichkeit durch den Überblick zu verstanden werden. Dies stellt eine Entwicklung dar, die Ingold umfassend kritisiert. Die Fußgängerbewegungen des ›wayfaring‹ findet er hauptsächlich bei indigenen Stammesgesellschaften vor, deren Raumpraktiken er als ursprünglich annimmt, positiv attribuiert und gegenüber der modernen Transportbewegung des Transits eindeutig priorisiert. Am deutlichsten wird dies in der Gleichsetzung von Bewegungsform und Lebensform, in der sich wiederum Modi der Raumkonstitution mit Modi der Subjektformierung verbinden: So verknüpft Ingold am Beispiel der Inuit die Linienform des ›wayfaring‹ mit ihrer zugehörigen Lebensform der ›habitation‹ als »most fundamental mode by which living beings, both human and non-human, inhabit the earth«. Ein ›wayfarer‹ sei nicht nur in Bewegung, »[m]ore strictly, he is movement«. Der ›wayfarer‹ ist, um die Terminologie Reiffers anzuwenden, nicht durch einen Mangel charakterisiert. Er benötigt keine erhöhte Position, weil er sich dem Werden überlässt und nicht nach Überblick strebt. So ist aus Ingolds Perspektive die ›habitation‹ des ›wayfarer‹ der entgegengesetzten Lebensform der entwickelten Industriegesellschaften, die er abwertend ›occupation‹ nennt, vorzuziehen: »The inhabitant is rather one who participates from within the very process of the world’s continual coming into being and who, in laying a trail of life, contributes to its weave and texture.« Dagegen würden »imperial powers« ein Netzwerk an Verbindungen auswerfen, das aus »lines of occupation« bestehe. Gleichzeitig zerstöre dieses Netzwerk die Linien des ›wayfaring‹: »[L]ines of occupation do not only connect. [...] These frontier lines, too, built to restrict movement rather than facilitate it, can seriously disrupt the lives of inhabitants whose trails they happen to cross.«106 Der Siegeszug der Transportlinie hängt Ingold zufolge dementsprechend nicht nur mit der Aneignung der Habitationsräume indigener Gesellschaften, sondern auch mit zwei Entwicklungen moderner Transportgesellschaften zusammen: Kartographie und Druckwesen. Gerade die Kartographie erscheint nach den bisherigen Überlegungen geradezu zwingend für die Entwicklung der Transportlinie, wohingegen Kritik am Druckwesen überraschen mag; sie führt aber zu einem Knoten-
104 Vgl. L, S. 82-84. 105 Vgl. Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 264-269. 106 Alle Zitate L, S. 75, 81.
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punkt der Dichotomie von Stillstand und Bewegung in Bezug auf die Literatur, wie sich hier, aber auch in den nächsten Kapiteln zeigen wird. Welche Rolle weist Ingold Kartographie und Druckwesen also im Einzelnen für den Siegeszug der Transportlinie zu? Da sie Punkt-zu-Punkt-Verbindungen darstellten, hätten beide als Formen der Transportlinie ältere Linienpraktiken des ›wayfaring‹ abgelöst. Bezüglich des Druckwesens sieht Ingold das ›wayfaring‹ archaischer Gesellschaften mit der Praxis oralen Storytellings verbunden, das sich an keine grammatikalischen oder strukturalen Regeln halten musste. Analog zur ›occupation‹ der Habitationsräume sei auch die Linienführung des Geschichtenerzählens durch die Erfindung des Buchdrucks formalisiert worden. Das Erzählen in gedruckten Büchern erinnere nunmehr eher an das Erstellen von Landkarten als an Storytelling. Auf diese Weise reproduzierten in Ingolds Sichtweise nicht nur die Navigationskarte, sondern analog auch der gedruckte Text die Transportlinien des Transits und schrieben sich in die Entwicklung der Moderne ein. Gerade in der Evolution von Schrift zu Druck zeigt sich für Ingold die negative Teleologie der Transportlinie: So bestehe im Gebrauch von Oralität und Handschrift die Möglichkeit, Fußgängerlinien entstehen zu lassen, die in der modernen Drucklegung ihre Negation gefunden haben: »It is not, then, writing itself that makes the difference. It is rather what happens to writing when the flowing letter-line of the manuscript is replaced by the connecting lines of a pre-composed plot.« Hätten mittelalterliche Schreiber noch Fußgängerlinien gezeichnet, die Leser mühsam entziffern mussten, sodass die Geschichte im Lesen Lebendigkeit erhielt, verhindere dies der Druck. Grammatik, Zeile, Drucklettern sorgten für eine Fragmentierung der Linie, der Plot selber stelle sich als ein Ganzes her und entstehe nicht im Erzählen und nicht im Entziffern. Der vorgezeichnete Plot, der nur noch auf das weiße Papier gedruckt werden muss, und die Linien auf den Karten der modernen Navigation – »these lines, drawn across the surface of the cartographic map, signify occupation« – stellten Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, Transportlinien dar, die den Leser solcher Texte und Karten zu reinen Beobachtern machten und damit von der ›habitation‹, dem ›wayfaring‹, dem Erlaufen von Routen und dem Storytelling wegführten.107 Dabei ist durchaus umstritten, inwiefern orales Storytelling wirklich als frei variierende Erzählform zu begreifen ist. Zwar stellt nach Sybille Krämer, Eva CancikKirschbaum und Rainer Totzke die »Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in medialen, habituellen, kommunikativen, epistemischen und kulturanthropologischen Hinsichten« 108 eine besonders folgenreiche Innovation des späten 20. Jahrhunderts dar, jedoch erscheint Ingolds Übertragung von Linien auf Narration gewagt. Walter J. Ong etwa wies bereits 1982 nach, dass präliterarische, münd-
107 Beide Zitate L, S. 91, 85. 108 Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke: Einleitung, S. 14f.
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liche Überlieferung auf »formalisierte Mnemotechniken, die sich auf eine einfache, ritualisierte Sprache stützen«, aufbaut, und auch Krämer mag Ingolds »modernitätsdiagnostische[r] Wendung« des Linienzugs nicht folgen.109 Und doch soll Ingold hier in die Reihe der theoretischen Glieder von Stillstand und Bewegung aufgenommen werden; dass dieser mit seiner Linientheorie epistemologisch etwas plump operieren mag, ändert gleichzeitig nichts an der erneut vollzogen Differenzierungsleistung im Nexus von Stillstand und Bewegung. Zugleich lässt sich an Ingolds Linientheorie im Verlauf des Kapitels die ideologisch-hierarchisierende Differenzierung bestens aufzeigen. Mit diesen Überlegungen soll die Affinitätskette der Dichotomien also nochmals erweitert werden. Stillstand
Bewegung
(Autoren)
›Raum‹
›espace‹
(Dünne/Günzel)
Topographie
Topologie
(Borsò, Dünne, Günzel, Stockhammer)
Sehen/›Karte‹
Gehen/›Route‹
(Certeau)
Ort
Raum/Nicht-Ort
(Certeau)
Überblickssubjekt
Fußgängersubjekt
(Certeau)
Blick von oben
Blick im Unten
(Reiffers)
Sein
Werden
(Platon, Heraklit)
Punkt
Linie
(Ingold)
gedruckter Text
Handschrift/Storytelling
(Ingold)
Grundsätzlich lassen Ingolds Vermutungen über Storytelling und Druck zudem erste Rückschlüsse auf die literarische Verarbeitung der Subjektkonstitution entlang der Dichotomie von Stillstand und Bewegung zu. Dazu ist es notwendig auf die Krise der Subjektivierung im beginnenden 20. Jahrhundert zurückzukommen. Die 109 Kramp/Hepp: Vorwort, S. X; vgl. dazu Ong: Orality and Literacy. Auch für das Mittelalter kann zwischen dem oral-memorial poet, der Texte aus der Erinnerung immer gleich wiedergab und dem »in der Situation vor Hörern improvisierenden oralformulaic poet«, der auf einen »formelhaften Stil« zurückgriff, wie Gabriele MüllerOberhäuser im Rückgriff auf Coleman: Public Reading notiert (Müller-Oberhäuser: Mündlichkeit, S. 517).
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Hierarchisierung der Bewegung, die Ingold von Certeau übernimmt, führt ihn zu einer Verdammung des gedruckten Textes als Mittel der ›occupation‹. In die Begrifflichkeit der Besatzung eingeschrieben ist das Konzept der Erlangung und Ausübung von Macht, das bereits im letzten Unterkapitel als Movens für die Einnahme des Überblicks beschrieben werden konnte. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts scheint das Subjekt mit dieser Strategie in einer Sackgasse angekommen zu sein, da Reiffers zufolge »die Großstadt mit dem in ihr auftretenden Problem der ›Masse‹ den Traum vom ›ganzen Menschen‹ enden ließ«. Der Mensch hatte auf die Herausforderungen der Ausdifferenzierung des sozialen wie ökonomischen Bereiches zwischen Mittelalter und Moderne mit der Ausbildung eines individualisierten »bürgerlichen Subjektes« reagiert, dessen Rezentrierungsversuche angesichts der eigenen Erfahrung als gesellschaftliches ›Masseteilchen‹ problematisch wurden. Zwar strebte es weiterhin danach, durch Einnahme eines Überblicks die »innere[...] Spaltung« in Individuum einerseits und Masseteilchen andererseits zu überwinden, durch einen »Blick der Macht« aus erhöhter Position diesen »gespaltenen Bereich als Einheit« wahrnehmen zu können.110 Jedoch schien diese am ehesten dann möglich, wenn das bürgerliche Subjekt diesen Blick in ein politisches, soziales oder ökonomisches Herrschaftsverhältnis übertrug, um sich im Gegenzug durch den Überblick des Herrschers als Teil eines Ganzen identifizieren zu können. So erlaubt diese Übertragung dem Subjekt, den Blick der Selbstkontextualisierung via der Position des Herrschers auf das eigene Ich zu werfen und dadurch wiederum Raum zu erzeugen.111 Die Konsequenz eines solchen Übertrags war der Verlust der individualisierten Subjekt- und Raumkonstitution.
110 Alle Zitate Reiffers, S. 311, 299, 28, 115. Nicht verwunderlich ist darum, dass Reiffers den naturwissenschaftlichen wie den touristischen Blick vom Berg oder aus der Alpenhütte mit dem bürgerlichen Subjekt verknüpft, »der es unabhängig von bestimmten religiösen oder politischen Machtprivilegien als Inhaber eines Blicks des Wissens und der Macht über die Natur einsetzt« (ebd., S. 267). Das Subjekt erzeugt Räume seiner Macht dort, wo noch kein Herrschaftsbereich abgesteckt ist. 111 Dieser Übertragungsvorgang wird, wenngleich durchaus simplifizierend, auf dem Feld der Politik von Reiffers am Beispiel des Leni Riefenstahl-Films Triumph des Willens erklärt: In der Schuss-Gegenschuss-Verschaltung der Blicke Hitlers von oben und derjenigen der Parteitagsgehilfen im Unten werde die Spaltung »auf dem Umweg der Identifikation mit dem Führer-Subjekt, mit einer bestimmten Figur, [...] die ihren wesentlichen Ort dort oben auf der Position des Überblicks hat«, überwunden (ebd., S. 291).
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Besonders nachdrücklich lässt sich diese Krise der Subjektivierung nach Mumot in der Großstadtliteratur der literarischen Moderne nachvollziehen. 112 Das »Verlorengehen[...]«, welches gegenüber Spazier-, Rund- und Botenwegen in den Vordergrund trete, kündige einen »umfassenden Paradigmenwechsel« an: die buchstäblichen Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Masse, der Bürokratie und dem gesamtgesellschaftlichen Apparat. Machtlos sieht er sich eingebunden in die Prozesse im Unten, blind tastet er sich in die katastrophale Verirrung des Selbst. Paradigmatisch stehen Mumot zufolge die Figuren Kafkas für solch einen Irrgang des machtlosen, sich durch die Masse der Menschen auflösenden Subjekts: Die Dezentrierung des Ich, die Certeau mit Lacan als Wesensmerkmal der Subjektivierung begreift, löst Mumot zufolge das Selbst auf.113 ›Entsubjektivierung‹ erscheint als große Katastrophe des frühen 20. Jahrhunderts, in deren Folge auch vom Tod bzw. vom Verschwinden des Subjekts aus der Philosophie die Rede ist – nicht allerdings, ohne dass auch Auswege aus dem Irrgang aufgezeigt würden.114 Einer dieser Auswege, den Reiffers wie Mumot beschreiben, ist eine erneute Konsolidierung des Subjekts durch Vermittlung, in der Literatur sich ausdrückend als »positiver Widerstand, das Vertrauen auf die Rekonstruktion des Ichs in sprachlicher Ordnung und der Stolz des Autors über die Konstruktion literarischer Souveränitäten«, welche sich bei Autoren wie Joyce oder Döblin finde, die zwar ihre Subjekte dem Irrgang aussetzten, sie aber in der heroischen Bestätigung des Ichs aus diesem wieder befreiten.115 Reiffers sieht auch darin Rezentrierungen, Vermittlungen zwischen dem Blick von oben und dem im Unten, die er den »Blick nach unten« nennt.116 Hier erweist sich, dass der Blick der Vermittlung, die Errettung aus dem Irrgang, nun aber nichts anderes darstellt als eine weitere Raum- und Subjektkonstitution des Stillstands: Indem das Subjekt den Blick nach unten werfen kann, muss es dennoch auf erhöhter Position stehen.117 Die radikale Gegenposition dieser erneuten Emphase des Überblicks liegt in der Umwertung des katastrophalen Irrgangs, einer, wenn man so will, dekonstruktivis-
112 Vgl. dazu auch mit Simmel: Großstädte einen Klassiker des soziologischen Urbanitätsdiskurses, der, weil er die Transformationen der Bürger durch die Großstadt wie kein zweiter in den Blick nimmt, bis heute ausgiebig rezipiert wird. 113 Alle Zitate Mumot: Irrwege zum Ich, S. 117. 114 Vgl. Bürger: Verschwinden des Subjekts, S. 7; Gumbrecht: Tod des Subjekts. 115 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 134; vgl. zur literarischen Struktur der Errettung aus dem Blick im Unten auch TEIL II, Kap. 5, Anm. 154. 116 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 17. 117 Auch Peter Bürger erkennt Tendenzen einer solchen »Selbstpreisgabe, aus der das Subjekt nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht« (Bürger: Verschwinden des Subjekts, S. 11).
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tischen Verschiebung der Hierarchien. Certeaus Fußgänger sind Symptome einer solchen Umwertung, weil sie die irrgängige Bewegung nicht mehr als Katastrophe verstehen und eben darin den Willen zur Macht ablehnen. Ihre Raumkonstitution ist die einer nachdrücklichen Negierung der eigenen Subjektivität durch Bewegung – verkörpert in einer Struktur, die hier als Verloren Gehen zuerst benannt und im Laufe der Studie zum zentralen Motiv der Verhandlung von Stillstand und Bewegung, von Raum und Subjekt ausgebaut wird. Es rekurriert dabei als Verschwinden aus literarischen Texten auf die Begriffe der ›Präsenz‹ und ›Absenz‹ – und knüpft damit an das oben bereits angesprochene Theorem des ›Seins‹ an, wie es auch Sascha Seiler in seiner Monographie zum Verschwinden in der Literatur beschrieben hat: Das Verloren Gehen ist darum wie das Verschwinden als »Übergang von der Anwesenheit zur Abwesenheit« zu betrachten. Zum Verschwinden weist das Verloren Gehen zudem insofern große Verwandtschaft auf, als »es als Prozess angesehen wird, mittels dem sich der oder das Verschwindende erst in jenen Zustand der Abwesenheit begibt«. Gemeinsam ist beiden Begriffen zudem das Zusammenspiel von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Subjekt, das Seiler folgendermaßen für das Verschwinden bestimmt: »Das wahrgenommene Subjekt ist demnach für das wahrnehmende Subjekt nicht mehr. Der Prozess, der diese beiden Zustände, Präsenz und Absenz, miteinander verbindet, ist das Verschwinden.«118 Damit lässt sich über die Differenz von Verschwinden zu Verloren Gehen das Verhältnis konkretisieren, in welches das wahrnehmende und das nun nicht mehr wahrgenommene Subjekt miteinander eintreten: Mag das Verschwinden einen Vorgang bezeichnen, bei dem ein wahrgenommenes Subjekt abhandenkommt, entführt wird oder stirbt – kurzum, bei dem das wahrgenommene Subjekt sein Verschwinden passiv erleidet –, so soll vom Verloren Gehen nur dann gesprochen werden, wenn das nun nicht mehr wahrgenommene Subjekt sein Verschwinden aktiv herbeiführt.119 Der Begriff Verloren Gehen erweitert also die Überlegungen Seilers zum Verschwinden und fügt Mumots oben zitiertem Verlorengehen ein Spatium ein, das nicht nur Ausdruck der Rehierarchisierung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung ist, sondern auch einen Zwischenraum, ein Spatium eröffnet, der die nichtreflexive Entsubjektivierung als idealisierte Opposition zur Einnahme des Überblicks als ›Fiktion von Wissen und Macht‹ darstellt. Damit ist das Verloren Gehen
118 Alle Zitate Seiler: Anwesenheit, S. 25, 37, 40. 119 Solcherlei Fälle des Verloren Gehens subsummiert auch Seiler unter seinen Begriff des Verschwindens – so untersucht auch er jene literarischen Texte, die im Folgenden analysiert werden. Allerdings stärkt der Begriff des Verloren Gehens jene erzählreflexive Ebene, die in TEIL I, Kap. 3 ausgearbeitet wird und für die Analysen in TEIL II eine zentrale Rolle spielt; vgl. dazu auch mit Seiler: Anwesenheit, S. 66 einen Fragenkatalog zur Bestimmung des Verschwundenen in der Literatur.
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als Bewegungsform markiert, die das certeausche Fußgängersubjekt konstituiert. Der Fußgänger, der den Aufstieg verweigert, lehnt damit auch die Anerkennung der Machtposition des Überblicks ab und erzeugt dadurch eine neue Wahrnehmung und einen neuen (Umgang mit) Raum. Sein Gehen ist einerseits eines auf ›verlorenem Posten‹, er selbst ist andererseits ein für den Blick von oben Verlorener. Verloren Gehen geschieht freilich zu dem Preis der Selbstaufgabe, der Negierung des eigenen Ich, der Gesellschaft sowie der Selbstreflexion. Die hierarchische Umbestimmung der Dichotomie Stillstand und Bewegung zugunsten der Bewegung im Verloren Gehen bewirkt, dass das Subjekt als Objekt der Reflexion aus dem Blick geraten, verschwinden muss. Eine solche Umwertung zugunsten der Subjektkonstitution als bewegliches, verloren gehendes Fußgängersubjekt, kehrt jedoch zunächst nur die Pole um und hat gleichzeitig weiterhin eine vereinfachende, hierarchisch-absolute Setzung zur Folge: ›Gut‹ ist, wer beweglich, nichtreflexiv, unüberblickend ist; ›schlecht‹, wer den Überblick wagt, wer sich selbstreflexiv dem eigenen Ich nähert und sich in die Fiktionen von Wissen und Macht einbindet. Die von Ingold vorgestellte anthropologische Theorie kann damit als Versuch eines Machtentzugs verstanden werden, als Umdeutung der verfestigten Machtstrukturen im demokratischen Kapitalismus. Analog zur Umwertung der Hierarchien kommt Ingold zu seiner holzschnittartigen Interpretation der modernen menschlichen Existenz: Überall dort, wo die Transportlinien die Linien der ›wayfarer‹ überschreiben, löschen sie das gute, ursprüngliche Leben der Bewegung aus. Eine solche Beschreibung der Transportlinien der Moderne – seien es nun die Schiffswege der Eroberer, die die weißen Flecken der Welt seit der frühen Neuzeit nach und nach tilgten, seien es die Handelsrouten, die in den letzten Jahrhunderten aufgebaut und dank Kartographie und Navigation stetig verfeinert wurden oder sei es der Massentourismus des 20. Jahrhunderts – nimmt nicht nur Certeaus Priorisierung der Bewegung über den Stillstand wieder auf, sondern verbindet diese auch mit dem Diskurs der Kapitalismus- und Globalisierungskritik.120 So zeigt sich, dass Ingolds Überlegungen dabei auf der allen diesen Analysen gemeinen, grundlegenden Unterscheidung einer guten, ursprünglichen und beweglichen und einer schlechten, modernen, kapitalistischen und festschreibenden Raum- und Subjektkonstitution gründen. 121 Unter dem Mantel der
120 Die Verbindung von Raumanalyse und Globalisierungskritik hat in den letzten 20 Jahren – ausgeprägt etwa in den Werken Empire und Multitude von Michael Hardt und Antonio Negri oder in Doug Saunders Arrival City – immer stärker Präsenz gewonnen. Zudem können auch Soja: Postmodern Geographies und Mudimbe-Boyi: Beyond Dichotomies diesem Diskurs zugerechnet werden. 121 Aber auch Gegenbeispiele der Hierarchisierung der Bewegung lassen sich finden: Der Ethnologe Marc Augé etwa greift mit seiner Umdeutung des Nicht-Orts bei Certeau die
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Ideologiekritik – man erinnere sich an die »imperial powers«, welche Linien »built to restrict movement rather than facilitate it« zögen – tendieren Ingolds eigene Überlegungen dazu, ihr hierarchisches Gefälle selbst zur Ideologie zu machen und in der Lebensform der ›habitation‹ das bessere, weil ursprünglichere Leben zu sehen.122 Eine solche Ideologisierungstendenz ist freilich auch schon bei Certeau spürbar, der weit davon entfernt ist, deskriptiv mit seinen Raum- und Subjektkonstitutionsformen umzugehen und den Abstieg vom World Trade Center als Befreiung von
platonische Wertung der Dichotomie zugunsten des Stillstands auf. So operiert seine Analyse der Nicht-Orte zwar im selben Spannungsverhältnis zwischen Ort und Raum, zwischen Stillstand und Bewegung, er deutet dieses Verhältnis aber um: Denn der Nicht-Ort, das ist für Augé der Ort des Transits, der Kommunikation nicht herstellt, sondern verhindert. Während der certeausche Fußgänger den Nicht-Ort definiert, prägt der augésche Nicht-Ort seinerseits den Menschen. Als Gegenteil des Nicht-Ortes gilt Augé der anthropologische Ort (Heimatorte, Marktplätze, im Allgemeinen: Orte der Gewinnung von Identität und des Austausches), der den Ort des eigentlichen Lebens des Menschen darstellt und von drei Merkmalen geprägt ist: er ist »identisch, relational und historisch« (Augé: Nicht-Orte, S. 59). Anders als Certeau glaubt Augé an die Konstruktion einer abgeschlossenen (Gruppen-)Identität durch den anthropologischen Ort: »[D]as räumliche Dispositiv bringt [...] die Identität der Gruppe zum Vorschein (die Ursprünge der Gruppe sind vielfach verschieden, aber die Identität des Ortes sorgt für ihre Begründung als Gruppe wie für ihre Einheit)« (ebd. S. 53). Die Dichotomie zwischen Stillstand und Bewegung erhält in Augés Umwertung des Ortes eine neue Bewertung, die positive Neuattribuierung des Stillstands erweist sich als produktives Moment für seine Überlegungen zum Transit und der menschlichen Sesshaftigkeit. Augés Konzept ist jedoch nicht unumstritten: Die Definition des Nicht-Orts als Ort des Transits hat Augé die Kritik Stockhammers eingebracht, »Certeaus sprachtheoretische Überlegungen offensichtlich nicht verstanden« zu haben (Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 88). Tatsächlich meint Certeau ja mit Nicht-Orten Routen und Parcours, die durch die Bewegung entortet wurden, und damit etwas gänzlich anderes als Augé, der sich Begriffe und Erklärungen, so scheint es, von Certeau leiht, um mit ihnen zu jonglieren (vgl. KdH, S. 99). Auch Buchanan kritisiert die Ausführungen Augés: Dieser sei vergangenheitsorientiert, weil er die Zukunft als durch den Kapitalismus »blanked out [...], emptied, rendered generic and soulless« geworden sehe. Augé sei, so Buchanan, »[u]nable to anticipate new spaces« und »more or less compelled to long for those old spaces that had the richness of character the new ones lack« (Buchanan: Certeau, S. 120). Indem Augé sich also auf die Seite des Stillstands schlägt, könne er nur rückwärtsgewandt analysieren und nicht – wie Certeau – produktiv konzipieren. 122 L, S. 81.
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etwas feiert, das mit der Zuschreibung als cartesianischem Subjekt die moderne Subjektivität in Gänze betrifft: Die Fußgängerbewegung, das Gehen, wird bei Certeau und Ingold zur widerständigen Praxis. Der Einsatz der dichotomisierten Denkformation Stillstand und Bewegung führt durch die der Dichotomie inhärente Hierarchisierungstendenz zu einer ideologischen Aufladung der Begriffe. Die Dichotomie von Stillstand und Bewegung macht die Welt und die sie bewohnenden Subjekte durch Raumverhältnisse beschreibbar, schafft eine klare Typologie der Subjekte nach ihren Raumpraktiken und vermittelt einen Deutungsmechanismus, der weiter Dichotomien produziert. Einer Kritik der Dichotomisierung von Stillstand und Bewegung kann es nicht schwer fallen, in den Bemühungen Certeaus und Ingolds nichts weiter zu sehen als die Umwendung – mutatis mutandis, gewissermaßen – repressiver Strukturen, Einteilungen und Typologisierungen: Nicht mehr das cartesianische Subjekt, ›Raum‹ als gegebene Stätte oder das Zentrum stehen als zu erforschende und unterstützende Untersuchungsgegenstände im Fokus, sondern ihre dichotomen Gegenparts, die stets in Bewegung befindlichen Fußgänger, die sich selbst als ständig im Werden begreifen. Stellen also diese Dichotomien eine Gefahr dar, die sich einerseits in einer unterkomplexen Epistemologie und andererseits in der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse äußert? Oder kann das Verhältnis von Stillstand und Bewegung doch als Aushandlung und möglicherweise auch Vermittlung der oppositionellen Gegenbegriffe verstanden werden? Anstatt also entweder Certeau und Ingold blind zu folgen und einer reinen Hierarchisierung der Bewegung das Wort zu reden oder, umgekehrt, die Ehrenrettung des Stillstands in Angriff zu nehmen oder gar schließlich die Bereiche der Dichotomisierung hinter sich zu lassen im Sinne entweder einer dialektischen Synthese oder Überwindung durch avancierte kulturwissenschaftliche Paradigmen, will diese Studie die Pole Stillstand und Bewegung als Zugänge zum Verständnis von Raum und Subjekt ernst nehmen. Dies kann aber nur gelingen, wenn mit Deleuze und Guattari zunächst in den Blick genommen wird, wie sie an den Grenzen und Abschlüssen aufeinandertreffen, wo sich möglicherweise auch Übergänge oder Überlappungen zeigen könnten. Dies ist die Aufgabe des folgenden Kapitels. Einen Schlüssel zum Verständnis der Produktivität der Raumdichotomien und ihrer Kritik kann zudem insbesondere Literatur leisten. Raum- wie Subjektkonstitution, das hat sich im Laufe der Überlegungen immer wieder gezeigt, sind abhängig vom Zusammenspiel von Raum und Textualität; einerlei ob in Karten, Bewegungsprofilen, Diagrammen oder Texten, ob topologisch oder topographisch: Das Verhältnis von Stillstand und Bewegung als räumliche Dichotomie spiegelt sich in ihren medialen Repräsentationen wider und bietet einen anderen Zugang als die komplexitätsreduzierende Festlegung auf ein hierarchisches Gefälle. Literatur, darauf verweist Mumot, kann sowohl das katastrophale Scheitern im Irrgang aufzeigen als auch die heroische Selbstbehauptung des literarischen Ich. Dieser Irrgang, so wird zu zeigen
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sein, kann sich im Motiv des Verloren Gehens äußern und innerhalb der Dichotomie den Pol der Bewegung verkörpern, wohingegen die Selbstbehauptung des Ich allein schon über die strukturelle Selbstreflexivität literarischer Werke stets thematisiert und verhandelt wird. Zu zeigen, inwiefern Literatur auch fähig ist, das nichtreflexive Verloren Gehen zum Thema einer positiven Wertung zu machen, inwiefern also die Dichotomie von Stillstand und Bewegung in der Literatur produktiv wird und es mit ihrer Hilfe möglich wird, literarische Raumverhältnisse und an diese geknüpfte Konstruktionen von Subjekten zu analysieren, wird Ziel von Teil II dieser Arbeit sein. Ein durchaus kompliziertes Unterfangen, zeigen sich die Verloren Gehenden Subjekte doch als Spatien und Leerstellen und hinterlassen, wie gezeigt werden wird, kaum bis gar keine Spuren. Die Analyse muss daher die Verknüpfung von Raum- und Subjektkonstitution mitdenken und im Raum den Spiegel der Subjektivierung und der Entsubjektivierung sehen. Da über die Beschreibungsformen der Subjektivierungspraktiken bei Certeau und Ingold die Räumlichkeit als Faktor in den Hintergrund getreten ist, wird sie im Folgenden mit der Theorie vom Glatten und Gekerbten bei Deleuze und Guattari wieder ins Spiel gebracht. Diese ist nicht nur mit der Reproduktion Dichotomie von Stillstand und Bewegung aufs engste verknüpft, sondern auch mit einer – scheinbar erdrückenden – Kritik daran. Eine Auslegung und Kritik der Raumüberlegungen von Deleuze und Guattari wird die Grundlage für ein literarisches Analyseprogramm liefern, das im dritten Kapitel dieses ersten Teils vorgestellt wird.
2 Das Glatte und das Gekerbte: Am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung
Zur weiteren Untersuchung der Verschaltung von Raum- und Subjektkonstitution innerhalb der oben entwickelten dichotomen Pole von Stillstand und Bewegung wendet sich die Studie nun mit der ausführlichen Analyse von Deleuzes und Guattaris Tausend Plateaus dem paradigmatischen Text dieser Konstellation zu. Deleuze und Guattari betonen darin immer wieder die gegenseitige Untrennbarkeit von Raumzuständen, lehnen Dichotomien ab und plädieren für eine komplexe Betrachtung der Übergänge – allerdings bedienen sie sich selbst durchgängig einer dichotome Struktur um Räumlichkeit zu denken, die sie als »Das Glatte und das Gekerbte« bezeichnen.1 Wie bereits bei Certeau und Ingold, so wird im Folgenden nachzuweisen sein, läuft die Konstitution von Raum im Fall des Glatten und des Gekerbten durch die Einnahme von Subjektperspektiven ab. Raum kann damit zugleich glatt und gekerbt erscheinen, je nachdem, wer auf ihn blickt respektive sich dieses Blicks verweigert. Die einfache Gegensätzlichkeit der Dichotomisierung hilft jedoch nur bedingt weiter, wenn der Übergang und die Überlagerungen von Raumwahrnehmung und Subjektkonstitution analysiert werden sollen, da Deleuze und Guattari eine systematische Konzeption dieser Übergänge verweigern. Darum wird mit Literatur – genauer: über ihre Qualität, im Text als gekerbtem Raum glatte Räumlichkeit narrativ zu verhandeln – ein Untersuchungsfeld etabliert werden, das in einer spezifischen Konstellation eine Systematik des Umschlagspunkts von Glattem in Gekerbtes und vice versa enthält. Das Konzept des Glatten und des Gekerbten bei Deleuze und Guattari stellt also den sicherlich bemerkenswertesten Fall einer Dichotomisierung räumlicher Konfigurationen – bei gleichzeitiger Ablehnung nicht nur der hierarchischen Grundlage der Dichotomie, sondern vielmehr jeglicher Dichotomisierung – dar. Gerade des-
1
TP, S. 657.
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halb ist die Vorstellung von glatten und gekerbten Räumen, die sie in Tausend Plateaus, dem zweiten Teil ihres Hauptwerks Kapitalismus und Schizophrenie entwickeln, so interessant für Überlegungen zur Beziehung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung als Ausdrucksmittel von Raumkonstitution und Subjektivität. In Erweiterung ihrer Arbeit am ersten Teil von Kapitalismus und Schizophrenie, dem Anti-Ödipus, in dem sie ihr Programm der ›Schizoanalyse‹ entwickeln, versuchen Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus, psychoanalytische Interpretationsmuster zu verlassen und »uns unbekannte und von Ödipus unberührte Gebiete [zu] entdecken«.2 In beiden Werken verfolgen Deleuze und Guattari, so Stefan Hesper, den Plan einer Auflösungswissenschaft, die vorhandene – als überkommen erachtete – Standpunkte, Sichtweisen, Wahrnehmungen und Perspektiven des modernen Subjekts auflösen und verändern möchte: »Die Schizoanalyse ist in diesem Sinne eine regelrechte Aisthesiologie, eine Lehre von der Wahrnehmung, die sich für die Formung und Veränderung von Logistiken der Wahrnehmung interessiert« – und damit auch das Subjekt, dessen Positionierung und Entsubjektivierung aufruft.3 Im weitesten Sinne formulieren also auch Deleuze und Guattari eine Kritik an der Ideologie des modernen Subjekts und seinen verräumlichten Wahrnehmungspraktiken. Dabei bedienen sie sich in Bezug auf die Struktur der Wahrnehmung einer Analogie aus der Pflanzenwelt und etablieren mit der Metapher des Rhizoms und dem aus ihr entwickelten sprossachsenartigen rhizomatischen Denken eine der gängigen Vorstellung einer hierarchisierenden Baumstruktur diametral gegenüberstehende Denkform.4 »Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden[,] [...] ganz anders als bei einem Baum oder einer Wurzel.« Während das Baummodell aufgrund seiner Wurzelstruktur Deleuze und Guattari zufolge als signifikante Metapher für das im ersten Kapitel skizzierte dichotome Denken angesehen werden kann, propagieren sie mit dem Rhizom eine Abkehr von binärer
2
Ebd., S. I; vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus.
3
Hesper: Schreiben ohne Text, S. 14.
4
Deleuze/Guattari: Rhizom erschien zunächst als schmaler Band gesondert bereits 1976 und damit vier Jahre vor seiner erneuten Veröffentlichung als erstes ›Kapitel‹ in Tausend Plateaus. Die Metapher des Rhizoms erwies sich als extrem erfolgreich und anschlussfähig: Rhizom ist der wohl am weitesten verbreitete und bekannte Begriff aus der Theorie Deleuzes und Guattaris. Gleichzeitig hat der Begriff aber auch aufgrund seiner Verbreitung und Anschlussfähigkeit Kritik erfahren, etwa durch Uwe Lindemann: »Die metaphorische Verwendungsweise des Rhizom-Begriffs hat dessen Prominenz zweifellos gefördert, im Gegenzug aber seine methodische Valenz, insbesondere im Hinblick auf das denkerische Projekt von Deleuze, bis zur Beliebigkeit ausgedehnt.« (Lindemann: Nomaden, S. 142)
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Logik und bi-univoken Beziehungen hin zu einem System, das keine Wurzel mehr hat und dessen Ordnung nicht auf Dichotomien und Dualismen beruht, denn: »es gibt keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse«.5 Während sich Baummodelle, wie Deleuze und Guattari anhand des linguistischen Modells Noam Chomskys zeigen, »durch Dichotomien verzweigen«,6 sei das Rhizom, so Karyn Anderson, »analogous to a full understanding of multiplicity with connections available at any point and no beginning or end, operating via variation, expansion, conquest, capture, and offshoots«. 7 Daraus ergibt sich nach Uwe Lindemann »eine Heterogenität und Mannigfaltigkeit von Konnexionen im Rhizom, die eine hierarchische Gliederung bzw. Strukturierung unmöglich machen«. 8 Das rhizomatische Denken hält somit nicht an Modellen, Begriffseinteilungen und Hierarchien fest, sondern will diese selbst auflösen. »Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, und um den Prozeß, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. [...] Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird.«9 Im Rhizom werden Dualismen aufgehoben, indem sie miteinander verbunden werden, indem »weder das Äußere noch das Innere, weder die Erfahrung noch die Idee zum ersten Prinzip erklärt wird« – wie Stefan Heyer im Rahmen seiner Überlegungen zu Deleuze und Guattari erläutert und damit beschreibt, dass sich diese mit der Ablösung von Dualismen auch gegen Hierarchisierungen stellen.10 Der Struktur des Baummodells wird mit dem Rhizom ein Prinzip entgegengesetzt, das nicht einfach umgekehrt ist – wie dies für Certeau und Ingold angenommen werden konnte, die der Priorisierung des Stillstands den Lobpreis der Bewegung entgegensetzen – und eben nicht dichotom hierarchisierend ist, zugleich aber auch nicht als Ersatz für die Dichotomien zu gelten hat. Zwar stellen die Dichotomien und Dualismen den ›Feind‹ dar, dieser sei »aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben«.11 Diese Verschiebung hat gleichzeitig eine Verräumlichung des Denkens zur Folge – auf eine durchaus ironische Weise. So folgert Arnauld Villiani aus Deleuzes und Guattaris Überlegungen: »Rhizom ist die erste philosophische Untersuchung,
5
Beide Zitate TP, S. 16, 35.
6
Ebd., S. 16.
7
Anderson: Smooth Spaces, S. 202.
8
Lindemann: Nomaden, S. 142.
9
TP, S. 35.
10 Heyer: Kunstkonzept, S. 99. 11 TP, S. 35.
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die ausschließlich geographisch und kartographisch verfährt.«12 Das Denken und Schreiben von Deleuze und Guattari ist aufgrund seiner rhizomatischen Struktur stets räumlich kontextualisiert. Diese allgemeine räumliche Qualität des Denkens ist Russell West-Pavlov zufolge jedoch gleichzeitig der Grund, warum es der Wissenschaft so schwerfällt, die speziellen Gedanken zu Räumen bei Deleuze – und, so ließe sich ergänzen, auch in den gemeinsamen Schriften von Deleuze und Guattari – zu rekapitulieren: »The rhizomatic nature of Deleuze’s theorizing on space makes it very difficult to write about his work in the traditional ordered academic mode. Every topic one selects for discussion inevitably connects up to other topics.«13 Um diese Form eines rhizomatischen Schreibens zu erreichen, wählen Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus nicht die traditionelle Form des Buches, das sich thematisch fortschreitend in Kapitel unterteilen lässt, stattdessen fassen sie ihre Gedanken mit den ›Plateaus‹ in Ebenen zusammen, die untereinander stark verbunden sind – »forming a dense web of allusions and interconnections«, so West-Pavlov – 14 und sich dennoch losgelöst, »nahezu in beliebiger Reihenfolge« anordnen und lesen lassen sollen.15 Der Leser wird von Deleuze und Guattari aufgefordert, der rhizomatischen Schreibweise mit einem rhizomatischen Lesen zu begegnen, das es ihm ermöglicht, die Tausend Plateaus »quer zu ihrer Schichtung, von Segment zu Segment, von Singularität zu Singularität transversal ›resonieren‹« zu lassen, wie Michaela Ott anmerkt.16 So verweist Deleuzes und Guattaris eigenes, in ihren gemeinsamen Werken verschriftlichtes, rhizomatisches Denken auf ein Theoriegebilde, das sich je nach unterschiedlichem Zugang verändert. Hesper erkennt »im Werk von Deleuze und Guattari« einen »Bau, ein Rhizom, mit vielen Ein- und Ausgängen, deren Benutzungs- und Verteilungsgesetze man nicht so schnell erkennt und das durch zahllose Begriffe abschreckt und Benutzer in die Flucht schlägt«.17 Für die vorliegende Studie wird, um im Bilde Hespers zu bleiben, der Eingang in den Bau von Deleuze und Guattari über ihre Überlegungen zu Räumen gewählt und, auch um einer allzu großen Verirrung im Sprossachsensystem ihres Denkens vorzubeugen, dort auf andere Verzweigungen, Konnexe und Perspektiven im Werk Deleuzes und Guattaris Bezug genommen, wo es der Erhellung der Gedanken zu Stillstand und Bewegung als räumlicher Dichotomie besonders in Bezug auf die Literatur dienlich ist. Dabei ist eine Auseinandersetzung sowohl mit der dualistischen Mo-
12 Villani: Physische Geographie, S. 36. Hervorhebung von mir, MG. 13 West-Pavlov: Space in Theory, S. 171. 14 Ebd. 15 TP, Vorbemerkung. 16 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 30. 17 Stefan Hesper: Schreiben ohne Text, S. 7.
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dellbildung innerhalb ihrer Überlegungen zu Räumlichkeit als auch mit der immer wieder betonten Absage an solche Dualismen notwendig.
2.1 DAS GLATTE UND DAS GEKERBTE ALS RÄUMLICHE BESCHREIBUNGSFORMATIONEN Eines der – nun nicht tausend, aber immerhin doch zwölf – Plateaus ist unter dem Titel 1440 – Das Glatte und das Gekerbte explizit zwei Raumzuständen gewidmet, die im Wechselspiel nicht nur die spatialen Praktiken des Menschen reflektieren, sondern vielmehr den Raum selbst konstituieren.18 Mit diesem Konzept zweier sich ständig in einem dynamisierten Verhältnis befindlicher Räume schlagen Deleuze und Guattari ein Verständnis von Raum vor, das komplett skalierbar ist und sich auf alle Bereiche gesellschaftlicher Raumproduktion auswirkt – sowohl auf der Makroebene, wie ihre Überlegungen zur Nomadologie und zum Staatsapparat zeigen, wie auch auf der Mikroebene, wenn es beispielsweise um Kulturtechniken geht, die Raumformationen widerspiegeln, wie das Weben oder Filzen, den Quilt oder die Komposition von Musik. Bereits an diesen Beispielen zeigt sich Deleuzes und Guattaris allumfassendes Verständnis von Raum: Dieser ist nicht nur topographisch zu verstehen – als Stadt, Wüste, Meer, Berg und so fort, sondern in jeder Beziehung des Menschen zu einem Objekt gegeben. Es ist die Perspektive des menschlichen Subjekts, die Raum konstituiert, seine Wahrnehmung und in der Folge auch sein sich durch die Perspektive ergebendes Handeln. Ganz so, wie Buchanan für die certeausche Raumkonstitution durch die Wahrnehmung des Subjekts annahm: »Space is what allows the relation of perceiving to perceived to be formulated«.19 Dabei geht es Deleuze und Guattari nicht um eine Ideengeschichte der räumlichen Wahrnehmung, sie suchen Hesper zufolge nach »unentscheidbaren, ereignishaften Zügen in der Wahrnehmung, nach dem Verunglücken der Logistik und nicht nur nach dem Triumph ihrer Funktionen«.20 Somit binden sie ihre Raumtheorie an die Subjektivität der Wahrnehmung und ihre Perspektivierungen. In diesem Sinn kann auch ein Kleidungsstück eine bestimmte räumliche Perspektivierung erhalten, ein glatter oder ein gekerbter Raum sein, ebenso wie eine Komposition – und dies sowohl als Notenblatt wie auch als vorgeführtes Musikstück – oder ein Gemälde und ein Text.
18 Schöpfer der Begrifflichkeiten ›glatt‹ (lisse) und ›gekerbt‹ (strié) ist der Komponist und Musiktheoretiker Pierre Boulez, auf den Deleuze und Guattari auch ihr Modell der Musik gründen (vgl. TP, S. 661-663). 19 Buchanan: Certeau, S. 112; vgl. dazu auch TEIL I, Kap. 1, S. 50. 20 Hesper: Schreiben ohne Text, S. 14.
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Gleichzeitig aber scheinen bereits die im Titel aufgerufenen Zustände glatt und gekerbt der rhizomatischen Absage an die binäre Logik und die Dichotomie zu widersprechen. Tatsächlich zeigt sich, dass Deleuze und Guattari in Bezug auf die Raumkonstitution und das Verhältnis zwischen Mensch und Raum von zwei sich ausschließenden Raumzuständen ausgehen – wie bereits der erste Satz formuliert: »Der glatte Raum und der gekerbte Raum – der Raum des Nomaden und der Raum des Seßhaften – [...] sind ganz verschieden.« Sie unterscheiden zwischen einem nicht-zivilisierten, glatten Raum und einem vom Menschen zivilisierten, nutzbar gemachten, gekerbten Raum; deren Verhältnis untereinander ist dynamisch – »der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt«.21 Dennoch bleiben methodisch beide Räume voneinander getrennt, entsprechend gibt es zwei Repräsentationen des Glatten und des Gekerbten par excellence, das Meer und die Stadt. Während das Meer nicht zivilisierbar scheint – schließlich kann sich niemand auf dem Meer sesshaft machen –, stellt die Stadt den durch die Sesshaften unendlich fein gekerbten Raum dar – was spätestens dann deutlich wird, wenn man einen erhöhten Standpunkt einnimmt und auf die Stadt hinuntersieht, auf dem Eiffelturm Paris überblickt, das Rasternetz der Straßen in den quadratischen Planstädten Brasilia oder Islamabad dank eines Satellitenbildes nachvollziehen kann oder wie Certeau auf das World Trade Center steigt und die Straßen Manhattans von oben betrachtet. Deleuze und Guattari halten diese Trennung von glatten und gekerbten Räumen über ihre gesamten Ausführungen hinweg aufrecht, indem sie deren jeweilige Funktionsweisen anhand von Modellen zu erläutern versuchen, und machen die Zustände glatt und gekerbt zur Grundlage ihrer Überlegungen zur menschlichen Raumaneignung: Der Mensch kerbt glatte Räume, die Kerbung besteht darin, den glatten Raum »zu zähmen, zu übercodieren, zu metrisieren und zu neutralisieren« – dagegen unterwirft sich der Mensch im glatten Raum den Eigenschaften des Raums selbst. Im glatten Raum bedeutet Bewegung ein an die Gegebenheiten des Raums angepasstes Fortkommen, die Linie ist »also ein Vektor, eine Richtung und keine Dimension oder metrische Bestimmung«. 22 Bereits das Vokabular dieser Beschreibungen ermöglicht, Deleuzes und Guattaris Überlegungen auf das Raumverständnis Ingolds und Certeaus zu beziehen und den Anschluss der Raumzustände glatt und gekerbt an die Dichotomie von Stillstand und Bewegung herzustellen: Der gekerbte Raum weist Ähnlichkeiten zur Transportlinie und zur ›Karte‹ auf, während im glatten Raum die Bewegung der Fußgängerlinie und ›Route‹ gleicht und erst die Unterwerfung unter den Raum als Bewe-
21 Beide Zitate TP, S. 658. 22 Beide Zitate ebd., S. 673, 663.
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gung im Raum diesen produziert.23 Analog zu den im ersten Kapitel untersuchten Raumtheorien legen auch Deleuze und Guattari die Hierarchie ihrer Raumzustände grundsätzlich zugunsten der Bewegung aus: Während das Kerben zwar die alltägliche Raumhandlung des Menschen darstellt und sicherlich mehr Menschen Räume kerben, als sich den glatten Räumen zu unterwerfen, so lassen Deleuze und Guattari keinen Zweifel daran, dass ein Leben im glatten Raum das erstrebenswertere ist. In diesem Sinne werden glatte Räume »von teuflischen Organisations-Kräften« bedroht, die versuchen, sie zu besetzen und in gekerbte Räume zu verwandeln, Kräfte, die durch »die sklavenhalterische Organisation der Arbeit« die »freie Tätigkeit« der Nomaden im glatten Raum, die von den Bewohnern des gekerbten Raums als faul und anarchisch charakterisiert werden, »disziplinieren«.24 Mit der Einteilung in glatte und gekerbte Räume nehmen Deleuze und Guattari also eine hierarchische Dichotomisierung vor, gleichzeitig bestehen sie im Rahmen ihres rhizomatischen Programms darauf, dass diese Räume nur in »ihrer wechselseitigen Vermischung« zu finden seien und daher ihre Reinform nur als theoretische Größe zu betrachten möglich wäre.25 West-Pavlov bemerkt dazu: »Much of Deleuze’s work appears to employ binary pairs [...]. Yet the texts constantly insist that these oppositions should not be understood as dichotomies.«26 Sie erschließen ein performatives Paradox, das sich einerseits zwar gegen ihr Programm des rhizomatischen Denken zu stellen scheint, andererseits jedoch eine Auseinandersetzung mit dem ›Feind‹ – der Dichotomie – darstellt, eine ›Verschiebung des Mobiliars‹, die neue Schlüsse und Denkweisen provozieren kann. Lindemann sieht diese Vorgehensweise aus dem deleuzianischen Gesamtwerk begründet, da dieser von einer »›flachen‹ Differenzlosigkeit der ›Realität‹« ausgehe und damit alle Ordnungen »nicht als festgefügte Systeme, [...] sondern als instabile Gefüge, denen vom Rand, d.h. vom ›flachen‹, ungeordneten Außen her stets die Gefahr der Auflösung droht«, beschreibt. 27 Indem Deleuze und Guattari die Qualitäten, Funktionsweisen und
23 Bezeichnend hierfür ist die Beziehung von Linie und Punkt im glatten wie im gekerbten Raum, die sich mit den Überlegungen Ingolds deckt. So schreiben Deleuze und Guattari: »Gewiß, sowohl im gekerbten wie auch im glatten Raum gibt es Punkte, Linien und Oberflächen [...]. Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet.« (Ebd., S. 663) Ingolds Verständnis der Linien scheint dieses Verständnis – wohl unbewusst, da nicht explizit auf Deleuze und Guattari bezogen – aufzunehmen (vgl. L, S. 73-75). 24 Alle Zitate TP, S. 666, 680, 679. 25 Ebd., S. 658. 26 West-Pavlov: Space in Theory, S. 234. 27 Lindemann: Nomaden, S. 140.
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Auswirkungen der glatten und gekerbten Räume anhand einer detaillierten Modellbildung überprüfen, bilden sie das Glatte und das Gekerbte analog zur Dichotomie von Stillstand und Bewegung ab. Gleichzeitig versuchen sie, die Instabilität und Brüchigkeit der Dichotomie und ihrer Hierarchisierung zu zeigen, sie einzureißen und zu überwinden. Dieser paradoxale Umgang mit Dichotomien und Zweiteilungen lässt sich begründen mit ihren Überlegungen zur »doppelten Artikulation« des Werdens:28 So beschreiben Deleuze und Guattari im Plateau Die Geologie der Moral einen sich stets zweifach vollziehenden Vorgang der Artikulation und Gliederung von Inhalt und Ausdruck in und aufgrund von geologischer, biologischer und semiologischlinguistischer Schichtung vor dem Hintergrund einer »destratifizierte[n] Konsistenzebene« der Intensität: »Jede Schicht ist eine doppelte Gliederung von Inhalt und Ausdruck, die beide real unterschieden sind, die beide in einem Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung stehen.«29 Entscheidend für das Konzept der doppelten Artikulation ist die – mit einem Begriff von Dünne – »Gleichursprünglichkeit« von Inhalt und Ausdruck,30 die »ausgesprochen relativ und immer im Zustand wechselseitiger Voraussetzung« bestehen.31 Jede Ausprägung oder Stratifizierung des Lebens ist gleichermaßen von Inhalt wie Ausdruck geprägt – und damit auch der Vorgang der Raumkonstitution, dessen ›doppelte Artikulation‹ sich durch eine »Gleichursprünglichkeit von semiotischen Raum-Bezeichnungen und territorialen RaumBeherrschungen, von Raum-Ordnung und Raum-Ortung« auszeichnet.32 Dünne bezeichnet damit zwar Praktiken der Kerbung, jedoch verweisen Deleuze und Guattari auch auf die ›Gleichursprünglichkeit‹ von Glattem und Gekerbtem; es geht ihnen weder um einen raumzeitlichen Vorrang des Glatten über das Gekerbte und vice versa, noch um eine tatsächliche Hierarchisierung innerhalb der Zweiteilung beider Raumzustände: »Tatsächlich kann es, da jede Gliederung zweifach ist, keine
28 Dünne: Imagination, S. 19. So lautet die Übersetzung von Dünne, die die linguistische Seite des französischen Originals »double articulation« (Deleuze/Guattari: Mille plateaux, S. 53) besser aufgreift als die Übersetzung von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, die von »doppelter Gliederung« (TP, S. 61) sprechen. 29 Beide Zitate ebd., S. 101. Dünne weist darauf hin, dass Deleuze und Guattari mit ihrem Rückgriff auf die allem vorgreifende und intensive Konsistenzebene »keinem determinierenden Naturalismus oder Biologismus das Wort [reden], sondern betonen, dass erst die doppelte Artikulation die Art und Weise darstellt, wie alles organische und insbesondere das menschliche Leben überhaupt raumzeitliche Realität gewinnt« (Dünne: Imagination, S. 20). 30 Ebd., S. 19. 31 TP, S. 93. 32 Dünne: Imagination, S. 19.
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Gliederung [...] geben. [...] Deshalb gibt es [...] Übergangszustände: die verschiedenen Ebenen, die Ausgleichs- und Austauschprozesse, die ein geschichtetes System durchläuft.«33 Die Autoren behandeln also im Rahmen ihres Systems der doppelten Artikulation »den einfachen Gegensatz« zwischen dem Glatten und dem Gekerbten und verweisen somit auf den Kern der Dichotomie, andererseits geschieht dies nur, um auch die »komplexen Unterschiede« und damit immer auch die »faktischen Vermischungen« betrachten zu können. Daraus ergibt sich, so Deleuze und Guattari, die Möglichkeit, die »Übergänge vom einen zum anderen« Raumzustand sowie die »Gründe für die Vermischungen« zu erkennen.34 Heyer sieht darum in den philosophischen Betrachtungen Deleuzes und Guattaris die Methode des »Dazwischen«.35 Dabei behelfen sie sich mit einer umfassenden Modellbildung: Anhand von insgesamt sechs Modellen – Technik, Musik, Meer, Mathematik, Physik sowie Ästhetik – spüren Deleuze und Guattari den Austauschprozessen von Menschen und Räumen nach, beschreiben Kerbungen und Glättungen und erläutern deren Auswirkungen auf die Menschen im Raum. So entsteht zwar eine Vermischung der eigentlich als Gegensätze angelegten theoretischen Konzepte glatt und gekerbt auf der einen und der nach Deleuze und Guattari bereits vollkommen durchmischten Raumzustände in der Lebenswelt auf der anderen Seite. Da es ihnen vor allem auf die Exemplifizierung der Durchdringung der Lebenswelt durch die beiden Raumzustände ankommt, tritt dabei allerdings als Nebenprodukt die Verdinglichung der zuvor allein als theoretische Größen beschriebenen Konzepte auf. Indem sie nämlich die Modellbildung streng auf die Wirkweisen der jeweiligen Raumzustände beschränken, bestätigen sie nur den gegenseitigen Einfluss von Raum und Subjekt. So produziert der Mensch im gekerbten Raum auch dank des Webstuhls gekerbte Textilien, komponiert gekerbte Musik, er kerbt das Meer durch Navigationslinien und so fort. Umgekehrt ist es ihm jedoch möglich, glatte Materialien wie den Filz zu erzeugen, glatte Musik zu notieren oder sich als Nomade im glatten Raum zu bewegen.36 Damit erhalten Räumlichkeit und Lebenswelt des Menschen zwar eine totale Verklammerung, die Raumzustände treten nur gemeinsam und in Abhängigkeit, bis-
33 TP, S. 66. Im Sinne einer solchen Betonung der ›Übergangszustände‹ besitzt die doppelte Artikulation, wie Dünne bemerkt, den Vorzug einer vermittelnden Position zwischen den im ersten Kapitel angesprochenen dichotomen raumtheoretischen Positionen etwa Geodeterminismus versus Sozialkonstruktivismus oder Topographie versus Topologie (vgl. Dünne: Imagination, S. 21f.). 34 TP, S. 658. 35 Heyer: Kunstkonzept, S. 39. 36 Wobei freilich hier – besonders im Fall des Filzes – eine metaphorische Glätte gemeint ist und keine haptische.
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weilen auch gleichzeitig auf. Dennoch, so wird sich auch im Folgenden zeigen, bleiben beide getrennt wahrnehmbar: Die verräumlichten Dinge wie die verdinglichten Räume selbst erhalten eine eindeutige Zuschreibung, die an subjektive Perspektiven und Praktiken gekoppelt ist: sie sind entweder glatt oder gekerbt. So perpetuiert sich die Dichotomie strukturell in den Modellen, jedes bekommt die ihm entsprechenden glatten und gekerbten Räume, Dinge und Praktiken zugesprochen. Diese, der Theorie von den glatten und gekerbten Räumen inhärente, Struktur erschwert zugleich die Verbindung mit dem Gesamtwerk. Wird von Deleuze als Denker des Werdens und der Immanenz gesprochen, so verweist diese Zuschreibung auf ein bereits mit heraklitischen Denkern geteiltes Interesse, dem Prozessualen den Vortritt vor dem feststehenden Sein zu geben, das bereits im ersten Kapitel thematisiert wurde.37 Umso seltsamer mutet es daher zunächst an, in Tausend Plateaus vom Glatten und Gekerbten als dichotom organisierten Räumen zu lesen, deren Eigenschaften so gegensätzlich beschrieben werden, dass sie unvereinbar scheinen. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn vom Glatten und Gekerbten in Überlegungen zu Deleuze und Guattari oftmals nur im Sinne ihrer Überwindung die Rede ist: So betonen etwa Buchanan und Gregg Lambert, das Konzept von Glattem und Gekerbtem »does not create a rigid dualism or opposition since any composition is always ›a mixture‹ [...] and the point is to develop a more supple system of analysis.«38 Ein solches geschmeidiges System vorzulegen ist das Ziel von West-Pavlov. Er begründet die Auslassung einer konkreten Auseinandersetzung mit Dualismen in Deleuzes Werk mit seinem Fokus auf diejenigen Elemente, die Kontinuen herstellen, wie etwa das Konzept der Falte: »This apparent contradiction within Deleuze and Guattari’s work, obliging them to work with a number of binary oppositions ›sous rature‹, is resolved by the metaphor of the fold. In the fold, the spatial dichotomies [...] are revealed [...] to be part and parcel of a single spatial continuum.«39
Als geschmeidige, einigende Metapher besitzt die Falte West-Pavlov zufolge das Potential, die Dichotomien bei Deleuze und Guattari zu vereinen, zu entdifferenzieren. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Dichotomie von glatt und gekerbt bei Deleuze und Guattari auch wirklich aufgelöst wird. Vielmehr nimmt ein solcher Fokus den Ausführungen zum Glatten und Gekerbten in Bezug auf die Fra-
37 Vgl. Ott: Deleuze zur Einführung, S. 9f. Zum Zusammenhang von Heraklits und Deleuzes Philosophie vgl. Carraro: Aesthetic. Zu Varianten der Ausformulierung der deleuzianischen Theorie des Werdens vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 38 Buchanan/Lambert: Introduction, S. 5. 39 West-Pavlov: Space in Theory, S. 234; vgl. dazu auch Deleuze: Falte.
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gestellung dieser Studie eine interessante Pointe: die Produktivität der Differenzierung von Glattem und Gekerbten. Die Prozesse des Übergangs von glatt in gekerbt und umgekehrt sollen eben nicht unter das Regime der Falte oder des Rhizoms subsumiert und damit entdifferenziert werden, vielmehr sind sie als eigenständige Formationen der Raumwahrnehmung und Subjektkonstitution mittels Stillstand und Bewegung in den Blick zu nehmen. Mit Lindemann werden Deleuze und Guattari im Folgenden also »nicht als Theoretiker der Entdifferenzierung« gelesen, »sondern im Gegenteil als Theoretiker komplexer Differenzierungen«.40 Die in dieser Studie vorgenommene Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Stillstand und Bewegung soll ja gerade darauf beruhen, das Verhältnis von Stillstand und Bewegung als Motor von subjektiver Raumproduktion in einer komplexen Differenzierung anzuerkennen, sie nicht in einem dialektischen Prozess aufzuheben oder unter eine vereinigende Metapher zusammenzufassen. Will man die Beziehungen und Wirkungen der glatten und gekerbten Räume als Teil der Dichotomie von Stillstand und Bewegung verstehen, so muss man sie als sich komplementär und dabei trotzdem dichotom realisierende Konzepte begreifen und akzeptieren. West-Pavlov vermeidet dies zugunsten eines Verständnisses des Glatten und Gekerbten als sich niemals tatsächlich realisierenden Zwischenstadien eines sich stets in Gänze aktualisierenden Werdens – und dies durchaus im Sinne Deleuzes und Guattaris, die »alle Dinge in Beziehungen des Werdens« betrachten wollen, »anstatt binäre Aufteilungen zwischen ›Zuständen‹ vorzunehmen«. 41 Allerdings geht gerade dadurch der Blick auf das verloren, was so konstitutiv für die Betrachtung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung bei Deleuze und Guattari erscheint – ihre Methode des ›Dazwischen‹, des Übergangs und der Umschlagspunkte. Eine Untersuchung des Übergangs bedeutet, gerade aus der Sichtweise der Raumtheorie, auf die Mechanismen zu blicken, die aus glatten Räumen gekerbte machen und vice versa; auf die Umschlagspunkte, an denen die Raumzustände sich ändern und die Bewegungen und Festlegungen, die dazu führen; auf die Subjekte, die Räume kerben oder glätten, und die Konstitution ihrer Perspektive auf den Raum. Um dies zu erreichen, muss die Dichotomie zwischen Glatt und Gekerbt ernst genommen werden – nicht ohne jedoch mitzudenken, wo sie sich auflöst, brüchig und unwahrnehmbar wird. Natürlich hat dies zur Konsequenz, dass die Theorie vom Glatten und Gekerbten aus ihrem Werkzusammenhang gehoben wird, Verbindungen zu den anderen
40 Lindemann: Nomaden, S. 141. 41 TP, S. 483. Dieses, auch von West-Pavlov: Space in Theory, S. 240, argumentativ herangezogene Zitat bezieht sich allerdings auf den Krieg und verweist damit, in der Verbindung mit der nomadischen Kriegsmaschine, wiederum nur auf eine Seite des räumlichen Dualismus, das Glatte.
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Plateaus gekappt werden müssen und so die folgende Lektüre nicht strikt deleuzianisch genannt werden kann.42 Dagegen sollen die Überlegungen zum Glatten und Gekerbten in Bezug auf ihr Verhältnis zu Stillstand und Bewegung sowie später als Analyseinstrument für literarische Texte bestenfalls in einem solchen Sinne angewendet werden, wie Deleuze dies in einem Gespräch mit Michel Foucault selbst von der Nutzung einer jeglichen Theorie gefordert hat: als »Werkzeugkasten. [...] Es muss zu was dienen, es muss funktionieren«.43 In diesem Sinne soll der Blick auf die methodische Verzweigung der Dichotomie des Glatten und Gekerbten innerhalb der bereits angesprochenen sechs Modelle zeigen, wo sich ein Dazwischen befinden kann, wo der Umschlag stattfindet und was dort passiert. Die Erkenntnisse aus dieser Betrachtung schließlich können dabei behilflich sein, Literatur als multiperspektivischem Raum der Verhandlung von Stillstand und Bewegung besser zu verstehen. Um dies zu bewerkstelligen, müssen zunächst die dichotomen Qualitäten von glatten und gekerbten Räumen diskutiert und ihr Bezug zur Subjektkonstitution aufgezeigt werden.
42 Zudem stellt eine solche Vorgehensweise auch einen Bruch mit einer von Studien zu Deleuze oftmals aufgewiesenen Nibelungentreue zu dessen gesamtem Werk dar. Michaela Ott hat gegenüber den Vertretern dieser Werktreue angemahnt, sie fügten dem Werk nichts Neues hinzu, weil sie »mehr oder weniger sein gesamtes Denkfeld abschreiten, das Gesamt seiner Texte gegenlesen, keine Übertragungen auf andere Texte, Bilder oder Filme vornehmen und so insgesamt dahin tendieren, die deleuzesche Karte im Sinne von Borges noch einmal zu zeichnen« (Ott: Deleuze zur Einführung, S. 17). Otts Verweis auf Borges’ kurzen Text Von der Strenge der Wissenschaft ist deshalb so treffend, weil die darin beschriebene Karte im Maßstab 1:1, »die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte«, auf Deleuzes Konzept der ›calque‹ und damit des absolut gekerbten Raums implizit rekurriert (Borges: Wissenschaft). Dieser schlägt seinerseits durch die schiere Größe der Karte wiederum in einen glatten Raum um. Auch in Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius lassen sich mit Stockhammer Parallelen zur dichotomen Raumkonstitution bei Deleuze und Guattari erkennen (vgl. Borges: Tlön; Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 86). Zu Deleuzes Konzept von ›calque‹ im Gegensatz zu ›carte‹ und zur Kartizität von Texten überhaupt vgl. TEIL II, Kap. 4, S. 162 in dieser Arbeit. 43 Foucault/Deleuze: Die Intellektuellen, S. 384.
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2.2 SUBJEKTFORMATIONEN DES GLATTEN UND DES GEKERBTEN Widmet man sich zunächst den ›einfachen Gegensätzen‹, so lassen sich Glattes und Gekerbtes entsprechend leicht und nachvollziehbar über den Gegensatz von Nomadismus und Sesshaftigkeit aufteilen. 44 Deleuze und Guattari schreiben dabei der Sesshaftwerdung immer einen aktiven Aspekt gegenüber dem Herumziehen der Nomaden zu. Trotzdem ist der Nomadismus für sie keine rein passive Lebensform. Im Modell der Physik unterscheiden sie etwa zwischen freier Tätigkeit im glatten und Arbeit im gekerbten Raum. Im gekerbten Raum gibt es ein Modell der Arbeit, das strukturierend und disziplinierend freie Tätigkeit in Arbeit verwandelt »oder sie (was auf das gleiche hinausläuft) auf die Seite der ›Freizeit‹ abschiebt, die nur im Verhältnis zur Arbeit vorhanden ist«. Eine nicht-kerbende Nutzung des glatten Raums bezeichnen sie dagegen als »kontinuierliche Variation von freier Tätigkeit« die von zivilisierten, gekerbten Außenstehenden nur als Arbeit beschrieben werden können, tatsächlich aber keine formalisierte, strukturierte und gerichtete Arbeit dar-
44 Das Verhältnis von Nomadismus und Sesshaftigkeit ist allerdings bei Deleuze und Guattari verkürzt dargestellt; gerade zur Entstehungszeit von Tausend Plateaus wurde Fred Scholz zufolge diskutiert, ob es sich beim Nomadismus um eine »Kulturstufe« handelt, das heißt, wie und ob dieser von Sesshaftigkeit unterschieden werden sollte (Scholz: Nomadismus, S. 20). Dabei gibt es, so Annegret Nippa, unterschiedlichste Formen des Nomadismus, von denen manche der Sesshaftigkeit sehr ähneln. Zudem spielt die »Scheidung in Sesshafte und Nomaden [...] nicht in jeder Gesellschaft eine Rolle, insbesondere dort nicht, wo urbane, rurale und nomadische Lebensweisen präsent und allen bekannt sind« (Nippa: Nomaden, S. 138). Scholz allerdings bestätigt gewissermaßen die Grundannahme Deleuzes und Guattaris, wenn er davon spricht, dass der Nomadismus »stets als reale Alternative zu Seßhaftigkeit und Ackerbau« zu betrachten ist und es sich bei ihm »um eine eigenständige, gesellschaftliche Ausdrucksform, um eine Kulturweise« handle, »deren interne (soziale, ökonomische) Prozesse, steuernde Faktoren und äußere Erscheinung prinzipialiter dem elementaren ›Gesetz‹ der Überlebenssicherung gehorchen«. Auf diese Weise beschreibt Scholz den Umgang mit dem Raum tatsächlich als gänzlich verschieden von dem »der städtisch/bäuerlich Seßhaften, die durch immer höhere und effektivere Beherrschung der Natur bei ständiger Verringerung der Abhängigkeit von derselben zu bestimmt war« (beide Zitate Scholz: Nomadismus, S. 19f.). Die von Deleuze und Guattari entwickelte ›Nomadologie‹ ist Peter Herbstreuth zufolge allerdings höchstens metaphorisch an das tatsächliche Leben der Nomaden angelehnt, »traditionelle Nomaden sind bei Deleuze und Guattari nur ein Muster für die Widerstandskraft und Wendigkeit, sich den Zugriffen von Herrschaft seit unvordenklichen Zeiten zu entziehen« (Herbstreuth: Nomadologie, S. 142).
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stellen. Wer nur kerbende Arbeit kenne, dem erscheine die glatte Tätigkeit des Nomaden als Nichtstun, als Faulheit, liege damit aber gänzlich falsch: »Diese Gesellschaften sind nicht faul, auch wenn ihre Differenz zur Arbeit sich in Form eines ›Rechts auf Faulheit‹ ausdrücken kann. Diese Gesellschaften sind nicht gesetzlos, auch wenn ihre Differenz zum Gesetz die Erscheinungsform von Anarchie haben kann.« Ihr Gesetz, so Deleuze und Guattari, sei »das Gesetz des Nomos«, das »eine kontinuierliche Variation der Tätigkeit regelt«.45 Das heißt, dass der Mensch über die Tätigkeit im glatten Raum aktiv werden kann, aber nur wenn er sich bewusst dem Gesetz des Nomos und damit den Gegebenheiten des glatten Raums unterwirft. Im Modell der Technik lässt sich diese Aufteilung in Aktivität und Passivität, Arbeit und Tätigkeit nachvollziehen: So wird der gekerbte Raum verdinglicht als Gewebe und damit als handwerkliches Produkt des Webstuhls beschrieben, wodurch Deleuze und Guattari dem Gekerbten auch eine Reihe von Merkmalen der Geschlossenheit und Begrenzung zuschreiben.46 Mit dem Filz dagegen, der »den nomadischen Kulturen im allgemeinen zugeordnet« werden kann,47 erschließen sie die Verbindung des Glatten als »Raum des Nomaden«. Filz sei Anti-Gewebe und damit ein glatter Raum: Im Prinzip unendlich fortsetzbar, nicht durch starre Elemente begrenzt, ohne einzelne Fäden seien seine Mikro-Fasern »miteinander verschlungen«, das miteinander verwickelte Material erscheine dadurch »keineswegs
45 Alle Zitate TP, S. 679f. Die Unterscheidung von Arbeit und freier Tätigkeit erinnert an Ingolds Raumbesetzung durch ›habitation‹ und ›occupation‹. Auch dieser trennt die Lebensformen als Formen der Arbeit räumlich auf (vgl. L, S. 81). Bei beiden wird die Perspektive des Menschen auf den Raum zum bestimmenden Faktor über ›habitation‹ und ›occupation‹, über Glättung und Kerbung. Das ›Gesetz des Nomos‹ verweist seinerseits auf die Lebensform des Nomaden als Nichtsesshaftem, zudem ist mit dem Begriff auch die Definition Schmitts aufgerufen, der im Nomos als Landnahme den Ur-Typus der Rechtsform annahm (vgl. Schmitt: Nomos der Erde, S. 17; vgl. zum Einfluss von Schmitts Raumkonzept auch TEIL I, Kap. 1, Anm. 17). 46 Da das Gewebe »durch zwei parallele Elemente gebildet« werde, sei es sowohl vertikal als auch horizontal von Linien durchzogen, die sich im rechten Winkel überschneiden. Da nur eines dieser Elemente beweglich sei und das andere immer starr bleibe, führe dies dazu, dass das Gewebe – und damit auch immer das Gekerbte – zwangsläufig durch das starre Element begrenzt und »an einer Seite geschlossen« sei (TP, S. 658f.). Zudem habe das Gewebe als Raum in jedem Fall eine Vorder- und eine Rückseite, damit weise seine Textur eine geordnete Begrenztheit auf, da nur eine Seite oberflächlich homogen zu Wirken imstande sei, während auf der Rückseite alle Fäden verknotet würden und so das Gewebe erst zusammenhielten. 47 Wagner: Material, S. 216.
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homogen«.48 Während also das Gewebe Resultat aktiver, begrenzender Arbeit der Sesshaften ist, wird die Verfilzung – und analog auch die Herstellung von Quilt und Patchwork, die Deleuze und Guattari ebenfalls thematisieren – als sich prinzipiell unendlich fortsetzende Tätigkeit der Nomaden beschrieben. So wird über die zentrale Rolle der Nomadologie in Tausend Plateaus die Priorisierung des Glatten etabliert: Deleuze und Guattari verwenden die Bewegungsformen der Nomaden zur »Beschreibung rhizomatischer Verknüpfungsverfahren«49 und verfolgen so mit ihrem Werk Heyer zufolge das Ziel einer »nomadischen Wissenschaft«, die anexakt und vagabundierend »ein hydraulisches Modell der Strömungen gegen die Theorie der festen Körper« darstellt und »dem Werden und der Heterogenität verpflichtet« ist. 50 In diesem Sinne charakterisieren Deleuze und Guattari die Verortung des sesshaften Betrachters gegenüber der Bewegung des Nomaden als konstitutiv für den jeweiligen Raumzustand. Die Nähe des glatten Raums zum Filz lässt erkennen, dass der Raum des Nomaden, obwohl er als glatt bezeichnet wird, eben nicht als homogen zu gelten hat, »ganz im Gegenteil: es ist ein amorpher, informeller Raum«. Dagegen führt die Kerbung als Strukturierung, die dem Raum auferlegt wird, zu einer Homogenisierung, wenn der Betrachter nur weit genug davon entfernt ist: »Je regelmäßiger das Geflecht ist, um so dichter ist die Einkerbung, um so mehr tendiert der Raum dahin, homogen zu werden: in diesem Sinne schien uns die Homogenität von Anfang an keine Eigenschaft des glatten Raumes zu sein, sondern [...] das äußerste Resultat der Einkerbung.« Deleuze und Guattari ordnen über die Einteilung in homogene versus heterogene Materialbeschaffenheit dem Gekerbten die Optik zu, währenddessen im Glatten das haptische Erleben im Vordergrund steht. Während die Fernsicht im gekerbten Raum für eine Homogenisierung sorgt, »operiert« der glatte Raum »von nah zu nah«, weil das Subjekt in ihm zu einer kontinuierlichen Variation seiner Richtungen gezwungen wird.51 In dieser Ausprägung erinnern das Glatte und das Gekerbte an die certeauschen Raumformationen von ›Karte‹ und ›Route‹. Schafft der Betrachter Distanz, so homogenisiert er den Raum und überblickt ihn wie eine ›Karte‹. Dagegen erschließt Nähe die Heterogenität des glatten Raums – ebenso wie sich die Bewegungen auf der ›Route‹ der Lesbarkeit entziehen und Nahkontakte schaffen.52 Die einfachen Gegensätze von Glattem und Gekerbten lassen sich also auf folgende Prinzipien zurückführen: Nomadismus gegen Sesshaftigkeit und damit Filz gegen Gewebe, Unterordnung unter den Raum gegen Beherrschung des Raums,
48 TP, S. 658. 49 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 29. 50 Heyer: Kunstkonzept, S. 28. 51 Alle Zitate TP, S. 683. 52 Vgl. KdH, S. 181f.
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freie Tätigkeit gegen Arbeit, Haptik gegen Optik. So können glatt und gekerbt mit ihren Folgeprinzipien die in Teil I etablierten Dichotomien rund um die grundsätzliche Verhandlung von Stillstand und Bewegung erweitern: Stillstand
Bewegung
(Autoren)
›Raum‹
›espace‹
(Dünne/Günzel)
Topographie
Topologie
(Borsò, Dünne, Günzel, Stockhammer)
Sehen/›Karte‹
Gehen/›Route‹
(Certeau)
Ort
Raum/Nicht-Ort
(Certeau)
Überblickssubjekt
Fußgängersubjekt
(Certeau)
Blick von oben
Blick im Unten
(Reiffers)
Sein
Werden
(Platon, Heraklit)
Punkt
Linie
(Ingold)
gedruckter Text
Handschrift/Storytelling
(Ingold)
Sesshafter
Nomade
(Deleuze/Guattari)
gekerbter Raum
glatter Raum
(Deleuze/Guattari)
Mit der Affinität des Gekerbten zum Stillstand und des Glatten zur Bewegung aufgerufen ist zudem, wie bereits über den Standpunkt des Betrachters impliziert, das Verhältnis der Raumzustände Deleuzes und Guattaris zur Subjektivierung. Um dieses Verhältnis zu erläutern, soll der Diskurs der Differenzierung von Natur und Landschaft herangezogen werden, der seinerseits auf den im vorherigen Kapitel etablierten Konnex von Raumkonstitution als Subjektkonstitution verweist. Joachim Ritter benennt die Literarisierung der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca im Jahr 1336 als das erste Auftreten der Unterscheidung von Natur und Landschaft: Petrarcas fernsichtiger Blick vom Gipfel, so Ritter, verwandelt die Natur durch ästhetisches Empfinden in Landschaft. »Landschaft wird daher Natur erst für den, der in sie ›hinausgeht‹ (transcensus), um ›draußen‹ an der Natur selbst als an dem ›Ganzen‹, das in ihr und als sie gegenwärtig ist, in freier genießender Betrachtung teilzuhaben«.53 Für Reiffers stellt der Brief Petrarcas über diesen Gipfel53 Ritter: Landschaft, S. 13; vgl. Petrarca: Mont Ventoux.
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sturm freilich sogar die Urszene des modernen Überblickssubjekts dar – und ist damit dem cartesianischen ›cogito‹ zeitlich nochmals vorgelagert –, wobei dessen beginnendes ästhetisches Empfinden nur Nebenprodukt eines größeren Projekts ist: Die Eigenwahrnehmung des Subjekts als ganzer Mensch durch eine das eigene Scheitern überwindende Produktion eines einheitlichen Raums. Zunächst nämlich wird sich das ›hinausgehende‹ Subjekt im Blick von oben selbst problematisch. Karlheinz Stierle spricht darum von einer Welt, die durch den Überblick in »unendliche Mannigfaltigkeiten« zerfalle.54 Dies mache Petrarca darum zum Entdecker der Vielheit, die ihn, so Reiffers, in zwei Menschen ›spalte‹, darum »zunächst betäubt, überrascht und vorerst überfordert«; Petrarca reagiere auf diese »Undurchsichtigkeit der eigenen und fremden Person«, indem er sich den überblickten Raum biographisch aneigne und den »mit der eigenen Biographie verbundenen einzelnen Orte[n] eine bedeutsame Funktion gibt«. Petrarcas Hinausgehen, seine Bergbesteigung besitzt darum nicht die Qualitäten der Fußgängerbewegung bei Certeau oder des ›wayfaring‹ bei Ingold. Vielmehr führt die Raumdurchquerung zu einem erhöhten Standpunkt, von dem aus es Petrarca möglich ist, die Natur zu überblicken und damit das topographische Bedürfnis zu stillen, das von Blumenberg als kennzeichnend für die frühe Neuzeit und ihre erweckende ›selbstbewusste Neugierde‹ beschrieben wird und das Reiffers im Blick von oben eingelöst sieht: »[D]er Blick von oben verbindet sich für [Petrarca] mit der Fähigkeit diesen inneren Widerspruch metaphorisch zu ›übersehen‹, sich selbst von einem Standpunkt der Reflexion aus als in sich differenziertes Ganzes zu beschreiben«.55
54 Stierle: Petrarca, S. 160 zit. nach Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 116. 55 Alle Zitate ebd., S. 110, 117, 109, 111. Für Hans Blumenberg ist Petrarcas MontVentoux-Episode dagegen gekennzeichnet als »unentschieden zwischen den Epochen oszillierende[r] Augenblick[...]«, indem »der Zeitbezug gegen das Raumverhältnis« (Blumenberg: Prozeß, S. 142f.) gestellt wird, wobei der erstere die Rückbesinnung auf Augustinus bezeichnet, letzteres die erwachende selbstbewußte Neugierde des frühneuzeitlichen Subjekts. In diesem Sinne beschäftigt die Frage, worin nun eigentlich die Leistung von Petrarcas Reflexion bestehe, die Forschung ungebrochen. So bezieht Mumot die Selbstbesinnung auf dem Gipfel allein auf die religiöse Introspektion im Rückgriff auf Augustinus, »die Landschaftsbeschreibung [...] erscheint im Rückblick nichtsdestotrotz als schlicht registrierende Aufzählung« (Mumot: Irrwege zum Ich, S. 25). Allerdings hindert dies Ritter dennoch nicht daran, Petrarcas Wanderung als Beginn einer ästhetischen Wahrnehmungsgeschichte zu benennen: »Mit seinem Hinausgehen verändert die Natur ihr Gesicht. Was sonst das Genutzte oder als Ödland das Nutzlose ist und was über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhetisch zur Landschaft.« (Ritter: Landschaft, S. 18) Ruth und Dieter Groh wiederum zweifeln diese These Ritters
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Ob nun die Geburt des modernen Subjekts bei Petrarca verortet wird oder bei Descartes: Des ersteren Hinausgehen lässt sich unschwer mit der cartesianischen Raumkonstitution verbinden, bei der die Bewegung sekundär zur Einnahme eines neuen, erhöhten Standpunkts ist, über den der Raum als abhängig vom ›unversehrten Subjekt‹ erschlossen wird. Die Differenz von Natur und Landschaft wird damit zur Differenz eines in die Natur eingebundenen, von ihr überforderten Fußgängersubjekts und eines die Natur von erhöhtem Standpunkt als Landschaft auf sich selbst beziehenden Überblickssubjekts. Die erste Landschaftsbetrachtung wird in dieser Perspektive als Metapher des erhöhten Betrachterstandpunktes lesbar: Wo Hügel – metaphorisch wie real – erklommen werden, um den Überblick als strategischen Vorteil nutzbar zu machen, eignet sich das Subjekt über seine Wahrnehmung – sei sie nun religiös, ästhetisch, enzyklopädisch, touristisch oder kartographisch motiviert – den Raum an, es versetzt sich in eine Position der Macht. Bezieht man dies auf die Überlegungen von Deleuze und Guattari so wird deutlich: Durch das stillstehende und festlegende Auge des Betrachters wird die Natur gekerbt und damit zur Landschaft. Dagegen positioniert Ritter die alltäglichen Tätigkeiten der Menschen als Naturpraktiken: »[N]icht die Gebirge und die Steppen der Hirten und Karawanen [...] sind als solche schon ›Landschaft‹. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ›freier‹ genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein.«56 Der Modus, in dem
an und konstatieren: »Rein ästhetische Naturerfahrung ist nicht [Petrarcas] Thema, weil sie nicht sein Problem ist« (Groh/Groh: Petrarca, S. 53). Reiffers Interpretation der Gipfelszene nimmt diese Zweifel auf, bezieht sie aber als funktionales Fehldenken in seine Überlegungen zur Leistung Petrarcas ein: Petrarcas Blick sei unabhängig vom »späteren Konzept der ›ästhetischen Naturerfahrung‹. Allenfalls kann umgekehrt diese Funktion [des Blicks als Selbstkontextualisierung, MG] die ästhetische Wirkung einer Landschaft begründen« (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 119). Auch Jens Pfeiffer liest Petrarcas Aufstieg nicht als Scheitern, sondern vielmehr als ein »ungemein prätenziöses Spiel mit Mehrdeutigkeiten, Konnotationen und Sinnebenen«. In ihm zeichneten sich »sich die großen Themen der Neuzeit ab: der sich als Individuum erfahrende Mensch, der ästhetische Genuß von Natur als Landschaft und dazu komplementär die vorurteilslose Betrachtung der Welt in den objektiven Wissenschaften« (Pfeiffer: Petrarca, S. 23). Zum Überblick der Positionierungen innerhalb des Mont-Ventoux-Diskurses und der Frage, ob Petrarca überhaupt den Mont Ventoux bestiegen habe, vgl. etwa Hoffmann: Rolle vorwärts; Adler: Besteigung. 56 Ritter: Landschaft, S. 18. Ritters ›freie genießende Anschauung‹ meint allerdings genau das Gegenteil der ›freien Tätigkeit‹, die Deleuze und Guattari als charakteristisch für die Nomaden annehmen und verweist auf den Terminus der ›Freizeit‹ und damit auf den Diskurs der Lohnarbeit.
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das Subjekt den Raum wahrnimmt, konstituiert damit den Raum: Besteigt Petrarca den Mont Ventoux und erfindet damit nicht nur Landschaftsbetrachtung, sondern nimmt auch Strukturen des neuzeitlichen Bewusstseins vorweg, verrät dies weniger über den Status des Raums als Natur beziehungsweise Landschaft, stattdessen wird die Konstitution des Subjekts als Betrachter thematisiert und sichtbar: Der Raum entsteht als Landschaft, weil das Subjekt ihn als solche produziert – und sich selbst zugleich als Einheit imaginieren kann.57 Eine solche Wahrnehmungspraxis spielt nach Deleuze und Guattari eine zentrale Rolle bei der Erzeugung sowohl der Subjektivierung als auch des Raums, wobei die cartesianische Subjektkonstitution des Kerbens einer nomadischen Subjektkonstitution gegenübersteht, die derjenigen des von Certeau beschriebenen modernen Subjekts in der Großstadt ähnelt. Die Nomadologie bei Deleuze und Guattari wendet sich, Peter Herbstreuth zufolge »an bewegliche Städter« und zeigt sich darin, »daß sie keinen festen Standort mehr hat und einer vielfachen Logik der Perspektivität unterworfen ist«, wie Hesper meint.58 Diese Konzeption der Nomadologie erlaubt es Deleuze und Guattari nach Kurt Röttgers und Petra Gehring, die nomadische Bewegung und ihr Denken so zu fassen, dass diese »durchaus Punkte [kennen], zu denen sie ›immer wieder gerne‹ zurückkommen«. Allerdings wenden sie sich damit gegen »ein Denken, das einen ›Standpunkt‹ hätte, von dem aus gefälligst gedacht werden müsste«. Stattdessen »gilt im nomadischen Denken die postmoderne Parole: hier stehe ich – ich kann auch noch ganz anders«.59 Und so kann mit Herbstreuth ergänzt werden, dass über diese »Multiperspektive [...] nomadisches Denken als tastendes Voranschreiten in einem Raum voller Möglichkeiten« erscheint.60 Durch die nomadische Form der Bewegung werden Hesper zufolge »die Unterscheidungen von Innen und Außen, Kopf und Welt, Gegenwart und Vergangenheit suspendiert und neu verteilt«. Die notwendige »Differenz von Subjekt und Welt«, die an den Standpunkt und die Wahrnehmung des Subjekts gekoppelt ist
57 Vgl. Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 113. In einem ganz ähnlichen Sinne lassen sich auch Roland Barthes’ Landschaftsanalysen verstehen. Dieser liest James und Nancy Duncan zufolge Landschaft als Zeichensystem, das ideologische Implikaturen immer schon in die Betrachtung einschreibt – und die er zu dekonstruieren sucht. Nach und nach entwickelt Barthes so eine Suche nach einem Raum, welcher zwar Zeichen beinhaltet, die jedoch nicht mehr entzifferbar sind, und der im Sinne Deleuze und Guattaris als glatter Raum verstanden werden kann (vgl. Duncan, Duncan: Ideology and Bliss; Barthes: Semiologie und Stadtplanung). 58 Herbstreuth: Nomadologie, S. 142; Hesper: Schreiben ohne Text, S. 8. 59 Röttgers/Gehring: Französische Philosophie zit. nach Schmitz-Emans: Die Wüste, S. 144. 60 Herbstreuth: Nomadologie, S. 142f.
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und es erst ermöglicht, Raum zu konstituieren und zu kerben, wird abgelöst von der entgegengesetzten Subjektbewegung des Voranschreitens. Grundlage dieser Annahmen ist für Hesper, dass »Wahrnehmung von den Wahrnehmenden je nach Disposition konstruiert wird« und Wirklichkeit darum ein »Perzept« darstellt.61 In diesem Sinne lässt sich das nomadische Subjekt bei Deleuze und Guattari mit dem orientierungslosen, ohnmächtigen Subjekt verknüpfen, das Reiffers zufolge »im Unten« verbleibt. 62 So folgern sie über die Subjektwahrnehmung im glatten Raum: »Die Orientierungspunkte bleiben nicht gleich, sondern ändern sich je nach der Vegetation, den Besetzungen und jahreszeitlichen Niederschlägen.« Der Blick im glatten Raum kann somit nicht kultivieren und ästhetisieren, er muss sich in Einzelheiten verlieren und den räumlichen Gegebenheiten unterwerfen. Glatte Räume sind also nicht durch die Optik und damit den Überblick bestimmt, sondern durch eine haptische Wahrnehmung, die »gleichermaßen visuell, auditiv und taktil« geprägt sein kann. So »wird der glatte Raum von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Qualitäten, wie in der Steppe, in der Wüste und im ewigen Eis. Das Krachen des Eises und der Gesang des Sandes«. Glatte Räume entstehen durch Bewegungen, die mit Certeau und Ingold als Fußgängerbewegungen charakterisiert werden können: Der Fußgänger, so scheint es, erzeugt den glatten Raum als sich in ihm bewegendes Subjekt, das sich der Materialität des glatten Raums unterwirft: »Es ist ein Raum, der durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird.«63 Bewegung als Form der Raumproduktion bedeutet also eine Abkehr von der cartesianischen Raum- und Subjektkonstitution. Umgekehrt bedingt der glatte Raum auch die Lebensform des Nomaden, der darum fundamental vom Subjekt des Stillstands unterschieden werden muss. Ingold verweist, obwohl er den Nomaden als Inbegriff des Fußgängers ablehnt, durchaus im Sinne Deleuzes und Guattaris auf indigene Völker, deren Bewegungen als Linienpraktiken andere Subjektkonstitutionen nach sich ziehen: »For the Inuit, as soon as a person moves he becomes a line.«64 In diesem Sinne sehen
61 Hesper: Schreiben ohne Text, S. 7. 62 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 12. 63 Alle Zitate TP, S. 683, 663f.; vgl. dazu auch die Überlegungen von Deleuze und Guattari zum französischen Impressionisten Paul Cézanne, die im Verlauf dieses Kapitels aufgegriffen werden. 64 L, S. 75. Ingold unterscheidet den ›wayfarer‹ insofern vom Nomaden, als ersterer ›habitation‹ praktiziere, letzterer nur darin scheitere, den Raum zu besetzen. »The experience of habitation cannot be comprehended within the terms of conventional opposition between the settler and the nomad, since this opposition is itself founded on the contrary principle of occupation. Settlers occupy places; nomads fail to do so. Wayfarers, however, are not failed or reluctant occupants but successful inhabitants.« (Ebd., S. 101)
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Deleuze und Guattari das Überblickssubjekt im nomadischen Denken negiert: Dieses »verbindet sich nämlich nicht mit einem universalen, denkenden Subjekt [...] und es gründet sich nicht auf eine allumfassende Totalität, sondern entfaltet sich vielmehr in einem grenzenlosen Umfeld, das ein glatter Raum ist, Steppe, Wüste oder Meer«.65 Die Raumkonstituenten »glatt« und »gekerbt« sind nicht nur verdinglicht, sondern unmittelbar mit der Konstitution der Subjekte verschaltet, umgekehrt wirkt die räumliche Prägung des Subjekts mit an der Konstitution des Raums. Die Ideologisierung Ingolds, der die Bewegungsformen der indigenen Stämme denen der ›occupation‹ – die als Besatzung die Machtposition des Subjekts widerspiegelt – vorzieht, findet sich darum auch bei Deleuze und Guattari. Indem sie nun jedoch gleichzeitig das nomadische mit dem modernen Subjekt verknüpfen, begreifen sie die Fußgängerbewegung als widerständige Praxis der Bewegung im glatten Raum, die der machtergreifenden Kerbung entgegengerichtet ist und eine Art Subjektivität hervorbringt, die gleichzeitig vorzivilisatorisch und dennoch aktuell, geradezu zukunftsweisend und gewissermaßen postzivilisatorisch ist. Die Perspektiven der Wahrnehmung dieser Fußgängersubjekte sind an den glatten Raum gebunden und stellen in ihrer Einseitigkeit eine einfache Wahrheit fest: Der Gegenpol zur zivilisierenden und festlegenden Kerbung ist die glatte, nomadische Bewegung, die das moderne Subjekt dazu nutzen kann, gegen die Kerbung zu revoltieren.
2.3 WEGE IN DIE SCHRIFT, WEGE IN DIE LITERATUR Mit den Begriffen der Wahrnehmung und Perspektive des Subjekts ist zugleich auch eine weitere kerbende Überblickspraktik, die der Vermessung und Kartierung der Welt, angesprochen. Gegenüber der nomadischen Unterwerfung unter die »Ereignisse oder Haecceïtates« des glatten Raums wird der gekerbte Raum durch den Menschen metrisiert, an ihn wird ein Rasternetz angelegt, dessen Knoten Punkte bilden und die Bewegung organisieren: »[M]an geht von einem Punkt zum nächsten«. 66 Mit Ingold, dessen Beschreibung der Transportlinie hier resoniert, kann eine solche Kerbung als Festlegung erkannt werden, wobei es die Knotenpunkte sind, die Stillstand erzeugen. Die fehlende Dominanz der Optik hat dagegen im Glatten
65 TP, S. 521. 66 TP, S. 663. Der gekerbte Raum wird von Deleuze und Guattari im Modell der Mathematik als euklidischer, geometrischer Raum der Punkte und zwischen den Punkten liegenden Strecken beschrieben, dagegen erkennen sie im glatten Raum einen riemannschen Raum der amorphen Mannigfaltigkeit (vgl. TP, S. 669-675). Dass beide mathematischen Formen auf Praktiken der Subjektkonstitution Auswirkung haben, zeigt Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 115f., 142.
