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German Pages [272] Year 2009
V&R
SCHRIFTEN DES S I G M U N D - F R E U D - I N S T I T U T S
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl REIHE 2
Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau BAND 10
Klaus Röckerath / Laura Viviana Strauss / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.) Verletztes Gehirn - Verletztes Ich Treffpunkte zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften
Klaus Röckerath/Laura Viviana Strauss/ Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.)
Verletztes Gehirn Verletztes Ich Treffpunkte zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften
Mit 32 Abbildungen und 3 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45183-0
© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: process media consult GmbH Druck & Bindung: ® Hubert & Co, Göttingen
Inhalt
Vorwort
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Neglect-Syndrom: Diagnose und Therapie Franz Dick Phänomenologie des Neglect-Syndroms. Zum Störungsbewusstsein und zum Problem psychologischer Erklärung
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe Frankfurt/Düsseldorf/Köln Neglect und Anosognosie. Psychoanalytische Arbeit mit rechtshirngeschädigten Patienten
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Laura Viviana Strauss Das Neglect-Syndrom als psychischer Akt. Reflexionen und Fallbericht
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Hans-Joachim Rothe „Zwischen Baum und Borke" oder der Wunsch, zu wissen und zu verleugnen. Bericht über die Psychotherapie einer linksseitig gelähmten achtzigjährigen Patientin mit Neglect
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Inhalt
Das Mind-Body-Problem in der psychoanalytischen Praxis Marianne Leuzinger-Bohleber Erinnerungen und Embodiment. Aus der Psychoanalyse einer Poliomyelitis-Patientin
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Gabriele Junkers Demenzielle Veränderungen aus der Sicht der Psychoanalyse. Psychodynamische Überlegungen zur Differenzialdiagnostik demenzieller Prozesse
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Johannes Döser Woran erinnert das Schmerzgedächtnis? Zur Psychoanalyse des Phantomschmerzes - am Beispiel einer jungen Künstlerin nach unfallbedingtem Verlust der Oberkieferzähne
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss Ausblick
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Danksagung
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Die Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Dieses Buch stellt einen wichtigen Meilenstein dar. Es ist das einzige klinische neuropsychoanalytische Buch, seit Karen KaplanSolms und ich unsere „Klinische Studien in Neuro-Psychoanalyse" (in Englisch) im Jahre 2000 veröffentlicht haben. Obwohl eine wachsende Zahl von Kollegen, Psychoanalytiker wie Neurowissenschaftler, den Wert des interdisziplinären Projektes, das als Neuropsychoanalyse bekannt geworden ist, erkannt hat, scheinen tatsächlich nur wenige unter ihnen die zentrale Rolle erfasst zu haben, welche die klinische psychoanalytische Arbeit mit neurologischen Patienten in diesem Projekt spielt. Ich habe Dr. Klaus Röckerath das erste Mal 1995 auf einem interdisziplinären Kolloquium der Köhler-Stiftung in München getroffen, wo ich die Gelegenheit genutzt habe (wie ich es häufig tue), meine psychoanalytischen Kollegen dazu anzuregen, diese Forschungsmöglichkeit aufzugreifen, die es erlaubt, sich Hirnschädigungen mit psychoanalytischen Konzepten zu nähern. Da ich selbst diese Methode seit 1985 anwende, war ich mir ihres Potenzials sehr wohl bewusst, aber zehn Jahre des Austausches über meine Befunde und der Ermutigung anderer, sich mir anzuschließen, hatten eine ernüchternde Zurückhaltung (oder sogar einen Widerstand) offenbart, diesem Weg zu folgen. Besonders ärgerlich war die Tatsache, dass diese Zögerlichkeit den einzigen offensichtlichen Weg ausschloss, auf dem Psychoanalytiker, die fast ausschließlich Kliniker in Privatpraxis mit geringen neurowissenschaftlichen Kenntnissen und ohne Zugang zu neurowissenschaftlichen Laboratorien sind, zu neuropsychoanalytischer Forschung beitragen könnten. Mir war klar,