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zur Folge, dass die Punktbestimmung ihre Bedeutung verliert: »Im glatten Raum ist die Linie also ein Vektor, eine Richtung und keine Dimension oder metrische Bestimmung.«67 Dabei ist diese Richtung keinesfalls eindeutig, vielmehr ist sie ständigen Änderungen und Variationen unterworfen, ganz so, wie der Mensch sich nicht auf einer Geraden durch das Terrain bewegen kann, sondern sich immer wieder an die räumlichen Gegebenheiten anpassen muss. »Der haptische, glatte Raum mit naher Anschauung hat einen ersten Aspekt, nämlich die kontinuierliche Variation seiner Richtungen, seiner Anhaltspunkte und seiner Annäherungen [...]. Zum Beispiel die Wüste, die Steppe, die Eiswüste oder das Meer, ein lokaler Raum reiner Verbindung.«68
Als solcher weist der glatte Raum topologische Qualitäten auf, er stellt einen relationalen Raum dar, der im Gegensatz zum gekerbten Raum nicht über die Geometrie erschlossen werden kann. Damit ist die Raumkonzeption des Glatten »gegen René Descartes Raumauffassung gerichtet« und damit auch gegen dessen Verständnis von Subjektivität.69 Wiederum ist es die Perspektive, die über Bewegung und Stillstand entscheidet, wie man am Konzept der Reise als Raumpraxis nachvollziehen kann. Wie nach ihnen Ingold, so sehen auch Deleuze und Guattari, wenn sie vom Reisen sprechen, zwei Formen der Bewegung, wobei nur eine, die nomadisch-glatte, wirkliche Bewegung darstellt, die andere aber Fixierung. Sie stellen fest, »daß es zwei Arten von Reisen gibt, die sich durch die jeweilige Rolle von Punkt, Linie und Raum unterscheiden«. Entscheidend für die Qualität der Reise ist die Perspektivierung, die Wahrnehmung des reisenden Subjekts: »Durch die Art der Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein, oder wie der Raum zu sein« pro-
67 TP, S. 663. Damit ist die konkrete Beschaffenheit des Raums gemeint. Hindernisse wie Felsen, Berge oder Flüsse, aber auch Orte, die angesteuert werden um dort zu verweilen, wie etwa die Oase in der Wüste, zwingen Deleuze und Guattari zufolge als auftretende ›Ereignisse‹ die sich im glatten Raum Befindlichen zur Anpassung der Bewegung. Ebenso könnten solcherart auftretende räumliche Ereignisse dafür sorgen, dass eine Kurve einen kürzeren Weg darstellt als eine Gerade zwischen zwei Punkten. 68 Ebd., S. 683. 69 Löffler: Im Raum sein, S. 212. Deleuze gehört Günzel zufolge zu den ersten Denkern, die die Topologie für den Strukturalismus im Besonderen und für die Philosophie im Allgemeinen fruchtbar machen, indem er den Strukturalismus räumlich versteht und als ein »reine[s] spatium« bezeichnet (Deleuze: Strukturalismus, S. 253; vgl. Günzel: Raum, S. 24; ders.: Topological Turn, S. 414).
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duziert der Reisende erst den Raum – »[i]m Glatten oder im Gekerbten reisen und ebenso denken...«.70 Die Karte ist dabei eines der wichtigsten Hilfsmittel der gekerbten Reise – sie abstrahiert die Metrisierung der Natur und überträgt sie in geometrische Linien, macht Distanzen ersichtlich und schließt Punkte zusammen. Doch Kerbung lässt sich nicht nur abstrakt wie im Falle der Kartographie als virtuelle Kerbung etwa in Längen- und Breitengraden, sondern durchaus auch im wörtlichen Sinne begreifen: Das Verb ›kerben‹ lässt sich auf das altgriechische γράϕειν (gráphein) beziehen, »dessen älteste Bedeutungen mit ›kratzen‹, ›ritzen‹, ›eingraben‹ angegeben werden«, wie Stockhammer erklärt.71 Noch deutlicher wird der buchstäbliche Bezug des Kerbens auf die Zivilisierung von glatten Räumen, denkt man an die Bearbeitung von Ackerland mit einem Pflug, der sich als Symbol der Sesshaftwerdung erkennen lässt, oder an das Netz von Straßen, das Städte und Siedlungen durchzieht und diese auch miteinander verbindet.72 Mit der Etymologie von ›gráphein‹ ist zudem noch ein weiterer Bereich der Kerbung aufgerufen, den Deleuze und Guattari jedoch nicht explizieren: Zeichnung, Schrift und Text.73 Karte und Gebiet sind über
70 Alle Zitate TP, S. 668. 71 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 40. 72 In diesem Zusammenhang verweist Böhme, indem er an die Körperlichkeit der Bewegung im Raum erinnert, auf den Gebirgspfad als »Kerbung des Raums durch die Mühsal all derer, die ihn vor mir gegangen sind« (Böhme: Einleitung, S. XVII). Wenn der Nomade durch die vom glatten Raum bestimmte Bewegung Wege schafft und diese zwar wieder begeht oder kreuzt, um Lager und Futterplätze erreichen zu können, so können diese durch Veränderungen im Raum – Lawinen, Steinschlag oder ähnliches – auch unbenutzbar werden; durchaus ist ebenso denkbar, dass sich alte Futterplätze nicht mehr als rentabel oder erreichbar erweisen und neue Wege beschritten werden müssen. Dagegen legt der Sesshafte im gekerbten Raum Wege an, um diese immer wieder zu beschreiten, begrenzt sein Land, um es von dem des Anderen zu unterscheiden und pflügt den Acker, um Früchte, Gemüse oder Getreide zu züchten. Dabei ist es wie beim Gewebe die Begrenzung, die Bewegung einfriert und in Stillstand überführt. Allerdings lässt sich auch ein nomadischer Pfad denken, der sich an den ›Ereignissen‹ des Raums orientiert, dennoch mehrfach begangen wird und sich so in der Natur manifestiert. So erscheint der tatsächliche Umschlagspunkt vom Glatten ins Gekerbte weniger durch Praxis gegeben als vielmehr durch die Perspektive der Nutzer. 73 Etymologisch verweist Text auf das lateinische textus und damit auf das Gewebe, das von Deleuze und Guattari wie bereits oben beschrieben als gekerbter Raum bezeichnet wird. Dementsprechend besitzt auch der Text als gekerbter Raum jene Eigenschaften des Gewebes, ist also begrenzt, gerichtet und weist – gewissermaßen in Übertragung – dadurch Kohärenz und Kohäsion auf (vgl. Martens: Text; Baßler/Thiele: Textualität).
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den Begriff der Topographie an die Schrift gebunden; Topographien stellen somit Kerbungen dar, die »folgerichtig sowohl die Repräsentation eines Geländes – sei es durch einen Text, sei es durch eine Karte – als auch dieses selbst bedeuten« können. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der glatte Raum also dazu tendiert, über die Bewegung als reine Verbindung topologisch organisiert zu sein; dagegen wird über die zivilisierende Funktion der Karte die Topographie als Bezugspunkt des gekerbten Raums ersichtlich.74 Indem Stockhammer in diesem Zusammenhang auf das im Raumdiskurs »inflationär benutzt[e] Wort Einschreibungen« verweist, legt er die dreistellige Beziehung von Kartographie, gekerbtem Raum und Text offen: Das Schreiben, nicht nur in der Form der Erstellung von Karten, ist eine grundsätzlich kerbende Praxis.75 Certeau beschreibt die leere, noch unbeschriebene Seite als »›eigene[n] Raum«, der einen »Produktionsort für das Subjekt« eingrenzt. Über diesen leeren, unbeschriebenen Raum der Seite herrscht das Subjekt, ganz von selbst nimmt es jene Perspektive ein, die bereits oben als eine des Stillstands herausgearbeitet werden konnte: »Jedes Kind wird vor seinem weißen Blatt bereits in die Position [...] des cartesianischen Philosophen versetzt«. So vollzieht das Subjekt vor dem weißen Blatt Papier durch eine »Reihe von deutlich gegliederten Operationen«, dem Schreiben, eine Subjektivierung, mit dem Ergebnis, dass auf »dem Nicht-Ort Papier [...] das Modell einer produzierenden Vernunft geschrieben« steht und das Subjekt sich selbst zum Autor gemacht hat.76 Deleuze und Guattari bestätigen eine solche Sichtweise, wenn sie davon sprechen, dass Schreiben »nichts mit Bedeuten zu tun [hat], sondern damit, Land – auch Neuland – zu vermessen und zu kartographieren«.77 Ingold vergleicht zudem die Praxis des Autors mit der des Kartographen, »who likewise positions iconic fragments on the paper surface to mark the locations of objects in the world«.78 Allerdings gilt diese Gleichsetzung Ingold zufolge nicht für alle Schriftstücke: Ein Manuskript könne als handschriftliches Dokument den Leser dazu zwingen, ihn aus der Nähe zu betrachten und somit eine ›line on a walk‹ zu produzieren – wobei den Extremfall einer solchen entziffernden Lesepraxis sicherlich Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet darstellen, die auch mit größten Mühe für
74 Auch Laura Frahm hat auf die Affinitäten von Glattem/Topologie und Gekerbtem/Topographie besonders in Filmen hingewiesen, in welchen die Großstadt nicht nur Handlungsort, sondern geradezu Protagonist ist (vgl. Frahm: Zwischen Topographie und Topologie, S. 157-159). 75 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 40. 76 Alle Zitate KdH, S. 246. 77 TP, S. 14. 78 L, S. 92.
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den Leser kaum zu entziffern sind und zu einer Lektüre anhalten, die immer wieder überprüfend nach vorne und zurück, nach oben und unten schaut, um überhaupt so etwas wie Sinn zu konstituieren.79 Dagegen bestehe ein zum Druck bestimmter, am Computer verfasster Text aus abgeschlossenen Sätzen, halte die Regeln der Grammatik ein und stelle eine vorgefertigte »assembly« dar. Der Prozess des Druckens weist den niedergeschriebenen Text schließlich endgültig als gekerbten Raum aus: »[P]rinting is one [ein Prozess, MG] of impression – of a pre-composed text upon an empty surface that has been made ready to receive it«. Der Leser eines solchen Textes wird durch die räumliche Konfiguration des Drucks in jene Betrachterposition gezwungen, die Certeau bereits für den Autor annahm: »The elements of the page may be joined in the imagination so as to form a plot – the literary equivalent of the scientist’s graph or the tourist’s route-plan. But the lines of the plot are not traced by the reader as he moves through the text.« Indem mit dem Papier auch der ›plot‹ gekerbt wird, wird der Leser in exakt die Position eines Subjekts des Stillstands geführt: »[T]he modern reader surveys the page as if from a great height. Routeing across it from point to point [...] he moves in terms of area. In so doing he occupies the page and asserts his mastery over it. But he does not inhabit it.«80 Der gedruckte Text ist damit als gekerbter Raum gekennzeichnet, das Buch hat als Druckwerk Deleuze und Guattari zufolge einzig einen Sinn, es soll »die Schrift quantifizieren. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist.«81 Nimmt der Leser ein gedrucktes Buch zur Hand, so wird er zum cartesianischen Subjekt, das aus Distanz die Erzählung überfliegt. Zwischen dem gedruckten Text und dem Leser existiert jedoch noch eine weitere Ebene: Die Erzählung selbst, das Narrativ, das sich als ›plot‹ dem Leser als gekerbter Raum darstellt. Literatur ist jedoch immer Form und Inhalt und damit doppelt perspektiviert in einem Diskurs von Semantik und Semiotik. Wenn Deleuze und Guattari nun aber beim gedruckten Buch keinen Unterschied zwischen Machart und Handlung erkennen, bedeutet dies zwangsläufig, dass ein der Kerbung widerstrebendes, glattes Erzählen, ein Erzählen des glatten Raums ebenso unmöglich ist? Eine solche Frage provoziert zudem eine Reflexion darüber, wie Erzählungen inhaltlich mit ihrer Festlegung als formal gekerbte Räume umgehen. Die Überlegungen zu dieser Frage finden im nächsten Kapitel statt, um sich ihnen zu nähern gilt es jedoch, noch einen weiteren Aspekt der Beziehung von Glattem und Gekerbtem zu thematisieren: Von den einfachen Gegensätzen absehend, die erlaubten, das Glatte und das Gekerbte analog der Dichotomie von Bewegung und Stillstand zu
79 Vgl. Thut/Walt/Groddeck: Schrift und Text. 80 Alle Zitate L, S. 94, 26, 92. 81 TP, S. 13.
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verstehen, soll nun auf die von Deleuze und Guattari so vehement konstatierten komplexen Unterschiede und faktischen Vermischungen geblickt werden. Kompliziert wird es nach Deleuze und Guattari dort, wo sich glatte und gekerbte Räume überlagern, scheinbar gleichzeitig vorkommen, wo sich Makro- und Mikroebenen vermischen; zwei der sechs Modelle – Ästhetik und Meer – dringen in diese komplexen Unterschiede und faktischen Vermischungen vor. Letztere werden im Modell des Meeres thematisiert. Das Meer kann zwar ebenfalls im Raster der einfachen Gegensätze verortet werden, schließlich ist es, in den Worten von Deleuze und Guattari, »der glatte Raum par excellence«, gleichzeitig ist es jedoch auch »der Archetyp für alle Einkerbungen des glatten Raumes«. Denn wiewohl es nicht möglich ist, auf dem Meer sesshaft zu werden und eine Bewegung auf dem Meer nur in Bahnen gedacht werden konnte, so wird es »bei der Navigation auf hoher See« unaufhörlich eingekerbt. Dies geschieht durch die Berechnung der Position als Punkt durch die Gestirne sowie durch die Kartierung der Meere, »die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert«. Die Karte erscheint deshalb als höchste Form der Einkerbung, weil sie die Macht besitzt, eine tatsächliche, den glatten Raum transformierende Kerbung durch eine rein virtuelle Kerbung zu ersetzen, sozusagen eine Topographie zweiter Ordnung zu erstellen und eine weitere konkret transformierende Kerbung anzuregen. »Der glatte Raum ist zuerst auf dem Meer gezähmt worden, auf dem Meer hat man ein Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden, das überall zum Vorbild genommen werden konnte.«82 Der Raum des Meeres ist damit glatt und gekerbt, seine Produktion als glatter oder gekerbter Raum hängt wiederum von der Perspektive der den Raum produzierenden Subjekte ab – und von deren Praktiken und Ausdrucksmitteln, wie Hanjo Berressem anhand seiner Überlegungen zum Segelboot in literarischen Texten versucht zu zeigen.83 Dazu wechselt Berressem von der grundsätzlich kerbenden Perspektive des Autors beziehungsweise des Lesers auf die Inhaltsebene und mithin in die Perspektive literarischen Personals: So reisten Figuren auf einem Dampfschiff, weil sich dieses gegen die Wellen und den Wind bewegen könne, im gekerbten Raum, während die
82 Alle Zitate ebd., S. 664f. 83 Als Beispiel für die glatte Nutzung der Nautik führen Deleuze und Guattari ArchipelNomaden an, die mit glatten Bewegungen von Insel zu Insel steuern (vgl. ebd., S. 663). Wird das Meer dagegen genutzt, um Handelshäfen anzusteuern oder ferne Länder zu erobern, so kann man mit Ingold von einer Transportlinie und einer Bewegung across sprechen, die durch die Punkte des Starts und Ziels organisiert ist. »For the transported traveller and his baggage, [...] every destination is a terminus, every port a point of re-entry into a world from which he has been temporarily exiled whilst in transit.« (L, S. 77)
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Reise mit dem Floß, »which is defined by a passive relation to the elements (this relates it to the logic of drifting, nautical romanticism, pure smoothness and pure intensity)« eine glatte Reise darstelle. Mit dem Segelboot als dritter Möglichkeit der Bewegung auf dem Meer ruft Berressem jedoch auch ein Transportmittel im Dazwischen auf. Weil es Aktivität und Passivität kombiniere, beispielsweise mit und gegen den Wind segle, stelle es den Inbegriff des dynamischen Wechselspiels zwischen Glattem und Gekerbten dar. »The fascination of sailing lies in the way that the sailboat inserts itself into the play of the winds, the waves, and the currents, in how, through movements of rudder and sail, it negotiates their directions and strengths, and in how it folds its course into their dynamics.«84
Berressem zeigt das Segelboot als Differential von Glattem und Gekerbtem, als literarisches Instrument, das beide Raumformationen vereint. Dies verdeutlicht er über Lektüren von amerikanischer Abenteuerliteratur, anhand derer er den Einfluss unterschiedlicher Modi des Segelns auf das Erzählen rekonstruiert. Als rhetorische Umformulierungen und Abstufungsformen der Raumzustände glatt und gekerbt finden die Segelfahrten entweder eher im Modus der Dampfschifffahrt oder eher im Modus des Treibenlassens auf dem Floß statt und wirken auf die Erzählweise und die Protagonisten der Texte ein – Berressem zufolge erzeugen die Texte so eine Öffnung hin zu »nautical multiplicity and to the noise of the ocean«.85 Indem er also mit dem Segelboot ein Differential liefert, gelingt es Berressem, die Vermischung von Glattem und Gekerbtem auf der Inhaltsebene literarischer Texte nachzuverfolgen.86 Denkt man die oben angestellten Überlegungen zur kerbenden Qualität von Schrift und Autorposition mit dem von Berressem thematisierten Potential des Narrativs, auf Inhaltsebene sowohl gekerbt als auch glatt erscheinen zu können, zusammen, so ergibt sich bezüglich der Übergänge von und Perspektiven auf das Glatte und das Gekerbte eine in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierende Konstellation von Raumsemantik und Raumsemiotik, von Inhalt und Form: Auf raumseman-
84 Beide Zitate Berressem: Sailing, S. 222f. 85 Ebd., S. 225. 86 Besonders Melvilles Roman Moby-Dick scheint sich für eine solche Analyse anzubieten. Neben Berressem lesen beispielsweise auch Stockhammer und Tamsin Lorraine die Geschichte Ishmaels, Captain Ahabs und des weißen Wals als Verhandlung von glattem und gekerbtem Raum (vgl. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 187-210; Lorraine: Ahab). Auch Deleuze selbst nutzte Melvilles Texte – unter anderem auch Moby-Dick – für seine Überlegungen zur Literatur, allerdings ohne auf ihr Potential für die Exemplifizierung der Raumzustände einzugehen.
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tischer Ebene zeigt sich anhand der Lektüren Berressems, dass die von der Perspektivierung abhängige Konstitution des Raums – analog zu den Überlegungen des ersten Kapitels dieses Teils der Studie – auf Subjektivierungspraktiken der Erzähler und Figuren eines Narrativs schließen lässt. 87 Aus der räumlichen Konfiguration des Narrativs lassen sich damit Rückschlüsse für die Positionierung und Perspektivierung der literarischen Subjekte innerhalb der Dichotomie von Stillstand und Bewegung ziehen.88 Dagegen erscheint Literatur raumsemiotisch immer als Kerbung, weil sie in ihrer Form ein Produkt aus Autorschaft und Druckwerk ist und dadurch bereits immer eine Distanzoperation darstellt. Das performative Paradox der Dichotomie von glatt und gekerbt kann so im Verhältnis von Erzählen als Raumsemantik und Literatur als Raumsemiotik exemplifiziert werden: Nimmt man die Annahmen Ingolds und Certeaus ernst und betrachtet mit Deleuze und Guattari jeden Text bereits als Kerbung, so befinden sich der Versuch, von glatten Räumen zu erzählen und die Kerbung durch den aus einer Autorposition verfassten, gedruckten Text immer im Widerstreit miteinander.89 Vorläufig lässt sich also festhalten: Literatur,
87 Die Begriffe Raumsemantik und Raumsemiotik sind bei Lobsien: Literatur und Raumbegriff entliehen und werden hier gewissermaßen proleptisch verwendet. Sie werden im Abschlusskapitel des ersten Teils nochmals detailliert aufgegriffen und für die Analyse der Übergänge der dichotomen Raumzustände fruchtbar gemacht, vgl. TEIL I, Kap. 3, S. 136. 88 Bei Deleuze selbst ist eine solche Lektüre bereits angelegt: Mit Verweis auf Kafka argumentiert er in Kritik und Klink, dass die besten Texte zu den »kleinen Literaturen« gehören, das heißt, die Minorisierung der Sprache als Verfremdung vorantreiben, indem sie grammatikalische und syntaktische Codes aufbrechen, und damit gewissermaßen in »eine[r] Art Fremdsprache« geschrieben sind (Deleuze: Kritik und Klinik, S. 15f.). Gemeinsam gehen Deleuze und Guattari dieser ›kleinen Literatur‹ in ihrer Untersuchung Kafka. Für eine kleine Literatur nach und verweisen auf die ›Minorisierung‹ als Thematisierung der Verweigerung gegenüber den ›großen Themen‹ der Literatur. Sie nutzen die Analyse von Kafka-Texten nicht als symptomatischen Ausdruck einer Krise des Subjekts gegenüber den in der Bürokratie entkörperten Mechanismen der Macht, wie dies beispielsweise Mumot am Beispiel von Poes Erzählung The Man of the Crowd tut, verhandeln also nicht dessen deskriptive Fähigkeiten, sondern setzten Kafkas Schreiben als Norm, benutzen ihn, um eine Zuschreibung und damit eine Festschreibung zu liefern und verstärken dadurch den Eindruck einer Priorisierung innerhalb der Dichotomie, nicht eines Dazwischen (vgl. Deleuze/Guattari: Kafka; Mumot: Irrwege zum Ich, S. 117-136; Poe: Man; vgl. zur Erzählung Poes auch TEIL II, Kap. 5, S. 220f. in dieser Arbeit). 89 Ingolds Ansicht ist dabei nicht grundsätzlich zuzustimmen, jedoch für die Überlegungen zu den Übergängen von Stillstand in Bewegung und vice versa hilfreich. Zur Kritik an Ingolds Vorstellung einer der freien Variation unterliegenden Handschrift bzw. oraler Er-
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die als Druckwerk ein Erzählen aus glatten Räumen vornimmt, kann als privilegierter Ort der Untersuchung des performativen Paradoxes von Deleuze und Guattari dienen; in den Vordergrund treten dabei diejenigen räumlichen Verfasstheiten, die die Dichotomie von glatt und gekerbt in den Blick nehmen und in das Narrativ übertragen. Im an die Überlegungen zu Deleuzes und Guattaris Raumtheorie anschließenden Kapitel 3 dieses Teils wird dieser Faden wieder aufgenommen und innerhalb eines literaturwissenschaftlichen Diskurses analysiert. Zunächst aber sollen die Gedanken zum Glatten und Gekerbten weitergeführt werden im Hinblick auf die Übergänge und Vermischungen zwischen den beiden Raumzuständen.
2.4 VERMISCHUNG UND DIFFERENZ AM UMSCHLAGSPUNKT DER RAUMZUSTÄNDE Mit der Lektüre Berressems wird deutlich, dass glatte und gekerbte Räume nicht nur wechselseitig, sondern auch gleichzeitig auftreten können. Als Vermischung der Raumzustände erweist sich eine doppelte Belegung eines Raums, die ihn durch glatte bzw. gekerbte Positionen, Handlungen und Bewegungen jeweils für das den Raum nutzende, betrachtende oder sich in ihm bewegende Subjekt zum glatten bzw. gekerbten Raum machen. Hier allerdings zeigt sich: Auch wenn ein Raum vermischt erscheint, wenn er gleichzeitig glatt und gekerbt zu sein vorgibt, so lassen sich die Raumzustände dennoch anhand des menschlichen Umgangs mit ihnen unterscheiden. Somit erweisen sich auch die Überlegungen zum Glatten und Gekerbten als Theorie der komplexen Differenzierung. Eine einfache Entdifferenzierung ist, auch wenn Deleuze und Guattari dies bisweilen zu suggerieren scheinen, nicht möglich. Aus diesem Grund erscheint es vielversprechend, weiterhin nicht die Auflösung der Dichotomie von Glattem und Gekerbtem zu verfolgen, sondern die komplexen Differenzierungen von Glattem und Gekerbtem nachzuvollziehen, um die Raumproduktion durch Stillstand und Bewegung in literarischen Texten in den Blick zu bekommen. Damit sind weniger die unterschiedlichen Qualitäten der jeweiligen Seiten, sondern Verschiebungen von glatten zu gekerbten Räumen und umgekehrt angesprochen, die Momente des Übergangs zwischen beiden Raumzuständen. Blicken wir zunächst auf den Übergang vom Glatten zum Gekerbten, so lassen sich Deleuzes und Guattaris Überlegungen ohne Umwege verstehen: Als Akte der Metrisierung und Kartierung, der Sesshaftwerdung und Urbanisierung erscheinen Kerbungen als Prozesse, die zur Zivilisierung des Raums durch den Menschen bei-
zählung gegenüber einem statischen Druckwerk mit vorgefertigten Erzählbausteinen vgl. TEIL I, Kap. 1, Anm. 109.
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tragen – und zur Zivilisierung der unzivilisierten ursprünglichen Bewohner des glatten Raums. Der einfachste Übergang von glattem in gekerbten Raum findet sich in der Landwirtschaft, genauer in der Furche des Pfluges des sesshaften Landwirts, die glatten Boden in eingekerbten Grund verwandelt. Diese erste Kerbung erscheint als Ursprung von Zivilisierung und Kultur – das lateinische ›cultura‹ meint sowohl Urbarmachung des Landes wie auch Verfeinerung der Sitten – und macht eine Bemühung um Festlegung durch Punkt und Strecke, durch Besitz und Grenzen, durch Karten und Maßeinheiten sichtbar. Zivilisierung wiederum kann als Festlegung gleichgesetzt werden mit Stillstand, weil sie nomadische Bewegung zum Erliegen bringt, das nomadische Subjekt festlegt auf einen Ort, einen Punkt, eine Heimat.90 Der Übergang vom Gekerbten zum Glatten dagegen ist schwieriger zu fassen. Deleuze und Guattari thematisieren ihn mit einem Verweis auf die Erfindung des U-Bootes, »das über jede Rasterung hinausgeht und ein neues Nomadentum erfindet«. Dem Subjekt, das sich im U-Boot befindet, zeigt sich, das Meer als glatter Raum: »[A]m Ende seiner Einkerbung gibt das Meer eine Art von glattem Raum
90 Damit rekurriert das Kerben auch auf all jene Begriffe, die bereits in Kapitel 1 aufseiten des Stillstands verortet wurden: Herdfeuer, Ort, Hafen, World Trade Center und so fort. Deleuze und Guattari erkennen in der Urbanität die Grundlage aller modernen zivilisierenden Kerbungsvorgänge. Die Stadt ist darum nicht nur »der gekerbte Raum par excellence«, vielmehr stellt sie die »Einkerbungskraft« selbst dar. Über die Stadt wird die Differenz von Glattem und Gekerbtem sichtbar: Als Motor der Einkerbung »hat die Stadt die Landwirtschaft erfunden« und verwandelt Nomaden in Ackerbauern, glatte in gekerbte Räume und Bewegung in Stillstand. Am Beispiel der Aufteilung von »Nomos« und »polis« sowie von Beduinen und Stadtbewohnern zeigen Deleuze und Guattari, dass auch die Stadt – wie das Segelboot im Beispiel Berressems – als Differential von Glattem und Gekerbtem angesehen werden kann: »Man kann sich nicht damit bescheiden, den glatten Boden des Nomaden-Züchters und den gekerbten Raum des seßhaften Landwirtes einfach gegenüberzustellen. [...] Wenn die Griechen vom offenen Raum des Nomos sprachen, der nicht begrenzt ist, nicht aufgeteilt, prä-urbanes Land, [...] dann stellten sie ihn nicht der Kultur gegenüber, die im Gegenteil ein Teil davon sein kann, sondern der polis, [...], der Stadt. Wenn Ibn Khaldun [...] vom Beduinentum [spricht], dann umfaßt dieses sowohl die Landwirte wie die nomadischen Züchter: er stellt es [...] dem ›Städtertum‹« gegenüber. Allerdings bestätigen diese Abstufungen erst die komplexen Differenzierungen. Auch wenn bereits halb-seßhafte Landwirte im glatten Raum leben, so bestehen nach Deleuze und Guattari doch weiterhin die Raumzustände glatt und gekerbt. »Diese Präzisierung ist wichtig; und dennoch ändert sich nicht viel. [...] So kann man auf dieser Ebene den einfachen Gegensatz wiederfinden, den man zwischen Ackerbauern und Nomaden, zwischen eingekerbtem Grund und glattem Boden zunächst verworfen hat« (alle Zitate TP, S. 666f.).
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zurück, der [...] von der ständigen Bewegung des strategischen Unterseebootes« besetzt wird.91 Diese doch recht vage Einschätzung eines Umschlags von einem gekerbten in einen glatten Raum spiegelt sich im Beispiel der Stadt, welches Deleuze und Guattari – analog zur Kerbung des glatten Meeres und zurück – zudem anführen, um den Umschlag ›am Ende‹ der Kerbung zu verdeutlichen. Die Stadt stellt den gekerbten Raum schlechthin dar und doch, so behaupten Deleuze und Guattari, lässt »[s]elbst die am stärksten eingekerbte Stadt« glatte Räume entstehen, die sich gegen die Stadt selbst richten, »gewaltige, kurzlebige Elendsviertel, Nomaden und Höhlenbewohner, [...] die nicht einmal mehr für die Einkerbungen des Geldes, der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind«.92 Dass die Umschlagbewegungen von gekerbten und glatten Räume ineinanderfallen, liegt an der grundsätzlichen Konzeptionierung von Raum bei Deleuze und Guattari. West-Pavlov liest Tausend Plateaus als Verhandlung allumfassender Umschlagbewegungen, die Deleuze und Guattari dem Werden als Fluss zuschreiben. Raum ist darum ein »fluid medium« oder, um einen der berühmtesten Begriffe Deleuzes einzuführen, eine in der doppelten Artikulation von Inhalt und Ausdruck eingefasste ›Territorialisierung‹: »All space emerges from the flow of becomingbeing, crystallizing or coagulating at the moment when connections occur. Connections are the beginning of a territoriality.«93 Jedem Raum als Territorialisierung ist Deleuze und Guattari zufolge ein Potential zu einer Deterritorialisierung beziehungsweise einer Reterritorialisierung eingeschrieben, mehr noch: Sich manifestierende Zustände – seien es Orchideen, Gesichter oder auch Räume – werden auf den verschiedenen Plateaus immer wieder auf ihre Qualitäten zur De- bzw. Reterritorialisierung hin untersucht.94 Mit West-Pavlov lassen sich zwei Strategien zur De- und Reterritorialisierung erläutern, die wiederum auf die dichotomisierte Raumkonstitutionspraxis vom Glatten und Gekerbten schließen lassen: Einerseits ist Deterritorialisierung die Grundlage von Reterritorialisierung, »everywhere in evidence in the service of the capitalist tabula rasa« – West-Pavlov nennt dies eine »junk reterritorialization« einer Deterritorialisierung, die »forcibly resolved« wurde. Ihr gegenüber steht eine Deterritorialisierung als »creative destabilization«, die Territorialisierung bewusst auflöst und die sich den »oscillations and undulations in flows of being« unterwirft. Das komplexe Wechselspiel von Territorialisierung, Deterrito-
91 Ebd., S. 665. 92 Beide Zitate ebd., S. 693, 667. 93 Beide Zitate West-Pavlov: Space in Theory, S. 199. 94 Vgl. etwa zu den (Re-)Territorialisierungen der Orchidee das Plateau Rhizom (TP, S. 1142) oder zum Gesicht Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts (ebd., S. 232-262).
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rialisierung und Reterritorialisierung zeigt sich West-Pavlov zufolge in einer Interdependenz, welche jedoch »by no means erases dichotomies«.95 Das bedeutet, kehrt man die Blickrichtung um und blickt von der Warte des Glatten und Gekerbten auf den Komplex der Territorialisierungsprozesse, dass Deleuze und Guattari also selbst in der Definition des sich stets im Werden befindlichen, wandelbaren Raums auf eine dichotomisierte Raumkonstitution verweisen. Der Bezug zu den Manifestationen der Territorialisierungen als gekerbter beziehungsweise glatter Raum tritt deutlich zutage: Kerbungen sind Operationen zur Reterritorialisierung des Raums, auch wenn ihnen eine Deterritorialisierung des Raums vorhergeht. Demgegenüber existieren Glättungen als Deterritorialisierung eines Raums, auch wenn der glatte Raum selbst grundsätzlich eine Territorialisierung darstellt – auch um einen Raum als entzivilisiert und glatt zu begreifen, muss er zunächst als Raum und damit als Territorium erkannt werden. Darum, so WestPavlov, ließen sich Deterritorialisierungen am besten anhand der »imaginary nomads, to which Deleuze and Guattari devote so much attention« nachvollziehen – die Nomadologie de- und reterritorialisiere das Territorium immer wieder von neuem, so ergänzt Heyer.96 Indem die Nomaden sich dem glatten Raum unterwerfen, deterritorialisieren sie gekerbte Räume und zeigen damit auch die Beschaffenheit ihrer eigenen Subjektivität: »In terms of personal identity it [die Deterritorialisierung, MG] can be understood as acquiescence to the constant re-junking of personality which creates the unplanned, unpredictable, eminently creative trajectory of a human existence.«97 Der glatte Raum wird zur »›territoriality‹ of nomadic movement«, umgekehrt, so lässt sich schließen, wird Bewegung zur Deterritorialisierungspraxis des den glatten Raum konstituierenden Subjekts.98 Grundsätzlich wird diese Form der Territorialisierung von Deleuze und Guattari gegenüber der Sesshaftigkeit vorgezogen, da jede Form von Deterritorialisierung auf die der doppelten Artikulation zugrundeliegende ›Konsistenzebene‹ der Intensitäten verweist, die als »[a]bsolute Deterritorialisierung« zu gelten hat. 99 Die im glatten Raum durchgeführte Deterritorialisierung des Nomaden ist damit ›näher‹ an der absoluten Deterri-
95 Beide Zitate West-Pavlov: Space in Theory, S. 199, 254. 96 Ebd., S. 201; vgl. Heyer: Kunstkonzept, S. 35. 97 West Pavlov: Space in Theory, S. 201. 98 Eine solche Vermutung ist allerdings insofern problematisch, weil Deleuze und Guattari die Übergänge vom Gekerbten zum Glatten eben nicht an aktive Prozesse der Subjektivierung zu binden scheinen, wie etwa an der bereits oben zitierten Überlegung festgemacht werden kann, dass das Meer am Ende der Einkerbung einen glatten Raum zurückgibt. Inwiefern sich eine Glättung als aktiver Prozess erweisen kann, wird im Folgenden ersichtlich. 99 TP, S. 273.
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torialisierung der Konsistenzebene als die Reterritorialisierungsbemühungen des Sesshaften. Hier aber scheint ein grundsätzliches Problem bei Deleuze und Guattari auf, das bereits bei den zuvor behandelten Raumtheorien diskutiert wurde und das es nötig macht, sich vom Beispiel des Nomadismus zu lösen, um das Verhältnis von Stillstand und Bewegung weiter zu verfolgen: Versteht man den solcherart anthropologisch fundierten Nomadismus als ›ursprünglich‹ im Sinne einer auf die Intensitäten der Konsistenzebene verweisenden absoluten Deterritorialisierung, so schreibt man der Dichotomie von Nomaden und Sesshaften – und damit auch dem Glatten und dem Gekerbten sowie Bewegung und Stillstand – wiederum hierarchische Qualitäten zu, die reichlich anachronistisch wirken und sowohl auf die Unterscheidung von Städtern und Barbaren in der Antike als auch auf die Kolonialisierung und Missionierung der ›Neuen Welt‹ und damit die Typologisierung der Menschen in Grade des Besitzes von Kultur und Zivilisation verweisen – allein die herkömmliche Priorisierung erscheint umgekehrt: Die ›kulturlosen‹ Nomaden erscheinen gewissermaßen als ›Edle Wilde‹ und als Hüter der ursprünglichen Intensität des glatten Raums.100 Entgegen ihres Konzepts der doppelten Artikulation, das Dünne zufolge zur Konsequenz hat, »dass Raumkonstitution nicht etwa von einem weitgehend naturnahen zu einem zunehmend kulturell-technisch geprägten Raum fortschreitet«, scheinen Deleuze und Guattari zu einer eben solchen Teleologie der immer vollständiger eingekerbten Erde zu tendieren, der gegenüber der Nomadismus den Schlüssel zum Widerstand bietet.101 Eine solche Sichtweise aber tendiert dazu, die doppelte Artikulation in ihrer Gleichursprünglichkeit zu verkennen und das Verhältnis von Stillstand und Bewegung als Raum- und Subjektkonstitution wiederum mit ethisch-hierarchischen Wertungen zu unterlegen.102 Es soll darum im Folgenden – und besonders in den literarischen Analysen – weniger um eine weitergehende Typologisierung anthropologisch-kultureller Praktiken gehen – die etwa Nomaden, Barbaren, Obdachlose und Hausierer gegen Landwirte, Bürger und Städter stellen würde – als vielmehr um konkrete Ausprägungen der Übergänge vom Glatten ins Gekerbte und besonders vom Gekerbten ins Glatte, um die literarische Ausprägung der Prozesse um De- und Reterritorialisierung und damit um die Verhandlung von Stillstand und Bewegung als De- und Rehierarchisierungen von Subjektkonstitution in und durch Erzählung in den Blick zu nehmen. Fasst man zu diesem Zweck noch einmal die Überlegungen zur Territoria-
100 Zu dieser Typologisierung vgl. Lestringant: Erfindung des Raums, S. 17. 101 Dünne: Imagination, S. 22. 102 Eine ähnlich ideologisch aufgeladene Hierarchisierung konnte bereits in TEIL 1, Kap. 1.6 Macht des Raums: Die Ideologien von Stillstand und Bewegung bei Certeau und in besonderem Maße bei Ingold nachgewiesen werden.
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lisierung in Abhängigkeit von glatten und gekerbten Räumen zusammen, so ergeben sich folgende, den Umschlagsbewegungen der manifesten Raumzustände affine Prozesse: Übergänge vom Glatten zum Gekerbten betonen den Aspekt der Reterritorialisierung und können vermittels dieser Reterritorialisierungspraktiken beschrieben beziehungsweise erkannt werden – das Meer wird als Karte, als Raster oder als Transportlinie reterritorialisiert und damit als gekerbter Raum konstituiert; Übergänge vom Gekerbten zum Glatten beruhen zwar auch auf Territorialisierung, betonen dagegen aber den Aspekt der Deterritorialisierung: (nomadische) Bewegungen im glatten Raum, Verweigerung von Zivilisierung und Kultur, Affinität zur absoluten Deterritorialisierung der Konsistenzebene. Allerdings scheinen solche Deterritorialisierungen bei Deleuze und Guattari seltsam subjektlos zu sein, schließlich ›gibt das Meer am Ende der Einkerbung den glatten Raum zurück‹ und auch in der Stadt entstehen glatte Räume scheinbar allein aufgrund der überdeterminierten Kerbung. Auf welche Weise die Prozesse der Kerbung und besonders der Glättung nun Rückschlüsse auf eine Subjektivierung über Stillstand und Bewegung zulassen, wie also Glättungen als aktive Prozesse zu verstehen sein können, gilt es im Folgenden zu klären.
2.5 DREI ÜBERLEGUNGEN ZUR KOMPLEXEN DIFFERENZ VON GLATTEM UND GEKERBTEM Auf Grundlage der komplexen Differenzierungen, die sich in Übergängen von Glattem und Gekerbtem zeigen, lassen sich drei Überlegungen zum Übergang der Raumzustände und dessen Konsequenzen für die Abhängigkeit von Raum- und Subjektkonstitution in Bezug auf Stillstand und Bewegung ableiten, die im Anschluss erläutert werden. Erstens: Während der Übergang von einem glatten in einen gekerbten Raum ausdrücklich von Subjekten ausgelöst wird, vermeiden es Deleuze und Guattari in den vorliegenden Beispielen, von einer durch Menschen hervorgerufenen Glättung zu sprechen. An anderer Stelle sprechen sie jedoch von »Glättungs- und Einkerbungsvorgängen«, die ihr besonderes Interesse weckten.103 Von der bereits in Kapitel 1 thematisierten Raumkonstitution durch Subjektkonstitution kann diesbezüglich insofern übernommen werden, dass auch Glättungen aktive Subjektivierungsprozesse darstellen und anhand des Konzepts der ›Fluchtlinie‹ bei Deleuze und Guattari – in Opposition zur festschreibenden, zivilisierenden Kerbung – als dynamische Entzivilisierungsbewegungen lesbar werden. Zweitens: In Folge dessen muss der Übergang zwischen den dichotomen Raumzuständen als komplexe Differenzierung einen Umschlagspunkt besitzen, bei dem das Subjekt
103 TP, S. 693.
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seinen Bezug zum Raum aktualisiert – ganz im Sinne des Abstiegs vom World Trade Center bei Certeau – und damit den Raumzustand selbst ändert. Der Umschlagspunkt der Raumzustände wird so zum Signifikanten für einen Übergangsprozess der Subjektkonstitution.104 Die am Umschlagspunkt stattfindende Aktualisierung des Raumzustandes wird durch eine Handlung ausgelöst, die entsprechend der Affinität der Kerbung zum Stillstand und der Glättung zur Bewegung entweder eine zivilisierende Festlegung oder eine entzivilisierende Bewegung darstellt. Zudem zeigt sich am Umschlagspunkt die Differenz der Raumzustände gekerbt/glatt und ihrer Folgekomplexe Zivilisierung/Entzivilisierung sowie generell Stillstand/ Bewegung in ihrer größten Auswirkung, weil sie umwälzende Konsequenzen zeitigt und das Subjekt erfasst und verändert. Drittens: Die Übergänge zwischen den Raumzuständen scheinen dort am besten nachvollziehbar zu sein, wo die Räume schlechthin glatt oder gekerbt sind und eventuelle Vermischungen dennoch auf ihre mitunter komplexen Differenzen zurückgeführt werden können. Die weitere Untersuchung des Umschlagspunkts als Signifikant für den Prozess des Übergangs wird auf dieser Grundlage aufbauen und glatte Räume par excellence in den Blick nehmen: die Polargebiete. Dies geschieht anhand einer Analyse der Raumstrukturen in Polarnarrativen, deren systematische Verbindung immer dort zum Vorschein tritt, wo der Umschlagspunkt zwischen der Raumwahrnehmung narrativ aufgearbeitet ist. Erste Überlegung: Zivilisierung und Entzivilisierung durch das Subjekt Der Übergang vom Glatten zum Gekerbten äußert sich in Praktiken der Zivilisierung: Das Pflügen des Ackers als wortwörtliche Kerbung wurde bereits erwähnt, ebenso lassen sich aber auch Straßenbau, Landvermessung oder Weben und – abstrakter – Geometrie sowie Kartierung als Zivilisierungsoperationen beschreiben, weil sie Räume begrenzen, aufteilen und beherrschbar machen. Antriebskraft dieser Operation ist das Subjekt; indem es sich aus einer distanzierten, erhöhten Position einen Raum aneignet, beginnt es Namenloses zu benennen, es zivilisiert, begrenzt, begradigt, kurz: es erschafft aus Glattem Gekerbtes, aus einzelnen Fäden ein Ge-
104 Ich verwende im Folgenden den Begriff ›Umschlagspunkt‹, wie er in der analytischen Chemie gebraucht wird: als Äquivalenzpunkt, der den Übergang von einem Zustand in einen anderen, etwa im Bereich der Titration von Säure in Base, anzeigt. Der Begriff Umschlagpunkt dagegen rekurriert in seiner häufigsten Bedeutung auf den Bereich der Logistik und markiert den Ort des Umladens und Weiterleitens von Waren – dies scheint mir nicht im Sinne der Verdeutlichung eines Übergangs von einem Raumzustand in den anderen zu sein.
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webe oder aus namenlosen Räumen Orte und Städte. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass eine solche Zuschreibung für den Übergang vom Gekerbten zum Glatten nicht ohne weiteres getroffen werden kann. Glatte Räume entstehen am Ende der Einkerbung, der Umschlag in einen glatten Raum scheint darum zunächst nicht vom Subjekt ausgelöst zu werden, sondern die Subjektivierung als Subjektion – als Unterwerfung, die in der Bedeutung des Begriffs Subjekt freilich schon immer angelegt ist – zur Folge zu haben. 105 Während es für das cartesianische Subjekt ganz natürlich erscheint, glatte Räume zu kerben, indem es sie durch alltägliche Praktiken zivilisiert, so stellt umgekehrt die passive Unterwerfung unter die Gegebenheiten des glatten Raums die einzige Möglichkeit dar, nicht zu zivilisieren. Und doch lässt sich auch eine solche Unterwerfung als aktive Subjektivierungspraxis begreifen, als bewusste Entscheidung gegen die Zivilisierung, als Bewegung gegen den Stillstand. Bei Ingold und Certeau klingt eine solche aktive Praxis an: Bewegungen, die glatte Räume produzieren, können verstanden werden als Fußgängerbewegungen der ›line on a walk‹ und als ›Route‹ durch die Großstadt. Die Bewegung schafft als aktive Unterwerfung unter die Bedingungen des Raums den Stillstand ab, löst ihn auf und produziert damit einen neuen Raum. Eine solche Form der Bewegung als aktive Unterwerfung ist auch bei Deleuze und Guattari angelegt. Wenn sie davon sprechen, dass die »Konfrontation von Glattem und Gekerbtem, die Übergänge, die Wechsel und Verlagerungen« heute – und eben nicht nur historisch auf indigene Nomadenstämme bezogen – »in den unterschiedlichsten Richtungen« stattfinden, so schließt dies auch die Möglichkeit aktiver Glättung mit ein. Neben der Vermischung von Glattem und Gekerbten verrät der Blick auf das Modell des Meeres und genauer, auf die Reise, nämlich noch einen weiteren, bemerkenswerten Zusammenhang: So, wie sich Kerbungen als Praktiken der Subjektivierung zur Zivilisierung des glatten Raums zu erkennen geben, weil sie die Sesshaftwerdung des Menschen ersichtlich machen, entstehen glatte Räume durch Bewegung: Das Diktum Deleuzes und Guattaris zur Reise – »[i]m Glatten oder im Gekerbten reisen und ebenso denken...« – lässt auf eine Produktion glatter Räume schließen, die bewirkt, dass die Bewegung einen glatten Raum erzeugt, »ein Patchwork ausstößt, Geschwindigkeitsdifferentiale, Verzögerungen und Beschleunigungen, Umorientierungen, kontinuierliche Variationen«. Wenn Deleuze und Guattari noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass »echte Nomaden« den glatten Raum erhalten, »weil sie sich nicht bewegen, weil sie nicht umherwandern«, so ist dies nur in dem Maße widersprüchlich, wie auch Transport und Transit umgekehrt keine Bewegung darstellen, sondern Festlegung. Indem sie im glatten
105 Auch Mumot macht auf die Doppelstruktur der Etymologie von Subjekt »zwischen Autonomie und Anerkennung der Determiniertheit« aufmerksam (Mumot: Irrwege zum Ich, S. 29).
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Raum verharren und sich ihm unterwerfen, erzeugen und erhalten sie ihn und stellen ihre Nicht-Bewegung als »Reise[...] an Ort und Stelle« gegen die Zivilisierungen des Kerbens. Es zählt weniger die »meßbare Quantität der Bewegung«, sondern »die Art der Verräumlichung« durch das Subjekt, die in der Tradition des nomadischen Umherwanderns eben haptisch, nah, unmetrisiert und daher entzivilisiert erscheint.106 So spricht Heyer davon, dass »die Reise simuliert« werden kann: Die »Notwendigkeit, zu Reisen, entfällt und so läßt es sich auch in Paris als Nomade, der sein Territorium de- und reterritorialisiert, leben«.107 In diesem Sinne lassen sich die Subjektivierungspraktiken der Übergänge von gekerbten in glatte Räume als Operationen begreifen, die dem gekerbten Raum Bewegungsformen entgegenstellen, welche es nun auch anderen Subjekten nicht mehr erlaubt, den Raum – und seine Bewohner – zu metrisieren, zu begrenzen, zu kartieren, auch wenn dies bedeutet, sich eben nicht mehr zu bewegen. Eine der Formen des Bewegens im glatten Raum haben Deleuze und Guattari selbst an anderer Stelle bereits skizziert: In ihren Überlegungen zur Analyse von Literatur im Plateau 1874 – Drei Novellen oder ›Was ist passiert?‹ stellen sie eine Linientheorie vor, mit deren Hilfe Literatur entsteht und anhand derer sie die Subjektkonfiguration auf der Inhaltsebene literarischer Texte aufschlüsseln.108 Eine dieser Linien ist nun die Fluchtlinie, mit der sich »eine Art von absoluter Deterritorialisierung« erreichen lässt. Die Fluchtlinie wird von Deleuze und Guattari als »reine, abstrakte Linie« beschrieben, die »an Ort und Stelle« entstehen kann und ein Verschwinden des Subjekts zur Folge hat: »Weil wir nichts mehr zu verstecken haben, können wir auch nicht mehr erfaßt werden. Selber nicht-wahrnehmbar werden [...]. Sein eigenes Selbst vernichtet haben, um endlich allein zu sein, um dem wahren Double am anderen Ende der Linie zu begegnen. Blinder Passagier auf einer Reise an Ort und Stelle.«109
106 Alle Zitate TP, S. 668f. 107 Heyer: Kunstkonzept, S. 16. 108 Vgl. TP, S. 263-282. Ingolds Konzept der ›line on a walk‹ erinnert an solche Ausführungen bei Deleuze und Guattari, auch wenn kein expliziter Bezug hergestellt wird. So fassen diese ihr Konzept wie jener anthropologisch: »Denn wir bestehen aus Linien. Wir wollen nicht nur von den Linien der Schrift sprechen, denn diese verbinden sich mit anderen Linien, Lebenslinien, Glücks- oder Unglückslinien, Linien, die eine Variation der Schriftlinie bilden, Linien, die zwischen den geschriebenen Linien stehen.« (Ebd., S. 266; vgl. L, S. 73-75) 109 TP, S. 270.
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Ein solches Verschwinden aber ist sowohl befreiend als auch problematisch, weil das Subjekt eben durch herkömmliche Aufzeichnungspraxis nicht mehr wahrgenommen werden kann. Entscheidend für die Differenzleistung einer Subjektivierungspraxis durch glatte Bewegung ist damit das »Unwahrnehmbar-Werden«, die Differenzierung als Akt der Bewegung, die – aus der Perspektive kerbender oder cartesianischer Subjekte – einer Entsubjektivierung gleichkommt. 110 Deleuze und Guattari schreiben der Bewegung »ein wesentliches Verhältnis zum Unwahrnehmbaren« zu, »sie ist von Natur aus nicht wahrnehmbar« – eine Annahme, die sie mit Certeau teilen, der ja ebenfalls die Fußgängerbewegung der ›Route‹ als der distanzierten Wahrnehmung widerständige Praxis begreift. Dagegen steht die Subjektkonstitution aus der Position des Autors und des Lesers immer »im Zusammenhang mit einer wahrnehmbaren Form und einem wahrgenommenen erkannten Subjekt«, welches nur aus der erhöhten Warte des cartesianischen Subjekts erscheint – Deleuze und Guattari wählen nicht zufällig »das Adlerauge« als Sinnbild für die wachsame Erfassung anderer Subjekte, die sich als Kerbung des Raums erweisen kann.111 So wird das ›Unwahrnehmbar-Werden‹ auch zu einer Form des Protests gegen die Subjektivierungspraktiken der distanzierten Wahrnehmung und des erhöhten Standpunkts – und damit zum Ziel einer gelungenen Lebensführung. Eine ähnliche Konzeption des Verschwindens als Protests gegen die Ideologie der Wahrnehmung kann dies erläutern, sie findet sich in einem der letzten Interviews von Roland Barthes: Dieser sieht den Rückzug in den Individualismus, das Leben mit »heimlichen, un-dogmatischen, nicht-philosophischen Verhaltensweisen« als Möglichkeit, sich der Macht entgegenzusetzen: »[D]er Rückzug [...] ist das für eine Gesellschaft am wenigsten Assimilierbare«.112 Das Verschwinden erscheint in dieser Ansicht als Steigerung des Rückzugs und des Individualismus, das Subjekt ist für die Gesellschaft nicht mehr assimilierbar, weil es nicht aufgefunden werden kann. Das Verschwinden als produktives Moment der Subjektivierung hat nun aber zur Folge, dass man aus der Position des kerbenden Subjekts nicht mehr nachvollziehen kann, was mit denjenigen Subjekten passiert, die unwahrnehmbar geworden sind: Das Subjekt verschwindet, weil es sich im glatten Raum bewegt. Michaela Ott stellt sich darum die Frage, »ob diese literarischen Entsubjektivierungsprozesse noch als ›revolutionäre‹ Befreiung von [...] der Subjektivität, ob die Bewegungen an den Rand des Sprechens und Existierens noch als differentielle Minderheitspolitiken gelesen werden können«.113 Differenzierung und Entdifferenzierung werden
110 Deleuze: Kritik und Klinik, S. 11. 111 TP, S. 382. 112 Barthes: Krise, S. 393. 113 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 95.
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aus der Position des kerbenden Subjekts ununterscheidbar. Eine besondere Bedeutung erhält diese Ununterscheidbarkeit in einer Literatur, die das UnwahrnehmbarWerden problematisiert, in der Subjekte also verschwinden oder zu verschwinden versuchen. Deleuze thematisiert eine solche Literatur in seiner Untersuchung zu Melvilles Bartleby. Dessen berühmte Formel ›I prefer not to‹ wird Deleuze zum Ausweis eines Willens zum Unwahrnehmbar-Werden, welches sich schließlich darin äußert, dass sich Bartleby gänzlich auflöst: »Das Subjekt verliert seine Textur«, bringt Deleuze dies auf den literarischen Kern. 114 Problematisch daran ist allerdings, so kommentiert Ott, dass sich das deleuzianische Denken in der Ununterscheidbarkeit von Differenzierung und Entdifferenzierung ad absurdum zu führen imstande ist, in einer Subjektivierung durch Entsubjektivierung: »Diese Frage wird umso dringlicher, als die Autoren den Kunstwerkcharakter von Literatur an Prozesse des Asignifikant-Werdens binden, in welchen sie zuletzt ihr eigenes Verschwinden betreibt.«115 Hier nun aber liegt der archimedische Punkt einer Untersuchung des Verhältnisses von Stillstand und Bewegung in der Verschränkung von Subjektund Raumkonstitution, es ist gerade die Dichotomisierung der Räume, die es ermöglicht, auch auf Subjektivierungspraktiken zu blicken, die das UnwahrnehmbarWerden der Subjekte zur Folge hat, genauer: die Übergänge von gekerbten Räumen in glatte Räume, den Umschlag von Stillstand in Bewegung, die Veränderung der Raumkonstitution, die ein Verschwinden der Subjekte zur Folge hat. In den Fokus rücken somit die Dynamisierungen des Raums, Bewegungen, die die Raumkonstitution problematisieren. Das Floß und das U-Boot schaffen neue, glatte Räume durch ihre Bewegungen und entziehen dadurch diese Räume der Zivilisation; der »Stadt-Nomade« erreicht dies durch ein Umherwandern – eine ingoldsche Fußgängerbewegung oder eine certeausche Route – in den Häuserschluchten oder durch ein Verharren im Raum, das ihn darum nicht mehr kartierbar macht.116 Analog gilt auch für die Wüsten und Eiswüsten, dass sich ihre nomadischen Bewohner – oder in den Worten Ingolds: ihre ›inhabitants‹ – der Zivilisierung erwehren, weil sie durch ihre Fußgängerbewegungen glatte Räume halten oder jene Räume den virtuellen Kerbungen durch Karten, Satelliten und GPS abtrotzen, komplexe Differenzierungen schaffen.117 Anders ausgedrückt: Es gibt keinen ›glatten Ur-
114 Deleuze: Bartleby, S. 29. 115 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 96. 116 TP, S. 668. 117 In dieser Betrachtung verfahren Deleuze und Guattari ganz im Sinne Lefebvres und begreifen auch den glatten Raum als soziales Produkt, weil sich der Mensch bewusst den Raumkonfigurationen unterwirft und nicht danach strebt, ihn zu kerben. Mag man auch für frühgeschichtliche Gesellschaften annehmen, dass sie sich nicht bewusst für eine kerbende oder glatte Raumpraxis entschieden haben – darum schreiben Deleuze und
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zustand‹, in den Subjekte sich überführen könnten, vielmehr können sie die bewusste Entscheidung treffen, Räume zivilisatorisch zu besetzen und zu kerben – oder sich ihnen zu unterwerfen und im glatten Raum zu leben. Führt man diese Überlegung nun auf die einfachen Gegensätze von Gekerbtem und Glattem, von Sesshaftigkeit und Nomadismus zurück, so folgt daraus, dass in Bezug auf die räumliche Aneignungspraxis nicht von zivilisierten und unzivilisierten Räumen gesprochen werden muss, sondern von zivilisierten und entzivilisierten: Die Produktion des Glatten ist die Entzivilisierung des Gekerbten. Die Subjektivierungspraxis der Bewegung als Unterwerfung unter den glatten Raum wird somit als Entzivilisierungsoperation erkenn- und beschreibbar, als Verloren Gehen durch Bewegung. Entzivilisierung ist dabei ebenso ein aktives Unternehmen wie die Zivilisierung – und beide Vorgänge stehen stets miteinander in Reziprozität: »Es ist so, als ob sich ein glatter Raum loslöste, aus einem gekerbten Raum hervorginge, und zwar nicht ohne eine Korrelation beider, die sich wechselseitig wiederaufnehmen, eine Weiterentwicklung des einen durch das andere«. Dieses reziproke Spiel bedingt die Komplexität des Verhältnisses von Glattem und Gekerbtem und äußert sich in »Wechselfällen und Überlagerungen«.118 Diese, so lässt sich aus den obigen Überlegungen zu Inhalt und Form von Raumrepräsentationen in Schrift und Literatur folgern, müssen besonders in literarischen Texten zur Geltung kommen, die Glättungen auf der Inhaltsebene gegen Kerbungen auf der Ebene der Form setzen – wobei sich besonders diejenigen Narrative zur Untersuchung anbieten, die den Gegensatz von Glättung und Kerbung als Frage der Perspektive zwischen Erzähler und Figur verhandeln. So ist ein Spannungsverhältnis zwischen dem Glatten und Gekerbten, zwischen Stillstand und Bewegung in der Literatur dann inhärent, wenn sie
Guattari, dass die unterschiedlichen Richtungen der Übergänge heute stattfinden –, so muss man für die Gegenwart doch genau dieses Bewusstsein voraussetzen, um die Beziehungen der Raumzustände nachvollziehen zu können (vgl. zum Raumverständnis Lefebvres TEIL I, Kap. 1, Anm. 7 in dieser Arbeit). 118 TP, S. 661, 668. Mit den »Transformation vom einen ins andere«, den gegenseitigen »Umkehrungen« von Glattem und Gekerbten geht freilich eine gewisse Nivellierung der Hierarchie der Dichotomie glatt/gekerbt einher – allerdings keine Nivellierung der Dichotomie selbst (ebd.). Auch wenn sie grundsätzlich Lebens- und Bewegungsformen des Glatten denjenigen des Gekerbten vorziehen, so stellt das Leben im glatten Raum kein Heilsversprechen dar: Deleuze und Guattari gehen davon aus, dass »glatte Räume nicht von sich aus befreiend« sind und nicht angenommen werden sollte, »daß ein glatter Raum genügt, um uns zu retten« (ebd., S. 693). Das zumeist kerbend positionierte Subjekt der Gegenwart, so scheinen Deleuze und Guattari zu konstatieren, hätte zwar nötig, zuweilen glatte Räume zu besetzen, jedoch nur unter der Annahme des ständigen Übergangs und der Vermischung von glatt und gekerbt.
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das Unwahrnehmbar-Werden innerhalb ihres gekerbten Raums thematisiert, wenn also Figuren verschwinden, wenn Texte abbrechen, wenn glatte Bewegung sich gegen kerbenden Stillstand wendet. Als Motiv des Verloren Gehens manifestiert sich genau diese Ausprägung des Spannungsverhältnisses zwischen Stillstand und Bewegung in den in Teil II untersuchten Texten. Zweite Überlegung: Der Umschlagspunkt Im Modell der Ästhetik können die Mechanismen des Übergangs und der Transformation am eindeutigsten nachvollzogen werden. Deleuze und Guattari beschreiben dort die Beziehungen von glatten und gekerbten Räumen anhand von Kunstwerken des Impressionismus und erkennen in ihnen einen »Umwandlungsfaktor« am Werk, der den Umschlagspunkt zwischen Glattem und Gekerbtem dementsprechend organisiert und beeinflusst, dass »die Übergänge zwischen Gekerbtem und Glattem zugleich notwendig und ungewiß werden und darum um so umwälzender sind«. Diesen Umwandlungsfaktor verdeutlichen sie anhand eines Ausspruchs von Paul Cézanne, der Deleuze und Guattari zufolge von der Notwendigkeit sprach, »das Kornfeld nicht mehr zu sehen, zu nah dran zu sein und sich ohne Anhaltspunkt im glatten Raum zu verlieren«. Deleuze und Guattari betonen mit diesem Ausspruch, dass im Falle von impressionistischen Gemälden aus der Fernsicht zwar ein realistisches Bild zu erkennen sei, sobald man aber aus einer naher Perspektive an das Gemälde herantrete, löse sich das Bild auf: »[D]ie Orientierungspunkte bleiben nicht gleich«. Wie bereits im Fall der Raumkonstitution selbst, so beruht auch der Übergang zwischen Glattem und Gekerbtem auf der Perspektive, die sich das Subjekt gegenüber den Räumen auferlegt: »Der gekerbte Raum wird [...] durch seine Fernsicht definiert: Beständigkeit der Richtung, Veränderlichkeit des Abstandes durch den Austausch von starren Anhaltspunkten, [...] Schaffung einer Zentralperspektive.« Haptische Nähe dagegen dezentriert, löst diesen gekerbten Raum auf und bringt einen glatten Raum zum Vorschein, den »man nicht sehen kann, ohne [ihn] im Geiste zu berühren, ohne daß der Geist, selbst durch das Auge, zu einem Finger wird«. Aus der Distanz erschließt sich der Raum eines impressionistischen Gemäldes als stillstehende Aufnahme einer realistischen Szene. Bewegt sich der Betrachter aber in nächste Nähe zum Bildraum, so verliert sich die Gesamtaufnahme in den Rhythmen und Bewegungen der einzelnen Pinselstriche, »so daß ein Mangel an Richtung und die Verneinung des Rauminhalts zu konstruktiven Kräften werden«.119 Aus der Nähe sind der fixierende Überblick, die Zentralperspektive, das Erkennen des Gesamttableaus und damit auch die Kartierung des Gemäldes im certeauschen Sinne nicht mehr möglich und nötig. Der sich nah am Gemälde befin-
119 Alle Zitate TP, S. 682-684.
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dende Betrachter unterwirft sich dem glatten Raum über die Haptik, sein Auge ordnet sich den unzusammenhängenden Linien unter und wird vom glatten Raum in Bewegung versetzt. Wenn aber die Perspektive, die den Übergang möglich macht, durch einen Umwandlungsfaktor problematisiert wird, der es erschwert, den Umschlagspunkt zu erkennen, so macht dies den Umschlagspunkt zwischen den Raumzuständen glatt und gekerbt nur umso interessanter. So hat er tatsächlich umwälzende Konsequenzen, an ihm werden Raumzustände geändert und transformiert. Literarische Texte, die ja ebenfalls zum Bereich eines Modells der Ästhetik gezählt werden können, bieten sich für die Analyse der Konsequenzen des Umschlags an, weil sie den Umwandlungsfaktor als Paradox bereits in sich tragen: Es ist die erwähnte, ihnen inhärente Kerbung, die sich bereits im Druck zeigt, die jedoch auch übertragen werden kann auf die Eigenschaften des Narrativs: Im Verhältnis von Erzählendem und Erzähltem, das heißt vom Erzähler zum Text und zu den erzählten Figuren, wird der Umschlag vom Gekerbten ins Glatte dann problematisch, wenn Kerbung und Glättung Thema des Narrativs werden, wenn also Figuren dynamisiert werden, sich in glatten Räumen bewegen und ihnen gegenüber Erzähler versuchen, diese Bewegungen aufzuzeichnen. Die Konsequenz einer so gelagerten Problematik ist es, dass ein Erzählen solcher Figuren grundsätzlich kerbend sein müsste, sie also in einen Stillstand überführt, mit dessen Hilfe sie gebannt, festgeschrieben, erfasst werden können. Wenn aber der Umschlagspunkt erlaubt, einen Blick nicht nur auf die Raumkonstitution durch Stillstand oder Bewegung, auf gekerbte und glatte Räume zu erhaschen, sondern über diese auch auf die Subjekte, deren Konstitution und Motivation zur Bewegung im glatten Raum, so müsste eine narrative Thematisierung des Umschlagspunktes erlauben, ein Erzählen im und aus dem glatten Raum gegen die doppelte Kerbung durch Erzählung und Druck auszuspielen. Wenn sie davon sprechen, dass sie besonders »die Übergänge und Kombinationen bei den Glättungs- und Einkerbungsvorgängen« interessieren, dann verweisen auch Deleuze und Guattari implizit auf diese Konstellation.120 Immer wieder kommen sie auf die Vermischungen zu sprechen, immer wieder erwähnen sie die Komplexität der Differenzierung von Glattem und Gekerbtem. Gleichzeitig bleiben sie jedoch eine Explizierung des performativen Paradoxes von Dichotomie und rhizomatischem Denken schuldig, lassen Leerstellen, deren Ausfüllung sie sich innerhalb des Kapitels verweigern. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass sie, wie etwa West-Pavlov meint, ihre Gedanken zum Glatten und Gekerbten auf die alles ordnende Metapher der Falte beziehen – und doch bedeutet dies auch eine Reduktion des Potentials einer zweistelligen Raumwahrnehmung. Betrachtet man dagegen das Plateau der glatten und gekerbten Räume mit dem Anspruch, beide Zustände
120 Ebd., S. 693.
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als Manifestationen zu begreifen und nicht nur als ewiges Spiel eines im Fluss befindlichen Werdens, so lässt sich der Einsatz von Umschlagsbewegungen im doppelt gekerbten Raum der Literatur weiterdenken: Durch die Analyse der Konstitution narrativer Räume können Strategien der Subjektivierung gerade dann wahrnehmbar gemacht werden, wenn die Figuren selbst Verloren Gehen und unwahrnehmbar werden. Dritte Überlegung: Bewegung im Eis Eine solche Untersuchung literarischer Umschlagspunkte hat sich notwendig zu beschränken – selbst die rhizomatisch-mäandernde Schreibweise Deleuzes und Guattaris vertraut schließlich innerhalb des Plateaus zum Glatten und Gekerbten auf eine Modellbildung und damit auf eine nachvollziehbare Struktur, anhand derer die Überlegungen vorangetrieben werden. Blickt man auf diese Modellbildung, so scheint der Umschlagspunkt neben den ästhetischen Werken vor allem dort von gesteigerter Bedeutung für Deleuze und Guattari zu sein, wo sich Glattes und Gekerbtes par excellence zeigen, einerseits in der Stadt, andererseits auf dem Meer. So sind diese Räume, weil sie in reinster Ausprägung auftreten, besonders anfällig für einen erneuten Wandel. Es sei daran erinnert, dass das Meer »nicht nur der Archetypus aller glatten Räume« ist, sondern auch »der erste dieser Räume, der eine Einkerbung erdulden mußte«. Gleichzeitig aber gibt es »am Ende der Einkerbung [...] eine Art von glatten Raum zurück«.121 Dieser wechselseitige Umschlag von Glättung und Kerbung macht es attraktiv für eine literarische Thematisierung – wie Berressems Analyse zumindest in Ansätzen zu zeigen imstande ist. In der literarischen Analyse dieser Studie wird der Blick erweitert und es rücken mit den Polargebieten – den Meeren und Eisflächen der Arktis und der Antarktis – Schauplätze in den Vordergrund, die sowohl den Bezug zum Meer herstellen lassen als auch mit der Eiswüste einen weiteren glatten Raum ausweisen können. Zudem ist die Thematisierung des Umschlagspunkts in diesen Räumen besonders mit dem Verloren Gehen des Subjekts verbunden, wenn auch auf eine tragische Weise: Wie kaum andere Gebiete haben sich die Polargebiete als Orte des Scheiterns von Kerbungsversuchen erwiesen. Sie stehen prototypisch für Versuche der Eroberung, Zivilisierung und Kartierung des glatten Raums, denen sie jedoch aufgrund ihres Klimas und ihrer Beschaffenheit widerständig gegenüberstehen. Die topographische Aufzeichnung rückt daher ins Zentrum der literarischen Aufarbeitung. Daneben aber treten die Schicksale der im Eis Verschwundenen: Allein die Zahl der im Eis gescheiterten Expeditionen auf dem Weg zur Eroberung der Pole machen die Arktis und die Antarktis zu einem
121 Ebd., S. 665.
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Objekt von höchstem Interesse für die Untersuchung des Umschlagspunkts; sie erweitern die Frage nach dem Gelingen des Umschlags um die Ebene des Verschwindens als Scheitern der Kerbung oder des Sieges der Glättung. In diesem Sinne stehen die Romane Die Schrecken des Eises und der Finsternis von Ransmayr und The Narrative of Arthur Gordon Pym von Poe sinnbildlich für das Verschwinden der Figuren, das erzählerisch wieder-aufgearbeitet werden muss. Von der Stadt gehen dagegen die glatten Räume »eines Gegenschlags« aus, der »sich gegen die Stadt zurückwendet: gewaltige, kurzlebige Elendsviertel, Nomaden und Höhlenbewohner«. Dieser Gegenschlag ermöglicht es den Subjekten »in der Stadt als Nomade oder Höhlenbewohner« zu hausen, ein Gedanke, der ja bereits mit Certeau assoziiert werden kann.122 Mit diesen Konzepten ist eine ganze Reihe von literarischen Werken aufgerufen, die sich mit der Bewegung in der Großstadt auseinandersetzt – und die von der Mobilität des Stillstands im Sinne von Punkt-zuPunkt-Bewegungen getrennt werden muss. Die Figur des umherschweifenden Flâneurs in Paris und Berlin kommt dabei ebenso in den Sinn wie Paul Austers Großstadtdetektive, die auf verwirrenden Spurensuchen New York durchwandern. Aus diesen Texten ist kein Entkommen mehr, die glatte Bewegung des Fußgängers ist immer schon eingefasst in die Kerbung der Erzählung. Eine Analyse von Großstadtliteratur erscheint schon allein deshalb prinzipiell lohnenswert, weil mit ihr kontrapunktisch die Überlegungen von Deleuze und Guattari weiter ausgeleuchtet werden können. In der vorliegenden Studie allerdings ist dieses Desiderat zum Zwecke einer konzisen Darstellung des Aspekts des Verschwindens im Verloren Gehen zurückgestellt. Die Verhandlung von Stillstand und Bewegung in der Literatur der Großstadt bleibt darum Aufgabe einer weiteren Studie. Sich den Verhandlungen des Umschlags von Stillstand in Bewegung, von gekerbten in glatte Räume zu nähern, ist das Ziel der literarischen Lektüren der Polargebiete in Teil II. Auf die Bedeutung von Literatur, von Schrift und Erzählung für das Verständnis von Raum ist in den vorangegangenen Ausführungen immer wieder hingewiesen worden, sei es bei Certeau oder nun – mit Berressem – auch bei Deleuze und Guattari. Gerade für letztere könnte sich Literatur nicht nur als Mittel zur Exemplifizierung der theoretischen Überlegungen erweisen, sondern vielmehr als doppelte Vermittlung der Theorie. Denn einerseits gibt Literatur dem Raumdiskurs jene Form von Komplexität zurück, die zum Zwecke der Theoriebildung reduziert worden ist. Andererseits aber reduziert Literatur wiederum die theoretische Differenzierung und bringt sie in das Verhältnis von Erzähler und Erzähltem, an dem sich exemplarisch die theoretischen Überlegungen spiegeln. Erzählen und Verschwinden werden so zur letzten, zur narrativen Übertragung der
122 Alle Zitate ebd., S. 667, 693.
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Überlegungen zum Verhältnis von Stillstand und Bewegung. Diese narrative Übertragung ist Thema des nächsten Kapitels, ihr Motiv ist das Verloren Gehen.
3 Weiße Stellen: Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen
»So beginnt der Raum, nur mit Wörtern, mit aufs weiße Papier gebrachten Zeichen.« Mit diesem Satz weist der Schriftsteller Georges Perec den Akt des Schreibens als Erzeugung von Raum aus. Ein Raum, der sich in Perecs Sicht vor allem dadurch auszeichnet, dass mit dem Text Stillstand erzeugt wird: »Ich schreibe: ich zeichne Wörter auf eine Seite. Buchstabe um Buchstabe bildet sich ein Text, behauptet sich, verfestigt sich, stabilisiert sich, erstarrt [...]. Vorher gab es nichts oder fast nichts, danach gibt es nichts Besonderes, ein paar Zeichen, die aber ausreichen, damit es ein Oben und ein Unten gibt, einen Anfang und ein Ende, eine Rechte und eine Linke, eine Vorderseite und eine Rückseite.«1
Schrift kolonisiert den Raum, gibt ihm eine Grenze und eine Orientierung, sie kerbt – im Wortsinn – das weiße Papier, erzeugt einen Textraum mit fixierten, lesbaren Spuren und eignet sich so den Raum an. Schrift, so meint Hesper im Gleichklang mit der in Kapitel 1 dieses Teils analysierten Linientheorie Ingolds, ist seit Jahrtausenden »eine der zentralen Regel- und Kontrolltechniken«, eine Form der Machtausübung und als solche prädestiniert für die Festschreibung von Bewegung im Medium der Literatur: dem Buch.2 Zugleich aber können auch »weißen Zwischenräume der schwarzen Lettern« Signifikanz erhalten.3 Eines der bekanntesten Beispiele stellt Stéphane Mallarmés Un coup de dés dar. Der Text nutzt »die sichtbare, spürbare Präsenz des Abwesenden auf einer (scheinbar) halbleeren Seite« literarisch, in dem er »weiße, leere Stellen auf dem Papier hinterlässt«, die laut Seiler für eine »nicht erinnerbare Abwesenheit« einstehen.4 Auf diese Weise zu Bewusstsein 1
Beide Zitate Perec: Träume von Räumen, S.24, 19f.
2
Hesper: Schreiben ohne Text, S. 13.
3
Schmitz-Emans: Wüste, S. 147.
4
Seiler: Anwesenheit, S. 32f.
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verholfen, illustriert das Zusammenspiel von Schrift und Zwischenraum Monika Schmitz-Emans zufolge »metaphorisch das Einmünden jeglichen Textes in eine Nicht-Schrift, ins Weiß«.5 Neben die Linie der Schrift, hierauf hat Carlos Spoerhase hingewiesen, tritt also mit Mallarmé die »materiale Fläche« der Seite, die gewissermaßen sowohl Grundlage als auch Antagonist der Schrift ist.6 Denn beide sind in ihrer Materialität aufeinander angewiesen, um zuerst Text produzieren zu können, wie Krämer, Cancik-Kirschbaum und Totzke schreiben: »Ohne Handhabung eines Schreibwerkzeuges und ohne eine der Einschreibung entgegenkommende Materialität der Unterlage auch keine Schrift.«7 Ineinander verwoben wirken Schrift und Seite als materielle Textur literarischer Texte – und sind als solche nach Christoph Reinfandt »loaded with various registers of mediality which may in turn point to different potentialities of the texture as a message«.8 Von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung ist nun, welche möglichen Botschaften das Verhältnis von kolonisierender Schrift und Abwesenheit produzierender Nicht-Schrift als Textur im Zusammenspiel von Stillstand und Bewegung in narrativen Texten erlaubt. Unter diesem Blickwinkel bestätigt die Autorensicht Perecs, was bereits in den vorigen Kapiteln im Rückgriff auf die Raum- respektive Subjekttheorien Certeaus, Ingolds sowie Deleuzes und Guattaris etabliert wurde: Die gedruckte Schrift produziert Subjekte des Überblicks, weil Schrift und Seite, Linie und Fläche, dimensionale Schrifträume der »Gerichtetheit« und damit eine »Grundorientierung« erzeugen.9 Für den Prozess des Schreibens kann dieser Gedankengang fortgesetzt werden. Schreiben bringt das Subjekt in eine Position, die, wie Certeau meint, dem ›Schriftsteller‹ gleicht und es qua Funktion als Schreibendes »vor seinem weißen Blatt bereits in die Position [...] des cartesianischen Philosophen versetzt«.10 Der auf diese Weise entstehende Schriftraum ist darum ebenfalls Ausweis einer Subjek-
5
Schmitz-Emans: Wüste, S. 147.
6
Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, S. 17. Spoerhase merkt jedoch zurecht an, dass der Blick auf Inskriptionslinien und ihnen zugrunde liegende Flächen oftmals die Mehrdimensionalität des Buches verkennt: »Die zweidimensionale Seite und das dreidimensionale Buch sind nicht das Gleiche. Genau wie sich die Seite weder historisch noch theoretisch auf die blattförmige Buchseite reduzieren lässt [...], ist auch das Buch nicht einfach nur die Summe seitenförmiger Papiere, sondern eine hochspezifische historische Form, mit der sich eine größere Anzahl von blattförmigen Seiten als Kodex organisieren und binden lässt.« (Ebd., S. 49-51)
7
Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke: Einleitung, S. 18.
8
Reinfandt: Texture, S. 18.
9
Ehlich: Schrifträume, S. 40.
10 KdH, S. 246.
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tivierung: ›Ich schreibe‹ bedeutet damit nicht nur ›ich kerbe‹, sondern auch ›ich bin‹. Das Schreiben ist – als Akt der Erzeugung von Zeichen als Spuren – die Erzeugung von Raum als Semiotisierung des Überblicks. Perec macht auf diese Funktion aufmerksam, indem er die Funktion der Schrift für die Literatur herausstellt: »Den Raum beschreiben: ihn benennen, ihn abstecken«. Mit dem Schreiben wird aber auch das Erzählen in diesem Sinne räumlich, weil es vermittels der Schrift auf eine aus einer Subjektivierung entstandenen Perspektive verweist. Der Erzähler wird darum zum Lebewesen innerhalb seines Schriftraums: »Ich schreibe: ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. Ich lasse w e i ß e S t e l l e n , Zwischenräume (Sprünge im Sinne von Unterbrechungen, Durchgängen, Übergängen.)«11
Jede Erzählung ist vermittels ihrer Textur auch bereits die Kerbung eines – vormals glatten – Raums, des weißen Blattes Papier. Allerdings scheint hinter diesem gekerbten Schriftraum durchaus noch der glatte Raum weiterzubestehen, ›weiße Stellen‹ und Zwischenräume bleiben bestehen und werden, wie bei Mallarmé, sogar bewusst freigelassen. Deleuze und Guattari machen, wie im letzten Kapitel gezeigt, auf diese Möglichkeit der Literatur mit ihrem Verweis auf die Fluchtlinie aufmerksam. Insofern böte auch der nun eigentlich gekerbte Schriftraum vor dem Hintergrund des weißen Blattes die Möglichkeit einer glatten Nutzung – und dem Autor käme die Aufgabe zu, diese glatten Räume dem Leser vermittelbar zu machen in einer Schreibweise, die eine oppositionelle, andere Raumwahrnehmung suggeriert, ohne diese jedoch erzählen zu können. Eine solche Schreibweise scheint sich mit dem Begriff der ›écriture blanche‹ bei Roland Barthes aufzudrängen, die sich als Negation eines herkömmlichen Schreibens versteht, das »[a]usgehend von einem Nichtsein, in dem das Denken sich glückselig aus dem Dekorum der Worte zu erheben schien, [...] alle Stadien einer fortschreitenden Verfestigung durchlaufen« habe. Die ›écriture blanche‹ dagegen, die »›Schreibweise im Nullzustand‹«, verkörpere, so Barthes, die »Bewegung eines Negierens sowie die Ohnmacht, dieses auf Dauer zu verwirklichen«.12 Bereits Barthes’ Begrifflichkeiten – Verfestigung, Bewegung, Ohnmacht – machen die Verwandtschaft der ›écriture blanche‹ zu einem räumlichen Konzept des Gehens im glatten Raum, mithin der hier als Bewegung beschriebenen Raum- wie Subjektkonstitution deutlich. In der ›écriture blanche‹ verkörpert sich der Wider-
11 Beide Zitate Perec: Träume von Räumen, S. 24, 21. 12 Barthes: Nullpunkt, S. 11. Da ›écriture blanche‹ deutlich stärker mit den hier vorgestellten Überlegungen resoniert als die Übersetzung als ›Schreibweise im Nullzustand‹, greift die Studie auf den Begriff im französischen Original zurück (vgl. ders.: Le degré zéro).
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stand gegen die Einnahme der Machtposition des Erzählers; sie ist die reine Abwesenheit der durch Grammatik und Sprache hergestellten Ordnung des Schreibens. Eine Abwesenheit, die auch das Subjekt zu betreffen scheint, das im »Fehlen aller Zeichen« verwirklicht und darum abwesend ist – die Barthes jedoch stets in einen »Widerspruch« verwickelt sieht. Denn wer schreibt, legt fest, kommt nicht ohne Stillstand und Überblick aus: »An der gleichen Stelle, an der sich ursprünglich eine Freiheit befand, entstehen Automatismen, [...] eine Schreibweise entsteht an der Stelle einer unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeit.« In diesem Sinne verweisen Barthes’ Überlegungen auf Autoren der literarischen Moderne und ihren Willen zu einer Literatur, die sich den Konventionen des Erzählens widersetzt und sich nicht mehr auf herkömmliche Subjektivierungen verlässt, die aber zur gleichen Zeit nur über eine bestimmte Perspektivierung überhaupt erst Literatur wird, indem sich die Autoren eben qua Autorschaft über das weiße Blatt Papier erheben und es als Raum kerben. Darum, so Barthes, sei es auch der größte Traum dieser Autoren, »Schriftsteller ohne Literatur zu sein«.13 Die Aushandlung dieses Widerspruchs von Schreiben und Negieren, von Stillstand und Bewegung wird, so die im Folgenden vertretene These, durch das Erzählen des Verloren Gehens auf andere Weise thematisiert, problematisiert und narrativ aufgelöst: Anders noch als bei Kafka, in dessen Werken die Erzähler und Figuren die verzweifelten Versuche der Einnahme einer Überblicksposition in die Katastrophe führen, oder bei Döblins Franz Biberkopf und Joyces Leopold Bloom, die auch im Scheitern heroisch ihre erhöhte Position gewinnen, ist eine Verhandlung aufgerufen, die möglicherweise im Sinne einer ›écriture blanche‹ auch andere Formen der Negation, andere Wahrnehmungen und Erzählweisen einbezieht. Bei einer Vermittlung von Schreiben und Erzählen als Semiotisierung und Raumerzeugung, im Widerspruch zwischen textueller Fixierung des Raums als steter Kerbung und angestrebter Bewegung im glatten Raum der Erzählung ist eine Analyse anzusetzen, die sich mit den narrativen Räumen von Stillstand und Bewegung auseinandersetzen will. Eine solche Analyse muss noch einmal die Raumtheorien kritisch überblicken, sich selbst in Beziehung zum literaturwissenschaftlichen Diskurs des Raums setzen und sich schließlich an den Umschlagspunkten der glatten und gekerbten Räume der Narration orientieren. Das bedeutet einerseits jene weißen Stellen, jene Spatien beachten, die Durchgänge bieten, andererseits jene ›Verfestigungen‹, die schließlich auch eine ›écriture blanche‹ zur Kerbung werden lassen. Dabei ist es vor allen Dingen die Verbindung von Inhalt und Form – literaturtheoretisch gefasst als ›histoire‹ (Erzählung) und ›discours‹ (Struktur, Organisation) – und der Materialität der Schrift als Semiotisierung, welche die nachfolgenden Überlegun-
13 Ders.: Nullpunkt, S. 68, 63, 12.
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gen herzustellen versuchen. Unter der Prämisse dieser Verbindung werden schließlich im zweiten Teil die Interpretationen von Polarliteratur erfolgen.
3.1 DIE PROBLEMATIK DES KERBENDEN TEXTES Soll also der Blick auf die narrativen Räume von Stillstand und Bewegung fallen, so muss er zunächst allerdings erweitert werden, denn weder Certeau noch Deleuze und Guattari haben eine literaturtheoretische oder gar narratologische Konkretisierung ihrer Raumkonzepte vorgenommen. Zwar verwenden letztere, wie oben bereits angedeutet, literarische Texte als Grundlage ihrer Überlegungen zu einer Theorie der Linien im Plateau 1874 – Drei Novellen oder »Was ist passiert?«, jedoch stellt sich diese Arbeit an der Lektüre nicht als systematische oder systematisierbare Form literarischer Analyse heraus, sondern eher als »thinking-alongside literary works«, wie Ronald Bogue in Bezug auf Deleuze feststellt, als »an engagement of philosophical issues generated from and developed through encounters with literary texts«. In diesen Begegnungen von Philosophie und Literatur lässt sich Bogue zufolge vor allem das Ziel ausmachen, das Schreiben als Praxis des Widerstands gegenüber der Festlegung und dem Stillstand zu etablieren: »Literature invents new possibilities of life« und das Schreiben biete Deleuze zufolge die Möglichkeit, dies zu verwirklichen, indem es Fluchtlinien erzeuge – jene Linienform der Entsubjektivierung, die ein Unwahrnehmbar-Werden des Subjekts auslöst und eine Subjektivierung als Unterwerfung durch Kerbung unmöglich macht:14 »Schreiben heißt ja, Fluchtlinien zu ziehen, die keineswegs imaginär sind«. Dass dieses Schreiben sich explizit weniger auf die Drucklegung des Geschriebenen als Literatur bezieht, sondern vielmehr die prozessuale Bewegung des handschriftlichen Aufschreibens evoziert, lässt Deleuzes (und Guattaris) Überlegungen zum Schreiben nur auf den ersten Blick paradox erscheinen gegenüber der Feststellung aus dem letzten Kapitel, dass Schrift immer eine Kerbung darstellt: »Schreiben heißt werden, wenngleich gewiss nicht Schriftsteller werden, wohl aber anderes.«15 Hesper unterscheidet darum in seiner Untersuchung der Verbindungen von Deleuze zur Literatur das ›Schreiben‹ auch vom ›Text‹: »Deleuze und Guattari interessieren sich für die Auflösbarkeit der Archivierungsfunktion und der Latenz der Bedeutung der Schrift im Schreiben«.16 Darum erlaube das Schreiben »dem Schrei-
14 Beide Zitate Bogue: Deleuze on Literature, S. 2, 6. 15 Beide Zitate Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 51. 16 Hesper: Schreiben ohne Text, S. 14. Ingolds Betonung der prozessualen Qualitäten der Handschrift greift diese Unterscheidung – wenigstens implizit – wieder auf (vgl. TEIL I, Kap. 2, S. 65).
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benden[,] immer wieder [eine] Auflösung vorzunehmen«, die sich im AndersWerden als Gegenüber des festlegenden Schriftstellertums als »finale[s] Unternehmen des Unsichtbar-Werdens« erweist.17 Folgt man Hesper, so produziert der von Deleuze geschmähte Schriftsteller allein Text, der die prozessuale Qualität des Schreibens auslöscht und die Schrift festlegt: »[D]er Text bleibt die typographische stabile Figur«.18 Wenn Schreiben also bedeutet, Fluchtlinien zu ziehen, so ist damit nicht der Text des gedruckten Buches gemeint – Deleuze und Guattari sprechen folglich auch davon, dass sie eine »nomadische und rhizomatische Schreibweise« suchen, die das Buch nicht als »Bild der Welt« begreift und ihm daher die bereits im vorangehenden Kapitel angeführte Unterschiedslosigkeit, »wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist«, zuschreibt.19 Die ›écriture blanche‹ äußert sich bei Deleuze in gewissem Sinne als radikaler Zielpunkt eines Schreibens als prozessualem Werden, das eben nicht mehr Text produziert, sondern gerade die Abwesenheit von Text: Ein Schreiben, das anhand von Fluchtlinien organisiert ist, so meint Deleuze, konvergiere am Fluchtpunkt der Perspektive und stelle eine Linie dar, die hinter den Horizont führe.20 Bemerkenswert ist im Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Aneignung der Gedanken von Deleuze und Guattari der Rekurs auf die Medialität des Buches und weniger auf die narrative Gestaltung von Literatur.21 Aufgerufen mit der Medialität des Buches ist auch der Hintergrund für das Schreiben, »das Weiß der papiernen Seite«, auf dem sich die Schrift auf zweierlei Arten materialisieren kann, als Schreiben oder als Text. Der weiße Raum der Seite wird zur Grundlage für die Territorialisierungen der Literatur und damit Basis für seine eigene Kerbung. So postuliert Deleuze eine ›weiße Idee‹ als, wie Hesper meint, »paradoxen und zugleich apriorischen Status einer Referenz vor aller Form«. Die weiße Idee – und damit auch das Weiß der Buchseite – wird zu einem »transzendentale[n] Prinzip, das nicht die Auflösung oder Degradation von Ordnungen, sondern deren Ermöglichung bezeichnet«, und damit eng verwandt ist mit der bereits im letzten Kapitel als Hintergrund für die doppelte Artikulation bezeichnete Konsistenzebene der reinen Intensität. 22 Die noch unbeschriebene Buchseite verkörpert darum einerseits die
17 Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 53. 18 Hesper: Schreiben ohne Text, S. 27. 19 Beide Zitate TP, S. 39, 13. 20 Vgl. dazu Bogue: Deleuze on Literature, S. 153. 21 Vielleicht sind Deleuze und Guattari deshalb so häufig als Technik-Philosophen verstanden worden, weil ihnen Medialität und technische Voraussetzung ebenso wichtig erscheinen wie ästhetische oder philosophische Ausgestaltung. 22 Alle Zitate Hesper: Schreiben ohne Text, S. 24-26; vgl. zur weißen Idee auch Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 262, 289f.
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weiße Idee und stellt, indem sie als Grundlage begriffen wird, andererseits einen deterritorialisierten glatten Raum dar, der auf unterschiedliche Arten und Weisen reterritorialisiert werden kann, vermittels der Perspektivierung durch das Subjekt. Allerdings – und hier bleibt sich Deleuze gewissermaßen treu – handelt es sich auch bei den Konzepten der weißen Idee und des Schreibens als Flucht wiederum um Vorstellungen, die sich in radikaler Abkehr und Umwertung gewöhnlicher Vorstellungen des Schreibens explizieren. Auch sie sind also vor allen Dingen Neuhierarchisierungen innerhalb dualistischer Konzeptionen, dem Text als festgeschriebenem Raum steht das Schreiben als Prozess diametral und unversöhnlich gegenüber. Wie aber sich ein Schreiben, das tatsächlich Flucht, Verschwinden und Unwahrnehmbar-Werden dem Leser vor Augen führt, realiter gestaltet ist, bleibt unklar. Deleuzes eigene Analysen sind, wie bereits oben angesprochen, doch allein auf der Möglichkeit aufgebaut, Literatur als Minorisierung zu thematisieren. Damit ist möglicherweise etwas über den Inhalt und die Sprache einer, wenn man so will, ›glatten Literatur‹ ausgesagt – literarische Sprache zu einer Fremdsprache werden lassen, welche kleine Themen verhandelt; die über die Räumlichkeit der Texte ausgetragenen Konfliktsituationen von Subjekten sind allerdings nicht thematisiert, weil sie außerhalb der ›histoire‹ sich sowohl im ›discours‹ als auch in der Semiose äußern. Auch Certeau überträgt die Dichotomie von Stillstand und Bewegung als Trennung des Überblickssubjekts vom Fußgängersubjekt auf die Entstehung von Texten. Bekanntlich verwandelt sich der Raum aus der Fernsicht in einen Text, der erhöhte Blick aus der Distanz macht ihn lesbar. Damit ist der Stillstand als Subjektposition des Autors markiert. Demgegenüber versteht Certeau die Fußgängerbewegung als Kommunikation, indem er den Akt des Vorübergehens mit einem Sprechakt gleichsetzt: »Auf der elementarsten Ebene gibt es in der Tat eine dreifache Funktion der Äußerung, zum einen gibt es den Prozeß der Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger (ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder sich aneignet); dann eine räumliche Realisierung des Ortes (ebenso wie der Sprechakt eine lautliche Realisierung der Sprache ist); und schließlich beinhaltet er Beziehungen (ebenso wie das verbale Aussagen eine ›Anrede‹ ist, die den Angesprochenen festlegt und die Übereinkünfte zwischen Mitredenden ins Spiel bringt). Das Gehen kann somit fürs erste wie folgt definiert werden: es ist der Raum der Äußerung.«23
23 KdH, S. 189.
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In dieser dreifachen Funktion scheint die von Nähe ausgehende Bewegung des Gehens sich nur noch insofern aktiv zum Raum zu verhalten, als sie Beziehungen herstellt, während sie sich gleichzeitig passiv den topographischen Gegebenheiten anpassen muss, dadurch aber die kartographische Komponente des Ortes außer Acht lässt. Dabei stellt besonders die phatische Funktion den kommunikativen wie performativen Aspekt des Gehens dar, sie hält den Kontakt zu anderen Fußgängern aufrecht: Gehen ist Performanz, Äußerung in einem doppelten Sinn, einerseits als kommunikativer Akt, andererseits aber auch im Sinne einer Kontaktaufnahme, einer Veräußerung des Subjekts als ein Übergehen zum Anderen. Gehen, so Certeau, »ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren [...] macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.«24 Certeau beschreibt hier einmal mehr das, was Henrich einen instabilen Erfahrungszusammenhang genannt hat, einen Moment, in dem sich das Subjekt über seine Raumwahrnehmung selbst problematisch wird, indem es seine Mängel über den Raum erschließt, sie aber nicht mehr über die den Raum aneignende Überblicksposition zu überwinden sucht. Ein solches Verbleiben »im Unten«25 als Ausdruck des instabilen Erfahrungszusammenhang wird in der literarischen Darstellung problematisch, weil das Herumirren als Form der Kommunikation nur unzureichend in Schrift und weitergedacht in Literatur übertragen werden kann, schließlich sind die certeauschen Fußgänger für das Überblickssubjekt allein in Spuren kartier- und in Text verwandelbar: »Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis.« Allerdings sieht Certeau dennoch eine Möglichkeit des Erzählens aus der Fußgängerperspektive, als »Reisebericht« wird dieses Erzählen zu einer Handlungsanweisung, die sich nicht darauf beschränkt, »diese in den Bereich der Sprache zu versetzen und zu übertragen«, stattdessen werden die Leser einer solchen Erzählung zu Reisenden: »Sie machen eine Reise, bevor oder während die Füße sie nachvollziehen können.« Dies weist dem Leser die entscheidende Rolle im Spiel von Stillstand und Bewegung zu: »Weit davon entfernt, Schriftsteller [...] zu sein, sind Leser Reisende, sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomaden in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben [...]. Die Schrift sammelt an, lagert ein, widersteht der Zeit durch die Schaffung eines Ortes und vermehrt ihre Produktion durch eine expansive Reproduktion. Die Lektüre ist gegen den Verschleiß der Zeit nicht gewappnet [...], sie bewahrt das Erworbene nicht oder bloß
24 Ebd., S. 197. 25 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 12.
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schlecht und jeder Ort, an dem sie vorbeikommt, ist eine Wiederholung des verlorenen Paradieses.«26
Allein dem Leser ist demnach möglich, die kommunikativen Äußerungen der Fußgänger in der Diegese nachzuvollziehen; die Erzählung, so Certeau, »unternimmt einen Gang (sie ›führt‹) und sie durchquert etwas (sie ›überschreitet‹). Der Handlungsspielraum, in den sie eintritt, besteht aus Bewegungen: er ist topologisch, das heißt mit der Verzerrung der Figuren verbunden«.27 Die instabilen Erfahrungszusammenhänge der Figuren innerhalb der Diegese, ihr Widerwillen, sich in den Überblick zu begeben, ihr Schaffen von Leerstellen durch ein Verloren Gehen ist darum der archimedische Punkt einer literarischen Analyse von Stillstand und Bewegung. Weil das Verloren Gehen, zwar theoretisch fundiert, dennoch nur als Charakteristikum von Literatur zu begreifen ist, soll die Verhandlung von Raumtheorie hier abgeschlossen werden und ein spezifisch literaturwissenschaftlicher Blick die Bedeutung des raumgebenden Verhältnisses von Stillstand und Bewegung für Erzählung und Figuren im Folgenden erschließen. Als Vermittlungsinstanz zwischen Raumtheorie und Literaturwissenschaft soll mit der semiotischen Literaturtheorie Lotmans ein methodischer Brückenschlag eingeschoben werden, der den Weg für weitere Überlegungen zum literarischen Raum bereitet.
3.2 STILLSTAND UND BEWEGUNG ALS RÄUMLICH-TEXTUELLES PHÄNOMEN Immer wieder ist in den bisherigen Kapiteln die Verbindung von Raum und Textualität angesprochen worden, etwa als kartographische Aufzeichnung und Raumrepräsentation oder als raumgebende Unterscheidung von Schrift und Text. Immer wieder rekurrierte diese Verbindung auch auf die narrativen Qualitäten von Raum, seien es die Handschrift gegenüber dem gedruckten Text bei Ingold, die Erzeugung von lesbarem Text gegenüber unentzifferbaren Handlungsanweisungen bei Certeau oder dem Schreiben der Fluchtlinie bei Deleuze. Im Folgenden nun soll die Verbindung von Raum und Textualität dazu dienen, jene Bereiche des zunächst als Dichotomie verstandenen Begriffspaars Stillstand und Bewegung zu erschließen, in denen die Raumzustände sich überlagern, sich ändern oder umschlagen. Besonders in der Literatur, so die Vermutung, können diese Umschläge von Stillstand in Bewegung und umgekehrt als produktives Prinzip gezeigt werden, weil es über die sich je unterschiedlich entfaltende Diegese möglich sein könnte, nicht nur den der Schrift
26 Alle Zitate KdH, S. 188f., 216, 307. 27 Ebd., S. 236.
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grundsätzlich zugrundeliegenden Stillstand, sondern auch die Bewegung als performative Opposition zu entfalten. Den weiteren theoretischen Gedanken zur Bewegung innerhalb der Diegese, die über das Motiv des Verloren Gehens auch im Zentrum der literarischen Analysen stehen werden, sind die Überlegungen Lotmans vorangestellt, dessen Grenz- und Bewegungstheorie die Figuren der Diegese in den Blick nimmt und ihnen qua ihrer Bewegungen konstitutive Bedeutung für den künstlerischen Raum und damit das Narrativ an sich verleiht. Indem Lotman Narrativen eine räumliche Produktionsweise zuschreibt, die ebenfalls in die für Räumlichkeit charakteristische Dichotomie von Stillstand und Bewegung übertragen werden kann, verbindet er Raum und Narration auf eine vertraute Weise. 28 Raumproduktion als Textproduktion zu denken, erlaubt es ihm, Räume nicht nur als mimetische Abbilder realer Vorbilder, sondern abstrakt als diagrammatische und topologische Ordnungen zu denken. Räume sind für Lotman also weder topographische Repräsentationen noch allein soziale und kulturelle Konstrukte im Sinne Lefebvres, sondern vor allem Beziehungsgeflechte und Verknüpfungen von Subjekten und Objekten. Als solche können Lotman zufolge auch »zeitliche, soziale, ethische« Beziehungen, mithin die ganze Gesellschaft, mithilfe räumlicher Relation im Narrativ modelliert werden, mehr noch: »Im künstlerischen Modell der Welt übernimmt der ›Raum‹ mitunter metaphorisch den Ausdruck gänzlich nichträumlicher Relationen in der zu modellierenden Weltstruktur.« Das Weltmodell des Autors, so Lotman, komme »in der Sprache seiner räumlichen Vorstellungen zum Ausdruck«.29 Bereits hier scheinen die Verbindungspunkte zu den in den vorhergehenden Kapiteln behandelten Raumtheorien auf: Die Perspektivierung des Subjekts erzeugt über seine räumlichen Vorstellungen die Welt des Texts. Noch stärker werden diese Verbindungen, blickt man auf Lotmans, in einem Essay von 1984 entwickeltes Konzept der Semiosphäre: Es macht es möglich, die Zusammenhänge zwischen den Kulturtechniken der Raumproduktion und den Struktu-
28 Zunächst kehrt Lotman das Verhältnis von Raumproduktion und gesellschaftlichem Einfluss um, und konzipiert anhand der Überlegungen des Mathematikers Alexander Danilowitsch Alexandrow ein topologisches, relational geprägtes Verständnis von Raum. Raum ist demnach für Lotman »die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind.« (Lotman: Struktur, S. 312) 29 Beide Zitate ders.: Problem, S. 202.
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ren von Kulturräumen aufzuzeigen – und im Anschluss wieder auf Narration rückzubeziehen. Die Semiosphäre – »ein bestimmtes semiotisches Kontinuum [...], das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs, die sich auf unterschiedlichem Organisationsniveau befinden, angefüllt ist« – ist nach Lotman abgeschlossen und um einen Kern in ihrer Mitte organisiert; alles, was sich außerhalb der Semiosphäre befindet, kann zwar Einfluss nehmen, ist darin jedoch beschränkt.30 Für die Beziehung zwischen Innen und Außen führt Lotman nun mit Heterogenität, Dynamik und Asymmetrie drei Merkmale an, die Innen und Außen als gegenüber Stillstand und Bewegung kongruent erkennbar machen. Heterogenität bezieht sich auf das lotmansche Verständnis von Semiosphären als Kulturräumen, die je durch ihre eigenen Sprachen gekennzeichnet sind und somit Kommunikation über Semiosphärengrenzen hinweg wenn auch nicht verunmöglichen, so doch zumindest erschweren. Dies führt zur Notwendigkeit von Übersetzungen zwischen den Sprachen der einzelnen Semiosphären: »[I]hr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit. Die Heterogenität ergibt sich aus der unterschiedlichen Art und Funktion der Sprachen.« Durch diese Übersetzungsprozesse entsteht Dynamik; »sämtliche Elemente der Semiosphäre« stehen Lotman zufolge »nicht in einem statischen, sondern in einem beweglichen, dynamischen Verhältnis« zueinander: einem dynamischen Verhältnis, das durch Ungleichmäßigkeit geprägt ist, da vornehmlich das Außen der Semiosphäre Einfluss auf die Ränder im Inneren nimmt. »Asymmetrie zeigt sich im Verhältnis zwischen dem Zentrum der Semiosphäre und ihrer Peripherie.«31 Dabei sind die »dominierenden semiotischen Systeme« im Kern der Semiosphäre angesiedelt und agieren laut Lotman statisch: Semiosphärenkerne sind geprägt durch Stillstand, während die Semiosphärenränder »über elastische, ›flüchtige‹ Konstruktionen verfügen«, die wandelbar und beweglich sind. Diese Diskrepanz zwischen Stillstand im Inneren und Bewegung an der Grenze zum Außen »führt zur zukünftigen Verlagerung der Funktion des strukturellen Kerns an die Peripherie der vorhergehenden Etappe und zur Umwandlung des ehemaligen Zentrums in die Peripherie«.32 Fundamentale Bedeutung für diese Bewegungen innerhalb der Semiosphäre hat dabei die Grenze. Da die Semiosphäre nach außen gänzlich abgeschlossen ist, kommt der Grenze eine Übersetzungsfunktion zu. »Die Grenze ist ein zweisprachiger Mechanismus, der die äußeren Mitteilungen in die innere Sprache der Semiosphäre übersetzt und umgekehrt. Daher kann die Semiosphäre nur mit ihrer Hilfe
30 Ders.: Semiosphäre, S. 288. 31 Alle Zitate ders.: Innenwelt, S. 166, 168, 169. 32 Ders.: Semiosphäre, S. 295.
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Kontakte zum nichtsemiotischen und zum anderssemiotischen Raum herstellen.« Die Grenze dient als Filter und Übersetzer, ermöglicht »die Semiotisierung des von außen Hereindringenden und dessen Verwandlung in Information«. Ihr sind letztlich alle dynamischen Prozesse im Inneren der Semiosphäre geschuldet, »das unablässige zielgerichtete ›Eindringen‹ dieser oder jener Struktur in ein ›fremdes‹ ›Territorium‹«, das »zur Erzeugung von Sinn, zur Entstehung neuer Information« führt. 33 Semiosphären benötigen also das Wechselspiel zwischen Stillstand und Bewegung, so werden die von außen eindringenden Informationen semiotisiert und schließlich als Zeichen festgeschrieben in Stillstand verwandelt. Die Bewegung von außen nach innen ist dabei lebenswichtig für die Semiosphäre selbst, denn ohne die von außen motivierten dynamischen Prozesse würde die Semiosphäre kollabieren. Auf diese Weise beschreibt Lotmans Semiosphärentheorie ein dichotomes System gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Innen und Außen, Stillstand und Bewegung. Die zeichentheoretischen Überlegungen zur Semiosphäre stehen dabei in enger Verbindung zu Lotmans früheren Überlegungen zur Problematik der Bewegung und Grenze in literarischen Texten: So weist Lotman in Die Struktur literarischer Texte darauf hin, dass das Kunstwerk, welches sich durch die Darstellung einer unendlichen Welt auf endlichem Raum auszeichnet, als »Abbildung einer Realität auf eine andere« immer eine Übersetzung ist. 34 Auch innerhalb des künstlerischen Raums, zwischen zwei semantischen Feldern eines Textes, wird daher die Grenze »zum wichtigsten topologischen Merkmal«, weil sie sowohl abschließt als auch durchlässig gestaltet ist. Im literarischen Raum erscheint die Durchlässigkeit als Ereignis: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.« Literarische Ereignisse sind demnach untrennbar mit Bewegung verbunden, und so wird, denkt man den früheren Lotman der Struktur literarischer Texte mit dem späteren der Semiosphäre zusammen, klar: Erst wer räumlich entlang der Grenzen in Semiosphären operiert und sie überschreitet, treibt die Diegese als Entfaltung des literarischen Sujets voran. Oder, auf das Personal der Erzählung gewendet: Diejenigen, die in literarischen Texten Grenzen oder Gebote über-
33 Alle Zitate ebd., S. 291, 293, 296. 34 Ders.: Struktur, S. 301. Lotman schreibt diese Grenzfunktion nicht nur dem literarischen Text zu, sondern allen Abschlüssen und Rändern von Kunstwerkräumen: »Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar. Der Rahmen des Gemäldes, die Rampe im Theater, der Anfang und das Ende eines literarischen oder musikalischen Werkes, die Oberflächen, die eine Plastik oder eine architektonische Konstruktion von dem nichteinbezogenen Raum abgrenzen, – all das sind verschiedene Formen einer allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit der Kunst: das Kunstwerk stellt ein endliches Modell der unendlichen Welt dar«. (Ebd.) Als solches ist Kunst aber nicht nur stets selbst räumlich, sondern auch einer räumlichen Analyse zugänglich.
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schreiten dürfen, sind die »Helden« jener Texte.35 In diesem Sinne teilt Lotman das Personal von künstlerischen Texten in bewegliche und unbewegliche Figuren. Dabei erfahren diejenigen Figuren eine Priorisierung als Helden, denen es gestattet ist, sich über die Grenzen des ihnen zugewiesenen Raums zu bewegen; sie werden zu Subjekten innerhalb der Diegese. Auch hier ist also ein oppositionäres System aufgerufen, das nach Dünne zwar »sehr schematisch« operiert, 36 für das Lotman jedoch eine weitere, für die folgende Analyse äußerst fruchtbare dichotome Unterscheidung trifft: So lassen sich auch für Bewegungsformen innerhalb der Diegese zwei »lokal-ethische«, den »ihnen entsprechenden Typ des künstlerischen Raums« verkörpernde Helden ausmachen: »Helden des ›Wegs‹« sowie »Helden der ›Steppe‹«, wie Lotman in seiner Analyse von Gogols Prosa notiert.37 Die häufiger sich in der Literatur raumschaffend bewegenden Helden des Weges realisieren das oben beschriebene und auch in der Semiosphärentheorie nachwirkende »Schema der zwei Teilräume mit der sie trennenden Grenze«. Sie stellen gleichzeitig die literarische Verkörperung jener Punkt-zu-Punkt-Bewegung dar, die, den Blick von oben realisierend, im Text nur Stillstand erzeugt, weil sie die Bewegung festschreibend auf einer vorgeschriebenen Bahn operiert.38 So verändern sie Lotman zufolge »auf einer bestimmten räumlich-ethischen Bewegungslinie in einem linearen spatium« ihren Ort, unterliegen jedoch dadurch dem Verbot, diesen Weg zu verlassen, und realisieren die Grenzüberschreitung als »Übergang« von einem Punkt im Raum zu einem anderen. Der so geartete, sich entfaltende literarische »lineare Raum [...] ist nicht unbegrenzt, sondern stellt eine verallgemeinerte Möglichkeit zu einer Bewegung von einem Ausgangs- zu einem Endpunkt hin dar«. 39 Weil sie ein Ziel aufweisen, zu dem sie zu gelangen trachten, ist es ihnen nicht möglich, den eingeschlagenen Weg zu verlassen; sie sind zwar sujethafte Grenzüberschreiter, die jedoch nur bestimmte Grenzen überschreiten dürfen, weil sie andere, ihren Weg definierende Grenzen eben nicht überschreiten dürfen. Helden des Weges, so wird deutlich, sind all diejenigen unzähligen literarischen Figuren, die – durchaus auch metaphorische – Reisen antreten, Wege beschreiten und an Ziele gelangen. Diese Helden werden erzählt, um mit der Veränderung ihrer räumlichen Verfasstheit auch eine Änderung ihrer subjektiven Verfasstheit anzuzeigen. Den Helden des Weges gegenüber stehen die Helden der Steppe, für die es »kein Verbot zu einer Bewegung in Abweichung von der vorgeschriebenen Richtung« gibt. »Mehr noch: statt der Bewegung auf einer Bewegungslinie versteht sich
35 Alle Zitate ebd., S. 327, 332, 338. 36 Dünne: Imagination, S. 185. 37 Lotman: Problem, S. 207; vgl. dazu auch: Dünne: Imagination, S. 183-186. 38 Ebd., S. 185. 39 Lotman: Problem, S. 207.
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hier eine nichtkontrollierte Undeterminiertheit der Bewegungsrichtung.« Die Helden der Steppe stellen die Grenzziehung überhaupt infrage und damit auch die Möglichkeit nach einer durch Bewegung motivierten figürlichen Evolution: »Die Funktion dieser Helden besteht darin, dass sie die Grenzen überschreiten, die für andere unüberwindlich sind, die aber in ihrem Raum nicht bestehen.«40 Ihre Sujethaftigkeit ist darum allerdings besonders komplex: Weil sie auf eine Räumlichkeit verweisen, die nicht nur aus dem Übergang von Punkt A zu Punkt B besteht und darum eben eine andere Perspektive evozieren als die Helden des Weges, stellen sie einerseits eben deren Räumlichkeit infrage und thematisieren das Verhältnis der Räume insgesamt. Dünne sieht darum die Helden der Steppe nur realisiert, wenn sie in »Funktionseinheit« mit Bewegungsträgern, etwa Schiffen, aufträten; sie seien »keine Menschen«, 41 »nicht anthropomorph«, wie Lotman selbst eingesteht. 42 Rückgekoppelt an die theoretischen Grundannahmen zum Verhältnis von Stillstand und Bewegung erscheinen die Helden der Steppe passiv; die Grenzüberschreitung passiert ihnen, etwa im Schiffbruch, wie Dünne ihn thematisiert: »Erst die Störung d[er] planmäßigen Route konstituiert nun etwas, das als ein Sujet im engeren Sinn bezeichnet werden könnte, bei dem anthropomorphe Handlungsträger bedeutsam werden.«43 Nimmt man jedoch an, dass Literatur per se stets die absolute Grenzüberschreitung der »nichtkontrollierte[n] Undeterminiertheit der Bewegungsrichtung« festzuschreiben und in textuellen Stillstand zu übertragen sucht, demgegenüber die Undeterminiertheit der Bewegungsrichtung sich aber allein in einer performativen, der Literatur dichotom entgegengesetzten ›écriture blanche‹ im glatten Raum des unbeschriebenen Blattes Papier realisiert, so werden die Helden der Steppe zu Signifikanten der Explizierung eines Strebens nach Bewegung.44 Und sie werden Funktionsträger eines Willens zur zumindest Neuhierarchisierung wenn nicht gar Auflösung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung. Die Helden der Steppe sind damit diejenigen, die das Potential in sich tragen, den glatten Raum literarisch beschreiten zu können, Fußgänger, die den Blick im Unten zum Prinzip ihrer Raumkonstitution und damit ihrer Subjektivität machen. In Bezug auf die Verhandlung von Stillstand und Bewegung muss darüber nachgedacht werden, ob und wie Figuren im Verlauf eines Textes von Helden des Weges zu Helden der Steppe werden können, ob es ihnen also möglich ist, die Grenzen der linearen Bewegung selbst zu überschreiten und sich in ein Außen zu begeben, das semiotisch gänzlich anders organisiert ist – und welche Konsequenzen
40 Beide Zitate ebd., S. 207f. 41 Dünne: Imagination, S. 186. 42 Lotman: Struktur, S. 343. 43 Dünne: Imagination, S. 186. 44 Lotman: Problem, S. 207.
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dies für die Literatur hat. Im Fall einer solchen Bewegung, so lässt sich vermuten, verlassen die Subjekte die Erzählung, begehen textuellen Suizid, schreiben sich aus, gehen verloren. Was bedeutet ein solches Ausschreiben nun aber für das Erzählen und seine Motivation, welche sich ja aus der linearen Bewegung der Subjekte speist? Müssen solcherart räumlich organisierte Texte abbrechen? Kann ein solches Verschwinden narrativ kompensiert werden? Konstituieren sich fiktionale Subjekte auch außerhalb der Diegese? Wie organisieren sich Erzählungen räumlich, wenn die Helden zu Helden der Steppe werden und ihnen abhandenkommen? Derlei Fragen sind nicht allein partikulär-spekulativer Natur, sie bilden vielmehr den Kern der Überlegungen zur Produktivität des Verhältnisses von Stillstand und Bewegung in Erzählungen: Ist ein narrativer Raum nämlich von einem dichotomen Spannungsverhältnis zwischen Stillstand und Bewegung geprägt, müsste sich dies doppelseitig auswirken; zunächst auf die Konstitution und Produktion des Raums durch seine Figuren, außerdem auf den Einfluss des Raums auf seine Figuren, deren Verhaltensweisen, deren Festschreibungen und Bewegungen. Erwiese sich die Bestrebung einer literarischen Umwertung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung als raumorganisatorisch produktives Prinzip, so träte dies genau an dieser Bruchstelle, dem Überschreiten der Semiosphärengrenze ›Diegese‹, umso deutlicher zutage, weil an einer solchen sich die Raumkonstitution und damit auch die Subjektkonstitution aktualisiert. Der Blick fällt darum nicht nur auf die Helden der Steppe und ihre Konstitution von Raum und Subjekt an der Grenze der Diegese, sondern auch auf ihre Transformation und damit auf die narrative Ausgestaltung ihrer Bewegung in Semantik und Semiotik der Erzählung.
3.3 ›SPATIAL FICTIONS‹: LITERARISCHER RAUM UND DIE BEWEGUNG DES SUBJEKTS Eine Untersuchung der narrativen Gestaltung literarischer Texte, die sich mit dem Verhältnis der Raum und Subjekt konstituierenden Dichotomie Stillstand und Bewegung als Grundlage von Narration auseinandersetzen will, muss Narration an die Medialität und Materialität des Buches rückbinden. Erste Gedanken hierzu wurden bereits im vorangehenden Kapitel zu Deleuze und Guattari entwickelt und können mit Lotmans Überlegungen in Verbindung gebracht werden: Da es keinen Unterschied gibt, »zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist«, ist Literatur grundsätzlich doppelt gekerbt durch erstens ihre Form als Druckwerk, das den Autoren und mit ihm auch den Leser in die Überblicksposition bringt, was zweitens auch den Inhalt zum gekerbten ›plot‹ macht. Gleichzeitig aber kann die Narration glatte Bewegung möglicherweise doch verhandeln, indem Bewegungsmittel eingesetzt werden, die Figuren über die Grenzen der Diegese und
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damit über die Grenze der Semiotisierung – also die Grenze von Schrift und Buch – hinaustragen. Was eine solche Erkenntnis im Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Stillstand und Bewegung bedeutet, lässt sich mit Eckhard Lobsiens Überlegungen zu Literatur und Raumbegriff zeigen. Lobsien spricht von zwei räumlichen Untersuchungsebenen, die der literarischen Analyse zugänglich sind: Einerseits meint literarischer Raum Lobsien zufolge »Raum als Thema der Literatur« und damit »jene Räume, in denen sich die Figuren [...] bewegen, die sie durchqueren, von denen sie berichten« und so fort. Andererseits kann literarischer Raum neben diesem »Raum im Text« auch »Raum als Text« meinen, eine Analyse beschäftige sich demnach in letzterem Falle mit der Frage, »wie das Medium der Literatur selber Raumerfahrung ermöglicht, ob und wie sich die literarische Sprache verräumlichen kann«. Lobsien fasst diese Unterscheidung in die einander gegenüberstehenden prägnanten Begrifflichkeiten »Raum-Semantik« und »Raum-Semiotik« – wobei »Raum als Teil der Textsemantik [...] ein literarisches Motiv, ein Thema, ein Moment der literarisch entworfenen Welt« meint, gegenüber dem Raumsemiotik auf die Materialität des gedruckten Textes und den tatsächlichen Zeichenraum verweist, den ein Text auf dem Blatt Papier einnimmt: »Raumsemiotik muß in Literatur immer heißen: Wir sollen uns Raum nicht nur denken, Raum nicht nur phantasierend durchqueren«, stattdessen muss der Textraum selbst »handgreiflich sein: dadurch z. B., daß die Menge der Textzeichen die Ausdehnung von Raumobjekten simuliert«. Lobsien folgert aus einer Überblickslektüre raumthematisierender Analysen, dass die meisten der gegenwärtig so florierenden Untersuchungen zum Raum allein auf die Raumsemantik blickten und darüber raumsemiotische Qualitäten der Texte vernachlässigten. Dagegen fordert er eine »Verklammerung« des raumsemantischen mit dem raumsemiotischen Aspekt in den Fragen: »Was für Räume und Raumerfahrungen thematisiert der Text? und: Wie übersetzt er dieses spezifische Raumthema in sein Verfahren, wie macht er als Text Raum erfahrbar?«45 Um eine solche Verklammerung auf den Bereich der Subjektkonstitution als Raumkonstitution über das Verhältnis von Stillstand und Bewegung zu beziehen, ist es jedoch nötig, die Dimensionen des literarischen Raums zumindest zum Teil abzuschreiten, besonders im Hinblick auf die narrative Organisation von Bewegung als Gegenpol zur immerwährenden Kerbung durch die Form des Textes.46
45 Alle Zitate Lobsien: Literatur und Raumbegriff, S. 158f. 46 Einen Überblick über Themen der raumsemantischen wie raumsemiotischen Literaturanalyse bietet der Band Literarische Räume. Dort erwähnen Martin Huber und Kollegen etwa Werke zu Ort und Raum, Architektur sowie Landschaft ebenso wie narratologische Ansätze, Mapping, produktionsästhetische Ansätze und schließlich die kognitionswissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft (vgl. Huber et al.: Einleitung).
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Mit den Semiosphärentheorie kann zunächst festgehalten werden, dass räumliche Relationen literarische Handlungen in Gang setzen. Lotmans Ausführungen, so schreibt Ansgar Nünning, hätte die Literaturwissenschaft zu verdanken, dass Raum als literaturwissenschaftliche Kategorie bedeutsam geworden ist, weil dieser die strukturelle Verknüpfung von Raum und Text daran aufzeigt, »wie die Struktur des Raumes eines Textes als Modell der Struktur der ganzen Welt fungieren kann«.47 Die ›histoire‹ eines Textes kann motiviert sein durch die Bewegungen von Figuren, durch ihre Grenzüberschreitungen und ihre Orientierung im Raum, »sofern räumliche Vorstellungen durch entsprechende literarische Verfahren erzeugt werden«. Handelt ein Text von Raum, so stellt dieser einen Teil der Textsemantik und damit »ein literarisches Motiv, ein Thema, ein Moment der literarisch entworfenen Welt« dar. Lobsien folgert aus diesem Umstand, dass eine »explizite Untersuchung dieses Raumaspekts [...] von den Texten mehr oder weniger zwingend motiviert« wird.48 Ein Verfahren, um die Untersuchung des Raumaspekts durchzuführen, ist die narratologische Analyse, deren Ziel es ist, Raum im »Modus der Beschreibung« zu begreifen und seinen Einfluss auf die narrative Ausgestaltung eines Textes zu untersuchen. 49 Versuche, diese Untersuchungsform zu systematisieren, finden sich – nicht nur im Zuge des ›spatial turn‹ – reichlich, gleichzeitig ist eine solche Untersuchung jedoch insofern problematisch, als Narratologie doch hauptsächlich auf die temporale Organisation von literarischen Texten abzielt.50 Darum erscheint die narratologische Analyse raumsemantischer Konnexe untergeordnet gegenüber derjenigen temporaler Konnexe: »Lange stand die Raumbeschreibung daher im Verdacht, ein bloß zierendes Beiwerk einer ereignishaften Narration zu sein. Bestenfalls gestand man ihr zu, für Wahrscheinlichkeit zu sorgen und die ästhetische Illusion des Textes zu befördern.« Wolfgang Hallet und Birgit Neumann halten diese »Margina-
47 Lotman: Struktur, S. 312; vgl. Nünning: Raumdarstellung, S. 37. 48 Alle Zitate Lobsien: Literatur und Raumbegriff, S. 158. 49 Nünning: Raumdarstellung, S. 45. 50 Vgl. dazu den ausführlichen Forschungsbericht in Dennerlein: Narratologie zu den verschiedenen räumlich-narratologischen Ansätzen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Katrin Dennerleins eigener Ansatz versucht, den Raum der erzählten Welt mithilfe eines Modell-Lesers systematisch zu erfassen. Sie entwickelt ein Begriffsinstrumentarium alltäglich-räumlicher Orientierung, dem Lobsien jedoch vorwirft, »über keine Trennschärfe« zu verfügen. Zudem, so Lobsien, traue man dem Leser wenig zu, »würde man diese Raumerzeugung bemessen und zurückführen auf den Raum der alltäglichpragmatischen Orientierung« (Lobsien: Literatur und Raumbegriff, S. 173). Dieser Vorwurf zielt nicht nur auf Dennerlein, sondern grundsätzlich ins Herz der narratologischen Bemühungen, mehr als nur Begriffsinstrumentarium für räumliche Verfahren in literarischen Texten zu sein.
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lisierung« der Bedeutungsvielfalt auf der raumsemantischen Ebene für eine Folge der Zuschreibung eines Beschreibungscharakters, dem die literarischen Räume aus Sicht der Narratologen anheimfallen: »Die Beschreibung aber gilt vielen Narratologen als das atemporale, statische Andere einer zeitlich organisierten, dynamischen Narration.«51 Verbleibt die Analyse von Raumkonstitution aber im Modus der Beschreibung, so wird Räumlichkeit zum reinen Setting von Texten. West-Pavlov kritisiert in seiner Monographie zu literarischer Räumlichkeit, Spaces of Fiction, Fictions of Space, eine solche Sichtweise und schreibt dem Raum elementare Bedeutung für die Narration zu: »Space [...] is never mere setting [...]. [S]pace is in fact paramount to literary creation. Far from being contingent and dispensable, space proves to be the very condition of possibility of the act of narration.«52 Daraus folgert er seinen Ansatz, nicht allein den Beschreibungen zu folgen, sondern die Verfahren literarischer Texte zu beobachten, in denen »spatial configurations, although not available outside representation, [...] inflect texts and inform them according to their own patterns« – zu den ›spaces of fictions‹, der raumsemantischen Textformation, tritt also auch bei West-Pavlov eine raumsemiotische Ebene, die er »the fictions of space« nennt: Literarische Räume sind fiktiv, literarische Fiktionen räumlich.53 Eine ähnli-
51 Hallet/Neumann: Raum und Bewegung, S. 19. Die aktuellen Bemühungen um eine räumliche Narratologie verneinen diesen Umstand nicht – Dennerlein geht in ihrer Untersuchung zur Narratologie des Raumes etwa auf die fehlende Systematik einer räumlichnarratologischen Analyse ein –, können aber nicht den grundsätzlichen Zweifel aus dem Weg räumen, dass »eine anschlussfähige Systematik und die Entwicklung eines Beschreibungsintrumentariums« (Dennerlein: Narratologie, S. 7) dennoch nicht viel mehr liefern als eine tautologische Erkenntnis: Räumliche Marker dienen dazu, dass der Roman einen Raum erzeugt und damit die von Hallet und Neumann angesprochene ästhetische Illusion bereichert – eine Erkenntnis, die man bereits aus den Untersuchungen Roland Barthes’ zum Wirklichkeitseffekt hätte ableiten können (vgl. Barthes: Wirklichkeitseffekt). In diesem Sinne ist nach Nünning »narrativ-fiktionale Raumdarstellung keineswegs auf die Stilprinzipien des Realismus beschränkt« (Nünning: Raumdarstellung, S. 44), sie tritt aber in der ausführlichen Beschreibung eben deutlicher zutage. 52 West-Pavlov: Spaces of Fiction, S. 87. 53 Über die sprachliche Figur des Chiasmus versucht West-Pavlov zu zeigen, dass die gegenseitige Verklammerung beider Bereiche auf einer »DeiXis« beruht, deren kapitalisiertes X die chiastische Wirkungsweise räumlicher Organisation literarischer Texte versinnbildlicht: »›DeiXis‹ is a tentative gesture seeking to represent, in typographical form, a mode of two-way, reciprocal interaction between language and space in literary texts.« (Ebd., S. 3) Allerdings hält West-Pavlov auch die narratologischen Bemühungen einer Systematisierung der Raumkonfiguration innerhalb literarischer Texte – analog der Ein-
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che sprachliche Verdopplung der Beziehung von Fiktion und Raum legt Hallet vor, wenn er von raumthematisierenden Texten ebenfalls als ›fictions of space‹ spricht und ihnen außerdem auch den Begriff ›spatial fictions‹ zuordnet.54 Hallets Untersuchung der ›spatial fictions‹ fokussiert auf Raumrepräsentationen in literarischen Texten und verbleibt damit auf einer raumsemantischen Ebene; allerdings nimmt sie literarische Räume in den Blick, die kritisch geworden sind, weil die in ihnen stattfindenden Bewegungen die »De-Naturalisierung« des Raums thematisieren – und damit das Verhältnis von Stillstand und Bewegung in der Literatur problematisieren: Da Raum sowohl in der Literatur »wie bei anderen Wahrnehmungen und Akten des Weltverstehens auch [...] nicht länger als einfach gegeben oder natürlich und objektiv präsent erfahren, sondern als etwas Irritierendes, nicht-Natürliches« wahrgenommen wird, wird ein »prekäre[r] Akt der Bedeutungszuweisung oder -konstitution« erforderlich, der wiederum einen »damit verbundenen Prozess der Sprachbindung und -gebung erfordert«.55 Will man dies für die hier dargestellten Überlegungen fruchtbar machen, so kann zunächst festgestellt werden, dass auch für Hallet Raum eine für die Literaturwissenschaft unabdingbare Kategorie ist. Dies begründet er zunächst damit, dass auch die Literatur Raum so konstruiert oder zumindest in zweiter Ordnung wiedergibt, wie er auch in der ›Wirklichkeit‹ konstruiert wird: als semiotischer Prozess. Dabei zeige sich in der Literatur häufig eine Befremdung oder ein Unbehagen gegenüber homogenisierenden Akten der Raumsignifikation; sie würden in der Literatur ebenso wie in der Kunst oder der Philosophie der Moderne und Postmoderne problematisiert: Zwar stellt die Raumwahrnehmung als Selektion und Semiotisie-
teilung der temporalen Organisation in Erzählzeit und erzählte Zeit bei Seymour Chatman – in Erzählraum (›story place‹) und erzählter Raum (›discourse place‹) für unvollständig. Erst durch die Hinzunahme eines angenommenen Lesers, der jeglichen ›discours‹ wieder in eine ›histoire‹ verwandeln und so verräumlichen könne, gelinge es, die raumsemiotische Ebene in den Blick zu nehmen. Für West-Pavlov ist die Verklammerung von Raumsemantik und Raumsemiotik ein Spiel der von Räumlichkeit durchdrungenen intertextuellen Bezugnahmen von ›histoire‹ und ›discours‹: Durch den Akt der Rezeption verändern sich Texte und werden verräumlicht. Interessanterweise ähnelt sein Ansatz hier dem von Dennerlein, die ebenfalls über einen angenommenen Modell-Leser Räumlichkeit der Analyse zugänglich machen will. 54 Vgl. Hallet: Fictions of Space, S. 84. Allerdings nimmt Hallet mit der Verdopplung keine Umbewertung des semantischen Gehalts seiner Begrifflichkeiten vor: ›spatial fictions‹ sind ›fictions of space‹ und andersherum. Im Sinne einer besseren Unterscheidbarkeit von Hallet und West-Pavlov verwende ich im Folgenden in Bezug auf die Weiterentwicklung von Hallets Begriff ›spatial fictions‹. 55 Ebd., S. 83.
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rung grundsätzlich kein alltägliches Problem dar – wir erkennen und wählen einen Bruchteil des uns umgebenden Raums aus, je nachdem, inwiefern er Bedeutung für uns trägt –, gleichzeitig kann Raumwahrnehmung aber auch zur Überforderung des Individuums führen, weil es eben nicht mehr problemlos auswählen und semiotisieren kann. Diese Überforderungen erweisen sich als »Momente, in denen die Beschaffenheit und Bedeutung von Räumen von den sich darin befindlichen oder bewegenden Individuen hinterfragt und neu konstituiert wird«. Was nach Hallet dazu führt, Raum als etwas ›nicht-Natürliches‹ wahrzunehmen. Dabei stellt menschliche Raumwahrnehmung Hallet zufolge kein passives Rezipieren dar, kein bloßes Lesen oder »Dekodieren eines vorgefertigten Raum-›Textes‹«, sondern ist vielmehr eine aktive und zeichengebundene Erfindung eines Raums – eine Raumaneignung. Diese Konstellation lässt sich mit dem im ersten Kapitel entwickelten Subjektmodell als das in seiner Raumaneignung problematisch gewordene Verhältnis des Subjekts zu sich selbst beschreiben und dieses Subjektmodell erhält Hallet zufolge im Medium der Literatur besondere Signifikanz: Literatur konzentriere nämlich Raumpraktiken und -wahrnehmungen »wie unter einem Brennglas« und stelle somit eine selektierte Verdichtung von Wirklichkeit dar, die eine empirische Beobachtung der Wirklichkeit so nicht liefern könnte.56 Die De-Naturalisierung beruhe aber ebenso wie die Naturalisierung auf einer Raumkonstitution, die an semiotische Prozesse gebunden ist: Die Welt der Wirklichkeit wird in Zeichen verwandelt. Dass ein solcher semiotischer Prozess stets einen Abstraktions- und Interpretationsvorgang darstellt, verweist auf das den Raum konstruierende und konstituierende Subjekt: Es interpretiert, indem es sieht, und es konstruiert mit dieser Interpretation die Wirklichkeit als Zeichenwelt.57 Mit Hallet lässt sich die in den letzten zwei Kapiteln entwickelte Überlegung, dass sich Subjektivität durch Praktiken und Positionierungen im Raum bildet, auch für die Literatur bestätigen. In der Literatur wird Raum aufgrund des Auseinandertretens von Subjekt und Objekt im Moment der Interpretation erzeugt. Literarische Raumkonstitution bedeutet daher nicht nur das Erkennen eines Raums, sondern die Schaffung von Raum vermittels eines bestimmten Standpunkts vom wahrnehmenden Subjekt aus. Raum ist darum auch in der Literatur nicht objektives Apriori, sondern Resultat eines Abstraktions- und Interpretationsprozesses, der zwar an die Wirklichkeit gebunden ist, jedoch über sie durch subjektive Kognition hinausgeht.58 Dies gilt Hallet zufolge »auch und gerade
56 Alle Zitate ebd., S. 82f. 57 Vgl. ebd., S. 85. Hallet verweist in diesem Zusammenhang auf die semiotische Theorie von Charles S. Peirce. 58 Dabei handelt es sich um einen doppelten Interpretationsprozess: Nicht nur textimmanente Figuren und Erzähler erzeugen Raum, sondern auch der (Modell-)Leser, dessen ästhetische Illusionsbildung eben Raumkonstruktion und -aneignung bedeutet.
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für scheinbar ›kulturfreie‹ oder ›unkodierte‹ Räume, die als ›Wildnis‹ oder ›Naturraum‹ wahrgenommen werden« – für Räume also, die in der Terminologie von Deleuze und Guattari als glatte Räume beschrieben werden und dennoch bereits territorialisiert sind. So erweist sich der Vorgang der semiotischen Raumkonstitution durch das Subjekt als Kerbung auch glatter Räume. Wenn Hallet zudem davon spricht, dass eine grundsätzliche Dichotomisierung von Natur- und Kulturräumen einem »naturalisierenden Fehlschluss« aufsitzt, so lässt sich mit den Überlegungen aus den vorangehenden Kapiteln ergänzen, dass ein solcher Fehlschluss immer an die von einem cartesianischen Subjekt durchgeführten Semiotisierungsprozesse eines den Raum fixierenden Stillstands anschließt: Narrative, das heißt von einem Erzähler durchgeführte, Raumkonstitution wird zum Akt einer fiktionalen Subjektkonstitution. Der erzählerische Akt konstituiert nicht allein Raum und Raumwirklichkeit, »sondern zugleich auch das bezeichnende Subjekt selbst, indem sich nämlich das wahrnehmende Individuum zu dem wahrgenommenen Raum in ein Verhältnis setzt; im semiotischen Akt treten das Subjekt und interpretierte Objektwelt auseinander [...].«59
Den Raum narrativ zu gestalten, heißt darum immer auch, ihn zu kerben: Weil das Erzählen stets die Semiotisierung und damit die Kerbung des Raums bedeutet und damit das Erzähler-Subjekt vom Raum trennt und es zum Überblickssubjekt macht, etabliert »jede Raumsignifikation [...] daher immer zugleich eine spezifische Subjekt-Raum-Relation«.60 Innerhalb dieser Relation findet nun auch die literarische Auseinandersetzung mit Stillstand und Bewegung statt. So wird der literarische Raum über die stillstehende Wahrnehmungsposition des Textes stabilisiert und durch die Bewegungen der Figuren – etwa im Sinne der Bewegung der Helden der Steppe – destabilisiert: Bewegung kommt Hallet und Neumann zufolge »eine konstitutive Funktion für die soziale Produktion von Raum« zu, was sich in der Literatur darin äußert, dass Bewegungen »die normative Ordnung der fiktionalen Welt ins Wanken« bringen. Hallet und Neumann nehmen damit explizit Bezug auf Lotmans Konzept der Bewegung als Auslöser von literarischer Handlung: »Die Figur, die den Raum durchquert, die Grenzen überschreitet und auf diese Weise einen Aktionsraum schafft, löst Instabilitäten aus und initiiert hiermit den Plot.«61 Bewegung wird zu einem potentiell problematischen Faktor für die Erzählung, weil sie aufgezeichnet, semiotisiert, gekerbt und in den Stillstand des Textes überführt werden muss – und so erst
59 Beide Zitate ebd., S. 86f. 60 Ebd., S. 87f. 61 Hallet/Neumann: Raum und Bewegung, S. 11.
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das Narrativ erzeugt. So ergibt sich ein doppeltes Verhältnis von literarischem Raum gegenüber Stillstand und Bewegung: Auf der einen Seite ist literarischer Raum ohne Bewegung gar nicht denkbar, weil es Bewegung ist, die literarische Handlung in Gang setzt, andererseits aber stellt sich jede narrative Semiotisierung von Bewegung als Kerbung heraus. Jede Erzählung führt zur Überführung von Bewegung in Stillstand, gleichzeitig ist diese potentiell problematisch, da das Subjekt in Bewegung grundsätzlich das Potential besitzt, einen anderen, nicht-semiotisierbaren und nicht-semiotisierenden Raum zu erzeugen. Hallet versteht daher die literarische Raumaneignung durch Erzählung als »›Übersetzung‹ nicht-diskursiver Semiotisierungen« und sieht darin auch das Potential jener von ihm als ›spatial fictions‹ bezeichneter Literatur, die diese Übersetzungen als Raumverhältnisse problematisieren, die die Überforderungen des Subjekts mit der Selektion und Raumkonstitution ausformulieren: Es sind die Bewegungen innerhalb von Texten, die in der Literatur problematisiert werden als narrative Ordnung und Ortung, als »ein Ringen um die ›richtige‹ Sprache, als Versuch einer angemessenen ›Übersetzung‹ aller möglichen Formen der Semiotisierung«.62 ›Spatial fictions‹ werden unter dieser Prämisse lesbar als »Umschaltstellen für Raumkonzepte«, wie Lobsien mit Bezug auf Hallets Text meint, die ihrerseits wiederum auf Umschaltstellen für Subjektkonzeptionen verweisen.63 Diese Umschaltstellen äußern sich im Verhältnis von Stillstand und Bewegung und machen auf den Umschlag, den Übergang von glatter Bewegung in gekerbten Text aufmerksam: »Nur das Semiotisierungspotenzial der Literatur ist in der Lage, den kulturellen Sinn hinter einer sinnentleerten Bewegungspraxis [...] freizulegen (oder zu konstituieren) und neue Kartierungsverfahren zu entwerfen; ohne die fictions of space entbehren kulturelle Räume eines Sinns.«64 ›Spatial fictions‹ werden damit zu Semiotisierungspraktiken narrativer Stabilisierungsversuche von potentiell destabilisierenden Bewegungen, die auf eine ganz andere Semiotisierung verweisen: Kaum ein Text kann »ohne die Darstellung von Bewegungen in Räumen auskommen, da alle Handlungen und Wahrnehmungen immer eine räumliche Dimension haben« – und so verweist die Semiotisierung von Bewegung grundsätzlich auf die Kerbung als narrative Praxis der Raum- wie Subjektkonstitution.65 Dass eine solche Semiotisierungspraxis allerdings auch fehlschlagen kann, ist bei Deleuze und Guattari wie bei Certeau, Ingold oder auch Lotman angelegt: Durch das Hinabsteigen vom World Trade Center, durch eine ›line on a walk‹ wird die Raumsignifikation suspendiert, da sich das wahrnehmende Subjekt in Bewe-
62 Hallet: Fictions of Space, S. 92. 63 Lobsien: Literatur und Raumbegriff, S. 167. 64 Hallet: Fictions of Space, S. 98. 65 Ebd., S. 107.
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gung setzt, zum Helden der Steppe wird und sich selbst zum Zeichen des Raums macht – oder, in der Terminologie Deleuzes und Guattaris: Das Subjekt unterwirft sich dem glatten Raum, begibt sich auf die Fluchtlinie des UnwahrnehmbarWerdens, es deterritorialisiert sich und kann nicht mehr vom Raum getrennt und damit zum Objekt der Anschauung werden: Dies nun bezeichnet das literarische Motiv des Verloren Gehens. Und in diesem Verloren Gehen liegt die Verhandlung von Stillstand und Bewegung in der Literatur begründet: Wenn sich in den ›spatial fictions‹ Raumkonstitution als Subjektkonstitution erweist, so werden die narrativen Raumaneignungen als Stillstand durch Kerbung ersichtlich. Demgegenüber besitzen Bewegungen das Potential, die Raumaneignung zu problematisieren, und zwar sowohl im Sinne Certeaus mittels Bewegung – genauer: der Fußgängerbewegung des Gehens – als widerständiger Praxis als auch im Sinne Deleuzes und Guattaris mittels eines Unwahrnehmbar-Werdens des Subjekts durch Bewegung im glatten Raum. Damit erlangen narrative Raumdarstellungen weitere Bedeutungsebenen, die über die Handlungskonstitution hinausweisen: Sie erhalten »allegorische, poetologische oder auch epistemologische Funktionen«; Räumlichkeit kann, wie Müller und Weber schreiben, »auf die Verfasstheit des literarischen Textes selbst bezogen sein«.66 ›Spatial fictions‹ selbst können damit ausweisen, dass sie ihre eigenen Semiotisierungspraktiken thematisieren, indem sie die Subjektposition des Stillstands problematisieren und ihr mit dem Verloren Gehen eine Bewegungsform gegenüberstellen, die die Subjektivierungspraktiken der Figuren zumindest problematisch werden oder gänzlich scheitern lassen. Hallet definiert ›spatial fictions‹ darum einerseits auf der Ebene der ›histoire‹ als »Handlungen und Raumpraktiken«, die nicht allein ein »setting, sondern [...] eine die Erzählung konstituierende handlungstreibende Dimension« darstellten, jedoch andererseits auch als »erzählerische Inszenierung von Raumnutzungen, Bewegungen und Raumwahrnehmungen sowie von raumkonstitutiven semiotischen und diskursiven Prozessen« im ›discours‹. Dadurch, so Hallet inszenierten ›spatial fictions‹ »Bewusstseinsvorgänge, die mit Raumsemiotisierungen [...] verbunden« seien, wodurch ihnen eigen sei, »räumliche Wirklichkeiten« zu problematisieren. Eine solche Problematisierung schließlich verweise auf eine doppelte Fiktionalisierung von Raum in den ›spatial fictions‹, einerseits auf die Inszenierung der »Fiktionalität von individuellen und kulturellen Raumkonstitutionen« und daran angeschlossen eben auch auf die Subjektkonstitutionen, andererseits machten sie »fiktionale Sinnorientierungsangebote an die Leser/innen«.67
66 Müller, Weber: Einleitung, S. 2f. 67 Hallet: Fictions of Space, S. 108.
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3.4 DREI UNTERSUCHUNGSEBENEN: ERZÄHLER/FIGUR, VERLOREN GEHEN, WEIẞE BLÄTTER Damit verweisen literarische Texte als ›spatial fictions‹ auf das dichotome Verhältnis von Stillstand und Bewegung durch den Modus der festlegenden Raumaneignung des Textes, in den jedoch die Problematisierung dieser Aneignung durch Bewegung eingeschrieben ist. Literatur bietet darum die Möglichkeit, so macht Bachmann-Medick in Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze deutlich, durch die Figurenbewegung »weg von der bloßen Repräsentation von Räumen in der Literatur, hin zur Raumwahrnehmung des Subjekts, zur Hervorbringung von Räumen« zu gelangen, was immer auch eine Verhandlung von Stillstand und Bewegung meint.68 Weil die Inkorporation dieser Beziehung dann sichtbar wird, wenn die Raumzustände, mit Hallet, ›de-naturalisiert‹ werden, ist es vor allem die Literatur der Moderne und Postmoderne als Kulminationspunkt der im Kapitel 1 angesprochenen Mängelwahrnehmung des Subjekts, die »seismographisch solche ›befremdlichen‹ und entfremdeten Raumwahrnehmungen und Praktiken der Raumkonstitution fiktional inszeniert«.69 Bachmann-Medick verweist darauf, dass eine solche literarische Thematisierung von Raum- und Subjektkonstitution bereits seit dem 18. Jahrhundert zu erkennen sei, vor allem in den »Verwerfungen, Brüchen und Störungen« vertikaler »Gegenbewegungen« in Gebirgen und Schluchten – die, so ließe sich ergänzen, wiederum ihren (post-)modernen Spiegel finden in Certeaus Abstieg vom Turm des World Trade Centers. Der Raum, so Bachmann-Medick, »entzieht sich der Kontrolle des Subjekts«, ganz grundsätzlich werde »im Zuge der globalen Raum-Zeit-Verdichtung [...] die Raumorientierung überhaupt gebrochen und verändert«.70 Einhergehend mit dieser Veränderung fand eine ›kulturelle Entwicklung‹ statt, wie Hallet und Bachmann-Medick mit Rückgriff auf Fredric Jameson konstatieren: Das Subjekt der Moderne und, vor allem, der Postmoderne, ist unfähig, sich selbst zu verorten, unfähig zur Selektion oder Naturalisierung der Raumwahrnehmungen: Die alten Hügel und Türme wurden abgetragen, gesprengt, die Suche nach neuen gestaltet sich schwierig.71 Genau diese Unfähigkeit ist es aber, die Certeau wie Deleuze und Guattari als Positivum fassen: Ein Unwillen gegenüber einer als überkommen angesehenen Subjektkonstitution, aus der Strategien einer neuen Raumwahrnehmung dank neuer Subjektivierung folgen. Certeaus Praktiken des Handelns, Ingolds Linien, Deleuze und Guattaris glatte Räume, Deterritorialisie-
68 Bachmann-Medick: Fort-Schritte, S. 259. 69 Hallet: Fictions of Space, S. 82. 70 Bachmann Medick: Fort-Schritte, S. 262. 71 Vgl. ebd.; Hallet: Fictions of Space, S. 82f.; Jameson: Postmodernism, S. 44.
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rungen und Fluchtlinien, sie alle haben die Priorisierung der Subjektformation fortschreitender, prozessualer Bewegung gegenüber dem Modell des Stillstands und Überblicks gemein. In der Literatur der ›spatial fictions‹ wird der Gegensatz von Stillstand und Bewegung auch deswegen signifikant, weil sie als Literatur grundsätzlich beide Zustände thematisiert und komplex verhandelt. Ein auf diese Weise weitergedachtes Konzept von ›spatial fictions‹ macht diesen Umstand bewusst und untersucht ihn sowohl in der ›histoire‹ wie auch im ›discours‹. So verhandeln ›spatial fictions‹ die Unfähigkeit respektive den Unwillen des (post-)modernen Subjekts, sich selbst in eine erhöhte Position zu begeben, um selbst eine kohärente Verortung des eigenen Ich im Raum zu erzeugen. Zugleich aber bieten ›spatial fictions‹ auch die Möglichkeit, Kritik an den Machtformationen der überblickenden Subjektivierungspraktiken zu formulieren und Auswege aus der kerbenden Subjektkonstitution aufzuzeigen, die besonders aus der Warte der in den letzten Kapiteln vorgestellten Raumtheorien als homogenisierend und ideologisch aufgeladen erscheint. An ihnen lässt sich in besonderem Maße zeigen, was Bachmann-Medick für Literatur im Allgemeinen feststellt: ›spatial fictions‹ können »die Ereignisse, Handlungen und vor allem Bewegungen ausdrücklich an Umschlagspunkten zeigen«.72 Dies macht sie besonders interessant für eine Untersuchung des Verhältnisses von Stillstand und Bewegung in literarischen Texten. Jedoch ist nicht jeder Text per definitionem eine ›spatial fiction‹ und nicht jede ›spatial fiction‹ gleich gut geeignet für eine Untersuchung. Zu einem hinreichenden Kriterium für die Untersuchung des Umschlagspunkts von Stillstand und Bewegung als raumgebendem Verfahren in literarischen Texten wird der raumsemantische wie raumsemiotische Unwille zur Subjektkonstitution durch stillstehende Raumkonstitution, die bewusste Thematisierung nicht nur einer problematischen Raumsemantik, sondern viel stärker noch der Wille zur figuralen Entsubjektivierung, zur Flucht vor dem durch textuelle Festschreibung ausgelösten Stillstand. Eine solche Perspektivierung bringt eine Reihe von Merkmalen mit sich, auf die eine Analyse besonders zu fokussieren hat. Eine gesteigerte analytische Aufmerksamkeit muss daher auf Narrativen liegen, die dem Text innerhalb seiner gekerbten Grenzen glatte Räume abringen, indem Bewegungen innerhalb der Diegese nicht in der Aufzeichnung stillgestellt werden, sondern darüber hinaus mit Bedeutung versehen werden, also nicht mehr nur raumsemantisch, sondern auch raumsemiotisch problematisch werden. Damit sind räumliche Verfahren gemeint, die dem gekerbten Text glatte Räume entgegenstellen und diese zurück auf die Figurenebene transportieren, indem Bewegung das Verschwinden, das Unwahrnehmbar-Werden, die Entsubjektivierung hervorruft. Als Grundlage für die Lektüre der Polarromane in Teil 2 dieser Arbeit werden im Folgenden mit dem Verhältnis zwischen Erzähler
72 Bachmann-Medick: Fort-Schritte, S. 274.
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und Figur, dem Verschwinden als Verloren Gehen und dem weißen Blatt Papier als leerem Raum drei Dimensionen der Analyse thematisiert, die von besonderer Signifikanz für die literarische Analyse der räumlichen Beschreibungsform von Stillstand und Bewegung sind. Das Verhältnis Erzähler/Figur Eine »Verklammerung« von Raumsemantik und Raumsemiotik, wie sie Lobsien für Untersuchungen der literarischen Räume fordert, muss die Erzähler der Texte in den Blick nehmen, nicht aber im Sinne eines narratologischen ›Modus der Beschreibung‹, sondern Erzähler und Figuren im Verhältnis von Erzählen und ErzähltWerden problematisieren.73 Schließlich sind es die Erzähler, die ihr Figurenpersonal aus der Distanz überblicken und erfassen – besonders jene, die aus auktorialer Position, von oben herab, erzählen. Ihnen, so lässt sich aus den bisherigen Überlegungen zum Zusammenhang von Subjekt und Raum als entscheidendem Prinzip der Verhandlung von Stillstand und Bewegung folgern, obliegt es, Bewegung in Stillstand zu übertragen, indem sie die glatten Räume figuraler Bewegung in gekerbte Texträume verwandeln, certeausche ›Routen‹ aus der Distanz aufzeichnen und sie in ›Karten‹ übertragen. Und im Umkehrschluss sind es die Figuren, deren Bewegungen aufgezeichnet und die somit gekerbt werden, die jedoch eben vor den Erzählern zu flüchten imstande sind oder zumindest das Potential beziehungsweise den Willen für solch eine Flucht in sich tragen. Eine solche Analyse hat weniger metaphorischen Gehalt als zunächst scheinen mag, entscheidend für ihr Gelingen ist die Thematisierung der Übertragung eines problematisierten Erzähler-FigurenVerhältnisses von der Handlungsebene in die Raumsemiotik. Es müssen jedoch, wie die Analysen im Laufe dieser Studie zeigen werden, nicht allein Texte herangezogen werden, die auktorial erzählt sind. Ein definitorisches Moment der ›spatial fictions‹ bei Hallet kann für diese Sichtweise herangezogen werden: Hallet geht davon aus, dass ›spatial fictions‹ »häufig durch intradiegetische oder extradiegetische Kommentare vorgefundene Raumbedeutungen und -praktiken« aufgreifen. Solche Kommentare können allerdings nicht nur, wie von Hallet beschrieben, »im Sinne alternativer Räume und Raumnutzungen als Gegenentwurf zur kulturellen Wirklichkeit« eingeführt werden – auch wenn dies von entscheidender Bedeutung für die Kritik an ›überkommenen‹ Raumwahrnehmungen sein kann.74 Intra- wie extradiegetische Kommentare bieten zudem auch die Möglichkeit, Neuperspektivierungen und Verlagerungen auf der Erzählebene zu verhandeln, das heißt Erzähler in Figuren zu verwandeln und umgekehrt. Auf diese
73 Lobsien: Literatur und Raumbegriff, S. 159. 74 Hallet: Fictions of Space, S. 108.
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Weise wird es in ›spatial fictions‹ möglich, Erzählungen zu kommentieren, zu ordnen oder auch zu konterkarieren.75 Solche Kommentare zeigen sich etwa als Para- und Metatexte – und finden sich in den Texten als Vorworte und Nachworte, eingeschobene Dokumente, Karten und Tagebucheinträge – und sind damit privilegierte Räume des Übergangs und Umschlags, Räume, die Übergänge und Verlagerungen bereits insofern verdeutlichen, als sie raumsemiotische Grenzzonen darstellen. Uwe Wirth hat exemplarisch gezeigt, inwiefern sich der »Raum zwischen Buchdeckel und Vorwort« als leerer – und das bedeutet: glatter – Raum erweisen kann, der von Buchstaben besiedelt und gekerbt wird und den Text sowohl abschließt als auch zugänglich macht. Damit angesprochen ist auch die Bewegung des Lesers in den fiktiven Text hinein. Sie wird enggeführt mit der Schreibbewegung des Autors, der »die wüsten leeren Seiten« des Buches durch Buchstaben kerben kann. Intra- wie extradiegetische Kommentare besitzen als Gegenräume also raumsemiotische Funktion: Sie sind Übergangszonen, die der Leser durchschreiten muss, um Zugang zu gewinnen, gleichzeitig wird der Leser mit der Möglichkeit konfrontiert, »dass die reale Außenwelt und die imaginäre respektive fiktionale Textinnenwelt gleichberechtigt nebeneinander existieren können« – und so werden die Raumwahrnehmungen beider Welten infrage gestellt: einerseits die der Außenwelt, der durch die Thematisierung der Räumlichkeit des Textes neue Bedeutungsebenen hinzugefügt werden, andererseits auch die der fiktionalen Innenwelt, die sich mithilfe der Kommentare als unzuverlässig und kritikwürdig erschließen lässt.76 Dass auch in den Text eingebaute Karten, fiktive Tagebucheinträge, dokumentarische Texte oder nichtfiktionale Reiseberichte eine solche Funktion einnehmen können und über die Textcollage eine Problematisierung des Festschreibens gegenüber beweglichen Figuren entsteht, werden die Analysen der beiden Polarromane The Narrative of Arthur Gordon Pym von Poe sowie Die Schrecken des Eises und der Finsternis von Ransmayr zeigen.77 Die folgenden Interpretationen werden darum eine genaue Analyse des Verhältnisses zwischen Erzählern und Figuren vornehmen und mit den Grenzen und Bruchstellen der Narrative jene raumsemiotischen Übergänge genau in den Blick nehmen, die den Beginn und das Ende von Erzählen und Erzählt-Werden markieren.
75 Vgl. Nünning: Raumdarstellung, S. 45f. 76 Wirth: Paratext, S. 168-171. 77 Hallets Überlegungen zu ›spatial fictions‹ beziehen sich größtenteils auf postmoderne Texte. Poes Roman als postmodern in diesem Sinne zu bezeichnen, ginge freilich zu weit. Jedoch zeigt sich in Arthur Gordon Pym exemplarisch eine proto-postmoderne Unsicherheit am Ich, eine Collage der Subjekt- wie Raumentwürfe, die beide gegenseitig verschränkt und problematisiert werden (vgl. TEIL II, Kap. 5, Anm. 9).
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Verloren Gehen Gegenüber dem Erzählt-Werden nämlich bietet sich den Figuren die Möglichkeit zur Flucht. Diese erlangt nun auf raumsemantischer Ebene in der Form des Gehens eine besondere Bedeutung für die Verhandlung von Stillstand und Bewegung. Bereits in den obigen raumtheoretischen Überlegungen ist das Gehen, die Fußgängerbewegung bei Certeau und Ingold, als aktive widerständige Praxis gegenüber dem festlegenden distanzierten Blick etabliert worden. Dabei galt das Gehen BachmannMedick zufolge bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als eine der »weitgehend selbstkontrollierten kulturellen Bewegungstechniken«, die es dem Subjekt erlaubte, als Bewegung von Punkt zu Punkt im ingoldschen Sinn Raum- und Selbstaneignung zu betreiben. So mangelt es der europäischen Literatur freilich auch nicht an Wandergeschichten und Reiseberichten, in denen Fußgängerbewegungen dazu genutzt werden, Raumaneignung zu betreiben, das heißt, Räume zu erobern, sie zu benennen, zu kartieren und zu kerben – es sei hier nochmals an Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux erinnert, welche das Genre der literarischen Landschaftsbegehung zuerst begründete. Jedoch bereits »im 18. Jahrhundert«, spätestens aber »[i]n der Literatur der Romantik« wird das Gehen eingesetzt, um »Gegenbewegungen, ja überhaupt ganz andere Raumvorstellungen freizusetzen«. Daneben tritt, wie detailliert im vierten Kapitel gezeigt wird, eine weitere Form der realen wie literarischen Raumaneignung, die Explorationsfahrt und mit ihr das – die Erschließung der nicht nur metaphorisch, sondern vor allem kartographisch letzten weißen Flecken der Erde vom 16. bis zum anbrechenden 20. Jahrhundert dominierende – ›Dispositiv der Entdeckung‹. Die Entdeckungsfahrten führen zusammen mit der Entwicklung der »technologischen Beschleunigungsmittel Eisenbahn, Auto oder Flugzeug« und dem unter den Vorzeichen des Kapitalismus global expandierenden Handel zu jener »Raumverdichtung«, von der Bachmann-Medick annimmt, dass sie für eine »Raumvernichtung« sorgt und dadurch eben die Raumaneignungspraktiken der Subjekte destabilisiert: »Gehen als überkommene Kulturtechnik wird jedenfalls mehr und mehr deplatziert«.78 Dadurch, dass das Gehen seine Bedeutung als Raumaneignung verloren hat, ist es frei für eine neue Signifikation; Gehen wird darum bei Certeau und Ingold, aber auch bei Deleuze und Guattari zu einer widerständigen Praxis des Herumirrens; die Fußgängerbewegung wird in diesen Raumtheorien – indem ihre Neusignifikation an eine alte, als ursprünglicher angenommene Bewegungsform der Nomaden und indigenen Stämme angeschlossen wird – zur Bewegung gegen die Subjektivierung durch den distanzierten Blick. Das Herumirren als Ausdruck der Unterwerfung unter die Zeichen des glatten Raums stellt die dem Stillstand gegenüberstehende Bewegung dar und ihr Ziel lässt
78 Bachmann-Medick: Fort-Schritte, S. 262f., 269.
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sich als Flucht begreifen, als certeausche Routenbildung, als ingoldsches ›wayfaring‹ und als deleuze-guattarische glatte Reise der Deterritorialisierung. Die Fußgängerbewegung dient dazu, das Subjekt zu entdifferenzieren und damit den Raum zu entzivilisieren. Ziel der Fußgängersubjekte ist es, sich gleich mit dem Raum zu machen, um dem Beobachterblick anderer Subjekte – im Wortsinne – zu entgehen, kurz: Das Ziel des Fußgängers im glatten Raum der Bewegung ist das Verloren Gehen. Als Bewegungsform ist es der zweckmäßigen Teleologie des Ziels beraubt und etabliert den Selbstzweck des Irrgangs gegenüber dem Stillstand als Raum- und Subjektkonstitution.79 In der Literatur kann das Verloren Gehen auf der Ebene der Raumsemantik mit einem Verschwinden aus der ›histoire‹ und damit einem Verschwinden aus dem Text assoziiert werden. So lange also Figuren – und unter Hinzunahme von intra- wie extradiegetischen Kommentaren auch: Erzähler – erzählt werden, sind sie gekerbt, können als Objekte wahrgenommen und vom Hintergrund unterschieden werden. Die Figuren der Lektüren, die sich für das Verloren Gehen entscheiden, versuchen gleichsam selbst zum Spatium zu werden und in den Lücken und Zwischenräumen des Textes zu verschwinden, nicht mehr aufzutauchen, sich auf eine Fluchtlinie des Unwahrnehmbar-Werdens zu begeben. Und ihre Erzähler? An ihnen, so scheint es, ist es, die Figuren nicht verschwinden zu lassen – und wenn sie denn schon verlorengegangen sind, sie wiederzufinden, zu kartographieren und in den Stillstand der gekerbten Erzählung zu überführen. Das raumsemantische Verloren Gehen und die Rückübertragung in das Narrativ stellen dabei nichts anderes dar als die Umschlagspunkte von Stillstand in Bewegung und wieder zurück in Stillstand. Die Figuren werden, um den für den zweiten Teil zentralen, von Certeau entlehnten Begriff der Analyse des Umschlagspunkts zwischen Stillstand und Bewegung in literarischen Texten hier anzudeuten, zu ›out-of-place elements‹, ihr Entzug aus dem Text erzeugt Leerstellen, die narrativ wieder gefüllt werden müssen. Ein Gelingen des Verloren Gehens, so werden die Lektüren zeigen, scheint dabei an den Raum gebunden zu sein: So gehen die Figuren Josef Mazzini und Arthur Gordon Pym in den Polarromanen Ransmayrs und Poes in die glatten Räume der Arktis und Antarktis ein, und doch sind ihre Fußgängerbewegungen weiterhin in
79 Damit ist für die Bewegungsform des Verloren Gehens grundsätzlich ausgeschlossen, dass es auch als Wanderung, Spaziergang, Pilgerreise oder ähnliches verstanden werden sollte, da diese jeweils zweckgebunden erscheinen. Allerdings können die genannten Bewegungsformen durchaus in ein Verloren Gehen übergehen, wenn sich die sie beschreitenden Subjekte des Zwecks entledigen und ihre Bewegung gegen eine Registrierung im Stillstand anwenden; vgl. zu den genannten Konzepten der Bewegung bspw. Albrecht/Kertscher: Wanderzwang; Dünne/Doetsch/Lüdeke: Von Pilgerwegen; Rothemann: Spazierengehen.
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ein sich selbst perpetuierendes Spiel von Erzählen und Erzählt-Werden eingebunden, welches das Entkommen aus dem Narrativ wiederum nur über die Entstehung neuer Narrative ermöglicht. Wenn Hallet bekräftigt, dass die Subjektivität die Raumsignifikation beeinflusst, weil jede Subjekt-Raum-Relation eine eigene Konstitution des Raums hervorruft, so markiert dies genau die Versuche der Erzähler, die als ›out-of-place elements‹ markierten, verschwundenen Figuren zurück in die Zeichenhaftigkeit zu bringen. Die Subjektivität auch des literarischen Raums, seine Rückbindung an die Perzeption des Subjekts, macht Raum in Bezug auf den Leseakt zudem zum intersubjektiven Aushandlungsort: Da Interaktionen im Raum interdependent sind, ist der literarische Raum auch Deutungskonflikten und Nutzungskonkurrenzen ausgesetzt. Dies macht ihn dynamisch im Sinne der Verhandlung von Stillstand und Bewegung und nimmt ihm statische Festlegungen, die dann auftreten, wenn nur eine Seite Machtstrukturen im Raum ausbildet – oder, im Falle des literarischen Textes: erzählt. Diese Dynamik der Konkurrenz zeigt sich am Umschlagspunkt zwischen Glattem und Gekerbtem, weil hier die Perspektivierung des Subjekts über die Konstitution des literarischen Raums entscheidet. Damit sind jene Bewegungspraktiken in der Literatur aufgerufen, die, wie Hallet meint, sich der empirischen Anschauung entziehen und Räume auf Imaginationsbasis miteinander verschalten: So kann der glatte Raum evoziert werden, auch wenn er nicht erzählt werden kann. Ein Scheitern von Raumkonstitutionen ist damit wiederum von der Perspektivierung des Subjekts abhängig. Denn wo das Narrativ in der ›histoire‹ ein Scheitern des Erzählers thematisieren kann, weil Figuren verschwunden bleiben und nicht zurückgeholt werden können, lässt der ›discours‹ auch die Lesart eines gelungenen Verloren Gehens als Eingang in den glatten Raum zu – so wird Raumwahrnehmung multisensorisch und multimodal, was sich auf der Ebene der Raumsemiotik auch in der Signifikation als Text beziehungsweise eben im Fehlen von Signifikation ausdrücken kann.80 Das weiße Blatt Papier Auf der Ebene der Raumsemantik wird das Verhältnis zwischen Erzähler und Figur im ›discours‹ über die Fußgängerbewegung des Verloren Gehens in der ›histoire‹ zum Verhältnis von Erzählen und der Flucht vor dem Erzählt-Werden; der Umschlagspunkt von Stillstand in Bewegung und vice versa zeigt sich in den Ausprägungen dieses Verhältnisses. Die narrative Konstruktion und Rekonstruktion von Räumen wird zum jedem Text inhärenten Kerbungsversuch der sich in den Texträumen befindlichen Subjekte. Einerseits löst das Verloren Gehen also ein Erzählen aus, andererseits problematisiert es das Erzählen dann, wenn die Figuren ver-
80 Vgl. Hallet: Fictions of Space, S. 89-91.
Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen | 151
schwunden bleiben. Das Auslösen der Handlung findet ganz im Sinne einer lotmanschen Grenzüberschreitung statt, nur dass es sich beim Verloren Gehen um einen Versuch handelt, nicht nur Grenzen innerhalb von Textsemiosphären zu überschreiten, sondern sich gleich in ein Außerhalb dieser Semiosphäre zu begeben. Nimmt man nun die Forderung nach einer Verklammerung von Raumsemantik und Raumsemiotik ernst, so müsste eine solche Ausschreibung auch auf der raumsemiotischen Ebene untersucht werden. Dabei werden textuelle Kompensationsstrategien zur Wiederherstellung von Stillstand in der geänderten Form der Textualität sichtbar: Sie zeigen sich in den bereits angesprochenen eingeschobenen Meta- und Paratexten, in Vor- wie Nachworten, in Bildern und Karten – und auch in Abbrüchen und Unterbrechungen des Textraums, in den Weißräumen und ›Whiteouts‹, die das weiße Blatt Papier mit dem glatten Raum gleichsetzen, das Verhältnis von Stillstand und Bewegung problematisieren und damit auch dem Leser eine doppelte Subjektivierung anbieten. Sabine Frost betont diese Funktion des Papiers für die Literatur, wenn sie es mit dem Schnee der Polargebiete gleichsetzt: »Die weiße Schriftfläche [...] referiert auf das noch unbeschriebene Blatt Papier als Inbegriff der Potentialität der Schrift sowie als Bedrohung der durch sie gesetzten Bedeutung. Die Rede von Schnee und verwandten Motiven in literarischen Texten ist gleichsam ein metaphorischer Metatext über die eigenen Entstehungsvoraussetzungen und die Zuschreibungen ihrer spezifisch schriftlichen Verfasstheit.«81
Das weiße Blatt Papier wird damit zu mehr als dem Hintergrund für den Text: es bietet sich als Gegenraum an, als Alternative: Es ist eine Bedrohung für den Text. Als Verloren Gehende werden semantische ›out-of-place elements‹ auch zu semiotischen, in der Kompensation der Versuche einer Fußgängerbewegung über die Textsemiosphärengrenze hinaus zeigen sich die Umschlagspunkte zwischen Stillstand und Bewegung. Diese erweisen sich als produktive Momente der Subjektivierungsleistungen, weil sie Räumlichkeit und damit literarische Handlung produzieren, reflektieren und dekonstruieren. Dies fällt wiederum besonders jenen Texten leicht, die bereits Stillstand und Bewegung vor einem weißen Hintergrund verhandeln und deren ganzes Genre einer Kaskade des Verschwindens, des Abbruchs und des Scheiterns gleichkommt. Wie kaum sonst in der Literatur thematisieren die ›spatial fictions‹ der Polargebiete das Verloren Gehen der Protagonisten und stellen daher Sinnbilder dar sowohl für das Scheitern von Raumaneignung wie auch für das Gelingen einer ganz anderen Art von Umgang mit Räumlichkeit.
81 Frost: Whiteout, S. 31.
TEIL II: In den Polargebieten
Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt. Fridtjof Nansen: In Nacht und Eis
4 Expeditionen ins Unbekannte: Karten, Reiseberichte, Polarliteratur
Mit Wolfgang Hallet konnten im letzten Kapitel des ersten Teils ›spatial fictions‹ als Untersuchungsbereich für die komplexe Vermittlung von Stillstand und Bewegung etabliert werden. Genauer gefasst sollen nun solche ›spatial fictions‹ in den Blick genommen werden, die, um mit Lobsien zu sprechen, nicht allein Stillstand und Bewegung raumsemantisch in ›histoire‹ wie ›discours‹ verhandeln, sondern vielmehr auch in ihrer Raumsemiotik sich mit der jedem literarischen Text inhärenten Festschreibung als Text auseinandersetzen. Das für eine solche Verhandlung konstitutive Motiv des Verloren Gehens, äußert sich dabei, so der bisher entwickelte Gedankengang, im je spezifischen Verhältnis von Erzähler zu Figur, wobei es auf die Negierung des Überblicks als Raumkonstitution durch Stillstand verweist. Etabliert wird darum der Blick auf eine individualpsychologische Subjektkonstitution, die ihrerseits der Generalisierung widerstrebt – da letztere ja wiederum als Absage an das Herumirren der Fußgängerbewegung verstanden werden muss – und sich im Verloren Gehen der Subjekte äußert, die den Texten abhandenkommen. Darum soll es in diesem Teil der Studie auch weniger um gattungstheoretische Überlegungen oder zusammenfassende Lektüren gehen als vielmehr um den Blick auf das jeweils spezifische Verhältnis, in dem sich festschreibende Erzähler und bewegliche Figuren befinden, mithin um das Verloren Gehen des Subjekts. Wenn also im Folgenden der literarische Diskurs der Polargebiete aufgegriffen wird, dann geschieht das mit dem Ziel, grundsätzliche Motive dieser Erzähltexte herauszuarbeiten und ihre Auswirkungen und Modifikationen in einzelnen Lektüren zu verdeutlichen. Dass die Wahl auf Romane gefallen ist, die Entdeckung und Eroberung der Polargebiete verhandeln, erklärt sich aus deren spezifischer Beschaffenheit, die sie für eine solche Analyse geradezu prädestiniert: So stellen die Polargebiete die vielleicht letzten wahrhaft unzivilisierten, glatten Räume par excellence dar, die einer zivilisierenden Kerbung auch deswegen entgegenstehen, weil sie die Wahrnehmung des Subjekts stören, die distanzierte Erzeugung von Überblick erschweren und damit Raum- und Subjektkonstitution problematisieren.
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Die Polarliteratur eignet sich allerdings auch darum für die oben skizzierte Analyse, weil in ihr Bewegung und Stillstand bevorzugt im Spannungsfeld einer versuchten und einer scheiternden Kerbung verhandelt werden, welche die der Literatur inhärente Kerbung auf der Handlungsebene einerseits verdoppelt und andererseits in Frage zu stellen imstande ist. Die Polargebiete sind privilegierte Orte für Einschreibungen von Spuren, die auf den Reisen zu den Polen sowohl als Fußstapfen, Schlitten- oder Reifenspuren im Schnee hinterlassen werden als auch als Aufzeichnungen, Bilder und gedruckte Texte, die auf den weißen Seiten von Kladden, Heften und Büchern sichtbar bleiben. Dies macht die Polargebiete zu einem – um einen Begriff Bettine Menkes, der sich im Verlauf dieses Kapitels als zentral erweisen wird, vorwegzunehmen – »Bibliotheksphänomen«.1 Sie sind jedoch auch Orte der ständigen Auslöschung dieser Spuren, von Eis und Schnee überlagerte und durch Aus- und Überschreibungen entstandene Palimpseste der Eroberung. Die in den folgenden Kapiteln untersuchten Polarromane The Narrative of Arthur Gordon Pym von Edgar Allan Poe sowie Die Schrecken des Eises und der Finsternis von Christoph Ransmayr sind als Zeugnisse solcher Tilgungen und Überschreibungen in ein ›Dispositiv der Entdeckung‹ eingebunden, das sich zuerst in anderen glatten Räumen erwiesen hat: auf den Weltmeeren. Auf den Ozeanen hat sich in der frühen Neuzeit zuerst gezeigt, was später auch für die Eroberung der Polargebiete gelten sollte: Die Entdeckung und Eroberung unbekannter Territorien speist sich in europäischer Tradition – und durchaus in einer eurozentristischen Selbstzuschreibung –2 aus einem Akt, der mit Jörg Dünne oder Richard Hoppe-Sailer als Die kartographische Imagination bzw. »kartographische Spekulation«3 bezeichnet werden kann: Karten dienen als Hilfsmittel der Raumaneignung; die noch unbekannten, unentdeckten Teile der Welt werden in Karten entweder ausgelassen als sprichwörtliche weiße Flecken oder die Kartographen zeichnen vermutete Landmassen, Küstenlinien, Meere ein und füllen diese mit mythischen Fabelwesen – hic sunt dracones. In solchen Auslassungen und Imaginationen zeigte sich nun die Verführungskraft der Karten: sie führten zu Expeditionen, die auszogen, um die weißen Flecken zu füllen und die mit neuen Entdeckungen, Karten und Berichten zurückkehrten, die nun wiederum zu neuen Karten, neu-
1 2
Menke: Polargebiete, S. 554. Die Fokussierung auf die europäische Tradition vernachlässigt notwendigerweise eine globale Kulturgeschichte der Entdeckung als Raumaneignung. Äußerst interessant wäre etwa auch eine Rekonstruktion etwa polynesischer Navigationsmethoden und Entdeckungsfahrten. Im Sinne des hier vorliegenden Diskurses der Aneignung der Polargebiete, der sich vor allem aus dem eurozentristischen Dispositiv der Entdeckung speist, muss jedoch darauf verzichtet werden.
3
Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 219.
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en Expeditionen, neuen Berichten führten – und immer auch zu neuer Literatur. Denn die Imaginationskraft der Karte hatte die literarische Verarbeitung der Expeditionen als Abenteuerliteratur ebenso zur Folge wie auch das spekulative Weiterdenken dessen, was hinter den bekannten Grenzen der Welt auf die Expeditionen warten möge, ein Imaginieren von Gefahren und Monstern, aber auch von paradiesischen Orten. In diesem Sinn zeigt sich die Eroberung der weißen Flecken der Welt in einem Dispositiv der Entdeckung, das heißt in der Verbindung von Expedition, Karte, dokumentarischem Bericht und fiktionaler Literatur, dessen Konstituenten einerseits auf die Exploration und andererseits auf deren wechselseitige Semiotisierung verweisen. Damit ist jede Entdeckungsfahrt eingespannt in das Dispositiv der Entdeckung und per se eine Reise nicht nur in den realen, sondern auch den schriftlichen und literarischen Spuren der Vorgänger. Die Erzählverfahren der »Nachfahr(t)en«, wie Hansjörg Bay und Wolfgang Struck diese Struktur nennen, sind ihrerseits wiederum abhängig vom Subjekt, aus dessen Perspektive sich die Eroberung des Raums speist.4 Denn mit der beginnenden Hochseeschifffahrt fand auf den Ozeanen, wie Ulrich Kinzel meint, auch die Geburt des modernen Orientierungsbedürfnisses statt, das sich als Verlängerung des Bedürfnisses nach Überblick, nach Subjektkonstitution durch Raumaneignung zeigen wird. 5 Es ist darum von grundlegender Bedeutung, zunächst diesem Dispositiv der Entdeckung auf den Weltmeeren nachzugehen, bevor ein Blick auf die Polarliteratur sui generis und abschließend die Einzelanalysen in den weiteren Kapiteln folgen. Mit der Bedeutung der Karte für das Dispositiv der Entdeckung ist auch eine kurz zu skizzierende Reflexion über die Kartizität von Literatur aufgerufen – allerdings nicht im Sinne eines dem ›topographical turn‹ verpflichteten ›mappings‹ der zu untersuchenden Texte, sondern vielmehr im Hinblick auf das, was mit Robert Stockhammer als Kennzeichen der literarischen Moderne zu fassen ist: die »Dekonstruktion von kartographischem Schreiben« durch das Verloren Gehen der Figuren im ewigen Eis der Polargebiete.6 »Das Emblem der nicht-kartierbaren Mo-
4
Bay/Struck: Vorwort, S. 9.
5
Vgl. Kinzel: Orientation.
6
Dünne: Imagination, S. 62; vgl. dazu auch Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 84-89. Karten existieren häufig als Beigabe zu literarischen Texten und bilden diejenigen Räume ab, in denen die Handlungen der Texte angesiedelt sind. Aus der breiten Auswahl an von Autoren selbstgezeichneten über im Lauf der Rezeptionsgeschichte hinzugegebenen bis hin zu von literaturwissenschaftlichen Analysen erstellten Kartenbeigaben der Literaturgeschichte folgert Stockhammer, dass sich nahezu jede Gattung kartieren lässt, vom realistischen Roman über Fantasy-Literatur bis hin zur Utopie: »All diese Karten unterstützen die räumliche Vorstellung vom repräsentierten Terrain und sichern die ›totale Kontrolle‹ darüber. Sie ermöglichen dem Autor, kohärente Ereignisse durch ihre ›richti-
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derne« ist nach Stockhammer die leere ›Ozeankarte‹, die sich in Lewis Carrolls Erzählung The Hunting of the Snark von 1876 wiederfindet und abgesehen von einer eindeutigen kartographischen Rahmung – den Himmelsrichtungen, den Polen, dem Äquator, Breiten- und Längengraden sowie einer Legende – in ihrem Inneren absolut nichts zeigt, »ein ›absolute blank‹, das keine Relationen mehr zu einem anderen Raum unterhält«. 7 Übrig bleibt, so Michael Glasmeier, »ein Nichts, das gerade durch die eindeutigen kartographischen Worte noch nichtsnutziger wird«.8 Die Darstellung des nichtsnutzigen Nichts auf einer Karte erzeugt einen verabsolutierten glatten Raum, »indem er ihn aus jeder Beziehung zu einem andernorts vielleicht anzutreffenden gekerbten Raum entkoppelt. Dieser absolut glatte Raum funktioniert wie eine konkrete Negation des absolut gekerbten Raumes«, wie ihn die zur detaillierten Perfektion gebrachten Weltkarten darstellen.9 Im Sinne des absolut glatten Raums ist die Karte Carrolls jedoch »der eigentlichen Erfahrung auf dem Meer näher als jede noch so genaue Kartographie«.10 Es ist darum nach Stockhammer gerade der nicht-kartierbare Raum, der »eine Einsicht in die Bedingungen und Grenzen der Kartierung ermöglicht. Es gibt ihn nicht auf Karten, aber in der Literatur«.11 Die Frage nach der Kartizität von Literatur und der Bedeutung des Nicht-Kartierbaren geht einher mit der Frage nach der kartierenden und mithin kerbenden Leistung der Literatur selbst. In den Romanen, die in den folgenden Kapiteln analysiert werden, tritt die Karte in den Hintergrund zugunsten des nicht-kartierbaren, verloren gehenden Subjekts. So rekurrieren zwar sowohl Die Schrecken des Eises und der Finsternis als auch Arthur Gordon Pym auf der Handlungsebene zuweilen auf Karten, für die Untersuchung von Stillstand und Bewegung ist jedoch von entscheidender Bedeutung, inwiefern die Figuren durch ihre Absenz im Text eine raumsemantische wie raumsemiotische Inkorporation der Nicht-Kartierbarkeit schaffen,
ge‹ Verortung zu erfinden, und dem Leser, diese Ereignisse durch ihre Verortung zu ›verifizieren‹« (ebd., S. 63). Die Plausibilisierungsstrategie der literarischen Karte ruft damit den Überblick und die durch ihn erreichte Kontrolle über den Raum auf: Wer als Autor eine Karte erstellt, bewegt sich einkerbend, löscht die Bewegung aus und stellt Überblick her. Wem als Leser eine Karte zur Verfügung steht, der ist fähig, sich im Textraum zu orientieren. 7
Ebd., S. 84f. Georges Perec, der im vorangehenden Kapitel bereits im Hinblick auf seine Überlegungen zur kerbenden, raumsemiotischen Dimension von literarischen Texten angeführt wurde, stellt die Karte Carrolls seiner Meditation Träume von Räumen passenderweise voran (vgl. Perec: Träume von Räumen, S. 7).
8
Glasmeier: Leere, S. 78.
9
Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 85.
10 Glasmeier: Leere, S. 79. 11 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 209.
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die sich als nicht-narrative Manifestation des glatten Raums paradoxerweise gerade im Narrativ erweisen kann.12 Von größter Bedeutung für die Analyse der Romane ist darum die Verhandlung des Scheiterns von Erzählern und Figuren in den Texten: Wenn Figuren auf dem Weg zu ihrem jeweiligen Ziel verschwinden und Erzähler diese Figuren narrativ auserzählen und damit zurückholen möchten, so stellen sich am Ende sowohl im Hinblick auf Ransmayrs als auch auf Poes Roman die Fragen: Wer scheitert? Und: Was glückt? Zur Beantwortung dieser für die Verhandlung der Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung in den Narrativen der Polarliteratur so zentralen Fragen greift diese Studie einen Begriff auf, der aus Michel de Certeaus Abhandlung Writing the Sea entlehnt, in seiner Bedeutung aber entscheidend erweitert wird: Die Romane, so die im Verlauf dieses Kapitels entwickelte Überlegung, speisen sich aus der Schaffung und Verhandlung eines »out-of-place element«, das, verkörpert durch den Verloren Gehenden – beziehungsweise genauer: durch dessen Absenz im Text – nicht nur das Bibliotheksphänomen der Polargebiete im Dispositiv der Entdeckung aufgreift, sondern auch die Bewegungsform des Herumirrens als (Ent-)Subjektivierungsmaßnahme gegen die erzählerische Festschreibung etabliert.13 Auf diese Weise wird das Verhältnis von Stillstand und Bewegung im Medium der Literatur zugunsten der Bewegung rehierarchisiert und bleibt dennoch Literatur: Das Verloren Gehen als Scheitern der Entdeckung erweist sich als Ausdruck einer Vermittlung von Stillstand und Bewegung, als Motor des Erzählens aus und von glatten Räumen und damit als Literatur der Bewegung. Diese Analysen vorbereitend soll jedoch zunächst das Dispositiv der Entdeckung in den Blick genommen werden. Zur Folge hat dies eine Analyse von Subjektivierungsformen, die sich aus dem Erstellen von und dem Blicken auf Karten und Reiseberichte ergeben und rückgebunden werden können an die Überlegungen zur Raumkonstitution durch Perspektivierung im Spannungsfeld von Stillstand und Bewegung. Dabei kommt der Karte als Auslöser, Vermittler und Folge von Entdeckungsreise, Reisebericht und Literatur im Dispositiv der Entdeckung eine zentrale Rolle zu. Im Dispositiv der Entdeckung, so wird sich zeigen, ist die literarische Verhandlung von Stillstand und Bewegung begründet, seine Entschlüsselung kann dazu beitragen, einerseits die Aneignungsprozesse der Arktis sowohl in der Expedition wie auch in ihrer Mediatisie-
12 Zur Entwicklung der Inkorporation von Raumsemantik und Raumsemiotik in eine Analyse von ›spatial fictions‹ vgl. TEIL I, Kap. 3.3 ›Spatial fictions‹: Literarischer Raum und die Bewegung des Subjekts in dieser Arbeit. 13 WtS, S. 142. Im Original zuerst auf Französisch erschienen als Vorwort Écrire la mer zu Jules Vernes Les grands navigateurs du XVIIIe siècle (vgl. Certeau: Écrire la mer). Diese Studie stützt sich auf die englische Übersetzung von Certeaus Überlegungen, zur Begründung vgl. Anm. 103 dieses Kapitels.
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rung verständlich zu machen und andererseits propädeutisch zu bestimmen, inwiefern Literatur in diese Aneignungsprozesse eingebunden respektive sich davon zu lösen imstande ist.
4.1 DIE TOTENSTARRE DES RAUMS UND DAS DISPOSITIV DER ENTDECKUNG Bereits im ersten Teil war die Karte in Bezug auf die Topographie sowie als Mittel der Subjektkonstitution durch Einnahme einer Überblicksposition in den Fokus der Analyse geraten. Blickt man unter dem Gesichtspunkt des Dispositivs der Entdeckung nun erneut auf die Kartographie, so soll sie mit Andrea Sick »als Raum bildende und Raum wiedergebende Technik« und damit gleichzeitig »als Auszeichnung und als Aufzeichnung von Räumen« verstanden werden.14 Zudem lässt sich die Kartographie nach Hartmut Böhme – der sich explizit auf Deleuzes und Guattaris Überlegungen zum gekerbten Raum bezieht – als eine grundsätzliche, ursprüngliche und zivilisierende Kulturtechnik auffassen: »Kulturen sind [...] zuerst Topographien, Raumkerbungen, Raumschriften, Raumzeichnungen.«15 Das Erstellen von Karten als Verwandlung von Wahrnehmung in Zeichen, die Semiotisierung, kerbt also den Raum, ordnet die Verhältnisse und lässt dadurch auch erst kulturelle Topographien entstehen. 16 Karten sind, so Dünne, »Dispositive der Verräumlichung«, die nicht notwendigerweise selbst »räumlich strukturierte[...] Sach-
14 Sick: Auszeichnen, S. 341. Die Genealogie der Karte als Medium der Raumwahrnehmung und -aneignung ist im jungen dritten Jahrtausend zum Schwerpunkt literatur- wie kulturwissenschaftlicher Arbeit geworden. Den so umfangreichen wie informativen Ausführungen zu technologischer Differenzierung und gesellschaftlicher Bedeutung verschiedener kartographischer Methoden etwa bei Dünne, Hoppe-Sailer, Stockhammer, Philippe Despoix oder Frank Lestringant die alle je unter besonderer Perspektivierung und unter Rückgriff auf weitere historisch-geographische Überblicke die Entwicklung der Karte von der ersten topographischen Abbildung um 3800 v. Chr. bis hin zur abstrakt-positionellen GPS-Bestimmung in heutigen Tagen nachvollziehen, ist in diesem Sinne wenig hinzuzufügen. Stattdessen wird die Karte bzw. die Kartographie zusammen mit dem autoptischen Reisebericht als Teil des Dispositivs der Entdeckung und Aneignung von Räumen verhandelt, das die zentrale Vorstufe und Inspirationsquelle fiktionalisierter Polarliteratur darstellt. 15 Böhme: Einleitung, S. XVIII. 16 Böhme fasst die Eigenschaften dieser erzeichneten kulturellen Topographien in elf Stichpunkten zusammen, die sich besonders mit der semiotischen Dimension der Karte auseinandersetzen; vgl. ebd., S. XIX-XX.
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verhalte[...]« semiotisieren, aber grundsätzlich eine »doppelte Artikulation« von Ordnung und Ortung vollziehen: So besitzen sie einen »gleichursprünglichen« Bezug einerseits zum durch sie bezeichneten Territorium, »der einem Punkt auf der Karte einen Ort ›im‹ Raum zuweist« und damit auf »der Suggestion einer ›stabilen‹ territorialen Verortbarkeit« beruht, und der andererseits gleichzeitig die politische Funktion einer durch die Karte etablierten »quasi-natürliche[n] Verfügbarkeit über das korrespondiere Territorium« erfüllt, indem er das Territorium einer perspektivierten Ordnung unterwirft.17 Indem Karten also Räume aufzeichnen, zeichnen sie sie auch als Territorium aus, das der Kontrolle der Karte – und, Reiffers Überlegungen zum Blick einbeziehend, der Fiktion des auf die Karte von oben blickenden Subjekts – unterliegt; Karten schaffen (re-)territorialisierte Räume, die Franco Farinelli zufolge als ›rigor mortis‹, Totenstarre, verstanden werden können. So sei die von der Karte erzeugte Territorialität eigentlich als ›terror‹ zu verstehen – und nicht etwa von ›terra‹, also dem Land, abgeleitet –, weil die Karte als Territorium den Prozess der Raumaneignung in eine Totenstarre überführe, »transforming the living world into a dead geometrical scheme [...]; rigor mortis only allows the measurement of what was once alive but is no more«.18 Diese Aussage über das Raumverständnis korrespondiert freilich mit Certeaus Annahme, die aus der erhöhten Blickposition erzeugte Karte könne immer nur die aus ihr getilgte Bewegung in Spuren semiotisieren, wobei »nur noch ein Überrest wahrnehmbar [wird], der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird«, dass also »[d]ie sichtbare Projektion [...] gerade den Vorgang unsichtbar [macht], der sie ermöglicht hat«.19 Wenn Kartierung im Folgenden nun unter einer doppelten Perspektive thematisiert werden soll, das heißt unter der Prämisse der Verhandlung von Stillstand und Bewegung im Medium einerseits der kartographischen Auszeichnung und anderer-
17 Alle Zitate Dünne: Imagination, S. 21, 33, 36f. 18 Farinelli: Map Knowledge, S. 33. Farinelli, dem es um eine Kritik an der kartographischen Benennung als Mittel zur Ökonomisierung der Welt geht, leitet diese Definition her vom mittelalterlichen Juristen Bartolo de Saxoferrato, mit dessen »›Tiberiade‹« er den Moment bestimmt, »when the territory, in medieval times, became a map«. Farinelli zufolge korrespondiert darum das Verständnis der Karte als ›rigor mortis‹ mit der antiken Vorstellung einer Welt als prozessualem Werden, was er anhand der ersten bekannten Weltkarte des Anaximander erläutert: »For the Greeks, nature was not a combined group of things, but an ongoing perpetual process; nature was movement. From this perspective, Anaximander’s project appeared scandalous because it aimed at immolating Earth by delving into the knowledge (of the dominion) of Earth itself. It is only because [...] the Earth becomes a corpse that the rigour (the rigidity) of death becomes the equivalent of the rigour of science« (beide Zitate ebd.). 19 KdH, S. 188f.