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Vorwort
dass einzig erfahrene psychoanalytische Kliniker unser Wissen auf diesem Gebiet vermehren könnten, denn Neurowissenschaftler sind im Allgemeinen genauso schlecht ausgestattet und wenig qualifiziert, klinische analytische Forschung zu betreiben, wie Psychoanalytiker hinsichtlich neurowissenschaftlicher Experimente. Und trotzdem schienen sie es nicht versuchen zu wollen. Die meisten Analytiker ziehen es offenbar vor, bei ihrer Routinearbeit zu bleiben, eine „seelische Zahnarzttätigkeit"1 zu betreiben, bestenfalls ergänzt durch ein gewisses intellektuelles Interesse an meinem Anliegen, - schlimmstenfalls durch unterschiedliche Grade von Missverständnis, was alle möglichen Verwirrungen zur Folge hatte, Warnungen vor derlei Arbeit eingeschlossen. Diejenigen analytischen Kliniker, die sich aktiv in der Neuropsychoanalyse engagierten, schienen überwiegend der Meinung zu sein, dass es sich nur um eine weitere psychoanalytische Schule handele mit ihrer eigenen Sprache (dieses Mal mit einer beruhigend wissenschaftlich klingenden) und eigenen Konzepten. Sie dachten daher, dass Neuropsychoanalyse betreiben lediglich bedeute, damit anzufangen, ihre psychoanalytischen Beobachtungen und Theorien in diese neuen neurowissenschaftlichen Begriffe und Konzepte zu übertragen. Diese Art der Annäherung an die Neuropsychoanalyse mal eben so führte unweigerlich zu wenig mehr als wilder Spekulation und trug damit zu jener unliebsamen Tendenz in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts bei, von der die Neuropsychoanalyse uns eigentlich befreien sollte. Wenn es so einfach wäre, die neurowissenschaftlichen Termini und Konzepte aufzuspüren, die mit den komplexen mentalen Vorgängen korrelieren, die die Psychoanalyse zutage gefördert hat, dann wäre Freud damit wohl schon 1895 erfolgreich gewesen, als er seine eigenen fantasiereichen Versuche unternahm, die 1
„Dentistry of the mind" (zu Deutsch etwa: „seelische Zahnarzttätig-
keit" oder „Seelenklempnerei"), wie mein geistreicher Freund und Kollege Ricardo Steiner so treffend die typische professionelle Tätigkeit der meisten heutigen Psychoanalytiker beschrieb.
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Vorwort
Dynamik der Seele in neurologischen Begriffen zu erfassen, nämlich mit „Vorstellungen, Transpositionen und Vermutungen" (Freud, 1895/1950, S. 284). Wenn die Psychoanalyse wirklich die bisher nie dagewesene Gelegenheit nutzen wollte, die die Fortschritte der Neurowissenschaften ihr eröffnete - die Möglichkeit für die Neuropsychoanalyse, einen „neuen intellektuellen Bezugsrahmen für die Psychiatrie" (Kandel, 1999) zu liefern brauchte man Forschung,
nicht ein neues Kauderwelsch von
Wörtern. Mir war auf frustrierende Weise klar, dass klinische analytische Arbeit mit neurologischen Patienten eine der vielversprechendsten Forschungsrichtungen war, die uns zur Verfügung standen, aber niemand schien bereit, damit zu beginnen. Und, mehr noch, das war Forschung, die alle Analytiker
unternehmen
konnten, in ihrem üblichen Behandlungsraum, mit geringstem Aufwand, denn sie mussten keine neuen Methoden oder Technologien erlernen oder anwenden. Diese Methode ist gängige psychoanalytische Forschungsarbeit, aber angewandt bei Patienten mit bekannten Läsionen in umschriebenen Hirnregionen. Alles, was also anders ist, ist die Ätiologie
der seelischen Er-
krankung; alles Übrige ist alltägliche Arbeit. Am bedeutsamsten aber: Die Tatsache, dass die Ätiologie der seelischen Störung eine umschriebene Hirnschädigung ist, erlaubt dem analytischen Kliniker, empirische Beobachtungen über die funktionalen psychoanalytischen Korrelate definierter neuroanatomischer Strukturen zu machen. Darüber hinaus, versetzt es ihn in die Lage, diese Beobachtungen in dem einzigen Setting zu machen, das in angemessener Weise die metapsychologischen Konzepte anwendet (sie buchstäblich zum Leben erweckt), deren neuronale Korrelate wir suchen - denn diese Konzepte wurden alle aus Phänomenen abgeleitet, die in verlässlicher Form ausschließlich in der Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung