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seits der Aufzeichnung von Raum, dann müsste die Karte allerdings auch andere Qualitäten aufweisen, die prozessuale Bewegung inkorporieren, ohne sie festzustellen, und gleichsam über die Totenstarre des Raums hinausweisen. Certeau macht in seiner Version einer Entwicklungsgeschichte der Kartographie auf solch andere, verlorengegangene Qualitäten aufmerksam, weil er den abstrakten Karten der Neuzeit ältere, nun verdrängte Karten als Handlungsgeographien gegenüberstellt.20 Und auch Deleuze und Guattari unterscheiden zwei Arten der Kartographie, indem sie einen »einfachen Dualismus« konstruieren und »Karten und Kopien als gut und böse gegenüberstellen«: In einer recht eigenwilligen Umkehrung der geläufigen Bezeichnung verstehen sie die Karte (carte) als performative Zeichnung und Konstruktion rhizomatischer Strukturen, der gegenüber sie als »Abziehbild[...]« die Kopie (calque) positionieren, die »unendlich reproduzierbar« sei und dadurch die »Logik des Baumes« aufgreife.21 Certeau wie Deleuze und Guattari beziehen sich innerhalb ihrer positiven Wertungen dabei auf alte Karten, die nicht kategorial, sondern relational zu verstehen sind: »In diesem Sinn wäre die alte Karte mit der performativen Funktion der Sprache in Beziehung zu setzen«, wohingegen die neuen Karten auf die Schrift und den gedruckten Text rekurrierten.22 Dieser performative Aspekt der Karte, der Deleuze und Guattari zufolge als »ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit« verstanden werden muss, verweist nun sowohl auf die von Deleuze getroffene und bereits im letzten Teil diskutierte Unterscheidung von Schrift und Text als auch auf das von Sick eingebrachte und oben bereits erwähnte kartographische Verfahren des ›Auszeichnens‹ von
20 Vgl. ebd., S. 220-226. 21 TP, S. 23f. Zur Unterscheidung von Karte und Kopie vgl. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 57f. West-Pavlov zufolge resoniert die Umkehr der üblichen Bedeutung von Karte mit »pre-modern, pre-technical map-marking practices« (West-Pavlov: Space in Theory, S. 224). Dass die von Deleuze und Guattari vorgenommene Umkehr der Begrifflichkeiten Zuschreibungen der Eigenschaften von glatten und gekerbten Räumen aufnimmt – ›carte‹ lässt sich zurückführen auf das griechische ›chartès‹ und verweist auf das noch unbeschriebene Blatt, wohingegen der Begriff ›mappa‹, der freilich nicht von Deleuze und Guattari aufgegriffen wird, auf Stoff und Gewebe und damit auf eine Kerbung rekurriert –, mag Zufall sein, ist aber bezeichnend für die Omnipräsenz der dualistischen Attribuierungen des Glatten und des Gekerbten im Denken von Deleuze und Guattari. Zur etymologischen Entwicklung der Begriffe Kartographie und Karte vgl. auch Dünne: Imagination, S. 60. 22 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 32. Certeaus Gleichsetzung von Bewegung mit Sprechakt erscheint damit gewissermaßen kartographisch motiviert (vgl. dazu auch TEIL I, Kap. 3, S. 127f. in dieser Arbeit).
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Raum.23 Damit schreibt Sick Kartierungsprozessen als Semiotisierungen eine Prozessualität zu, die sich im Erstellen der Karte manifestiere: »Mit dem Auszeichnen oder Markieren von Räumen wird [...] ein Prozess hervorgehoben, der fortwährend den Raum durchmisst und zeichnet. Im Auszeichnen wird der Raum durchquert, hergestellt und zugleich seine Konstitution zur Erscheinung gebracht.« Dieses von ihr als »Rastern« bezeichnete Verfahren ist nun seinerseits nichts anderes als eine Kerbung durch Messung und Aufzeichnung und evoziert damit postwendend wiederum die Totenstarre des Raums, gleichzeitig aber betont Sick mit dem Auszeichnen auch einen aktiven Umgang, »der räumt; der Räume schafft, segmentiert, als Flächen aufbaut«. Ihr geht es darum, »das Kartographische als eine singuläre Kategorie des Denkens zu verstehen«,24 welche, mit Dünne gesprochen, »einen spezifischen semiotischen Überschuss« produziert, der »eigene Regeln hinsichtlich der semiotischen Prozesse und somit eine Operationalität anderer Art besitzt«. Diesen Überschuss sieht Dünne in eben jenem Prozess verwirklicht, den er als kartographische Imagination bezeichnet. Entscheidend an dieser Überlegung ist nun, dass die kartographische Imagination nicht allein als Konsequenz einer wie auch immer gearteten Semiotisierungsleistung als doppelter Artikulation verstanden werden muss, sondern vielmehr als spezifisch »historisches Dispositiv zur Konstitution von literarischen Räumen« – womit also die Literatur zum prädestinierten Schlüssel dieses prozessual verstandenen Überschusses der Karte würde.25 So ist die kartographische Imagination als Verbindung von Karte und Literatur einerseits in der Erinnerungs- und Erzählfunktion von Karten zu suchen, andererseits in der Verschränkung von Karte und Text und genauer: wiederum im bereits in Kapitel 2 thematisierten, Kerbung signalisierenden Wortsinn von ›gráphein‹, das die »technischen Formen« der »drei Bereiche Schrift (im engeren Sinn als Alphabetschrift), Bild (die ikonische Zeichnung) und Zahl (das geometrisch konstruierte Diagramm)« umschließt.26 Diese beiden Stränge der Verbindung von Karte und Literatur werden häufig – so etwa von Certeau – als Entwicklung von der Karte als Mittel der subjektiven, erfahrungs- und erinnerungsgesteuerten Orientierung hin zur Abstraktion der Positionsbestimmung in einem »mathematisierte[n] Bild der Erde« in Beziehung gesetzt: Die ursprünglichen Karten – respektive Orientierungshilfen wie die von Hoppe-Sailer in diesem Zusammenhang erwähnten eingeritzten Holzinstrumente der Inuit – waren »durch einen engen Bezug zur Natur geprägt, deren Formen sich in den Geräten selbst unmittelbar niederschlugen«.27 Mit den kartogra-
23 TP, S. 24. 24 Alle Zitate Sick: Auszeichnen, S. 342. 25 Beide Zitate Dünne: Imagination, S. 43, 371. 26 Ebd., S. 60. 27 Beide Zitate Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 207f.
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phischen Formen der Antike, den hellenischen Karten des Anaximander und des Klaudios Ptolemaios sowie den römischen relationalen Wegekarten verschiebt sich der reine Naturbezug hin zu einem historischen Überblick: Von der Antike über das Mittelalter bis zur Schwelle der Neuzeit stellt die Karte in diesem Sinne eine »totale geschichtliche Erinnerung« dar und fungiert »noch an der Schwelle zum 17. Jahrhundert als das ›künstliche Gedächtnis der Geschichte‹«, wie Frank Lestringant meint.28 So finden sich auf mittelalterlichen Karten, etwa den ›mappae mundi‹, weniger exakte topographische Repräsentationen als vielmehr die Wegbeschreibungen einer mehrschichtigen Handlungsgeographie, die durch Personen, Schiffe oder Tiere, aber auch durch Kommentare auf der Karte repräsentiert werden; diese Karten beginnen, die auf ihnen dargestellten Wege zu erzählen und damit zu historisieren.29 In diesem Sinn verweist Stockhammer auf die umgekehrte Verbindung von Erzählung und Karte durch das Lesen: »Für die Leitmetapher der Karte als Text spricht zunächst, dass auch Karten gelesen werden [...]. Eines der meistverwendeten Wörter für Karten, für die sich erst relativ spät ein stabiles Wort einbürgerte, lautet descriptio« – Beschreibung.30 Auf mittelalterlichen Karten scheint dies vor allem eine Beschreibung der Erfahrung im Umgang mit dem Raum zu sein, wie Certeau meint: »Weit davon entfernt, ›Illustrationen‹ oder bildliche Kommentare zu sein, bezeichnen diese Abbildungen wie die Bruchstücke von Erzählungen auf der Karte die historischen Aktivitäten, aus denen sie hervorgegangen ist.«31 Gleichzeitig öffnet sich mit dem Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, der ja bereits mit Petrarcas Mont-Ventoux-Besteigung als Übergang der Herausbildung des Überblickssubjekts markiert wurde, auch die Kartenwelt: »In der Renaissance findet eine wahrhafte geographische Revolution statt, die vom Geschlossenen zum Offenen geht, vom Vollen zum Leeren und von einer einheitlichen und festen Welt zu
28 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 8. 29 Für diese Art der mittelalterlichen Karten fasst Ute Schneider zusammen: »Es ist nicht die geographische Lage eines Ortes, die über seine Position auf der Karte entscheidet, sondern vielmehr seine Bedeutung im Kontext von Universal- und Heilsgeschichte« (Schneider: Macht der Karten, S. 27). So ist etwa der Weg des Pilgers nach Jerusalem auf ›mappae mundi‹, wie zum Beispiel der Hereford-Karte, ebenso angesprochen wie der des als ganz historisch verstandene Auszugs des Volks Israel aus Ägypten oder Episoden der Mythologie. Auf die Narrativik der ›mappae mundi‹ weist auch Böhme: Einleitung, S. XIX hin. Dass die ›mappae‹ nicht das Ziel hatten, eine exakte topographische Repräsentation zu leisten, macht die Existenz der komplementären Gattung von ›Handreichungen‹ zur Reise deutlich: die der Itinerare. 30 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 53; vgl. dazu auch Dünne: Imagination, S. 60. 31 KdH, S. 224.
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einer Pluralität instabiler Welten.«32 Die Karten der frühen Neuzeit fungieren Lestringant zufolge nun nicht mehr nur als allumfassendes Gedächtnis, im Rahmen einer ars memoriae, sondern auch als Motor für die Imagination des Kartenlesers – die Karte »ist in dieser Hinsicht eine Erzählmatrix«. Der Kartenleser, so Lestringant, könne »immer neue Geschichten aus ihr herauslesen: Erzählungen von tatsächlichen, historischen, aber auch von nur vorgestellten Ereignissen, poetische [...] Funktionen«. 33 Zur gleichen Zeit aber, so konstatiert Certeau, »verselbstständigt sich die Karte«, löst sie sich von ihrer bis dahin vorherrschenden Funktion, nämlich der Darstellung einer Handlungsgeographie, und bewegt sich hin zur Kolonisierung des Raums.34 So tilgte die Karte im Laufe der Zeit nach und nach die noch auf ihr verbliebenen Wegbeschreibungen, mit deren Hilfe sie anfangs orientiert gewesen war.35 Ab dem 17. Jahrhundert schickte sich die Kartographie Hoppe-Sailer zufolge also an, »nicht nur unser Bild der Welt aufzuzeichnen, sondern sich unmittelbar an seiner Erweiterung und Veränderung zu beteiligen. Hier ist kein Platz mehr für die mythologischen Figuren der mittelalterlichen Weltkarten, die weißen Flecken werden gekennzeichnet und es gilt sie zu kartieren.«36
Aus einem Instrument zur Reisebeschreibung wurde so mit der Zeit eine exakte Repräsentation topographischer Gegebenheiten, welche zielgenaue Expeditionen erst ermöglichte. Karten wurden in dem Maße abstrakt, in welchem der Mensch die vollständige Erschließung und Erforschung der Welt anstrebte; ein Streben, das nach Hans Blumenberg getrieben war von der »theoretischen Neugierde«, die zur Begründung der modernen Wissenschaften wurde. 37 In diesem Zeitalter des aufkommenden Rationalismus wurde also die Karte sowohl zum Symptom als auch zum Hilfsmittel der Naturphilosophie, einer Vorstufe zum Empirismus der moder-
32 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 7; zur parallel verlaufenden und damit sicherlich in Zusammenhang stehenden Herausbildung des neuzeitlichen Subjekts vgl. auch TEIL 1, Kap. 1, S. 52-58. 33 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 13; vgl. dazu auch Dünne: Imagination, S. 58. 34 KdH, S. 224. 35 Stockhammer weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Wortes Orient als Osten hin. Frühe Karten waren durch Sprache oftmals ›geostet‹, erst in der Frühen Neuzeit setzte sich die Nordung von Karten durch (vgl. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 53). 36 Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 215. 37 Blumenberg: Prozeß, S. 17.
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nen Naturwissenschaften. Als eines ihrer wesentlichen Ziele gibt Despoix die »Beschreibung des Universums durch die Mechanik der Himmelskörper und das Anfertigen einer Sternen- und Erdkarte« an. So formulierte die Naturphilosophie ein »Programm der Erkenntnis als ›Entdeckung und Eroberung‹«,38 Karten wurden zu »Instrumente[n] der räumlichen Disziplinierung« und damit zum Hilfsmittel des raum- wie subjektkonstitutiven Blicks von oben durch eine nun immer vollständiger werdende Metrisierung und Kartierung der Erde.39 Mit der Entwicklung dieser ›neuen‹ Kartographie, so merkt Dünne zu Lestringant an, vollziehe sich auch »ein Umbruch im Denken des ›Menschen‹«, es entfalte »sich im Zuge der Reisen über die Ränder der ›Alten Welt‹ hinaus [...] eine zunehmend ›horizontale‹ Bestandsaufnahme unterschiedlicher menschlicher Zivilisationen [...]«.40 Folge dieser Entwicklung war ein Drang, auch diejenigen Räume, die nicht zivilisiert, ja zum Teil noch nicht einmal bekannt waren, zu entdecken, zu erobern und einzukerben – auch dieser Drang ist, wie noch zu zeigen sein wird, eine Folge der kartographischen Imagination. Die Expedition als Pendant der Kartierung erlebte, ausgehend von der Möglichkeit immer genauerer Messungen als ihrem »wissenschaftliche[n] und technische[n] Apriori«, im 18. Jahrhundert einen großen Aufschwung und zog wiederum eine ganze Reihe neuer Karten nach sich, die den weißen Flecken abgerungen worden waren. 41 Die Welt des »Zeitalter[s] der Entdeckung« war nicht nur »kartierbar« geworden, es waren Karten, die jenes Zeitalter der Entdeckung zu begründen halfen.42 Die Möglichkeit einer genauen Positionsbestimmung auf einer Karte fiel Despoix zufolge als Konsequenz der Öffnung der Welt zusammen mit dem von der Naturphilosophie »bezeugten Willen, das Tableau der Kenntnisse zu vervollständigen«.43 So wurde die Entdeckungsreise einer Systematik der Eroberung und Kerbung der noch bestehenden glatten Räume eingeschrieben, zur Tilgung der weißen Flecken auf der Weltkarte. Kinzel sieht diese Programme als Konsequenz eines »oceanic turn of occidental culture«, der seinen Anfang im 16. Jahrhundert genommen hatte. Zuvor war die Befahrung der Ozeane, als Zeichen des Unzivilisierten, für die Seefahrt noch Tabu gewesen, was sich im Verständnis der Säulen des Herakles als Ende der Welt niederschlug. Jener Berge also, welche die Straße von Gibraltar einfassen und an denen Herakles der Legende jenes ›bis hierhin und nicht weiter‹ anbrachte, das in der latinisierten Version als ›nec plus ultra‹ Eingang in
38 Beide Zitate Despoix: Die Welt vermessen, S. 25. 39 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 56. 40 Dünne: Nachwort, S. 184. 41 Despoix: Die Welt vermessen, S. 40. 42 Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 214. 43 Despoix: Die Welt vermessen, S. 30.
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zahlreiche Diskurse fand.44 Der Bruch dieses Tabus durch die Hochseeschifffahrt, die die Küstenschifffahrt von Hafen zu Hafen im Verlauf des 16. Jahrhunderts nach und nach ablöste, geht einher einerseits mit einem neuzeitlichen Orientierungsbedürfnis, das im Zusammenhang steht mit dem Wunsch nach Überblick, welches nach Reiffers die moderne Subjektkonstitution kennzeichnet, andererseits mit der naturphilosophischen ›curiositas‹, die nach Blumenberg das transgressive Prinzip des ›plus ultra‹ in der frühen Neuzeit entscheidend vorantrieb. 45 Das aus diesen entwickelte, neuzeitliche Orientierungsbewusstsein speiste sich aus dem neugewonnenen Zusammenspiel aus Position, Route und Situation: »the combination of position with route defined navigation as one type of orientation; the other being experience, the interference of situation and route«. Die Kartographie – genauer: die Navigationshilfsmittel der Längen- und Breitengrade, die ja ebenso von Deleuze und Guattari als Kerbungsmittel angeführt werden – erlaubte es Reisenden, sich auch auf den Ozeanen zu orientieren, wenn auch nur mittels eines ›mapping‹ virtueller Realitäten: »The situation of the maritime, modern subject is combined with the scientific problem of mapping something [...] which does not [...] yield to any visible shape or trace. It seems as if writing the ocean can only claim a virtual reality.« War die vormoderne Tradition der Orientierung also dem Hafen zugewandt, so wandten sich die Entdecker dank der durch Karten gesicherten Navigation mehr und mehr dem offenen Ozean zu. Die Kunst der Navigation stellte in diesem Sinn ein Mittel dar, um zwei zentrale Probleme zu bewältigen: die Überquerung des Ozeans sowie die absolute Kontingenzerfahrung auf dem Ozean »in the form of either shipwreck or commercial chance«.46 In diesem Sinne veränderte der ›oceanic turn‹ nicht allein die Seefahrt, sondern auch die Raumwahrnehmung der durch sie betroffenen Subjekte. Ging es in der Antike und im Mittelalter noch darum, die Kontingenzerfahrung auf dem offenen Ozean mit allen Mitteln zu vermeiden, so etablierte die Aussicht auf Handel und Entdeckung einen neuen Umgang mit der Desorientierung im Angesicht des Ozeans: »If navigation had to make voyages safe and stabilize contingency, not by
44 Kinzel: Orientation, S. 28; vgl. Blumenberg: Prozeß, S. 16-20. 45 Kinzel und Hoppe-Sailer verweisen in Bezug auf das neuzeitliche Orientierungsbedürfnis des Menschen auf Überlegungen Kants zur physischen Geographie und zur Orientierung im Denken. Im Begriff der Welterkenntnis, so Kinzel, »Kant widened the maritime art of orientation to a cultural practice, relating it to science, globality, and the subject, by demanding that this practice should allow everybody to locate everybody else’s position« (Kinzel: Orientation, S. 36). Hoppe-Sailer verweist mit Kant auf die Verbindung von Subjektivem und Objektivem für die Orientierung sowohl im Raum als auch im Denken (vgl. Hoppe-Sailer: Auf der Suche nach dem rechten Weg, S. 207f.). 46 Alle Zitate Kinzel: Orientation, S. 29, 34.
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muting, but by using it (for commercial purpose), prudence, understood as a technique of personal orientation, had to govern contingency by actually facing it and giving it direction.«47 Mit Kinzel lässt sich umgekehrt der im ersten Teil mit Henrich entwickelte instabile Erfahrungszusammenhang des modernen Subjekts engführen mit der absoluten Kontingenzerfahrung fehlender Orientierung auf hoher See. Das moderne Subjekt benötigt den durch Navigation gewonnenen Überblick, um die Kontingenz zu reduzieren und die Seefahrt stellt in ihrer Dialektik »zwischen Irrfahrt und Entdeckungsfahrt« ein anthropologisches Basisthema dar.48 Das von Kinzel evozierte Horrorbild für die Angst des modernen Subjekts vor fehlendem Überblick ist damit logischerweise der Schiffbrüchige, der allein und ohne Navigationsmittel auf hoher See treibt: »The swimmer is, literally speaking, in the absolute situation of being alone on the open sea [...], a point on the fragile line that separates sea and sky, water and air, life and death«. Orientierung wird damit zum Grundbedürfnis auch des modernen Subjekts in unserer heutigen Gesellschaft: »As our experience of contingency turns out to be linked with the oceanic turn, [...] it also becomes clear that ours is a culture of, and in need of, orientation.«49 In dieser die Überlegungen zur räumlichen Subjektkonstitution durch die Karte und Reise konkretisierenden Sichtweise lassen sich die mittels Kartographie ermöglichten zivilisierenden Kerbungen der Navigation als Versuche der Kontingenzreduktion durch Orientierung lesen. Die Tilgung der weißen Flecken auf der Landkarte zur Vermessung der Welt ist nichts anderes als Ausdruck eines anthropologischen Orientierungsbedürfnisses. Folge dieser Entwicklung war, dass Karte und Entdeckungsreise der wissenschaftlichen Vermessung der Welt, die als Folgen der Erfindung des neuzeitlichen Bewusstseins dem neuerwachten Bedürfnis des Subjekts nach Orientierung entsprachen, dienten. Zudem wurde, so Despoix, »[m]it der Konvergenz von Orientierungstechnik und Entdeckungsunternehmung [...] die Meereserkundung in vollem Maße ein wissenschaftliches und politisch-rechtliches Dispositiv«. Die weißen Flecken der Weltkarte repräsentierten für die Herrschenden der europäischen Länder nämlich »auch ein rechtliches Vakuum in jenen Regionen«, welches durch Entdeckung und Eroberung im Interesse der Entdeckerstaaten aufgelöst werden konnte.50 Ein Interesse, das auch eine ökonomische Dimension besaß, die eine etwas eingehendere Betrachtung verdient: So meint Lestringant, dass die heutige globalisierte Weltwirtschaft »aus den großen Seefahrten hervorgeht«, die infolge der Entde-
47 Ebd. S. 29. 48 Heimerdinger: Seemann, S. 183. 49 Alle Zitate Kinzel: Orientation, S. 29, 44. 50 Beide Zitate Despoix: Die Welt vermessen, S. 40, 34.
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ckung Amerikas die Welt in ein Handelsnetz verwandelte.51 Farinelli liest darum speziell die Kartierung der ›Neuen Welt‹ als Möglichkeit, die auf den Karten repräsentierten Dinge und Länder in Waren zu verwandeln.52 Das sicherlich bemerkenswerteste Beispiel des ökonomischen Drangs zur Entdeckung und Eroberung, das gleichzeitig bereits voraus weist auf die Expeditionen in die Polargebiete, von denen noch zu sprechen sein wird, war die Suche nach der Nordwest-Passage; sie war der »Motor der Erkundungsreisen in die Arktis«53 auf der Suche nach einem »neuen, zeitsparenden und sicheren Weg nach Asien«.54 Mit diesen Beispielen wird klar, dass sich das Zusammenspiel von Karte und Entdeckungsreise als doppelte Kerbung bestimmen lässt; als Kerbung einerseits durch die geometrische Vermessung der Welt, andererseits durch Inbesitznahme und Zivilisierung durch die »Kolonial- und Handelsmacht«.55 Die Einnahme der Macht- und Orientierungsposition des Überblicks, welche die Karte suggeriert, führt zu Expeditionen, die den von der Karte (mit-)erzeugten Drang zu Eroberung aufgreifen und in eine Fiktion von Wissen über die neuentdeckten Gebiete übertragen.56 Ein so geartetes Kolionalisierungsprogramm gelang allerdings nicht allein durch das Entdecken, sondern vor allem auch durch einen Akt der Benennung: Indem das neuentdeckte Land mit einem Namen bedacht, seine Entfernung zu bekannten Ländern errechnet und in die Karte eingetragen wurde, konnte es an die Karte rückgebunden werden in einem semiotischen Akt, den Dünne als ›operationale Adressierbarkeit‹ der Karte im »Verbund von Bild, Schrift und Zahl« beschreibt –57 und der Farinelli zufolge zur Konsequenz hatte, dass die reale Welt zu einer Kopie der Karte geworden ist: »In order to understand what the modern world is [...] it is necessary to understand that it is the copy of the map, and not vice versa.«58 Die Namensgebung erscheint in der Lesart von Certeau als Taufe und damit als Registrierung in der Welt – in der gekerbten Kartenwelt aus der Position des Überblicks, die die göttliche Position der Benennung der Schöpfung in der Genesis aufgreift, wie man hinzufügen möchte:
51 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 8. 52 Vgl. Farinelli: Map Knowledge, S. 34. 53 Müller: Kartierung, S. 377. 54 Vgl. Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 215. 55 Dünne: Nachwort, S. 183. 56 Als »Grundbedingung der Kolonialisierung« zählt Despoix darum die »enzyklopädischen und kartographischen« Bestrebungen des 16. bis 18. Jahrhunderts (Despoix: Die Welt vermessen, S. 31). 57 Dünne: Imagination, S. 61. 58 Farinelli: Map Knowledge, S. 41.
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»To ›baptize‹ with words designating the avatars of a hunt, a network of associates, national figures, dream images; to catch the island up in the net of these names of belonging; to turn the island into the ›unfolded map‹ of a memory that inscribes itself; to turn it into the manipulable page one can read and where one can be read: that is ›to colonize.‹«59
Erst indem man sie als ausgefaltete Karte begreift, als Kopie (calque) im Sinne von Deleuze und Guattari, kann die neu entdeckte Insel bzw. das neu entdeckte Land aus der Distanz betrachtet und damit angeeignet, zivilisiert und dem Staat einverleibt werden. Certeau nennt daher die Benennung auch einen »civilizing act«. 60 Auch hier waltet also eine kartographische Imagination, allerdings eine, die neu entdeckte Räume endgültig kerbt, indem sie sie in Karten verwandelt und damit zivilisiert, Bewegung in Stillstand verwandelt und das Land wiederum in die kartographische Totenstarre des Raums überführt. Diese Überführung kann als Endpunkt der Entwicklung von der relationalen zur absoluten Karte verstanden werden; für Hoppe-Sailer kam die Ablösung der Karte von Wegbeschreibung und Handlungsgeographie dann zu ihrem Ende, als die letzten Bilder – etwa von Meeresungeheuern oder Schiffbrüchen, die mittelalterliche Karten dort besiedelt hatten, wo noch unbekannte Regionen ihrer Kartierung harrten – zunächst an den Rand und schließlich ganz aus dem Raum der Karte (und damit, im Zuge eines Rationalisierungsprogramms, aus dem Raum der Welt) gedrängt wurden und durch ein »mathematisch geometrisches Darstellungsverfahren« ersetzt wurden, das die »Totalitätsvorstellung« des neuzeitlichen Subjekts widerspiegelt.61 Damit einher geht auch eine an Ingold sowie Deleuze und Guattari erinnernde Kritik der Zivilisierung; der »Erkundung, ob als Erforschung, Kartographierung, Erschließung oder Eroberung, haftet eine okkupatorische Geste an«, wie Anja Oesterhelt vorbringt.62 Als Semiotisierung der Welt ist die Karte Grundlage für jene Überschreibungsoperationen der Eroberer, die die Welt in ihren Besitz zu nehmen trachten:63 »Karte und Navigation wurden einmal mehr in den Dienst der Eroberung, der Kolonisation und des Handels gestellt. Die Wahrnehmung der Welt reduzierte sich mehr und mehr auf die Beherrschbarkeit von Distanzen und die möglichst hohe Genauigkeit der Bestimmung des geographischen Ortes [...].«64
59 WtS, S. 144. 60 Ebd., S. 145. 61 Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 220. 62 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 199. 63 Vgl. Eglinger: Traces, S. 4. 64 Hoppe-Sailer: Auf der Suche, S. 219.
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Certeau wiederum zeichnet in Die Kunst des Handelns die Entwicklungsgeschichte der Ablösung der Karte von der Handlungsgeographie nach, um die ›okkupatorische Geste‹ der Karte zu kritisieren und daraus seine – im ersten Teil der Studie ausführlich verhandelte – Unterscheidung von ›Karte‹ und ›Route‹, von Sehen und Gehen als Ausdruck von Stillstand und Bewegung zu entwickeln. Dies hat ihm die Kritik Dünnes eingebracht, in »kartographiegeschichtlicher Hinsicht zu kurz« zu greifen, da in der Entwicklung von »parcours zu carte [...] nicht eine einsinnige Verdrängung des ersteren« zu beobachten sei, stattdessen erzeugten Karten »in einer positiven Rückkopplung genauso parcours, wie diese umgekehrt zur Erstellung von Karten führen«. Dünnes Kritik an Certeaus Kartenhistorie wird untermauert von seinen Lektüren frühneuzeitlicher Imaginationsakte, die aus Karten vielschichtige literarische Umsetzungen machen. Sie ist damit ebenso berechtigt und nachvollziehbar – auch in dieser Studie dienen die Literaturanalysen dazu, die simplifizierende Dichotomisierung von Stillstand und Bewegung in eine komplexere Beschreibungsform literarischer Verhandlung ihrer selbst zu überführen –, wie sie gleichzeitig auch in gewissem Sinne fehlgeht: So konstatiert Dünnes Kritik eine fehlende Wechselwirkung zwischen Karte und Raum, die Certeau aufgrund seiner »metaphorischen Übergeneralisierung der beiden Begriffe parcours und carte nicht in den Blick« bekomme;65 dabei ist in der Konsequenz der absoluten Trennung der Begriffe von ›Karte‹ und ›Route‹ Certeaus rehierarchisierte Auffassung von Raum und damit seine Absage an die Subjektposition der Distanz überhaupt erst möglich, wie sich bei einem genaueren Blick zeigt. Schließlich vermag Certeau allein durch die ›metaphorische Übergeneralisierung‹ der Begrifflichkeiten die Fußgängerbewegung nicht nur als Gegenposition zum Überblickssubjekt zu denken, sondern sie an die Entwicklung von Aufzeichnungssystemen zu binden: Erst die Ablösung und Auslöschung der Fußgängerbewegung als Handlungsgeographie auf Karten macht es für Certeau nötig, eine neue Fußgängerbewegung – Herumirren und Verloren Gehen als widerständige Reaktion auf das Rationalisierungsprogramm der Neuzeit – zu postulieren. Dass Certeau dabei allerdings weiterhin einen Diskurs perpetuiert, der einfachen Gegensätzen verhaftet ist und somit komplexe Zusammenhänge nicht ›in den Blick bekommt‹, ist als Kritik nicht von der Hand zu weisen. Und auch die Entzivilisierung als Entsubjektivierung durch glatte Bewegung, die Deleuze und Guattari als Gegenprogramm zur Zivilisierung durch Kartierung formulieren, erscheint als weiterhin vom kolonialistischen Diskurs beeinflusstes Projekt. Weil die Entsubjektivierung der Benennung und Kartierung schlicht entsagt ohne auf Wechselwirkungen einzugehen, bestätigt sich die reduktionistische epistemologische Wirkung der Dichotomie. Den glatten Raum als das »Nicht-Kartierbare« zu erachten beziehungsweise ihn in einem per-
65 Dünne: Imagination, S. 182.
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formativen Akt der Kartographie als sich immer nur unvollständiges Auszeichnen zu begreifen, greift daher zu kurz, um Stillstand und Bewegung als Formen von Raum- und Subjektkonstitutionsformen im Dispositiv der Entdeckung zu verstehen.66 Vielmehr ist es das durch die kartographische Imagination erzeugte Zusammenspiel von Stillstand und Bewegung im Medium der Literatur, das im Blick behalten werden muss als Verhandlung von Karten und Routen, von glatten und gekerbten Räumen. Somit erhalten die Akte der kartographischen Imagination eine weitere Bedeutung als Motor der Erzählung aus und von glatten Räumen.
4.2 PAPIEREXPEDITIONEN: KARTE, REISEBERICHT UND DER POLARE KONJUNKTIV Bereits oben wurde die kartographische Imagination im Sinne Dünnes als semiotischer Überschuss von Karten und damit als Surplus ihrer doppelten Artikulation – das bedeutet: der »Gleichursprünglichkeit von semiotischen Raum-Bezeichnungen und territorialen Raum-Beherrschungen, von Raum-Ordnung und Ortung« – bestimmt.67 Dieser Überschuss macht sich im Akt der Entdeckung und Benennung als Form der Aneignung von neu entdeckten Kontinenten, Inseln und sogar Landstrichen in besonderer Weise dort bemerkbar, wo er als wiederkehrende, unendliche, immer feiner werdende Kerbung des Geländes sichtbar wird: »The symbolic act of making history by calling things is repeated on islets and shores that have already been named several times.«68 Certeau macht auf die Ironie einer solchen wiederholten Besetzung durch immer wieder neu erfolgte Namensgebung aufmerksam, die sich dort steigert, wo die Benennung auf den Benenner zurückweist: bei Kerbungen, die den Namen ihrer Kerber tragen und ganz im Sinn der doppelten Artikulation über Karten eine Wiederholung und Bestätigung dieser Kerbung erfahren. Für sich allein reicht also das Benennen nicht aus, erst das Zusammenspiel zwischen dem Namen und seinem Übertrag auf die Karte bringt dem Benenner Sicherheit, da so gewährleistet ist, dass nicht ein anderer Abenteurer das Land wiederum neu entdecken und für sich in Besitz nehmen kann.69 Gedruckt auf Karten und in Berichten
66 Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 84. 67 Dünne: Imagination, S. 19. 68 WtS, S. 145. 69 In dieser Möglichkeit spiegelt sich die Annahme Deleuzes und Guattaris, dass bereits glattes oder gekerbtes Denken für eine entsprechende Reise und damit auch Raumwahrnehmung verantwortlich ist: »Im Glatten oder im Gekerbten reisen und ebenso denken ...« (TP, S. 668). Geht ein Entdecker davon aus, auf ein glattes, unbekanntes und unzivilisiertes Land zu treffen, so kann er es auch als Erster kerben und benennen.
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erscheint der Name des Entdeckers für immer verbunden mit der Benennung der Entdeckung. Und so bleiben die Namen der Entdecker auch mehr als zwei Jahrhunderte später im kulturellen Gedächtnis verankert, Namen wie etwa James Cook, Louis Antoine de Bougainville oder John Franklin. Zum heroischen Subjekt wird also, wessen Name auf der Karte auf den heroischen Akt der Subjektivierung durch Kerbung zurückweist. Bay und Struck haben betont, dass dieses Streben nach Aneignung des Unbekannten auf den Charakter der Expedition paradoxale Rückwirkungen hat. So mischt sich dem Ziel der Entdecker, »um alles in der Welt die [E]rsten« sein zu wollen, die Angst bei, dass »der Pfad schon begangen, das Ziel schon erreicht sein könnte«; gleichzeitig aber orientieren sich die Entdecker jedoch immer schon an »Vorfahren und Vorfahrern«, an denen sie sich »in ihrem ganzen Unternehmen [...] orientieren« und auf deren Spuren sie »sich über weite Strecken« bewegen.70 Erst diese expeditive Paradoxie von Überschreitung und Spurenfolge sicherte jedoch den Erfolg der Unternehmungen: Überschreitung, Entdeckung und Benennung waren dann möglich, wenn bekannte Wege und Schiffsrouten bis zu ihrem Ende verfolgt und dann übertreten wurden. Grundlage einer solchen Übertretung waren also die Karten und Reiseberichte, an denen sich die Abenteurer, Forscher und Entdecker orientieren mussten, um ins Unbekannte zu gelangen. Im Gegenzug zu den Namen der Entdecker verblassen die Namen derer, die sich nicht auf ein Schiff begeben haben: Die der Kartographen und Theoretiker, die aus ihrer Schreibstube mit ihren Karten und Überlegungen die kartographische Imagination befeuerten und gleichsam den Antrieb für die Entdeckungsreisen lieferten. Wissenschaftshistorische wie literaturwissenschaftliche Bemühungen haben jedoch auch diesen ›Lehnstuhleroberern‹, allerdings unter einer etwas anderen Perspektive, zur Geltung verholfen. Exemplarisch – und wegweisend für die anstehende literarische Analyse von Polargebietsliteratur – ist hier der Gothaer Kartograph August Petermann zu nennen. Er war Philipp Felsch zufolge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »der Motor, der die Entdeckung der Arktis auf Touren brachte«. Da Petermann »kein Held [war], der sich im Packeis einfrieren ließ«, sondern vielmehr »die Entdeckung des Nordpols von einer deutschen Provinzstadt aus« dirigierte, geriet er alsbald nach seinem Tod in Vergessenheit.71 Dass nun im Zuge der Aufarbeitung der Kartengeschichte nicht nur Felsch ihn mit einer Biographie zum – freilich zweifelhaften – Helden einer Epoche macht, ja dass Petermann zum Exempel schlechthin für die Kartographie unbekannter Gebiete taugt, zeigt einerseits die Macht der Karten, aber auch die bisweilen pseudowissenschaftliche Blendkraft
70 Alle Zitate Bay/Struck: Forschungsreise, S. 15f. 71 Alle Zitate Felsch: Petermann, S. 13.
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einer in die Realität umgesetzten kartographischen Imagination.72 Beides arbeitet Felsch heraus, wenn er konsequent von der in seiner Petermann-Biographie zu betretenen »Petermannwelt«73 spricht und seine Schreibstube mehrfach als »Kartennest«74 – und damit auch als erhöhten Ausguck, von dem aus ein Überblick über die noch nicht entdeckte Arktis möglich ist – ausweist: Aus diesem Ausguck heraus stellte Petermann ausgehend von seiner Theorie eines eisfreien Nordpols Karten her. So »war die Arktis eine Frage der Karte«, einer Karte, die allerdings inkorrekt war, weil sie zwar auf wissenschaftlichen Beobachtungen beruhte, jedoch auch Schlussfolgerungen von Annahmen zugrunde legte, die im doppelten Sinne aus der Distanz getroffen wurden. 75 Der daheimgebliebene Lehnstuhleroberer ließ sich beim Erstellen seiner Karten ja von in Reiseberichten festgehaltenen Aussagen tatsächlicher Nordpolexpeditionen leiten, die von einem offenen Polarmeer berichteten, ohne dass freilich die Berichtenden dieses offene Polarmeer je befahren, geschweige denn überquert hätten. Dazu zählt Felsch etwa den Bericht des Barons von Wrangel, der, »zwischen 1820 und 1824 im Auftrag des Zaren an der sibirischen Küste unterwegs, [...] nördlich des Festlandes, bei klirrender Kälte eine große offene Wasserfläche gesichtet [hatte]«, oder das Tagebuch des im 16. Jahrhundert auf der Insel Nowaja Semlja festsitzenden Willem Barents, in das dieser mitten im arktischen Winter notierte: »Es war schönes Wetter und die Sonne schien, der mäßige Wind kam aus Westen, und das Meer war offen«.76 Schließlich sei hier auch die Expedition unter David Gray anzuführen, der Petermanns Theorie eines eisfreien Zugangs zum Nordpol mit einer Beobachtung eines »water sky, Anblick eines dunklen Himmels am Horizont, der nach allgemeinem Dafürhalten offenes Wasser spiegelte«, zur Seite sprang: »Von NW. bis ONO. sah ich einen dunklen Wasserhimmel, der sich nach Norden erstreckte und dort in der Ferne verlor. Ich habe keinen Zweifel, dass ein weites, offenes Polarmeer vor uns lag, das weiter nach Norden reichte, als je ein Mensch gelangt war.«77
Dorit Müller liest die diese Aussagen aufgreifenden Petermann-Karten deshalb als Inszenierung von Evidenz eines ungesicherten Wissens, sodass »es dem Betrachter als gesicherte Tatsache erscheint und deshalb auch als Handlungsanweisung für
72 Vgl. zu Petermann etwa auch Menke: Polargebiete; Müller: Kartierung; Munz-Krines: Expeditionen. 73 Felsch: Petermann, S. 14. 74 Ebd., etwa S. 216 und 220. 75 Ebd., S. 14. 76 Beide Zitate ebd., S. 104f. 77 Beide Zitate Gray zit. nach Felsch: Petermann, S. 229.
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eine konkrete Problemlösung dienen kann«: Als Auftrag, die Arktis zu bereisen, das offene Nordpolarmeer zu überqueren, den Nordpol zu erreichen und ihn damit für die Menschheit in Besitz zu nehmen, der Karte endgültig anzueignen.78 Die so durchgeführte, Pseudo-Evidenz stiftende »Wissensgenese«79 aus trügerischer doppelter Fernsicht bezeichnet Felsch als »arktischen Konjunktiv«: Offenes Meer wird gesichtet, jedoch nicht überquert. »Falsche Befehle, andere Absichten, schlechte Ausrüstung: Irgendein Hindernis gab es immer. Andernfalls, so lautete der arktische Konjunktiv, wäre die Passage zum Nordpol ein Kinderspiel gewesen. Man liest das in unzähligen Varianten in der Arktisliteratur: die Litanei eines ewigen Versprechens.«80
Als Antriebskraft für die Eroberung des Nordpols kann damit eine Spielform der kartographischen Imagination ausgemacht werden, die den Mangel an Überblick durch einen imaginativ-metaphorischen Kartenblick kompensiert und in deren Reihe der Kartograph nur das ›letzte Opfer‹ darstellte: Am Rand der Welt stehend, konfrontiert mit dem Ende ihrer Reise, gaben sich schon die Entdecker einem ›Was wäre wenn?‹-Spiel des fiktiven Überblicks hin, die sie in ihren Logbüchern und Reiseberichten festhielten. Diese Informationen verwandelten die Kartographen schließlich in die Realität einer gezeichneten Topographie, sie stellten Ordnung und Ortung her und wiesen die Welt dadurch, ganz im Sinne Deleuzes und Guattaris, als Kopie der Karte aus. Getrieben vom Drang zur absoluten Entgrenzung wird der Entdecker zum im arktischen Konjunktiv Imaginierenden, denn gerade dadurch, dass die Entdeckungsreise an diesem Punkt enden muss, erhöht sich die Faszination des Noch-nicht-Entdeckten. Der arktische Konjunktiv lässt sich als ›Imaginationslösung‹ der trotz Überschreitungs- und Überschreibungsdruck scheiternden Entdeckungsreise begreifen. Er ist damit als Konsequenz des Dispositivs der Entdeckung zu verstehen und stößt durch seine Semiotisierung in Karte, Reisebericht und Literatur die tatsächlichen Expeditionen an. Der arktische Konjunktiv stellt ein Fiktionalisierungsmoment dar, durch das die Realität von der kartographischen Imagination übertroffen und diese schließlich in eine neue, literarische oder kartographische Realität übertragen wird und wiederum Expeditionen auslöst. Die kartographische Imagination wird durch den arktischen Konjunktiv gewissermaßen in zweiter Ord-
78 Müller: Kartierung, S. 381. 79 Ebd., S. 391. 80 Beide Zitate Felsch: Petermann, S. 229. Der von Petermann als arktischer Konjunktiv beschriebene Mechanismus ist freilich kein exklusives Phänomen des Nordpolarkreises oder der Polarregionen; vgl. dazu auch das Verrazano-Meer bei Lestringant: Erfindung des Raums, S. 36.
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nung verhandelt, indem Imaginationen sich aus Imaginationen speisen – und dann doch wieder Handlungen auslösen. Karte und Literatur plausibilisieren die Imagination, sind aber im selben Moment selbst Fiktionen – im Sinne Reiffers versichern diese Fiktionen des Überblicks als Raum- und Subjektkonstitution das Subjekt sowohl seines Wissens über das Noch-nicht-Entdeckte als auch seiner Machtposition, die ihm das vermeintlich Entdeckte untertan macht.81 Entscheidend für die vorliegende Studie ist die Konsequenz, die sich aus dem arktischen Konjunktiv ergab: Nicht nur waren »kartographische Darstellung[en] unverzichtbarer Bestandteil der Reisen in die Polargebiete«, die Orientierung boten, vielmehr »weckten [sie] vielfach überhaupt das Bedürfnis, die weit abgelegenen Gebiete zu befahren«.82 Petermanns vom arktischen Konjunktiv durchdrungene Karten waren Anlass für mehrere Expedition zum Nordpol, neue Karten speisten sich aus den Berichten, Aufzeichnungen und Berechnungen, die die Rückkehrer ihm wiederum überließen – falls diese denn überhaupt zurückkehrten. Schließlich waren die Karten alles andere als korrekt: Weder gab es ein eisfreies Polarmeer, noch erwiesen sich die von Petermann in die Karten eingezeichneten ›Optimalrouten‹ als überhaupt befahrbar. Auf Basis der Kombination von Fahrten, Karten und Berichten übertrug sich dieses von der kartographischen Imagination initiierte, oftmals tödliche Spiel um den arktischen Konjunktiv auf ein literarisches Feld: den populärwissenschaftlichen Reisebericht. Als dessen Vorläufer kann Kinzel zufolge das Logbuch angenommen werden, das vom Kapitän des Schiffes geführt wurde und grundsätzlich aus zwei Teilen bestand: aus nautischen Daten sowie aus gesammelten Beobachtungen, die Kinzel »discourse« nennt. Die Führer der Logbücher wurden durch einen Fragenkatalog angehalten, diesen ›discourse‹ möglichst genau zu führen, wodurch die Basis für die Entstehung des ausformulierten Forschungsberichts gelegt war. »These instructions are a first step on the way towards systematic travel observations [...]. The aim was to gain systematic knowledge of a country, its geographical outline, its natural resources, its population, its culture and society.« So fungierte der Forschungsbericht als eine an die wissenschaftliche Aufzeichnung des Logbuchs angelehnte Beschreibung der Abläufe einer Entdeckungsreise, die das Fiktionalisierungsmoment des ›Was-wäre-wenn?‹ ausschließen sollte. Im besten Fall stellte er »a perfect fusion of competent navigation and comprehensive description« dar.83 Er verband der – an Réal Ouellet gewonnenen – Definition Lestringants zufolge »ein Abenteuer mit einer Bestandsaufnahme, wobei diese beiden Elemente ihrerseits in einem fortlaufenden Kommentar zusammenkommen«, und diente zunächst als eine interne, streng formalisierte Maßnahme zur Aufzeichnung des Erlebten in
81 Vgl. Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 11f. 82 Müller: Kartierung, S. 377. 83 Alle Zitate Kinzel: Orientation, S. 35f.
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Tagebuch, Diagrammen und Karten und damit zur Plausibilisierung der auf der Fahrt gemachten Entdeckungen.84 Galt die genaue Vermessung eines neu entdeckten Landes als Inbesitznahme desselben, so war der Forschungsbericht der Ort, an dem diese Messung semiotisiert und beglaubigt wurde. Er entsprach darum, so Despoix, »der Etablierung eines Mediums, durch das sich die Forschungsreisen in den wissenschaftlichen Diskurs einschreiben und wonach sie bewertet werden können«. Eine solche Plausibilisierung und Bewertung richtete sich an den Leser, die öffentliche Meinung geriet »potenziell in die Position des Schiedsrichters«. Bis weit in das 18. Jahrhundert galt das Lesen von Reiseberichten zwar als Privileg der Admiralität, im weiteren Verlauf der Geschichte aber waren auch »die europäischen Leser dazu aufgerufen, über die neuen Landnahmen zu urteilen« – der Forschungsbericht wurde im Genre des Reiseberichts popularisiert.85 Dies lag sicherlich auch an der Betonung des abenteuerlichen Charakters der Expeditionen im populärwissenschaftlichen Reisebericht, der gegenüber der »Routine des Sammelns, Messens und Aufzeichnens« die Überschreitungen und »unvorhergesehenen Ereignisse« stärkt und so die Geschichte der Entdeckungsreise »erzählenswert macht«, wie Bay und Struck schreiben. Da bei »jeder Reise, die eine Expedition sein soll«, eine Grenze überschritten werde, »ab der zu erzählen sich lohnt«, nahmen die Abenteuergeschichten bald den größten Raum innerhalb der Reiseberichte ein.86 Karten, Bilder und Tabellen dienten dann vor allem der Plausibilisierung des Abenteuers – und sollten Rückwirkungen auf weitere Expeditionen, auf die ›Nachfahr(t)en‹ haben, ganz im Sinne der expeditiven Paradoxie von Überschreitung und Spur, die von Bay und Struck ausgemacht wird. Als Kompilation verschiedener Berichte, Graphiken und Karten diente die Popularität des Reiseberichts den Entdeckern nämlich auch als verführerisches Druckmittel gegenüber Staat und potentiellen privaten
84 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 26. Ein ausgefeiltes Regelwerk zur schriftlichen Fixierung der Erlebnisse, welches die Admiralität vorgab, führte dazu, dass das Tagebuch »das weitgehend entpersönlichte Medium einer Erkundung« repräsentierte (Despoix: Die Welt vermessen, S. 85). 85 Ebd., S. 82, 39. Zuvor galten die Reiseberichte als Besitz der Obrigkeit: »Der erste Adressat der Tagebücher einer Unternehmung ist nämlich stets der Auftraggeber gewesen, der Lord High Admiral oder der den König vertretende Minister, und einzig von dieser Instanz hängt eine eventuelle Publikation eines Reiseberichts ab. Die Instruktionen zu den Weltreisen sind in diesem Punkt ganz besonders streng: Alles Geschriebene gehört allein dem Auftraggeber und muss ihm ausgehändigt werden, dazu zählen auch persönliche Tagebücher« (ebd., S. 92); Zur Bedeutung der Schiedsrichterposition der Leser für die Stilisierung der Entdeckungsreisenden zu Helden vgl. Munz-Krines: Expeditionen, S. 17-19; vgl. zur Popularisierung des Reiseberichts auch Müller: Kartierung. 86 Alle Zitate Bay/Struck: Forschungsreise, S. 15-17.
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Geldgebern, im Anschluss an in publizierten Reiseberichten beschriebene Forschungsdesiderate neue Expeditionen zu unternehmen, er war, wie Lestringant bereits für eine Kompilation aus der Renaissance beschreibt, »End- und [...] Ausgangspunkt« der Expedition.87 Die Logik der kartographischen Imagination war mit dieser intentionalisierten Popularisierung der Reiseberichte explizit geworden, sie erlangte gewissermaßen Bewusstsein ihrer selbst: Nicht nur Expeditionen wurden in Literatur verarbeitet, Abenteuergeschichten wurden selbst zu Auslösern für Nachfahr(t)en. In der Folge etablierten sich in den populärwissenschaftlichen Reiseberichten Genrekonventionen, die »sowohl auf ästhetische Konventionen der Malerei (mit ihren Motiven des Strebens nach Unendlichkeit und Grenzüberschreitung) als auch auf etablierte Topoi heroischer Männlichkeits- und Eroberungsnarrative« rekurrierten, wie Müller anhand des Reiseberichts im 19. Jahrhundert erklärt.88 So kompilierten Reiseberichte nicht allein eine Vielzahl von Tagebüchern der Expeditionsteilnehmer – es war nicht nur der Kapitän durch die Admiralität zum Halten eines Tagebuchs verpflichtet, auch Schiffsoffiziere und die Reise begleitende Wissenschaftler waren dazu angehalten, ihre Erlebnisse und Entdeckungen in Tagebuchform festzuhalten –, um die Expedition auch in Bildern zur Leserschaft zu transportieren, wurden Kunstmaler für die Expeditionen verpflichtet: »Sie sollen nicht nur zeichnerisch festhalten, was die gelehrten Naturforscher ihnen auftragen, sondern sind darüber hinaus angehalten, ein regelrechtes Tagebuch zu führen.« Als zusammenhängendes Werk zeigt der kompilierte populärwissenschaftliche Reisebericht also »den Übergang von einem vielgestaltigen Wissen – Log- und Tagebücher, astronomische Berechnungen und geographische Erhebungen, naturgeschichtliche Zeichnungen, vergleichende Sittengemälde, Verzeichnisse fremder Wörter usw. – zu einem neuen Buchtypus, der die schriftliche Beschreibung mit der Visualisierung einer geographischen und menschlichen Entdeckungserfahrung verbindet.«89
Ziel einer solchen erzählten Entdeckungserfahrung ist nach Lestringant Ganzheit, »ein Kontinuum der Kohärenz«, herzustellen, wo zuvor nichts war – unkartiertes Gebiet, unbekannte Länder, weiße Flecken auf der Karte.90 Die im Reisebericht literarisierte Entdeckungsfahrt verbindet, nach Martina Wagner-Egelhaaf, »den wissenschaftlichen Blick des Entdeckers mit der genuin literarischen Perspektive der
87 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 31. 88 Müller: Kartierung, S. 383. 89 Beide Zitate Despoix: Die Welt vermessen, S. 84, 94. 90 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 20.
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Beschreibung von Entdeckungs- und Abenteuerfahrten«. 91 Damit findet auch im Reisebericht das Aneignungsverhalten des Überblicks-Subjekts seinen Ausdruck: »›Die Erde gehört mir, ich bin eins mit ihr‹ – das erklärt jeder Reisende, wenn er nach seiner Rückkehr seinen Bericht aufschreibt und diktiert.«92 Der Reisebericht wird zum Leitmedium im Paradigma neuzeitlicher Erkenntnis, einer stets fortschreitenden Erweiterung der bekannten Welt, die – so paradox es klingt – nur und gerade durch den Stillstand der Karte und des Textes geleistet wurde – er ist Kartierung mit erweiterten Mitteln. Mit einer solchen Zuweisung scheint der Expeditionsreisebericht fundamental geschieden von der Aussage Certeaus, dass grundsätzlich jeder Bericht einen Reisebericht darstelle. Ein Reisebericht entspricht in der Vorstellung Certeaus nämlich der Verbalisierung einer handlungsgeographischen Karte und stellt damit einen performativen »Umgang mit dem Raum« dar – und eben keine Kartierung. 93 Wenn nun aber zwei Ausdrucksmöglichkeiten des Reiseberichts existieren, dann muss im Sinne der hier vorliegenden Verhandlung von Stillstand und Bewegung in Literatur danach gefragt werden, inwiefern auch der kartierende Reisebericht die Spurlosigkeit der Erfahrung des glatten Raums und die Performativität der certeauschen Fußgängerbewegung in sich trägt. Tut er dies, so könnte ihm eine Form des semiotischen Überschusses inhärent sein, der – ganz im Sinne Deleuzes und Guattaris, nach denen es zwei Arten zu Reisen gebe, »die sich durch die jeweilige Rolle von Punkt, Linie und Raum unterscheiden« – auf die andere Art zu Reisen verweist.94 Eine solche Reise allerdings stellt eine »open-ended journey« dar und so kann mit den in Teil I verhandelten Konzepten ergänzt werden: Erst wenn die Bewegung kein Ziel mehr hat, wenn der Reisende vom Helden des Weges zum Helden der Steppe wird, wenn er verloren geht, nicht mehr von Punkt zu Punkt, sondern im Glatten reist, wird sie zur anderen Form des Reisens.95 Die Grenzüberschreitung, die Bay und Struck als Auslöser des Reiseberichts markierten, wird damit zu einer Überschreitung des Lesbaren: Im kompilatorischen Charakter des expeditiven Reiseberichts und noch mehr in der nochmaligen Übertragung expeditiver Reiseberichte in Fiktion, in einer palimpsestartigen Um- und Überschreibung der Grenzüberschreitung, so die im Folgenden dargelegte Überlegung, zeigen sich beide Reiseformen verwirklicht – allerdings kann sich die glatte Reise nur im Verloren Gehen und damit in absentia, im ›Nicht-Kartierbaren‹ manifestieren. Darum ist es gerade das Element des Verschwindens, das die glatte Reise im Text signalisiert und wie-
91 Wagner-Egelhaaf: Campi deserti, S. 55. 92 Lestringant: Erfindung des Raums, S. 20. 93 KdH, S. 216. 94 TP, S. 668. 95 Bogue: Deleuze on Literature. S. 153.
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derum einen arktischen Konjunktiv als Imagination des Nicht-Kartierbaren auslöst: den Versuch, den Verloren Gegangenen als solchen zu markieren – hier wird der certeausche Begriff des ›out-of-place element‹ zur Geltung kommen – und im Anschluss wiederzufinden.
4.3 REISEBERICHTE DES VERSCHWINDENS: DAS ›OUT-OF-PLACE ELEMENT‹ Als Beispiel einer doppelt fiktionalisierten Reiseberichtskompilation kann die von der britischen Admiralität in Auftrag gegebene und von John Hawkesworth durchgeführte Zusammenstellung der ersten vier britischen Weltumsegelungen herangezogen werden, die diese Expeditionen in einer durchgehenden, die Reise (nach-)erlebenden Ich-Erzählung miteinander verbindet. Die Wahl der ersten Person begründet Hawkesworth mit der Stiftung einer Verbindung zwischen Entdecker und Leser: »[I]t was readily acknowledged on all hands, that a narrative in the first person would, by bringing the Adventurer and the Reader nearer together, without the intervention of a stranger, more strongly excite an interest, and consequently afford more entertainment« – der höhere Grad der Unterhaltung stärkt den Abenteueraspekt der Geschichte nochmals gegenüber den Fakten, Daten und Zahlen. Gleichzeitig weist diese 1773 erschienene Kompilation auf ein zentrales Charakteristikum der Gattung des kompilatorischen Reiseberichts hin: Selbst wenn Hawkesworth schreibt, dass er keine eigenen Gedanken hinzugefügt, nur ein »naked narrative« abgeliefert habe, eröffnet die Verschmelzung der Kommandanten ganz unterschiedlicher Expeditionen zu einer erzählenden Person zum Zweck der Unterhaltung doch eine fiktionale Ebene.96 Diese geriet von Seiten der Wissenschaft allerdings sofort unter Beschuss, denn durch die Literarisierung der Entdeckungsreisen ging der von der Admiralität gewollte »plain style« der ›autoptischen‹, mit eigenen Augen gewonnenen Erfahrung verloren, eine »von den Akademien angepriesene ›nackte‹ Sprache«, die »besser zur Ernsthaftigkeit« der Unternehmungen passe.97 Es nimmt daher nicht Wunder, dass auf den kompilatorischen Ansatz für den dokumentarischen Reisebericht nach Hawkesworths Account kaum noch zu-
96 Beide Zitate Hawkesworth: Account, S. ivf. Hawkesworths Account umfasst die Reiseberichte der Weltumsegelungen unter den Kommandanten John Byron, Philip Carteret, James Cook sowie Samuel Wallis und wurde in drei Bänden publiziert. 97 Despoix: Die Welt vermessen, S. 108. Auch wenn der Begriff des ›Autoptischen‹ heute fast ausschließlich mit der leichenbeschauenden Autopsie in Verbindung gebracht wird, so übernimmt diese Studie diese Wendung von Despoix, der sie im historischen Sinne der Entdeckungsfahrt verwendet.
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rückgegriffen wurde und stattdessen die wissenschaftliche Sprache der autoptischen Erfahrung Einzug in die Publikationen hielt. Die Kompilation dagegen wurde zum zentralen Merkmal der Fiktionalisierung des Reiseberichts, weil sie es erlaubte, Entdecker und Leser einander anzunähern und den Abenteuergrad der Geschichte zu steigern. Zudem bedingt die Kompilation die Transgressionsleistung der Semiotisierung von Expeditionen, die oben als kartographische Imagination, als expeditives Paradoxon und als arktischer Konjunktiv beschrieben wurden, innerhalb der Fiktion und des Narrativs: Die kompilatorische Semiotisierung hat zur Folge, dass die ursprünglichen Texte überschrieben werden und dadurch verlorengehen – gleichzeitig ergibt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, über den Umweg der Fiktionalisierung, die Möglichkeit, dieses Verschwinden als Verloren Gehen zu personalisieren und so dem nicht mehr kommunizierten und nicht mehr kommunizierenden Abwesenden, eine neue, körperliche, Präsenz zu geben. Es sind Erzähler und Figuren, die in den Texten verschwinden und deren Verschwinden als Grenzüberschreitung erklärt wird, die eine erneute Spurensuche auslöst und nichts anderes ist als die Erzählung selbst. Certeau gelingt es, diese Dopplung von Überschreibung und Überschreitung als durch den kompilierten Reisebericht erschaffenes ›out-of-place element‹ zu beschreiben und damit für das Motiv des Verloren Gehens fruchtbar zu machen. Den Begriff selbst entwickelt er anhand von Jules Vernes Reiseberichtshistorie Die großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts unter Rückgriff auf die Ozeanographie als Umschlagpunkt von Dokumentation in Fiktion in kompilatorischen Reiseberichten. Verne hatte sich 1877 von Gabriel Marcel, einem Angestellten der Nationalbibliothek von Paris, die Reiseberichte der großen Weltumsegelungsprogramme kompilieren lassen, um daraus eine Geschichte zu verfassen. Certeau nimmt schon für die von Marcel verantwortete Zusammenstellung einen Akt der Fiktionalisierung an: »[T]hat corpus consisted of an anthology of selected pieces, prepared in advance, thus already constituted as a fiction of the eighteenth century«. Und so ist das Buch das Resultat zweier Fiktionalisierungsoperationen – »Marcel’s collection and Verne’s treatment of it« –, welche die ursprünglich dokumentarischen Einzeltexte überschreiben. Certeau sieht in Vernes Seefahrerhistorie des 18. Jahrhunderts keine Suche nach einem Ursprung, keine Suche nach einer »nature or truth that would be there before or behind the documents«. Vielmehr scheine es Verne um eine nochmalige Tilgung der weißen Flecken, eine weitere Einkerbung des glatten Raums zu gehen: Sein Text »›conquers‹ space by marking it with meanings«. Eine solche Eroberung und Aneignung des Raums durch Text ist bereits im letzten Kapitel als charakteristisch für ›spatial fictions‹ ausgemacht worden. Die Kompilation wird erkenntlich als Verräumlichung der Literatur: Indem die Quellen der Kompilation enthistorisiert werden, entsteht ein Diskursraum, in welchem die kompilierten Texte zwar unsichtbar gemacht werden, gleichzeitig aber gleichberechtigt nebeneinan-
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der existieren. Das Besondere an Vernes Text jedoch ist Certeau zufolge, dass er seine Gemachtheit, »the general process of fabrication«, zeige und dadurch »the interlinkage of the imaginary and the collection, in other words the labor of fiction within the library« offensichtlich mache.98 Er stelle damit also seine Eroberungstätigkeit – und das heißt: die Kerbung des glatten Raums und die Fiktion von Wissen in der Überblicksposition – durch Überschreibungsoperationen aus. Gleichzeitig aber verwische Verne diese Spuren wieder: Indem der Text sich als Narrativ kenntlich mache, überschreibe er nicht nur die alten Texte, sondern verdränge auch Gabriel Marcels Sammlung: »[A]ll that remains in the final work of the corpus provided by the librarian are scattered pieces, flotsam and jetsam: a fragmented body«.99 Damit ergeht es Marcels Kompilation wie dem certeauschen Fußgänger im Raum, dessen Bewegungen nur um den Preis der Totenstarre des Raums kartiert werden können – aus Texten werden Relikte, deren Überreste als Palimpsest im Narrativ höchstens durchscheinen.100 Für den Leser hält Certeau dabei die Rolle des Detektivs bereit; an ihm sei es, die Spuren der palimpsestartigen Überschreibungen wiederzufinden, die Verschiebungen der Textebenen offenzulegen. Die Reise der Entdecker wird zum Leser getragen, dem eine doppelt aktive Funktion zugeschrieben wird, insofern er einerseits selbst zum Reisenden, andererseits zum Autor der Rekonstruktion wird: »The novel arises from it [dem fragmentierten Körper, MG] and we, as readers, can in turn become its author. We can do so by trying to find the corpus lost in the text, by raising up relics until the absent body is reached, revealing the phantom, by creating a simulacrum of the library, that framed Verne’s work, by mapping in this way Gabriel Marcel’s voyages in the National Library.«101
98
Alle Zitate WtS, S. 138f.
99
Ebd., S. 141.
100 In diesem Sinn verweist Certeau auf Marcels Werk als »shattered mirror [...] studded with slivers of mirror from an older stratum of source processing« (ebd.). Die Metapher des geborstenen Spiegels, der in sich wiederum Spuren weiterer geborstener Spiegelbilder enthält, verweist auf die psychoanalytische Deutung der Subjektkonstitution durch den distanzierten Blick, vgl. TEIL I, Kap. 1, S. 49, 56 in dieser Arbeit. 101 WtS, S. 141. Wenn Deleuze und Guattari davon sprechen, dass es auch »Reisen an Ort und Stelle« (TP, S. 668) gebe, dann kann mit Stefan Heyer, der davon spricht, dass in der Perspektive Deleuzes und Guattaris die »Notwendigkeit, zu Reisen, entfällt« (Heyer: Kunstkonzept, S. 16), der Zusammenhang zur Funktion des Lesers bei Certeau, sowohl in Writing the Sea als auch in der Kunst des Handelns hergestellt werden. Der Leser kann selbst zum aktiven Reisenden werden, indem er seine eigene Perspektive auf den Text ändert: »Weit davon entfernt, Schriftsteller – also Gründer eines eigenen Ortes
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Das stete Spiel von Tilgung und Bergung im Text erzeugt dabei ein zweites Narrativ, dessen Zweck »is only shown in the process of being engulfed by the narrative«. Diese Bewegung, so Certeau, verdopple gleichsam die Anhäufung von Reiseberichten und -dokumenten in den Laboren und Museen, ganz im Sinne der Überlegungen zu den Nachfahr(t)en bei Bay und Struck. In der durch das Dispositiv der Entdeckung gestützten fiktionalisierten Expeditionsliteratur findet eine Verbindung von Texten mit Texten statt, ein Anhäufen, das, so Certeau, sich als narrative Spirale zeige, die sich vertikal auftürme und den jeweils neuen Text als Fortsetzung und Überschreibung der bestehenden Texte äußere: »[T]he voyage of the other [...] is a continuation of other voyages, older ones, to which the writing bears witness«.102 In diesem Sinne ist die auf Kompilation aufbauende Literatur der Entdeckung auch verbunden mit einer intertextuellen Anreicherung der Kommentarfunktion dieser Texte, deren Sichtbarmachung Aufgabe des Lesers ist. Das Motiv des Verloren Gehens ist nun die Konsequenz dieser Anreicherung, die als Entbergung durch Verbergung bei Verne von Certeau mittels einer zunächst eher unscheinbar wirkenden Nebenbemerkung verhandelt wird. So stellt dieser mit Blick auf Vernes Text fest, dass Überschreibungsbewegungen nicht nur in »semivertical depths of the citations« stattfänden, sondern zudem »traversed by adjacent currents, by lateral annexations of information« seien. Neben die sich auftürmenden historischen Zitate und Reiseberichte trete in Vernes Text auch ein anachronistisches, weil zeitgenössisches wissenschaftliches Zitat aus dem 19. Jahrhundert, das vom Narrativ abweiche, weil es sich eben nicht aus den Texten der Eroberer des 18. Jahrhunderts speise – ein Lapsus, der den aus dem Text getilgten Marcel wieder zurück in den Text hole. Certeau nennt das Produkt dieses Vorgangs der lateralen Verschiebung im Text ›l’insolite‹ – was in der deutschen Übersetzung durch Dirk Naguschewski als ›das Erstaunliche‹ zunächst eher unbedeutend anmutet und erst in der englischen Übersetzung durch Brian Massumi als »out-of-place element« in einer doppelten Bedeutung erfasst werden kann: Nicht nur das anachronistisch eingefügte laterale Zitat ist ›das Erstaunliche‹, das ›out-of-place element‹; auch das gänzlich Andere wird zum – gleichwohl aus dem Text gelöschten – Zeichen der Anwesenheit in Abwesenheit.103 Das ›out-of-place element‹ entpuppt sich als Ver-
[...] – zu sein, sind die Leser Reisende, sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomaden in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben« (KdH, S. 307). 102 WtS, S. 142, 139. 103 Beide Zitate WtS, S. 142. Das französische Original findet sich bei Certeau: Écrire la mer, S. VIII, die deutsche Übersetzung bei ders.: Die See schreiben, S. 134. Weil erst die englische Version das ›out-of-place element‹ als solches aus- und ihm die hier verwendete Bedeutung zuweist, beziehe ich mich konsequent auf die Übersetzung Massumis.
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loren Gegangenes, es äußert sich als Effekt der verschwunden Texte, der Relikte und Absenzen, es zeigt an, wo diese eben nicht mehr stehen – und provoziert seinerseits Neueinschreibungen im Sinne des verneschen Lapsus. Durch diese Abwesenheit, durch das ›out-of-place element‹ wird der Leser eingebunden in die von der Realität vorgegebene Suche nach dem ›corpus lost in the text‹, wobei dieser verlorene Körper sich nun nicht allein auf überschriebene Textkörper und damit dokumentarische wie fiktionale Werke beziehen lässt, sondern auch und vor allem auf den Körper von Figuren und damit auf Personen, die im Text verschwinden, weil sie damit eine Bewegung nachahmen, die in der Realität bereits stattgefunden hat: Es ist die Nachfahrt und der von der kartographischen Imagination angetriebene Wille zur Entdeckung, die sich auf die Verschwundenen richtet. Certeau vollzieht die Bedeutung des ›out-of-place element‹ für das Narrativ anhand von Vernes Lapsus nach: Ausgehend von dem Verschwinden des Seefahrers Jean François de La Pérouse, der mitsamt Schiff und Crew 1788 im Pazifischen Ozean verschollen ging und der in den darauf folgenden Jahren von einer Vielzahl von Expeditionen gesucht wurde, identifiziert er in diesem Sinne den Mangel an Wissen und Macht als Ausdruck des topographischen Bedürfnisses der Nachfahrer und damit auch der Literatur.104 Wenn also das Verschwinden Expeditionen hervorrief, die auf ihrer Spurensuche »the void created by this great tombless death« umkreisen, so blieb La Pérouse dennoch weiterhin verschwunden. Er konnte auch durch die Reiseberichte seiner Nachfahr(t)en nicht eindeutig in einen ›rigor mortis‹ – und das heißt: in eine Karte oder einen Text – übertragen werden. Das von Verne an die Stelle von La Pérouse eingefügte laterale Zitat, dass für Certeau nun ›das Erstaunliche‹ darstellt, kommentiert eben diese Lücke mit einer zeitgenössischen Nachricht aus dem Bulletin de la Société de géographie von 1869. La Pérouses Verschwinden produziert nicht nur das ›out-of-place element‹ als erstaunliche Einfügung, er selbst wird zum ›out-of-place element‹ der literarischen Überschreibung bei Verne. Dieses literarische Verloren Gehen bleibt jedoch als Hinweis »in the gaps left in the old texts, where a paucity of data prevents the dead from being located on the maps or in language«.105 Die Literarisierung der Spurensuche nach La Pérouse trägt durch die Erweiterung des Begriffs um die Dimension des Verloren Gehens eine Verdreifachung des ›out-of-place element‹ in sich: So verschwinden nicht nur die Teilnehmer der Expedition, sondern in der Konsequenz auch die
104 Zum topographischen Bedürfnis (vgl. Blumenberg: Prozeß, S. 17) des frühneuzeitlichen Menschen und der Subjektkonstitution des Überblicks als Antwort auf einen wahrgenommenen »Mangel an Wissen und damit verbundener Macht« (Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 13) vgl. TEIL I, Kap. 1, S. 50-56. 105 WtS, S. 142.
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Berichte derer, die La Pérouse gesucht haben in einer Literatur, die das Verschwinden der Expeditionen als Verschwinden der Figuren thematisiert. Die Funktion des ›out-of-place element‹ ist also Vervielfältigung der Verschiebung durch Überschreibung, womit die Akte der kartographischen Imagination im Dispositiv der Entdeckung in ihrer Übertragung in Literatur als Anreicherung der Kommentarfunktion dieser Literatur erscheinen: Kompilation und Fiktionalisierung, die aus den Reiseberichten fiktive Texte machen, bedingen sowohl die Einwie auch die Ausschreibung von Elementen in den respektive aus dem Text. Indem aber die Figuren verschwinden, werden Erzähler zu Kommentatoren der Bedingungen dieses Verschwindens – und exakt diese Verdopplung ist es, in der nun die Verhandlung von Stillstand und Bewegung stattfindet. Denn indem die dem Dispositiv der Entdeckung verpflichteten Romane ›out-of-place elements‹ inkorporieren, verhandeln sie Momente der Bewegung aus dem Text hinaus im Versuch des Erzählers, diese Verloren Gegangenen zu reintegrieren. Geschieht dies bei Verne in der Lesart Certeaus als Lapsus, so wird die Analyse der Polarromane Arthur Gordon Pym und Die Schrecken des Eises und der Finsternis zeigen, inwiefern die Anreicherung der Kommentarfunktion der Texte eingesetzt wird, um die Überschreibungsoperationen als Stillstellung der Literatur zu thematisieren und zu problematisieren – und im Medium der festgeschriebenen Schrift mithilfe der Erzeugung von figuralen ›out-of-place elements‹ eine Rehierarchisierung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung vorzunehmen.
4.4 ANEIGNUNG IN EXPEDITION UND LITERATUR: ARKTIS UND ANTARKTIS Während den bisherigen Schwerpunkt für die Überlegungen zum Dispositiv der Entdeckung, zur kartographischen Imagination und zum Verloren Gehen als Erschaffung eines neu zu besetzenden ›out-of-place element‹ die Expeditionen und Entdeckungsreisen auf den Ozeanen bildeten, treten nun die historisch wie geographisch letztmöglichen Ziele dieser Expeditionen in den Vordergrund der Betrachtung: Den Raum, in dem die zu untersuchenden Texte handeln, bilden die Polargebiete, das heißt die sich bis zu den jeweiligen Polarkreisen erstreckenden Regionen der Arktis und Antarktis. Dabei sollen Arktis und Antarktis weder historisch noch methodisch in der Analyse geschieden werden, obwohl es naheliegend scheinen könnte. Beide partizipieren an einem gemeinsamen Diskurs der Entdeckung, Eroberung und Literarisierung, worauf Sabine Frost in ihrer Studie zum Phänomen des Whiteout in der Literatur hinweist: »Im heroischen Zeitalter der empirischen Entdeckungsfahrten zieht es nahezu den gleichen Personenkreis sowohl in die Arktis als
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auch in die Antarktis. Die weit auseinanderliegenden Pole verbinden sich in dieser Bezugnahme zu ein und demselben Ort, zu einem mythologischen Raum.«106 In diesem mythologischen Raum der expeditiven Entdeckung und Aneignung einerseits und der kartographischen Imagination und des arktischen – und mithin: polaren – Konjunktivs, andererseits nimmt die Literatur eine Vermittlertätigkeit ein. Die Literarizität der glatten Räumen der Polargebiete wird verhandelt im Spannungsfeld zwischen Fantastik und Realismus: So stellen sie als noch-nicht-eroberte Räume Keimzellen für Überschreitung, Eroberung und Fiktion dar und sind, Michel Butor zufolge, die idealen Orte des fantastischen Romans: »Der Ort des Romans ist [...] eine Partikularisierung eines ›Anderswo‹, das den wirklichen Raum ergänzt, in dem es evoziert wird.« ›Wirkliche Räume‹, das sind die gekerbten Räume der Zivilisation, die sich real bestimmen lassen. Ihnen gegenübergestellt werden die ›terrae incognitae‹, deren Aneignung immer ein fantastisches Element enthält. Weil sie die Orte imaginieren, die »nicht vollständig erforscht« waren und darum als Anderes die Literatur bevölkerten, sieht Butor in den Welträndern den Motor der Fantasie. »All diese Terrae Incognitae waren mit entsetzlichen oder wunderbaren Ungeheuern erfüllt: Hic sunt leones.«107 Dagegen positioniert und hierarchisiert Butor jedoch den realistischen Roman, der – analog zur Entwicklung der Karte – das ›Welterkundungsprogramm‹ der Neuzeit in die Literatur überträgt. »Solange es noch weiße Flecken auf der Weltkarte gibt«, so argumentiert Christian Moser im Anschluss an Butor, sei es für den Roman möglich, »seine Allianz mit dem Wunderbaren fortzusetzen«. Erst die vollständige Erschließung der Welt eliminiere »die alten Weltränder, an denen das mythische Denken Ungeheuer und Fabelwesen zu lokalisieren pflegte«. Mit dem Siegeszug der Entdeckung, Eroberung und Aneignung einher geht der Siegeszug des realistischen Romans. Die Polargebiete als Weltränder markieren »demnach den Extrempunkt entfesselten Fabulierens, den Punkt, an dem der Roman jeglichen Weltbezug einbüßt«.108 Gleichzeitig gilt für die Polarliteratur der Gegenwart, dass die Romane, gerade weil sie sich einem weiterhin glatten, unzivilisierten Raum gegenübersehen, bis zu einem gewissen Grad fantasieren müssen, um ihn literarisierend kerben zu können. Darum wird das ›entfesselte Fabulieren‹ in dieser Studie, entgegen Butors Tendenz, den Realismus als Telos des Romans zu begreifen, nicht als atavistisches Prinzip gefasst, sondern auf seine produktive Dimension hin befragt: Kann sich ein Text nicht mehr auf dokumentarische Grundlagen verlassen, muss der Weltbezug neu erschaffen, muss Zivilisation narrativ begründet, muss fabuliert werden, um Text zu erzeugen. Unter dieser Perspektive rückt im Spannungsfeld von realistischem und
106 Frost: Whiteout, S. 208f. 107 Beide Zitate Butor: Raum des Romans, S. 81. 108 Moser: Weltrand, S. 55.
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fantastischem Erzählen wiederum jener Punkt in den Blick, an dem sich die Übergänge vom einen ins andere zeigen, wo aus realistischem Erzählen reines Fabulieren wird, wo Figuren verloren gehen, um gesucht und nicht gefunden zu werden: Der Umschlagspunkt von Glattem und Gekerbten, Stillstand und Bewegung. Die Polargebiete bieten sich im Dispositiv der Entdeckung als literarische Schauplätze auch deswegen an, weil sie historisch wie geographisch zu den letzten weißen Flecken auf den Karten gehörten. Es ist in ihrer absoluten Unzugänglichkeit auch der Grund verankert, warum das Interesse an der Eroberung der Pole oftmals die Grenzen zur Fiktion überschritt – wie bereits mit Blick auf den Kartographen August Petermann und den arktischen Konjunktiv gezeigt werden konnte. Sie eignen sich auch darum geradezu prädestiniert für die vorgeschlagene Analyse der Verhandlung von Stillstand und Bewegung durch das Verloren Gehen, weil die weißen Eisflächen dieser glatten Räume par excellence Projektionsflächen literarischer Imagination darstellen, deren metaphorische Nähe zum weißen Blatt Papier eine Engführung von expeditiver wie literarischer Aneignung auf raumsemantischer wie raumsemiotischer Ebene provoziert. Der Diskurs der Polarliteratur ist darum einerseits dem Dispositiv der Entdeckung verpflichtet und verhandelt Transgression und Fiktionalisierung ebenso, wie er andererseits in besonderem Maße das Verloren Gehen als Phänomen des Scheiterns und der Aus-, Ein- und Überschreibung thematisiert. Wie kaum ein anderer Schauplatz drängen die literarischen Polargebiete dem Leser die Frage nach den Konsequenzen des Erzählens als Herstellung von Überblick auf. In den sich oftmals auf die Realität expeditiver Reiseberichte stützenden Romanen dieses Diskurses erzeugt das Verloren Gehen eine polare Imagination, einen polaren Konjunktiv, der narrativ Spurensucher aufbrechen lässt, um die Verschwunden und Verlorenen, die Gescheiterten und Gestorbenen, zu suchen, sie zurückzuholen und damit zu überschreiben. Als ältester narrativer Präzedenzfall des Motivs polaren Verloren Gehens lässt sich Dantes Göttliche Komödie von 1321 bestimmen, die mit dem Südpolfahrer Odysseus zum ersten Mal einen Scheiternden und Verloren Gegangenen vorstellt, dessen transgressive Reise, wie zu zeigen sein wird, erst durch eine Reintegration in ein Narrativ erzählt werden kann. Kernphasen dieser Tradition sind zudem einerseits das 19. Jahrhundert, als die Konjunktur der realen Polarfahrten sich in der Produktion literarischer Verarbeitungen dieser oftmals scheiternden Expeditionen und vor allem in der Kompilation der Reiseberichte zeigte, wie auch das späte 20. Jahrhundert. Vermehrt seit den 1980er Jahren sind, so schreibt Marion MunzKrines, »Romane, Sachbücher, Zeitungsartikel, Radiosendungen und Dokumentarfilme über Reisen ins Eis entstanden«.109 Dabei zeigten sich, wie Bay und Struck notieren, gerade in den neuerlichen literarischen Anverwandlungen der Polarexpe-
109 Munz-Krines: Expeditionen, S. 11.
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ditionen vielfältige, geradezu spielerische Verfahrensweisen, »mit denen die gegenwärtigen Texte ihre Quellen neu, um- und weiterschreiben«. Diese Art des Umgangs wiederum stellt eben jene Anreicherung der Kommentarfunktion dar, die bereits oben unter Rückgriff auf Certeau als konstitutiv für die Literatur im Dispositiv der Entdeckung ausgemacht wurde und die nun auch in der Polarliteratur zum zentralen Mittel der Narrativisierung der Aneignung wird. Poes Narrative of Arthur Gordon Pym steht exemplarisch für eine solchermaßen angereicherte Literatur, die bereits zeitgenössisch weiter denkt als ihre Vorlagen und auf eben diese spielerischen Verfahrensweisen des späten 20. Jahrhunderts vorausweist. Gleichzeitig ist mit der Anreicherung der Kommentarfunktion auch eine Verantwortung der literarischen Kommentatoren aufgerufen, denn die »Literatur der Nachgeborenen« müsse sich, so Bay und Struck, »nicht nur der Erkenntnis stellen, dass Entdeckungen im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus immer auch Eroberungen waren, sondern auch der Frage, wie die ursprünglichen Berichte damit umgingen«.110 Am Beispiel der Schrecken des Eises und der Finsternis wird der Umgang mit dieser Verantwortung analytisch aufgearbeitet und nachvollzogen. Um das Motiv des Verloren Gehens in den literarischen Polargebieten zu untersuchen, blickt die vorliegende Studie im Folgenden exemplarisch sowohl auf den Beginn bei Dante, die historische Konjunktur im 19. Jahrhundert wie auch die postmoderne Verarbeitung im späten 20. Jahrhundert – wobei Dantes Odysseus-Geschichte im Laufe dieses Kapitels nur motivisch skizziert wird und zurücktritt hinter die umfangreichen Analysen der zwei Romane Poes und Ransmayrs. Diese stehen beispielhaft für die jeweils zeitgenössischen Literaturen weisen aber jenseits ihrer Repräsentativität überdies ein Spezifikum auf, das sie um ihrer selbst willen interessant macht: Das Motiv des Verloren Gehens als Verhandlung der Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung wird in ihnen zum Schlüssel für das Verständnis von Welt und Literatur. Auf welche Weise die strukturellen Eigenschaften der Polargebiete aber eine solche Literatur des Verloren Gehens grundsätzlich begünstigen oder sogar bedingen, muss zunächst mit Blick auf das Dispositiv der Entdeckung in den Polargebieten, ihrer Literarisierung bzw. Fiktionalisierung geklärt werden. Der Diskurs um die Eroberung der Polargebiete lässt sich in diesem Sinne anhand dreier zusammenhängender Komplexe erschließen: erstens anhand der im Anschluss an die Eroberung der Ozeane vorangebrachten und analog zu analysierenden Eroberung der glatten Räume der Polargebiete, zweitens anhand von deren Literarisierung als Spiel von Spur und Spurlosigkeit und damit von Überschreitung, Einschreibung und Auslöschung und drittens schließlich anhand einer subjektiv sich vermittelnden Phänomenologie der Polargebiete, bei der optische Perzeption gegenüber haptischer Erfahrung in den Hintergrund tritt und damit den subjektiven Erfahrungszusam-
110 Beide Zitate Bay/Struck: Vorwort, S. 9f.
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menhang instabil werden lässt, wie am Phänomen des ›Whiteout‹ erkennbar werden wird. Expeditionen ins Eis: Die Eroberung der Leere Analog zur kartographischen Imagination, die die Entdeckungs- und Eroberungsreisen auf den Ozeanen antrieb und steuerte, speisen sich auch, wie bereits oben in Bezug auf August Petermann und dessen arktischen Konjunktiv angesprochen, die Entdeckungsgeschichten der Polargebiete durch spekulative Karten und Reiseberichte. Die zunächst von Walfängern und Fischern, später auch von Expeditionen mit Forschungsauftrag durchgeführten Reisen ins Eis gliederten sich ein ins bereits aus der Eroberung der Ozeane und neuen Kontinente bekannte Dispositiv der Entdeckung: Das Vorhaben, arktische wie antarktische Gebiete »für die zivilisierte Welt zugänglich zu machen«111 und damit »das Namenlose zu benennen« machte auch im Fall der Polarexpedition »einen mächtigen Antrieb« aus.112 So bilden »die Eckpunkte reale Expedition, Expeditionsbericht, Rezeption des Publikums und künstlerische Verarbeitung ein dichtes Gewebe von Beziehungen«.113 Die Karten, die jenen hauptsächlich von Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert stattfindenden Fahrten zugrunde lagen, zeichneten sich vor allem durch den Umstand aus, dass sie Leere zeigten, kartographische wie metaphorische weiße Flecken, denen man nach und nach, von Expedition zu Expedition Konturen abrang: Küstenlinien, Eisgrenzen und Landmassen. Die sich zunehmend von topographisch-imaginativen zu realistischen Repräsentationen entwickelnden Polargebietskarten des 19. Jahrhunderts manifestierten auf diese Weise den Anspruch auf persönliche, ästhetische wie territoriale Aneignung: »Aufgrund ihres hybriden Formats,« das Zeichnung, Schrift, Ideogramme und weitere Semiotisierungen miteinander verband, »verknüpften sie räumlich-geographisches mit nicht-räumlichem Wissen, integrierten politische und kulturelle Diskurse und aktualisierten eingeführte ästhetische Konzepte«.114 Müller zufolge zeigen sich demnach in der Konzeption der Polargebiete im 19. Jahrhundert unterschiedliche Räume, die je nach Perspektivierung wissenschaftlich, heroisch-explorativ oder politisch-territorial verstanden werden können.115 So erweisen sich die Polargebiete als Projektionsflächen verschiedenster Aneignungsstrategien; die typische Konstellation ihrer Aneignung ist ein zwischen
111 Jerochin: Künstler, S. 284f. 112 Innerhofer: Wege, S. 139. 113 Munz-Krines: Expeditionen ins Eis, S. 12. 114 Müller: Kartierung, S. 378. 115 Vgl. Müller: Fahrten, S. 117.
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Terror und Faszination schwankender Prozess: Arktis und Antarktis zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie unwirtlich und unzivilisiert, weiß und kalt erscheinen und damit Paradebeispiele eines glatten Raums im Sinne Deleuzes und Guattaris sind. Das Polargebiet ist, weil es ein Randgebiet der Welt darstellt, ein »topos of marginality«,116 der »als kahler, menschenleerer Ort jede Orientierung und somit auch jede Beschreibung unmöglich« macht.117 Die die polaren Topographien dominierenden Eisgebirge, diese »Orte der Seelenlosigkeit«,118 stellen »den Inbegriff des ›Niemandslands‹« dar, das die Wahrnehmung und damit die gesamte Subjektivität des Menschen verunsichert. 119 Gerade aber weil sie unerreichbar, unbezwingbar, absolut entzogen sind, wirken sie auch besonders anziehend und stellen Räume von höchstem Faszinationsgrad dar, die Wunschträume auslösen: Wie die »Phantasmagorie des unbeschriebenen leeren Gebiets [...] in der Geographie seit jeher eine treibende Kraft gewesen« ist,120 so ruft auch das Polargebiet als absoluter ›locus horribilis‹ zur gleichen Zeit Vorstellungen des ›locus amoenus‹ auf.121 Gerade weil es als realer Raum so leer ist, entpuppt es sich als abstrakter, unerreichbarer »Raum, der Imagination freisetzt«. Es ist nach Anja Oesterhelt »gleichermaßen offen für Imaginationen der Hölle und des Paradieses«. Er ist ein »mit den Motiven von Erstarrung, Weiß und Leere bezeichnete[r] Raum, der durch Einbildungskraft gefüllt werden muss«.122 Dennoch blieben die arktischen und antarktischen Räume weiterhin absolut weiß, unbesiedelt, unzivilisiert. Denn an ein Verbleiben im ewigen Eis, an eine Siedlung, eine Urbarmachung oder das Anlegen eines Netzes aus Wegen war nicht zu denken. Zu unwirtlich, zu kalt, zu leer waren diese Regionen der Welt. Gleichzeitig forderte die Unmöglichkeit der Kerbung dieser glatten Räume die Eroberer
116 Nethersole: Marginal Topologies, S. 139. 117 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 235. 118 Frank: Die unendliche Fahrt, S. 129. 119 Menke: Polargebiete, S. 566. 120 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 245. 121 Als Orte, deren räumliche Beschaffenheit sowohl abstößt wie auch anzieht, verhandeln die Polargebiete mitsamt ihren Aneignungspraktiken, wie auch Holger Mosebach und Scheck darlegen, räumliche Dichotomien, die größtenteils bereits in TEIL I: DIE RÄUME VON
STILLSTAND UND BEWEGUNG zur Sprache kamen: Zentrum und Peripherie, fest
und flüssig, Licht und Finsternis – und damit eben auch Stillstand und Bewegung. Denn mit dem Wechselspiel von Wasser, Leben und Eroberung auf der einen und Eis, Tod und Unterwerfung auf der anderen Seite sind jene Formen der Raumkonstitution aufgerufen, die starke Beziehungen zur Konstitution des Subjekts aufweisen (vgl. Mosebach: Endzeitvisionen, S: 83-96; Scheck: Katastrophen, S. 284). 122 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 206.
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erst heraus. Roland Innerhofer führt die von der Arktis ausgehende Faszination auf die Perspektive der Entdeckersubjekte zurück: »Von Anfang an knüpfen sich an die Polregionen Wunschfantasien wie Angstvisionen, und gerade auf dieser Ambivalenz beruht ihre Anziehungskraft.«123 Denn die »Attraktion des Schreckbildes« beruht auf dem Risiko, nicht von der Expedition wiederzukehren: Die zivilisatorische Aneignung, die Eroberung der Arktis schlägt fehlt: Expeditionen scheitern, Abenteurer gehen verloren, verschwinden im ewigen Eis und kehren nicht wieder.124 Das unbetretene Land diente, Hanna Eglinger zufolge, als »main attraction to polar explorers. The polar waste provokes phantasms of being the first«. Gerade weil die Expeditionen keine Zivilisation begründen konnten, lösten die glatten Räume der Polargebiete immer neue Expeditionen aus. Die Erfahrung der absoluten Leere der Polargebiete wird zum Höhe- und Wendepunkt der Entdeckungsfahrt: Am Punkt der Umkehr blickt der Eroberer heldenhaft hinaus, beseelt vom polaren Konjunktiv mag er noch hastig den Horizont benennen, die Umkehr aber ist notwendig und gewiss: »›[T]he new‹ is nothing but the void, but it is a void where paradoxically the explorer’s memory-laden prospects encounter myths of the past«. In der Interpretation des Wendepunkts der Expedition als nicht persönliches, sondern prinzipielles ›nec plus ultra‹ reiht sich der Entdecker selbst ein in die Ahnengalerie der Grenzüberschreiter, er wird zum Helden des Eises. »Mythically charged in this way, the turning point increases the significance of this questionable goal with the effect that it becomes the border of the ›humanly possible‹.«125 Nach ihrer Rückkehr nun stilisierten die Reisenden in ihren Berichten diese Wendepunkte zum Höhepunkt der Subjekterfahrung im glatten Raum der Polargebiete – ganz im Sinne des oben beschriebenen Dispositivs der Entdeckung. In den Fokus rücken mit der Vermittlung solcher Grenzerfahrungen in den Reiseberichten nun endgültig die heroischen Entdeckerfiguren, die »Arctic heroes«, die sich aufmachten zur Eroberung der absoluten Leere.126 Diesen ›Arctic heroes‹ nun galten Geschichten mehr als wissenschaftliche Beobachtungen: »[T]he polar explorers’ own stories essentially shape their heroic image«, so hält Eglinger fest.127 Es geht den häufig zu »Nationalhelden« ausgerufenen Polarfahrern des 19. Jahrhunderts anscheinend vor allen Dingen darum, der Erste zu sein – die Gebiete einzunehmen, zu erobern, sich und seiner Nation einzuverleiben:128 »[D]er Topos der geographischen
123 Innerhofer: Wege, S. 139. 124 Lethen: Lob der Kälte, S. 286. 125 Alle Zitate Eglinger: Traces, S. 3, 15, 14. 126 Ryall/Schimanski/Wærp: Arctic Discourses, S. ix. 127 Eglinger: Traces, S. 2. 128 Munz-Krines: Expeditionen, S. 15.
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Entdeckung ist der (noch) unbetretene ›jungfräuliche‹ Ort«. 129 Damit aufgerufen sind Müller zufolge »Männlichkeits- und Eroberungsnarrative«,130 die Polargebiete werden zur »Projektionsfläche eines Initiationsprozesses, bei dem die Protagonisten ihre Persönlichkeit ausbilden und im Kampf um Ehre und Männlichkeit ihre Stellung [...] festigen oder ausbauen«.131 Eglinger sieht mit Mary Louise Pratt darum in den Expeditionen ins Polargebiet auch eine patriarchal-chauvinistische Sexualpolitik am Werke, die ihrerseits wiederum auf das in Teil I detailliert analysierte Subjekt des Überblicks verweist: »It is hard to think of a trope more decisively gendered than the monarch-of-all-I-survey scene. Explorer-man paints/possesses newly unveiled landscape-woman.«132 Der ›Arctic hero‹ stilisiert sich demnach als Reisender, der seine Maskulinität durch Überblick und Eroberung bestätigt sehen will – »the lone masculine figure battling through the snow and ice« –133 und dem das Polargebiet den perfekten, glatten Hintergrund bietet für seine kerbende Entdeckertätigkeit. Der absolut leere Raum erfährt darum eine »artifizielle Funktionalisierung« durch seine Eroberer: »Polarreisen heißen [...] der ›Kampf um die letzten weißen Flächen der Landkarte‹, die sie wörtlicher realisieren als dies irgendeine andere terra nullius könnte. Dieser ›Kampf‹ will auf die Eintragung als Erster in ein jungfräuliches Territorium hinaus, das, versteht sich, dazu gemacht worden sein muss.«134
Mit jeder neuen Expedition, die der ›terra nullius‹, dem Niemandsland, ein neues Landstück abrang, eine neue Küstenlinie oder eine neue Packeisgrenze, wurden die Karten überschrieben, die Perspektive erweitert und ein Stück mehr Orientierung erzeugt. Die glatten Räume des Polargebiets sind demnach nicht nur Ziel der Fahrt. Sie drohen, von den Nordpolfahrern auch zum Verschwinden gebracht zu werden, wie Eglinger herausstellt: »The imagined ›white spaces‹ which are waiting to be tinged, filled, and mapped turn out to be dubious goals in as much as they are permanently on the verge of vanishing.«135 Zwar konnten die ›Arctic heroes‹ das neuentdeckte Land auf diese Weise überblicken und sich damit einverleiben, es kerben und sich selbst nach ihrer Rückkehr in den Geschichten zum Helden schlechthin stilisieren; jedoch ist auch diese Ker-
129 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 60. 130 Müller: Kartierung polarer Räume, S. 383. 131 Dies.: Fahrten zum Pol, S. 114. 132 Pratt: Imperial Eyes, S. 213; vgl. dazu auch Eglinger: Traces, S. 5. 133 Ryall/Schimanski/Wærp: Arctic Discourses, S. ix. 134 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 62. Numerus-Inkongruenz im Original, MG. 135 Eglinger: Traces, S. 5.
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bung nicht von Dauer, die Heimfahrt beschwerlich und gefährlich – und der subjektive Erfahrungszusammenhang bleibt im Angesicht des kalten, unwirtlichen Eisraums instabil. In diesem Sinne repräsentieren für Manfred Frank die (literarischen) Polarreisenden vor allem des 19. Jahrhunderts eine sich gesamtgesellschaftlich ausweitende Herzenserkaltung des modernen Subjekts: »Die ›Eisberge im menschlichen Herzen‹ symbolisieren den Tiefstand der Entfremdung des Menschen vom Menschen im liberalen Zeitalter«; durch die Literarisierung der Expeditionen in die Polargebiete wiederum wird diese Entfremdung vermittelt.136 Frank bezieht sich auf das Motiv des Fliegenden Holländers und damit zum einen auf Werke wie Samuel Coleridges The Rime of the Ancient Mariner und Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym, zum anderen ist seine Argumentation durch die geteilte Thematik des Erkaltens eng verbunden mit dem von Helmut Lethen konstatierten Lob der Kälte im ausgehenden 19. Jahrhundert. Lethen erkennt in den Polarfahrern – und mit ihnen zweifelsfrei auch in ihren literarischen Wiedergängern – zwei Motive: »[D]er Kampf mit der Kälte als Parabel der heroischen Pioniertat, das wüste Natursubjekt sich untertan zu machen, mischt sich mit der Haltung von Nietzsches ›Nordpolfahrern‹, für die die polare Region die ideale Landschaft ihres Nihilismus ist«.137 Es ist bezeichnend, dass, wie von Lethen beobachtet, Nietzsche für die Charakterisierung einer nihilistischen Haltung sinnbildlich die Nordpolfahrer auftreten lässt: »Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick – ein Auge, das hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? Um nicht zurückzuschauen?...). Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heißen ›Wozu?‹, ›Umsonst!‹, ›Nada!‹ – hier gedeiht und wächst nichts mehr.«138
Und so tritt im Dispositiv der Entdeckung und Aneignung neben Eroberung, Kartierung und wissenschaftlicher Erschließung jene spezielle Aneignungspraxis der Transgression um der Transgression willen, die Menke anhand der Eroberung des Nordpols beobachtet: So war dieser bis ins 19. Jahrhundert hinein als abstrakter, mythisch aufgeladener Ort verstanden worden, der selbst nicht zu erreichen ist. Als geographischer Ort der Leere war der Nordpol im Umkehrschluss nur aufgrund seiner Unerreichbarkeit interessant. Mit den Entdeckungsfahrten des 19. Jahrhunderts geriet aber dieser Status in Gefahr, und so wurde er Menke zufolge metaphorisch umgedeutet zum »topos des absolut Entzogenen« – und damit erst in einem ge-
136 Frank: Die unendliche Fahrt, S. 94. 137 Lethen: Lob der Kälte, S. 304. 138 Nietzsche: Genealogie der Moral, S. 424.
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danklichen Aneignungsvorgang wirklich unerreichbar gemacht. Was dadurch topisch wird, ist die transgressive Entdeckungsreise selbst, »ihr Ort aber – am (leeren) Punkt des Pols – [wird] atopisch«. 139 Lethen charakterisiert die Reise um der Transgression willen nun als weder abhängig von Panorama und Ausblick, die noch die Eroberung alpiner Eislandschaften versprochen hatten, noch von imperialer Gebietsaufteilung oder wissenschaftlichem Entdeckungsdrang, sondern als eine Aneignung, die um die Erfolglosigkeit zivilisatorischer und aufklärerischer Motive weiß und dennoch Menschen ausziehen lässt in die glatten Räume des ewigen Eises. Es wird damit der Versuch der Eroberung als solcher, der »sinnlose Akt extremer Entbehrungen« zum Triumph über die Arktis.140 Der hinausschauende Nordpolfahrer weiß um das endgültige Scheitern seines Blicks, darum ist sein Blick bei Nietzsche keiner des Überblicks wie derjenige Petrarcas, der hinausschaut, um hineinschauen zu können, um sich als Subjekt des Überblicks zu bestimmen. Mit Nietzsche können also jene Abenteurer beschrieben werden, die hinausschauen, aber nicht mehr in der Lage sind, eine Überblicksposition einzunehmen, und deren Augen sich eher als eisige Spiegelflächen zeigen: »The interior landscape of the mind and soul of the traveler mirrors the image of the desolate external landscape. The extremes of the polar region reflect the landscape of human emotions.« 141 Das weiße ewige Eis des Polarraums bedingt das Scheitern der zivilisatorischen Tätigkeit; dem Nordpolfahrer bleibt nichts anderes übrig, als den »Blick im Unten« anzunehmen, also hinauszuschauen und in einer indifferenten Optik dem Überblick zu entsagen.142 Aus diesem Gegensatz zwischen Unterwerfung und Nihilismus zieht Lethen nun die Lehre einer sinnlosen Eroberungstätigkeit der Polarfahrten, da diese absolut spurlos vor sich gingen: »Gefeiert werden die Helden, die als Speerspitzen der Zivilisation in die Schneewüste eindringen, ohne Spuren ihrer Arbeit zu hinterlassen.«143 Mit Lethens Vermischung der heroischen Pioniertat mit der schier aussichtslosen Aufgabe einer Eroberung des absolut leeren Polarraums lässt sich auch die Faszination des Publikums an den Literarisierungen der scheiternden Fahrt nachvollziehen: Das »Risiko des Untergangs macht eine Expedition [...] zum wahren Abenteuer«. Die literarisierten Reisen der ›Arctic heroes‹ stellen Munz-Krines zufolge keine Heldenreisen in Reinform mehr dar, sie sind keine zyklisch geprägten, geglückten Entdeckungsfahrten, bei denen die »Entbehrungen, Selbstzweifel[...] und Todeserfahrungen« der Reise von der erfolgreichen Heimkehr aufgewogen werden.
139 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 64. 140 Lethen: Lob der Kälte, S. 304. 141 Lamb-Faffelberger: Fact and Fiction, S. 276. 142 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 12. 143 Lethen: Lob der Kälte, S. 304.
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Diesen Reisen von Helden des Weges stellt die Realität der polaren Entdeckungsfahrten Helden der Steppe gegenüber: »Gerade Polreisende sind [...] oft scheiternde Helden, denn viele kehren nicht mehr in die Heimat zurück, oder sie sind innerlich durch die Erfahrungen der Reise gebrochen«. Der literarisierte ›Arctic hero‹ scheitert am Raum und damit an sich selbst: »Nicht die Erfahrung der Fremde oder die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft an sich spielen eine zentrale Rolle, sondern die Konstanten einer kalten Natur, die der Protagonist schlicht nicht beeinflussen kann.«144 Und doch tragen diese Reisenden einen Sieg über den glatten Raum davon, was jedoch keine Zivilisierung, keine Entdeckung oder Eroberung mehr mit sich bringt, sondern allein: Zeichen. Zwar erweist sich der »bisherige ›weiße Fleck‹ auf der Landkarte«, wie Oesterhelt meint, auch realiter als Leere, als glatter Raum, »doch zumindest die Landkarte lässt sich beschriften«.145 Oder, um die Terminologie Deleuzes und Guattaris aufzugreifen: Wo die tatsächliche Zivilisierung als Kerbung des glatten Raums der Arktis nicht möglich ist, dort lässt sich zumindest in der Schrift, der Karte und Literatur eine Kerbung zweiter Ordnung durchführen – in Karte, Reisebericht, Literatur. Die Polarexpedition selbst wird dadurch zur Metapher für den Schreibprozess, sie öffnet, Jens Nöller zufolge, »die literarische Produktivität für die Bilder des Imaginären«.146 So hinterlässt die spurlose Arbeit der Eroberer doch Spuren – in den Karten, Berichten und Texten, die nach ihrer Rückkehr bzw. in Folge ihres Verschwindens entstehen: Die Eroberer bringen Erzählungen aus der Arktis zurück, die beseelt sind vom polaren Konjunktiv des ›Was wäre wenn?‹; sie erzeugen Semiotisierungen derjenigen Räume, die jede Eroberung negieren, und provozieren ihrerseits – wie es bereits für die Ozeanfahrten festgehalten wurde – Nachfahr(t)en. Die Polargebiete fungieren als literarischer Fantasieort, auf den die Erzähler ihre Vorstellungswelten projizieren können. Daraus erklärt sich, dass Moser die Polargebiete in ihrer Funktion als Ränder der Welt einen »mythopoetischen Reflexionsraum« nennt,147 während Menke in ihnen ein »Bibliotheksphänomen« erkennt und sie als »metapoetische Metapher« beschreibt.148 Als buchstäblicher weißer Fleck und glatter Raum, der nach jeder Expedition doch weiterhin spurenlos und leer bleibt, provozieren die Polargebiete Aneignungsvorgänge wie Entdeckung, Eroberung und Zivilisierung durch Beschreibung, Literarisierung und Narrativisierung. In die Dichotomien ihrer räumlich perspektivierten Konstitution aufgespannt dienen Arktis und Antarktis als Imaginationsräume
144 Alle Zitate Munz-Krines: Expeditionen, S. 17, 19, 32. 145 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 203. 146 Nöller: Blatt, S. 293; vgl. dazu auch Müller: Fahrten zum Pol, S. 119. 147 Moser: Weltrand, S. 59. 148 Menke: Polargebiete, S. 545.
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der Literatur: »Mit seinem ambivalenten Charakter als nicht zu ortender und dennoch realer Ort, als geographische Fiktion und realer Orientierungspunkt, als unbestimmte Leerstelle wird der Nordpol zur Metapher für das spielerische Verhältnis zwischen Realität und Fiktion«. 149 Auf diese Weise wird das weiße Blatt Papier zum Double des weißen Raums des Polargebiets – und zu dessen Ersatz: Das Weiß der Polargebiete, das »für eine unerschöpfliche Leere, einen Bereich des durch keine Realisation oder Wahl eingeschränkten Möglichen« steht, kann nur – indem es mit dem Papier gleichgesetzt und, mehr noch, von diesem ersetzt wurde – »durch die Arbeit des Dichters strukturiert und erschlossen« werden.150 So verhält sich die Aneignung der Polargebiete analog zur kartographischen Imagination als Triebfeder der Eroberung der Welt: Aus Expeditionen entstehen Karten, aus Karten Reiseberichte, aus Reiseberichten Literatur, aus Literatur Expeditionen. Die Polargebiete werden so, Müller zufolge, auf eine ganz ähnliche Weise zum »Anlass, Gegenstand und strukturierende[n] Element des Schreibens; zugleich wird ihre Erkundung im Medium der Literatur reproduziert«.151 Wer über die Grenzen der Zivilisation hinaus in die glatten Räume gelangt, diese aber eben nicht zivilisatorisch erschließen kann, der muss davon erzählen. So beweisen etwa die Tagebücher von im Eis der Polargebiete eingeschlossenen Expeditionsteilnehmern laut Axel Gellhaus »die Notwendigkeit sprachlicher Realisation gerade da, wo menschliche Erfahrung in Neuland vorstößt«. Hier, im Aufgeschriebensein »stößt die Erinnerung an die Grenzen der Darstellbarkeit und wird poetisch«.152 Karten und Berichte sind damit als Explorationen des arktischen Raums zu verstehen, die auf eine ästhetische Aneignungspraxis verweisen, welche erst in der Fiktion vollends zur Blüte gebracht werden kann. Kopp-Marx nimmt darum sogar an, dass das eigentliche Ziel einer jeden Polfahrt nicht die Entdeckung, Eroberung oder wissenschaftliche Vermessung sei, sondern die Literarisierung: »[W]ie das Weiß eines Blatt Papiers nach Beschriftung drängt«, so müsse »jedes Eiswüstenabenteuer im Versuch literarischer Beschreibung enden und jegliche Expedition dazu da [sein], in einem Buch zu enden«.153 Literarische Polarfahrten: Spur und Spurlosigkeit Mit Menke kann die Formulierung Lethens von der ›sinnlosen Arbeit der Polarfahrer‹ in ihr Gegenteil gewendet werden: Literarische Polfahrten versuchen die spu-
149 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 236. 150 Nöller: Blatt, S. 293. 151 Müller: Fahrten zum Pol, S. 113. 152 Gellhaus: Verblassen der Schrift, S. 109. 153 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 237.
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renlosen Polargebiete im Anschluss an die expeditive Aneignung in einem zweiten Schritt ästhetisch zu erschließen, sind dabei jedoch immer von den Spuren anderer Expeditionen und damit anderer Texte abhängig, die Polargebiete sind darum eben ein ›Bibliotheksphänomen‹. Zudem lässt sich die literarische Reise ins Eis als mit anderen Literaturtraditionen – »Hades-/Todesfahrt, Dichterreise, Eiszeit- bzw. Vereisungstheorien oder auch Formen der Initiation« –154 verbundene Spiegelung realer Reisen auf Papier verstehen, die zudem auf ihren Vorgängertexten basiert und sie zu überschreiten sucht. Nicht nur ist mit polarer Reiseliteratur der Bestand ganzer Bibliotheken zu füllen,155 vielmehr fungieren sie selbst als Speicher von Wissen: Sie erweisen sich als Ort der Einschreibung von Texten, die sich bereits auf andere, vorgängige Texte beziehen, als vielfache Stufung des polaren Konjunktivs, in welcher sich jeder Text auf einen Vorgänger bezieht und wiederum Nachfahren produziert: »[D]ie (literarischen) Fahrten ins Polargebiet verhandeln die Erreichbarkeit eines Territoriums der Spurlosigkeit, in dem sie sich begründen und sich verlieren, und sie verhandeln diese so, daß es im Medium und Modus ihrer eigenen Verfaßtheit unerreichbar wird. Erreichbarkeit und Unerreichbarkeit der Polarregionen stellen sich dar in der gegenseitigen supplementären Angewiesenheit von Polargebiet und Bibliothek.«156
In Menkes Betrachtungsweise ist die Geschichte der Polarfahrt darum eine stete Abfolge von Übertretungen, die ihre Bedingungen der Spur und Spurlosigkeit besonders intensiv in der Literatur verhandeln können: »Denn mit dem Modell der Übertretung wird die (Frage der) Aufzeichenbarkeit und Lesbarkeit« von Orten
154 Munz-Krines: Expeditionen, S. 12. 155 Eine kleine, chronologisch vorgelegte Auswahl belegt die Beliebtheit der Polargebiete als literarisches Thema, sowohl in der europäischen wie auch der amerikanischen Literaturgeschichte: Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg, Erstausgabe 1731 als Wunderliche Fata einiger Seefahrer; Mary Shelley: Frankenstein, or, The modern Prometheus, Erstausgabe 1818; Edgar Allan Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, Erstausgabe 1838; André Gide: Die Reise Urians, Erstausgabe 1893 als Le Voyage d’Urien; Jules Verne: Die Eissphinx, Erstausgabe 1897 als Le Sphinx des glaces; Per Olof Sundman: Ingenieur Andrées Luftfahrt, Erstausgabe 1967 als Ingenjör Andrées luftfärd; Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit, Erstausgabe 1983; Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Erstausgabe 1984; Ilija Trojanow: EisTau, Erstausgabe 2011. Für einen detaillierten Überblick über die 700-jährige Geschichte der Literarisierung von Polfahrten vgl. Munz-Krines: Expeditionen; Fröhling: Literarische Reisen. 156 Menke: Polargebiete, S. 546.
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thematisiert, die zwar topographierbar erschienen, jedoch gleichzeitig immer exterritorial gedacht werden müssten.157 Die Polarliteratur als »Schreiben über Reisen ins Eis kann selbst als eine Art Reise in eine weiße Landschaft gedeutet werden«, wie Munz-Krines meint.158 Auf diese Weise verbinden sich Entdeckung und Aufzeichnung in der Verhandlung von Stillstand und Bewegung. Grundlage ist die gegenseitige Bezugnahme von Spur und Spurlosigkeit, da über die Polarfahrten, »jenen ›im Realen‹ wie in deren (literarischen) Vor-Entwürfen und ›Nach‹Schriften«, ein Ort konzipiert wird, der einerseits »ohne Eintragungen des Menschen, [...] ohne (bereits hinterlassene) Spuren« wäre, zugleich aber »dem Zeichenraum selbst gar nicht mehr angehörte, der dessen Grenze oder dessen ›jenseits‹ markierte. Das Erreichen dieses ›Ortes‹ kann nur als Aporie gedacht werden«.159 Der Pol wird zum metapoetischen Ort der reinen Spurlosigkeit, der dennoch nachträglich als Spur kenntlich gemacht, in Absenz semiotisiert und literarisiert wird: »Die Spurlosigkeit wird aufgefunden nur in einer Nachträglichkeit, die sie dementiert, das, was nur einmal sich ereignet, in der Wiederholung.«160 Die paradoxale Herstellung von Spurlosigkeit in der Schrift korrespondiert mit der bereits in Teil I als zentralen Bedingung der Verhandlung von Stillstand und Bewegung etablierten Paradoxie des Schreibens ohne Text. Denn wie das Schreiben ohne Text keine narrative Bewegung als Text produzieren kann, ohne sie gleichzeitig immanent festzuschreiben und damit auszulöschen, so trägt auch die Polarfahrt im Zusammenspiel von Spurlosigkeit und Spur stets das Scheitern der Entdeckung nicht allein als Gefährdungspotential in sich, es wird nach Menke zum Definiens der Polarfahrt und damit der Polarliteratur an sich: Die Entdeckung des Pols als spurenlosem Ort ist nicht allein in die narrative Verhandlung von Stillstand und Bewegung eingetragen, weil sie die Übertretung vervielfältigt und in einen sich aus der kartographischen Imagination speisenden Diskurs des polaren Konjunktivs aus literarischen Nachfahr(t)en einschreibt, sondern weil »mit der Logik der Pol-Entdeckung die Verspätung allen Schreibens, das ein Nachfahren in den Spuren von Vorgängertexten ist, zur tödlichen Drohung« wird. Denn wie das Polargebiet »als der Ort ›jenseits‹ aller Eintragungen schon immer in den Spuren von ›Vorgängern‹ begangen« wird, so ist mit der vervielfachten Übertretung auch ein stetes Scheitern an der Entdeckung markiert. Polarexpeditionen, so Menke, erzeugten »vor allem ihr Scheitern und Verschollen-Gehen«, das Polargebiet demen-
157 Dies.: Grenzüberschreitungen, S. 59. 158 Munz-Krines: Expeditionen, S. 12. 159 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 61. 160 Dies.: Polargebiete, S. 546.
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tiere daher »durch seine intertextuelle Verfasstheit [...] das, was in ihm aufgefunden werden sollte: der Ort ohne Spuren, der topos der Spurlosigkeit«.161 Den Urtext der Genealogie literarischer Polarfahrten stellt die in Dante Alighieris Inferno der Göttlichen Komödie erzählte Fahrt Odysseus’ zum Südpol dar.162 In ihr bereits finden sich die Ursprünge jener zentralen Motive der Expedition ins ewige Eis, die in den ihr nachfolgenden Texten immer wieder aufgenommen werden und die den Topos der Spurlosigkeit bis ins 21. Jahrhundert tragen. Die Geschichte Odysseus’ kann darum als Grundlage für die Analyse der narrativen Konsequenzen der sich stetig im Scheitern überschreibenden Spurlosigkeit dienen. Im siebten Graben des Infernos trifft Dante auf Odysseus, der ihm von der Fahrt berichtet: »So ging aufs offne, hohe Meer das Rennen Mit einem Kiel, mit jener kleinen Bande, Die nichts im Leben von mir konnte trennen. Die Ufer beide sah ich, Land um Lande, Bis Spanien, bis Marokko, meerumwallt Die Inseln alle nächst Sardiniens Strande. Ich war und die Gefährten müd und alt, Als uns zum engen Schlund der Kiel getragen, Wo noch, von Herkules gesetzt, der Halt Dem Schiffer dort gebot, die Male ragen. [...] ›Ihr Brüder!‹ sprach ich, ›habt des Westens Strand Erreicht mit vielen tausend Leibgefahren: Wollt ihr nicht nützen, was am Grabesrand Den wachen Sinnen noch verbleibt an Jahren, Der Sonne nach, auf Kundschaft nun bedacht, Vom Land, das ohne Menschen, auszufahren? Seht eure Abkunft an! Seid nicht gemacht, Hienieden wie das blöde Vieh zu leben: Auf Mannheit und auf Wissen habet acht!‹ Den Fahrtgenossen schärft’ ich so das Streben Mit solchem kurzen Spruch zu solchem Zuge, Daß keiner, wollt’ ichs selbst, mehr Ruhe gegeben.«163
161 Alle Zitate dies.: Grenzüberschreitungen, S. 65-67. 162 Vgl. Munz-Krines: Expeditionen, S. 33f.; Menke: Grenzüberschreitungen, S. 54. 163 Dante: Göttliche Komödie, Hölle, Sechsundzwanzigster Gesang, S. 120, V. 100-123.
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Nach langer Fahrt über das Mittelmeer, an der Schwelle zu den unbekannten Territorien der Welt, welche von den Säulen des Herakles markiert wird, überzeugt Odysseus seine müde Mannschaft, das ›nec plus ultra‹ zu ignorieren und »[v]om Land [...] auszufahren«. Die schiere Neugierde um die Geheimnisse der Welt, jenes »curiositas-Schema«, das Hans Blumenberg zufolge auch Petrarca auf den Mont Ventoux treibt, stachelt die Mannschaft an, die Reise nach den unbekannten und unentdeckten Ländern zu wagen – um schließlich am Fuße des Läuterungsberges zu scheitern und mitsamt des Schiffes unterzugehen. Auf diese Weise enthält Odysseus’ Reise »mit dem Effekt der ›Zurücknahme‹ einer zunächst freigegebenen, dann aber im Kontrast negativierten Wißbegierde« noch ein Rückzugsmuster, das sein Scheitern in Dantes transzendent legitimierte Neugierde integriert: Odysseus ist nach Blumenberg bei Dante »der noch unerlöste Erbe jener Ursünde, [welche] die Überschreitung der dem Menschen gesetzten Grenzen gewesen war«. Und doch ist mit Odysseus’ Übertretung »die Selbstbestätigung der menschlichen Neugierde [...] zur Form ihrer Legitimation geworden«, die Tür ist aufgestoßen für die Entdeckung und Eroberung der Welt:164 »Was bei Dante noch als curiositas verdammt und mit Höllenqualen geahndet wird, avanciert in den folgenden Jahrhunderten zur Wissensfigur der abendländischen Moderne schlechthin, die Grenzen nicht mehr als göttliche Ge- oder Verbote hinnimmt, sondern als Herausforderung annimmt.«165
So ist die Entdeckungsreise als »Paradigma neuzeitlicher Erkenntnis« begründet im Aufbruch und Scheitern Odysseus’; das durch diesen begründete Modell der Übertretung muss gedacht werden als Entdecken eines Ortes, der außerhalb der Karte liegt und frei von allen Spuren ist.166 Aufgerufen sind damit bereits bei Dante Motive, die dem neuzeitlichen Subjekt und damit auch den Polarfahrern des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden können und die sich im Spiel von Spur und Spurlosigkeit der Polarliteratur wiederfinden: Transgression, Eroberung, Maskulinität, Ruhm, Wissensgenese. In einem sowohl an das Individuum wie auch dessen gesellschaftliche Verortung gerichteten Appell stellt Dante der persuasiven Logik der Odysseus-Rede das spätere Scheitern der Fahrt gegenüber:
164 Alle Zitate Blumenberg: Prozeß, S. 143-146. 165 Bay/Struck: Vorwort, S. 11. 166 Ebd.; vgl. zum Modell der Übertretung auch Menke: Polargebiete, S. 562f.; dies.: Grenzüberschreitungen, S. 53.
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»Fünfmal erlosch, um fünfmal aufzublinken, Der Mondesscheibe Licht, seit wir im Lauf Zum Ziele, das so glorreich schien zu winken: Da taucht’ im fahlen Dunst der Ferne auf Ein Bergeshaupt; noch keines sah ich ragen In solcher Höh zum Himmel schier hinauf. Wir jauchzten; rasch verkehrte sichs in Klagen! Vom neuen Lande kam ein Wehn und Wallen Und hat des Schiffes Schnabel hart geschlagen: Dreimal im Wirbel mit den Wassern allen Kreist’s um sich selbst; dann stieg das Heck, der Bug Taucht’ in die Flut, wie’s droben dem gefallen, Bis über uns das Meer zusammenschlug.«167
Nach fünf Monaten auf See erreicht das Schiff um Odysseus schließlich den Südpol, wo sich der gewaltige Läuterungsberg befindet, zu dessen Besteigung die Mannschaft nicht mehr ansetzen kann, weil sie zuvor in einen dem Mahlstrom ähnlichen Meereswirbel gerät und das Schiff zerstört wird. Berg und Mahlstrom signalisieren einerseits die Hybris des Menschen, das Unentdeckte, Unerreichte erobern zu wollen und am göttlichen Willen zu scheitern. Andererseits zeigt sich durch das Bild des gewaltigen Bergs bereits avant la lettre die Sehnsucht nach dem ultimativen Überblick, mithin das durch Petrarcas Mont-Ventoux-Besteigung in den neuzeitlichen Diskurs eingebrachte Motiv der Subjektkonstitution durch Raumkonstitution – was die Engführung von menschlicher ›curiositas‹ mit der Subjektkonstitution durch Überblick nochmals bestätigt. Die Fahrt zum Pol ist in einem Komplex aus entdeckerischer Neugier, distanzierter Subjektivierung und ultimativem Scheitern verschaltet – ein Mahlstrom, so kurz vor dem Ziel, verschluckt Odysseus vom Erdboden und katapultiert ihn ins Inferno. Gleichzeitig produziert das Verschwinden Odysseus’ und seiner Begleiter auch erst den Text selbst. So fleht Dante seinen Begleiter und Vermittler Vergil an: »›Ach können in der Glut ein Wort sie sagen‹, Sprach ich, ›so bitt ich Meister, bitt dich wieder Und bitt dich tausendmal: Laß mich sie fragen! [...]‹«168
Vergil erfüllt Dante den Wunsch und richtet die Frage an Odysseus »[w]ohin ihn seine Todesfahrt verschlagen«.169 Aus dieser Frage heraus wird deutlich: Das Ver-
167 Dante: Göttliche Komödie, Hölle, Sechsundzwanzigster Gesang, S. 121, V. 130-142. 168 Ebd., S. 119, V. 64-66.
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schwinden Odysseus’ erzeugt den Wunsch nach Erzählung, Odysseus wird zum ›outof-place element‹ seiner eigenen Geschichte – von der er selbst eigentlich nicht mehr fähig war, zu berichten. Das Erzählen von dieser Übertretungsreise ist Odysseus, als Verloren Gehendem, der nicht zurückgekehrt ist, prinzipiell unmöglich. Erst durch die Aufnahme in ein neues Narrativ, Dantes Inferno, ist es dem Leser möglich, von der ultimativen Übertretung, der Reise in den glatten, unzivilisierten Raum des Polargebiets zu erfahren. Erst der Besuch beim Verschwundenen in der Hölle macht es möglich, die Reise zu erfassen, das ›out-of-place element‹ zu registrieren und damit den glatten Raum nachträglich zu kerben. Erst nach dieser nachfahrenden Lektüre herrscht Sicherheit über das Schicksal Odysseus’ und die Existenz des Läuterungsbergs am Südpol. Ganz auf der Linie dieser dantischen Nachfahrt Odysseus’ produzieren Polarfahrten auch in der Folge im Scheitern ihre eigenen literarischen Nachfahr(t)en. »In ihrer Unberührtheit«, so notieren Bay und Struck im Hinblick auf die Literarisierung der Polargebiete, »erscheinen diese Extremräume nicht nur als idealer Gegenstand reisender Inskription; sie bieten auch Raum für Phantasien des Verschollengehens und fungieren als Topos metatextueller Reflexion.«170 Dantes Odysseus ist mit seiner transgressiven Fahrt Menke zufolge »durch die vielfache Zitation ihres Modells der Übertretung [...] der Mythos imaginärer Polar-Fahrten geworden«.171 Dieses in Dantes Erfassung von Odysseus vorgezeichnete Modell der Grenzziehung und Übertretung speist die Literatur der Polargebiete; ihre »Phantasmen und Mythen ebenso wie die Medien und Techniken der modernen Wissenschaft und nicht zuletzt ein imperiales Begehren produzieren und transportieren ein Wissen über die letzte Grenze, das deren Überschreitung immer schon zu einer Relektüre macht«. 172 Die Fortschreibungen und Relektüren produzieren nun die für die Polarliteraturen so charakteristischen »intertextuelle[n] Verwebungen. Sie kommentieren, zitieren, schreiben einander weiter und fort, erzeugen in einander überkreuzenden Rückbezügen und Inanspruchnahmen jene Konstellation, die die Polar-Fahrten modelliert«.173 Die literarische Aufarbeitung der »Chronik des Scheiterns«174 der Polarfahrt nutzt diese Struktur der Vervielfältigung der Fahrt als Spurensuche und erzeugt Spuren dort, wo Spurenlosigkeit herrscht. Einerseits also scheitert die Fahrt, weil sie Übertretung ist, weil sie, den Sündenfall wiederholend, Neugierde und Überblickswünsche über Gottesfurcht stellt und daher das Schiff, »wie’s droben
169 Ebd., V. 84. 170 Bay/Struck: Vorwort, S. 11. 171 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 54. 172 Bay/Struck: Vorwort, S. 11. 173 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 54. 174 Munz-Krines: Expeditionen, S. 17.
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dem gefallen«, vom Meer verschluckt wird. Die Zivilisierung der Welt um der Erkenntnis willen erscheint bei Dante als Transgression, die Kerbung des gottgewollten glatten Raums als Hybris. 175 Andererseits begründet die Fahrt das Genre der Polarliteratur, das sich dadurch auszeichnet, dass es die Spurlosigkeit des scheiternden Verschwindens in den Spuren der Schrift vervielfältigt: Der literarische Diskurs der Arktis wird gespeist aus dem Verloren Gehen des Entdeckers; ihm vorausgehend und nachfahrend positionieren sich die Texte, die das Herumirren der Entdecker aufnehmen, der Spurlosigkeit folgen und neue Spuren schaffen. Haptik und Störung Die literarische Verhandlung des Dispositivs der Entdeckung findet im Fall der Polargebiete immer vor dem weißen Hintergrund des Eises und Schnees statt. Die Aneignungsprozesse der Eroberung und ihr Scheitern sind in der Nachfahrten auslösenden Verbindung von Spur und Spurlosigkeit rückgebunden an die Leere und Weiße eines Raums, der menschlicher Habitation durch seine Unwirtlichkeit trotzt. Damit wird die Frage nach den Konsequenzen für das menschliche Subjekt, das sich in diesem weißen Raum aufhält, gestellt: Wie wirkt sich die Materialität, die Beschaffenheit eines weißen Raums auf die Wahrnehmung und die Konstitution des Subjekts aus? Bereits bei Nietzsches Nordpolfahrern ist der Aufenthalt im Eis als Störung der Wahrnehmung thematisiert worden: ein Auge, das hinausschaut, jedoch nichts erblicken kann. Deleuze und Guattari schreiben in diesem Sinn den Polargebieten als »Eskimo-Raum« haptische Qualität und optische Indifferenz zu: »Dort, wo die Anschauung nah ist, ist der Raum nicht visuell, beziehungsweise hat das Auge selber eine haptische und nicht optische Funktion: keine Linie trennt Himmel und Erde, die die gleiche Substanz haben; es gibt keinen Horizont, keinen Hintergrund, keine Perspektive, keine Grenze, keinen Umriß oder Form, kein Zentrum; es gibt keine Zwischenabstände oder jeder Abstand liegt im Zwischenbereich.«176
In diesem Sinne werden die Polargebiete als glatte Räume »von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten [...] im ewigen Eis«.177 Da in den Polargebieten die Oberflächen optisch indifferent sind, werden sie haptisch konkret, wie Arnauld Villani am Beispiel des Eises erläutert: »Vorgeblich einfach und homogen, weist seine Oberfläche Tausende von Gradienten eines ›organisierenden Dynamismus‹ auf, Ebenen, Schnitte, Drehungen und
175 Vgl. Menke: Polargebiete, S. 559f. 176 TP, S. 684. 177 Ebd., S. 664.
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unwahrscheinliche Wölbungen.« 178 Die absolute Heterogenität der Oberfläche ist im Widerspruch zur optischen Homogenität zu sehen – eine Homogenität, die sich durch das den Polargebieten eigene Phänomen des Whiteout noch verstärken kann, wie Frost in ihrer Monographie zu Schneefällen und Weißeinbrüchen in der Literatur darstellt. Der von ihr »aus der atmosphärischen Optik« entlehnte und auf literarische Verfahren metaphorisch übertragene Begriff ›Whiteout‹ meint eigentlich ein »meteorologische[s] und insbesondere [...] ein[...] psychophysiologisches Phänomen«, bei dem »Sonnenlicht diffus von der Schnee- und der Wolkendecke sowie von Schneekristallen in der Luft reflektiert [wird], so dass sich im Auge bzw. im Gehirn des Betroffenen bestimmte Kontraste auflösen«. Dabei werde, so Frost, nicht die gesamte Wahrnehmung ausgelöscht, vielmehr zeichne sich das Whiteout »durch eine weiterhin hohe Sichtweite und das Ausblenden der Kontraste heller Objekte aus, während dunkle Gegenstände erhalten bleiben«. Als Konsequenz beeinträchtige das Whiteout »die visuelle Wahrnehmung demnach nicht durch eine vollständige Ausweißung der Landschaft, sondern im nur teilweisen Entzug ihrer Sichtbarkeit«, was zu »extrem desorientierenden Effekten« führe, da die Hand vor Augen zwar sichtbar bleibe, jedoch die umgebende Weiße alle hellen Konturen wie die Horizontlinie auslösche: »Im Vertrauen auf die nur unvollständig und daher fehlerhaft wahrgenommenen Anzeichen seiner Orientierung stolpert das beeinträchtigte Subjekt über unsichtbare Hindernisse, fällt in plötzlich aufklaffende Löcher und geht zwangsläufig in die Irre.«179
Bemerkenswert ist, wie genau die Charakterisierung des glatten Raums durch Deleuze und Guattari sich mit der Wahrnehmungserfahrung des Subjekts im Whiteout deckt: Materialität und Haptik werden zu den alles dominierenden Sinneserfahrungen, dagegen ist die Optik trügerisch und wortwörtlich irreführend: In der durch das Whiteout ausgelösten gestörten Wahrnehmung des Subjekts zeigen sich nicht nur die Eigenschaften des glatten Raums, vielmehr verkörpert das Subjekt im Whiteout die »Verunsicherung der Wahrnehmung und die permanente Selbsttäuschung« – und erinnert an das von Kinzel beschriebene, im Ozean treibende maritime Subjekt reiner Orientierungslosigkeit und Kontingenzerfahrung, welches zum Sinnbild des modernen Subjekts erhoben werden kann.180 In den Romanen der Polarliteratur werde, so Frost, diese Wahrnehmungsverunsicherung semiotisiert und aufs Papier gebracht – weil nun aber auch der Leser im Textraum Orientierung benötige, übertrage sich die Wahrnehmungsstörung vom
178 Villani: Physische Geographie, S. 20. 179 Alle Zitate Frost: Whiteout, S. 16f. 180 Ebd., S. 22.
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Subjekt auf den Text und in letzter Konsequenz auf den Leser. Einerseits geschieht dies im Text durch raumsemiotische Mittel: Die Wahrnehmungsstörungen äußerten sich in einer Störung der Typographie, es komme, so Frost, zu Ausweißungen im Textraum, die »›blank‹ und ›unoccupied spaces‹ auf dem Papier etablieren [...] die Metapher der weißen Flecken« auf den Karten, die »buchstäbliche Aussparungen in den Landkarten« darstellten. »Es wird nämlich keine zusätzliche Farbschicht aufgetragen; was aus den Karten hervorleuchtet, ist das Weiß des unbedruckten Papiers.« Genau in diesem Sinne rekurriert auch die »Vorstellung der ausgeweißten Landschaft [...] nicht primär auf das Auftragen weißer Farbe[...]. Stattdessen bezieht sie sich auf die sogenannten ›Whites‹, jene mikro- wie makrotypographischen Auslassungen im Buchdruck.«181 Die Perspektive der Wahrnehmung wird auf diese Weise gestört, der Optik ist nicht mehr zu trauen, daneben tritt die Haptik der papiernen Seite, die sowohl Grundlage wie auch Bedrohung der gelungenen Rezeption des Textes darstellt: »Die weiße Schriftfläche [...] referiert auf das noch unbeschriebene Blatt Papier als Inbegriff der Potentialität von Schrift sowie als Bedrohung der durch sie gesetzten Bedeutung.« Andererseits, so Frost, finde diese Verunsicherung eben auch durch Wahrnehmungsstörungen innerhalb von ›histoire‹ und ›discours‹ statt. So übertrügen sich »Zuschreibungen des territorialen Raums [...] auf den metaphorischen Innenraum des Textes« und produzierten »›Ausweißungen‹ oder ›Leerstellen‹ in einem ›auslassenden‹ und ›leeren‹ Erzählen. Die ›Materialität‹ aber, die dadurch sichtbar wird, ist nicht mehr nur das Papierne des Schriftträgers, sondern eine ebenso textuell erschaffene ›Materialität‹.« So erzeuge das Whiteout beim Leser »Misstrauen gegenüber offensichtlichen Bedeutungen und herkömmlichen Formen literarischer Repräsentation«.182 Die Nähe der literarischen Funktion des ›Whiteout‹ zum Motiv des Verloren Gehens in den Polargebieten ist evident: Weißes Eis und weißes Papier werden in ihrer desorientierenden Wirkung dementsprechend enggeführt, dass die Weiße des Papiers das Whiteout im Polargebiet repräsentiert. In den literarisch evozierten glatten Räumen hat die Verunsicherung des Subjekts das Verloren Gehen im ewigen Eis zur Konsequenz. Dies überträgt die Weiße des Papiers auf die Wahrnehmung des Lesers, dessen Orientierung innerhalb der Lektüre infrage gestellt wird. Das Verschwinden des herumirrenden Subjekts erzeugt ein ›out-of-place element‹, das sich eben nicht nur in eingeschobenen, unpassenden Zitaten äußern kann, sondern ebenso in typographischen wie narrativen Ausweißungen. Die weiße, papierne Leere der literarischen Polargebiete signalisiert die Absenz des Verloren Gehenden – und vermittelt Bewegung in absentia dort, wo eigentlich nur Stillstand sein kann. Mit den Überlegungen von Frost kann das Motiv des Verloren Gehens demnach als
181 Ebd., S. 22f. 182 Alle Zitate ebd., S. 31, 28, 33.
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Orientierungslosigkeit auslösende Wahrnehmungsstörung des Subjekts ausgemacht werden – eines Subjekts allerdings, das unterschieden ist vom Verloren Gehenden selbst. Denn, so wird die Analyse der Romane zeigen, es sind die Erzähler – und mit ihnen auch die Leser –, deren Orientierung durch das Verloren Gehen nachhaltig gestört wird. Die Erzähler und Leser werden vor die Wahl gestellt, abzubrechen oder weiterzumachen, in Narrativ wie Lektüre das ›nec plus ultra‹ zu akzeptieren oder zu ignorieren. Ausblick Wie nach den vorangegangenen Ausführungen ersichtlich geworden sein sollte, zeigen sich in der Literatur des Verloren Gehens die Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung: Ein Scheitern in und an der Literatur, das die Verloren Gehenden zurücklassen muss, bedingt die Produktion von Texten, die sich aus der Suche speisen, ganz im Sinne der Überlegungen zum diese Produktion auslösenden ›out-of-place element‹. Solche Texte, so Certeau, »cover the space of the seas with relics and transform unknown regions into languages spelled out by the missing«. 183 Dies ist die Konsequenz der kartographischen Imagination in ihrer literarischen Übertragung und Personalisierung im Verloren Gehenden: Das Verloren Gehen der Figuren, die sich nicht zurück in den Text übertragen lassen wird zum Surplus der Aneignungsprozesse im Dispositiv der Entdeckung. So heißt es im ersten Kapitel von Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis: »Aber wenn einer verlorengeht, ohne einen greifbaren Rest zu hinterlassen, etwas, das man verbrennen, versenken oder verscharren kann, dann muß er wohl erst in den Geschichte, die man sich nach seinem Verschwinden über ihn zu erzählen beginnt, allmählich und endgültig aus der Welt geschafft werden.«184
Dieses Vorhaben allerdings wird scheitern, und die sich an das Programm des Ausder-Welt-Schaffens anschließende Bemerkung »[f]ortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner« wird sich nicht erfüllen können, weil im ›out-of-place element‹ etwas weiterlebt, das nicht mehr gefunden werden kann, weil es gänzlich abwesend und damit deterritorialisiert ist.185 Genau diese scheiternde literarische Aneignung des Verloren Gehenden aber ist nichts anderes als die Vermittlung von distanzierter Karte und irrender Route, die Vermittlung von Glattem und Gekerbtem im Scheitern der Kerbung des in den glat-
183 WtS, S. 142. 184 SEF, S. 11. 185 Ebd.
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ten Raum Eingegangenen. Als vermittelnde Geste kann sie aber auch der Aufrechterhaltung von Bewegung im kerbenden Narrativ dienen. Die tödlichen Konsequenzen des Schiffbruchs auf hoher See, des Einfrierens im Packeis oder der Verirrung auf Landgängen in den Polargebieten erfahren in der literarischen Übertragung als ›out-of-place elements‹ eine Aufwertung. So ist es vermittels des Scheiterns möglich, auf die Raumwahrnehmung und Subjektkonstitution durch Bewegung im Stillstand nicht nur in absentia – also als Nicht-Kartierbares – zu verweisen, sondern durch das Scheitern des Kerbens Bewegung als Anderes sowohl in raumsemantischer wie raumsemiotischer Hinsicht in den Text zu holen: in die ›gaps‹, die Lücken, die Spatien und Zwischenräume, die durch die Kompilation entstehen. Auf diese Weise ermöglicht das Verloren Gehen dem Leser, das Andere als Unmöglichkeit der Literatur zu erkennen und als Positivum zu bewerten. Dieses Andere zu fassen zu bekommen, ist das erklärte Ziel Certeaus, der das ›out-of-place element‹ als Teil der Heterologie begreift, einer »Wissenspoetik der Alterität«, wie Dünne sie beschreibt. Im ›out-of-place element‹ zeigt sich besonders deutlich die Doppelstruktur der Heterologie, die einerseits das Fremde »in die Sprache des Eigenen« zu übersetzen sucht – womit die Spurensuche angesprochen ist –, gleichzeitig jedoch in dieser »Machtposition« auch eine »Verunsicherung und Störung des klaren Verhältnisses von erkennendem Subjekt und erkanntem beherrschtem Anderen« erkennt. Die Suche nach dem Verloren Gehenden ist Teil der Selbstkonstitution des Subjekts, die den Raum eines Stillstands zu konstruieren sucht, um das Andere zu erkennen und zu beherrschen; gleichzeitig jedoch besteht dieses Andere weiter, weil es nicht endgültig gefasst, erkannt, gekerbt werden kann. Literatur, die in diesem Sinne operiert, macht nicht nur auf »die eigene Wildheit, die zur Signatur des neuzeitlichen Menschen wird«, aufmerksam; sie hat auch die Möglichkeit, im Scheitern der Kerbung diese Wildheit zum Ideal zu erheben und gegen das neuzeitliche Subjekt auszuspielen: als Lob der Entsubjektivierung durch das Verloren Gehen, die sich in der traditionsreichen Literarisierung des Verschwindens zeigt – wie die Lektüre der Polarromane erweisen wird.186
186 Alle Zitate Dünne: Nachwort, S. 189f.
5 Die Weiße des Papiers: Verloren Gehen in The Narrative of Arthur Gordon Pym
Viele Regalmeter in den von Menke konstatierten »Polargebiete[n] der Bibliothek« nehmen all jene Texte ein, die sich rund um The Narrative of Arthur Gordon Pym gruppieren lassen.1 Es ist in Bezug auf Poes 1838 erschienenen einzigen Roman gar die Rede von einem »Bermuda Triangle« der Literaturwissenschaft, von einem »interpreter’s dream text«.2 Dabei lässt sich dies nicht allein auf die schier unüberblickbare Zahl von literaturwissenschaftlichen Analysen und Interpretationen beziehen, die diesen rätselhaften Text rund um eine Reise zum Südpol auszudeuten versucht haben, sondern auch und vor allem auf seine literarischen ›Vorfahr(t)en‹ und ›Nachfahr(t)en‹.3 Die Quellen, die den Roman speisen, etwa zeitgenössische Reiseberichtsliteratur, sind diesem Abschnitt der Polargebietsbibliothek ebenso zuzurechnen, wie auch die Fortschreibungen, die der Roman provozierte – wobei etwa das prominenteste Beispiel, Vernes Eissphinx, den Plot aufnimmt und weiter, führt, wohingegen andere Texte, beispielsweise Arno Schmidts Zettel s Traum, eher 1 2
Menke: Polargebiete, S. 545. Frederik S. Frank brachte zunächst den Begriff des Bermuda-Dreiecks in den Diskurs um Pym ein, unter anderem verwenden ihn auch Lisa Gitelman und Frost, deren Überlegungen sich diese Arbeit im Folgenden genauer widmet (vgl. Frank: Polarized Gothic, S. 117; Gitelman: Pym, S. 349; Frost: Whiteout, S. 214). Neben Franks Bibliographie der Pym-Lektüren aus dem Jahr 1981 entstand bereits 1982 Douglas Robinsons Bibliographie der Pym-Interpretationen im Zeitraum ab 1950, in der das Zitat vom ›Traumtext für Interpretationen‹ zu finden ist (vgl. Robinson: Reading Poe’s Novel, S. 47). Waren in diesem Zeitraum von 30 Jahren Robinson zufolge über 90 Studien erschienen, so zählt David Ketterer für den ungleich kürzeren Zeitraum von 1980 bis 1990 bereits über 100 Interpretationen (vgl. Ketterer: Tracing Shadows). In der Zeit nach 1990 hat das Interesse an Pym kaum abgenommen, wie etwa der Blick in die Online-Suchmaschinen internationaler Wissenschaftsbibliographien zeigt.
3
Vgl. Bay, Struck: Vorwort.
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meta-reflexiv mit Arthur Gordon Pym umgehen. Aus den Quellen formiert sich mit Arthur Gordon Pym ein »Textgewebe«,4 wie Schmidt formuliert, das nach Innerhofer »keinen kontinuierlichen Handlungsverlauf und kein eindeutiges Telos« besitzt – und gerade darum so ansprechend für das Weitererzählen erscheint.5 In das Seemannsgarn dieses Gewebes wird mit Arthur Gordon Pym ein Erzähler-Ich eingesponnen, dessen schreckensvolle und fantastische Reise ihn von der Insel Nantucket vor der Küste Neuenglands – nachdem er mehrere Schiffbrüche und eine Meuterei überlebt hat, vor dem Verhungern stand, zum Kannibalen geworden ist und auf einer Insel landet, die zur Gänze schwarz ist – schließlich bis in das gleißend weiße Gebiet der Antarktis führt. Kurz vor dem zu erwartenden Höhepunkt aber, der Entdeckung des Südpols, bricht die Erzählung ab: Pym wird umschlungen von der Weiße der Antarktis, er geht verloren und bringt sein Narrative nicht zu Ende. Die Fülle der sekundärwissenschaftlichen Interpretationen liegt im Überschuss an Quellen, Handlungssträngen und Bedeutungen begründet, die der Roman bietet – eine Ambiguität, wie Pym-Bibliograph Douglas Robinson meint, »of the most radical and self-consuming kind«, die ein textuelles Vakuum hinterlasse, »begging to be filled with a reading«.6 Die daher notwendigen Systematisierungen des bibliographischen »metacriticism«, etwa durch Robinson oder David Ketterer, trennen die Pym-Forschungsliteratur mal nach sechs, mal nach neun Themenschwerpunkten auf. Diese Studie bezieht sich auf Lisa Gitelmans an der Metapher des Bermudadreiecks angelehnte Reduktion zu drei Komplexen in Pym: So sollen einerseits Texte herangezogen werden, die sich der Quellenkritik des Romans verschrieben haben, zweitens Texte, die Struktur und Form des Romans in den Fokus nehmen und drittens ausgewählte Texte, die die Frage nach der »thematic meaning« Pyms stellen.7 Den im Laufe dieser Analyse genutzten Zugängen und Lesarten ist gemein, dass sie Pym aus dem Status einer Kuriosität im Werk des Autors – einem, in Poes eigenen Worten, »very silly book« – zu einem der zentralen Texte der Poe- wie der Polarliteraturforschung erheben, weil sie das Verschwinden des Erzählers und den Abbruch des Erzählens am Ende des Buches eben nicht als Malus begreifen.8 Ver-
4
Schmidt: Zettel’s Traum, S. 26.
5
Innerhofer: Wege, S. 140.
6
Robinson: Reading Poe’s Novel, S. 47.
7
Ketterer: Tracing Shadows, S. 264; vgl. Gitelman: Pym, S. 349.
8
Poe: Burton, S. 130. Auch heute noch nehmen Teile der Pym-Interpretationen eine solche Zuschreibung vor und messen dem Roman den Wert einer simplen Abenteuergeschichte bei, lesen ihn als reinen ›hoax‹ und damit als einen, wie Robinson meint, »ironic, often self-referential and self-parodying« Text oder sehen gerade das Ziel der Reise, den Südpol, auch in den wirtschaftlichen und politischen Interessen Poes und des Verlags be-
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steht man das Verschwinden Pyms am Südpol als ein Verloren Gehen, so lassen sich die scheinbaren Unzulänglichkeiten des Romans als Problematisierungen von Narrativität und Erkenntnis begreifen, die den Text in die Nähe eines literarischen Spiels rücken, das eigentlich typisch für die Postmoderne ist. 9 Denn indem dem Roman der eigene Erzähler abhandenkommt, wird durch das Verloren Gehen eine radikale Unsicherheit der Erkenntnis narrativ transportiert, »the epistemological shock we experience when we realize that things are not as we thought them to be«.10 Das Denken vom Endpunkt des Verloren Gehens Pyms her – welches sich wiederum auf das Verständnis des gesamten Texts auswirkt, die Lektüre rückwirkend informiert und transformiert – strukturiert die Problemfelder des Textes und rückt textuelle Verhandlungsebenen von Erzählung und Bewegung in den Mittelpunkt, die im Folgenden untersucht werden: Das Vorwort mit seinen Finten der Authentizitätszuschreibung, die fehlende Kohärenz und Kohäsion des Erzählten, die Passivität und fehlende Selbst-Erkenntnis des Erzählers, die offensichtlichen logischen Schwächen und Brüche in und zwischen den Abschnitten der Reise zum Südpol, die formale Verzahnung von abgeschriebenen Quellentexten mit der Abenteuergeschichte und zu guter Letzt das Verhältnis des abgebrochenen Erzählens zu der den Text beschließenden »Note«, die das Erzählen und seine Bedingungen im Verhältnis von Stillstand und Bewegung im Verloren Gehen des Erzählenden thematisiert.11 In diesem Sinne schließt diese Analyse zum einen an die dekonstruktivistische Lesart des Romans an, die vor allem durch Jean Ricardou und dessen wegweisenden Aufsatz The Singular Character of the Water geprägt wurde, und die Pyms Südpolreise als Reise »in die Dichtung [...], letztlich in Schrift und Papier« versteht.12 Zum anderen greift die Analyse auf einen weiteren sekundärliterarischen
gründet (vgl. Robinson: Reading Poe’s Novel, S. 50; Weinstein: When is Now?, S. 83; Wijkmark: Poe’s Pym, S. 88-91). 9
So erkennt etwa Thomas Carmichael in Pym den Ursprung einer Genealogie des ›double encoding‹, das im Zentrum des postmodernen Romans stehe: »It is the ambivalence in the structure of [Pym] which aligns it most closely with the inscribing and subverting strategies that control the field of postmodern discourse.« (Carmichael: Postmodern Genealogy, S. 397) Auch Jennifer Cook betont die Ähnlichkeit zwischen dem »postmodern claim that all reality is constructed, that there is no objective reality« und Poes Schreibweise, deren Pointe es sei »to show that a person’s constructed reality often takes the place of objective reality« (Cook: A Book, S. 126).
10 Ebd. 11 AGP, S. 219. 12 Kesting: Reise ins Eis, S. 68; vgl. dazu auch Ricardou: Singular Character, zuerst erschienen 1967 unter dem Titel Le Caractère singulier de cette eau.
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Fokus zurück, der die Fahrt Pyms als Reise zum Selbst interpretiert, jedoch die narrative Raum- und Subjektkonstitution eben nicht innerhalb der Figur des IchErzählers verortet, sondern diesen als ein in ›writing self‹ und ›written self‹ gespaltenes Subjekt begreift. Zum dritten – und hier setzt die Analyse zunächst an – sollen die Erkenntnisse der Quellenkritik zu Hilfe gezogen werden, um das Verloren Gehen Pyms als Erzeugung eines ›out-of-place element‹ im Sinne Certeaus und damit als Überschuss, Verschiebung und Tilgung von textuellen Quellen und Ebenen zu verstehen. Es ist darum ein Blick auf die Quellen und Mündungen des Romans nötig, auf die Einflüsse der Kompilation und die Konsequenzen, die das Verschwinden Pyms zeitigt. Mit diesen drei Zugängen wird ein Verhältnis von Stillstand und Bewegung vermittelt, das Poes Roman neu lesbar macht als Kommentar zu den Bedingungen des Erzählens einer paradoxen Subjektkonstitution. So wird erkennbar, dass Pyms Reise zum Selbst von jenen dualistischen Strukturen durchdrungen ist, die in Teil I ausführlich verhandelt wurden: glatt und gekerbt, weiß und schwarz, Seite und Schrift. Das Verloren Gehen Pyms, in das der Roman mündet, wird so nicht nur zur Quelle des Textes selbst, sondern auch zum Gründungsakt des Diskurses um die ›Polargebiete der Bibliothek‹, in den der Roman zugleich seine eigenen Quellen und Zitatvorlagen einbindet.
5.1 DIE QUELLEN UND MÜNDUNGEN DES ROMANS Der Roman, der Pyms Reise von der Insel Nantucket vor der nordamerikanischen Ostküste bis zum Südpol beschreibt, weist neben seiner Form als Reisebericht eines Verschwundenen eine weitere Qualität auf, die ihn im Sinne Überlegungen in Kapitel 3 als ›spatial fiction‹ auszeichnet und damit eine Analyse anhand der oben dargelegten raumtheoretischen Überlegungen zum Verloren Gehen in der Polarliteratur fruchtbar erscheinen lässt: Er ist eine Kompilation. In Pym greift Poe, wie die Vertreter der Quellenkritik akribisch nachgewiesen haben, meist implizit einerseits Expeditionsberichte auf – vor allem Benjamin Morells A Narrative of Four Voyages, aber auch The Arctic Whaling Journals von William Scoresby oder die History of the Expedition under the Command of Captains Lewis and Clark – wie andererseits fiktive Polreisen, etwa Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg und Samuel Coleridges Rime of the Ancient Mariner.13 Zudem fließt spekulative Literatur zur
13 Zu einer Übersicht über die Vertreter der Quellenkritik vgl. Robinson: Reading Poe’s Novel, S. 47f.; Ketterer: Tracing Shadows, S. 237-240. Besonders um die Erarbeitung der Quellen Pyms verdient gemacht haben sich mit Burton R. Pollin und Richard Kopley zwei Forscher, die jeweils für Neuausgaben von Pym verantwortlich zeichnen (vgl. AGP,
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Hohlwelttheorie von John Cleves Symmes, der annimmt, dass sich an den Polen Eingänge zu der im Inneren hohlen und bewohnbaren Erde befänden, in den Roman ein. So lassen sich im Roman beispielsweise Abschnitte aus Symmes’ unter dem Pseudonym Captain Adam Seaborn verfasstem Text Symzonia: A Voyage of Discovery ebenso finden wie Überlegungen des Symmes-Adepten Jeremiah Reynolds, dessen Ansprache an das US-Repräsentantenhaus On the Subject of a Surveying and Exploring Expedition to the Pacific Ocean and South Seas Poe in Kapitel 16 von Pym ausführlich zitiert wird.14 Es liegt mit Pym jedoch kein dokumentarischer und schon gar kein autoptischer Reisebericht vor, sondern, um mit Frank zu sprechen, »eine Dichtung, d. h. ein von seiner Natur her vieldeutiges Gebilde«.15 Dem Leser des Romans wird, so Frost, das »gesponnene Seemannsgarn nicht als traditioneller Seefahrtsroman oder als literarischer Reisebericht, sondern als mehrfädiges Machwerk aus unterschiedlichen, mitunter ambivalenten Bezügen« zugänglich gemacht.16 Die Kompilation ist hier also weniger im Sinne des im letzten Kapitel untersuchten Reiseberichtskonzepts John Hawkesworths als ›naked narrative‹ zu verstehen, sondern vielmehr als Vorgänger von Jules Vernes Arbeit an den Großen Seefahrern des 18. Jahrhunderts und kann darum auch mit Certeaus Analysebegriffen beschreiben werden: Auch Pym ist als Roman auf einem »fragmented body« aus kompilierten Vorgängertexten aufgebaut, auf »flotsam and jetsam«. Der am Ende lesbare Text ist damit sowohl abgeschlossener Roman als auch ein Erzählen en abyme, von dem Certeau schreibt: »voyages and retractions into writing must be seen superimposed on the top of the other«. Dies geschieht in einer der von Dünne untersuchten kartographischen Imagination ähnelnden Bewegung, die aus einer Reise eine Erzählung macht, aus der eine neuerliche (erzählte) Reise wird und so fort. Der Roman steht exemplarisch für das von Menke beschriebene Phänomen der Polargebietsbibliothek, da er innerhalb eines zusammenhängenden Textes »a multiplication of trajectories, which unfurl an earlier writing in space, and of documents, which bury the past beneath displacement of location«, aufweist. Auf diese Weise hat die intertextuelle Kompilation eine Verräumlichung der Literatur zur Folge, es entsteht ein enthistorisierter Diskursraum, der Vergangenheit und Zukunft, Plot und Struktur aufeinander bezieht. Mit Certeau kann in dieser verräumlichten Konstruktionsweise des Romans als unendlich-abgründiger Verschachtelung von Reise und Erzählung eine Herausforde-
S. ix-xxix, 223-245; Pollin: Arthur Gordon Pym). Zum Einfluss von Schnabel und Coleridge auf Pym vgl. Menke: Polargebiete, S. 590. 14 Zur Hohlwelttheorie Symmes’ und deren Bedeutung für Pym vgl. Felsch: Petermann, S. 188f.; zur Bedeutung Reynolds’ für Pym vgl. Frank: Die unendliche Fahrt, S. 119. 15 Ebd. 16 Frost: Whiteout, S. 205.
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rung an den Leser erkannt werden: »[W]e, as readers, can in turn become its author. We can do so by trying to find the corpus lost in the text«.17 Eine ähnliche Form der Übergabe von Verantwortung an den Leser nimmt Russell West-Pavlov als grundsätzlich kennzeichnend für intertextuelle Literatur an: Die Selbstreflexivität des Textes, mit der er auf seine Produktionsbedingungen als Intertext aufmerksam mache, werde durch die Verhandlung zwischen narrativem Material und dem Prozess der narrativen Konstruktion gespiegelt: »[I]ntertextuality reaches back into the past (into the archive of available texts) and into the future (towards textual and non-textual reactivation and dynamization)«. Raum ist für West-Pavlov in intertextueller Literatur niemals bloßes Setting, vielmehr durchdringt er »the very workings of the operations of appropriative intertextuality achieved through the transformative operations of shifting narrative levels«.18 Im Gegensatz zu der von Certeau beschriebenen, die Intertexte fragmentierenden oder gar auslöschenden Kompilation, wird West-Pavlov zufolge die kompilierende Arbeit in intertextueller Literatur explizit, weil sie sich durch das Zusammenspiel der in die Vergangenheit reichenden respektive in die Zukunft weisenden ›narrative levels‹ offenbart und den Leser so in die Deutung des Romans einbeziehe. Scheint Pym zunächst diese Offenheit der Konstruktionsweise vermissen zu lassen, so verbindet sich nun dennoch die certeausche Erzählung en abyme mit dem von WestPavlov konstatierten Offenlegen der eigenen Produktionsbedingungen, indem ›the corpus lost in the text‹ im buchstäblichen Sinne zu einem Körper – dem des Protagonisten und Erzählers Arthur Gordon Pym – wird, der im Vorwort zunächst die Bedingungen des eigenen Erzählens thematisiert, um dann am Ende seinem eigenen Text erzählend verloren zu gehen. Damit wird die narrative Konstruktion des Romans – und damit die kompilatorisch-intertextuellen Produktionsbedingungen – zum Thema der Romanlektüre, denn was am Ende dem Leser in die Hand gegeben wird, stellt weder einen abgeschlossenen noch einen besonders kohärenten Text dar. Die Herausforderung, die der Roman seinen Lesern stellt, besteht nun darin, der paradoxen Struktur aus Offenlegung narrativer Produktionsprozesse und kompilatorischer Verschleierung Sinn zu geben, um das Verschwinden des Protagonisten zu deuten. Explizit wird diese Herausforderung im mit ›Note‹ betitelten Nachwort, das eine eben solche Sinngebung durch einen Leser enthält. Darauf, dass eine derartige Deutung des Getilgten jedoch zugleich stets nur spekulativ ist, weist der Verfasser der ›Note‹ hin, indem er seine Überlegungen als »speculation and exciting conjecture«19 markiert. Nur Pym selbst, der Verloren Gegangene, wäre in der Lage, sein eigenes Abhandenkommen zu erklären. Und so muss der Leser seine Imagina-
17 Alle Zitate WtS, S. 140f. 18 Beide Zitate West-Pavlov: Spaces of Fiction, S. 85, 87. 19 AGP, S. 220.
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tion bemühen, indem er sie an die Zeichen, Signifikationen und Inkohärenzen des Romans rückbindet, um so anhand Pyms Reise zum Südpol Hinweise auf die Gründe seines Verschwindens zu erhalten. Diese intertextuell stark angereicherte Reise wird erzählt von Pym selbst, einem Ich-Erzähler, dessen erzählerische Fähigkeiten sich in unterschiedlichsten Genres ausdrücken und in Folge dessen die Kohärenz des Narrativs stark einschränken. Immer wieder nämlich kommt es zu Ungenauigkeiten im Erzählfluss, immer wieder bricht Pym aus dem Erzählmuster des Reiseberichts aus, ändert die Erzählweise, berichtet in Tagebuchform, baut Exkurse ein und spiegelt so die dem Text zugrundeliegende Kompilation. The Narrative of Arthur Gordon Pym ist damit, wie Gitelman meint, nicht allein ein fiktionaler Reisebericht, sondern eine Reflexion über das Schreiben eines Reiseberichts und die Bedingungen des Erzählens.20 Das Narrativ ist weniger an der Reise interessiert als an der textuellen Verarbeitung von Reisen; es ist ein Gewebe, dass seine Rückseite ausstellt: Ein scheinbar unvollendetes Erzählwerk, zusammengesetzt aus zahlreichen Einflüssen, die ohne besondere Eleganz aneinandergehängt scheinen. Die Unvollständigkeit des Narrativs lenkt den Blick auf den zum ›out-of-place element‹ gewordenen Erzähler selbst und, noch stärker, auf die Bedingungen seines Erzählens. Allerdings haben wir es hier eben nicht mit einem Lapsus im Sinne von Certeaus Überlegungen zu tun, der dem Autor in der Transformation der Quellen zu einem zusammenhängenden Narrativ überraschend und erstaunlicherweise passiert. Vielmehr beruht die Konstitution des Erzählersubjekts Pym maßgeblich auf diesen Inkohärenzen: So wird im Folgenden nachgewiesen, dass wir es hier mit einen Erzähler zu tun haben, dessen Narrativ ebenso unvollständig, lückenhaft und erstaunlich scheint wie seine eigene Subjektivität. Pyms Narrativ, so wird deutlich werden, kann nur über die dieses Narrativ spiegelnden Bedingungen des Erzählens und die Qualitäten des Erzählers erschlossen werden. Was eine solche Erzählweise nun zur Folge hat, ist, über die Inkohärenzen des Erzählens den Leser für die Authentifizierungsstrategien der Kompilation zu sensibilisieren und gleichzeitig einen Überschuss zu erzeugen, der weit über die Verhandlung der Bedingungen eines Reiseberichts hinausweist. Indem in Pym zahlreiche Quellen verarbeitet werden, findet nicht nur eine Vervielfältigung des Reisens statt, sondern auch eine Vervielfältigung des Schreibens, des Erzählens und ultimativ auch des Lesens. Gleichzeitig aber macht das Verloren Gehen des Protagonisten
20 Gitelman liest darum den gesamten Roman als Parodie auf das Genre des Reiseberichts: »The very status of [Pym] as a novel is enforced throughout by Poe’s parodic representation of the discursive (distinctly non-novelistic) conventions of exploration accounts and the generic constraints evidently experienced by explorers eager to present ›the facts‹ of geographic discovery in a believable manner.« (Gitelman: Pym, S. 350)
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und Erzählers auch auf die absolute Katastrophe des Erzählens aufmerksam, das Verstummen und den Abbruch des Texts. Und es weist das Abhandenkommen des Erzählers über den Roman hinaus, provoziert neuerliche Lesarten, lässt den Blick des Lesers vom Ende wieder zum Anfang gleiten und erzeugt literarische Nachfahr(t)en: Menke zufolge stellt The Narrative of Arthur Gordon Pym den Ursprungstext des »nachfahrenden Schreibens« der Polarliteratur dar. Ihm folgte mit Vernes Eissphinx ein Text, dessen Thema, die Suche nach dem im Eis Verloren Gegangenen, zum zentralen Motiv der Polarliteratur wurde – und das sich beispielsweise auch in Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis wiederfindet.21 Jedoch existieren noch weitere, sich mit Pym assoziierende Texte: So stellten sich H.P. Lovecraft und Stefan Heym mit ihren Texten At the Mountains of Madness und Der Dieb in die Tradition des Verloren Gehenden Südpolreisenden Pym, wie auch die Meta-Reflexionen Zettels Traum von Schmidt oder John Barths Sabbatical zwar weniger die Geschichte selbst weiterführen, den Roman aber aufgreifen und kommentieren.22 Vorbild für all diese Nachfahrten ist wiederum nicht etwa Vernes Eissphinx, sondern der Erzähler der ›Note‹, welcher zuallererst versucht, Pyms Verschwinden zu deuten. Damit wird die Bedeutung von Quellen und Mündungen des Romans innerhalb der Romanstruktur selbst aufgegriffen: Denn das der Erzählung beigestellte Nachwort verweist durch die Thematisierung des Abbruchs der Erzählung wiederum auf das Vorwort und damit auf die Bemühungen des Erzählers Pym, sein Narrativ zu rechtfertigen und seinen Authentizitätsanspruch zu verteidigen.
5.2 »THE APPEARANCE OF TRUTH«: DAS VORWORT UND DIE (ENT-)PLAUSIBILISIERUNG DES ROMANS »Pym’s Preface makes clear that one of the subjects of the novel will be the question of textual reliability«, so schreibt Gitelman in ihrer Analyse zum Status des Romans als Roman.23 Die Verlässlichkeit von Pyms Erzählung und damit auch die ›willing suspension of disbelief‹ wird durch zwei Faktoren empfindlich gestört: Zum einen dadurch, dass die ersten Romanteile bereits von Poe in der Zeitschrift Southern Literary Messenger im Jahr 1837 veröffentlicht wurden, zum anderen
21 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 76. Gerade diese strukturelle literarische Nachfahrenschaft Ransmayrs macht dessen Roman attraktiv für die Analyse der Bedingungen des Verloren Gehens, die im nächsten Kapitel stattfindet. 22 Zu Lovecraft vgl. Wijkmark: Poe’s Pym, S. 86f.; zu Heym vgl. Frank: Die unendliche Fahrt, S. 121; zu Barth vgl. Carmichael: Postmodern Genealogy. 23 Gitelman: Pym, S. 352.
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durch die schiere Unglaublichkeit eines Plots, der bereits im Titel Meuterei und Schiffbruch, Hunger und Massaker und schließlich Berichte aus nie zuvor betretenen Ländern ankündigt.24 Wenn nun Pym als Erzähler im Vorwort beide Einwände selbst aufgreift, um den Leser über die eigene erzählerische Aufgabe und Leistung zu informieren, so geschieht dies vorderhand, um die faktische Korrektheit der Erzählung zu legitimieren und den Authentizitätsanspruch des Erzählers zu wahren. Gleichzeitig aber wird damit die Frage nach den Bedingungen eines Erzählens im Modus der Unwahrscheinlichkeit gestellt: Was passiert mit einer Geschichte, wenn nicht nur das Erzählte entplausibilisiert wird, sondern gar der Erzähler selbst und damit das Erzählen schlechthin? Pyms Bemühungen um die Plausibilisierung des Unglaublichen geben dazu mehrere Hinweise. Erstens: Beklagt sich Pym im ›Preface‹ noch darüber, kein Tagebuch geführt zu haben, welches ihm erlauben würde, »a statement so minute and connected as to have the appearance of that truth it would possess« zu verfassen,25 so rekurriert er Thomas Carmichael zufolge auf »the narrative strategy of much realistic fiction«: Indem er seine eigene »inability to achieve an appearance of truth through convention and the mediation of artifice« thematisiert, kann Pyms »lack of sophistication as a sign of truth« gelesen werden.26 Wenn er im Verlauf des Romans dann immer wieder dazu übergeht, sein Narrative als Tagebuch weiterzuführen, so bezieht er seinen Text wiederum auf Konventionen des autoptischen Reiseberichts und plausibilisiert seine Erlebnisse als Seefahrer und Entdecker. Zur gleichen Zeit allerdings, so kann mit Pym selbst am Beispiel der ihn zur See lockenden Geschichten seines Freundes Augustus argumentiert werden, bestehen Seefahrererzählungen grundsätzlich zum Großteil aus »sheer fabrications«, dem sprichwörtlichen Seemannsgarn, das um einen wahren Kern herumgesponnen wird und das sich auch in den im letzten Kapitel thematisierten Fiktionalisierungen des polaren Konjunktivs wiederfindet. Pyms autoptische Authentifizierung wird damit als Fiktionalisierung erkennbar, die er auch selbst wiederum als strategische Operation entlarvt. So ist
24 So lautet der vollständige Untertitel ganz in der Tradition der Seefahrerberichte des 16. bis 19. Jahrhunderts: »Comprising the Details of Mutiny and Atrocious Butchery on Board the American Brig Grampus, on Her Way to the South Seas, in the Month of June, 1827. With an Account of the Recapture of the Vessel by the Survivers; Their Shipwreck and Subsequent Horrible Sufferings from Famine; Their Deliverance by Means of the British Schooner Jane Guy; the Brief Cruise of this Latter Vessel in the Atlantic Ocean; Her Capture, and the Massacre of Her Crew Among a Group of Islands in the EightyFourth Parallel of Southern Latitude; Together with the Incredible Adventures and Discoveries Still Farther South to Which That Distressing Calamity Gave Rise.« (AGP, S. 1) 25 Ebd., S. 3. 26 Carmichael: Postmodern Genealogy, S. 392.
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dem letztmaligen Einsetzen der Tagebucheinträge eine Fußnote beigefügt: »For obvious reasons I cannot pretend to strict accuracy in these dates. They are given principally with a view to perspicuity of narration, and as set down in my pencil memoranda.«27 Das strategische Prinzip der ›perspicuity of narration‹, welches auf einer Nachbearbeitung der Fakten und damit auf einer Fiktionalisierung beruht, dient damit also paradoxerweise der Plausibilisierung der Fiktion – je klarer die Erzählung, desto wahrscheinlicher ist sie. So geht »Pyms Authentizitätsanspruch [...] nicht nur soweit, fehlende Fakten« durch erzählerische Operationen wie den Tagebucheintrag zu plausibilisieren, »sondern die ›Ergänzungen‹ zudem einzugestehen«, wie Frost schreibt. Pyms Narrativ »soll seine Erlebnisse wahrscheinlich(er) machen, stellt sie aber gerade durch diesen korrigierenden Eingriff als ›sheer fabrications‹ aus«.28 Zweitens: Im ›Preface‹ notiert Pym, dass er sich sträubt, seine Geschichte niederzuschreiben, weil diese von den Lesern als Fiktion wahrgenommen werden könnte. So sei an seiner statt ein gewisser Edgar Allan Poe aufgetreten und habe Teile von Pyms Geschichte in der Zeitschrift Southern Literary Messenger »under the garb of fiction« veröffentlicht. Erst der Erfolg dieser Fiktionalisierung durch »Mr. Poe« beim Publikum bewege nun Pym dazu, sich doch an die Niederschrift und Veröffentlichung seiner Erlebnisse zu machen: »I thence concluded that the facts of my narrative would prove of such a nature as to carry with them sufficient evidence of their own authenticity«. Das vorliegende Werk, so schließt er, bestehe sowohl aus von Poe als auch von ihm selbst verfassten Texten. Die Grenze zwischen den Bestandteilen, zwischen dem fiktionalisierten und dem autoptischem Reisebericht sei, so Pym, einfach auszumachen: »Even to those readers who have not seen the Messenger, it will be unnecessary to point out where his portion ends and my own commences; the difference in point of style will be readily perceived.«29 Entscheidend für die Bewertung der Bemühungen Pyms um Plausibilität und Authentizität ist nun, dass diese Grenze eben nicht wahrnehmbar ist: Pym »famously and purposefully confuses the two narrators«, wie Cindy Weinstein schreibt.30 Der Stil des Geschriebenen wandelt sich eben nicht derart, dass sich verschiedene Autorschaften belegen ließen: So kommentiert auch John T. Irwin in seiner Untersuchung American Hieroglyphics, »that ›difference in point of style‹ is precisely what is not to be perceived within the text of Pym«.31
27 Beide Zitate AGP, S. 18, 214. 28 Frost: Whiteout, S. 209. 29 Alle Zitate AGP, S. 4f. 30 Weinstein: When is Now?, S. 84. 31 Irwin: American Hieroglyphics, S. 123.
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Und so verbleibt die Autorschaft von Pyms Narrative in einem zweifelhaften Zustand: Indem dem Leser erzählerische Klarheit und Kohärenz, die vorgebliche ›perspicuity of narration‹, nur scheinbar vorgelegt wird, verweist die Struktur der Entplausibilisierung durch Plausibilisierung wiederum auf den problematischen Status des Erzählens selbst. »Who has written what? Which portions are facts and which are fictions?«, fragt Eric Wilson und sieht nicht nur Pyms Wahrheitsanspruch in ein »dubious light« gestellt. Mit der ›appearance of truth‹ würden in Poes Roman alle Wahrnehmungen infrage gestellt: »Can appearances reveal reality if visible events are not intrinsically true or false but only extrinsically so – only authentic insofar as they seem to be?«32 Die Gedanken Wilsons zur Plausibilität der Wahrnehmung verweisen freilich auf den Status des wahrnehmenden Subjekts. Indem Pym als Erzählersubjekt ein »seamless narrative as the sign of verisimilitude« anzustreben scheint, gleichzeitig jedoch nicht nur im Fortschreiten der Handlung, sondern bereits im ›Preface‹ dieses ›seamless narrative‹ aufbricht und – gerade indem er es postuliert – ad absurdum führt, wird nach Carmichael Pyms Selbstbewusstwerdung, sein »self-consciousness«, thematisiert. 33 Oder, von der Seite der Textstruktur aus betrachtet: Das ›Preface‹ verschleiert die eigentliche Kompilation des Romans aus verschiedenen Texten dadurch, dass eine neue Kompilation aus Teilen von Mr. Poe und Pym postuliert wird, die sich wiederum als Plausibilisierung des im Roman Erzählten ausgibt und als narrative Authentifizierungsstrategie kenntlich gemacht werden kann. Wenn also der eigentliche Autor des Romans, Poe, im Roman vom Erzähler, Pym, als Autor fiktionalisierter Versionen der Geschichte Pyms ausgegeben wird, so erscheint dadurch erstens die Erzählung als allegorische Verbindung von Erzählerfiktion und Autorenrealität, zweitens jedoch lenkt dieses Verwirrspiel um Autorschaft den Blick auf den Subjektstatus des Erzählers in dessen eigenem Text.34
32 Wilson: Spiritual History, S. 196. 33 Carmichael: Postmodern Genealogy, S. 392. Mit diesem Begriff ›self-consciousness‹ ist im Englischen – im Gegensatz zur deutschen Konnotation von Selbstbewusstsein als Überzeugtsein von den eigenen Fähigkeiten – auch immer der problematische Status der eigenen Subjektivität aufgerufen, ein unbequemes Bewusstsein seiner Selbst in der Beobachtung durch andere. 34 Gerade die Verbindung von Autorenrealität und Erzählerfiktion ist in der Literaturwissenschaft auf reges Interesse gestoßen: Vor allem die Ähnlichkeit der Namen Edgar Allan Poe und Arthur Gordon Pym beeinflusste die Lesart von Pyms Reise als Allegorie auf Poes Leben. Als einer der bekanntesten Vertreter der biographischen Deutung sei Kopley angeführt, der Pym als Trauerarbeit Poes liest: Pym »is, then, a memorial volume, a book that honors Poe’s dead mother and brother« (AGP, xxii). Allerdings ist diese Interpretation nur einem kleinen Kreis zugänglich gewesen und so liefert Kopley gleich eine weite-
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Dies nun aber ist der Zweck eines authentifizierenden Erzählens, »which deliberately blurs any distinction between fact and fiction«:35 Das Sich-seiner-selbstbewusst-werden Pyms kann Carmichael zufolge in die Reihe problematischer Selbstbewusstwerdungen von Poes Figuren eingereiht werden, die ihre Texte plausibilisieren, indem sie das Erzählen problematisieren. So stelle »self-consciousness [...] the privileged sign of authenticity« bei Poe dar. Gleichzeitig ist diese Bewusstwerdung ein sich ins Gegenteil verkehrender, schmerzhafter Prozess.36 So ist Pym als Bewusstwerdungssubjekt befallen von »psychic disharmony [...], one of the trademarks of Poe’s characters«, wie Gitelman meint. Diese Disharmonie »mirrors the disunity of the text he narrates, the disunity of Poe’s sources, and even the wild eclecticism of the magazines that Poe contributed to and edited«.37 Die Inkohärenzen des Textes spiegeln die Inkohärenzen des Subjekts Pym und führen schließlich in den »Ich-Verlust«, wie André Mumot in seiner Monographie Irrwege zum Ich argumentiert.38 Um diesen Weg von problematischer Subjektivierung bis hin zur Entsubjektivierung begreifbar zu machen, ist es hilfreich, zunächst eine weitere Erzählung Poes heranzuziehen. The Man of the Crowd, eine Kurzgeschichte von 1840 und damit nur wenige Jahre nach Pym erschienen, greift dieses für Poe typische Problemfeld geradezu paradigmatisch auf.
5.3 BERICHT EINER REISE IN DIE EIGENE SUBJEKTIVITÄT Überschrieben mit einem Zitat Jean de La Bruyères, »Ce grand malheur, de ne pouvoir être seul«, berichtet The Man of the Crowd von einer Verfolgung: Ein namenloser Erzähler folgt einem Mann eine Nacht und einen Tag durch die geschäftigen Straßen Londons, ohne einerseits vom Verfolgten entdeckt zu werden, ohne aber auch andererseits die Ziele, Motive, Beweggründe des Verfolgten aufdecken,
re, von Poe angeblich für die Masse der Leser bestimmte, biblische Deutung nach: So repräsentierten die Schiffe Ariel und Penguin – letzteres interpretiert Kopley als Pym rettende »shrouded human figure« (ebd., S. 217), welche dieser kurz vor Abbruch der Erzählung am Südpol sieht – die Stadt Jerusalem, wobei die Ariel die zerstörte Stadt meine und die Penguin das wiederaufgebaute New Jerusalem – was wiederum in Poes Leben und Religiosität sich widerspiegele. 35 Cook: A Book, S. 121. 36 Carmichael: Postmodern Genealogy, S. 393. 37 Gitelman: Pym, S. 356. 38 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 134.
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verstehen oder rationalisieren zu können.39 In seinen Überlegungen zu The Man of the Crowd, konstatiert Mumot angesichts der gleichzeitig zielgerichteten und endgültig sinnlos scheinenden Verfolgung eines Unbekannten im Gewimmel der Metropole London durch den Erzähler: »Die Konsequenz des Poeschen Erzählens liegt nur noch in Bewegungen, die in ihrer selbstreferenziellen Nutzlosigkeit von Erstarrung künden, sowie in folgenlosen Interpretationen im toten Winkel aporetischer Erkenntnis. In Poes Text löst sich nicht nur das Subjekt auf, sondern auch das grundsätzliche Interesse an ihm: übrig bleiben die Motorik eines Ich-Erzählers, 40
sein Gehen selbst, und seine verzweifelten Dechiffrierungsversuche.«
Das Erzählen bei Poe, so lässt sich aus der Beschreibung Mumots schließen, umfasst mit einer Bewegung, deren selbstreferentielle Nutzlosigkeit mit der Verfolgung ziellosen Herumirrens am treffendsten beschrieben werden könnte, ein Moment, das sich umkehrt in den Stillstand der Erstarrung einer Verfolgung, die doch nichts zur Aufklärung der Beweggründe des Herumirrens beitragen könnte. So reiht sich der Text zwar ein in den Versuch der Raumkonstitution durch Distanz und Überblick, gleichzeitig verschiebt er diesen jedoch: Denn der durch die distanzierte Verfolgung verfolgte und damit erzählte Man of the Crowd wird eben nicht fassbar und das verfolgende Subjekt, der Ich-Erzähler irrt hinterher, bricht die Verfolgung und Erzählung ab, bleibt kopfschüttelnd zurück, allein in seiner ziellosen Bewegung. Erkenntnis gewonnen hat er nicht, was ihm bleibt, ist, immerhin, eine Erzählung. Die Erzählung als Verfolgung erzeugt jedoch nur die Abbildung eines rätselhaften, opaken Subjekts, das eben nicht durchdrungen werden kann. Auf diese Weise problematisiert die Kurzgeschichte ihr eigenes Epigraph, denn allein bleiben am Ende beide, Verfolger wie Verfolgter, nur eben auf eine andere, geradezu existenzbedrohende Art und Weise. »The limits of epistemology and the horror of anticipation«, so beschreibt darum Jennifer Cook anhand von The Man of the Crowd die Topoi des poeschen Erzählens.41 Mit den Grenzen der Erkenntnis einher geht die Unsicherheit des Subjekts bezüglich des Wissens um die Welt und um sich selbst: Poe ist der Autor des »definitiven Ich-Verlusts«, weil er seine Erzähler einer absoluten erkenntnistheoretischen Orientierungslosigkeit preisgibt und in Konsequenz dem Leser den sinnlosen Versuch der Dechiffrierung der herumirrenden Figuren und Erzähler überträgt: Was Poes Erzählwerk demnach also Mumot zufolge »kennzeichnet, ist die Verwei-
39 Poe: Man, S. 506. 40 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 134. 41 Cook: A Book, S. 121.
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gerung rational vermittelter, hermeneutischer Lesarten«.42 Cook sieht diese bereits in Pym angelegt und notiert, dass Poe hier »an early record of precisely the themes that were to become most significant in his writing« liefere.43 Und tatsächlich beginnt Poe in Pym das Dechiffrierspiel um die Orientierungslosigkeit des Erzählens, wie oben gezeigt, bereits im ›Preface‹: Zwei Erzähler, eine Stimme, kein Bewusstsein. Es begibt sich vielmehr ein Erzähler in eine Bewegung von selbstreferentieller Nutzlosigkeit, die schließlich zum Abbruch der Erzählung und zum ›definitiven Ich-Verlust‹ führt, zum Verloren Gehen des Protagonisten. Wenn nun aber in Pym die verfolgte Figur und der verfolgende Erzähler in eine Person fallen, nämlich in Arthur Gordon Pym selbst, so macht das den Roman ebenso problematisch wie reizvoll. Denn was sich nun an das Verwirrspiel des Vorworts um die Erzählstimme anschließt, bleibt weiterhin rätselhaft und verwirrend: Wenn sich im Laufe der Erzählung die Einschübe und Inkonsistenzen eines unsouveränen Erzählers auftürmen und am Ende gar Pyms Narrative abbricht und dem Leser jene Erfahrungen vorenthalten werden, die ihm noch in Titel und Vorwort versprochen werden, so ließe sich leicht schließen, dass hier schlicht und einfach ein unvollständiger Text vorliegt. Und doch hält Gitelman fest: »Pym’s adventure is not incomplete; his narration is« – und Ricardou notiert gar: »No text is more complete than The Narrative of Arthur Gordon Pym«.44 Wie aber kann dies sein? Versucht man, um diese Frage zu beantworten, jenem unvollständigen Erzählen und seinen ›folgenlosen Interpretationen im toten Winkel aporetischer Erkenntnis‹ auf den Grund zu gehen, so muss zunächst auf das Erzählte selbst geblickt werden und dann auf den Erzähler: Einerseits ist The Narrative of Arthur Gordon Pym zunächst als Reisebericht dem Dispositiv der Entdeckung, das bereits im vorherigen Kapitel eingehend untersucht wurde, verpflichtet. Der Roman erzählt aus der Sicht des Protagonisten eine Abenteuergeschichte, die viele ihrer Eigenschaften mit früherer, zeitgenössischer oder folgender Literatur teilt, etwa Defoes Robinson Crusoe, Melvilles Moby-Dick oder Twains Adventures of Huckleberry Finn: Arthur Gordon Pym bricht, nach einem katastrophalen Segeltörn mit seinem Freund Augustus, als blinder Passagier an Bord des Walfängers Grampus auf zu einer Reise, die ihn nach verschiedensten Katastrophen bis zum Südpol führt, in ein Gebiet, das vor ihm noch kein Mensch betreten hat. Auf der anderen Seite wird dem Leser aber kein in sich geschlossenes Erzählwerk vorgelegt, das sich etwa mit für den Bildungsroman typischen Stationen der Entwicklung des Protagonisten vergleichen ließe. 45 Der
42 Beide Zitate Mumot: Irrwege zum Ich, S. 133, 122. 43 Cook: A Book, S.121. 44 Gitelman: Pym, S. 360; Ricardou: Singular Character, S. 4. 45 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden gegenüber dem Bildungsromans vgl. Mumot: Irrwege zum Ich, S. 120.
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Grund hierfür findet sich in den narrativen Inkohärenzen und Exkursen, mehr aber noch im Status des Erzählens und in dem Erzähler selbst. Gitelman sieht »three problematic features«, die die Lektüre des Romans erschwerten und die Erzählstruktur des Reiseberichts verwirrten: Dazu zählt sie erstens kompilatorische Einschübe von »tedious and seemingly irrelevant non-original material« – von Überlegungen zur richtigen Beladung von Schiffen, naturphilosophischen Reflexionen zu Pinguinkolonien bis hin zu ganzen Passagen, die aus Morrells Four Voyages abgeschrieben wurden – und zweitens die mangelnde Kohäsion des Textes.46 Immer wieder wird Pyms Reise unterbrochen, »[i]n den aneinandergereihten Episoden setzt je eine neue Fahrt ein, statt die vorherige wieder aufzunehmen«. In diesem Sinne versteht Frost Pyms Narration als »exkursives Erzählen«, das Intertexte und nautische Informationen kombiniert, um zeitgenössische Diskurse in den Text einzuspeisen und damit zu kommentieren, zur gleichen Zeit aber »werden die Exkurse zu einer zweiten Stimme, die den Bericht der Reise überlagert: Sie führen zu keinem linearen Weg zurück, sondern ergeben die Koordinaten eines neuen, parallel gesetzten Weges«.47 So scheint Gitelman zufolge nahezu jede Person, auf die Pym während seiner Reise trifft, Anlass zu bieten, das Narrativ zu verändern und abdriften zu lassen: »Stowaways, castaways, captains, and cannibals all result in new narratives, [...] adding narrative to narrative with a regularity that recalls the picaresque.«48 In diesem Sinne erhält das Narrativ auch in der ›histoire‹ den kompilatorischen Charakter eines bunt zusammengewürfelten Stückwerks, das über die mangelnde Organisation der temporalen Struktur einer kohärenten Komposition entgegen wirkt, wie Weinstein herausgearbeitet hat. So entsteht »in the reader’s mind a profoundly disorienting experience«, die in der definitiven Antiklimax des Reiseberichts gipfelt: dem Abbruch vor dem Erreichen des erklärten Ziels.49 Das dritte »problematic feature« des Romans stellt nach Gitelman Pyms Verschwinden am Südpol dar, da der Abbruch den Status des Romans infrage stelle: »The reader [...] learns in the concluding editorial ›Note‹ that Pym is dead and
46 Gitelman: Arthur Gordon Pym, S. 353. 47 Frost: Whiteout, S. 210. Die Einschübe und Inkohäsionen können als Teil der oben beschriebenen Authentifizierungsstrategie des Erzählens verstanden werden, da sie einen Realitätsüberschuss im Sinne des von Barthes als »Signifikat des Realismus« postulierten »Wirklichkeitseffekt[s]« produzieren, der die nautischen sowie naturwissenschaftlichen Kenntnisse Pyms zu bezeugen in der Lage ist, aber gerade durch die Offensichtlichkeit der Einschübe auch über sich selbst hinaus das narrative Verfahren der Kompilation offenlegt und dem Leser zur Dechiffrierung anbietet – den die Vertreter der Quellenkritik dankend annehmen (Barthes: Wirklichkeitseffekt, S. 171). 48 Gitelman: Pym S. 358. 49 Weinstein: When is Now?, S. 85.
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his remaining chapters lost despite the fact that the ›Preface‹ had him alive and well very near the time of publication.«50 Pyms Verloren Gehen markiert also nicht den chronologischen Endpunkt der Geschichte, vielmehr gibt dieser bereits im Vorwort an, dass seine Rückkehr »to the United States a few months ago« stattgefunden habe und er nun Zeit und Willen finde, sein Narrative zu verfassen. Pyms »late sudden and distressing death«, welchen der Erzähler der ›Note‹ beklagt, hat also in Bezug auf die Chronologie der ›histoire‹ nichts mit seinem Verloren Gehen zu tun, schließlich muss Pym ja auch wieder zurückgekehrt sein. Auf diese Weise erhält das Ende eher zufälligen Charakter, Pyms Verschwinden und der Abbruch des Narrativs scheinen nicht ursächlich miteinander verknüpft zu sein. Und doch stellt der Abbruch ein rätselhaftes Ende auf dem Höhepunkt der Erzählung dar, weil es eben jene »Incredible Adventures and Discoveries Still Farther South« unzugänglich macht, die der Untertitel angekündigt hat.51 Statt also auf eine auch zu Poes Zeiten herkömmliche Herausgeberfiktion zu setzen – etwa ein Tagebuch, welches dem Herausgeber über verschlungene Wege zugekommen ist und das dieser nun noch ein wenig bearbeitet hat, um die Lesbarkeit zu erhöhen –, optiert der Roman für eine komplexe Erzählsituation, die den Abbruch des Erzählens nicht zum Ende der Chronologie macht, aber gerade darum das Erzählen nochmals thematisiert und problematisiert. Auf diese Weise stellt der Roman den Leser vor das Rätsel eines Romans, der vorgibt, zu sein, »was er nicht ist – ein authentischer Reisebericht, auch wenn er sich als solchen zu legitimieren trachtet, noch bloßer Seefahrtsroman«. 52 Die Reise wird vermittelt über einen Erzähler, der Geschichte auf Geschichte stapelt, nur um kurz vor dem Erreichen des durch den extensiven Romantitel vorgegebenen Ziels die Geschichte abzubrechen und im Doppelsinn – als Figur wie als Erzähler – verloren zu gehen und zu verschwinden. Das Verloren Gehen Pyms macht darum als hermeneutischer Imperativ auf Stationen und Ziel der Reise aufmerksam. Für Wilson, der den Roman im Rahmen seiner Spiritual History of Ice untersucht, ist Pyms Fahrt, die zwar über einige Umwege, aber dennoch zielgerichtet hin zum Südpol führt, Ausdruck eines bereits in der Antike manifesten Suchens nach dem »threshold between matter and spirit, time and eternity«. Und so treffe auch auf Pym der »spiritual impulse in almost all polar explorers« zu: »the longing to discover at the axis mundi the eternal center of oneself and the universe«. Die Polreise Pyms wäre damit doppelt kodiert: Erstens zeigt sich darin der altbekannte Drang nach Erschließung unbekannter Gebiete und Tilgung der weißen Flecken. Da, zweitens, der Südpol Wilson zufolge aber »the dark other, the alien planet – the antihuman, the monstrous« darstelle, sei dessen
50 Gitelman: Pym, S. 353. 51 Alle Zitate AGP, S. 3, 219, 1. 52 Frost: Whiteout, S. 233.
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Eroberung gleichzeitig immer verknüpft mit der Erkundung und Auslotung des Selbst. So böten die Polargebiete eben jene Leerstellen, mit denen sie sich sowohl als Hölle wie auch als Paradies denken ließen: Das Eis der Polargebiete, so Wilson, »is unbounded, a trackless white expanse, virginal, on which one can project infinite desire. The empty ice fields are plenitudes of ever renewed yet never fulfilled longing.«53 Die Polarreise affiziert das Subjekt, das sie bestreitet: Jede Fahrt in diese Gebiete ist damit eine Fahrt in die eigenen Sehnsüchte, die eigene Wahrnehmung und das eigene Ich. Pym unternimmt demnach William Peden zufolge »a night journey, a journey both physical and metaphysical. [...] Pym will journey beyond the known limits of the physical world. At the same time [...] he will journey beyond the limits of himself, beyond the limits of his own mind; on this plunge into the unknown he will, indeed, 54
blow his own mind.«
Zur kompilatorisch verfügten, literarisch vollzogenen Reise des Subjekts zum Südpol tritt die Reise zum Pol – und damit Ursprung – der eigenen Subjektivität: »Pym’s journey is a journey towards his own self«, notiert Dennis Pahl.55 Robert L. Carringer erkennt in Pyms Reise »a destructive quest for ultimate knowledge«, eines Wissens um die unerforschten Bereiche der Erde und der Seele. 56 In ihrer psychoanalytischen Interpretation deutet schließlich Ulrike Brunotte Pyms Südpolfahrt als eine Reise »ins Innere und in die Frühzeit des Subjekts«,57 die ihn – analog zur im Roman vorgestellten Hohlwelttheorie – am Ende »into the interiors of the earth and, deeper, to the core of the cosmos« führe, wie Wilson meint.58 Gleichzeitig aber bleibt der Roman eine Abenteuergeschichte, wenn auch eine spezielle: Denn im Gegensatz zu seinem literarischen Verwandten Robinson Crusoe, dem Sinnbild des »modernen bürgerlichen Heros«, schafft es Pym nicht, Handlungssicherheit zu gewinnen, wie Brunotte schreibt: »Wo Robinson handelt, beob-
53 Alle Zitate Wilson: Spiritual History, S. 164, 142, 145, 163. Damit ist freilich das bereits vorangehend ausführlich thematisierte Spannungsverhältnis der Polargebiete zwischen ›locus amoenus‹ und ›locus horribilis‹ angesprochen. 54 Peden: Prologue, S. 89. 55 Pahl: Architects, S. 44. 56 Carringer: Circumscription, S. 514. 57 Brunotte: Maelstrom, S. 154. Auf diese Weise deutet sie etwa Pyms Transport im Schiffsbauch der Grampus: Pym steigt immer weiter hinab bis in die Seemannskiste, in der er den Großteil der Fahrt auf der Grampus verbringen wird. Diese sukzessiven Abstiege gäben sich, so Brunotte, als »umgekehrte Geburtspassagen« zu erkennen und Pym werde von Poe als »ein moderner Unterweltreisender vorgestellt« (ebd., S. 152f.). 58 Wilson: Spiritual History, S. 4f.