entstehen, in einem
professionellen
psychoanalytischen Setting. Sind die groben klinisch-anatomischen
Korrelationen, die aus
dieser Art klinischer Arbeit gewonnen werden können, erst einmal erfasst (in der einfachen, direkten Weise, die in meinem Buch aus dem Jahr 2000 beschrieben ist), dann wird es möglich,
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Vorwort
die sich ergebenden neuropsychoanalytischen Hypothesen mithilfe anderer (labortechnischer) Methoden zu testen und zu verfeinern. Dasselbe Verfahren ist in jedem anderen Zweig der verhaltensorientierten Neurowissenschaften angewandt worden, unter Benutzung anderer psychologischer Theorien und Techniken, die zum Studium anderer Aspekte seelischen Lebens besser geeignet sind. Dies ist die großartige Gelegenheit, die sich der Psychoanalyse in diesem bedeutsamen Augenblick der Geschichte eröffnet hat. Aus irgendeinem Grunde erfasste Klaus Röckerath all dies, als ich an jenem Abend in München 1995 meine Argumente darlegte. Warum er diese Argumente verstand und aufnahm - und, noch wichtiger, aktiv wurde - , wo doch fast jede Gruppe von Kollegen, die ich auf der ganzen Welt in all den Jahren vorher (und seitdem) mit denselben Überlegungen angesprochen hatte, es nicht tat, weiß ich nicht. Er kann dies besser erklären als ich. Alles, was zählt, ist, dass er es getan hat; der Rest ist, wie man sagt, Geschichte. Er und Marianne Leuzinger-Bohleber - die weithin anerkannte Psychoanalytikerin und Forscherin - haben sich dann daran gemacht, eine klinische Arbeitsgruppe in Frankfurt und Köln aufzubauen, bestehend aus sechs Psychoanalytikern (zusätzlich einem Neuropsychologen), von denen jeder einen Patienten mit rechtshemisphärischer fokaler Hirnverletzung in Behandlung nahm. Dann haben sie regelmäßig ihre klinischen Beobachtungen miteinander verglichen und diskutiert, sie meinen eigenen publizierten Befunden gegenübergestellt, und haben auf diese Weise umso fundierter unser Verständnis der tiefen psychologischen Funktionen dieser Hirnregion gefestigt, und die neuronalen Korrelate dessen, was Freud „Objektliebe" nannte. Laura Viviana Strauss, eine erfahrene Psychoanalytikerin, war früh ein Mitglied dieser Gruppe, die in der Folge ein Sprungbrett für eine Fülle lebendiger und kreativer neuropsychoanalytischer Aktivitäten in Deutschland und darüber hinaus geworden ist jetzt einmündend in diesem aufregenden Buch. Um Missverständnissen vorzubeugen und um den Leser nicht mit einer zu pessimistischen Sicht der gegenwärtigen Situation der klinischen Psychoanalyse zurückzulassen, freut es mich, zu
Vorwort
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sagen, dass sich seit 1995 eine Reihe anderer, ähnlicher Gruppen in verschiedenen Zentren weltweit zusammengefunden haben, zum Teil zweifellos angeregt durch Röckeraths Gruppe. Die vielleicht aktivsten von ihnen sind Daniel Wildlochers Gruppe in Paris und Edith Laufers in New York, neben meiner eigenen kleinen Gruppe in Kapstadt. Bevor ich zum Ende komme, möchte ich gerne noch einen zusätzlichen Punkt erwähnen, allerdings einen wichtigen. Klinisch neuropsychoanalytische Forschung ist - wie herkömmliche psychoanalytische Forschung - nicht nur eine Untersuchungsmethode; sie ist auch eine Behandlungsmethode. Die existierenden (vorwiegend kognitiven und verhaltenstherapeutischen) Methoden zur Behandlung der manchmal sehr schwerwiegenden seelischen Störungen, die neurologische Schädigungen und Erkrankungen begleiten, haben zu enttäuschenden Resultaten geführt. Im Lichte unserer ersten neuropsycho-analytischen Ergebnisse ist das nicht überraschend. Die älteren Ansätze hatten die Tendenz, seelische Symptome neurologischer Patienten in statischen Begrifflichkeiten zu konzeptualisieren: Ein Teil des Gehirns, der eine bestimmte geistig-seelische Aufgabe ausführte, war geschädigt, und als Folge litt der Patient jetzt unter einem bestimmten psychologischen Defizit. Solche Defizite können natürlich nicht korrigiert werden - schon gar nicht mit psychologischen