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achtet und leidet Pym. Wo Robinson aus dem Chaos neue Ordnung schafft, treibt es Pym immer weiter in das Chaos hinein.«59 So ist die Fahrt von Pyms Unfähigkeit gezeichnet, »die Richtung seiner Reise vorzugeben. Die Fahrt wird vom bloßen Über-Wasser-Halten und Vorankommen statt von einem konkreten Ziel bestimmt.«60 Brunotte verknüpft darum Pyms Inaktivität mit dem von W.H. Auden vorgestellten Subjektmodell des reinen Abenteurers: »[I]n these stories of pure adventure the hero is as purely passive as the I in dreams; nothing that happens is the result of his personal choice, everything happens to him. What the subject feels – interest, excitement, terror – are caused by events over which he has no control whatsoever [...].«61
Daraus folgert Brunotte, dass es der Leser bei Pym »mit einer Bewegung zu tun [hat], die nun nicht mehr vom Subjekt ausgeht, sondern die das Subjekt erfasst«.62 Diese Bewegung gleicht einem Mahlstrom, der wiederum auch an anderer Stelle bei Poe, dieses Mal in der Kurzgeschichte A Descent into the Maelström, prominent das erzählende Subjekt erfasst und Mumot zufolge als grundlegend für den Umgang Poes mit seinen Figuren angenommen werden kann: »Poe ist der Autor eines Sogs, der den Menschen packt und ihn aus der rational kodierten Gesellschaft hinaus in einen Raum metaphysischer Erkenntnis reißt, die jedoch jenseits aller intellektueller Begreifbarkeit liegt und nur in geistiger wie körperlicher Ohnmacht erfahrbar 63
wird.«
Die Dynamik der Mahlstrombewegung lässt sich Brunotte zufolge mit einem ›rite de passage‹ im Sinne Arnold van Genneps begreifen, wobei Poe jedoch die »Initiationsdynamik« suspendiere, die den Übergangsritus auszeichnet; stattdessen »entläßt« der Roman »seine[n] Protagonisten in Vernichtung und Erfahrungslosigkeit«; die ›passage‹ verstetigt sich, ohne ein Ziel zu finden und es findet kein Übergang in einen neuen Geisteszustand statt: Pym verschwindet aus seinem Text. 64
59 Brunotte: Maelstrom, S. 162. 60 Frost: Whiteout, S. 217. 61 Auden: Forewords and Afterwords, S. 211. 62 Brunotte: Maelstrom, S. 148. 63 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 121; vgl. dazu auch Poe: Maelström. 64 Alle Zitate Brunotte: Hinab, S. 149; zum ›rite de passage‹ vgl. das Kapitel Räumliche Übergänge in Gennep: Übergangsriten, S. 25-33. Für Peden ist darum Pyms Reise »an existentialist trip from nothingness to nothingness« – der aus dem Nichts auftretende Pym verschwindet am Ende wieder im Nichts (Peden: Prologue, S. 89). Und auch Irwin
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»[D]ie Subjektwerdung des Helden«, so skizziert Mumot die Abgrenzung Pyms von den zeitgenössischen Protagonisten der Bildungsromane und Übergangspassagen, »geschieht nicht in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität, sondern in der Begegnung mit Naturgewalten und unverständlichen Schrecknissen, aber auch mit Visionen und Wahnvorstellungen, die den Protagonisten suggestiv anziehen, ihn in seinen hermeneutischen Ambitionen unentwegt herausfordern und zugleich seine Handlungsfähigkeit läh65
men.«
So stellt die Reise als Selbstbewusstwerdung einen sich ständig aufschiebenden Tod dar: Pym wird nacheinander mit den lebensbedrohlichen Situationen eines Schiffsbruchs, einer Vergiftung, einer Meuterei, eines erneuten Schiffbruchs und schließlich eines ihn auf wundersame Weise verschonenden Hinterhalts konfrontiert. In keiner dieser Situationen ist er Herr seines Willens, stets geschieht ihm die Situation, immer verhält er sich zu ihr völlig passiv, im sprichwörtlichen wie buchstäblichen Sinn ohnmächtig. Denn gleich mehrmals verliert er in den Momenten größter Gefahr sein Bewusstsein und erwacht, gerettet, jedoch völlig orientierungslos.66 Die Ohnmachten Pyms, dessen Handlungen von Carringer als eine Kombination eines »will-todisaster« mit einem »basic wish-to-survive« beschrieben werden, sind die letzten Zeichen einer Signifikationskette, nach der zu schließen ist, dass diesem Erzähler, der keine Kontrolle über seinen eigenen Text auszuüben scheint, nicht zu trauen
erkennt in Pyms Reise einen Übergangsritus, in dem Tod und Wiedergeburt symbolisch den eigentlichen Übergang in einen höheren Bewusstseinsstatus repräsentieren sollten, welcher jedoch Pym während seiner Fahrt versagt bleibe (vgl. Irwin: American Hieroglyphics, S. 185). 65 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 120. Allerdings gesteht Frost, die Pyms Reise auch nur eine »inszeniert[e] Zufälligkeit« zuschreibt, diesem eine Art eigener Handlungsfähigkeit zu, da sie neben dem erlebenden Pym einen selbstreflexiven Pym als Erzähler annimmt, der durchaus in der Lage ist, »durch seine schiere Existenz den Verlauf der Reise« zu bestimmen (Frost: Whiteout, S. 226). 66 Dies geschieht etwa beim ersten Schiffbruch mit der Ariel, wo Pym von der Besatzung der Penguin gerettet wird als auch unter Deck während seiner Zeit als blinder Passagier auf der Grampus, wo er, von Wahnzuständen gepackt, die Meuterei verpasst. Auf Tsalal erreicht ihn die Ohnmacht dann gleich zwei Mal: während des Hinterhalts der Einwohner Tsalals, bei dem die fast komplette Besatzung der Jane Guy umkommt (sowie, zuletzt, bei seinem Fall in die Arme von Dirk Peters.
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ist.67 Die von Pym erzählte Reise zum Südpol konnte bereits durch das Verwirrspiel um die Urheberschaft des Textes im ›Preface‹ als problematische Selbstbewusstwerdung gekennzeichnet werden. In den Ohnmachtsszenen spitzt sich diese Dynamik zu: Dem Erzähler wird in den entscheidenden, lebensbedrohlichen Momenten keine Initiation zugestanden – statt des Erlangens von Bewusstsein scheint vielmehr gerade der Verlust von Bewusstsein, die Ohnmacht, Pym zu retten und dem sicheren Tod entgehen zu lassen.68 Pym kann darum mit Dünne als ›Schiffbrucherzähler‹ klassifiziert werden: »Anstatt sich als überlegene Autorität bestätigen zu können, versteht sich der Erzähler als ein aus dem Bauch des mütterlichen Schiffes entlassener Säugling, der ein ›Geburtstrauma‹ zu verarbeiten hat.«69 Für Pym allerdings wird das ›Geburtstrauma‹ der lebensbedrohenden Katastrophe im Text vervielfacht. Ob auf der Ariel, im Bauch der Penguin oder in den Schluchten von Tsalal: Der Verlust des Bewusstseins markiert jeweils eine Wiedergeburt des Erzählers und den Neuansatz des Erzählens; auf diese Weise türmt Pym Geschichte auf Geschichte, immer wieder neugeboren aus der Katastrophe, unfähig, die eigene Geschichte zu Ende zu erzählen. Durch die vervielfältigende Affirmation der Schiffbrucherzählung aber wirft der Text laut Irwin das »dual problem of the precariousness of narration and the credibility of the narrative« auf: Denn im ›Preface‹ tritt Pym zeitlich und räumlich getrennt vom erlebenden Ich des Narrative und damit in Differenz zu diesem auf.70 Indem nun aber das ›Preface‹-Ich Pyms die Authentizität des Textes verifizieren will, macht es auf die strukturelle Problematisierung und mangelnde Reflexionsfähigkeit des erlebenden Ichs der Fahrt aufmerksam. Gerade weil der Pym des ›Preface‹ nur in das Narrativ eingreift, um erzählerische Eingriffe zu verdeutlichen und ihre Notwendigkeit zu rechtfertigen – etwa über Fußnoten –, scheint der Pym des erlebten Abenteuers nie den selbstreflexiven Abstand eines an seiner Reise und seinen Erfahrungen gewachsenen Erzählers zu gewinnen, der dem Leser den Erkenntnisgewinn seiner Reise zu vermitteln imstande ist. Der Leser, so John P. Hussey, erwarte aufgrund einer Erzählstimme, die »reasoned and balanced and wellmodulated« sei, eine ebenso reflektierte Erzählung, »mediating the meaning of his experience, not just describing it«. Allein, »this is precisely what Pym is not«.71
67 Carringer: Circumscription, S. 511. 68 Pym gesellt sich damit Gitelman zufolge zu einer ganzen Reihe unsouveräner Erzähler bei Poe, deren »lack of a well-regulated mind« sie auszeichne (Gitelman: Pym, S. 356). 69 Dünne: Imagination, S. 228. 70 Irwin: American Hieroglyphics, S. 93. 71 Hussey: Mr. Pym, S. 28.
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5.4 DIE VERVIELFÄLTIGUNG DES ERZÄHLENS ODER: WER ERZÄHLT EIGENTLICH WEN? Es kann damit festgehalten werden, dass Pym zwar in einer konventionellen Erzählsituation über eine von ihm erlebte Vergangenheit spricht, das erzählende Ich im Text aber faktisch kaum in einer Weise Bezug auf das erlebende Ich nimmt, die dem Erzähler Selbstreflexivität zukommen ließe. Stattdessen bekommt der Leser den Bericht des passiven Helden des reinen Abenteuers vorgesetzt, »who acts and suffers and yearns but who is never aware of himself as a person, who never shows himself to be conscious of his uniqueness, who never seems to contemplate the literally fantastic events in which he participates«.72 Die Erzählung erscheint auf diese Weise eindimensional erlebend, da Pym in seiner Funktion als Erzähler kein reflexives Bewusstsein zeigt.73 Eine Selbstbewusst-Werdung würde dagegen eine gelungene Differenzierung des Selbst vom Anderen erfordern und damit jene Form der Subjektkonstitution, die bereits im ersten Teil dieser Arbeit als räumliche Operation der Schaffung von Überblick beschrieben worden ist: »To be aware of oneself, one must feel oneself against something else, must posit an ›other‹ in order to feel the ›self-same‹.« Pym geht eben diese von Wilson beschriebene Fähigkeit ab, als Erzähler Distanz zum Anderen zu erlangen. Sein Selbst-Bewusstsein ist darum
72 Ebd. 73 Irwin und nach ihm auch Wilson und Frost verdeutlichen dies an Pyms Bericht über die Quincunx-Ordnung der Pinguinkolonien. Diese verwiesen, so Wilson mit Irwin auf »a theory of knowledge« (Wilson: Spiritual History, S. 198), ein komplexes System gesellschaftlicher Ordnung und Wissensgenese, derer sich aber Pym nicht bewusst werde. So äußert sich Pym zwar zum Quincunx scheinbar metareflexiv – »nothing can be more astonishing than the spirit of reflection evinced by these feathered beings, and nothing surely better can be better calculated to elicit reflection in every well-regulated human mind« (AGP, S. 142) –, jedoch habe Poe diese Bemerkung Pyms nur als »ironic comment on the lack of reflection that Pym consistently demonstrates« eingefügt (Irwin: Quincuncial Network, S. 185). Auf diese Weise betone Pym zwar das Bedürfnis nach metaphysischer Reflexion, zeige aber, gerade weil er nicht auf die Metaebene der Reflexion wechselt und in der reinen Beschreibung verharrt, vor allem »his own inability to reflect on reflection« (Wilson: Spiritual History, S. 199). Auch dass Pym in der »gigantic white figure in the mist at the end of the narrative« seinen eigenen Schatten nicht erkennt, erweise dessen Mangel an Selbst-Bewusstsein und Selbst-Reflexion (Irwin: Quincuncial Network, S. 185). Irwins und Wilsons Interpretationen zielen dabei darauf ab, dass die Leser des Romans, im Gegensatz zu Pym, eben die Quincunx-Ordnung und den Schatten erkennen können und dadurch imstande sind, über Pyms Nicht-Reflexion zu reflektieren (vgl. dazu auch Frost: Whiteout, S. 224f.).
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»unconscious«, weil es ihm nicht gelingt, »the difference between his projections and the world« zu erkennen.74 Damit aber wird nach Pahl der narrative Status des Romans problematisch: Gerade weil Pym als Erzähler nicht über sein Erlebtes reflektieren kann, keine Distanz zu seinem erlebenden Ich gewinnt und außerhalb seines eigenen Repräsentationssystem zu stehen imstande ist, stelle die Erzählung ihre eigene Authentizität in Frage.75 Gleichzeitig jedoch zeigt der Roman Hussey zufolge »consciously-conceived artifice and symbolic patterning«, »fantastic, symbolic, and allegorical elements which suffuse the novel« ebenso wie einen symmetrisch strukturierten Aufbau oder die mit Geburtsallegorien angereicherte, neunmonatige erzählte Zeit.76 So stellt der Text der narrativen Dekomposition eine Ebene formaler Komposition entgegen.77 Wer aber erzählt eine Geschichte, die gleichzeitig eindimensional erlebend und reflexiv allegorisch ist? Eine Geschichte, deren »artifice and patterning implies [...] that despite its longeurs [sic], digressions, and unassimilated sea lore, the novel is meant to be read as a coherent and unified work«?78 Oder aber anders gefragt: Wer erzählt hier eigentlich wen? Tatsächlich lässt sich auf der Erzählebene eine Vervielfältigung des Erzählens ausmachen: So weist Pym selbst im Vorwort darauf hin, dass der Roman zwei Erzähler besitze, ›Mr. Poe‹ und ihn selbst – auch wenn diese, wie oben gezeigt, ununterscheidbar scheinen. 79 Zudem muss Pym selbst als gleich zweifacher Ich-
74 Beide Zitate Wilson: Spiritual History, S. 199f. 75 Vgl. Pahl: Architects, S. 42. 76 Hussey: Mr. Pym, S. 29. 77 Vgl. Weinstein: When is Now?, S. 97. 78 Hussey: Mr. Pym, S. 29. 79 Hussey nimmt darum in seiner Interpretation an, dass ›Mr. Pym‹ and ›Mr. Poe‹ als Erzähler des Romans dienen, »both completely fictional despite ›Poe’s‹ complete affinity of name, birthday, and interests with his creator«. Wo Pym nur die Erlebnisse der Reise nacherzähle, gehe es ›Poe‹ allein um »the evocation of projected dramas of the mind«. Und so führt er die Trennung der Charaktere weiter aus: »The first character is drawn to action, the second to allegory. The first is drawn to sensation, the second to symbol. The first is drawn to facts, the second to fable.« (Alle Zitate ebd., S. 30) Spuren im Text hinterlässt der von Hussey ausgerufene ›Mr. Poe‹ allerdings nicht. Frost erkennt einen von Pym getrennten Erzähler in den Exkursen und unnützen Informationen. Zwischen »dem unmittelbar im Text Operierenden und dem nachträglichen Berichterstatter« klaffe eine Differenz auf, die zwei Reisen deutlich mache: Die des erlebenden Erzählers Pym und die des durch den Text dieses Erzählers Reisenden, dessen Reise sich in den Kunstfertigkeiten des Textes wie auch in seinen Inkohärenzen zeige. »Im Aus-der-Spur-geraten macht der Erzähler sich und seine Fahrt durch den Text sichtbar.« (Alle Zitate Frost:
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Erzähler angenommen werden, zuerst im ›Preface‹ und dann im Reisebericht selbst, da sich beide Erzählstimmen kaum überschneiden und der Pym des Vorworts meist nur über Fußnoten in Erscheinung tritt.80 Schließlich erscheint am Ende, in Folge von Pyms Verschwinden, in der ›Note‹ noch ein dritter, anonymer Er-Erzähler, der sich mit den letzten Handlungen und Erlebnissen des Ich-Erzählers vor seinem Verschwinden auseinandersetzt. ›Preface‹ und ›Note‹ bilden so einen, das im Reisebericht eindimensional erlebend Erzählte reflektierenden, Rahmen; den Versuch, Distanz zu schaffen und das Erzählwerk auktorial zu überblicken, wagen allein Erzähler an den Grenzen des Texts. Erlebende und reflektierende Erzählsituationen werden also getrennt und so entstehen Doppelkonstellationen des Erzählens, die Irwin als Explizierung der Opposition von schreibendem und geschriebenem Selbst und in der Folge als Opposition von Autor und Werk versteht: »The doubling [...] suggests the constitutive opposition between the writing self and the written self, the problematic doubling of the writer and his book.« Da sich ›writing self‹ und ›written self‹ im Roman nicht in Differenz voneinander zeigten, sei bereits im Vorwort die Frage nach der Identität Pyms und ihrer Erschaffung aus dem Spannungsverhältnis von Einheit und Differenz zur zentralen Frage des Romans erhoben. Irwin betont dabei die Differenz als Identität schaffendes Mittel: »What Poe evokes is the paradox of mutually constitutive oppositions, the way in which difference constitutes identity.« Die für das Erlangen von Subjektivität unvermeidliche Differenzierungsoperation des selbstreflexiven Erzählens wird Irwin zufolge grundsätzlich als »dividing line between the self and its language« erkennbar – in Pym ist sie aller-
Whiteout, S. 215) Damit nähert sich Frost näher als die meisten der hier verhandelten Kommentatoren an die Annahme einer selbstreflexiven Ebene beim Erzähler Pym an: Beweis ist ihr die nachträglich in Form gebrachte Tagebucherzählung: »Hier wird erneut die Differenz zwischen dem, der die Abenteuer erlebt, und demjenigen, der sie nachträglich aufschreibt, immanent.« (Ebd., S. 222) 80 Ausnahmen bilden der Übergang zur Tagebuchform in Kapitel 6 – »[a]s the events of the ensuing eight days were of little importance, and had no direct bearing upon the main incidents of my narrative, I will here throw them into the form of a journal, as I do not wish to omit them altogether« (AGP, S. 68f.) – sowie gelegentliches, äußerst vages ›foreshadowing‹, das, analog zum Vorwort, die unglaublichen Abenteuer Pyms ankündigen und plausibilisieren soll, etwa: »[A] narrative [...], which in its later portions, will be found to include incidents of a nature so entirely out of the range of human experience, and for this reason so far beyond the limits of credulity, that I proceed in utter hopelessness of obtaining credence for all that I shall tell, yet confidently trusting in time and progressing science to verify some of the most important and most improbable of my statements« (ebd., S. 50).
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dings eben nicht als solche erkennbar, »because the difference between the two is an oscillating, self-reversing difference«.81 Im Roman wird die Selbstreflexivität, mit der sich aus der Differenz von erlebendem und erzählendem Ich das erzählerische Subjekt konstituiert, nicht einfach in einer Art ›stream of consciousness‹ aufgehoben, sie wird vielmehr dem erlebenden Ich Pyms entzogen und transzendiert: Pym erlangt kein Selbst-Bewusstsein, weil er nicht derjenige ist, der erzählt, sondern der, der erzählt wird, wie Pahl bestätigt: »Indeed, we can see that Pym’s authorship is from the start problematic, that aside from posing as a writing self he also finds himself in the position of a written self.«82 Dass ›writing self‹ und ›written self‹ einander auf diese Weise gegenübergestellt werden, ist zentraler Ausgangspunkt des Romans und in Pym wird dieses Gegeneinander personifiziert. Weil jedoch mit Mr. Poe, dem ›Preface‹-Pym und dem ›Note‹-Erzähler jene Vervielfältigungen des Erzähler-Subjektes am Rande des Textes auftreten und im eigentlichen Narrative nicht ›writing selves‹ sind, stellt der Roman Pym zwei Doubles an die Seite, die als »potentielle Erzähler« fungieren, Pym begleiten und zum Teil seine Gedanken und Handlungen direkt verantworten: einerseits das ›weiße‹ Double Augustus Barnard, andererseits das ›schwarze‹ Double Dirk Peters. 83 Augustus und Peters stellen Komplementäridentitäten Pyms dar und spielen als solche auf einen weiteren Komplex an, der im Folgenden die entscheidende Rolle zum Verständnis von Pym als Roman des Verloren Gehens spielt: den der schwarzen Schrift und des weißen Papiers als Verhandlung der Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen des Schreibens. Augustus, die Vernunft und der Verlust der Kontrolle Augustus, »Pym’s handsome, white, Anglo-Saxon counterpart, whose eloquent manner of speaking incites Pym’s wanderlust«, repräsentiert Pahl zufolge die gebildete, rationale Seite des Erzählers. 84 Bereits zu Beginn des Reiseberichts geht Pym auf die Erzählerqualitäten des Freundes in einer Weise ein, die einen Übernahme der Identität Augustus’ suggeriert: »Augustus thoroughly entered into my state of mind. It is probable, indeed, that our intimate communion had resulted in a
81 Alle Zitate Irwin: American Hieroglyphics, S. 120-123. 82 Pahl: Architects, S. 47. 83 Frost: Whiteout, S. 222. Die Zuschreibungen schwarz und weiß erhalten beide nicht allein wegen ihrer Hautfarben, auch wenn diese als Signifikanten der rassistischen Lesart des Romans eine große Rolle in der Sekundärliteratur spielen (vgl. dazu exemplarisch Morrison: Playing in the Dark). 84 Pahl: Architects, S. 46.
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partial interchange of character.« 85 »Augustus’s uncanny ability«, in Pyms Geist einzudringen, macht ihn zum Erzähler des ›written self‹ und erweist Irwin zufolge »[t]he reversibility of self and other«.86 So ist es Augustus, der durch seine Geschichten Pyms Faszination für die Seefahrt weckt und an dessen Erzählungen sich Pyms Entdeckungs- und Eroberungsdrang entzündet: »We occupied the same bed, and he would be sure to keep me awake until almost light, telling me stories of the natives of the island of Tinian, and other places he had visited in his travels. At last I could not help being interested in what he said, and by degrees I felt the 87
greatest desire to go to sea.«
Augustus als Double Pyms kann jedoch nicht nur als verantwortlich für Pyms Rationalität und Eroberungsdrang gesehen werden, sondern auch für dessen häufigen Kontrollverlust: Berauscht von Eroberungsdrang und Alkohol verliert Augustus nicht nur zu Beginn die Kontrolle über die Ariel, was den Schiffbruch der beiden Jugendlichen und Pyms erste Ohnmacht zur Folge hat, sondern, nach und nach, auch die Kontrolle über die Erzählung Pyms: Als blinder Passagier, im Bauch der Grampus ist Pym getrennt von Augustus’ Einfluss und verfällt zunehmend in einen »state of profound sleep or rather stupor«.88 Als ihn ein Brief von Augustus erreicht, kann er diesen, obwohl er seine letzten Vorräte dafür aufwendet, Licht zu machen, nicht vollständig entziffern, weil er die beschriebene mit der noch unbeschriebenen, weißen Seite verwechselt. Diese kurze Szene verdeutlicht nicht nur die Kontrolle Augustus’ über Pym, sondern vielmehr die des geschriebenen Wortes über seinen Erzähler: Pym ist als ›written self‹ angewiesen auf eine Erzählung. ›The reversibility of self and other‹, von der Irwin spricht, zeigt sich hier im Wenden des Blattes. Die weiße, unbeschriebene Seite des Papiers kann demzufolge mit Pym selbst identifiziert werden: In ihm zeigt sich die Schrift als identitätskonstruierendes Merkmal und ihre Abwesenheit als Entsubjektivierung. Wo nichts geschrieben ist, da existiert auch nichts. Und so wird diese Episode zur Metapher für den Text: Pym erhofft sich von den Worten Augustus, »the true state of affairs« zu erkennen.89 Da er aber ein ›written self‹ und damit selbst Schrift ist, kann ihm dieser Zugang nicht gewährt werden: »The promise of the written word – to dispel the
85 AGP, S. 19; vgl. dazu auch Irwin: American Hieroglyphics, S. 121f.; Pahl: Architects, S. 46. 86 Irwin: American Hieroglyphics, S. 123. 87 AGP, S. 7. 88 Ebd., S. 27. 89 Ebd., S. 35.
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darkness and reveal the truth – is rendered empty«, wie Cook notiert.90 Unfähig, sich selbst in die Überblicksposition des Lesers zu versetzen – und damit, wie bereits im ersten Teil gezeigt, das Subjekt durch Distanz zu konstituieren –, muss Pym in der entdifferenzierten Dunkelheit verbleiben und auf Rettung warten. Schließlich trifft diese zwar in der Person von Augustus ein und Pym kommt an Bord, jedoch tritt in Folge dieser Episode das ›weiße Double‹ als Erzähler Pyms immer weiter in den Hintergrund, wird verwundet und stirbt schließlich. Peters und die Rückkehr in den Urzustand der Schrift An Augustus’ Stelle tritt im Verlauf der Reise Dirk Peters. Dieser scheint als Halbblut und mit dem zugeschriebenem Charakter eines ›wilden‹ Menschen – Peters »had given rise to a doubt of his sanity«, so schreibt Pym –91 zunächst im absoluten Kontrast zu Augustus zu stehen: »[T]he role he plays in relation to Pym is clearly that of the dark other, the daemonic opposing self that at once threatens and sustains«. 92 Dabei ist Peters, der zunächst Augustus und danach Pym zweimal das Leben rettet, als »half-breed« weder rein animalisch und irrational, noch sind Pym selbst diese Qualitäten ganz fremd.93 »Rather, it is to indicate that in Peters the irrational animal predominates over the rational man, while in Pym it is the reverse, and that the relation between Pym and his double begins by opposing the dominant aspect of each as the basis for subsequent reversals.«94 Pahl, der den Reisebericht als Rückkehr Pyms zu den Wurzeln des Selbst liest, erkennt in Peters den Katalysa-
90 Cook: A Book, S. 123. 91 AGP, S. 50. Die Beschreibung Peters als Halbblut, »a stock fictional type of someone whose word is not to be trusted« führt die Kommentatoren Irwin zufolge immer wieder dazu, über diesen Charakter Poes rassistische Einstellung zu reflektieren (Irwin: American Hieroglyphics, S. 119). 92 Ebd., S. 125f. 93 AGP, S. 3. Peters rettet Augustus vor den Meuterern, indem er »insisted in a jocular manner upon keeping [Augustus] as his clerk« (AGP, S. 50). Pym rettet er zunächst, während der zweiten Meuterei, im Kampf um das Schiff: »[T]hey fought with great resolution and fury, and, but for the immense muscular strength of Peters, might have ultimately got the better of us«. (AGP, S. 85) Die zweite Rettung erfolgt schließlich auf Tsalal, als Peters Pym nach dessen Schwindelanfall auffängt: »[T]here came a spinning of the brain; a shrill-sounding and phantom voice screamed within my ears; a dusky fiendish, and filmy figure stood immediately beneath me; and, sighing, I sunk down with a bursting heart, and plunged within its arms. I had swooned, and Peters had caught me as I fell.« (AGP, S. 206) 94 Irwin: American Hieroglyphics, S. 129.
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tor für diese Rückkehr. Er macht die Lebensrettungsszene auf Tsalal als Übergang vom ›weißen‹ zum ›dunklen‹ Selbst, von Rationalität zu Irrationalität aus: »Peters becomes [...] a kind of womb into which Pym falls, and thus this maternal embrace would seem to suggest for Pym a return to origins.«95 Die Rückkehr in den Urzustand bedeutet für Pym als ›written self‹ seiner eigenen Erzählung vor allem eine Rückkehr in die Schrift: »[The] voyage to the limits of differentiation is evoked as a quest for the simultaneous origin of man and language«.96 In diesem Sinne ist Peters der perfekte Begleiter für eine solche Suche, da sein Ursprung – »among the fastness of the Black Hills near the source of the Missouri« – selbst ein textueller ist.97 So stellt die Quelle des Missouri jenes Reiseziel dar, welches in der History of the Expedition of the Commanders Lewis and Clark beschrieben wurde, einer Kompilationsquelle des Romans, die von Pym in seiner Zeit als blinder Passagier an Bord der Grampus gelesen wird. Peters agiert als Double Pyms, weil er selbst einem Text entstammt: »Peters doubles the constitutive opposition of rational and irrational, light self and dark self, man and animal, within Pym at the same time that he evokes Pym’s linguistic status as a man made out of words.«98 Damit verweisen auch die erzählerischen Doubles als textuelle Fiktionen auf einen Ursprung im Text, in der Schrift und im Erzählen. In Umkehrung der Maskierung des tatsächlichen Autors Poe als Figur im Vorwort begreift Pahl Pym als »a certain textual displacement« der Kompilation des Romans. Pyms Identität ist also nicht nur als die eines ›written self‹ anzusehen, sondern vielmehr als die eines »textual self«, eines aus Texten konstituierten Selbst: »There are several indications that Pym’s whole sea adventure – or his adventurer-self – has its ›origin‹ in the storytelling of one form or another. It is Augustus’s ›stories [...]‹ that first whet Pym’s appetite for adventure [...]. Other stories that Pym’s boyhood companion relates [...] presage many of Pym’s harrowing adventures on board the Grampus and the Jane Guy. [...] Even when Pym is sequestered in the bottom of the Grampus, he encounters stories that anticipate the very adventures he will soon experience. [...] In a sense, Pym ends up repeating what is already inscribed in a previous text, thus making his ›journey toward origins‹ not in the least original.«99
Die Erzähleridentität Pyms entsteht aus den Erzählungen seines weißen Doubles Augustus. Sein Ich wird bestimmt durch die Fiktion des Textes, der jene Abenteuer
95 Pahl: Architects, S. 47. 96 Irwin: American Hieroglyphics, S. 128. 97 AGP, S. 49. 98 Irwin: American Hieroglyphics, S. 128. 99 Alle Zitate Pahl: Architects, S. 47f.
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erzählend nachvollzieht, von denen Augustus ihm berichtet.100 Pym ist darum bereits vor seinem Verschwinden als ›out-of-place element‹ im Sinne Certeaus anzusehen und damit als aus der Kompilation von Texten und Erzählungen erzeugte Figur. Er ist der Überschuss des Erzählens, der zum Vermittler seiner Kompilation wird. Und so wird die Reise Pyms, die sich eben nur unzureichend als Fahrt zu den Ursprüngen seiner Identität beschreiben lässt, zu einer Reise, in der sich das geschriebene Selbst aus seiner textuellen Determination zu lösen versucht, zum Versuch eines ›rite de passage‹ vom geschriebenen zum schreibenden Selbst: »In a sense, [...] Pym’s journey [...] plays out this sort of struggle for mastery between the writer and the written, the interpreter and the interpreted, with various surrogate authors (or authority figures) whom Pym must ›overthrow‹ to fulfill his ultimate desire.«101
Die Reise Pyms ist darum »interpretive [...], analogous to the very representation of that journey in writing«.102 Mit dieser Analogsetzung kann nun auch der weitere Reiseverlauf, angefangen mit der Aufnahme von Peters und Pym an Bord des Schoners Jane Guy, als Pyms Interpretationsversuch seines Selbst gedeutet werden. Erstaunlich dabei ist, wie wenig der tatsächliche Reiseverlauf und damit der Ozean zunächst die Geschichte prägt: »Poe’s story does not feature the sea or a sea journey in any conventional sense. [...] Poe’s story seems to relate more to the mind, finding a correspondence between the unfathomable sea and the unfathomable mind«, schreibt John Peck in seinen Betrachtungen zu amerikanischen Seefahrtsromanen.103 So bekommt der Leser in den ersten dreizehn Kapiteln des Romans wenig Eindruck von der See – bis auf einen Sturm ist die Wasser meistens ruhig und der Ozean spielt für Pym keine Rolle. Stattdessen ist Pyms Radius beschränkt auf extrem begrenzte Räume – etwa die Seemannskiste oder der Bauch und später das Wrack der Grampus –, die eher Särgen oder Gefängniszellen glei-
100 Im Roman äußert sich diese Erzählinitiation folgendermaßen: »My conversations with Augustus grew daily more frequent and more intensely full of interest. [...] It is strange, too, that he most strongly enlisted my feelings in behalf of the life of a seaman, when he depicted his more terrible moments of suffering and despair. For the bright side of the painting I had a limited sympathy. My visions were of shipwreck and famine, of death or captivity among barbarian hordes; of a lifetime dragged out in sorrow and tears, upon some grey and desolate rock, in an ocean unapproachable and unknown.« (AGP, S. 18) 101 Pahl: Architects, S. 49. 102 Ebd. 103 Peck: Maritime Fiction, S. 99.
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chen: »Poe manages to have his narrator delimited by space on the ocean.«104 An Bord der Jane Guy, die Pym und Peters auf den Planken der Grampus im Ozean treibend aufgesammelt hat, erweitert sich nun das Tableau: Zum ersten Mal im Text ist Pym tatsächlich in der Lage, seine Fortbewegung nachzuvollziehen und aktiv mitzubestimmen. Pym ist von diesem Moment ab Teil der Bewegung des Segelschiffes, das – wie in Kapitel 2 bereits mit Hanjo Berressem bei Deleuze und Guattari beschrieben – als Differenzial jener Bewegungsformen dienen kann, die für die Untersuchung von Raumkonstitution und Subjektkonstitution von entscheidender Bedeutung sind. Hier schlägt also der Modus der Reise um, aus einer Reise im glatten Raum wird eine den Raum kerbende:105 Während im ersten Teil des Romans die Ziellosigkeit der Bewegung dominierte, eben weil Pym nicht als Agens die Bewegung vorgeben konnte und sich dem glatten Raum des Ozeans unterwerfen musste, so gilt dies nun für Pyms Fahrt mit der Jane Guy gerade nicht. Der mentalen Reise ins Innere, zu den Ursprüngen, wird nämlich in Kapitel 17 mit dem Südpol ein geographisches Ziel gegeben und so zum ersten Mal wirklich der Modus von Entdeckung und Eroberung aufgerufen. Damit findet eine Entwicklung ihren Höhepunkt, die den Roman seit der Rettung Pyms durch die Jane Guy prägt: Aus einer Abenteuerreise im glatten Raum, die »die Reinform des Aufbruchs ins Ungewisse« darstellt, wird eine kerbende Forschungsreise.106 Dies drückt sich prägnant in der Suche nach den Aurora-Inseln, deren Existenz der Kapitän zu beweisen versucht, sowie in der Entdeckung und Benennung von »Bennett’s Island«, auf die sie während ihrer Fahrt durch das Südpolarmeer stoßen, aus. Kapitän Guy geht es um die Erforschung des Südpolarmeers, um die Tilgung der weißen Flecken auf der Landkarte. Das passiv erlebende Ich Pyms durchläuft eine Transformation zum Entdecker und Eroberer. Auf Bennett’s Island, im Angesicht der Möglichkeit, den Südpol zu erreichen, erwacht Pyms Entdeckergeist, wird er zum ersten Mal in der ›histoire‹ aktiv. Bis auf »82° 50’ S. latitude, 42° 10’ W. longitude« und damit »more than eight degrees farther than any previous navigators« vorgedrungen, überzeugt er den Kapitän von der Weiterfahrt in Richtung Süden:
104 Carringer: Circumscription of Space, S. 508. 105 Vgl. Berressem: Sailing. In der Tat lassen sich beide Formen der Bewegung im Roman wiederfinden, einerseits das »ziellos[e] Unterwegssein auf hoher See«, andererseits das »Erkunden unentdeckter Gebiete« (Frost: Whiteout, S. 215). 106 Ebd., S. 216.
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»I warmly pressed upon him the expediency of persevering, at least for a few days longer, in the direction we were now holding. So tempting an opportunity of solving the great problem in regard to an Antarctic continent had never yet been afforded to man [...]. I believe, indeed, that what I could not refrain from saying to him on this head had the effect of inducing him to push on.«107
So wird Pym, Tobias Lehmkuhl zufolge, zum »letzte[n] Reisende[n] in einem bedeutenden Seefahrtsroman, der die Welt auf positivistische Weise aufschlüsseln will«. 108 Dies hat ebenso Auswirkungen auf die Erzählweise: Die Abenteuergeschichte wird zum Forschungsbericht und ist so endgültig eingebunden in das bereits im letzten Kapitel verhandelte Dispositiv der Entdeckung: Pyms Erzählung nutzt »an overemphatic scientific discourse, which is accompanied by a desperate need to chart every movement of the ship«.109 Dadurch, so scheint es, interpretiert sich Pym tatsächlich als Entdecker und schlägt die Entwicklung zum ›writing self‹ eines Überblicks-Subjekts ein: Er wird zum Nachfahren Odysseus’ und überschreitet endgültig die letzte Grenze der bekannten, zivilisierten Welt. Frank sieht darum in Pym »das Ideal des weißrassigen Entdeckers und Forschers« verwirklicht, da dieser »die ›Wissenschaft‹ (die Polentdeckung) über das Wohlergehen, ja über das Leben der Mannschaft« stelle.110 Pym gleicht somit den Entdeckern und Eroberern, die, im Dienste der Naturphilosophie auch die letzten weißen Flecken der Erde tilgend, der Welt ihre Geheimnisse entlocken wollen. Und doch schlagen Pyms Versuche, als Entdecker Überblick zu erringen, fehl. Denn weiterhin fehlt ihm, so Wilson, die reflexive Differenz der Erkenntnis, er hält »the map for the territory, the network for the ocean« und verbleibt weiterhin in Selbstidentität: »He is not able to experience rich differences and similarities between himself and others.« 111 Durch den persuasiven Akt des Entdeckers Pym übertritt der Roman »[m]it dem gesicherten Wissen, den Bezügen auf die historischen Südseefahrten und die Erkundungsreisen in südpolaren Gebieten [...] eine selbst etablierte Hürde und gelangt in ungesicherte Gebiete, die der literarischen Imagination vorbehalten sind«.112 Und so führt Pyms Reise eben wieder weg von den gekerbten Räumen der dem Text zugrunde liegenden Reiseberichtskompilationen und in die imaginierten Räume der noch nicht entdeckten Antark-
107 Alle Zitate AGP, S. 160f. 108 Lehmkuhl: Unendliche Bewegung, S. 620. 109 Peck: Maritime Fiction, S. 100. 110 Beide Zitate Frank: Die unendliche Fahrt, S. 117. 111 Beide Zitate Wilson: Spiritual History, S. 200. 112 Frost: Whiteout, S. 225.
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tis.113 So gelingt es ihm eben nicht, Selbst und Raum vermittels des Überblicks zu konstituieren und sich damit zum Entdeckersubjekt zu machen, das den Raum zivilisiert, kerbt, stillstellt. Vielmehr wird Pym im Südpolargebiet wieder von Ereignis zu Ereignis durch den Raum geleitet, ohne seine Bewegung distanziert betrachten und reflektieren zu können – und damit ohne ein Subjektbewusstsein zu erhalten. Nirgends zeigt sich diese Konsequenz mehr als auf jener Insel, zu der Pym und die Mannschaft der Jane Guy nur aufgrund Pyms erwachtem Entdeckerdrang geraten: Tsalal.
5.5 TSALAL, DIE SCHRIFT UND DAS ICH Der Südpol als Raum der absoluten Entgrenzung, als Außerhalb der zivilisierten Welt wird über den erzählten Erzähler Pym und dessen Reise zur eigenen Identität als Ort der absoluten Spurenlosigkeit und Ursprung des Erzählens gesetzt.114 Pyms Polreise führt »in die Dichtung«,115 im Zentrum steht eine, wie Nöller formuliert, »Selbstthematisierung des Schreibaktes und der dichterischen Schrift«.116 Das Ziel dieser Reise zum absoluten Nullpunkt kann im Rückgriff auf die bisherige Argu-
113 Wenn Lehmkuhl also schreibt, dass Pyms Reise ein »chaotische[s] Hin- und Herdriften« insofern relativiere, als »die Richtung noch vorgegeben und eine Abweichung von der Suche nach dem Südland undenkbar« sei, so denkt er den Roman von jenem Pym her, der an Bord der Jane Guy steht und in die Rolle des Entdeckers schlüpft (Lehmkuhl: Unendliche Bewegung, S. 619). 114 Im Folgenden wird die Analyse des Romans rückgebunden an die durch den methodologischen TEIL I: DIE RÄUME VON STILLSTAND UND BEWEGUNG gewonnen Überlegungen und Erkenntnisse. Ein spezifischer Verweis auf die zentralen Konzepte über den Fußnotenapparat erfolgt aufgrund der Häufigkeit und Diversität dieser Rückbindungen nicht, stattdessen sei hiermit grundsätzlich auf diese verwiesen: zum Verhältnis von Stillstand und Bewegung als Leitkategorie von Raum- und Subjektkonstitution und die daran angeschlossenen dualistischen Begriffspaare Karte/Route bei Certeau, Blick von oben/Blick im Unten bei Reiffers und so fort, vgl. Kap. 1 Stillstand und Bewegung: Die Dichotomisierung von Raum und Subjekt; zum Glatten und Gekerbten und ihrem Umschlagspunkt als komplexer Differenz von Praktiken der Raum- und Subjektkonstitution vgl. Kap. 2 Das Glatte und das Gekerbte: Am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung; schließlich zur literarischen Umsetzung dieser dualistischen Konzepte als ›spatial fictions‹ in einem komplexen Verhältnis von Schreiben/Schrift sowie Erzählen/Erzähltwerden vgl. Kap. 3 Stillstand und Bewegung in narrativen Räumen. 115 Kesting: Reise ins Eis, S. 68. 116 Nöller: Blatt, S. 295.
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mentation also zunächst so formuliert werden: Pym ist als ›textual‹ und ›written self‹ auf der Suche nach seinem eigenen Ursprung und damit der Vereinigung der im Roman getrennten Pole der Subjektivität. Erst wenn er selbst auch ›writing self‹ wird – so lässt sich, denkt man die Selbstthematisierung des Erzählens weiter, behaupten –, ist die Konstitution des eigenen Ichs möglich. In Anschluss an Descartes’ ›cogito‹ – als die im ersten Teil dieser Arbeit beschriebene Subjektkonstitution aus der distanzierten Raumbetrachtung – ließe sich für Pym der Wunsch nach einem ›narro ergo sum‹ vermuten – ich erzähle, also bin ich. Wo ›writing self‹ und ›written self‹ sich in einer Person differenzieren, wird jene Selbstreflexivität etabliert, die es erlaubt, vom vollständigen, den Raum und sich selbst als Differenz erfassenden Subjekt zu sprechen. Pym scheint damit an Bord der Jane Guy von der Hoffnung getrieben, mit der Eroberung des Südpols Handlungsmacht zu gewinnen. Das Erreichen der äußeren wie inneren ›axis mundi‹ käme dem Kerben des absolut glatten, weil noch unbetretenen Raums gleich und damit einer Festlegung des eigenen Subjekts, die die Loslösung aus der Bewegung des Hin- und Herdriftens und der Unterwerfung unter die Gegebenheiten des Raums zur Folge hätte. Auf diese Weise erhielte Pym Handlungsmacht, die also nicht nur über die Konstitution dieses Raums als entdeckter, eroberter, zivilisierter Raum, sondern auch über die Festlegung seines eigenen Ichs als Überblickssubjekt und damit als ›writing self‹ erreicht würde. Doch Pyms ›weißer‹ Eroberungsdrang führt das Schiff eben nicht zum Südpol, sondern auf die der Zivilisation unbekannte Insel Tsalal, auf der alle Dinge – Gestein, Vegetation, Tierwelt, Einwohner – ausschließlich schwarz sind. Die Insel, einer der geographisch letzten weißen Flecken der Kartographie, stellt sich ironischerweise als dessen komplettes Gegenteil heraus. In Tsalals Schwärze, die im Gegensatz zum gerade erwachten, ›weißen‹ Eroberungsdrang Pyms steht, erkennt Pahl einen vorzeitlichen, unzivilisierten Urzustand des Menschen: »The entire structure of [Pym] may be said to indicate a movement toward origins, as the hero’s journey seems to take him not only to the source of himself [...] but also to the corresponding beginnings of man: among a tribe of islanders too geographically isolated to be corrupted by civilization.«117
Die Einwohner Tsalals, auf die Pym und die Mannschaft der Jane Guy bald treffen, »seem to be trapped in a primitive state of nature«, sie besitzen keine Zivilisation. 118 Indem er den ›Urzustand‹ des schwarzen Tsalal vorführt, verhandelt der Roman »[a]nalog zur Vorstellung vom unbekannten Weltende [...] die Andersartig-
117 Pahl: Architects, S. 44. 118 Wijkmark: Poe’s Pym, S. 101.
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keit des Weißen [...] in Abgrenzung vom Schwarzen«.119 Denn die Inselbewohner, »never having left their black homeland of the archipelago, [...] reject whiteness«.120 Nachdem der Landetrupp, dem auch Pym und Peters angehören, zunächst freundlich empfangen wird und Handel möglich scheint (und damit, in der Logik der Kolonialisierung, ein erster Schritt zur Zivilisierung der Ureinwohner), locken die Inselbewohner die Mannschaft in einen Hinterhalt: In einer Schlucht lösen sie einen Erdrutsch aus, der die Männer begräbt. Einzig Pym und Peters entkommen diesem Hinterhalt und verstecken sich im Inneren der Insel. Durch den Hinterhalt – und später auch durch die Reaktion des von den beiden Gefährten bei ihrer Flucht gefangen genommenen Inselbewohners – wird, so Frost, deutlich, »dass der Hinterhalt der schwarzen Inselbewohner aus deren Furcht vor der Weiße resultierte und der damit verbundenen Angst vor den Weißen, die zufällig an ihr Ufer gelangten«.121 Wenn auf die Tsalal-Episode Pyms Fahrt zum Südpol folgt, während der – vom Wasser bis zur Luft – alle wahrgenommenen Objekte immer weißer werden, sind schließlich Weiß und Schwarz als dichotome Gegensätze etabliert und werden zu Leitmotiven des Romans.122 Mit Weiß und Schwarz sind jedoch nicht nur Konzepte wie Zivilisation, Rasse oder Kolonialisierung aufgerufen, sondern auch Materialitäten: Denn wie jedes Material, das sich auf Tsalal befindet, schwarz ist, so umgibt Pym am Südpol schließlich das gänzlich Weiße. Die Materialität des Raums wird zum Signifikanten, der wiederum auf seine konzeptuelle Beschaffenheit zurückweist. So stellt Tsalal einen glatten Raum par excellence dar – und dies gleich in doppelter Hinsicht: Nicht nur ist die Insel unentdeckt, unkartographiert, unzivilisiert
119 Frost: Whiteout, S. 231. 120 Ricardou: Singular Character, S. 4. 121 Frost: Whiteout, S. 231. 122 Im Angesicht des Massakers, welches die Einwohner Tsalals an ihren weißen ›Entdeckern‹ verüben, wurde die Schwarz-Weiß-Symbolik des Romans als hermeneutischer Imperativ einer rassistischen Logik von Poes Werken gelesen. Dabei zielen diese Interpretationen in die Richtung eines im Roman thematisierten »larger discourse of racial signification, in which natives were habitually ranked lower because of their base or even degraded condition« (Wijkmark: Poe’s Pym, S. 103). Frank, der in der SchwarzWeiß-Symbolik ein Leitmotiv des Romans erkennt, weist jedoch zurecht darauf hin, dass eine solche Lesart dem Werk nicht gerecht wird: »Es genügt nicht zu sagen, Poe demonstriere die Macht der ›weißen Rationalität‹ über die ›dunkle Natur‹. Wenn er dies zeigen wollte, muß man sich fragen, warum er aus ›horror and mystery‹ jene Effekte zieht, ohne welche sein schriftstellerisches Werk gar nicht zu jenem Text geworden wäre, der es ist – und als der es allseits geschätzt wird.« (Frank: Die unendliche Fahrt, S. 119)
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und damit geographisch als glatter Raum zu betrachten; auf ihr gibt es überdies keine Möglichkeit, sie sprachlich zu kerben: »Dominated by the ›voice‹ of nature, the world of Tsalal must be said to exist outside language altogether [...]. According to Saussurian linguistics, language is constituted only within a system of differences, and identity can be formulated only in terms of difference. But on the island of Tsalal, which seems to elude the conventions of language, we witness a society immersed in sameness – where the uniform appearance of the island and its inhabitants allow for few distinctions.«123
Sind also Weiß und Schwarz dichotom gegenübergestellt, so erlaubt die Schwärze allein keine Differenzierungsoperationen: Auf Tsalal herrscht Ein-Eindeutigkeit – und so wird die undifferenzierte Selbstidentität der gesamten Insel enggeführt mit der undifferenzierten Selbstidentität des erlebenden Ichs Pyms. Zugleich aber erlaubt dieser, als einzig übriggebliebener Weißer die Differenzierung. Auf diese Weise verschiebt sich auf Tsalal die vorherige Konnotation von Entdifferenzierung und wird überführt in ein zirkuläres Spiel von weiß und schwarz, glatt und gekerbt, Stillstand und Bewegung. Auf Tsalal wird Pyms Subjektstatus als ›written self‹ dadurch gespiegelt, dass er sich selbst nicht spiegeln kann, wie sich anhand dessen Beschreibung des Wassers nachvollziehen lässt: »[T]he singular character of the water« bestehe darin, dass es fest und flüssig, klar und opak, weder farblos noch einfarbig scheine und von der Konsistenz her wirke es wie »a thick infusion of gum Arabic [sic] in common water«.124 Diese Charakteristika setzt Ricardou in Verhältnis zum Erschrecken des Häuptlings der Einwohner, als dieser an Bord des Schiffes in den Spiegel blickt: »[T]he purpose of the apparent infusion of gum arabic where little declivity was found, the variation of the colors, and the mobile complication of the veins susceptible of being drawn apart is to rule out any possibility of reflection. The remarkable conclusion to be drawn from this superficial connection is that, having no mirroring surface at their disposal, the islanders were not acquainted with their own images. [...] Not being aware of the Same and the Other, that complementary pair, their universe is restricted, as it were, to an undifferentiated sameness.«125
123 Pahl: Architects, S. 44. 124 AGP, S. 168. 125 Ricardou: Singular Character, S. 3f.
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Das Wasser hat die außerordentliche Eigenschaft, nicht zu spiegeln, und beschränkt dadurch die Einwohner auf ihr Leben in Selbstidentität: Die mythische Urszene dessen, was Lacan als ›Bildner der Ichfunktion‹ beschreibt und im ersten Teil als räumliches Subjektkonstitutionsprinzip etabliert wurde, der Blick in den Spiegel als Ausdruck distanzierter Differenzierung, ist den Inselbewohnern nicht möglich. Hierin gleichen sich also Pym und die Bewohner der Insel: Es ist beiden nicht möglich, über den distanzierten Blick von oben das Selbst vom Anderen zu trennen und Differenz zu erzeugen. In einem weiteren Schritt lässt sich mit Ricardou nun auch eine tiefere Verbundenheit Tsalals mit Pym ausmachen: So ist die subjektive Selbstidentität der Einwohner Tsalals in der Textualität der Insel begründet. An der Eigenschaft des Wassers »when sliced, to make itself whole again immediately and the inability of two veins, when separated, to rejoin at once«, macht Ricardou fest, dass dieses »a perfect metaphor for a written text« darstellt. Da sich Schrift bei vertikaler und horizontaler Trennung ebenso verhalte wie das Wasser auf Tsalal und auch dessen sonstige Eigenschaften auf die Schrift zuträfen, könne man davon ausgehen, so Ricardou, dass die Flüsse Tsalals Text repräsentierten.126 Tsalal, das einen absolut glatten Raum darstellt, den zu beschreiben und zu erfassen unmöglich erschien, ist also selbst durchzogen von Schrift. Und nicht nur durchzogen, wie der nachträglich zum Verschwinden Pyms aufgetretene Erzähler der ›Note‹ nachzuweisen versucht, die Insel selbst besteht aus Schrift: Peters und Pym suchen nach der Attacke der Inselbewohner Zuflucht in einem weitläufigen Schluchten- und Höhlensystem und stoßen in den dortigen »chasms« auf »singular looking indentures in the surface of the marl«. Indem Pym, trotz anderweitiger Vermutungen Peters’, sich aber nun weigert, diese als Schriftzeichen zu erkennen, und er darauf besteht, dass es sich bei ihnen um »the work of nature« handelt, gelingt es ihm wiederum nicht, sich selbst als Überblickssubjekt zu konstituieren.127 Er beschränkt sich auf deren reine Aufzeichnung, gibt gleichzeitig seine Funktion als Leser auf und ruft damit dennoch einen weiteren Leser auf den Plan: Der nachträglich auftretende Erzähler der ›Note‹ identifiziert nicht nur die ›indentures‹ als Schriftzeichen, sondern auch die Schluchten selbst als Buchstaben. Auf seinen Erkundungstouren stößt Pym also auf die Textualität als Basis der Insel, wie Pahl schreibt: »Pym enters a world literally made of writing, where nature is writing.«128 Tsalal ist somit nur insofern außerhalb der Sprache anzusiedeln, weil die Insel selbst Schrift ist, die jedoch gelesen werden können muss. Pym aber kann und will diese Schrift nicht lesen und weil er keine Distanz zu ihr aufbaut, erlangt er auch über diese Rückkehr zur Schrift keine Selbstreflexion. Beim Abstieg in eine der
126 Alle Zitate ebd., S. 4. 127 Alle Zitate AGP, S. 201f. 128 Pahl: Architects, S. 53.
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›chasms‹ ereilen ihn, wie bereits an Bord der Ariel und Grampus, Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die dazu führen, dass Pyms »soul was pervaded with a longing to fall; a desire, a yearning, a passion utterly uncontrollable«. Wieder also ist Pym im entscheidenden Moment nicht handlungsfähig, wieder ereilt ihn die Ohnmacht: »[A] dusky, fiendish, and filmy figure stood immediately beneath me; and, sighing, I sunk down with a bursting heart, and plunged within its arms. I had swooned, and Peters had caught me as I fell«.129 Diesen Fall liest Pahl als Pyms »return to origins«, die Verweigerung des Überblicks führt zur Rückkehr in die Schrift.130 Wenn Nöller feststellt, dass Pym die »gewaltige[n] Chiffren [...] vermißt und kartographiert«, so ist dies grundsätzlich nicht falsch, jedoch verweigert sich Pym ihrer Deutung. Er begibt sich wortwörtlich in die Fußgängerperspektive, betrachtet die Schriftzeichen als Natur und ergibt sich so ganz dem Text als glattem Raum.131 Das Lesen und Deuten der gekerbten Schrift ist dagegen nur demjenigen möglich, der sie aus der Distanz betrachtet, worauf Ricardou hinweist: »Reading cannot be carried on when the eyes are at the same level as the words; words can be made out only from distance.«132 Die Polreise als »Selbstthematisierung des Schreibakts und der dichterischen Schrift« thematisiert damit auch die kerbende Perspektive des Lesens und des Lesers.133 Die Zeichen Tsalals sind aus der Perspektive Pyms nur im Schreiben nachvollziehbar und eben nicht zu entziffern und zu dechiffrieren: »Only the distance provided by an appendix permits us to read the drawings that Pym copied in a piece of paper.«134 Damit ist endgültig die Perspektive des Subjekts als Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung in diesem Text aufgerufen: Erst der Erzähler der ›Note‹ weist die Aufzeichnungen Pyms als Schrift aus und erzeugt den Stillstand des Textes. Indem Pym sich einer Deutung der Natur als Schrift verweigert, verbleibt er auf Augenhöhe mit der Schrift und erhebt sich eben nicht in Distanz. Ihm ist es nicht möglich, die »erhöhte Stellung« einzunehmen, die Certeau als konstitutiv für das Überblickssubjekt des Stillstands annimmt. Entgegen dem Blick der Erkenntnis, der es erlaubt, »Welt, die einen behexte und von der man ›besessen‹ war, in einen Text« zu verwandeln und »zu lesen«, bleibt Pym im Reich der nahen Wahrnehmung, bewegt sich im Raum des Textes als Fußgänger, bleibt vom ihm behext und besessen.135
129 AGP, S. 206. 130 Pahl: Architects, S. 47. 131 Nöller: Blatt, S. 295. 132 Ricardou: Singular Character, S. 6. 133 Nöller: Blatt, S. 295. 134 Ricardou: Singular Character, S. 5. 135 KdH, S. 180.
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Tsalal weist damit seinerseits als erzählter Raum Qualitäten auf, die es je nach Perspektive gleichzeitig sowohl als glatten wie auch als gekerbten Raum erscheinen lassen. »Nature and artifice cannot be easily separated«, notiert Pahl in Bezug auf Tsalal und damit thematisiert er, was als ›Gleichräumlichkeit‹ der Insel bezeichnet werden kann.136 Denn Pym ist als Fußgänger in einem Parcours der Schriftzeichen unterwegs und kann mit Certeau als Fußgänger-Subjekt gesehen werden, dessen Bewegung sich dem distanzierten Blick von oben und damit der Gewinnung reflexiver Subjektivität verweigert. Ihm erscheint Tsalal als glatter Raum nach Deleuze und Guattari, weil er sich dessen Natur unterwirft. Dem Erzähler der ›Note‹ dagegen, der aus der Distanz auf die Insel blickt, deren Natur er als Kerbung erkennt, indem er Tsalal als Raum erblickt und in Schriftzeichen übersetzt, erscheint die Insel als gekerbter Raum. Über diese Perspektivierungen der Aneignung eines Raums verhandelt Pym Deleuzes und Guattaris Aussage zur Gleichräumlichkeit, dass man nämlich »[i]m Glatten oder im Gekerbten reisen und auch so handeln« könne.137 Aus der Perspektive Pyms sind also die Markierungen und Schluchten auf Tsalal gar nicht als solche zu erkennen, sein Blick im Unten aber markiert die Differenz der Wahrnehmung und etabliert neben der auktorial-selbstreflexiven Distanzsicht von Oben den Blick auf Augenhöhe und damit eine andere Art der Raumund Subjektkonstitution: Nicht nur gibt es eine distanzierte Perspektive des ›writing self‹, sondern auch die eines ›written self‹, dessen Rückkehr zu sich selbst eine Ablehnung des Stillstands und eine Affirmation der Bewegung sein kann. Wenn also Pym auf diese andere Art gelesen wird, als Roman über den Ursprung des Selbst im Verhältnis von Schreiben und Schrift, so gibt sich Poes Roman als ein Kommentar zur räumlich-materiellen Produktion literarischer Texte zu erkennen. WestPavlov hat eine solche produktionsanalytische Perspektive folgendermaßen formuliert: »Instead of a truth hidden behind the statement, one searches for the machinery or process which has produced it.« 138 Die Konsequenz dessen, was WestPavlov hier skizziert, trifft in vollem Umfang auf Pym zu: Denn neben allegorischen, symbolischen oder psychoanalytischen Bedeutungsebenen trifft Poes Roman Aussagen über die Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens, über den Gewinn und Verlust von Auktorialität und über das Verhältnis der schwarzen Schrift auf weißem Papier. Es ist darum nötig, sich vom distanzierten Erzähler der ›Note‹ zu lösen und auf Pyms »journey to the bottom of the page« zu blicken.139 Dessen Entdeckerreise wird auf Tsalal nämlich wieder zur glatten Reise des reinen Abenteuers, gleichzeitig kann er sich auch weiterhin des Erzähltwerdens – in
136 Pahl: Architects, S. 54. 137 TP, S. 668. 138 West-Pavlov: Space in Theory, S. 22. 139 Ricardou: Singular Character, S. 4.
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diesem Falle eines nachträglichen – nicht erwehren. Jede Bewegung, so lehrt die ›Note‹, kann übersetzt werden, in jedem glatten Raum kann ein Text Kerbung erzeugen. Hinterlässt Pym Spuren, können diese gedeutet werden, nimmt man zu ihnen nur die nötige Distanz ein. Pym bleibt demnach als ›written self‹ lesbar, bleibt erzählter Text und wird wiederum nicht zum Erzähler seines Lebens. Das Programm des ›narro ergo sum‹, die Konstitution eines eigenen, erzählenden Ichs durch die Schrift, aber verweigert er. Und so wird die Bewegung Pyms als eine des Umherirrens und Flüchtens erkennbar, Pym wird im Sinne Lotmans zu einem ›Helden der Steppe‹: Das Entdecker-Subjekt verschwindet und macht den Raum frei für das letzte Stadium der Reise – den Übergang von Schwarz nach Weiß, von der Schrift zum Papier.140
5.6 VERLOREN GEHEN UND IDENTITÄTSFINDUNG AUF EINEM WEIẞEN BLATT PAPIER Tsalal ist, je nach Perspektivierung durch die es wahrnehmenden Subjekte, als Insel im Urzustand der absolut glatte Raum und gleichzeitig als lesbare Schrift der absolut gekerbte Raum. Die Dichotomie von Distanz und Nähe, Glätte und Kerbung und schließlich auch Stillstand und Bewegung wird auf Tsalal zur ›Gleichräumlichkeit‹ gebracht – nicht jedoch ohne die Raumwahrnehmung in jenem Sinne zu irritieren, den Doris Bachmann-Medick als signifikant für die »Raumturbulenzen« moderner Literatur ansieht. Da literarische »Subjektivierungsstrategien [...] Positionierungen über ›Raum‹ und ›Bewegung‹« notwendig beinhalten,141 erweist sich Pym – durch die Doppelvermittlung der Raumkonstitution von Tsalal als Natur und Schrift – als Roman, dessen Räume »nicht länger als einfach gegeben oder natürlich und objektiv präsentiert« werden, sondern subjektiv vermittelt erscheinen und Pym damit zur ›spatial fiction‹ nach Wolfgang Hallet machen. So betrachtet stellt sich die Raumrepräsentation in Pym als »etwas Irritierendes, nicht-Natürliches« dar, »das einen prekären Akt der Bedeutungszuweisung oder -konstitution und einen damit verbundenen Prozess der Sprachbindung und -gebung erfordert«.142 Dieser Prozess äußert sich in der narrativen Differenz des ›writing self‹ vom ›written self‹, die sich nun ihrerseits nicht nur in der Raumsemantik des Romans niederschlägt, sondern auch in dessen Raumsemiotik.
140 Zum Konzept und den Qualitäten des ›Helden der Steppe‹ gegenüber den ›Helden des Weges‹ vgl. Lotman: Problem; TEIL I, Kap. 3, S. 133-135 in dieser Arbeit. 141 Bachmann-Medick: Fort-Schritte, S. 259. 142 Hallet: Fictions of Space, S. 83.
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Lässt sich mittels des distanzierten Blicks des ›Note‹-Erzählers innerhalb der Raumsemantik Tsalal als Schrift lesen und damit als diejenigen Linien, die den glatten Raum der unzivilisierten Welt kerben, so kann dies in Verbindung gebracht werden mit Pym, der als eindimensional erlebender Erzähler nach Pahl eben nicht ›writing self‹ ist, sondern ›written self‹, welches von ›surrogate authors‹ zur Erzählinstanz gemacht wird und damit als Mittel zum Zweck einer stillstellenden Kerbung dient. Da beiden, Pym und Tsalal, die Eigenschaft gemein ist, als Kerbung zu existieren, gleichen sie sich auch in der perspektivierten Hierarchisierung des Glatten und Gekerbten: Tsalal als Schrift und Kerbung trägt die Eigenschaften des glatten Raums als unzivilisierte, haptische Welt durch die Bewegung Pyms in sich, besitzt aber keinen Hintergrund, der mittels der Schrift gekerbt werden kann.143 Pym als erzählter Erzähler ist auf einen glatten Hintergrund gebannt, der durch ihn gekerbt wird – in der Raumsemantik trägt diese Funktion seine Reise, auf der Ebene der Raumsemiotik dagegen kerben die Schriftzeichen seines Erzähltwerdens das Papier des Romans. Ihm ist jedoch keine Identität als schreibendes Ich zu eigen, über die er selbst als Erzähler in Erscheinung treten kann. Tsalal wie Pym sind reine Schrift, reine Schwärze, die in Raumsemantik wie -semiotik einen oppositionellen Gegenpol und Hintergrund erhalten: Die Weiße des Südpols und des Papiers: »Das weiße Blatt Papier, auf dem sich mit schwarzen Zeichen eine Geschichte einschreibt, die an dieser Stelle abbricht, steht in Relation zum weißen Gebiet, in das Pym am Ende seiner Reise gelangt.«144 Nachdem sie sich mehrere Tage in den Schluchten Tsalals versteckt halten, gelingt Peters und Pym, die zudem noch einen Inselbewohner gefangen nehmen, in einem Kanu die Flucht von der Insel. In diesem treiben sie nun auf den Südpol zu, wo nach und nach alles beginnt, weiß zu werden: »The gray vapour had now arisen many more degrees above the horizon, and was gradually losing its grayness of tint. The heat of the water was extreme, even unpleasant to the touch, and its milky hue was more evident than ever. [...] A fine white powder, resembling ashes – but certainly not such – fell over the canoe and over a large surface of water, as the flickering died away among the vapour and the commotion subsided the sea.«145
143 Als haptisch kann Tsalal deswegen erachtet werden, weil eine optische Differenzierung aufgrund der allgegenwärtigen Schwärze nicht vorgenommen werden kann. Zudem ist durch die Bewegung innerhalb der ›Schrift‹ Tsalals eine optisch distanzierte Betrachtung ausgeschlossen. 144 Frost: Whiteout, S. 231. 145 AGP, S. 215f.
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Hier nun, im absolut weißen Raum, befindet sich der Zielpunkt von Pyms Reise zum »ultimate limit« der Welt und des Selbst, weißer Dunst, weißes Wasser, weißes Pulver und gewaltige weiße Vögel umgeben sie. 146 Und schließlich erblickt Pym einen »limitless cataract«, in welchem sich ein weiterer ›chasm‹ auftut, in dessen Mitte eine » shrouded human figure« erscheint, deren »hue of the skin [...] was of the perfect whiteness of the snow«.147 Der weiße Raum des Südpols – der in Pym vollkommen eisfrei ist – ist ein glatter Raum, der aufgrund seiner Eigenschaften nicht orientierbar und nur rein haptisch wahrnehmbar ist. Zu entdecken, erobern und kerben gibt es in diesem weißen Raum nun aber: nichts. Zwar nähert sich Pym dem absoluten Limit an, jedoch wird er »interrupted before the discovery can be communicated«. Der Fokus von Pym liegt darum mit Wijkmark eher »on this pivotal point« als »what might lie beyond«.148 Mit dieser Einfahrt in den Katarakt nämlich verstummt Pyms Erzählstimme, das Narrativ bricht ab, Pym geht verloren. Pahl erklärt darum das Problem von Erzählen und Erzähltwerden zum Thema des Romans, »for here we confront the paradoxical situation of an author seemingly narrating his own demise«.149 Die Zone des Weißen wird demnach »charakterisiert als die der radikalen Unmöglichkeit von Erzählbarkeit und mehr noch aller Schrift«, wie Menke schreibt.150 Auf diese Weise setzt der Roman das weiße Südpolargebiet der Raumsemantik mit dem weißen Papier der Raumsemiotik gleich: Denn wo Pym, der als ›written self‹ reine Schrift ist, im weißen Dunst verloren geht, bricht auch die schwarze Schrift des Textes ab und gibt dem Leser den Blick frei auf die Weiße des Papiers. Darum sieht Nöller in der Weiße der Polargebiete »das noch nicht beschriebene weiße Blatt« verwirklicht, einen Raum, der die Möglichkeit des Erzählens beinhaltet, das Erzählen selbst aber nicht enthält.151 In diesem Sinne verhandelt der Ro-
146 Irwin: American Hieroglyphics, S. 113. Ricardou weist darauf hin, dass die Vögel über ihre Überblicksposition »certain privileged readers« darstellen. In diesem Sinne wiederholten sie mit ihrem Schrei »Tekeli-li« »the reading of some inscription relating to whiteness« (Ricardou: Singular Character, S. 5). Frank zieht Parallelen zum Rime of the Ancient Mariner: »Natürlich ähneln diese Sturmvögel [...] dem Albatros bei Coleridge« (Frank: Die unendliche Fahrt, S. 119). Frank erklärt die Bedeutung des Albatros im Ancient Mariner als Heilsbringer der bereits oben thematisierten Herzensvereisung in der Moderne (vgl. ebd., S. 94). 147 AGP, S. 217. 148 Wijkmark: Poe’s Pym, S. 88. 149 Pahl: Architects, S. 42. 150 Menke: Polargebiete, S. 598. 151 Nöller: Blatt, S. 305.
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man, so Frost, »die Erfahrbarkeit des weißen Grunds der Schrift«.152 Die Weiße ist also grundsätzlich exterritorial zu denken, jedoch als Teil des Komplexes der Erzählung, die sich aus dem dichotomen Verhältnis von Schrift und Papier, Erzählen und Erzähltwerden, ›writing‹ und ›written self‹ speist. Das Außerhalb des weißen Papiers wird aufgehoben in der Dichotomie von Schrift und Papier: »Das allen Texten exterritoriale Weiß ist Teil des Aufgeschriebenseins jeden Textes, das bestimmt ist als Anordnung des Schwarz-auf-Weiß, von Buchstaben und Abständen.« Das Verschwinden Pyms als Entsubjektivierung ist darum für Menke auch nicht gleichzusetzen mit der »Apokalypse des Textes, sondern es wird erst inszeniert vom und im Schwarz-auf-weiß der Schrift-Konstellation«.153 Pyms Verschwinden ist zwar ein absolutes, es stellt eine »Auflösung der Persönlichkeit« dar, jedoch kann dies als Entsubjektivierung eines ›written self‹ verstanden werden – eine Bewegung im glatten Raum, die das Erzähltwerden und damit den Stillstand der Schrift abschüttelt:154 Pym geht seinen Erzählern verloren, er verschwindet aus dem Text und wird eins mit der Weiße. Das Verloren Gehen Pyms als ›Whiteout‹ macht nach Frost »die Reise an ein weißes Ende der Welt« zu einer »Reise an den weißen Rand des Papiers, an dem auch die Narration an ihr Ende gelangt«.155 Das Verschwinden Pyms als Verloren Gehen kann so als Umschlagspunkt in der Raum- und Subjektkonstitution des Romans und damit als Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung ausgemacht werden: Pyms Verschwinden macht ihn vom ›written self‹ zum ›writing self‹, im Abbruch des Textes liegt jene Transformation der Erzählstimmen, die Pym bereits im Vorwort ankündigt, die sich hier nun aber als Problem des Narrativs kundtut. Denn wer reines ›writing self‹ ist, negiert die Schrift und verkörpert die ›weiße Idee‹ der Literatur: »Schreiben heißt werden, wenngleich gewiss nicht Schriftsteller werden, wohl aber anderes«, so argumentiert
152 Frost: Whiteout, S. 202. 153 Menke: Polargebiete, S. 598. 154 Mumot: Irrwege zum Ich, S. 117. Ging es im Vorlauf des Romans um »die Verschmelzung einer Identität mit einer Doppelgängerfigur«, so ist der »Ich-Verlust« im Moment des Verschwindens anders konturiert: Die »Auflösung der Persönlichkeit – jenes Schicksal das Goethes [sic] oder Stifter stärker gefürchtet haben als alles andere« – ist absolut, gleichzeitig ist sie es, die das Nachfahren provoziert« (ebd., S. 129). Stifter bietet sich als Paradebeispiel für einen anderen Umgang mit dem Subjekt am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung an. Wie Elisabeth Häge zeigt, führt gerade Stifter seine Figuren zum Zweck der Erfahrung des Erhabenen immer wieder an den Rand einer solchen Ich-Auflösung im glatten Raum, allerdings nur, um sie jeweils wieder gestärkt aus diesen Situationen hervorgehen zu lassen (vgl. Häge: Dimensionen des Erhabenen). 155 Frost: Whiteout, S. 205.
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Deleuze in den Dialogen mit Claire Parnet.156 Indem Pym, ganz im Sinne Certeaus, anders wird, wird er darum zum Schreibenden, der vom Schriftsteller so gänzlich unterschieden ist, weil er als Schreibender keine Schrift mehr produziert und damit den Traum Barthes’ von einer ›écriture blanche‹ verwirklicht. In der doppelt glatten Weiße des papiernen Südpolargebiets ist das Verschwinden Pyms die logische Konsequenz seiner Reise als Transformation vom ›written‹ zum ›writing self‹, da diese nun eben darin besteht, sich aus der Erzählung auszuschreiben und sich dem Erzähltwerden zu verweigern. So lässt er selbst einen glatten Raum der eigenen Bewegung aus einem gekerbten des Stillstands entstehen. Dies allerdings ist nun kein Akt der Befreiung, der die Literatur als Form der Vermittlung hinter sich lässt und den Roman als Text gegen Texte etabliert. Indem Pym sein Erzähltwerden beendet, wird sein Verloren Gehen zum narrativ-produktiven Akt, erschafft er sich nochmals selbst als ›out-of-place element‹ des Romans, was nun tatsächlich im englischen Wortsinn zu verstehen ist: Pyms Bewegung, dieser, mit Certeau, Parcours, der nun nicht mehr aus der Distanz aufgezeichnet werden kann, ist eine Bewegung des »Aufgehen[s] in der Welt«, von der Berressem spricht und die er mit dem Unwahrnehmbar-Werden bei Deleuze und Guattari verbindet. 157 Sein Verschwinden aber führt zur Produktion von Text: So entsteht der Roman selbst in seiner dem Leser vorliegenden Form nur durch Pyms Verschwinden: »The moment that ends the text is simultaneously the moment of its birth«, so meint Berressem, das Verschwinden sei »the overall effect towards which the narrative drifts and to which each single part contributes«.158 Der Status des Unfertigen, der dem Roman immer wieder vorgeworfen wurde, ist daher eben nur ein scheinbarer. Denn es geht bei Pyms Reise zum Südpol und zum Subjekt eben genau darum, das Erreichen des Ziels mit einem Ausschreiben aus dem Text in Beziehung zum Spannungsfeld des Erzählens zwischen Stillstand und Bewegung zu setzen: »To insure the impossibility of determination«, notiert Cook, »the narrative is in fact unfinished«.159 Daher, so Wijkmark, wäre es »misguided to assume that Pym is incomplete only because it lacks a conventional ending«,160 stattdessen erzeugt das Ende im Leser Pahl zufolge das Bedürfnis, das Verloren Gehen Pyms zu deuten: »[T]he reader is allowed to construct his own interpretive discourse, filling in the blank space with his own sort of fiction«.161 Und tatsächlich tritt ja ein ebensolcher Leser, der das Verschwinden Pyms nicht auf sich beruhen lassen kann, auch im Roman auf. Hinter dem weißen
156 Deleuze/Parnet: Dialoge, S. 51. 157 Berressem: Unsichtbar, S. 64; vgl. dazu auch TP, S. 317. 158 Berressem: Sailing, S. 241. 159 Cook: A Book, S. 127. 160 Wijkmark: Poe’s Pym, S. 107. 161 Pahl: Architects, S. 42.
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Blatt Papier lauert ein weiterer Text, ein weiterer Erzähler, ein Versuch den glatten Raum der Imagination zu kerben, Pym auszuerzählen und dadurch wieder einzugliedern. Der Erzähler der ›Note‹ wird damit zum Nachfahrer, der die Reise Pyms ausdeuten will, dabei aber vor das Problem gestellt wird, keinen von Pyms Erzählern konsultieren zu können: Augustus ist tot, Mr. Poe »has declined the task«, Peters »cannot be met with at present« und den Pym des ›Preface‹ habe eben jener »sudden and distressing death« ereilt.162 Die doppelte Abwesenheit des allen Erzählern und Doubles entkommenen Pym als ›writing‹ wie als ›written self‹ aber bedingt die Notwendigkeit des Erzählers, selbst den auktorialen Blick von oben zu etablieren: »[W]hat starts out as simply a notice of Pym’s death becomes within a few paragraphs an interpretation of Pym’s narrative«.163 Der verloren gegangene Pym wird als ›out-of-place element‹ zu Certeaus »fragmented body« und der Erzähler der ›Note‹ zu seinem Spuren-Leser:164 »It is precisely the writing self’s refusal to add anything and the written self’s unavailability (its resistance to exact determination) that opens the gap that the anonymous commentator himself begins to fill.«165 Pym wird als unwahrnehmbares ›writing self‹ zum Objekt der Spurensuche; einer Spurensuche, die den Lesern des Textes vorbehalten ist: »[W]e, as readers, can in turn become its author«, so schreibt Certeau zum ›out-of-place element‹ – und exakt dies ist, was sowohl innerhalb des Romans als auch in seiner Rezeptionsgeschichte immer wieder geschieht und den Südpolreisenden Pym zum Begründer des Motivs der Verloren Gehenden macht.166 Denn mit dem Verfasser der ›Note‹ tritt ein weiteres Double des Erzählers auf, der die »metatextuelle Funktion des Polargebiets« begründet, wie Menke meint und den Roman damit zum Ausgang der – zeitlich ebenso weit in die Vergangenheit wie in die Zukunft reichenden –Bibliothek der Polargebiete macht.167 Die ›Note‹ selbst handelt von der Schrift und bemüht sich um die distanzierte Lesbarmachung der Wahrnehmungen und Bewegungen Pyms auf Tsalal: So erkennt der Erzähler in den von Pym aufgezeichneten »figures«168 »Schriftzeichen verschiedener morgenländischer Schriften«, so Menke, die allesamt auf die Begriffe Schwarz und Weiß rekurrieren und somit nochmals die Beziehung beider Komplexe als voneinander abhängig thematisieren: »Was die Erzählung an ihren fiktiven Orten: Tsalal, einer-
162 AGP, S. 219. 163 Irwin: American Hieroglyphics, S. 196. 164 WtS, S. 141. 165 Irwin: American Hieroglyphics, S. 196. 166 WtS, S. 141; Irwin: American Hieroglyphics, S. 196. 167 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 77. 168 AGP, S. 220.
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seits, und ›the region of the south‹, andererseits, radikal auseinandertreten lässt [...][,] tritt im Nachtrag als schwarz auf weißes Schriftzeichen zusammen.«169 So seien, mit Carringer, Schwarz und Weiß »objectifications of the conflicting tendencies brought together in Pym«.170 Das Nachwort ruft auf diese Weise die »Differenz und die gegenseitige Bezugnahme des Schwarzen und Weißen mit der Entzifferung der Zeichen auf« und kann doch Pym nicht zurückerzählen. Zwar ist das Weiße als Grundlage der Schrift eingebunden in die Textproduktion, in den Versuch, »die von Pym zurückgelassene Weiße mit verschiedenen Zeichen zu füllen«, jedoch kann der Erzähler Pym nicht wieder in den Text einschreiben und somit dem Roman keine ›closure‹ geben.171 So führt die Nachfahrenschaft des ›Note‹-Erzählers wieder zurück in den Text, zurück zum Verhältnis von Schrift und Papier, ›written‹ und ›writing self‹, Stillstand und Bewegung. Ein gesichertes Wissen um den Subjektstatus Pyms kann nicht hergestellt werden: »His reading of Pym becomes no more conclusive than Pym’s interpretation of his own adventure, and thus it seems that any sort of authority must remain questionable.«172 Es ist aber gerade eine solche Infragestellung narrativer Autorität, die, wie gezeigt werden konnte, den Roman auf jeder Ebene durchzieht, welche nun Leser zu potentiellen Nachfahrern der Erzähler des Romans macht. Indem Pym verloren geht und der ›Note‹-Erzähler daran scheitert, ihn zurückzuholen und den Roman zum Abschluss zu bringen, erzeugt das metatextuelle Spiel von Schwarz und Weiß, von stillstellendem Erzählen und herumirrender Bewegung ein Spatium, eine nicht zu schließende Leerstelle, ein ›out-of-place element‹, das jeder Leser ganz grundsätzlich versuchen muss, zu füllen: »Im Nachfahren wird [...] eine korrigierende Fortschreibung und anstelle des Abbruchs, in dessen Überschreitung und Überschreibung, ein ›etwas‹ eingesetzt«, so schreibt Menke. 173 Ein ›etwas‹, das jenes ›nichts‹ ersetzt, das Pym hinterlassen hat. Das Füllen des ›out-of-place element‹ Pym hat, analog zum im vorherigen Kapitel beschriebenen polaren Konjunktiv im Dispositiv der Entdeckung, eine ganze Reihe von Texten produziert, die bereits oben kurz zur Sprache gekommen sind und deren bekanntester, Vernes Die Eissphinx, nun als Exempel der Nachfahrenschaft dienen kann: In Vernes Roman ist die aus der Spurensuche entstehende Weitererzählung der Geschichte Pyms verdoppelt. Diese Dopplung entsteht einerseits im Schreiben Vernes selbst, der als Leser durch das ›out-of-place element‹ Pym zu einer Fortschreibung angeregt wurde. Andererseits entsteht sie, indem Pyms Erzäh-
169 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 78. 170 Carringer: Circumscription, S. 514. 171 Frost: Whiteout, S. 230. 172 Pahl: Architects, S. 55. 173 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 71.
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lung in der ›histoire‹ der Eissphinx entfiktionalisiert wird und als wahrhaftiges Zeugnis dokumentarischen Charakter erhält: Das Lesen von Pyms Reisebericht führt die Spurensucher einerseits nicht nur erfolgreich zum Südpol und schließt damit die Lücke der Eroberung, sondern auch zu Dirk Peters, der die dem Bericht Pyms fehlenden Ereignisse endlich nachtragen kann – und somit durch die Kerbung durch Schrift jene ›closure‹ erzeugt, die Pym seinen Lesern verwehrt hat. Ein recht triviales, glückliches und die Lücken schließenden Ende, angesichts dessen Ricardou konstatiert, Verne habe offensichtlich nicht verstanden, dass »the adventures of A.G. Pym were a Journey to the Bottom of the Page«.174 Und Frank sieht in Vernes Roman diejenige Erzählhaltung bestätigt, die es sich zum Auftrag macht, die Entdeckung und Eroberung der Welt zu narrativieren und der es somit gelingt, Pym wieder zurück in die Riege der zivilisierenden Entdecker der Welt zu schreiben: »Ein happy ending also mit voller Ermutigung der curiositas (bei gleichzeitigem Bedauern, wieviel Menschenleben sie fordert) und dem vollmundigen Appell an die Fraternität der community of investigators, derer jeder, auf die Schulter der Leistungen des Vorgängers steigend, der Natur ein Stück mehr ihres Geheimnisses entreißen wird.«175
Auch wenn so verdienten Forschern wie Ricardou und Frank sicherlich insofern zuzustimmen ist, dass Die Eissphinx jene simple Abenteuergeschichte darstellt, die Pym eben nicht ist, so ist der Roman Vernes doch als Roman der Nachfahrenschaft umso wertvoller, weil er uns die Konsequenz aus einem Text vorführt, der, am Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung, aufhört Text zu sein, weil sein Erzähler aufhört zu erzählen – und der dennoch weiterhin Literatur erschafft. Am Fall Pyms lässt sich Barthes’ ›écriture blanche‹, die »Schriftsteller ohne Literatur« produziert, beschreiben: Indem er verloren geht, wird Pym zum Co-Erzähler all jener Texte, ohne jedoch Schrift zu produzieren.176 Ihnen allen ist gemein, dass sie als Nachfahren Pyms, dessen Reise in die Spurenlosigkeit nachvollziehend, das weiße Blatt Papier, auf dem Pym nicht mehr wahrnehmbar ist, wieder und wieder beschriften und dadurch erst jene Polargebiete der Bibliothek erschaffen, in denen sich bis heute die Texte vermehren.
174 Ricardou: Singular Character, S. 4. 175 Frank: Die unendliche Fahrt, S. 120. 176 Barthes: Nullpunkt, S. 12.
6 Scheitern als Programm: Verloren Gehen in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Die narrative Urszene der polaren Nachfahrenschaft, die den Abschluss von The Narrative of Arthur Gordon Pym bildet, spiegelt Christoph Ransmayrs Debutroman Die Schrecken des Eises und der Finsternis aus dem Jahr 1984 in der Ausgangssituation: »Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, daß er schließlich in ihr verschwand.«1 An seinem Schreibtisch sitzend rekonstruiert der Erzähler des Romans, wie es vor ihm bereits der Erzähler der ›Note‹ in Pym tat, das Verschwinden des Protagonisten: Indem er versucht, Mazzinis Verloren Gehen aus Quellen, Briefen und Geschichten vom und über den arktischen Fußgänger erzählerisch nachzuvollziehen, verdoppelt er dessen Bewegung und überführt sie in eine neue Geschichte. Auch in Die Schrecken des Eises und der Finsternis hat es der Leser also mit dem im vorherigen Kapitel verhandelten und von Menke grundlegend beschriebenen »Modell der Nachfahrenschaft, Modell der Intertextualität« zu tun, das sich zudem im Verhältnis von Pym und Vernes Die Eissphinx zeigte: »Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis schreibt der von Jules Vernes Les Sphinx des glaces vorgeführten, nämlich nachfahrend ausgeführten Lektüre von Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym nach.«2 Die intertextuellen Bezüge der Kompilation, deren Erarbeitung im Falle von Pym noch der detaillierten Spurensuche der Quellenforschung bedurfte, legt Rans1 2
SEF, S. 11. Beide Zitate Menke: Polargebiete, S. 579, 581. In diesem Sinne können die an Pym erprobten Konzepte von TEIL I: DIE RÄUME VON STILLSTAND UND BEWEGUNG als ebenso gültig wie grundlegend für die nun folgende Analyse von Ransmayrs Roman angenommen werden (vgl. dazu auch TEIL II, Kap. 5, Anm. 114). Ransmayrs Roman stellt gewissermaßen den Höhe- und Endpunkt des Modells der Nachfahr(t)en dar, auch wenn die Faszination der (nach-}erzählten Polarreise weiterhin zu bestehen scheint, wie etwa Ilja Trojanows Roman EisTau zeigt.
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mayrs Polarroman beinahe vollständig offen: »Die Figuren dieses Romans haben an ihrer Geschichte mitgeschrieben.«3 Auf insgesamt vier Erzählebenen kompiliert der Erzähler eine multiperspektivische Rekonstruktion von Reisen in die Arktis: zunächst Mazzinis Reise ins Nordpolargebiet, die dieser seinerseits auf den Spuren der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von 1872 bis 1874 unter der Leitung von Julius Payer und Carl Weyprecht unternommen hat; dann die dokumentarischen Zeugnisse dieser historischen Expedition wie Tage- und Logbucheinträge, Redemanuskripte, Listen, Fotos der Expeditionsteilnehmer sowie Radierungen Payers, die die zweite Ebene des Erzähltextes bilden und von der Suche nach der Nordostpassage zwischen Atlantik und Pazifik berichten, von der Einschließung und entbehrungsreichen Überwinterung im arktischen Eis, der Entdeckung neuen Lands, welches auf den Namen Franz-Josef-Land getauft wird, sowie von der Aufgabe des Schiffes und schließlich der gelungenen Rückkehr über Land; diesen dokumentarischen Zeugnissen zur Seite gestellt werden auf den weiteren Ebenen Zitatsammlungen historischer Polarreisender und literarische Quellen, die im Roman als Sammlungen aus Mazzinis Tagebüchern ausgegeben werden, sowie eine ›SchreibtischReise‹: Diese umfasst Überlegungen, Kommentare und Imaginationen des Erzählers selbst, der seine narrativ-fiktionalisierende Arbeit an den dokumentarischen Quellen immer wieder expliziert.4 Erklärtes Ziel dieser kompilatorischen Rekonstruktion ist das Auserzählen des verschwundenen Mazzini: »[W]enn einer verloren geht, ohne einen greifbaren Rest zu hinterlassen, [...] dann muß er wohl erst in den Geschichten, die man sich nach seinem Verschwinden über ihn zu erzählen beginnt, allmählich und endgültig aus der Welt geschafft werden«.5 Dieser, einen Verloren Gegangenen auserzählende, Ansatz des ›Aus der Welt Schaffens‹ erscheint nach den vorangehenden Überlegungen und Analysen dieser Studie weit weniger paradox, als es auf den unvorbereiteten Leser wirken mag: Indem er alles über Mazzini zusammenträgt, ihn voll-
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SEF, S. 277. Der imaginative Anteil an der kompilierenden Arbeit des Erzählers wird bereits zu Beginn der Rekonstruktion deutlich: »Mir war die Tatsache oft unheimlich, daß sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschichte, die man nur lange genug verfolgt, irgendwann in der Weitläufigkeit der Zeit verliert – aber weil nie alles gesagt werden kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahrhundert genügen muß, um ein Schicksal zu erklären, beginne ich am Meer und sage: Es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872 an der adriatischen Küste. Vielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Himmels glitten die weißen Fetzen einer in den Turbulenzen der Jahreszeit zerrissenen Wolkenfront – ich weiß es nicht.« (Ebd., S. 11)
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Ebd.
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ständig erfasst, in den Blick nimmt und, gewissermaßen, stillstellt, scheint es dem Ich-Erzähler möglich, Mazzini auszuschreiben; er versucht, Mazzini durch eine Erzählung auszulöschen, ein Fortleben der Figur zu verhindern. Mazzini wird, Sascha Seiler zufolge, »trotz seiner körperlichen Abwesenheit wahrgenommen, jedoch als Phantom, als Erinnerung« – und es ist gerade diese Erinnerung, die der Erzähler auszulöschen sucht.6 Umgekehrt produziert aber wieder ein Verloren Gegangener gerade durch sein Verschwinden, als ›out-of-place element‹, eine Erzählung: Indem Mazzini verschwindet, ruft er einen Leser im Sinne Certeaus hervor, der, »in turn, can become its author«.7 Wie schon in den Erzählkonstellationen von ›Note‹ und ›Narrative‹ respektive von Pym und Eissphinx entsteht auch hier der literarische Text beim Versuch, den distanzierten, auktorialen Überblick narrativ zu etablieren. Allerdings führt Ransmayrs Roman ein dem Text Vernes diametral und abstrakt gegenüberstehendes revisiting der Erzählkonstellation aus Pym durch, weil es die Arbeit des ›Note‹-Erzählers in Pym als narrative Konstellation in Die Schrecken des Eises und der Finsternis überführt. Frost erkennt darum im Erzähler der Schrecken des Eises und der Finsternis einen Nachfahren des nicht-reisenden ›Note‹Erzählers: »Er liest lediglich, was die Reisenden hinterlassen haben, und reist durch deren Schriften. Doch erst seine Edierung stellt die Lesbarkeit des Berichts her«.8 Das Resultat ist die Rekonstruktion und Kompilation durch einen die Rolle des Erzählers einnehmenden Lehnstuhleroberer, der aus der Abwesenheit eines Subjekts einen Roman erzeugt. Was in dieser Konstellation des lesenden Nachfahrens gleichzeitig betont wird, so Menke, ist »die Uneinholbarkeit jenes ›Ursprungs‹, eines originären Schreibens«, das sich stets nur des Personals der im Polargebiet Verloren Gegangenen nähern kann, ohne sie endgültig zurückzuholen: Wie Pym, so soll auch Mazzini zurückgeholt werden, indem er weiter-, ja auserzählt wird. Wenn nun aber der Erzähler zu Beginn des Textes dieses Ziel ausgibt und daran anschließt, »[f]ortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner«, dann lässt sich mit der Lektüre von Poes Roman nicht nur antworten, dass Arthur Gordon Pym als Verloren Gehender in den Texten seiner Nachfahrenschaft durchaus weiterzuleben imstande scheint. Es lässt sich auch als Fingerzeig verstehen auf die intentionalisierte Wirkung eines Romans, dessen letzte Kapitelüberschrift die erste spiegelt, nur um das entscheidende Verb auszulassen: So wird aus dem Auftrag des ›Aus der Welt Schaffens‹ zu Beginn das resignierte »Aus der Welt – Ein Nekrolog« und der Erzähler konstatiert: »Ich werde nichts beenden und nichts werde ich aus der Welt schaf-
6
Seiler, Anwesenheit, S. 59.
7
WtS, S. 141.
8
Frost: Whiteout, S. 214.
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fen« – Mazzini bleibt verschwunden, der Erzähler bleibt allein mit den Möglichkeiten seiner Geschichte, »ein Chronist, dem der Trost des Endes fehlt«.9 Wer nicht mehr vorhanden ist, der muss rekonstruiert werden, wer nicht mehr wahrnehmbar ist, der muss wieder sichtbar gemacht werden – ein narratives Unterfangen freilich, das mit seinem Scheitern einen Text erzeugt. Es ist darum auch genau das Verloren Gehen Mazzinis, das Die Schrecken des Eises und der Finsternis zu einer räumlichen Erzählung macht, die ihrerseits die Bedingungen des Erzählens problematisiert. Mazzinis Verschwinden ist nämlich nicht nur Erzählanlass, die rekonstruierende Arbeit des Erzählers kann als »eine Angelegenheit der Wahrnehmung« charakterisiert werden und damit, in Analogie zu den Überlegungen des ersten Teils, als Problem der Verschaltung von Raum- und Subjektkonstitution: »Gott, was kann nur passiert sein, obwohl alles nicht wahrnehmbar ist und bleibt« – so schreiben Deleuze und Guattari und bringen damit jene Frage auf den Punkt, die den Erzähler erst dazu bringt, einen Text zu produzieren.10 Denn Mazzini ist unwahrnehmbar geworden und sein Verschwinden führt das von Frank für die Figur Arthur Gordon Pym als charakteristisch beschriebene »Redeverbot, mit dem der geschwätzige Weltneugierige im entscheidenden Augenblick belegt wird«, fort:11 Wieder wird hier einer nicht erzählen, nicht berichten von seinen Entdeckungen, wieder geht einer verloren, ohne Literatur hinterlassen zu können – und wieder wird er gleichzeitig, gleichsam als Leerstelle, eine rekonstruierende Literatur provozieren. Dabei bedarf es im Falle der Schrecken des Eises und der Finsternis scheinbar nicht mehr einer Sekundärliteratur, die die Parallelen von Polarfahrt und Textproduktion herauspräpariert, wie dies im Fall von Poes Roman durch Ricardou wegweisend durchgeführt wurde. Vielmehr legt der Erzähler seine Quellen offen, von den dokumentarischen Tagebüchern der Payer-Weyprecht-Expedition über die zwar dokumentarischen, jedoch wenigstens teilweise fingiert als Sammlungen Mazzinis ausgegebenen Passagen zur Eroberung des Nordpols bis hin zu den fiktiven Tagebüchern Mazzinis, aus denen er dessen Weg ins Eis rekonstruiert. So wird deutlich: Auch hier thematisiert die Reise ins Eis eine Reise in die Schrift. Dabei dienen Romanstruktur und Erzählverfahren als Bindeglied beider Reisen und sollen darum im Folgenden detailliert in den Blick genommen werden.
9
Beide Zitate SEF, S. 260, 274f.
10 TP, S. 266. Zum Unwahrnehmbar-Werden bei Deleuze und Guattari als Teil des Komplexes perspektivierter Raum- und Subjektkonstitution vgl. TEIL I, Kap. 2, S. 111-113 in dieser Arbeit. 11 Frank: Die unendliche Fahrt, S. 116.
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6.1 AN DER GESCHICHTE MITSCHREIBEN: ROMANSTRUKTUR UND ERZÄHLVERFAHREN Nutzt Poe in Pym historische Quellen, dokumentarische Berichte und fiktionale Texte noch, um ein aus diesen Quellen gespeistes und sie dennoch verschleierndes Narrativ zu erschaffen, geht Ransmayr in Die Schrecken des Eises und der Finsternis offener mit den Quellen und Einflüssen um, die in das Narrativ eingebracht werden. Dies geschieht, indem dem Roman ein abschließender »Hinweis« beigegeben wird, der unter der bereits oben zitierten Prämisse, dass die Figuren des Romans »an ihrer Geschichte mitgeschrieben« haben, eine Reihe von Publikationen der Teilnehmer der Payer-Weyprecht-Expedition bibliographiert. 12 Zudem speist der Erzähler diese Quellen für den Leser nachvollziehbar in einen Text ein, der sich darum offen als Kompilation zu erkennen gibt: So kommen die Teilnehmer der Expedition immer wieder in Sätzen, Abschnitten und ganzen Seiten zu Wort, deren Kursivierung ihr Eindringen in den Text markiert und von den anderen Ebenen des Erzählens abhebt. In diesen kursivierten Zeilen berichten die Teilnehmer selbst von ihrer Expedition ins ewige Eis des Nordpolarmeers: Anwerbung der Matrosen in Triest im März 1872; Fahrt gen Norden auf dem Forschungsschiff Admiral Tegetthoff von Bremerhaven über Tromsø und Spitzbergen bis ins Nordpolarmeer im Sommer 1872; die Einschließung der Tegetthoff im Eis am »22ten August« 1872, das eine vollständige und endgültige Manövrierunfähigkeit zur Folge hat – und ab diesem Zeitpunkt das Warten und Treiben im Eis, ständig begleitet von lebensbedrohlicher Kälte, unmenschlichen Bedingungen, Eisbären und Eispressungen, die das Schiff »zu zermalmen drohen«.13 Die Berichte der Kommandanten Payer und Weyprecht, aber auch des Maschinisten Otto Krisch und des Tiroler Bergsteigers Johann Haller erzählen von den bleiernen Stunden im Eis, den Entbehrungen und Schrecken, die sie bis zur Aufgabe des Schiffes am 20. Mai 1874 erleiden; sie berichten vom Aufbruch nach Süden mit Schlitten und Booten, die sie über das Eis ziehen, bis sie am 14. August offenes Meer erreichen und weiter Richtung Süden rudern und schließlich, eine knappe Woche später, von russischen Schonern gesichtet und endgültig gerettet werden. Die dokumentarischen ›Kursivierungen‹ erzählen aber auch von der Entdeckung eines neuen Landes am 30. August 1873, das, wie Payer notiert, »den Namen Kaiser Franz-Josefs-Land« erhält und dessen Buchten und Erhöhungen von Payer und einer Handvoll Begleiter bereist, benannt und kartographiert werden. Sie erzählen vom Alltag auf dem im Eis feststeckenden Schiff ebenso wie von menschlichen und zwischenmenschlichen Tragödien oder von der düsteren
12 SEF, S. 277. 13 Beide Zitate ebd., S. 86f.
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Schönheit des ewigen Eises. Und über die Kursivierungen wird schließlich auch das Scheitern dieser Expedition deutlich: Zunächst von den Zeitgenossen aufgrund ihrer »Leistungen« in den Rang der »Unsterblichkeit« erhoben, blicken jedoch beide Kommandanten kritisch auf die Reaktionen ihrer Mitmenschen: Weyprecht beklagt, dass »die Jagd nach neuen Breitenrekorden« den Blick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse verkläre, ihm scheint der Ruhm unangenehm, schließlich »hatten sie doch ihr Schiff verloren und nichts mitgebracht als die Nomenklatur im Eis begrabener Inseln«. Payer, der zunächst den Ruhm genießt und zahlreiche – der Erzähler zählt »eintausendzweihundertachtundzwanzig« – Vorträge hält, gerät nach und nach in Vergessenheit, zieht sich in ein Eremitendasein zurück und verlegt sich schließlich ganz darauf, immer und immer wieder Szenen aus dem Eis zu malen.14 Für die Ordnung und Reihung der dokumentarischen Beiträge sorgt ein IchErzähler, dessen geradezu obsessive Beschäftigung mit den hinterlassenen Berichten der Payer-Weyprecht-Expedition ihren Ursprung hat im Verschwinden Mazzinis, eines fiktiven Polarreisenden auf den Spuren der Expedition und Bekannten des Erzählers. So rekonstruiert der Erzähler Mazzinis Nachfahrt aus dessen, dem Leser nicht zugänglichen, Tagebüchern sowie über dessen Beschäftigung mit der Expedition von 1872–74. Diese wird ihrerseits ausgelöst durch ein metafiktionales »Spiel mit der Wirklichkeit«, das Mazzini spielt, indem er »gewissermaßen die Vergangenheit neu« entwirft: Mazzini, so der Erzähler, »denke sich Geschichten aus, erfinde Handlungsabläufe und Ereignisse, zeichne sie auf und prüfe am Ende, ob es in der fernen oder jüngsten Vergangenheit jemals wirkliche Vorläufer oder Entsprechungen für die Gestalten seiner Phantasie gegeben habe«. Als er auf die Payer-Weyprecht-Expedition stößt, hat Mazzini nun tatsächlich Erfolg mit seiner »Erfindung der Wirklichkeit«.15 Er findet ein historisches Szenario vor, das er zuvor in der Fiktion konstruiert hat – und so wird aus der realen Expedition das Gegenbild zu einer fiktiven Imaginationspraxis, das auf der fiktionalen Ebene des Romans vom spielerischen Erzähl- zum riskanten Lebensprinzip wird: Mazzini, beseelt von seinem erfolgreichen Spiel, wird zum tatsächlichen Nachfahrer und reist auf den Spuren der Expedition bis ins Nordpolargebiet. Dort aber scheitert er, weil er das von Payer und Weyprecht entdeckte und bereiste Land nicht erreichen kann. So
14 Alle Zitate ebd., S. 159, 263, 261, 271. Der Taschenbuchausgabe des Romans sind insgesamt 19 Radierungen Payers beigefügt. Dorit Müller versteht sie als Schaffung neuer »Relationen im Wissensraum Arktis«, die im Zusammenspiel mit dem Text eine »Ästhetisierung des Raumes« befördern (Müller: Fahrten, S. 126, 122). In der ersten Ausgabe waren zudem noch zeitgenössische Farbfotographien von Rudi Palla abgebildet, die die Arktis zeigen (vgl. Ransmayr: Schrecken). 15 Alle Zitate SEF, S. 20f.
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kehrt er nach Spitzbergen zurück, richtet sich dort für eine weitere Expedition ein und geht schließlich im ewigen Eis der Insel verloren.16 Gegen die von Mazzini praktizierte ›Erfindung der Wirklichkeit‹ und sein Verloren Gehen stellt der Ich-Erzähler – zum Zweck der bereits oben thematisierten Auserzählung Mazzinis, dem ›Aus der Welt Schaffen‹ – ein geradezu konventionell wirkendes Erzählverfahren: die imaginative Rekonstruktion. So erzählt er auf den Spuren des Verloren Gegangenen eben nicht nur über dessen ihm überlassenen Unterlagen die Reise Mazzinis nach, sondern montiert auch den Grund für die Reise als Folie der Nachfahrt dokumentarisch in die literarische Spurensuche hinein, führt diese über die reine Rekonstruktion hinaus und ergänzt sie durch eigene Imaginationen. Dafür nutzt er die geradezu formelhaft wiederholte Fiktionalisierungsfloskel ›Ich stelle mir vor‹, die seine Imaginationen von den dokumentarischen und pseudo-dokumentarischen Anteilen abgrenzt. Diese Imaginationen durchziehen den Text und treten ab der ersten Seite auf. Der Ich-Erzähler setzt mit ihrer Hilfe den Beginn seiner Rekonstruktion – »es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872« –, ergänzt Weyprechts Worte an die interessierten Matrosen in Triest um ausschmückende ›Beobachtungen‹ – »[v]ielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen über den Kais«; »[i]ch habe lange an der Vorstellung festgehalten, daß im Verlauf der langen Rede Weyprechts ein plötzlicher Frühlingsregen einsetzte« – und bringt auf diese Weise sich selbst eben nicht nur als beobachtende und rekonstruierende, sondern als handelnde Figur ins Spiel, auch und gerade weil er mit den Mitteln der kompilatorischen Rekonstruktion das ›Aus der Welt Schaffen‹ nicht vollziehen kann. Das ›Ich stelle mir vor‹ des Erzählers geht hervor aus der resignierenden Feststellung »Ich weiß es nicht«.17 Diese ist, wie Robin Hauenstein bemerkt, »eine der am häufigsten wiederholten Phrasen« im Roman
16 Mazzini ist gleichzeitig innerhalb der Romanfiktion nicht allein Nachfahrer, sondern ebenfalls Nachfahre: Einer seiner Vorfahren, Antonio Scarpa, war, so will es das Narrativ, Teilnehmer der Payer-Weyprecht-Expedition: »Unter den Scarpas seien viele Seeleute gewesen, hieß es in den Erzählungen, Steuermänner, Kapitäne! [...] Antonio, der Urgroßonkel, Antonio Scarpa!, der sei mit einer österreichischen Expedition, die in Wahrheit fast nur aus italienischen Matrosen bestanden habe, sogar bis an den Nordpol gesegelt und habe dort ein Gebirge aus Eis und schwarzen Steinen entdeckt«. (Ebd., S. 16f.) Dass die fiktive Figur Josef Mazzini gleichzeitig auch einen Namensträger als Vorfahren besitzt – den italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini, dessen Todestag am 10. März 1872 in unmittelbare Nähe zum im Roman gesetzten Anfang der k. u. k. Expedition und damit zur ›Geburt‹ der Geschichte um Josef Mazzini fällt – dreht die Schraube um das Spiel um Vor- und Nachfahrt, Wirklichkeit und Fiktion nochmals weiter, ohne jedoch hermeneutischer Imperativ für die Deutung des Romans zu sein. 17 Alle Zitate ebd., S. 11f., 119.
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– das Scheitern der rekonstruierenden Dokumentation setzt die Imagination als Kompensation ein.18 So werden die Parallelen zu Poes Pym im Zusammenhang mit den Perspektivierungen des Erzählers deutlich: Wo die Verschwundenen keine Beobachtung mehr zulassen und der distanzierte Blick des Erzählers scheitert, da beginnt eine andere Erzählung. Auf diese Weise durch Dokumentation und Imagination verbunden werden die Ebenen von Expedition und Mazzini vom Ich-Erzähler mit einem fortlaufenden Kommentar durch den Ich-Erzähler unterlegt und antiparallel gesetzt: Während, wie Hauenstein darlegt, Mazzinis Geschichte »mit ihrem Ende beginnt, um sich dann erst nach und nach inhaltlich aufzulösen, nur damit sie dann nicht zu Ende gebracht werden kann,« verläuft die narrative Rekonstruktion der Expedition »zwar im Großen und chronologisch«, jedoch erscheint ihr Beginn »bewusst willkürlich bestimmt, um sie dann in der Unendlichkeit auslaufen zu lassen«.19 Ergänzt wird die imaginativ-rekonstruierende Arbeit des Erzählers von einer weiteren Erzählebene; diese setzt sich zusammen aus Exkursen, Tabellen, historischen Abrissen und Zitaten zur Geschichte der Eroberung des Nordpolargebiets. Sie handeln mal von der Suche nach Nordwest- und Nordostpassage, mal vom Wettrennen um das Erreichen des Nordpols, vor allem aber stellen sie die missglückten Reisen zahlreicher Abenteurer vor und thematisieren deren Scheitern, Verschwinden und Tod. Diese »Chronik[en] des Scheiterns« an der Arktis entstammen der Diegese zufolge sowohl Mazzinis Tagebüchern wie auch der eigenen Sammlung des Ich-Erzählers,20 sie sind aber für Dorit Müller vor allem ein Anzeichen dafür, dass »der Wissensraum Arktis aus der distanzierten Außensicht eines auktorialen Erzählers konstruiert« wird – und so, in der Parallelsetzung zu Mazzinis Schicksal, die Chroniken des Scheiterns eine Kommentarfunktion erhalten, die über die imaginativen Rekonstruktionen des Ich-Erzählers hinausgehen.21 Auf den vier Erzählebenen entfaltet sich Die Schrecken des Eises und der Finsternis durch das multiperspektivische Erzählen aus Innen- und Außensicht als
18 Hauenstein: Metafiktionen, S. 57. 19 Ebd., S. 58f. 20 SEF, S. 91. 21 Müller: Fahrten, S. 124. So ergänzt, Müller zufolge, die über die vierte Erzählebene eingebrachte Perspektive der distanzierten Außensicht narrativ einerseits die Wiedergabe der Innensicht der Expeditionsteilnehmer sowie andererseits die Rekonstruktion von Mazzinis Innensicht (und, zum Teil, auch der Expeditionsteilnehmer) durch den von außen auf das Personal blickenden Ich-Erzähler. Da innerhalb dieses Kapitels neben Dorit Müller auch Beate Müller zitiert wird, verlegt sich der Fließtext auf die Nennung der Vornamen zur besseren Unterscheidung.
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»Meta-Geschichtsroman«. 22 Die Konstruktions- und Rekonstruktionsprozesse des Romans spiegeln sich auf der Handlungs- wie der Diskursebene. Eis und Papier, Reise und Erzählung, Verschwinden und Spur werden enggeführt in einer narrativen Verdichtung, die Ulrich Scheck als »Konstellationsbildung« des Romans thematisiert: »Der Erzähler ist zugleich Leser, Mazzini liest den Expeditionsbericht und versucht den ursprünglichen Reiseverlauf der Expedition zu rekonstruieren, der Ich-Erzähler liest Mazzinis Aufzeichnungen, dessen Geschichte und Schicksal er aufdecken will, und den Romankonsumenten liegen der Expeditionsbericht, Mazzinis bruchstückhafte Geschichte und die Reflexionen des Ich-Erzählers vor, aus denen sie sich wiederum ihre eigenen Geschichten bilden können.«23
Es ist das Verschwinden Mazzinis, das nicht nur das Erzählen selbst, sondern auch eine narrative Selbstthematisierung provoziert und an die multiperspektivische Reise ins Polargebiet knüpft. Die Struktur und räumliche Verteilung der Ebenen über die Seiten des Romans ähnelt der eines Patchworks, in welchem immer wieder Dokumentation und Fiktion rhythmisch miteinander verknüpft werden und die Perspektiven und Wahrnehmungen im und auf das Eis sich ebenso vervielfältigen wie im und auf das Erzählen. So entsteht der Eindruck eines Romans, dessen Umgang mit der Realität am treffendsten mit einem Satz des Ich-Erzählers beschrieben wird: »Die Wirklichkeit ist teilbar.«24 Jede Ebene scheint weniger an einer gemeinsamen Wirklichkeit zu partizipieren als vielmehr gleichberechtigt eine je eigene Perspektive auf die Realität zu formulieren. Damit scheint auch der Ich-Erzähler weniger als Ordnung schaffender Strippenzieher als vielmehr als am Diskurs partizipierende Figur aufzutreten; ein Handelnder, der über sein Erzählen eingebunden ist in die verschiedenen Perspektiven und Wahrnehmungen des Eisraums der Arktis. Das Resultat der multiperspektivischen narrativen Engführung von Reisen, Verschwinden und Erzählen ist mit Kopp-Marx ein »polyphone[r] Zitatroman aus unterschiedlichen Stimmen«,25 eine, laut Francis Spufford, »bruchstückartige Prosa der Postmoderne. Die überfliegende, flüchtig eintauchende und kombinierende Sensibilität [...] verwandelt die ursprünglichen Reiseberichte in eine brillante Komposition, knapp und flirrend.« 26 Alexander Jerochin führt die Arbeitstechnik des Romans vor Augen, wenn er schreibt, dass dieser das »Einmalige, ›Unerhörte‹ im
22 Peter: Möglichkeiten, S. 96. 23 Scheck: Katastrophen, S. 286. 24 SEF, S. 43; vgl. dazu auch Peter: Möglichkeiten, S. 103-107. 25 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 234. 26 Spufford: Flecken, S. 70.
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Schicksal der Helden [...] mithilfe der distanzierenden Techniken der Montage, Collage, Pastiche und des Potpourri« darstellt. 27 Und auch Reingard Nethersole sieht in der Kompositionsart einen Beleg für den postmodernen Charakter der Romane Ransmayrs: »Ransmayr [...] simply connects already existing traces in the shape of graphs, portions of other people’s texts and pictures along the path of its tale, which re-inserts itself into the library as a book. From there the adventure starts for the reader, who as the reader of the narrator as reader of Mazzini’s reading of documents arrives in the writer’s workshop. [...] This notion that access to any form of reality is possible only qua discursivity together with an understanding of the act of writing as being both a retracing of the always already written and its erasure indicates Ransmayr’s affinity with Postmodernism.«28
Die Ordnung des Romans beruht daher weniger auf einer chronologischen Abfolge als auf der Vielschichtigkeit der Lesevorgänge innerhalb seiner Narratologie, es entsteht, so folgert Munz-Krines, ein Zirkelschluss von Reisen und Lesen, »der immer wieder im Begriff ›Literatur‹ endet« und damit den Roman selbstreflexiv macht.29 Die Reisen, von denen der Roman berichtet, sind immer auch Reisen in die Literatur, und der polare Raum wird, wie bereits in Pym, verknüpft mit dem Blatt Papier. Die Offenlegung der Quellen ihrerseits offenbart den postmodernen Ansatz im Umgang mit dem historischen Stoff der Payer-Weyprecht-Expedition: »In der Postmoderne gibt es keine neuen Geschichten mehr [...][,] jeder Stoff [hat] seine Ausprägung bereits gefunden«. Ransmayr legt den Umgang mit der ›Geschichte‹ (und das heißt sowohl mit dem Text als auch mit der Historie) jedoch so an, dass die »Fiktion [...] immer schon da« ist, »dann folgt der Blick ins Geschichtsbuch«. Dieses von Kopp-Marx beschriebene »selbstreflexiv[e] Spiel mit der Fiktion« scheint auf jeder Erzählebene durch:30 Indem der Roman »the self-reflexive and the historical mode« kombiniert,31 indem er Fakt und Fiktion vermischt, gelingt es ihm James Martin zufolge sowohl zugleich »the realities of polar exploration« zu repräsentieren als auch »the text’s own artifice and constructedness as an admission of
27 Jerochin: Künstler, S. 298. Die Techniken der postmodernen Erzählweise übernimmt Jerochin von Linda Hutcheon, deren Poetics of Postmodernism für mehrere der hier versammelten Autoren die Grundlage zur Kategorisierung Ransmayrs als postmodernem Autor bildet. 28 Nethersole: Marginal Topologies, S. 145. 29 Munz-Krines: Expeditionen, S. 212. 30 Alle Zitate Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 232. 31 Müller: Sea Voyages, S. 8.
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the limits of representation« zu thematisieren, was seinerseits auf die Komposition, die Faktur des Textes rekurriert und auf diese Weise den Entstehungs- und Verstehensprozess von Literatur verdeutlicht.32 Die Schrecken des Eises und der Finsternis sind, so betont Hauenstein, das »Paradebeispiel einer historiographischen Metafiktion in der deutschen Literatur«, das sich durch »eine komplexe Struktur, die sich etwa durch Verschachtelungen, eine Häufung an mise en abyme, die Collage von verschiedenen Textsorten oder die assoziative Verflechtung ergeben kann«, auszeichnet.33 Aus dieser Mischung entstehe ein Text, der gleichzeitig Dokumentation, Abenteuerroman, Biographie und Kriminalgeschichte ist. Dem Leser wird eine Bricolage vor Augen geführt, die die räumliche Anordnung mittels des Eises über die zeitliche stellt, eine »postmodern[e] Wiederkehr der abenteuerlichen Reise«, die sich auf Seefahrergeschichten stützt, nur um die Reise als Triebfeder zu suspendieren und das Scheitern am und im Eis vorzuführen:34 Der Roman stellt damit seine »textuality, self-referentiality, and self-reflexivity« aus und überschattet das »grand narrative« der Reise mit der »grand metaphor« weißer Räume, des Eises und des Papiers.35 Im ›papiernen‹ Eis fängt der Roman seine Figuren ein, er zeigt ihre Erfolge, aber noch mehr ihr Scheitern. Die Schrecken des Eises und der Finsternis ist darum auch ein Beispiel für einen Trend in der postmodernen Literatur, »historisch[e] Stoff[e] und Vorlagen eines Heroismus« zu verwenden, »an denen sie erzählerisch Erhabenheitsvorstellungen [...] dekonstruierend abarbeiten können«. Zwar finden sich Helden im Roman – ausgehend von der Erkenntnis Edgar Platens, dass, wer diesen »Schrecken einflößenden und bedrohlichen Raum« durchaus auch im Scheitern meistert, ein Held ist – und doch »ist das Heldenhafte selbst als Publikumserwartung reflektiert und mehrfach gebrochen«.36 Das Resultat – die Dekonstruktion des Heldenmythos – ist in Ransmayrs Roman allerdings auf ganz unterschiedliche, vielfältige Weise in Form der multiperspektivischen Bricolage verwirklicht. Dabei verweisen die unterschiedlichen Perspektiven auf die Positionen und Perspektiven, die die Figuren zum Raum einnehmen, und damit auch auf ihr Selbstverständnis als Subjekt. Bereits in den vorherigen theoretischen Überlegungen und literarischen Analysen wurde deutlich, dass die für diese Studie so zentrale Frage nach der Verhandlung von Raum und Subjekt immer über die Perspektivierung der Handelnden gestellt und beantwortet werden muss. Die Schrecken des Eises und der Finsternis
32 Martin: Campi deserti, S. 154. 33 Hauenstein: Metafiktionen, S. 76, 69. 34 Honold: Das weiße Land, S. 73. 35 Müller: Sea Voyages, S. 17. 36 Beide Zitate Platen: Erhabenheit, S. 43, 39.
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nun arbeiten an einer Dekonstruktion des Heldensubjekts und der Eroberung der Arktis, indem auf den unterschiedlichen Erzählebenen verschiedene Formen der Aneignung des Nordpolargebiets vorgeführt und durchgespielt werden. »Konstitutiv für das Verfahren der literarischen Raumdarstellung in der Reiseliteratur ist nicht zuletzt die Perspektivierung des erzählten Raumes«, stellt Dorit Müller fest.37 Es ist darum von entscheidender Bedeutung, zunächst die grundsätzlichen Perspektiven auf das Nordpolargebiet und die aus ihnen folgenden Aneignungsmodi zu untersuchen.
6.2 »DIE WIRKLICHKEIT IST TEILBAR«: GRUNDSÄTZLICHE PERSPEKTIVEN UND ANEIGNUNGEN DES NORDPOLARGEBIETS Über ihr bruchstückhaftes, postmodernes Erzählverfahren verhandeln Die Schrecken des Eises und der Finsternis sowohl die historische Eroberung und Aneignung des Nordpolargebiets wie auch deren literarische Verarbeitung.38 Dabei macht sich der Roman die unterschiedlichen Perspektivierungen der Nordpolfahrer einerseits zu eigen, andererseits setzt die Kompilation – und mit ihr der kompilierende Erzähler – einen weiteren Schwerpunkt, der als Kritik an den aufklärerischen Zielen einer solchen Aneignungspraxis in den Roman einfließt. So reproduziert der Roman über die Kompilation den Diskurs der abstrakten, explorativen und schließlich auch ästhetischen Aneignung der Arktis und des Nordpols, schreibt diesen fort und übt gleichzeitig daran Kritik, indem er die Machart der unterschiedlichen Aneignungspraktiken und der mit ihr einhergehenden Perspektivierungen aufzeigt und infrage stellt. Die Schrecken des Eises und der Finsternis verfolgt das Prinzip des räumlichen Erzählens, indem die Arktis aus verschiedensten Perspektiven erfasst, bereist und literarisiert wird. Etabliert wird ein »literarisches Raumkunstwerk«, das die Notwendigkeit einer mehrfachen Perspektivierung durch die Abwesenheit von Chronologie begründet:39 So stellt der Erzähler bereits bei der Ankunft der Tegetthoff in
37 Müller: Fahrten, S. 123. 38 In den folgenden Unterkapiteln rekurriert die Argumentation immer wieder auf die oben vorgenommenen Überlegungen zur aus dem Dispositiv der Entdeckung begründeten expeditiven wie literarischen Aneignung der Polargebiete. Zu diesem wie seinen zugehörigen Begriffen der kartographische Imagination, des polaren Konjunktivs oder des ›out-of-place element‹ vgl. TEIL II, Kap. 4 Expeditionen ins Unbekannte: Karten, Reiseberichte, Polarliteratur. 39 Eggebrecht: Haupt, S. 80.
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Tromsø »Widersprüche in der Datierung« fest, die Tagebücher der Mannschaft sprechen davon »am zweiten, am dritten, am vierten Juli« 1872 den norwegischen Hafen erreicht zu haben. Entscheidend ist nun aber, dass der Erzähler die Multiperspektive affirmiert und bewusst nicht auflöst: Zwar gebe es »untrügliche Indizien für ein objektives Datum der Ankunft, aber ich lasse sie unerwähnt.« Und so schließt er: »Die Expedition erreichte am zweiten, erreichte am dritten, erreichte am vierten Juli 1872 Tromsö. Die Wirklichkeit ist teilbar.« Dass es in den Schrecken des Eises und der Finsternis nicht die eine Wirklichkeit, die eine Erzählung, die eine Chronologie oder das eine Nordpolargebiet gibt, spiegelt die Realität der expeditiven Aneignung des Nordpolargebiets. Gerade weil der Erzähler nun aber nicht entscheiden möchte, wessen Version plausibler erscheint und welche Wahrheit objektiv ist, lässt er jeden »aus einem anderen Eis« berichten und macht die Aneignung des Nordpolargebiets zu einem räumlichen und eben nicht zeitlichen Geschehen.40 Interessiert an der »individuellen Wahrnehmung und damit der Filterung der Wirklichkeit«, knüpft der Roman die Erfahrung der teilbaren Wirklichkeit an die Figur Josef Mazzini, an dessen ›Erfindung der Wirklichkeit‹ und sein Verschwinden.41 Er wird zum Sinnbild des problematisch gewordenen Status objektiver Realität. Damit reproduziert der Roman zwar den Diskurs um die Entdeckung und Eroberung der Arktis, rückt jedoch die subjektiven Erfahrungen, Perspektiven und Aneignungsprozesse der Reisenden selbst in den Vordergrund gegenüber einer objektiven Wahrheit. Konnten die Polargebiete bereits in Kapitel 4 dieser Arbeit als Teil der von Christian Moser als privilegierte Orte der Erkenntnis beschriebenen Grenzen der Welt etabliert werden, deren Erkundung weniger der Weltentfernung dienen sollte denn vielmehr der Reise, um »etwas über [die Welt] in Erfahrung [zu] bringen«, so ist damit das Programm der von der Aufklärung und der Naturphilosophie beeinflussten Aneignung durch Entdeckung, Erschließung und Zivilisierung der weißen Flecken der Landkarten ab der frühen Neuzeit beschrieben.42 Ihren Höhepunkt erfuhren die Versuche der, mit Lethen gesprochen, »wissenschaftliche[n] und imperiale[n] Erschließung der großen Gletscher und des Polar-Eises« dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.43 Gleichzeitig ist mit dem der Aufklärung diametral gegenüberstehenden Begriff des Mythos auch jene dem Menschen eigene ›curiositas‹ aufgerufen, die die Polreise um der Überschreitung willen provoziert und die in
40 Alle Zitate SEF, S. 42. 41 Fröhling: Literarische Reisen, S. 95. 42 Moser: Weltrand, S. 56. 43 Lethen: Lob der Kälte S. 286.
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Odysseus ihren Urahn sieht auf der Suche nach dem Göttlichen, dem Unentdeckten, den letzten Gründen und Orten des Selbst.44 Der Roman nun zeigt die subjektiven Perspektiven der Entdecker und Eroberer als »Fragmente des Mythos und der Aufklärung« vermittels Zitatpassagen, die vom Suchen und gelegentlich auch vom Finden, größtenteils aber von Leid und Scheitern in den Polargebieten berichten. Die Hoffnungen und Träume der »Passagensucher«, all dieser Denker und Literaten, Wissenschaftler und Kartographen, Abenteurer und Expeditionsteilnehmer, werden angerissen, um sie mit ihrem Scheitern und der Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu konfrontieren. Der Diskurs rund um die Vorgänger und Nachfahrer der Payer-Weyprecht-Expedition, um die Eroberung des Nordpols sowie die Entdeckung der Nordwest- respektive Nordostpassage – letztere stellt ja auch das offizielle Ziel der Payer-Weyprecht-Expedition dar – wird damit ironisiert und kritisiert: »Wer seine Arbeit auf einem Fangschiff verrichtet, hat keinen Anspruch auf Ruhm. Aber den Expeditionen, und seien sie noch so erfolglos, ein Denkmal.« So nimmt sich der Text programmatisch der Scheiternden an, immer wieder kreist er in den Exkursionen um Verlust, Katastrophe und Tod. Für die Sieger hat er dagegen nur eine halbe Seite übrig: Die Bezwingung der Nordostpassage im Jahr 1879 und der Nordwestpassage 1909 werden in knappen Sätzen zusammengefasst; Robert Edwin Peary, der erste Mensch, der den Nordpol schließlich ebenfalls 1909 erreicht, kommt in der Zitatensammlung zwar auch zu Wort – er verkündet, mit heroischem Gestus: »Schmerz und Unbequemlichkeit sind unvermeidlich, aber im Zusammenhang mit dem Ganzen gesehen, sind sie kaum wichtig« –, er wird jedoch übertönt von der schieren Masse der enttäuschten Wortmeldungen der Gescheiterten, die die Unmöglichkeit, den Verlust, die verlorene Hoffnung beklagen – die aber doch wieder für einen weiteren Aufbruch, eine weitere Expedition, ein weiteres Abenteuer sorgen, solange der Pol noch nicht erreicht ist.45 Über die Zitatpassagen konstruiert der Roman »das Reisen zum Pol als Forschungsunternehmen und touristische Attraktion, als Spurensuche und gescheitertes Fortschrittsprojekt, als Akt der Übertretung, Sündenfall und menschliche Anmaßung«, wie Dorit Müller schreibt.46 Und in diesem Sinne baut nun auch der Roman
44 Bereits in The Narrative of Arthur Gordon Pym konnte die Präsenz einer mythischen Reise nachvollzogen werden, vor allem in der Deutung der Polfahrt als Reise zum Selbst, vgl. TEIL II, Kap. 5.3 Bericht einer Reise in die eigene Subjektivität. 45 Alle Zitate SEF, S. 187, 91, 194. Auch das Erreichen des Nordpols bestätigt die ›teilbare Wirklichkeit‹ auch der expeditiven Realität. So wurde das erstmalige Erreichen des Nordpols zwar einer Expedition um Robert Edwin Peary im April 1909 zugeschrieben, jedoch behauptete Frederic Cook, den Nordpol bereits ein Jahr zuvor, im April 1908, erreicht zu haben – ohne freilich einen zwingenden Beweis vorzulegen. 46 Müller: Fahrten, S. 121.
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an Denkmal und Faszination weiter, weil er die Perspektive der Eroberung wiederholt, sich allerdings auch um einen kritischen Kommentar zur Aneignungspraxis der Exploration und Eroberung bemüht. Mit den Zitatpassagen kann die im einleitenden Kapitel zum zweiten Teil dieser Arbeit getroffene Annahme, dass die Polargebiete Räume sind, deren Aneignungsgeschichte auf die jeweilige Perspektivierung als Konstitutionspraxis verweist, für das Nordpolargebiet, wie es sich in Die Schrecken des Eises und der Finsternis zeigt, bestätigt werden: Es ist als weißer Fleck auf den Landkarten ein Raum der Entdeckung und wissenschaftlichen Erschließung; als (immer wieder) neu zu benennende und in Anspruch zu nehmende Natur ein Raum nationaler und ökonomischer Aneignung; als unwirtliche, unzivilisierbare Eiswüste ein Raum der maskulin-heroischen Eroberung; als unerreichter und unerreichbarer »topos des absolut Entzogenen« ein mythologisch aufgeladener Raum der Transgression und Selbstfindung.47 Zudem zeigt sich sehr deutlich, dass die Prozesse des Dispositivs der Entdeckung auch hier walten: Einer jeden Expedition folgt ihre Verschriftlichung, Literarisierung. Die Konsequenz einer solchen Literarisierung ist nach Jerochin: Man reist, um später davon zu berichten, das »reale Erlebnis muß sich in einen Leseakt verwandeln, um dann Lust zu neuen Sensationen hervorzurufen«.48 Das rekurriert wiederum auch im Roman auf die Gleichsetzung der Weiße von leerem Eisraum und unbeschriebenem Papier, weil jede Reise auch immer ein Erzählen zur Folge hat – und jedes Erzählen wiederum eine Reise. Weil sie das Erzählen ebenso thematisieren wie das Reisen, zeigen Die Schrecken des Eises und der Finsternis die Korrelation von Eis und Papier und machen die Arktis zur Fiktionsfläche: »Die Ortlosigkeit der Arktis wird zum literarischen Ort, die Zeitlosigkeit der im Eis Eingeschlossenen wird zur literarischen Zeit, die
47 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 64. Der Roman betont die Unerreichbarkeit des Nordpols im Scheitern der Expeditionen, allerdings behält er sich eine durchaus ironische Verschiebung vor: Wo die Payer-Weyprecht-Expedition an der Durchquerung der Nordostpassage bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt scheitert, im Eis eingefroren und vollkommen passiv bis zu neuen Ufern und unentdeckten Ländern getrieben wird, erreicht nun Mazzini seinerseits das Franz-Josef-Land nicht und muss nach Spitzbergen zurückkehren. Zudem werden diese unerreichbaren Orte vom Erzähler zu wertlosen Orten gemacht: zu Passagen, die nur durchquert, und Länder, die nur erreicht werden können, weil man sich im Eis einfrieren lässt, geographische Punkte ohne topographische Repräsentation, Muster ohne Wert: »Ich habe mir vorzustellen versucht, was ein Einfältiger empfinden muß, der, auf einem festgefrorenen Schiff dahindriftend, umgeben von allen Schrecken des Eises und der Finsternis, plötzlich erkennt, daß sein Ziel ohnedies unsichtbar ist, ein wertloser Punkt, ein Nichts.« (SEF, S. 43) 48 Jerochin: Künstler, S. 285.
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Orientierungslosigkeit der Umherirrenden wird zur literarischen Ordnung.«49 Dorit Müller argumentiert, dass die verschiedenen Erzählebenen ihrerseits zur Gleichsetzung von Eis und Papier beitragen, der polare Raum »konstituiert sich auf diese Weise als komplexes, verdichtetes Geflecht aus differierenden Elementen verschiedener Wissensfelder (Geographie, Mythologie, Psychologie, Ästhetik), die sich wechselseitig semantisieren und überlagern«. So zeigt sich Die Schrecken des Eises und der Finsternis als »Suche nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens und des Lesens«, die auf den unterschiedlichen Erzählebenen je nach Perspektivierung andere Aneignungsprozesse der Arktis nach sich ziehen.50 »Dementsprechend«, so kann mit Jerochin ergänzt werden, »sind die Hauptfiguren des Romans als Textkonsumenten bzw. Textproduzenten aufzufassen«.51 Ihre Aneignungsvorgänge sind darum auch immer literarische Versuche, den abstrakten und unwirtlichen glatten Raum der Arktis zu füllen: »Unter der Perspektive der Leerstelle ist der Nordpol ein rein literarischer Ort. Indem der blinde geographische Fleck die Realität auflöst, findet er als idealer Punkt seine Entsprechung in der literarischen Fiktion.«52 Die Verbindung von Aneignung und Literarisierung im Nordpolargebiet der Schrecken des Eises und der Finsternis ist, wie bereits oben thematisiert, multiperspektivisch. Nicht eine Wirklichkeit, nicht eine Aneignung entfaltet sich über den Roman hinweg, sondern zahlreiche verschiedene Stimmen kommen zu Wort, zahlreiche Blicke und Wahrnehmungen werden parallel gestellt. Konnten Scheitern und Kritik bereits aus einer knappen Analyse der Zitatpassagen als Themenkomplexe des Romans etabliert werden, soll der Einfluss der multiperspektivischen Wahrnehmungsrepräsentation auf das Erzählen über eine Untersuchung der Perspektiven der Protagonisten geklärt werden.
6.3 »JEDER BERICHTETE AUS EINEM ANDEREN EIS«: DIE VERVIELFÄLTIGUNG DER WAHRNEHMUNG In Ransmayrs Roman wird die Literarisierung der Aneignung der Arktis als abstrakter Raum der Leere und realer Raum der Eroberung und Entbehrung von zahlreichen unterschiedlichen Perspektivierungen und Wahrnehmungen beeinflusst. Dargestellt wird die Reise zum ›locus horribilis‹ Arktis als hoffnungsloses, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das dennoch – oder, wie oben gezeigt, gerade deswegen – immer wieder neue Expeditionen hervorbringt. Die ungebrochene Fas-
49 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 201. 50 Müller: Fahrten S. 120. 51 Jerochin: Künstler, S. 285. 52 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 236.
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zination an der Entdeckung und Eroberung eines der letzten weißen Flecken der Landkarte erweist sich als den Aneignungsprozessen der Aufklärung und des Mythos zugehörig, an denen der Roman deutlich Kritik übt; diese offenbart sich sowohl über die Kommentare des Erzählers zur Payer-Weyprecht-Expedition als »in den Kontext des internationalen Wettkampfes um die Eroberung des nördlichsten Punktes der Erde« gehörige »Wende zur [...] wissenschaftlichen Eroberung der Polargebiete«53 als auch in den Zitatpassagen, in denen die ehemals Hoffnungsvollen zu Wort kommen, deren Scheitern am und im Eis der Roman über ihre eigenen Worte vermittelt. Auch die Schreibtisch-Reise des Erzählers, die Narrativisierung und Literarisierung als Aneignungsprozess des Nordpolargebiets, die über Mazzinis Programm der ›Erfindung der Wirklichkeit‹ zunächst etabliert und durch sein Verschwinden zuallererst die Erzählung selbst begründet, wird letztendlich als scheiterndes Projekt gezeigt. Schließlich gelingt es dem Erzähler gerade nicht, Mazzini nach dessen Verschwinden aus der Welt zu schaffen. Mit der Darstellung beider Modi der arktischen Reise aufgerufen ist im Roman also auch immer die Reflexion darüber, welche Konsequenzen diese Aneignungsprozesse zeitigen. So stellen Die Schrecken des Eises und der Finsternis einerseits die Herrschaft des Menschen über die Natur infrage, indem sie das Programm des Fortschritts und der Aufklärung, dem sich die Entdecker und Eroberer, die Berichterstatter und Romanautoren verschrieben haben, der Lächerlichkeit preisgeben.54 Andererseits thematisiert der Roman – in seiner Existenz als Roman und damit als Literarisierung des arktischen Aneignungsprozesses – nicht nur die Fähigkeit der Literatur, räumliche Aneignungsprozesse abzubilden, sondern sie mit dem Erzählen als Grundprinzip der Aneignung zu verbinden und diese Selbstbezüglichkeit von Raum und Roman, Erzählen und Aneignen, Stillstand und Bewegung zu verhandeln. Es sind damit zwei zusammenhängende Untersuchungsgegenstände bestimmt, die mit der Analyse der Perspektiven der Aneignung, unter denen die Protagonisten des Romans die Arktis in den Blick nehmen, einhergehen: Die Verhandlung und Kommentierung der expeditiven Aneignung in der literarisch-narrativen Aneignung sowie deren Konsequenzen für die literarische Aneignung selbst.
53 Müller: Fahrten, S. 111. 54 Vgl. Cook: Unaufhaltsamer Rutsch, S. 81; Hauenstein: Historiographische Metafiktionen, S. 65.
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Perspektiven der Aneignung I: Die Expedition zwischen Aufklärung und Romantik Die dokumentarischen Quellen des Romans, die Tagebücher der Mannschaft, besonders aber der 1876 erschienene Reisebericht Payers, zeigen die Literarisierung der Reise vor allem in Hinsicht auf die Verhandlung der Exploration und Eroberung des Nordpolargebiets:55 Payers Text gilt Dorit Müller als Modell für jegliche Reiseberichte der Polarliteratur. Er erweist sich ihr zufolge als Raumbeschreibung, die »erstens durch Entitäten aus den Bereichen unterschiedlicher Wissenschaften (vor allem Geologie, Klimatologie, Glaziologie)« bestimmt ist, »zweitens« aber auch »die Beschreibung kultureller Praktiken (Landnahme, Namensgebung, symbolische Zuschreibungen)« in den Blick nimmt. Die Arktis werde dadurch zum »Anlass, Gegenstand und strukturierende[n] Element des Schreibens; zugleich wird ihre Erkundung im Medium der Literatur reproduziert«. Payers Reisebericht sei darum »drittens durch Rekurse auf ästhetische Verfahren und spezifisch literarische Darstellungsformen bestimmt«. Der Roman nimmt diese Ebenen auf und verleibt sie sich ein. Dabei dienen die verschiedenen Stimmen der Expeditionsteilnehmer einer unterschiedlichen Perspektivierung des Polarraums und stehen exemplarisch für die Aneignungspraktiken des Eroberns und Entdeckens und damit für die Arktiskonzeptionen des 19. Jahrhunderts: Es entsteht ein polarer Raum, »der in seiner jeweiligen sich wandelnden Ausgestaltung und Zurichtung zugleich ungebändigt und domestiziert, beseelt und leblos, greifbar und uferlos, geheimnisvoll und entzaubert, unerreichbar und territorial vereinnahmt scheint«.56 Vermittelt wird dieser ambiva-
55 Vgl. Payer: Nordpol-Expedition. Zur Rezeption der Payer-Weyprecht-Expedition und ihrer literarischen Erzeugnisse vgl. Schimanski/Spring: Passagiere. Schimanski und Spring zeichnen die Rückkehr der Besatzung der Tegetthoff nach, zuerst über die in unmittelbarer zeitlicher Nähe stattfindenden Empfänge, anschließend über die Texte, die zur Expedition verfasst wurden bis hin zu Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis. Dabei unterteilen sie in fünf Zeitabschnitte in unmittelbarer Nachfolge der Expedition – der fünfte wurde durch Die Schrecken des Eises und der Finsternis eingeläutet: »Ransmayrs Roman aus dem Jahr 1984 stellt eine Zäsur in der Rezeptionsgeschichte dar und konkurriert in seiner diskursiven Bedeutung mit Payers bis dahin hegemonialem Narrativ der Expedition. [...] Die Öffnung Russlands ermöglichte österreichische und österreichisch-russische Nachstellungen der Expedition auf Franz-Joseph-Land, und in Fernsehserien, Ausstellungen, durch Performances und Bildbände wurden weitere Versionen der Expedition präsentiert. Etliche dieser Reinterpretationen und Remediatisierungen wurden entweder von Ransmayrs Auslegung aktiv inspiriert oder zumindest in Kenntnis davon geschrieben.« (Ebd., S. 21f.) 56 Alle Zitate Müller: Fahrten, S. 112, 117.
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lente, in der Terminologie Deleuzes und Guattaris gleichzeitig als glatt wie gekerbt zu bezeichnende Raum maßgeblich über die Perspektiven der Kommandanten, »dem ernsten beruhigenden Forscher Weyprecht und dem begeisterten Entdecker Payer«, ergänzt durch Tagebucheinträge anderer Mannschaftsmitglieder, etwa dem Jäger Haller und dem Maschinisten Krisch.57 Über Zitate aus seinem eigenen Reisebericht wird Payer im Roman als Eroberer mit einem »ins Groteske überdrehten Vollständigkeitsdrang« etabliert,58 der »in der Entdeckung« – und, so ist zu ergänzen, Benennung – »des unbekannten Landes die eigene Selbsterhöhung« sucht, wie Fröhlich meint;59 Weyprecht dagegen erscheint als rational geprägter Wissenschaftler, der weniger an der Eroberung interessiert scheint als daran, »das Meßbare zu messen und das Unmeßbare meßbar zu machen«.60 Durch die im Roman verteilten Tagebucheinträge entsteht das Bild eines Wissenschaftlers, dem es vor allem darum geht, »diesseits des Abenteuers der geographischen Entdeckung den homogenen Raum der Wissenschaft [...] zu proklamieren und zu realisieren«. 61 Beobachtungsstationen und Messpunkte zu errichten, Ordnung herzustellen, dies ist das Anliegen Weyprechts – und nicht um die Bezwingung der unwirtlichen Natur, die es dem ›Kommandanten zu Lande‹, Payer, angetan zu haben scheint. Der Roman positioniert Payer darum nach Munz-Krines als »enthusiastische[n], romantische[n] und impulsive[n] Gegenspieler von Weyprecht«.62 Er ist damit nicht der aufklärerisch-wissenschaftlichen Perspektive Weyprechts, dem »Enlightenment discourse of rationality« verpflichtet, sondern befindet sich im Roman eher »in line with a Romantic tradition«: Durch ihn wird das
57 SEF, S. 142. 58 Honold: Das weiße Land, S. 85. 59 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 128. 60 SEF, S. 267. Ransmayr nutzt diese Formulierung häufig, gerade um Kritik am aufklärerisch wissenschaftlichen Unternehmen der Entdeckung und Vermessung der weißen Flecken zu nehmen, so etwa in seinem Debut Strahlender Untergang: »[A]n solche und ähnliche Leitsätze, / Langweilig und maßlos, / hat sich die alte Forschung / geklammert« (Ransmayr: Strahlender Untergang, S. 20). 61 Menke: Grenzüberschreitungen, S. 63. Für die Wissenschaft hat die Eroberung des Pols selbst, wie Menke Weyprecht zitiert, »›keine größere Bedeutung als jeder andere in höheren Breiten gelegene Punkt‹« (ebd.). Weyprecht erträumt sich dagegen ein »System von Beobachtungsstationen, von Polarwarten, die der Beschreibung der arktischen Erscheinungen Beständigkeit und den Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit garantieren würde. Solange der nationalistische Ehrgeiz einer bloßen Entdeckungsreise und die qualvolle Eroberung von Eiswüsten die Hauptmotive der Forschung blieben, sei kein Platz für die Erkenntnis.« (SEF, S. 263) 62 Munz-Krines: Expeditionen, S. 201.
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Erhabene und der Schrecken am Eis herausgestellt und Payer dadurch zum an den Schrecken des Eises und der Finsternis Leidenden, aber auch zum Bezwinger dieser Leiden stilisiert.63 Während der Zeit der Einfrierung der Tegetthoff und bis zur Entdeckung des Neulands sind die Tagebucheinträge der Mannschaft erstens geprägt vom Kampf gegen das Eis, das die festsitzende Tegetthoff zu zermalmen droht, zweitens durch interne Probleme – Streitigkeiten und Eifersüchteleien zwischen den Kommandanten werden vom Erzähler ebenso abgebildet wie die Langeweile der Mannschaftsmitglieder während der Zeit im Eis – und drittens durch geradezu lyrische Reflexionen des Romantikers Payer, etwa zum ersten Sonnenaufgang nach langer arktischer Nacht am 19. Februar 1873: »Düster, traumhaft ragen die verfallenen Kolosse des Eises gleich zahllosen Sphynxen in das strahlende Lichtmeer hinein; spaltenumringt starrten die Klippen und Wälle und lange Schatten warfen sie über die diamantsprühende Schneebahn.« 64 Es sind dies allesamt Versuche, die absolute Leere zu füllen: Weyprecht ringt dem Eis Daten und Zahlen ab, die Mannschaft beschränkt sich auf die nötigsten Notizen, Payer sucht die Introspektion, er schreibt und malt: Sein Umgang mit dem polaren Raum ist geprägt von ästhetischer Reflexion, seine verschriftlichten Gedanken und Zeichnungen zeigen, dass das Eis, wenn es nicht erobert, erkundet, kartographiert werden kann, wenn die Leere nicht körperlich gefüllt werden kann, nur durch ästhetische Aneignung zivilisiert, ja sogar überhaupt nur auf diese Weise begreifbar gemacht werden kann: Der lyrische Bericht und die Zeichnung werden zu Zeugnissen der eigenen Anwesenheit gegenüber eines Raums, dem kein anderes Zeugnis abgerungen werden kann.65 In dem Moment aber, in dem die Expedition Neuland sichtet, einen Ort erreicht, der als Expeditionsziel verstanden, gedeutet oder perspektiviert werden kann, setzt
63 Martin: Campi deserti, S. 151. 64 SEF, S. 146. 65 Zu den schriftlichen Hinterlassenschaften für die Nachwelt – im Falle ihres Verschwindens, einer missglückten Rückkehr oder ähnlichem – zählt etwa auch eine Flaschenpost, die Payer und Weyprecht »am 14. Februar 1873« im Eis hinterlassen. Geradezu beispielhaft zeigt sich hier die ironisch-kritische Haltung des Erzählers, der diese Aneignung beißend kommentiert: »Achtundvierzig Jahre wird es dauern, bis ein norwegischer Robbenschläger die erste der [...] Flaschen finden wird; die in dem Dokument angegebenen Adressaten – die Marinesektion Wien und die kaiserlich-königlichen Konsulate – werden zu dieser Zeit bereits verschwunden sein, die Monarchie aufgelöst und die Expeditionskommandanten längst tot; der greise Vizeadmiral i.R. Gustav Brosch wird die Nachricht von der Auffindung der Flaschenpost mit [...] dem Wunsch kommentieren, daß diese kühne Forschungsreise niemals der Vergessenheit anheim fallen möge ... Aber gut.« (Ebd., S. 145)
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bei Payer der Modus expeditiver Aneignung als automatisierter Prozess ein: Bereisung, Benennung, Aufzeichnung. Der Roman dokumentiert die Aneignung des neuentdeckten Franz-Josef-Lands als »Erlösung der Alten Welt von einem ihrer letzten weißen Flecken«, berichtet über Payers Schlittenreisen über das Land, die er nach der ersten Sichtung am 30. August 1873 aufgrund der arktischen Nacht erst im März 1874 antreten kann. Payer und sechs weitere Teilnehmer ziehen aus mit ihren Schlitten und lassen, so scheint es, keine Bucht, keine Erhebung, keinen Stein unbenannt: »Hier ein Cap Tegetthoff, dort der Nordenskjöld-Fjord, der Tyroler-Fjord, da eine Hall- und eine McClintock-Insel und in der Ferne die Wüllerstorf-Berge und der Sonklar-Gletscher«.66 Dabei treibt Payer die Teilnehmer seiner Landexpedition bis zum äußersten, um auch wirklich alles zu taufen, kartographieren, festzuschreiben. »Das einzige Resultat dieser kaum überlebbaren Strapaze ist die Benennung eines bis dahin weißen Fleckens auf den Landkarten, die dieses nach wie vor weiße, nämlich ganz vom Eis bedeckte Niemandsland von nun an ›Kaiser-Franz-JosefLand‹ nennen werden.«67 Es sind Namen, die Payer dem Eis auferlegt, mit dem er es bannt: Das »unerträglich Unbestimmte« des Polargebiets, dieses atopischen Raums, kann aus Sicht Payers nur durch Benennung bewältigt werden, so Oesterhelt: »Das bedrohliche Weiß wird mit Tinte überschrieben.«68 Die absolute Leere wird somit nicht nur ästhetisch-reflexiv, sondern tatsächlich gefüllt und angeeignet: »to ›baptize‹ [...] is ›to colonize‹«; eine Kolonisierung durch Zeichen, Namen, gemalte Küstenlinien – der Raum selbst bleibt aber weiterhin ungreifbar, nur in der Schrift kann die Eroberung festgehalten werden.69 Payers Landexpedition ist durchdrungen von einem die expeditive Erschließung der weißen Flecken der Landkarten repräsentierenden Programm, das Dünne als kartographische Imagination bezeichnet und das bereits im vierten Kapitel dieser Studie als zentral für eine mehrstufige Aneignungspraxis gefasst wird. So steht für Dünne die Expedition am Beginn der Imagination, aus der eine Landkarte und ein Logbuch folgt, die wiederum eine literarische Verarbeitung im Reisebericht oder – wie am Beispiel von The Narrative of Arthur Gordon Pym deutlich wurde – die Fiktionalisierung der Reise zur Folge hat und die wiederum neue Abenteurer fasziniert und zu neuerlichen Expeditionen inspiriert. Die kartographische Imagination führt im Falle Payers schließlich so weit, dass er, kurz vor der Rückkehr von seiner Vermessungstour, auf dem neuen FranzJosef-Land auch jene Erscheinungen benennt, welche er nur am Horizont erkennen kann: »Am Abend ist das Land plötzlich zu Ende. Tief unter ihnen liegt wieder das Meer, liegt ein schwarzer Streifen offenen Küstenwassers. Jetzt ist der Horizont
66 Beide Zitate ebd., S. 159, 208. 67 Gellhaus: Verblassen der Schrift, S. 107. 68 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 204. 69 WtS, S. 144.
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plötzlich leer. Aber nein, sagt Payer, das sei keine Wolkenbank, das müßten blaue Alpensäume sein, Gebirge.« Es stellt sich als Trugschluss heraus, dass dieses Land existiert. Payer, am Strand der weiten Welt stehend, sitzt dem arktischen Konjunktiv, diesem Motor der polaren Aneignung, ein weiteres Mal auf und benennt Länder, die nicht existieren. Der Name, mit dem Payer dieses Land belegt, macht die Ironie dieses Prozesses deutlich: Er nennt es »Petermann Land« – ein Land benannt nach dem Protagonisten der kartographischen Imagination und des arktischen Konjunktivs, der mit seinen falschen Karten immer wieder die Hoffnung auf einen eisfreien Nordpol lieferte. Ein Land, dessen Festschreibung trotz seiner Unerreichbarkeit ebenfalls wieder neue Expeditionen hervorruft: »Mehr als ein Jahrzehnt wird verstreichen, bis Fridtjof Nansen und sein Begleiter Hjalmar Johansen an dieser Küste erkennen werden, daß nur Leere ist, wo Payer Alpen sah, daß jenes nördliche Bild eine Täuschung war, eine Dunstbank, eine Spiegelung, Wahnvorstellung, al70
les, nur kein Land.«
Dies ist die Konsequenz der kartographischen Imagination: Aus einem expeditiven wird ein ästhetischer Aneignungsprozess im Medium der Schrift, zunächst in der Karte und dann in der Literatur. »Der Weiße Fleck auf der Landkarte, den Payer und Weyprecht schließlich mit den blassen Umrissen von Franz-Josef-Land ausfüllen, regt die Protagonisten immer wieder an, die Leere zu umschreiben und das leere Zeichen mit Sinn zu füllen.« 71 Die Perspektivierungen der österreich-ungarischen Expedition gegenüber dem arktischen Raum sind im Roman also, wo irgend möglich, verbunden mit einer schriftlichen Aneignungspraxis: dem Eintrag in Log-, Notiz- oder Tagebuch, dem Verzeichnen von Daten in wissenschaftliche Tabellen, dem Ausfüllen der weißen Flecken der Landkarte – ansonsten bleiben nur Introspektion, Reflexion, Lyrik, Kunst. Gegen die Aneignungspraktiken der Eroberung und Vermessung, gegen Weyprechts Wissenschaftsblick und Payers Benenennungsorgie positioniert der Roman jedoch bereits auf der Ebene der Dokumentation die Tagebucheinträge der Mannschaft, die Gewöhnliches wie Außergewöhnliches – das Wetter, den Tagesablauf im Eis, den Tod eines Kameraden oder die Entdeckung des Franz-Josef-Lands – in knappen, nüchternen Worten wiedergeben. So notiert etwa der Jäger Haller:
70 Alle Zitate SEF, S. 230. 71 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 236.
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»21. Februar, Freitag: Helles Wetter. Klotz und ich mit erfrorenen Füßen marod. Furchtbare Schmerzen. 22. Samstag: Helles Wetter. Klotz und ich marod. In der Frühe kommt wieder ein Bär zum Schiff. Weil noch niemand auf war, wie der wachhabende Offizier und ein Matrose, wurde der Bär ohne Konfusion erlegt. 23. Sonntag Um 11 Uhr Kirchenvortrag. Klotz und ich marod, deshalb konnten wir dem Gottesdienst nicht beiwohnen. 24. Montag: Klotz und ich fußmarod. 25. Dienstag: Helles Wetter. Klotz und ich marod. Unter der Mannschaft werden Geschenke 72
zum Ausspielen gegeben. Ich habe eine Flasche Himbeersaft gewonnen.«
Die Nüchternheit der Tagebucheintragungen konterkariert Payers eloquente Reiseerinnerungen ebenso wie Weyprechts im ›plain style‹ der Akademien verfasste Notizen zur Expedition. Statt wissenschaftlicher Erkenntnis und heroischer Eroberung Erfrierungen und Eisbären, Wetteraufzeichnungen und Himbeersaft. Auf diese Weise erreicht der Text eine erste Entmythologisierung der Expedition. Der Roman, so argumentiert Hauenstein, dekonstruiere »die Heroizität der PayerWeyprecht-Expedition«, die Tagebucheinträge der Mannschaft dienen als »realistische Schilderungen des Grauens, die von den durchlittenen Qualen und Ängsten der Nordpolfahrer berichten«.73 Payer und Weyprecht, eigentlich dazu auserkoren, als Helden der Geschichte zu dienen, da ihre Geschichte »in den literarischen Verarbeitungen, in denen die historischen Helden zu literarischen Helden umgeschrieben werden, weitergeführt« werde, werden als Figuren ihrer Heldenfunktion beraubt und dekonstruiert.74
72 SEF, S. 147. 73 Beide Zitate Hauenstein: Metafiktionen, S. 62f. 74 Munz-Krines: Expeditionen, S. 21. Munz-Krines zufolge werden die unterschiedlichen Perspektiven genutzt, »um massiv Kritik am heroischen Entdecker-Zeitalter zu üben und den ›Wahnsinn‹ der Landerkundungen deutlich zu machen«. Exemplarisch gelinge dies dem Text besonders bei der Schlittenreise zur Erkundung des Franz-Josef-Lands, weil er hier »die Perspektive der Gefolgsleute« einnehme, gegen die Perspektive Payers stelle und auf diese Weise »einen Bericht von unten« als Gegentext zu Payer verfasse. Payer selbst scheitere schließlich daran, dass »seine Entdeckung nicht anerkannt und in für ihn ausreichendem Maße gewürdigt wird« (ebd., S. 201-203).
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Die Perspektiven der Aneignung II: Mazzini und die ›Erfindung der Wirklichkeit‹ An dieser Dekonstruktion ebenso maßgeblich beteiligt sind die Perspektiven derjenigen Figuren, die den Roman vervollständigen: Mazzini und der Ich-Erzähler. Mazzini aber, das Bindeglied des Plots, erhält, anders als Payer und Weyprecht und anders als der Erzähler, der kritisch kommentierend wie selbstbezüglich in den Roman eingreift, keine eigene Stimme. Dem Leser gegenüber ist Mazzinis Gedankenwelt, seine Stimme, sein ›Ich‹ opak und nicht zugänglich. Was wir über ihn wissen, erfahren wir vom Erzähler: Dieser präsentiert Mazzini als nicht gerade groß gewachsenen Italiener, der als »Sohn des aus Wien stammenden Tapezierers Kaspar Mazzini und dessen Frau Lucia, einer Triestiner Miniaturmalerin, im Triest des Jahres 1948 zur Welt« kommt. Der Leser erfährt, dass Mazzini, zum Zeitpunkt der Handlung ein »zweiunddreißigjährige[n] Wanderer«, der »oft alleine und viel zu Fuß« reist, als Urgroßneffe Antonio Scarpas, eines der Matrosen der Tegetthoff, früh mit Mythen und Erzählungen über den »qualvolle[n] Weg durch das Eis« der Expedition konfrontiert wird, sich in Wien niederlässt und in den Freundeskreis der Buchhändlerin Anna Koreth gerät, wo der Erzähler schließlich eine eher lose Bekanntschaft mit dem Mann schließt und ihn kritisch beäugt: »Nein, ich habe nicht zu seinen Freunden gehört.«75 Der Erzähler nimmt Mazzinis Tagebucheinträge in sein Narrativ auf und gibt sie in der indirekten Rede wieder, enthält dem Leser also den Zugang zur Stimme und Perspektive des Protagonisten – im Gegensatz zu denen der Expedition – vor. So scheint es, dass, wie Kopp-Marx schreibt, »lediglich Mazzinis kleines Kompendium mit den Stimmen all der Besessenen, die irgendwann einmal vom ewigen Eis des Nordpols gesprochen haben« direkt in den Text übernommen wird.76 Und doch legt der Erzähler ein direktes Zitat aus Mazzinis Tagebuch vor, eine Reflexion über das Verhältnis von Reisen und Schreiben, Abenteuer und Erzählung. »›Dem Unterhaltungsbedürfnis ist ohnedies alles gleich[.] [...] [E]s ist wohl immer dieselbe verschämte Aufbruchsbereitschaft, die uns nach Dienstschluß von Dschungelmärschen, Karawanen oder flirrenden Treibeisfeldern träumen läßt. Wohin wir selbst nicht kommen, schicken wir unsere Stellvertreter – Berichterstatter, die uns dann erzählen, wie’s war. Aber so war es meistens nicht. Und ob man uns vom Untergang Pompejis oder einem gegenwärtigen
75 Alle Zitate SEF, S. 16, 11, 17, 24. 76 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 235.
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Krieg im Reisfeld berichtet – Abenteuer bleibt Abenteuer. Uns bewegt ja doch nichts mehr. 77
Uns klärt man auch nicht auf. Uns bewegt man nicht, uns unterhält man ...‹«
Mit diesem Nachdenken über das Verhältnis von Reise und Erzählung ist das Thema des Protagonisten Mazzini bestimmt: Sein Programm der ›Erfindung der Wirklichkeit‹ ist es, das den Roman begründet, weil es über einen zunächst narrativen und dann expeditiven Aneignungsprozess die Annäherung Mazzinis an die Arktis und seiner Perspektive auf diesen Raum etabliert. Dabei verläuft Mazzinis Aneignung der Arktis eben genau umgekehrt zur kartographischen Imagination, welche die Expedition befeuerte: Mazzini betreibt zunächst ein imaginativ-narratives Spiel mit der Arktis: Er erfindet Geschichten und überprüft diese an der Wirklichkeit. »Das sei [...] im Grunde nichts anderes als die Methode der Schreiber von Zukunftsromanen, nur eben mit umgekehrter Zeitrichtung.« In der Payer-WeyprechtExpedition findet er eine historische Entsprechung jener Aneignung der Arktis, die er in Gedanken narrativ erschlossen hatte: »So trieb Mazzini die Gestalten seiner Phantasie immer weiter in den Norden hinauf, dorthin schließlich, wo nicht einmal mehr Eskimos lebten – ins Packeis der Hocharktis.« Als er Payers Reiseberichte findet, hält er »einen Beweis für eines seiner erfundenen Abenteuer in den Händen«, die Wirklichkeit holt damit die Erfindung ein – und mit ihr verwandelt sich der Wunsch nach narrativer Erschließung des glatten arktischen Raums in ein Bedürfnis nach realem Nachempfinden: Mazzini trifft Vorkehrungen zur Reise, bucht den Flug nach Spitzbergen, deckt sich mit Proviant, Kleidung, Ausrüstung ein und schifft sich schließlich auf einem Forschungsschiff ein, um das Franz-Josef-Land, auf den Spuren der Payer-Weyprecht-Expedition, zu erreichen. Ihn treibt es hinaus in die »flirrenden Treibeisfelde[r]« des Nordpolargebiets, er begnügt sich eben nicht damit, »Stellvertreter« zu sein.78 Trotz der Umkehrung von Erzählung und Reise wird die strukturelle Verbindung beider Aneignungsformen durch Mazzinis Geschichte gestärkt. Mazzini ist »Nachfahre und Nachfahrer, lesender Held und nachreisender Abkömmling.« Honold zufolge ist er als solcher »verstrickt im doppelten Diskurs der eigenen und der vorausgesetzten Geschichte«.79 Er wiederholt die Eroberung der Arktis, sucht die Weite in den Spuren – den literarischen wie den expeditiven – der Pioniere der Payer-Weyprecht-Expedition. Seine in der postmodernen Struktur des Romans als unbedingt postmodern anzusehende Reise kann zwar nur wiederholen, was bereits geschehen ist, jedoch, so meint Beate Müller, illustriere sie »a search for new aes-
77 SEF, S. 22. 78 Alle Zitate ebd., S. 21f. 79 Beide Zitate Honold: Das weiße Land, S. 73f.
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thetic territories«.80 Denn, wie mit Oesterhelt ergänzt werden kann, die »Leere der Arktis« wird für Mazzini »zur Welt des Möglichen«, sie stellt den Imaginationsraum dar, in dem er seine Wirklichkeit erfinden kann.81 »Aus Mazzinis Perspektive ist die Arktis lokalisierbarer Sehnsuchtsraum und Fluchtort«, meint darum Dorit Müller, wodurch die Arktis auf gleich zweierlei Weisen konstruiert wird: als imaginärer wie territorialer Raum, als narrativ-fiktive wie auch reale Welt.82 Damit spiegelt die Ebene von Mazzinis Arktiskonstruktion die beiden ihn umgebenden Erzählebenen: Einerseits die reale Expedition ins Eis der Arktis, andererseits die imaginative Rekonstruktion der Arktis durch den Erzähler. Allen dreien gemein ist ihre Verhandlung von Reise und Schrift, von Erzählung und Bewegung. Während aber die Payer-Weyprecht-Expedition nach einem langen Marsch über das Eis gerettet wird, ihre Kommandanten nach ihrer Rückkehr ins Habsburger Reich als Helden gefeiert werden und sie ihre Reiseberichte und Tagebücher veröffentlichen, während der Ich-Erzähler seinen heimischen Schreibtisch nicht verlässt und dennoch in seiner Imagination eine Geschichte über die Arktis zu erzählen vermag, verbleibt der doppelt, in der Imagination wie im realen Raum, reisende Mazzini ohne Geschichte. Zwar führt er Tagebuch und bewegt sich auf dem Forschungsschiff Cradle durch das Nordpolargebiet, doch erreicht er weder sein Ziel, noch schafft er es, seine Reise in Literatur zu verwandeln: Denn die Cradle muss umkehren, kurz bevor sie das Franz-Josef-Land erreicht und Mazzini, nach Spitzbergen zurückgekehrt, bricht seine Niederschrift im Tagebuch ab, erlernt den Umgang mit dem Schlittenhundegespann, läuft los und geht, wortwörtlich, »im arktischen Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens verloren«.83 Die Reise auf der Cradle ist freilich ein Paradebeispiel der kerbenden Aneignung des glatten Raums Arktis, das Scheitern dieser Reise ist jedoch ebenso exemplarisch für einerseits die Bedingungen des glatten Raums wie andererseits für die Einstellung, die der Roman gegenüber einem solchen Reisen einnimmt: Schließlich ist es dieses Scheitern der kerbenden Reise, das Mazzini erst zu seinem Verloren Gehen und damit zu einer glatten Fußgängerbewegung führt. Dem Leser wird dies als Fußreise ohne Widerkehr im Eis des Nordpolargebiets präsentiert: »Es war kalt. Mazzini war tot« – so konstatiert der Erzähler.84 Mit der Wiederholung der Payer-Weyprecht-Expedition wird nun endgültig gebrochen, die geglückte Rückkehr der Mannschaft der Tegetthoff ist Mazzini nicht bestimmt. Dieser – so deutet es der Erzähler und mit ihm Teile der Sekundärliteratur – scheitert
80 Müller: Sea Voyages, S. 15. 81 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 207. 82 Müller: Fahrten, S. 124. 83 SEF, S. 11. 84 Ebd., S. 26.
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an der expeditiven Aneignung der Arktis und stellt die Erlebnisse und Ergebnisse von Polarexpeditionen infrage. Dadurch, dass Mazzini versucht, »in die gelesene Geschichte eintreten zu können«, verdopple er das Scheitern all jener Expeditionen, die in den Passagentexten aufgeführt werden, meint beispielsweise Kopp-Marx: »Dem kollektiven Unglück folgt ein Jahrhundert später das individuelle.«85 Auch Munz-Krines sieht in Mazzinis Verloren Gehen einen Beleg für das Scheitern, er verkörpere »den verwirrten Antihelden«, an dem exemplifiziert werde, »dass die Erlebnisse anderer nicht wirklich nachempfunden und nacherlebt werden können«.86 Auf diese Weise entmythologisiere der Nachfahrer Mazzini nicht nur die Payer-Weyprecht-Expedition, sondern zeige, so Innerhofer, die wahre Substanz aller Polfahrten: »Nach Abzug von Eitelkeit, Ruhmsucht, Wahn bleibt Leere, die Vergeblichkeit der ungeheuren Anstrengungen.«87 Die Eroberung der Arktis bleibe ein sinnloses Unterfangen und die Helden der Arktis könnten in der Postmoderne nicht mehr als solche begriffen werden, meint Beate Müller: Mazzinis »death[...] symbolize[s] the postmodern rejection of traditional, all-conquering explorerheroes«.88 Mazzinis Verloren Gehen verweigert ihm also nicht nur ein Dasein als »Stellvertreter« der Payer-Weyprecht-Expedition, es verweigert ihm schließlich auch eine Funktion als »Berichterstatter« seines Abenteuers für die Daheimgebliebenen.89 In Bezug auf die ›histoire‹ hat diese Deutung sicherlich ihre Berechtigung, schließlich scheitert da wirklich einer krachend an der wiederholenden Auslebung einer imaginierten und erlesenen Reise – und wiederholt das Schicksal all jener im Eis gefangenen, vom Eis gezeichneten oder gar verschlungenen Abenteurer. Durch die endgültige Verweigerung der Berichterstatterfunktion erhält Mazzini als »Verbindungsglied zwischen Autor (Erzähler) und Expedition« jedoch auch eine aktive, poetologische Funktion im Text. 90 Gerade weil die Arktis als leerer Raum dem Papier gleicht, kommt Mazzini als Protagonist, der als lotmanscher Held der Steppe sowohl im papiernen wie auch im realen Eisraum reist, eine Sonderstellung zu.91 Einerseits dient er als Filter der Payer-Weyprecht-Expedition für den Erzähler, er gerät in (s)eine eigene Geschichte, obwohl er in den Spuren anderer reist. Anderer-
85 Kopp-Marx: Petrarca und Madonna, S. 235. 86 Munz-Krines: Expeditionen, S. 204. 87 Innerhofer: Wege, S. 146. 88 Müller: Sea Voyages, S. 15. 89 SEF, S. 22. 90 Mosebach: Endzeitvisionen, S. 83. 91 Zum Konzept und den Qualitäten des ›Helden der Steppe‹ gegenüber den ›Helden des Weges‹ vgl. Lotman: Problem; TEIL I, Kap. 3, S. 133-135 in dieser Arbeit.
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seits nimmt er auch die Stellung des Autors ein, wie Gellhaus notiert. Mazzini sei es, »der die Archive durchforscht und das Material zusammengetragen hat, das die Rekonstruktion der Entdeckungsreise ermöglicht. Von ihm geht die Motivation, das Interesse am Thema aus. Als vollständige Metapher des Autors, dem sich der Erzähler als Hilfsfunktion unterordnet [...], ist er zugleich Figur des Romans und geht in ihm restlos auf.«92
Als Autorfigur personalisiert Mazzini »das poetologische Prinzip« der Schrecken des Eises und der Finsternis: Die Erfindung der Wirklichkeit strahlt nach Oesterhelt auf alle »Darstellungsebenen des Romans« aus, die »an der Unauflösbarkeit von Realität und Fiktion arbeiten und sich nur in deren Mischungsverhältnis unterscheiden«. Was wahr ist, was erfunden, dies ist eben keine berechtigte Frage, vielmehr rekurriert mit Mazzini der gesamte Text auf die Bedingungen des Erzählens: »So wie im gesamten Roman die historischen Dokumente die Wahrscheinlichkeit der poetischen Erfindung eher beglaubigen, als den fiktiven Gehalt zum Verschwinden bringen wollen, will auch Mazzini nicht die bloße Nacherzählung des Geschehenen, sondern die histori93
sche Legitimation des Erfundenen.«
Dies macht Mazzini zum »Träger einer immanenten Poetik«, die auf die »Reflexion über die Notwendigkeit, Bedeutung und Leistungsfähigkeit von Geschichten einerseits und die natürlichen Restriktionen des Erzählens andererseits« verweist, wie Fröhlich meint.94 Durch sein Verloren Gehen zeigt Mazzini an, dass die Thematisierung seines Verschwindens die Thematisierung des Schreibens und der Erzählung überhaupt ist. »Lässt sich eine literarische Textur in Landschaft übersetzen, in der Landschaft wiederfinden? In Ransmayrs erstem Roman [...] ist es [...] Mazzini, der in dieser Frage seinen Auftrag erkennt.«95 Ein Auftrag, für den diese ›poetologische Figur‹ mit Autorfunktion keine Stimme erhält, der dem Leser nur in der Vermittlung durch den Erzähler zugeführt wird. Mazzini, der die Erfindung der Wirklichkeit betrieben, das Material gesammelt, geordnet und kommentiert hat, wird im Text doppelt ausgelöscht: Wie Gabriel Marceau bei Verne ist er derjenige, der als Sammler hinter die Stimme des Erzählers zurücktritt, wie Arthur Gordon Pym ist er derjenige, der aus dem Text verschwindet, verloren geht und damit in den doppelt glatten Raum
92 Gellhaus: Verblassen der Schrift, S. 133. 93 Alle Zitate Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 208. 94 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 54. 95 Honold: Das weiße Land, S. 81.
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von Arktis und Papier eintritt. Es ist darum das Verhältnis von Literatur und Raum, von Stillstand und Bewegung, das in Mazzinis Verloren Gehen zum Thema wird, weil er zum ›out-of-place element‹ seiner eigenen Geschichte wird – und mit dem Erzähler einen weiteren Nachfahren mit einer weiteren, eigenen Perspektivierung der Arktis auf den Plan ruft. Die Perspektiven der Aneignung III: Der Ich-Erzähler Blicken wir nochmals auf die verdoppelte Aneignung der Arktis durch Expedition und Narrativ, so lässt sich festhalten: Weil das Narrativ als Double des Erfahrungsraums Arktis das Ziel der Expedition darstellt, wird die Literatur der Arktis selbstreflexiv – die Arktisreise thematisiert ihre eigene Literarizität und umgekehrt fungiert die Arktis »als Metapher und Allegorie, durch die die Texte von sich selbst sprechen und sich selbst hervorbringen«.96 Gerade aber weil die Arktis als Imaginationsraum in ihrer literarischen Aneignung immer auch die Aneignungspraxis jeglicher Literatur spiegelt – da diese, um die Erkenntnisse des ersten Teils hier anzuwenden, als Literatur stets den Blick von oben und damit Stillstand erzeugt, wo zuvor Bewegung war –, ist es für die Aneignung der Arktis durch den distanzierten Blick von oben nun gar nicht mehr »notwendig auf Reisen zu gehen, die Phantasie kann«, um mit Stefan Heyer die Erkenntnisse Deleuzes und Guattaris zu literarischen Aneignungspraktiken zu zitieren, »das Meer auch an den Schreibtisch tragen« – und also kann auch das Eis der Arktis im Blatt Papier erscheinen, bereist und beschrieben werden: »Der Schreibtisch als Ort, der die ganze Welt vereinigt.«97 Im Gegenzug entsteht laut Hanna Eglinger aber auch erst am Schreibtisch das zu tradierende Selbstbild des Polarreisenden, »the polar explorers’ own stories essentially shape their heroic images within the arctic discourse«.98 Es nimmt darum nicht wunder, dass mit der Konjunktur der arktischen Eroberung auch eine Konjunktur der literarischen Aneignung einhergeht und damit auch das, was Anka Ryall, Johan Schimanski und Henning Howlid Wærp als »Arcticism« beschrieben haben: Der Begriff meint die Wahrnehmung der Arktis durch das Medium der Literatur, sodass man sich als Schreibender wie als Leser selbst als Eroberer, Wissenschaftler, Scheiternder und auch als Verloren Gegangener imaginieren kann – ohne diese Rolle realiter ausfüllen zu müssen.99 Im Ich-Erzähler der Schrecken des Eises und der Finsternis findet sich nun ein solcher Schreibtischreisender, der nicht nur die Imaginationen des von Mazzini
96 Müller: Fahrten, S. 119. 97 Heyer: Kunstkonzept, S. 18. 98 Eglinger: Traces, S. 2. 99 Ryall/Schimanski/Wærp: Arctic Discourses, S. x.
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verkörperten ›Arcticism‹ selbst ohne Reise ins Polargebiet aufnehmen und wiedergeben kann, sondern auch seine eigene Variante des ›Arcticism‹ pflegt. Dieses ›Ich‹, dem die Notizen und Tagebücher Mazzinis nach dessen Verschwinden im glatten Raum des ewigen Eises zufallen, wird nämlich zunächst zu Mazzinis Leser – und dann zu seinem Autor. »Tatsächlich aufmerksam wurde ich auf Mazzini erst, nachdem er im Eis verschwunden war. Denn das Rätselhafte und Beklemmende an diesem Verschwinden begann seine Existenz rückwirkend und in einem Ausmaß zu durchdringen, daß allmählich alles, was dieser Mann 100
getan und womit er sich beschäftigt hatte, rätselhaft und beklemmend wurde.«
Es ist Mazzinis Funktion als ›out-of-place element‹, sein Verloren Gehen, das den Ich-Erzähler fasziniert, das ihn anregt, eine literarische Rekonstruktion der Geschichte und Geschichten Mazzinis zu gestalten. »Während Mazzini als realer Mensch den Autor nicht an seiner Person zu interessieren vermag, zieht er dessen Aufmerksamkeit auf sich, sobald sich sein Schicksal fiktional verwerten läßt.«101 Über sein Erzählprogramm, das ›Aus der Welt Schaffen‹ Mazzinis, rekonstruiert der Erzähler »aus kritisch-ironischer Außensicht die Innensicht Mazzinis auf den arktischen Raum«, so Dorit Müller. Durch die verdoppelte Vermittlung, erscheint die Arktis »[a]us der Perspektive des Ich-Erzählers« als »ein fragmentarischer, unerreichbarer, exterritorialer Raum«. 102 Unerreichbar, obwohl er immer tiefer in Mazzinis Nachlass eintaucht, das »›Zuende-Erzählen‹« Mazzinis »als Rekonstruktion« mit den »Mitteln des Historikers« angeht, historische Dokumente wie Notizen und Tagebücher Mazzinis liest, ordnet, kompiliert:103 »Ich tat ja seine Arbeit und bewegte mich in seinen Phantasien so zwangsläufig wie eine Brettspielfigur.« So sieht sich der Erzähler selbst als Spurensucher und Detektiv: »Mazzini wurde für mich zum Fall.«104 Damit wiederholt der Erzähler jedoch wiederum nur Mazzinis eigene Spurensuche, der Roman erzeugt nach Menke eine Doppelstruktur der Spurensuche in Eis und Papier, »den fiktiven Erzähler Mazzini, der die Nachfahrenschaft des Schreibenden auf der Spur seiner ›Vorläufer‹ diesen nachfahrend realisiert, wie auch dessen Doppelgänger, den fiktiven Erzähler als Nachfolger in den Schriftspuren Mazzinis«. Es ist die doppelte Aneignungsstruktur von Arktis und Papier, von Reise und Schrift, die den Ursprung negiert zugunsten
100 SEF, S. 24f. 101 Jerochin: Künstler, S. 287. 102 Beide Zitate Müller: Fahrten, S. 124. 103 Peter: Möglichkeiten, S. 108. 104 Beide Zitate SEF, S. 25.
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eines Modells der Nachfahrenschaft: »Die Spur ist Metonymie eines anderen, der hier gewesen sein wird; sie wird Nachfolger eingesetzt haben.«105 Der Ich-Erzähler lässt sich also begreifen – und versteht sich auch selbst – als Nachfahre(r) Mazzinis, dessen spurloses Verschwinden es ihm ermöglicht, selbst fiktional erzählerisch tätig zu werden – und gleichzeitig das Erzählen zu thematisieren.106 Immer wieder kommt er von Mazzini, von Payer und Weyprecht, von den zahlreichen Abenteurern und Eroberern der Geschichte der Arktis zurück auf sich, auf die Bedingungen seines narrativen Nachempfindens der Reise, seine Perspektive auf die Arktis. Der Erzähler, »constantly faced with the need to inscribe the page«, thematisiert Schreiben und Reisen als komplementäre Modi der Aneignung, der, mit Deleuze und Guattari gesprochen, Kerbung des Glatten Raums von Arktis und Papier. 107 Zum Zweck der Auserzählung, der vollständigen Einfassung Mazzinis wiederholt er sowohl die zuerst expeditive und dann literarisierte ArktisAneignung der Payer-Weyprecht-Expedition als auch den zunächst imaginativen und dann expeditiven Aneignungsprozess Mazzinis. Was dem Leser hier vorliegt, ist ein Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen über einen Raum, der keinen Überblick zulässt, und über ein Subjekt, das sich in diesem Raum verloren hat. Somit verdoppelt der Erzähler die Autorenposition des Überblickssubjekts und ähnelt dem Kartographen Petermann in dessen »Kartennest«: 108 Er »domestiziert das Abenteuer, an die Stelle der unendlichen Weiten tritt die Intimität des Studierzimmers, das Blau des Meeres ist zur Papierfarbe geworden«.109 Auf seinem Schreibtisch, in seinem Schreibzimmer ordnet er und sortiert er die ihm – durchaus im wörtlichen Sinn – vorliegenden Materialien: »Meine Wände habe ich mit Landkarten, Küstenkarten, Meereskarten ausgeschlagen [...]. An diesen Wänden wiederholen sich die Länder, die immer gleichen, leeren, zerrissenen Länder.«110 Jedoch ist er Spurensucher in einem Raum, in dem keine Spuren hinterlassen werden können. Denn die Arktis löscht jegliche Spur aus: Die Straßen und Gebäude, die die Mannschaft der Tegetthoft in den Zeiten des Festsitzens ins Eis gehauen hat werden durch Eispressungen und Schneestürme ebenso getilgt wie die Tegetthoff selbst und auch Mazzini und dessen Fußspuren werden ausgelöscht – nichts bleibt als Leere. Doch es gilt dem Erzähler gerade diese Leere, die das Verschwinden des ›out-of-place element‹ Mazzini hinterlässt, zu füllen, das
105 Menke: Polargebiete, S. 577. 106 Vgl. Müller: Sea Voyages, S. 15. 107 Nethersole: Marginal Topologies, S. 144. 108 Felsch: Petermann, S. 216. Zur Autorenposition des Überblicks vgl. TEIL I, Kap. 3.1 Die Problematik des Textes. 109 Innerhofer: Wege, S. 149. 110 SEF, S. 274.
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›Aus der Welt Schaffen‹ Mazzinis lässt sich verstehen als Paradoxon der Tilgung durch Schriftstellung, als Versuch, die unwahrnehmbare Bewegung Mazzinis im Eis der Arktis nachvollziehbar zu machen, zu rekonstruieren und festzuschreiben. Was bleibt, ist jedoch eine »Chronik des Scheiterns« der Nordpolreisen des Romans; wie der Ruhm Payers und Weyprechts verblasst und Payer sich immer stärker in die innere und schließlich auch tatsächliche Emigration nach Paris zurückzieht, wie Mazzini am Versuch scheitert, das Franz-Josef-Land zu erreichen, und schließlich, nach Spitzbergen zurückgekehrt, mit einem Hundegespann ins Eis aufbricht, um nicht mehr wiederzukehren, so scheitert auch der Erzähler an seiner Spurensuche: »Ich werde nichts beenden und nichts werde ich aus der Welt schaffen.« Was bleibt, ist demnach ein Erzähler, der sich einzurichten weiß »in der Fülle und Banalität meines Materials«, der die Fakten immer wieder neu deutet und sich »in den Versionen zurecht[rückt] wie ein Möbelstück«.111 Das Scheitern am Erzählprogramm macht deutlich: Gerade weil es dem Erzähler in seiner imaginativen Rekonstruktion um die Herstellung des Überblicks als Strategie zur Auserzählung und damit Schriftstellung von Bewegung eines Verloren Gehenden geht, wird die Frage nach Au(k)torialität ebenso verhandelt wie die nach den Grenzen von Realität und Fiktion. In den Schrecken des Eises und der Finsternis verschwindet darum nicht nur der »traditional hero who is in control of the action«, sondern auch und vor allem »the traditional omniscient narrator«, so meint Beate Müller.112 Aus narratologischer Sichtweise, so argumentiert Hauenstein, habe man es zwar »mit einem selbstreflexiven, unfokalisierten Erzähler zu tun«, jedoch sei diese Perspektive keinesfalls vertrauenswürdig; als »overtly controlling narrator« problematisiere der Erzähler »die Vorstellung von Subjektivität« und könne keine »Sicherheit in der Vergangenheitswiedergabe anbieten«. Typisch für diesen Erzähler ist darum das »Ich weiß es nicht«, das ihn immer wieder umtreibt, das einerseits darum als Erzählmotivation zu gelten hat – beide vom Erzähler zusammengerafften Stränge, die Payer-Weyprecht-Expedition hier, Mazzini dort, sind »ontologisch parallel gestellt und verbunden durch die eingestandene erzählerische Unsicherheit und imaginative Konstruktion des rein fiktionalen und fiktionalisierten Geschehens« – und das andererseits die Grenzen der Fiktion wieder hereinholt.113 Indem er die Payer-Weyprecht-Expedition und Mazzini miteinander verwebt, erzeugt der Ich-Erzähler darum Attila Bombitz zufolge eine »Meta-Geschichte«, die »das Gedankenspiel als eine erzählerische Poetik, die in der Übergangssituation Fiktion und Wirklichkeit wurzelt«, thematisiert.114
111 Alle Zitate ebd., S. 91, 274. 112 Müller: Sea Voyages, S. 13. 113 Beide Zitate Hauenstein: Metafiktionen, S. 71, 57. 114 Bombitz: Mazzini-Nachlaß, S. 136.
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Durch den Erzähler werden Erzählen und Reisen, Weg und Schrift parallel gesetzt, »immer wieder« werden, so kann mit Honold argumentiert werden, »die strukturelle Vergleichbarkeit von Weg und Schrift, die Isomorphie von Reiseverlauf und Erzählfaden in Szene gesetzt«.115 Von entscheidender Bedeutung ist nun aber, dass die Isomorphie von Reisen und Erzählen gerade über das doppelte Scheitern von Erzählung und Reise ins Spiel kommt. Diesen Widerspruch deutet die Sekundärliteratur gewissermaßen als Metakommentar des Romans mit dem Ziel der Etablierung einer »critical attitude to totalizing modes of representation«.116 So stelle die Gleichbehandlung von authentischem und imaginativem Material nach Peter die »ungebrochene Glaubwürdigkeit des Zitationsverfahrens des Textes wieder in Frage. Was innerhalb des fiktionalen Romankontextes als beglaubigende Quelle aufgerufen wird, erweist sich zum Teil als Bestandteil der ›erfundenen Realität‹ der Textwelt«.117 Diese Infragestellung wiederum lasse sich auf die Ziele, Absichten und Verfahrensweisen der eingebrachten Texte übertragen: Kritisiert werde, so meinen etwa Munz-Krines und Fröhlich, die expeditive Aneignung, das aufgeklärte rationale Programm der Tilgung der weißen Flecken auf der Landkarte.118 »Aber wer würde zu behaupten wagen, daß alle Qualen und Leidenswege der Passagensucher sinnlos gewesen seien? Höllenfahrten für wertlose Routen? Immerhin hatten sie, wenn schon nicht dem Reichtum und Handel, so doch der Wissenschaft gedient, der Zerstörung der Mythen vom offenen Polarmeer, der Mythen von Paradiesen im Eis. Und den Mythos zerstört 119
man nicht ohne Opfer.«
Wie in diesen rhetorischen Fragen ist der gesamte Text, Munz-Krines zufolge, durch eine »kritisch-ironische Grundhaltung geprägt«, die besonders in den Exkursen zum Ausdruck kommt. 120 Auf diese Weise, so argumentiert Martin, übe der Roman Kritik am »modern scientific discourse«, um, im Gegenzug, »an evocative pastiche of intertexts that moves towards but can never entirely encompass an understanding of the incommensurable experience of survival in the extreme conditions of polar landscapes« anzubieten.121 Den hermeneutischen Imperativ für diese Interpretation bildet der dem Roman vorgeschaltete Prolog »Vor allem«. In diesem kurzen Vorwort wendet sich ein Wir-Erzähler an die Abenteurer und Leser, führt,
115 Honold: Das weiße Land, S. 70. 116 Müller: Sea Voyages, S. 13. 117 Peter: Möglichkeiten, S. 101. 118 Vgl. dazu Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 59; Munz-Krines: Expeditionen, S. 206-210. 119 SEF, S. 94. 120 Munz-Krines: Expeditionen, S. 197. 121 Martin: Campi deserti, S. 152.
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wiederum Erzählung und Reise eng und fragt: »Was ist bloß aus unseren Abenteurern geworden, die uns über vereiste Pässe, über Dünen und so oft die Highways entlang geführt haben?« Es ist die zentrale Frage des Romans, eine Frage, die nicht nur an die Reisenden und Abenteurer gestellt wird, sondern auch an die Erzähler und Leser.122 Spätestens mit diesem Vorwort wird erkenntlich, dass Ironie und Parodie als Erzählmittel, Hauenstein zufolge, ebenso dazu dienen, »die Offenlegung der Konstruiertheit der Erzählung« aufzuzeigen. 123 Hier zeigt sich die nach Dorit Müller »distanziert[e] Außensicht eines auktorialen Erzählers«, die dem Roman neben den Stimmen des Ich-Erzählers, Mazzinis oder der Tegetthoff-Mannschaft noch beigegeben wird. Wenn Müller davon spricht, dass über diese der »Wissensraum Arktis« konstruiert werde, so lässt sich daraus nicht nur schließen, dass auch die Exkurse – zumindest anteilsmäßig – zu jener auktorialen Erzählhaltung gezählt werden können, sondern dass die distanzierte Außensicht auch eine Kommentarfunktion über den Ich-Erzähler enthält.124 Denn die im Vorwort wie auch den Exkursen bisweilen ironisch, bisweilen beißend hervorgebrachte Kritik an den Expeditionen und Abenteurern fällt auch auf den Erzähler selbst zurück, dessen narratives Konzept nicht aufgeht, weil er Mazzini zu rekonstruieren versucht. In den Schrecken des Eises und der Finsternis, so Peter, scheitere darum das ›Aus der Welt Schaffen‹ »zugunsten einer Kontingenz, die nicht eine einzige, sondern unterschiedliche denkbare Versionen der Geschichte bereithält«. 125 Oder anders gesagt: An der Kompilation der Texte arbeitet ein erzählendes Ich, ein ›writing self‹, das sich über Josef Mazzini definiert, über den es den Überblick gewinnen, ihn literarisieren und in Schrift stillstellen will. Gleichzeitig wird auch der Erzähler als beim Erzählen erlebendes Ich eingebettet in eine Kritik, die ihn zum ›written self‹ des Vorworts macht – und eine neue Ebene der Beziehung zwischen Mazzini und dem Erzähler öffnet. Nimmt man an, Peter habe Recht, wenn sie behauptet, dass im Roman das Lesen durch den Erzähler zum Akt der Entdeckung und »selbst als geographische Bewegung metaphorisiert« wird, dann muss mit der Lektüre noch weiter hinausgegangen werden zur nächsten Entdeckung. Denn die ironischen, kritischen, verzweifelten Kommentare, Imaginationen, Verweise des Erzählers lassen sich weiterverfolgen, über Die Schrecken des Eises und der Finsternis hinaus: Das transparente Ich des Erzählers wie auch das opake Ich Mazzinis sind Ergebnisse einer Kompilation.