Mitteln. Wir aber haben gefunden, dass diese Patienten, wie alle unsere Patienten, nicht unter einfachen Defiziten leiden. Natürlich sind sie defizient in verschiedenen spezifischen Aspekten (sind wir das nicht alle?), und es ist wahr, dass ihre größeren Defizite direkt aus der sichtbaren Schädigung des mentalen Apparates herrühren, doch reichen diese Defizite nicht völlig zur Erklärung der komplexen neuropsychiatrischen Syndrome aus, wie man sie typischerweise beobachtet. Diese Syndrome (z. B. Anosognosie, Konfabulation) sind zusammengesetzte Syndrome; die dynamischen Folgen primärer Defizite plus funktioneller Reaktionen. Diese funktionellen Reaktionen sind von ziemlich stereotyper (fast obligatorischer) Art, weil hierbei - wie bei jeder Psychopathologie - typische Entwicklungs- oder strukturelle oder andere Defizite dazu neigen, typische psychodynamische Reak-
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Vorwort
tionen hervor zu bringen. Als ein Ergebnis dieser relativ fixierten Verknüpfungen zwischen Defiziten und Reaktionen, beschreiben nichtanalytische Kliniker das Endergebnis, als sei es eine einmalige, notwendige und unveränderbare Konsequenz der Schädigung. Aber das stimmt nicht. Die sekundären dynamischen Reaktionen erweisen sich erwartungsgemäß als veränderbar durch Deutung. Der Grund dafür, dass die funktionalen Aspekte dieser Syndrome psychotherapeutischen Interventionen zugänglich sind, liegt nicht nur daran, dass sie nicht einfache Defizite sind, sondern auch daran, dass sie nicht nur kognitive Defizite sind. Sie sind psychodynamische Reaktionen im wahrsten Sinn des Wortes; das heißt, sie entsprechen (weitgehend unbewussten) motivierten seelischen Organisationen, angelegt, um das Selbst vor unerträglichen Zuständen zu schützen. Die Tatsache, dass diese Patienten, nicht weniger als alle anderen Menschen (von Menschen, deren Leben buchstäblich zerschmettert wurde, ganz zu schweigen), angesichts eines plötzlichen, überwältigenden Verlusts seelischen Gleichgewichts dazu gebracht werden, starke und oft primitive Abwehrreaktionen zu entwickeln, sollte niemanden überraschen. Aber es scheint selbst Psychoanalytiker zu überraschen. Weil die Ätiologie der seelischen Not neurologischer Patienten organisch ist, scheinen sie manchmal nicht länger als ganze Menschen angesehen zu werden - ohne weiteres Anrecht auf psychologisches Verständnis. Diese Patienten sind vielleicht am schlimmsten betroffen von dem, was Antonio Damasio (1994) so treffend als „Descartes' Irrtum" bezeichnet hat: Ihre Gehirne sind beschädigt, damit sind sie neurologische Patienten, es gibt folglich keinen Grund, psychologische Experten zu ihren Seelen zu befragen. Die Wahrheit ist natürlich, dass ihre Gehirne und ihre Seelen ein und dasselbe Ding sind und das eine niemals ohne das andere betroffen sein (oder verstanden werden) kann. Obwohl diese Art neuropsychoanalytischer klinischer Arbeit (nicht weniger als unsere klinische Forschung) ganz am Anfang eines langen Weges steht, sind unsere ersten klinischen Ergebnisse nicht weniger vielversprechend als unsere wissenschaftlichen. Aus diesem Grund weiß ich, dass ich mit meinen optimistischen Gefühlen im Hinblick auf die Zukunft nicht alleine bin. Und dieses
Literatur
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Buch, herausgegeben von Klaus Röckerath, Laura Viviana Strauss u n d Marianne Leuzinger-Bohleber, den Pionieren der klinischen Neuropsychoanalyse in Deutschland, trägt in h o h e m Maße zu m e i n e m Optimismus bei. M a r k Solms
Literatur Damasio, A. R. (1994). Descartes' error. Emotion, reason, and the human brain. New York: Grosset/Putnam. Deutsch: (1995). Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List-Verlag. Freud, S. (1895/1950). Project for a scientific psychology. SE Vol. 1, 284. Kandel, E. R. (1999). Biology and the future of psychoanalysis: A new intellectual framework for psychiatry revisited. American Journal of Psychiatry, 156, 5 0 5 - 5 2 4 . Kaplan-Solms, K. L., Solms, M. (2000). Clinical studies in neuropsychoanalysis: Introduction to a depth neuropsychology. London: Karnac.