122 SEF, S. 9. 123 Hauenstein: Metafiktionen, S. 73. 124 Beide Zitate Müller: Fahrten, S. 124. 125 Peter: Möglichkeiten, S. 108f.; vgl. Munz-Krines: Expeditionen, S. 206.
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6.4 ICH IST EINE KOMPILATION In den Schrecken des Eises und der Finsternis wird die Arktis, ganz in der Tradition des Dispositivs der Entdeckung stehend, als Raum unter vielerlei Perspektiven aufgefächert: Ihr imaginäres ›Zentrum‹, der Nordpol, ist ein abstrakter Ort, der geometrische, weniger aber reale Qualitäten umfasst, gerade darum aber die Arktis zum Raum der Transgression macht, dessen explorative Eroberung gleich mehreren Generationen von Abenteurern als Faszinosum und Ziel dient. Die Arktis selbst ist ein glatter Raum, dessen Aneignung, Zivilisierung und Kerbung auf heroische, wissenschaftliche, aber auch nihilistische Diskurse verweist und stets nur unvollständig gelingen kann, weil er eben nicht gänzlich zivilisierbar ist. Das Scheitern der Expeditionen und Abenteurer, die um der Aneignung willen ausziehen, kann sich nicht nur durch seine Verwandlung in Literatur wiederum in die Aneignungsvorgänge eingliedern lassen, vielmehr scheint die literarische Aneignung zum bevorzugten modus operandi der Arktisexpedition zu werden. Denn wo das Scheitern der Eroberung in der Realität des glatten Raums der Eiswüste den absoluten Verlust des Subjekts mit sich bringt, so kann es, auf das weiße Blatt Papier als metaphorischem Ersatz für die Arktis gebannt, dieses doch mit Zeichen füllen und darum eine Aneignung zweiter Ordnung verhandeln. Ransmayr hat dieses Spiel um die Beschriftung des weißen Papiers als Eroberung der Arktis vervielfältigt. Während Josef Mazzini dem Leser als Figur nur in Die Schrecken des Eises und der Finsternis begegnet, lässt der Autor seine jeweiligen Erzähler noch in zwei weiteren Reiseberichten von Nachfahrten ins Nordpolargebiet berichten. Bei diesen beiden Prätexten zum Roman handelt es sich um die beiden Reportagen Des Kaisers kalte Länder – die 1982 in zwei Teilen in der Zeitschrift Extrablatt erschien – sowie Der letzte Mensch von 1983. Diese allein als Fingerübungen in Vorbereitung auf Die Schrecken des Eises und der Finsternis zu begreifen, fällt zunächst leicht, gerade weil die Stationen der Erzählung denen des Romans frappierend ähneln: Nachfahrer auf den Spuren der Payer-WeyprechtExpedition, skurrile Figuren und einsame Lebenskünstler im Eis, Forschungsschiffe auf dem Weg zum Franz-Josef-Land und Schlittenhunde in Spitzbergen. Sehr viel von dem, was später Roman sein wird, ist hier angelegt. Sie sind vielleicht auch deshalb dem Roman so nah, weil beide das Genre der Reportage – und besonders das der Reisereportage – transzendieren: Denn im Fall beider Reportagen handelt es sich weniger um Augenzeugenberichte, es findet keine Berichterstattung einer Expedition statt, wie dies genretypisch etwa Ilija Trojanow oder Roger Willemsen von ihren Reisen in die Polargebiete tun.126 Als Reportagen stehen Des Kaisers kalte
126 Vgl. Trojanow: Die letzte Leere; Willemsen: Der Nordpol. Wie Ransmayr, so hat auch Trojanow seine Reportage zu einem Polarroman ausgebaut, in dem ein Glaziologe,
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Länder und Der letzte Mensch zwar in der Tradition von Augenzeugenschaft und Reisebericht, sie setzen beides jedoch aus, entfernen sich davon, schaffen Distanz. Was fehlt, das ist ein auf den Reisen beteiligtes ›Ich‹, das die persönliche Erfahrung im Eis vermittelt. Stattdessen tritt im Fall von Des Kaisers kalte Länder ein unpersönlicher »Verfolger« auf, dessen Reise nachvollzogen wird, und in Der letzte Mensch wird eine Fernsehreportage nacherzählt.127 Im Roman aber existiert ein solches ›Ich‹, das sich der Konstruktion des Textes als Kompilationsarbeit widmet. Genauso konsequent, wie die postmoderne Offenlegung und Verknüpfung der verwendeten Quellen vorangetrieben wird, verschweigt der Roman jedoch, dass für diesen Ich-Erzähler wie auch für ›seine‹ Figur Josef Mazzini ein ähnlicher Prozess der Kompilation stattgefunden hat. Darum ist die Untersuchung der Reportagen eben nicht nur eine Frage der vollständigen Quellenbetrachtung. Es sollen im Folgenden gerade deswegen Quellenstudien betrieben werden, weil das erneute Spiel mit der Vervielfältigung der Perspektiven, dem Grenzgang zwischen Dokumentation und Fiktion – und damit mit dem Verhältnis von Stillstand und Bewegung und seiner Umsetzung in Literatur – über die Betrachtung der Ursprünge von Ich-Erzähler und Figur erschlossen werden können. Des Kaisers kalte Länder: Auf den Spuren des Verfolgers Die »historische Reportage« Des Kaisers kalte Länder beschreibt »Kreuzfahrten auf der Route der k. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition« und stellt den frühesten Text dar, den Ransmayr zum Erzählgebiet Arktis veröffentlicht hat. Die Reportage erzählt einerseits die Geschichte der Payer-Weyprecht-Expedition nach, andererseits verhandelt sie die Bedingungen eines Nachreisenden auf den Spuren dieser Expedition und nimmt somit das Erzählprinzip des Romans vorweg. Allerdings verschiebt sie die Perspektive: »Der in Tromsö nach Spuren suchende Verfolger wird inzwischen festgestellt haben, daß der von den Matrosen der ›Tegetthoff‹ unter der Führung eines Lappen bestiegene Berggipfel bequem per Drahtseilbahn zu erreichen ist«. Dem ›Ich‹ des Romans, das Mazzini rekonstruiert, geht also ein ›Verfolger‹ voraus, dessen eigene Perspektive uneindeutig bleibt, weil er zwar im Präsens reist, dabei aber unpersönlich handelt. Die Erzählperspektive der Reportage ist losgelöst sowohl von der Geschichte der Tegetthoff als auch vom Verfolger:
bedingt durch den Klimawandel ›seines‹ Forschungsgegenstandes, eines Alpengletschers, beraubt, als Guide auf einem Antarktis-Kreuzfahrtschiff anheuert. Auch Trojanow: EisTau verhandelt also die Verwandlung der gefährlichen Polarexpedition in eine touristische Reise. 127 Ransmayr: Kaisers kalte Länder (I), S. 16.
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»Nachdem die Vorstellung, von einem Eisbären getötet zu werden, durch mehrere in Longyearbyen geführte Gespräche wieder bescheidenere Ausmaße angenommen hat, begibt sich der beruhigte Verfolger an Bord eines gutausgestatteten norwegischen Forschungsschiffes von mittlerer Eistauglichkeit: An einem kalten Augusttag des Jahres 1981 läuft die 3.200 Pferdestärken umsetzende ›Lance‹ [aus].«128
Ein persönliches Erleben eines Erzählers findet nicht statt, das ›Ich‹ wird ausgespart. Gleichzeitig wird durch die Abbildung von Zeichnungen Julius Payers und durch Fotos Rudi Pallas die Möglichkeit eines tatsächlichen Nach-Erlebens der Reise suggeriert. Es entsteht das Paradox einer Nähe zum Raum bei gleichzeitiger Distanz zum Personal. Der ›point of view‹ des Erzählers liegt nicht beim Verfolger, sondern im Eis des Polargebiets: Es ist die Position des Überblicks, die dem Leser präsentiert wird – ein Blick von oben, der Distanz gewinnt, Raum konstruiert. Die Erzählung entfernt sich immer wieder von den Charakteren und wendet sich dem Geschehen im Eis zu: »Denn draußen reitet die ›Lance‹ soeben mit aller Gewalt auf eine starke Scholle auf, bleibt einen Augenblick lang schräg am Eis, bricht dann donnernd ein und hat wieder freies Wasser unter dem flachen Kiel. Wer jetzt, in diesem einen Augenblick des Durchbrechens ganz vorne am Bug steht, sieht unter sich zentnerschwere Eisbrocken aufschwirren wie glänzende Insekten.«129
Im Roman wird diese Perspektive geteilt, es zeigen sich Erzählweise und Erlebnisse der Reportage einerseits in Mazzini, in dem die Verfolger-Figur aufgeht, andererseits im Erzähler, dem nun ein ›Ich‹ zugestanden wird. Durch die Lektüre der Reportage erhält so auch das Programm Mazzinis, die Erfindung der Wirklichkeit zu betreiben, nochmals eine andere Perspektivierung: Glaubt Mazzini im Roman mit den Unterlagen der Payer-Weyprecht-Expedition, »einen Beweis für eines seiner erfundenen Abenteuer in den Händen zu halten«, so etabliert der dokumentarische Anspruch der Reportage einen ›realen‹ Vorläufer für Mazzinis eigene Niederschriften: Die Reportage betreibt nun also nicht mehr die ›Erfindung der Wirklichkeit‹, sondern zeigt deren Vorstufe, die Recherche und Niederschrift, gewissermaßen die ›Wirklichkeit der Erfindung‹.130 Blickt man auf den Einfluss der Reportage auf Komposition und Kompilation des Romans, so lässt sich bezüglich des Umgangs mit der Payer-WeyprechtExpedition sagen, dass diese in beiden Texten als Vorlage eines Nachfahrens ge-
128 Alle Zitate ebd., S. 16, 24f. 129 Ders.: Kaisers kalte Länder (II), S. 63. 130 SEF, S. 23.
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nutzt wird. Zwar erscheinen die Erlebnisse der Tegetthoff-Mannschaft in der Reportage verkürzt gegenüber den multiperspektivischen und vielschichtigen Versatzstücken im Roman, nichtsdestoweniger entstammen sie denselben Archiven.131 Während nun also die Dokumente der Expedition sowohl in der ersten Reportage als auch im Roman nach dem Prinzip der dokumentarischen Wiedergabe eingesetzt werden, bedient sich der Ich-Erzähler des Romans im Gegensatz zur Reportage eines kompilatorischen Kunstgriffs, der Personalisierung der Fiktion.132 Die Spurensuche des Ich-Erzählers als zusätzlich eingezogene Erzählebene personalisiert den Roman in der Person Mazzinis dort, wo die Reportage unpersönlich bleiben will. So schreibt etwa der Erzähler der Reportage: »Thor Sigerud [...] klopft am 26. August 1981 um 9 Uhr 30 an die Kabinentür des Verfolgers. [...]. Ohne die Tür zu öffnen, verkündet Sigerud die Neuigkeit: Der Verfolger werde ›sein‹ Franz Joseph Land nicht zu Gesicht bekommen. Man käme nicht mehr voran. Das Eis läge zu dicht.«133
Im Roman wird die Stelle personalisiert und narrativ ausgestaltet: »Josef Mazzini ist über seiner Lektüre eingeschlafen und fährt hoch und schlägt um sich, als Fyrand an die Kabinentür klopft. Ohne eine Antwort abzuwarten, reißt Fyrand die Tür auf und wiederholt noch auf der Schwelle die Entscheidung Jansens und des Kapitäns: ›Wir kehren um. Wir kommen nicht durch. Du wirst dein Franz-Joseph-Land nicht zu Gesicht bekommen. Scheiße. Hast du gehört? Wir kehren um!‹ [...] Süd. Südwest. Süd. Eine vollendete Monotonie.«134
131 »In der Marineabteilung des Österreichischen Kriegsarchivs lag das zerschlissene Logbuch der Admiral Tegetthoff verwahrt, lagen unveröffentlichte Briefe und Journale Weyprechts und Payers, in der Kartensammlung der Nationalbibliothek das Tagebuch des Expeditionsmaschinisten Krisch und die monotonen, sprachlosen Aufzeichnungen des Jägers Johann Haller aus dem Passeiertal ...« (ebd., S. 24; vgl. auch Hinweis, S. 277). Auch in Des Kaisers kalte Länder verweist der Erzähler auf jene Archive: »Weyprechts Tagebuch, dessen eng beschriebene Seiten nun in der Pappschachtel Nr. B/205:4-19a des österreichischen Kriegsarchives allmählich unleserlich werden, gibt neben dem in der gleichen Schachtel vergilbenden Logbuch der ›Tegetthoff‹ die vielleicht bemerkenswertesten Aufschlüße über den Polarausflug der Donaumonarchie.« (Ransmayr: Kaisers kalte Länder (II), S. 62) 132 Vgl. die sich gleichenden Beschreibungen der Eispressungen und der Ruf »Macht fort! Macht fort! Eures Lebens Ziel ist da!« (ebd., S. 61; SEF, S. 87). 133 Ransmayr: Kaisers kalte Länder (II), S. 63. 134 SEF, S. 185.
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Beide Erzählformen erscheinen als narrative Operationen der Distanzierung; eine Reaktion des Verfolgers wie Mazzinis wird nicht wiedergegeben. Dieser bleibt dadurch dem Leser ebenso fern wie der Verfolger in der Lektüre der Reportage unpersönlich bleibt. Die Personalisierung des Verfolgers Mazzini hat demzufolge keine Konsequenz für die Perspektivierung des Eisraums im Roman, keine Konsequenz für Wahrnehmung und Raumkonstitution. Die Konsequenz der Personalisierung des Erzählens ist eine andere und sie ist begründet durch das Verschwinden des Protagonisten des Romans: Mazzini erweist sich als ›out-of-place element‹ des Romans nicht nur in seinem Verloren Gehen, sondern auch als eine erstaunliche Verschiebung einer Figur in ein neues Feld. Gerade weil die Verfolgerfigur aus Des Kaisers kalte Länder im Roman unter dem Namen Mazzini im Eis verloren geht, erzeugt deren Verschwinden auch erst das ›Ich‹ des Erzählers. Denn das Erzählersubjekt wird erst benötigt, nachdem Mazzini verloren gegangen ist, ein neuer Verfolger tritt so auf den Plan. Diese Subjektivierung im Narrativ erzeugt gleichzeitig die Metaebene der Selbstkommentierung des Romans, seine Verhandlung von Fiktion und Realität. Denn das ›out-of-place element‹ als Motivation für ein Nacherleben der Expedition, in Des Kaisers kalte Länder noch ohne Bedeutung für die Erzählung, wird durch Aufspaltung des Verfolgers in Ich-Erzähler und Mazzini im Roman personalisiert, in den Mittelpunkt gestellt und mit dem erzähltheoretisch mediatisierenden Motiv des ›aus der Welt Schaffens‹ versehen. Das Zu-Ende-Erzählen aus den Tagebüchern des fiktiven Charakters Mazzini erscheint nicht nur als Fortführung der Reportage mit anderen Mitteln, sondern auch zu anderen Zwecken. Denn durch die Aufspaltung der Verfolgerfigur in Mazzini und Ich-Erzähler werden die Bedingungen eines Erzählens thematisiert, dass sich mit dem Verloren Gehen auseinandersetzt, das die Übersicht und Distanz gegen das Verschwinden stellt – und das am Verschwinden zu scheitern droht. Der letzte Mensch und die Metapher des Fußgängers Mit dem Roman und der früheren Reportage Des Kaisers kalte Länder hat der zweite von Ransmayr zum Diskurs des Nordpolargebiets wiederum in Form einer Reportage verfasste Text Der letzte Mensch ebenfalls einige Gemeinsamkeiten: Auf der Textebene sind dies etwa Ausschnitte und Zitate aus den Materialien der PayerWeyprecht-Expedition, wie beispielsweise das beiden Reportagen vorangestellte Zitat Payers, das seinen Eingang in den Roman als Auftakt zum Aufbruch Mazzinis auf die Nachfahrt in den Spuren der Expedition findet.135 Der letzte Mensch stellt
135 Dieses lautet: »Ein mühevoller Weg ist die Reise in die innere Polarwelt. Alle geistigen und körperlichen Kräfte muß der Wanderer, der ihn betritt, aufbieten, um dem Geheim-
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darüber hinaus vor allem eine Art Sammelbecken des Nebenpersonals und der Orte von Die Schrecken des Eises und der Finsternis dar.136 So überträgt er wiederum Begebenheiten mit dokumentarischem Anspruch auf Mazzinis Welt, kann darüber hinaus aber auch weitere Hinweise auf die Funktion der Selbstreflexivität des Erzählens im Roman geben. Der letzte Mensch, im Grunde eine Reportage über einen Fernsehbericht aus dem Eis Spitzbergens, ist nämlich deshalb bemerkenswert, weil ihr Ich-Erzähler diese Reise nicht selbst angetreten hat, sondern sich nur als Spurenleser der Geschichte des »Fangstmann[es]« Harald Soleim auf Spitzbergen präsentiert, von dem er über einen Fernsehbeitrag gehört haben will: »Was nun meine Person betrifft, bleibt zu erwähnen, daß ich Harald Soleim nie gesehen habe. Gestützt auf die Berichte eines Kameramannes und eines Tonmeisters, auf das genaue Studium von Land- und Wetterkarten, von Filmen, Büchern, Gesprächsprotokollen, Korrespondenzen und schließlich auf ermüdende Gespräche mit Polarreisenden, habe ich versucht, Ihnen alle mir zur Verfügung stehenden Hinweise auf eine arktische Existenz vorzulegen.«137
Eine Reisereportage über eine nicht angetretene Reise, angereichert durch Berichte, Notizen, Tagebücher: Dies gleicht der Erzähltechnik der Schrecken des Eises und der Finsternis bis ins Detail, wenn dort der Ich-Erzähler auf der Spur Mazzinis ver-
nisse, in das er dringen will, eine dürftige Kunde abzuringen. [...] Darum kann ihn nur das Ideale seines Zieles tragen; sonst irrt er, geistigem Zwiespalt verfallen, durch innere und äußere Leere.« (Ransmayr: Kaisers kalte Länder (I), S. 18; ders.: Der letzte Mensch, S. 45; SEF, S. 62) Wie schon in Des Kaisers kalte Länder und im Roman wird auch in Der letzte Mensch der aus den Aufzeichnungen der Payer-WeyprechtExpedition überlieferte Ruf »Macht fort! Macht fort! Eures Lebens Ziel ist da!« (Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 48) und die Beschreibung der Eispressungen wiedergegeben. 136 Insbesondere Kjetil Fyrand scheint aus den Charakteren der Reportage, hauptsächlich aus Robin Buzza und Pal Skaare, zusammengesetzt zu sein. So spannt Buzza seine Hunde vor das Chassis eines Wagens: »Das Gefährt ist genaugenommen nichts als eine rollende Bodenplatte mit Lenkrad und einem Fahrersitz« (ebd., S. 51). Fyrand »hockt auf diesem Gefährt, das nichts anderes ist als die bis auf einen festgeschraubten Fahrersitz und ein aufragendes Lenkrad leere, rollende Bodenplatte eines Kleinwagens« (SEF, S. 123). Während Skaare auch Vorbild für den Dentisten in den Schrecken des Eises und der Finsternis ist, hat Fyrand von ihm dennoch das Attribut des Gletscherwanderers und Besuchers des Anarchisten bekommen (vgl. Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 57; SEF, S. 244f.). Aus Kapp Wijk in Der letzte Mensch wird Kap Tabor, aus dem Einsiedler und Anarchisten Harald Soleim wird Jostein Aker. 137 Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 68.
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sucht, dessen Geschichte auszuerzählen, ihn ›aus der Welt zu schaffen‹. In der Reportage aber scheint das Ziel ein anderes zu sein, nicht die Verhinderung des Weiterlebens im glatten Raum des Nordpolargebiets – »[f]ortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner« –138 wird erzählt, vielmehr geht es dem Erzähler der Reportage in eigenen Worten darum, »Hinweise auf eine arktische Existenz vorzulegen«. Und doch erweisen sich beide narrativen Operationen als gleichgestellt, denn der Nachweis der ›arktischen Existenz‹ ist strukturell nichts anderes als eine Stillstellung eines Subjekts, das sich den Lebensbedingungen des Glatten unterworfen hat: Abgeschieden, fern jeglicher Zivilisation lehnt der Einsiedler Soleim die Unterordnung unter die Zivilisation ab; er orientiert sich am Leben der Eskimos, »weil diese Menschen keine überflüssige, sondern nur die zum Überleben unbedingt notwendige Arbeit verrichteten«.139 So betreibt er die von Deleuze und Guattari konstatierte Lebensweise im glatten Raum, nämlich »eine kontinuierliche Variation von freier Tätigkeit«.140 Wie bei Mazzini und Pym so scheint auch Soleim über seine eigene Subjektivierung die ›curiositas‹, die menschliche Neugier, zu wecken, die nur durch Eroberung zu stillen ist – was, wie oben gezeigt wurde, schlussendlich nur mittels Narration gelingen kann. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es das Telos des Vortragenden ist, als erzählender Vermittler des Lebens des »Anarchisten« Soleim zu fungieren.141 Da dieser eins ist mit dem glatten Raum, eine arktische Existenz führt, ist er eine Art Blaupause dessen, wonach Mazzini durch sein Verschwinden strebt, er ist Vorgänger Mazzinis wie auch dessen endgültiges Ziel. Die narrative Vermittlungsposition nimmt der Erzähler der Reportage darüber ein, dass er diese als Rede formuliert. Durch die Anrede der Leserschaft als Publikum und den mündlichen Sprachduktus wird deutlich, dass die Geschichte einer Adressatenschaft vermittelt werden soll.142 Wiederum tritt hier der performative Widerspruch des Erzählens aus und von glatten Räumen auf: Wer erzählt, legt fest. Gleich einer narrativen Unschärferelation kann das Subjekt nicht zur selben Zeit erzählt werden und dem Glatten unterworfen, in Bewegung, unwahrnehmbar sein. Eine arktische Existenz existiert nicht auf Papier. Die Mündlichkeit, das Geschichtenerzählen, erscheint als Strategie, um diesem Widerspruch zu entgehen, jedoch ist auch sie, wie der Erzähler der Reportage einsehen muss, nur bedingt erfolgsversprechend.
138 SEF, S. 11. 139 Beide Zitate Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 68, 66. 140 TP, S. 679. 141 Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 49. 142 Dies äußert sich sowohl im dreimaligen Wiederholen der Anrede des Publikums (ebd., S. 45, 63, 68) als auch in Verzögerungslauten, Selbstverbesserungen und -korrekturen des Erzählers (ebd., S. 53: »... äh ...«) und in Lautmalerei (ebd., S. 52: »pak«).
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»Gestützt auf [Berichte], habe ich versucht, Ihnen alle mir zur Verfügung stehenden Hinweise auf eine arktische Existenz vorzulegen. Aber verfügen wir nun nicht weiter darüber. Enthalten wir uns jeden verständnisvollen Kopfnickens, wenn im Fortgang unserer Abenteuer der Name des letzten Menschen noch einmal fallen wird. Begnügen wir uns damit, von ihm gehört zu haben, und sprechen wir künftig behutsamer von unseren Reisen.«143
Dieses Schlussresümee des Erzählers verweist auf die Schwierigkeit, die ein Erzählen aus dem Nordpolargebiet mit sich bringt, das eben nicht nur Eroberung sein will, sondern verständig, gleichsam authentisch die Lebensbedingungen und Erzählensbedingungen des Subjekts der Bewegung im glatten Raum nachstellen will. Als Ziel des Vortrags, der inneren Reise mittels Spurensuche, kann darum bestimmt werden, einen neuen Blickwinkel zu eröffnen auf die Reise und auf den Reisebericht. Welcher Art dieser Blickwinkel sein kann, das beschreibt der Erzähler in der Einleitung zu Der letzte Mensch, eine Passage, die als Prolog ›Vor allem‹ Eingang in Die Schrecken des Eises und der Finsternis gefunden hat und die das einzige dem Roman beigegebene direkte Zitat aus Mazzinis Tagebuch thematisch und teilweise auch wörtlich vorwegnimmt: »Was ist bloß aus unseren Abenteuern geworden, die uns über vereiste Pässe, über Dünen und so oft die Highways entlang geführt haben? [...] Wir haben uns nicht damit begnügt, unsere Abenteuer einfach zu bestehen, sondern haben sie zumindest auf Ansichtskarten und in Briefen, vor allem aber in wüst illustrierten Reportagen und Berichten der Öffentlichkeit vorgelegt und so insgeheim die Illusion gefördert, daß selbst das Entlegenste und Entfernteste zugänglich sei wie ein Vergnügungsgelände, wie ein blinkender Luna-Park; die Illusion, daß die Welt durch die hastige Entwicklung unserer Fortbewegungsmittel kleiner geworden sei und etwa die Reise [...] zu den Erdpolen nunmehr eine bloße Frage der Finanzierung und Koordination von Abflugzeiten. Aber das ist ein Irrtum! Unsere Fluglinien haben uns schließlich nur die Reisezeiten in einem geradezu absurden Ausmaß verkürzt, nicht aber die Entfernungen, die nach wie vor ungeheuerlich sind. Vergessen wir nicht, daß eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer 144
sind.«
Dieses ›Vor allem‹ wird nun eben nicht vom Ich-Erzähler des Romans erzählt. Vielmehr scheint hier die von Dorit Müller konstatierte dritte Erzählhaltung des Romans, die distanzierte Außensicht, explizit zu Wort zu kommen: Sie erteilt dem Begreifen und Bereisen der Welt als Dorf, dem Blick von oben, der Distanz – und damit auch implizit dem Erzählverfahren des Romans – eine Absage. Dem gegen-
143 Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 68f. 144 Ebd., S. 45f.; SEF, S. 9.
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über betont das Vorwort, ›daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind‹, und postuliert somit das Gehen und das Laufen als ›natürliche‹ Fortbewegungsmittel.145 So spannt das Vorwort hier genau jene Dichotomie von Raum- und Subjektkonstitution als Reisemodi auf, die bereits im ersten Teil dieser Arbeit eingehend untersucht wurden: Stillstand gegenüber Bewegung, der distanzierte Blick von oben gegenüber dem Blick im Unten, die Unterwerfung des Raums gegenüber der Unterwerfung unter die Bedingungen des Raums. Zum einen also gibt es das illusionistische Reisen der modernen Fortbewegungsmittel, das sich bereits in den Forschungsreisen der Expeditionen andeutet und das nichts anderes ist als die Kerbung des glatten Raums, zum anderen das ›natürliche‹ Reisen des Fußgängers. Beide hängen ihrerseits wiederum von der Perspektivierung des Subjekts ab, wie auch Nethersole erkennt: »The metaphor of flight might have been the quintessential figure of poetic imagination in the past, but inasmuch as having wings is associated with the abstract poverty of the line in the face of the reality of airline travel, the road, the journey as passage through space rather than time, seems important to Ransmayr. He insists that human beings, bound by gravity to this earthy, lead essentially a terrestrial existence, and their bodies constitute inspite [sic] of the insights gleaned from modern relativity theory the only temporal reference point.«146
Die Verbindung des Aufrufs mit den aus der Lektüre Certeaus geschlossenen Arten zu reisen, ist deutlich. Es ist die Fußgänger-Reise, das Herumirren, die Konstitution des Subjekts in Abhängigkeit zum betretenen Raum in ihrer Wirksamkeit als Bewegung, die es unmöglich macht, »Handeln in Lesbarkeit zu übertragen«, die der Erzähler präferiert, an die er mit seinem Aufruf erinnern will.147 Was nun aber für das Reisen gilt, das gilt im Besonderen auch für das Erzählen der Polargebiete: So konstatiert das ›Vor allem‹, dass gerade das Berichten vom illusionistischen Reisen die Öffentlichkeit erst dazu gebracht hat, an genau dieses
145 Anja Fröhling meint darum, »daß die Erfahrbarkeit der äußeren Welt mit modernen Verkehrsmitteln dem Reisenden eher vorgetäuscht wird«. Sie erkennt Gemeinsamkeiten zum Verständnis des Spaziergangs bei Johann Gottfried Seume und Bruce Chatwin: »Die Welt sollte gehend von uns erobert werden, die technischen Neuerungen der Verkehrstechnik lenken den Blick vom Wesentlichen ab.« (Fröhling: Literarische Reisen, S. 91) Dass es dem Roman allerdings eben nicht um eine Eroberung der Polargebiete geht, erkennt Fröhling mit ihrem Fokus auf »kulturelle Alterität« (ebd., S. 98) nicht, obwohl sie durchaus sieht, dass die Erfahrung des Eises zu einem »Bewußtseinswandel« (ebd., S. 106) der Protagonisten führt. 146 Nethersole: Marginal Topologies, S. 138. 147 KdH, S. 189.
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Reisen als Mittel zur Erschließung von Welt und Selbst zu glauben. Mit der neuen und gleichzeitig uralten Art des Fußgänger-Reisens – »[v]ergessen wir nicht, [...] daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind« – soll nun also auch eine neue Art Reiseliteratur und Reiseliteraturrezeption entstehen. 148 In diesem Sinne enthält die bereits oben zitierte Schlusspassage des Reportage-Erzählers aus Der letzte Mensch auch das dem Vorwort-Erzähler eigene Erzählprogramm: Das »behutsame[...]« Erzählen wird postuliert als Erzählen des Fußgänger-Reisens im glatten Raum. 149 Mit der Fußgängermetapher wird also ein dem Überblick entgegengesetzter Modus des Erzählens aufgerufen. Wie sieht ein solches Erzählen nun aber aus? Bereits in den theoretischen Überlegungen im ersten Teil ist deutlich geworden, dass ein Erzählen, das sich den Bedingungen des glatten Raums unterwerfen will, paradox bleiben muss, weil das Erzählen stets Distanz, Kerbung, Stillstand erzeugt. Die Schwierigkeit eines solchen Erzählens aber spiegeln sich in den vertrackten und verschachtelten Erzählsituationen der Reportagen wieder: So kann die entpersonalisierte Verfolgerfigur aus Des Kaisers kalte Länder der Bemühung um ein Erzählen, das eben nicht mehr auf narrative Aneignung und Eroberung aus ist, zugerechnet werden. Ebenso zeigt auch die Konstellation in Der letzte Mensch, als eine Reportage über einen Fernsehbericht, als überformte Rede mit programmatischer Reflexion zur eigenen Erzählhaltung, das Ringen um eine neue, verschobene Perspektive an – eine Perspektive, die aus der Distanz erzählen muss, auch wenn sie dies gar nicht will. Mittels der Reportagen werden die Erzählbedingungen für den Roman ausgelotet, die Erlebnisse der Figuren der Schrecken des Eises und der Finsternis werden zunächst probeweise im Reportageraum verhandelt, um dann auf den Roman übertragen zu werden. Dabei wird deutlich, dass in Des Kaisers kalte Länder die nach außen gerichtete Reise in den Vordergrund gestellt wird. Der Verfolger, ein Vorgänger Mazzinis, wird entpersonalisiert auf eine Fahrt geschickt.150
148 SEF, S. 9. 149 Ransmayr: Der letzte Mensch, S. 69. 150 Auf einen weiteren Vorgänger Mazzinis weist Bombitz hin: In Mór Jókais Bis zum Nordpol, laut Untertitel »[e]in klassischer Science-Fiction Roman«, wird ein Teilnehmer der Payer-Weyprecht-Expedition, ein ungarischer Matrose namens Pietro Galbina, von seinen Kameraden bei deren Rückzug aus dem ewigen Eis vergessen und muss sich dort alleine zurechtfinden (Jókai: Bis zum Nordpol, S. 3). Bombitz bemerkt, dass »Mazzinis Metamorphisation einen leeren Platz in seiner Geschichte voraus[setzt], der in der Geschichte der Expedition zu finden ist: [...] Mazzini füllt diesen aufgebotenen leeren Platz (der Wirklichkeit, seiner Fiktion oder aus dem Abenteuerroman von Jókai), er verwandelt sich in die Position des zurückgelassenen Seemannes (in eine andere Geschichte, die zur Wirklichkeit, zur Fiktion oder zu Jókai gehört, aber letztendlich als Ransmayrs erste letzte Welt existiert.)« (Bombitz: Mazzini-Nachlaß. S. 136)
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An ihm wird die Fahrt als solche beleuchtet. Der letzte Mensch auf der anderen Seite lenkt den Blick auf den Fußgänger als Gegenbild zum arktischen Eroberer und Erzähler. Im Roman schließlich kommen beide Stränge zusammen und werden transformiert: Über das neue Element des Verloren Gehens wird eine weitere Ebene der Reflexion über das Reisen und das Erzählen eingewoben. Darum rückt über die Figuren von Reportage und Roman, ihre Erlebnisse und ihre Erzähler immer wieder die Frage ins Zentrum, welche Perspektive ein Reisender einnehmen muss, wenn er von Abenteuern aus »immer noch entlegeneren, inneren und äußeren Zielen«151 berichten will? Zur Beantwortung dieser Frage soll noch einmal der Roman selbst betrachtet und jener Moment in den Blick genommen werden, der bislang als Moment des Scheiterns galt: Mazzinis Verschwinden im Eis Spitzbergens.
6.5 DIE PRODUKTIVITÄT DES SCHEITERNS: VERLOREN GEHEN IM EWIGEN EIS »Es war kalt. Mazzini war tot. Er mußte tot sein.«152 Wer im Eis verschwindet, der stirbt, hört auf zu existieren. Diese Grundüberzeugung bietet den Anlass für das Erzählen der Schrecken des Eises und der Finsternis. Gleichzeitig scheint der Erzähler dieser von ihm selbst aufgestellten Kausalität nicht ganz zu trauen, es scheint, als gebe es ein Schlupfloch, das Mazzini habe nutzen können, um zu verschwinden, ohne zu sterben. Die Kursivierung des Modalverbs betont diese Unsicherheit und konstruiert eine Notwendigkeit, die der Erzähler zu verspüren scheint. Das ›Tot sein Müssen‹ verdeutlicht als Selbstbestätigung die Unsicherheit des Erzählers sowohl an Mazzinis Tod als auch an seinem eigenen Erzählprogramm. Die Konsequenz: Mazzini wird vom passiven ›written self‹ zum aktiven ›writing self‹, er entzieht sich durch sein Verschwinden »der rekonstruierenden Erzählung, fordert diese jedoch zugleich heraus«, so Peter. Sein Verschwinden »ist ab einem bestimmten Punkt spurlos. Er verschwindet in einen Möglichkeitsraum, der zwar Spekulationen
Einen Vorgänger des Romans – und, wie Marianne Kesting betont, gleichzeitig auch einen Nachfolger von Arthur Gordon Pym – erkennt Nöller in der Figur des Urian in André Gides 1893 erschienener Erzählung Die Reise Urians: »Schon Gide diente die Entwicklung einer Kunst des Reisens als Verfahren, die Erfindbarkeit seiner eigenen Wirklichkeit zu beweisen. So kommt den ›Schrecken des Eises und der Finsternis‹ in der Tradition von Gides ›Voyage d’Urien‹ die Bedeutung eine Reise in die Wirklichkeit der Fiktion zu« (Nöller: Blatt, S. 299; vgl. Kesting: Reise ins Eis). 151 SEF, S. 9. 152 Ebd., S. 26.
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zulässt, eine endgültige Klärung der ›wirklichen‹ Geschehnisse jedoch nicht«.153 Es ist exakt diese Spurlosigkeit im Verloren Gehen Mazzinis, sein »Unwahrnehmbar-, Unpersönlich- und Ununterscheidbar-Werden« im Sinne Deleuzes und Guattaris, das zur gleichen Zeit Auslöser und Zielpunkt, Bedingung und Verunmöglichung des Erzählens überhaupt ist.154 Das spurenlose Verschwinden im Medium der Literatur korrespondiert mit dem Raum des Nordpolargebiets, der selbst, spurlos und weiß, jeglicher Zivilisation und Spurensuche trotzt: »Das Polargebiet, der Ort jenseits aller Eintragungen [sic] wird begangen schon immer in den Spuren von Vorgängern« – so konstatiert Menke mit Blick sowohl auf die expeditive wie auch die narrative Aneignung.155 Auf diese Weise entsteht jene paradoxale Überschreibungs- wie Überschreitungsfigur der polaren Expedition, die Eglinger als »equally motivated by faith in progress, projective desire for the new, and by the need for perpetuation, documentary self-affirmation, and traditional counter-insurance in the forefathers’ footsteps« zusammenfasst.156 Das Verloren Gehen Mazzinis stellt nun aber radikal das Hinterlassen von (literarischen) Spuren und damit sowohl den Glauben an den Fortschritt wie auch die Selbstvergewisserung des Spurenlesers infrage. Gegen Wissenschaft und Abenteuer, gegen die expeditive und narrative Aneignung, gegen Reisebericht und Kartographie setzt der Roman mit Mazzinis Verschwinden Honold zufolge »die Tilgung dieser Schrift. Sein Verschwinden ist, ohne dass ein besonders abenteuerlicher Grund dafür vorliegen müsste, spurlos.« Die Aneignung wird suspendiert, der distanzierte Blick von oben auf den Raum registriert: nichts. »Vorstellbar und anschaulich wird hier die tabula rasa, die carte blanche, oder wie immer man das Verschwinden, ja Niemals-vorhanden-Sein menschlicher Spuren nennen will«. 157 Die existenzielle Not des Erzählers, das Objekt seines Erzählens verloren zu haben, bietet gleichzeitig jedoch auch die Möglichkeit für die Produktion neuer Literatur. Mazzinis Aufbruch stellt somit einerseits »den Endpunkt im allgemeinen Prozeß der Literarisierung« dar,158 wie Gellhaus schreibt, andererseits ist es nach Oesterhelt erst das Verschwinden, das Mazzini zur Fiktionsfläche des Erzählers macht: »[E]rst nach seinem Verschwinden verstrickt sich der Erzähler in die erfindende Rekonstruktion gleichermaßen der österreichisch-ungarischen wie der mazzinischen Expedition ins Eis«. 159 Zudem aber wird über die Spurlosigkeit des Ver-
153 Peter: Möglichkeiten, S. 108. 154 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 31; vgl. dazu auch TP, S. 381f. 155 Menke: Polargebiete, S. 571. 156 Eglinger: Traces, S. 15. 157 Beide Zitate Honold: Das weiße Land, S. 85, 83. 158 Gellhaus: Verblassen der Schrift, S. 134. 159 Oesterhelt: Literarische Durchquerungen, S. 209.
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schwindens das Erzählen sich selbst zum Problem, denn an der Rekonstruktion Mazzinis muss der Erzähler in jenem Moment scheitern, in dem Mazzinis Tagebuch abbricht, in dem die Spur nicht mehr verfolgt, die Figur nicht mehr beobachtet, registriert, stillgestellt werden kann: »Ich werde nichts beenden und nichts werde ich aus der Welt schaffen.« Das Scheitern des Erzählers reiht sich ein in die im Roman ausführlich dargelegte »Chronik des Scheiterns« von Expeditionen – dem Leser wird auf diese Weise ein Scheitern der Aneignung vermittelt, es ist aber eben kein Scheitern der Literatur.160 Der Verloren Gegangene selbst wird vom Objekt zum handelnden Subjekt, vom ›written self‹ und in der Schrift Reisenden zum Fußgänger-Reisenden, der sich den Bedingungen des glatten Raums unterwirft und als ›out-of-place element‹ Literatur erst provoziert und hervorbringt. Damit reiht sich Mazzini ein in ein von Fröhlich nachgewiesenes Motiv der Entsubjektivierung im Werk Ransmayrs. Dieses Motiv ist als Absage an die »cartesianische Vorstellung vom Menschen als eines auf das Überwinden der Natur angelegten Wesens« zu verstehen, dem Ransmayr das »Bild eines von schroffer, unzugänglicher Natur als Signum des Anderen bedrohten Subjekts« gegenüber stellt. 161 Wie bereits die Analyse von The Narrative of Arthur Gordon Pym gezeigt hat, ist ein solcher Prozess der Entsubjektivierung durch Entliterarisierung als Subjektwerdung mittels Raumkonstitution zu verstehen: Die Reise Mazzinis, die als literarische Reise beginnt, zur Expedition wird und schließlich auf Spitzbergen eben nicht endet, sondern vielmehr zu einer sich selbst perpetuierenden Fußgänger-Reise transformiert wird, beinhaltet eine kontinuierliche, andauernde Ich-Werdung im Sinne Deleuze und Guattaris. Darum hat Mazzinis Fußgängerreise als »Bewegung« im Sinne des im ersten Teil vorgestellten Raumkonstitutionskonzepts »ein wesentliches Verhältnis zum Unwahrnehmbaren, sie ist von Natur aus nicht wahrnehmbar«.162 Mazzinis Identitätsfindung fällt mit der eigenen Auflösung zusammen. Mazzini wird zur Bartleby-Figur, deren ›I prefer not to‹ darin besteht, sich eben nicht mehr erblicken und damit erzählen zu lassen – und der sich somit einem »unbestimmten Werdensprozess überantwortet«, wie mit Ott im Rückgriff auf Deleuze argumentiert werden kann.163 Als »alleiniges Mittel zur Icherschließung« ist Mazzinis Verloren Gehen darum zwar ein Mittel der Welteroberung, je-
160 Beide Zitate SEF, S. 274, 91. 161 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 143. 162 TP, S. 382. 163 Ott: Deleuze zur Einführung, S. 95; vgl. dazu auch Deleuze: Bartleby. Mosebach argumentiert dagegen, dass Mazzinis Identitätsfindung mit der Auflösung der Identität des Erzählers zusammenfällt: »Es ist eine Ironie des Romans, dass die Rekonstruktion des Verschwindens Mazzinis mit seiner Identitätsfindung zusammenfällt, hingegen die Identität des Spurenlesers sich auflöst.« (Mosebach: Endzeitvisionen, S. 88)
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doch einer Welteroberung, die eben nicht mehr eine Unterwerfung des Raums mit sich bringt, sondern in der die Welteroberung dadurch besteht, dass sie eben nicht über Distanz, sondern durch Nähe operiert und durch ein Verloren Gehen in die Welt eröffnet wird – und endgültig ein Verstummen und Verschwinden der Schrift zur Folge hat. Sobald die Transformation der Bewegung vollzogen ist, brechen Mazzinis Aufzeichnungen ab und so muss der Erzähler konstatieren: »Wer seinen Ort gefunden hat, der führt keine Reisetagebücher mehr.«164 Er ist eingegangen in die verdoppelten Campi Deserti, die leeren Landschaften von Eis und Papier. Campi Deserti – diesen Namen gibt der Erzähler Mazzinis Tagebüchern – geht freilich zurück auf Petrarca, dessen Besteigung des Mont Ventoux bereits im ersten Teil als zentraler Moment für die Subjektivierung in der Neuzeit beschrieben und analysiert wurde. Steht Petrarca gemeinsam mit Descartes für die Erschließung des Ich durch eine distanzierte Differenzierung des Raums, so signalisiert Mazzinis Verloren Gehen jene von Certeau, Ingold und Deleuze und Guattari vertretene Perspektive, die sich über ihre absolute Spurlosigkeit der Aneignung verweigert, indem sie das Subjekt dem Raum unterwirft.165 Indem er also »auf der tabula rasa keine Zeichen« hinterlässt, findet Mazzini »seinen Platz [...] paradoxerweise erst im Verschwinden«.166 Die leeren Seiten am Ende von Mazzinis Tagebuch sind auf diese Weise aufs Engste verbunden mit seinem Verschwinden, sie »zeugen also auch vom erreichten Ziel«, so konstatiert Fröhlich, die Worte des Erzählers aufnehmend. Die Konsequenz des Verloren Gehens Mazzinis ist, dass es »ein affirmatives Verhältnis des Helden zu sich selbst« erzeugt, ein Selbst-Bewusstsein: »Mazzinis Identifikationsprozeß [...] wird vom Chronisten als Selbstverortung charakterisiert. [...] Mazzinis Identität darf somit als Einlösung seiner Vorstellung von sich selbst verstanden werden.«167 Das Verschwinden Mazzinis konterkariert zudem durch die Unerzählbarkeit einer verstummenden Figur die literarische Redseligkeit der historischen PayerWeyprecht-Expedition, die »in Ransmayrs Darstellung dem Muster der für die Künste traditionellen Handlungsführung folgen (Prolog – Anfang – Mitte – Schluss – Epilog)«.168 Mazzini konstituiert sich durch sein Verloren Gehen als lotmanscher Held der Steppe, wohingegen das ›Heldentum‹ Weyprechts und besonders Payers –
164 SEF, S. 239. 165 Vgl. zu Petrarca und dessen Mont-Ventoux-Besteigung TEIL I, Kap. 2, S. 90-93 in dieser Arbeit; zur Funktion des Petrarca-Gedichts Solo et pensoso, aus dem besagte Zeile stammt, in Ransmayrs Roman vgl. Martin: Campi deserti; Wagner-Egelhaaf: Campi deserti. 166 Cook: Unaufhaltsamer Rutsch, S. 84. 167 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 87. 168 Peter: Möglichkeiten, S. 103.
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nach allen ausgestanden Strapazen im Eis und erfolgreicher Rückkehr – dekonstruiert wird. »Was nützt es [Payer] nun, wenn in den Salons Payerhüte und Payerröcke und Weyprechtcravatten in Mode kommen, wenn die Branntweiner der Vorstädte ihre Spelunken Zum Nordlicht, Zum Ewigen Eis oder Zum Franz-Joseph-Land taufen, was nützt ihm seine grelle Berühmtheit und die Begeisterung der Straße, wenn das diskretere Urteil der Herrschaft nicht einhellig ist, wenn die Aristokratie die Existenz eines Landes plaudernd in Zweifel zieht, das er unter Qualen vermessen hat? Enttäuscht und entschlossen nimmt Payer noch vor Ablauf der Jahre seines Triumphes den Abschied von der kaiserlichen Armee und läßt Wien, dann 169
Österreich, vor allem aber ein Leben als Eroberer hinter sich.«
Gerade also weil er eben durch sein Verschwinden dem Scheitern an der Eroberung, das auch er durchlaufen musste, etwas entgegenzusetzen hat, bleibt Mazzini das Schicksal Payers erspart. Auf diese Weise übt der Roman Kritik nicht nur an der Ideologie der Eroberung und expeditiven Aneignung, sondern auch an der literarischen, wie Fröhlich mit Blick auf den Erzähler verdeutlicht: »Die poetologische Aneignung solcher Erfahrungen, deren ›papierener‹ Nachvollzug bleibt für den daheim gebliebenen Chronisten in letzter Instanz unbefriedigend[,] [...] [was] Mazzini nachträglich Recht [gibt]: Sein Verschwinden in die Welt seiner Phantasiegeschichten ist auch eine Flucht aus der gänzlich aufgeklärten Welt des Erzählers, in der es keine authenti170
sche Wirklichkeits- und Selbsterfahrung mehr gibt.«
Denn nur scheinbar, so Dorit Müller, wird »das Narrativ der Eroberung« durch den Verlust Mazzinis gestärkt: Indem der Erzähler mit seinem narrativen Programm des ›Aus der Welt Schaffens‹ scheitert, scheitert auch der stillstellendende Blick von oben und damit die Aneignungspraxis des aufgeklärten Subjekts. 171 Der Roman formuliert damit Fröhlich zufolge eine »Kritik an den noch dominierenden Wissens- und Herrschaftsdiskursen [...], mithilfe derer sich das Subjekt in ein bestimmtes Verhältnis zur Welt und sich selbst setzt«. 172 Die über das Verloren Gehen Mazzinis eingebrachte Kultur- und Gesellschaftskritik des Romans wiederholt also die Kritikpunkte und Umwälzungsbestrebungen jener bereits im ersten Teil ausführlich behandelten Raumtheorien von Certeau über Deleuze und Guattari bis Ingold, die sich der Reformulierung des cartesianischen Verständnisses von Raum
169 SEF, S. 268; vgl. dazu auch Munz-Krines: Expeditionen, S. 21. 170 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 58. 171 Müller: Fahrten, S. 124. 172 Fröhlich: Entsubjektivierung, S. 87.
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und Subjekt und damit einer ideologischen Rehierarchisierung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung widmen. Und doch ist Die Schrecken des Eises und der Finsternis mehr als ein gesellschaftskritischer Beitrag im Zeitgeist der Postmoderne, denn über die Verhandlung des selbstreflexiven Erzählens und den Bedingungen des Verloren Gehens agiert er auch auf einer poetologischen Ebene. Auf diese Weise erschließt der Roman vor allem über die scheiternden Perspektivierungen der literarischen Aneignung eine Gegenperspektive, jedoch um den Preis, sie eben nicht erzählen zu können. Denn Mazzini kann als literarische Figur nicht aus der Welt geschafft werden. Er ist derjenige, der in dieser Erzählung fortlebt. Dem Leser wird diese Gegenperspektive über das Vorwort nähergebracht, das den Fußgänger als Kontrapunkt zum Narrativ der Eroberung setzt: In ihm zeigt sich die Fortführung des ›behutsamen‹ Umgangs mit den arktischen Existenzen, die bereits in Der letzte Mensch thematisiert und im Roman nun endgültig in eine paradoxe literarische Form gebracht wird. Bezeichnenderweise spiegelt das Vorwort auch jenes einzige direkte Zitat aus Mazzinis Tagebuch, das die »Stellvertreter« und »Berichterstatter« von Abenteuern kritisch in den Blick nimmt und dem Traum von einem literarisch-ästhetischen Nachvollzug der Reise im glatten Raum eine Absage erteilt: »Uns bewegt ja doch nichts mehr. Uns klärt man auch nicht auf. Uns bewegt man nicht, uns unterhält man ...«.173 Dass Mazzini, zum Fußgänger geworden, nun nach seinem Verschwinden nicht selbst zu Wort kommen kann, liegt in der Unmöglichkeit des Erzählens aus einer Perspektive »im Unten« begründet, jener Perspektive, die Moritz Reiffers zufolge immer mängelbehaftet ist und eben keinen distanzierten Überblick erlaubt, den das Erzählen aber grundsätzlich voraussetzt.174 Mazzini verkörpert durch sein Verloren Gehen jenen Übergang, den Certeau als Abstieg vom World Trade Center beschreibt und Deleuze und Guattari zwischen gekerbten und glatten Räumen annehmen, einen Übergang, der auf Stillstand wieder Bewegung folgen lässt. Im Umschlagspunkt des Verloren Gehens entsteht damit eine andere Literatur, die von sich selbst weiß, dass sie immer nur an der Eroberung und Stillstellung des Raums fortschreiben kann und eben darum programmatisch das Erzählen scheitern lässt – was bleibt, ist die weiße Leere des Papiers. Auf diese Weise setzen Die Schrecken des Eises und der Finsternis Ursprungstexte in neue Diskurse ein, um so »einer radikalen Dekonstruktion des beherrschbaren Raumes« zuzuarbeiten, wie Dorit Müller meint. Und so gilt: Ein glattes Erzählen, eine ›écriture blanche‹, ein ›Schriftsteller ohne Schrift‹ ist auch in Die Schrecken des Eises und der Finsternis literarisch nicht umsetzbar – sondern nur als Denkfigur außerhalb der Schrift, in der Weiße von Raum und Papier für den Leser möglich. Der Roman öffnet die Dichotomisierung von Stillstand und Bewegung,
173 SEF, S. 22; vgl. dazu auch die Analyse des ganzen Zitats auf S. 281 in dieser Arbeit. 174 Reiffers: Das Ganze im Blick, S. 12.
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verlagert sie in die Perspektivierungen des Personals und verhandelt so ihrer beider Bedingungen und Möglichkeiten. Die Sinngebung verlagert der Roman darum in die Köpfe seiner Leser, weil die »produktive[...] Aneignung«, die Fußgänger-Reise, eben nicht im Medium der Literatur stattfinden kann.175 Der Subjektivierung des Menschen durch die Objektivierung der Natur, die Begründung von Identität durch distanzierte Raumwahrnehmung – diese für das Denken der Neuzeit konstitutive Figur – setzt der Roman ex negativo die Subjektivierung des Menschen durch die Bewegung im Raum entgegen. In dieser Literatur ist es demnach möglich, das Verhältnis von Stillstand und Bewegung gerade durch die Thematisierung des Übergangs von der Distanz zur Nähe, vom Gekerbten zum Glatten – und jeweils auch andersherum, schließlich sind es ja gerade die Anlässe des Verloren Gehens, die neue Distanzierungen, Kerbungen, Stillstellungen hervorrufen – zu verhandeln. Der Preis, den die Literatur für die multiperspektivische Vermittlung zu zahlen hat, ist ein Scheitern der Erzähler – ihr Gewinn ist ihre eigene Existenz.
175 Scheck: Katastrophen, S. 286.
Schluss: Leere füllen
Zum Ende soll noch einmal der Begriff der Leere aufgegriffen werden, die zu schaffen und zu füllen Ziel nicht nur des untersuchten Motivs des Verloren Gehens darstellt, die zudem auch gewissermaßen von der Studie selbst betrieben wurde. Die räumlich verstandene Leere – das bedeutungsgenerierende und -tragende Spatium – ist bereits in der Einführung einerseits als Folge der literarischen Verhandlung von Raum und Subjekt, andererseits aber auch als ihre Bedingung vorgestellt worden. Im Laufe der Studie ist dann das Verloren Gehen literarischer Figuren als Bewegung beschrieben worden, das dieser Leere angehört und gleichzeitig mit theoretischen und methodologischen Überlegungen zur Konzeption, Konstitution und Verschaltung von Subjekt und Raum verknüpft ist. Zum Zweck einer Zusammen- und Weiterführung der Ergebnisse der literarischen Analysen wie auch einer Rückbindung und Kommentierung der theoretischen und methodologischen Grundannahmen können die zum Ende der Einleitung aufgestellten Thesen und Fragen, die für diese Studie Leere schaffen sollten, nun zusammenführend begründet und beantwortet werden. Wenn zu Beginn der Argumentation Stillstand und Bewegung als theoretische Abstraktionen von Raum- und Subjektkonstitution in einer dichotomen Struktur etabliert wurden, so gründete sich dies auf die im raumtheoretischen Diskurs allgegenwärtige Spaltung von Raumkonzeptionen in positionale ›Raum‹-Theorien und zwischenräumliche ›espace‹-Theorien. Mit den Diskussionen um die Konzeption von Räumlichkeit innerhalb des ›spatial turn‹ – die Aufspaltung in einen ›topographical‹ sowie einen ›topological turn‹ – und weitergehend auch an den Raumtheorien selbst – etwa in Certeaus Trennung von ›Karte‹ und ›Route‹ sowie in Ingolds Linientheorie – konnten diese dualistischen Prinzipien als hierarchisierende Dichotomien begreifbar gemacht werden. Zudem ließ sich über die Perspektivierung des Raums ein Anschluss herstellen zur Konstitution des Subjekts: Wer den Raum aus einer Position der Distanz durch den ›Blick von oben‹ – wie ihn Reiffers konzipiert – begründet, der produziert den Raum durch Stillstand und lässt sich mit dem cartesianischen ›cogito‹ als Überblickssubjekt begreifen. Wer sich dagegen dem Raum
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unterwirft und sich in ihm bewegt, der konstituiert sich als Fußgängersubjekt, das dem Überblick entsagt. Dabei ist gerade entscheidend, dass die Praxis der Bewegung einem umherirrenden Gehen entspricht, das nicht zielgerichtet ist und darum keine Anfangs- und Endpunkte kennt, dessen movens letztlich nicht ergründet werden kann. Die Aufteilung des Verhältnisses von Subjekt und Raum in die Leitdichotomie von Stillstand und Bewegung erwies sich im Verlauf der Studie als ebenso anschlussfähig wie problematisch: So konnten Deleuzes und Guattaris ›gekerbte‹ und ›glatte‹ Räume ebenso unter die Dichotomie subsumiert werden wie auch die subjektphilosophischen Pole Sein und Werden. Allerdings führte die simplifizierende Übergeneralisierung einer solchen Trennung auch zu einem begründeten Unbehagen an der Dichotomie. Denn als epistemologische Methode ist sie deskriptiv und produziert zudem zwangsläufig Hierarchisierungen: So ließ sich bei Certeau, Ingold und im weiteren Verlauf auch bei Deleuze und Guattari nachweisen, dass diese Raumdenker die cartesianische Priorisierung des Überblickssubjekts – die Erzeugung von Übersicht, Ganzheit und Zivilisation favorisiert – umzukehren suchen und die Subjektivierung als Raumkonstitution im Modus der Bewegung als erstrebenswerte Praxis des Widerstands gegen die Zivilisierung des Überblickssubjekts setzen. Zur Folge hat eine solche Priorisierung die Ideologisierung der Raumwahrnehmung, wobei freilich in der Perspektive der eben genannten Autoren auch bereits die distanzierte Raumkonstitution des Überblickssubjekts als ideologisch determinierend bestimmt ist. Um nicht selbst in die Fallstricke solcher Hierarchisierungen zu geraten, war es der Studie ein Anliegen, zu prüfen, inwiefern die Dichotomie von Stillstand und Bewegung bereits auf theoretischer Ebene in ein produktives Verhältnis überführt werden kann, ohne sie in einer dialektischen Operation gänzlich aufzuheben. Deleuzes und Guattaris Überlegungen zur ›doppelten Artikulation‹ boten den Ansatz, das Glatte und das Gekerbte – als Statthalter von Bewegung respektive Stillstand – gleichräumlich zu begreifen: Die Abhängigkeit von subjektiver Perspektivierung und Raumkonstitution macht es dem Subjekt möglich, den Raumzustand über die Veränderung seiner Perspektive zu aktualisieren, einen Übergang zu schaffen. Es kann daher einen glatten Raum kerben, indem es sich in Distanz und Differenz zu ihm positioniert, es ist ihm aber auch möglich, aus einem gekerbten einen glatten Raum entstehen, aus Stillstand Bewegung werden zu lassen. Methodisch fassbar wird gerade der Übergang von Stillstand zu Bewegung in der theoretischen Konzeption von Deleuze und Guattari, aber auch bei Certeau oder Ingold, jedoch nicht. Die mit Deleuze und Guattari entwickelte Gleichräumlichkeit von Stillstand und Bewegung bot jedoch die Möglichkeit, den Übergang als Spezifikum der Aktualisierung des Subjekts durch einen angenommenen Umschlagspunkt zu konkretisieren und damit der Dichotomie von Stillstand und Bewegung eine komplexe Rela-
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tion zu verleihen, die in den verhandelten theoretischen Überlegungen nur impliziert wird. Der Umschlagspunkt des Übergangs von Stillstand in Bewegung wurde als ein Verloren Gehen bestimmt, als ›Unwahrnehmbar-Werden‹ des Subjekts im Irrgang, das sich dem glatten Raum der Bewegung überantwortet und darum für das Überblickssubjekt aus dem Blick gerät. Zudem erwies sich die Umsetzung der Gleichräumlichkeit als einem Feld inhärent, das einer methodischen Analyse zugeführt werden konnte und das sich als produktiv erwiesen hat: der Literatur. Denn Literatur, so die Erkenntnis, die zum Ende des ersten Teils argumentativ aufgearbeitet wird, besitzt drei Eigenschaften, die sie grundsätzlich in das räumliche Verhältnis von Stillstand und Bewegung einspannt: Erstens ist sie als gedruckter Text bereits materialiter eine Kerbung, zweitens ist der Akt des (auktorialen) Erzählens als eine weitere, metaphorische Kerbung zu verstehen, als Schaffung einer Raumsemantik der gerichteten Handlung aus einem unendlichen Feld möglicher Figurenkonstellationen und Subjektbewegungen. Drittens schließlich zwingt Literatur den Leser dazu, die Position des Erzählers einzunehmen und dem Narrativ aus dem distanzierten Überblick zu folgen. In dieser Problemlage kann Literatur nun aber auch Störungen des Raums und damit des Erzählens selbst verhandeln. Solcherart agierende Texte wurden ausgehend von Hallet als ›spatial fictions‹ gefasst, die Störungen konnten als Praktiken der Bewegung gegen den Stillstand des Erzählens benannt und mit dem Verloren Gehen in Verbindung gebracht werden. Über diese Verbindung wurde das Verhältnis von Erzähler und Figur als zentrale Analysekategorie erarbeitet: Der Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung zeigt sich demzufolge in den Narrativen der ›spatial fictions‹ dort, wo Figuren verloren gehen, wo sie in den Texten unwahrnehmbar werden, Leerstellen schaffen und die Erzähler hinter sich zurücklassen. Ein solches Verschwinden kann sich nun auch in der Raumsemiotik zeigen, in den Spatien und – nach Frost – ›Whiteouts‹, welche die Materialität der Grundlage, das weiße Papier als leeren Raum der Glätte, zum Vorschein bringen und dem gekerbten Raum des Textes gegenübergestellt werden konnten. Als Gegenstand der Analyse prädestiniert erschienen die Polargebiete der Literatur, da sie die weißen Räume des Papiers thematisch verdoppeln. In diesen nun spiegelt sich das räumlich-subjektive Verhältnis von Stillstand und Bewegung insofern, als diese Literatur eingebunden ist in Subjektivierungspraktiken der Raumkonstitution von Entdeckern, Eroberern, Kartographen und Literaten. Deren narrativer Ursprung konnte in Dantes Odysseus erkannt werden; vor allem aber zeigt er sich im ›Dispositiv der Entdeckung‹, jener von der menschlichen Neugierde angetriebenen Struktur, die zur Eroberung, Benennung und Beschriftung – oder, deleuzianisch ausgedrückt, Kerbung – noch unbekannter Erdteile geführt hatte. Das Dispositiv der Entdeckung wiederum fördert eine Imaginationsleistung, die als polarer Konjunktiv das literarische Fantasieren in eine reale Praxis
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der Aneignung überführt, gleichzeitig aber auch einen Überschuss produziert, der sich in den Kompilationen von Reiseberichtsliteratur als Verschiebung zeigt und den Certeau als ›out-of-place element‹ bestimmt. Mit den vorangehenden Überlegungen zu den ›spatial fictions‹ konnte diese textuelle Verschiebung auch auf die Figurenebene übertragen und für die Erklärung der Wirkweise des Verloren Gehens fruchtbar gemacht werden: Durch ihre Funktion als ›out-of-place elements‹ in den ›spatial fictions‹ der Polarliteratur stoßen die Verloren Gehenden eine Imaginationsleistung im Sinne des mit Felsch entwickelten ›polaren Konjunktivs‹ an, sie schaffen leere Räume, gegenüber denen die Erzähler nun wiederum antreten, neue Narrative produzieren, um die aus ihrer Sicht unwahrnehmbaren Figuren zurück in die Texte zu holen. So konnte das Verloren Gehen als literarische Umsetzung einer relationalen Beziehung von Stillstand und Bewegung in der Literatur ausgemacht werden. Gerade weil aber ihr Verschwinden in den Räumen der Polargebiete spurlos ist, sie sich selbst als Fußgängersubjekt konstituieren, führt das Verloren Gehen der Figuren zwangsläufig zum Scheitern ihrer Erzähler. Und dies macht es der Polarliteratur möglich, über das Verloren Gehen Aussagen über die Bedingungen von Subjekten und Räumen zu treffen, die einem rein kerbenden Narrativ nicht möglich wären. So stellen sowohl Poes Narrative of Arthur Gordon Pym als auch Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis selbstreferentielle Texte dar, die im Raum der Polargebiete die Möglichkeiten und Beschränkungen des Erzählens über ihren Umgang mit den Verloren Gehenden thematisieren. Die in Poes Roman über den Erzähler Arthur Gordon Pym verhandelte Suche nach dem ›writing self‹ – die ihn mit einer ganzen Reihe von Erzählerdoubles konfrontiert, welche Pym trotz Erzählstimme doch immer nur als ›written self‹ konstituieren – findet ihren Abschluss im Verloren Gehen des Protagonisten am Südpol. Pyms Eingang in den doppelt weißen Raum von Polargebiet und Seite wurde verstanden einerseits als identitätsschaffende Befreiung von der narrativen Selbst-Disziplinierung durch andere Erzähler. Andererseits führt Pyms spurloses Verschwinden sowohl auf das Vorwort des Romans zurück – und damit auf die Frage nach der Plausibilität von Erzählersubjekten schlechthin –, als es auch das Erzählen als Füllen der Leere begründet: Die durch Pym geschaffene Leerstelle erzeugt neue Lese-, Interpretations- und Erzählakte, neue Versuche, im Angesicht des verschollenen Pym distanzierte Übersicht zu schaffen. Auf diese Weise gelingt es dem Roman, den mehrfach bedienten Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung zu explizieren als Verhältnis von Abbruch und neuerlichem Einsatz von Erzählung. So konnte gezeigt werden, dass es mit Pyms Verloren Gehen genau dieser Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung ist, der eine Fülle von neuen Texten kreiert, angefangen der den Text beschließende ›Note‹, die ein neues Erzählen in Gang setzt, über literarische Texte wie Jules Vernes Eissphinx bis hin zu den stetig wachsenden wissenschaftlichen
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›Polargebieten der Bibliothek‹ (Menke), in denen auch diese Studie positioniert ist. Es findet darum in der anhand des Schicksals Pyms durchgeführten literarischen Explizierung von Stillstand und Bewegung keine einfache Rehierarchisierung der im ersten Teil der Studie etablierten Dichotomie statt als vielmehr ein produktives Ins-Verhältnis-Setzen der dualistischen Konzeptionen, in denen Raum und Subjekt miteinander verbunden sind: So mag Pyms Subjektivierung scheitern, weil es ihm nicht gelingt, Überblick zu erzeugen, dieses Scheitern aber wird überführt in ein Verloren Gehen, das erneute Versuche aufruft, Überblick zu erzeugen und damit zum Triumph einer Literatur, die zwischen Stillstand und Bewegung vermittelt. Wenn nun die weiteren literarischen Versuche ihrerseits aber nicht erfolgreich sein können, weil Pym eben verloren bleibt, so bleibt das Erzählen selbst immer abhängig von der Leerstelle, die das Verloren Gehen produziert hat. Stillstand benötigt Bewegung, um wiederum Stillstand zu erzeugen, der seinerseits doch die Bewegung nicht auslöschen kann. Das narrative Rätsel, das der im lotmanschen Sinne als ›Held der Steppe‹ agierende Pym seinen Lesern und Erzählern stellt, bleibt darum bestehen und begründet den sich immer weiter fortsetzenden Diskurs des Erzählens durch Verloren Gehen. Die Interpretation Pyms ergänzend rückte in einer Analyse des postmodernen revisiting der Erzählkonstellation in Ransmayrs Debutroman eine weitere Variante des Motivs des Verloren Gehens in den Blick, in der eine eindeutigere Priorisierung der Bewegung erkannt werden konnte. Die Schrecken des Eises und der Finsternis setzen das Verloren Gehen an den Beginn der Handlung und etablieren im Verlauf der Erzählung Josef Mazzini als Figur, deren Verschwinden über das Eingestehen eines scheiternden Erzählens positiv konnotiert wird. Aufgerufen wird dies über die multiperspektivische Rekonstruktion des Eroberungsdiskurses im Dispositiv der Entdeckung, dessen Ergebnis vom Roman als sinnlose Aneignung kritisiert wird. Mit den Entdeckern aber lässt der Roman auch den Erzähler am ›aus der Welt Schaffen‹ Mazzinis scheitern und führt auf diese Weise das Erzählen aus und von den Polargebieten mit der von ihm kritisierten Eroberung durch die westeuropäischen Expeditionen der Neuzeit eng. Diesen geographischen wie ästhetischen Aneignungen entgegengestellt wird das Verloren Gehen Mazzinis, der zunächst die Aneignung wiederholt, jedoch sein Scheitern umschlagen lässt in eine sich selbst perpetuierende Bewegung im glatten Raum des Nordpolargebiets: Indem er nicht aus der Welt geschafft werden kann, etabliert ihn der Roman als in der Leere des Papiers existierende und darum ein Erzählen provozierende Figur. Diese klare Wertung konnte anhand des Vorworts ›Vor allem‹ bestätigt werden und stellt eine Rehierarchisierung der Dichotomie von Stillstand und Bewegung ganz im Sinne der im ersten Teil analysierten Raumtheorien dar: Die kerbenden Reisemodi des Überblicks werden der ›natürlichen Physiognomie‹ des Menschen als Fußgänger gegenübergestellt. Mazzinis Verschwinden führt nun zur Möglichkeit des Nachvollzugs
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des positiv besetzten Umschlags von Stillstand in Bewegung nachzuvollziehen. Zugleich ist es auch Bedingung dafür, dass aus Bewegung wieder Stillstand werden kann: indem (erneut) erzählt wird. Der Text erkennt die Notwendigkeit der Erzählung an, indem er sie zum Scheitern bringt, er erkennt umgekehrt aber auch die Notwendigkeit der Fußgängerbewegung an, indem er sie in den leeren Spatien des Textes stattfinden lässt. Das Verloren Gehen kann darum auch genutzt werden, die die Literatur selbst bedrohende Bewegung gegenüber dem Stillstand durch Erzählung zu priorisieren – um dennoch als Resultat weiterhin Motor der Erzählung zu sein. Denn was sowohl The Narrative of Arthur Gordon Pym als auch Die Schrecken des Eises und der Finsternis am Ende immer noch darstellen, sind semiotische Repräsentationen, Texte, Erzählungen. Das Verloren Gehen als Umschlagspunkt von Stillstand und Bewegung erlaubt es diesen Kerbungen jedoch, auch ihr Gegenbild, den glatten Raum aufscheinen zu lassen in den weißen, papiernen Spatien, in denen sich jene Figuren befinden, die das Erzählen erst provozieren. Es entsteht durch diese Art des Umgangs mit der Verschaltung von Subjekt und Raum nun tatsächlich eine Art ›écriture blanche‹ – wenn auch vielleicht anders als von Barthes konzipiert –, welche Narration in die Zwischenräume verlegt, ohne sie als Schrift auf das Papier zu bringen, und vom Leser verlangt, die Überblicksposition aufzugeben, um sie nachzuvollziehen. Indem Texte ihre eigenen Entstehungsbedingungen infrage stellen, können sie Stillstand und Bewegung räumlich abbilden – und zwar nicht allein als hierarchisierende Dichotomie, sondern als eine relationale Beziehung: Die Verhandlung der Selbstbewusstwerdung literarischer Figuren findet im Verhältnis von Stillstand und Bewegung ihre räumliche Entsprechung. Bezüglich der theoretischen und methodologischen Vorarbeiten im ersten Teil der Studie lässt sich nun folgern, dass die Setzung von Stillstand und Bewegung als Dichotomie zunächst notwendig war, um den Umschlagspunkt als Leerstelle des Verloren Gehens überhaupt sichtbar zu machen. Mit den literarischen Analysen konnte diese Dichotomie überführt werden in eine Struktur von gegenseitiger Bezugnahme: Das Verloren Gehen zeigt darum Stillstand und Bewegung als Beziehung dualistischer, aber dennoch miteinander verschalteter und voneinander abhängiger Konzeptionen der Subjektivierung. Das theoretisch modellierte Konzept der Räume von Stillstand und Bewegung gewinnt durch die literarischen Analysen an Komplexität, weil es durch die literarischen Probehandlungen eine Explikation erlaubt, deren Konsequenzen in der Realität den Schrecken der Existenz zeigen: Das spurlose Verschwinden als Katastrophe des Überblickssubjekts kann in der literarischen Verhandlung produktiv gemacht werden; dem Verloren Gehen wird ein Sinn verliehen, der den Zurückgebliebenen in den Leerstellen des Narrativs aufscheint, um sie zu weiteren Reisen in die Polargebiete der Literatur zu anzutreiben.
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*** Die erarbeiteten Ergebnisse und Erkenntnisse können schon aus einer strukturellen Logik nicht als abgeschlossen verstanden werden: Durch das Füllen der Leere haben sie gezwungenermaßen neue ›out-of-place elements‹ produziert, neue Leerstellen, die weitere Lese- und Interpretationsakte möglich und notwendig machen. Einerseits könnte die zur Interpretation der Polargebiete erarbeitete Methode der Analyse des Verloren Gehens anhand weiterer glatter Räume der Literatur überprüft werden. So böten sich neben dem den Polargebieten auf viele Weisen verwandten Meer mit der Wüste sowie dem Dschungel weitere Räume im Dispositiv der Entdeckung an, deren narrative Aufnahme untersucht werden müsste, um die hier vorgelegt Methode zu schärfen – aber auch anhand ihrer neue Blicke auf den Umgang der Erzähler mit ihren Figuren zu gewinnen. Dem möglichen Einwand, das Verloren Gehen könne als Extremfall der Polargebiete und deren geteiltem Nexus mit dem weißen Blatt Papier nicht übertragen werden auf andere Räume, kann mit Rückgriff auf Monika Schmitz-Emans’ Untersuchungen zur Wüste entgegnet werden, dass auch diese glatten Räume ebenso als Imaginationsräume wie als »leere Fläche[n] für Beschriftungen«, weil sie »Analog[a] des weißen Blattes« darstellen, ganz wie die Polargebiete.1 Als Objekte einer literarischen Analyse könnten darum etwa Gegenwartsromane wie Michael Roes’ Leeres Viertel, Wolfgang Hildesheimers Masante oder Wolfgang Herrndorfs Sand, aber mit Adalbert Stifters Erzählungen Abdias und Brigitta, Robert Müllers Roman Tropen sowie Joseph Conrads Heart of Darkness auch Texte des modernen Realismus und des Expressionismus es zudem erlauben, den Blick zu erweitern und das Verloren Gehen auch als nur in Spuren existierenden metaphorischen Selbstverlust zu rezipieren. Ebenfalls lohnenswert scheint andererseits ein Blick auf die literarische Entsprechung des Gegenbilds zu den glatten Räumen, des gekerbten Raum par excellence: auf die Großstadt, einen gegenüber den Polargebieten der Bibliothek noch häufiger aufgegriffenen und rezipierten Topos. Ursprung der Verhandlung des Verloren Gehens in der Großstadt könnte mit Poes Man of the Crowd jene kurze Erzählung sein, deren Thematisierung von Stillstand und Bewegung als Verfolgung einer Figur durch den Erzähler bereits oben skizziert wurde. Emblematisch für die Konstitution des Subjekts in der Großstadt wäre demnach, sich nicht aus der Verstrickung des gekerbten Raums lösen zu können und das Gehen als Form des nichtnachvollziehbaren Irrens noch stärker zu betonen. Dementsprechend hätte sich eine Analyse auch mit den Theorien und Ausprägungen der großstädtischen Bewegung, etwa mit den Flâneuren des frühen 20. Jahrhunderts oder mit dem von Guy Debord im Rahmen seiner Psychogeographie entwickelten situationistischen ›dérive‹ ausei-
1
Schmitz-Emans: Die Wüste, S. 136f.
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nanderzusetzen und diese Phänomene gegen das Verloren Gehen abzugrenzen. Auch die Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung könnten so nochmals anders konnotiert erscheinen, etwa als liminale Übergänge im Sinne Victor Turners. Einen zentralen literarischen Anker könnte für eine solche Analyse mit Paul Austers New York Trilogy eine Sammlung von Narrativen liefern, die die Verhandlung von Verschwundenen und nicht auffindbaren Figuren ins Zentrum einer Spurensuche in den Straßen der Großstadt stellt und darum geradezu zwingend Bezug nimmt auf die oben erarbeiteten Umschlagspunkte von Stillstand und Bewegung als Aktualisierungen von Subjekten und Räumen. Zudem stellt sich mit Deleuzes und Guattaris Diktum, dass die Großstadt am Ende der Einkerbung glatte Räume freigebe und es auch in der Großstadt möglich sei, an Ort und Stelle wie ein Nomade zu hausen, die Frage, inwiefern die literarische Großstadt ihrerseits Möglichkeiten der Erzeugung glatter Erzählräume bietet. Am sinnvollsten scheint eine solche Überlegung anhand jener literarischen Raumrepräsentationen anzustellen zu sein, deren geographische Vorbilder räumliche Revolutionen erfahren haben. In Berlin und New York sind solche Revolutionen durch das Datum 9/11 auf erfreulichste wie tragischste Weise mit dem Verloren Gehen verbunden: Der Fall der Mauer respektive der Fall der Türme des Word Trade Centers provozierten als Schaffung von Leerstellen neue literarische Rezeptionen der Großstadt, die, etwa in Thomas Hettches NOX oder Helmuth Kuhns Gehwegschäden auf Berliner respektive Jonathan Lethems Chronic City oder Don DeLillos Falling Man auf New Yorker Seite, den Umgang mit der Erzeugung von glatten Räumen zum narrativen Thema machen. In den Vordergrund könnten damit jene Wandersmänner treten, die Certeau bei seinem Blick vom World Trade Center eben nicht in den Blick zu bekommen meinte. Zudem böte eine solche Analyse die Möglichkeit, die Raumkonstitution der Bewegung als Verloren Gehen auch in anderen Konstellationen als im spurlosen Verschwinden verwirklicht zu sehen: etwa im Wechselspiel von Zuschreibungen der Erzählfunktion, mithin in Texten, bei denen die Erzählperspektiven wechseln, die darum zwar verschiedene Blickweisen auf den Raum und das Subjekt anbieten, dieses dem Erzählen gegenüber aber opak bleibt. Die hier angestellten Überlegungen können also nur Auftakt sein zu einer tiefergehenden Untersuchung des Verhältnisses von Subjekt und Raum in der relationalen Verschaltung von Stillstand und Bewegung, wie sie sich im Verloren Gehen literarischer Figuren zeigt. Dieses selbst jedoch konnte als movens der Produktion von Literatur gezeigt werden, als Begründung der Möglichkeit eines Erzählens ohne Schrift, als Explikation eines Dazwischen, das Räume in Beziehung zu setzen in der Lage ist, indem es sie leert. Eine solche Leere aber strebt danach, erneut gefüllt zu werden. Weitere Expeditionen in die weißen Räume des Papiers stehen aus.
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Eckhard Lobsien: »Literatur und Raumbegriff«. In: Philosophische Rundschau 60/2 (2013), S. 157-174. Petra Löffler: »Im Raum sein: Streuen – Erstrecken – Zerstreuen. Zu einer Medienökologie des Relationsraums«. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 5/2 (2014), S. 209-223. Tamsin Lorraine: »Ahab and Becoming-Whale. The Nomadic Subject in Smooth Space«. In: Ian Buchanan/Gregg Lambert (Hrsg.): Deleuze and Space. Toronto u.a. 2005, S. 159-175. Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin 2010 [2000]. ders.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. ders.: »Über die Semiosphäre« [1984]. In: Zeitschrift für Semiotik 12/4 (1990), S. 287-305. ders.: »Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa« [1968]. In: Karl Eiermacher (Hrsg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Kronberg 1974, S. 200-271. Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989. Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall. Dt. Übersetzung von Wilhelm Richard Berger. Gestaltung von Klaus Detjen. Göttingen 1995 [1914]. Gunter Martens: »Text«. In: Klaus Kanzog/Achim Massner (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 4: SL-Z. Berlin/New York 2001, S. 403417. James Martin: »Campi deserti. Polar Landscapes and the Limits of Knowledge in Sebald and Ransmayr«. In: Markus Zisselsberger (Hrsg.): The Undiscover’d Country. W. G. Sebald and the Poetics of Travel. Rochester, NY 2010, S. 142160. Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen. Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2013. Bettine Menke: »Grenzüberschreitungen (in) der Schrift, Exterritorialität der Pole«. In: Hansjörg Bay/Wolfgang Struck (Hrsg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen. Köln 2012, S. 53-78. dies.: »Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher«. In: DVjs 74/4 (2000), S. 545-599. Albert Menne: Einführung in die Methodologie. Elementare allgemeine wissenschaftliche Denkmethoden im Überblick. Darmstadt 1980. J. Hillis Miller: Topographies. Stanford 1995. Toni Morrison: Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. New York 1993.
326 | Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Holger Mosebach: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs. München 2003. Christian Moser: »Der Weltrand als mythopoetischer Reflexionsraum. Epische Passagen an die Grenzen der Erde von ›Gilgamesch‹ bis zu Mary Shelleys ›Frankenstein‹«. In: Eva Geulen/Stephan Kraft (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. Berlin 2010, S. 51-73. Elisabeth Mudimbe-Boyi: »Preface«. In: dies. (Hrsg.): Beyond Dichotomies. Histories, Identities, Cultures, and the Challenge of Globalization. Albany 2002, S. xi-xxv. Beate Müller: »Sea Voyages into Time and Space. Postmodern Topographies in Umberto Eco’s ›L’isola del giorno prima‹ and Christoph Ransmayr’s ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹«. In: Modern Austrian Language Review 95/1 (2000), S. 1-17. Dorit Müller: »Fahrten zum Pol«. In: Martin Huber et al. (Hrsg.): Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Berlin 2012, S. 111-126. dies.: »Kartierung polarer Räume«. In: Stephan Günzel/Lars Nowak (Hrsg.): KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm. Wiesbaden 2012, S. 377-395. dies./Julia Weber: »Einleitung: Die Räume der Literatur«. In: dies. (Hrsg.): Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung »Der Bau«. Berlin/Boston 2013, S. 1-21. Stefan Müller: »Herausforderungen einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs«. In: ders. (Hrsg.): Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs. Wiesbaden 2013, S. 7-13. Gabriele Müller-Oberhäuser: »Mündlichkeit«. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 4., aktual. u. erw. Aufl. Weimar 2008, S. 516-517. André Mumot: Irrwege zum Ich. Eine kleine Literaturgeschichte des Gehens. Marburg 2008. Marion Munz-Krines: Expeditionen ins Eis. Historische Polarreisen in der Literatur. Frankfurt a. M./Bamberg 2008. Reingard Nethersole: »Marginal Topologies: Space in Christoph Ransmayr’s Die Schrecken des Eises und der Finsternis«. In: Modern Austrian Literature 23/3-4 (1990), S. 135-154. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Sechste Abteilung, Zweiter Band: Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral. Hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1968.
Literatur | 327
Annegret Nippa: »Nomaden«. In: dies. (Hrsg.): Kleines abc des Nomadismus. Publikation zur Ausstellung »Brisante Begegnungen. Nomaden in einer sesshaften Welt« vom 17.11.2011 – 20.05.2012 im Museum für Völkerkunde, Hamburg. Hamburg 2011, S. 140-141. Jens Nöller: »Das noch nicht beschriebene nächste Blatt. Der Mythos der Initiation zur modernen Dichtkunst in Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹«. In: Sprachkunst 29/2 (1998), S. 291-305. Ansgar Nünning: »Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven«. In: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 33-52. Anja Oesterhelt: »Literarische Durchquerungen der Leere. Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis«. In: Iris Hermann/Anne Maximiliane Jäger-Gogoll (Hrsg.): Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburts–tag. Heidelberg 2008, S. 199-213. Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London/New York 2002 [1982]. Michaela Ott: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg 2005. Dennis Pahl: Architects of the Abyss. The Indeterminate Fictions of Poe, Hawthorne, and Melville. Columbia 1989. Julius Payer: Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872-1874 nebst einer Skizze der zweiten deutschen Nordpol-Expedition 186970 und der Polar-Expedition von 1871. Mit 146 Illustrationen und 3 Karten. Wien 1876. Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Kurt Steinmann. Stuttgart 2010. John Peck: Maritime Fiction. Sailors and the Sea in British and American Novels, 1719-1917. Basingstoke, UK 2001. William Peden: »Prologue to a Dark Journey«. In: Richard P. Veler (Hrsg.): Papers on Poe. Essays in Honor of John Ward Ostrom. Springfield 1972, S. 84-91. Georges Perec: Träume von Räumen. Zürich/Berlin 2013 [1974]. Nina Peter: »›Möglichkeiten einer Geschichte‹. Erzählte Kontingenz in Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹ (1984)«. In: Studia austriaca 21 (2013), S. 95-116. Jens Pfeiffer: »Petrarca und der Mont Ventoux«. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 47/1-2 (1997), S. 1-24. Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008.
328 | Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Edgar Platen: »Erhabenheit und Transitorik. Postmoderne Romane historischer Arktisexpeditionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Nadolny, Ransmayr, Köhlmeier, Schrott, Mosebach)«. In: Monika Unzeitig (Hrsg.): Grenzen überschreiten – transitorische Identitäten. Beiträge zu Phänomen räumlicher, kultureller und ästhetischer Grenzüberschreitung in Texten vom Mittelalter zur Moderne. Bremen 2011, S. 31-44. Platon: Phaidros. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Fünfter Band: Phaidros, Parmenides, Briefe. Hrsg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1990, S. 1-193. ders.: Sophistes. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Sechster Band: Theaitetos, Der Sophist, Der Staatsmann. Hrsg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1990, S. 219-401. ders.: Kratylos. Übers. u. erläut. v. Otto Apelt. Leipzig 1922. Edgar Allan Poe: »A Descent into the Maelström« [1841]. In: Thomas Ollive Mabbott (Hrsg.): Collected Works of Edgar Allan Poe. Volume II: Tales and Sketches (1831-1842). Cambridge, MA/London, S. 574-594. ders.: »The Man of the Crowd« [1840]. In: Thomas Ollive Mabbott (Hrsg.): Collected Works of Edgar Allan Poe. Volume II: Tales and Sketches (1831-1842). Cambridge, MA/London, S. 505-518. ders.: »To William E. Burton« [1840]. In: John Ward Ostrom (Hrsg.): The Letters of Edgar Allan Poe. New York 1966, S. 130-131. Burton R. Pollin (Hrsg.): Collected Writings of Edgar Allan Poe. Volume I: The Imaginary Voyages. The Narrative of Arthur Gordon Pym, The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall, The Journal of Julius Rodman. Boston 1981. Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992. Christoph Ransmayr: Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder die Entdeckung des Wesentlichen. Frankfurt a. M 2000 [1982]. ders.: »Des Kaisers Kalte Länder. Kreuzfahrten auf der Route der k. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition (I)«. In: Extrablatt 6/3 (1982), S. 16-24. ders.: »Des Kaisers kalte Länder. Kreuzfahrten auf der Route der k. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition (II)«. Extrablatt 6/4 (1982), S. 60-63. ders.: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Mit 28 Farbfotografien von Rudi Palla und 11 Schwarzweiß-Abbildungen. Wien/München 1984. ders./Rudi Palla: »Der letzte Mensch. Zu Besuch auf 78°36’ nördlicher Breite« [1983]. In: Uwe Wittstock (Hrsg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a. M. 1997, S. 45-69. Moritz Reiffers: Das Ganze im Blick. Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne. Bielefeld 2013. Christoph Reinfandt: »›Texture‹ as a Key Term in Literary and Cultural Studies«. In: Rüdiger Kunow/Stephan Mussil (Hrsg.): Text or Context. Reflections on Literary and Cultural Criticism. Würzburg 2013, S. 7-21.
Literatur | 329
Anne-Kathrin Reuschel/Lorenz Hurni: »Mapping Literature: Visualisation of Spatial Uncertainty in Fiction«. In: The Cartographic Journal 48/4 (2011), S. 293308. [Anne-Kathrin Weber veröffentlichte diesen Text unter ihrem damaligen Namen Reuschel, MG] Jean Ricardou: »The Singular Character of the Water« [1967]. In: Poe Studies 9/1 (1976), S. 1-6. Jürgen Ritsert: »Antinomie, Widerspruch und Begriff. Aspekte der Hegelschen Spekulation«. In: Stefan Müller (Hrsg.): Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs. Wiesbaden 2013, S. 39-69. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster 1963. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit. 2., überarb. u. erw. Aufl. München 1988. Douglas Robinson: »Reading Poe’s Novel. A Speculative Review of Pym Criticism, 1950-1980«. In: Poe Studies 15/2 (1982), S. 47-54. Richard Rorty (Hrsg.): The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method. Chicago 1992 [1967]. Sabine Rothemann: Spazierengehen – Verschollengehen. Zum Problem der Wahrnehmung und der Auslegung bei Robert Walser und Franz Kafka. Marburg 2000. Kurt Röttgers/Petra Gehring: Französische Philosophie der Gegenwart II. Lacan – Foucault – Deleuze/Guattari. Hagen 1993. Anka Ryall/Johan Schimanski/Henning Howlid Wærp: »Arctic Discourses. An Introduction«. In: dies. (Hrsg.): Arctic Discourses. Newcastle upon Tyne 2010, S. ix-xxi. Marie-Laure Ryan: »Space«. In: Peter Hühn/John Pier/Wolf Schmid (Hrsg.): Handbook of Narratology. Berlin 2009, S. 420-433. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Charles Bally/Albert Sechehaye. Berlin 2001 [1916]. Ulrich Scheck: »Katastrophen und Texte: Zu Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Die letzte Welt«. In: Friedrich Gaede/Anthony W. Riley (Hrsg.): Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Festschrift für Anthony W. Riley. Tübingen 1994, S. 283-290. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »System des transzendentalen Idealismus«. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Darmstadt 1967 [1800]. Johan Schimanski/Ulrike Spring: Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874. Köln 2015. Jochen Schimmang: »Verschwinden. Ein rhapsodischer Literaturbericht«. In: Merkur: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 57/2 (2003), S. 118-126.
330 | Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt a. M. 2009. ders.: »Räume und Geschichte«. In: Stephan Günzel (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 3351. Arno Schmidt: Zettel’s Traum. Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe IV: Das Spätwerk. Bd. 1. Berlin 2010 [1970]. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Euroaeum. Berlin 1974 [1950]. ders.: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Stuttgart 1942. Monika Schmitz-Emans: »Die Wüste als poetologisches Gleichnis: Beispiele, Aspekte, Ausblicke«. In: Uwe Lindemann/dies. (Hrsg.): Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annährungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg 2000, S. 127-151. dies.: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995. Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004. Fred Scholz: Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise. Stuttgart 1995. Sascha Seiler: Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Die Figur des Verschwundenen in der Literatur der Moderne und Postmoderne. Stuttgart 2016. Andrea Sick: »Auszeichnen und Aufzeichnen von Räumen. Zum Vergleich zweier kartographischer Verfahren«. In: Stephan Günzel/Lars Nowak (Hrsg.): KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm. Wiesbaden 2012, S. 341-354. Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York 2010 [1989]. George Spencer-Brown: Laws of Form. Portland 1994 [1969]. Jürgen Spitzmüller: »Typographisches Wissen. Die Oberfläche als semiotische Ressource«. In: Angelika Linke/Helmuth Feilke (Hrsg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen 2009, S. 459-486. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Göttingen 2016. Francis Spufford: »Die weißen Flecken ausfüllen«. In: Uwe Wittstock (Hrsg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a. M. 1997, S. 70-73. Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München 2003.
Literatur | 331
Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007. ders. (Hrsg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. München 2005. Christian Thiel: »Dichotomie«. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Stuttgart 2004, S. 472-473. Detlef Thiel: »Derrida, Jacques«. In: Wulff D. Rehfus (Hrsg.): Handwörterbuch Philosophie. Göttingen 2003, S. 93-95. Angela Thut/Christian Walt/Wolfram Groddeck: »Schrift und Text in der Edition der Mikrogramme Robert Walsers«. In: Text & Schrift. Schwerpunktheft von Text. Kritische Beiträge 13 (2012), S. 1-15. Ilija Trojanow: EisTau. München 2011. ders.: »Die letzte Leere«. In: DIE ZEIT 51 (11.12.2008), S. 69. Boris A. Uspenskij: Semiotik der Geschichte. Wien 1991. Arnauld Villani: »Physische Geographie von Tausend Plateaus«. In: Clemens-Carl Härle (Hrsg.): Karten zu ›Tausend Plateaus‹. Berlin 1993, S. 15-40. Kirsten Wagner: »Im Dickicht der Schritte. ›Wanderung‹ und ›Karte‹ als epistemologische Begriffe der Aneignung und Repräsentation von Räumen«. In: Hartmut Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart 2005, S. 177-206. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2001. Martina Wagner-Egelhaaf: »Campi deserti. Schrift-Landschaften in der Prosa der Gegenwart (Nadolny, Handke, Ransmayr)«. In: Studien zur Germanistik 1 (1993), S. 54-67. Daniel Weidner: »Rhetoriken, Sprechakte, Fiktionen. Michel de Certeau und die Literaturwissenschaft«. In: Marian Füssel (Hrsg.): Michel de Certeau. Geschichte, Kultur, Religion. Konstanz 2007, S. 259-289. Sigrid Weigel: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«. In: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151165. Cindy Weinstein: »When Is Now? Poe’s Aesthetics of Temporality«. In: Poe Studies 41/1 (2008), S. 81-107. Florian Welle: Der irdische Blick durch das Fernrohr. Literarische Wahrnehmungsexperimente vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg 2009. Niels Werber: Geopolitik zur Einführung. Hamburg 2014. ders.: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München 2007. Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern 2000.
332 | Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur
Russell West-Pavlov: Spaces of Fiction, Fictions of Space. Postcolonial Place and Literary DeiXis. Basingstoke, UK/New York 2010. ders.: Space in Theory. Kristeva, Foucault, Deleuze. Amsterdam/New York 2009. Johan Wijkmark: »Poe’s Pym and the Discourse of Antarctic Exploration«. In: The Edgar Allan Poe Review 10/3 (2009), S. 84-116. Hans Peter Willberg/Friedrich Forssman: Lesetypographie. Mainz 1997. Roger Willemsen: »Der Nordpol. Einkehr«. In: ders.: Die Enden der Welt. Frankfurt a. M. 2010, S. 502-542. Eric Wilson: The Spiritual History of Ice. Romanticism, Science, and the Imagination. New York 2003. Uwe Wirth: »Paratext und Text als Übergangszone«. In: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 167-177. Hubert Zapf: »Différance/Différence«. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 4., aktual. u. erw. Aufl. Weimar 2008, S. 131-132.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
Elisabeth Bronfen
Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4
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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)
Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5
Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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