Neglect-Syndrom: Diagnose und Therapie
Franz Dick
Phänomenologie des Neglect-Syndroms Zum Störungsbewusstsein und zum Problem psychologischer Erklärung
Vorbemerkungen Thematisch: Alle Wahrnehmungen und alle Bewegungen haben eine räumliche Dimension. Sie sind - im Unterschied zu sprachlichen Lebensäußerungen, die in erster Linie symbolischer Natur sind - durch räumlich-dimensionale Parameter zu beschreiben. Den wahrnehmenden und sich bewegenden Menschen interessiert das gemeinhin nicht. Er bezieht sich auf die Objekte der Wahrnehmung, auf die Ziele der Bewegung, die Absichten der Handlung. Das räumliche Bezugssystem (und das zeitliche, davon wird hier nur am Rande die Rede sein) ist ihm selbstverständlich und daher nicht bewusst. Erst wenn Widersprüche, Störungen auftreten, kann es ihm bewusst werden. Kann, muss aber nicht. Es wird eher anderen Menschen auffallen, wenn ein Bewegungsmuster oder eine Handlung auftreten, die in ihren räumlichen Dimensionen verzerrt sind. Das kann bizarr wirken auf andere. Das Individuum selbst wird es erst einmal nicht wahrnehmen und später vielleicht Mechanismen entwickeln, die es darüber „hinwegsehen" lassen. Das wichtigste Phänomen in dieser Störung der räumlichen Dimension ist das Neglect-Verhalten oder Neglect-Syndrom - es gibt viele Namen dafür: Hemineglect, Halbseitige Vernachlässigung, Hemispatial Neglect, Hemiinattention, unilateral spatial agnosia ... (vgl. dazu Halligan u. Marshall, 1993, S. 5). Diese Autoren listen 13 synonyme oder sinnverwandte Begriffe auf. Einer davon ist: Simultanagnosie. Es hat, seit es zum ersten Mal beschrieben wurde, nichts von seiner Faszination verloren - für die Berufsgruppen, die damit vor allem innerhalb der neurolo-
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Franz Dick
gischen Rehabilitation zu tun haben, und für die Wissenschaft; und mehr oder weniger auch für Menschen, die damit nicht beruflich zu tun haben. Biografisch: Vor allem zwei Ereignisse haben mein Interesse für diese Phänomene ausgelöst und dann aufrechterhalten. 1984 wies mir - als Neuling in der neurologischen Rehabilitation - ein Arzt einen Patienten zu, „mit jenem seltsamen Syndrom, von dem wir in letzter Zeit viel hören", mit Neglect-Syndrom. Das war für mich damals ein Novum. In meiner damaligen Auffassung, dass es die therapeutische Offenheit verlange, den Patienten über seine Defizite aufzuklären, zeigte ich einige Zeit später einem Patienten, der einen Schlaganfall hatte, die Video-Aufnahme über seine Leistungen im Nachlegen der Mosaik-Vorlagen im Test HAWIE-R. Man muss dazu bedenken, dass in der Video-Aufnahme das Aufgenommene von dem Patienten seitenverkehrt wahrgenommen wird. Was er auf der rechten Seite gelegt hat, sieht er in der Aufnahme links, und umgekehrt. Rechts wird links - und links wird rechts, also für den Patienten mit linksverzerrter Aufmerksamkeit leicht wahrnehmbar. Er sieht auf der rechten Seite, was er auf der linken angerichtet hat. Der Patient war Architekt, also ein künstlerischer und technischer Gestalter von räumlichen Beziehungen. „Wie können Sie mir so meine Fehler demonstrieren ? Sie... als Psychologe ... ?" Er war offenbar entsetzt über seine Fehler und zeigte mir sein Empfinden. In der Folgezeit war die therapeutische Beziehung erheblich belastet. Viel Arbeit war notwendig, den Patienten in der Überwindung dieser Kränkung durch mich zu unterstützen und überhaupt die therapeutische Beziehung wieder aufzubauen. Und ich habe seitdem nie mehr in vergleichbarer Weise einen Patienten aufklären wollen. Ich stellte mir die Frage: Wie sieht der Patient selbst die Welt u n d seine eigene Handlungsweise? Das „Bezugssystem" seiner Wahrnehmung ist ein anderes als das meinige. Ich darf in der Kommunikation mit dem Patienten und in der Therapie nicht mein eigenes Bezugssystem stillschweigend voraussetzen. In der Neglect-Literatur, die ich mir vornahm, fand ich wenig Unterstützung in dieser Frage. Sie hat dazu den Syndrom-Begriff
Phänomenologie des Neglect-Syndroms
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Anosognosie (NichtWahrnehmung der eigenen Erkrankung; dazu unten) entwickelt und dem Patienten, der nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst anders wahrnimmt als der Gesunde, eine weitere Störung zugeschrieben. Die neurologische Lokalisationslehre will das Phänomen der Anosognosie vor allem dadurch erklären, dass sie nach Vorzugsorten der Läsion im Gehirn, die einer solchen Störung entsprächen, sucht. Die Erfahrung lehrt, dass ein Patient sich sehr wohl nach und nach des Problems bewusst werden kann. Der Begriff Anosognosie aber sagt nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen dieses Problem auftritt, und vor allem: wie ein Patient sich seiner Störung bewusst werden kann. Erst in der systemtheoretischen Denkweise, wie ich sie dann in dem damaligen Kultbuch „Der Baum der Erkenntnis" von Varela und Maturana (1987) studieren konnte, fand ich Gesichtspunkte, die ich als Anregung für diese Fragen aufnehmen konnte. Viele Jahre später fühlte ich mich bestätigt bei der Lektüre von „Phänomenologie der Wahrnehmung" von Merleau-Ponty (1966), in dem die Bedeutung des Bezugssystems in jeglicher Wahrnehmung herausgearbeitet wird. Ich habe seitdem mit einigen Hundert Patienten mit NeglectVerhalten diagnostisch und therapeutisch gearbeitet. Etwa zwölf Jahre lang habe ich Patienten mit Neglect-Verhalten in Gruppen von drei bis zehn Patienten zusammengefasst. Gruppen haben den Vorteil, dass Patienten bei anderen Patienten beobachten können, was sie bei sich selbst nicht wahrnehmen. Sie lernen dabei: Ihre Situation ist nicht einmalig, es gibt auch andere Menschen, die damit Probleme haben. Das erscheint mir besonders bei diesem Phänomen von besonderer Bedeutung. Ein drittes Ereignis hat mein Interesse noch einmal neu geweckt - die Einladung zur und Mitarbeit in der Neuropsychoanalytischen Arbeitsgruppe Frankfurt/Düsseldorf/Köln. Die Fragen im Zusammenhang mit der Psychotherapie bei NeglectPatienten, wie sie dort aufgeworfen wurden - das Verhältnis der Neglect-Symptomatik zum Ganzen der Persönlichkeit - , gehen weit über die übliche neuropsychologische Phänomenologie und Erklärungsversuche hinaus. In diesem Zusammenhang ist dieser Beitrag geschrieben. In ihn gehen also die Diskussionen und
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Franz Dick
Anregungen innerhalb dieser Gruppe ein, für die ich dankbar bin. Begrifflich, methodisch: Was wird unter einem Neglect-Syndrom verstanden? Das ist der Gegenstand der Ausführungen in diesem Aufsatz. Damit sollen die weiteren Ausführungen in dem Buch vorbereitet werden. Wir denken dabei zunächst an die Leser, die mit dem klinischen Bild des Neglect-Syndroms wenig oder nicht vertraut sind. Leser, die damit vertraut sind, werden einige Aspekte aufnehmen können, die in der Literatur wenig oder nicht betont werden. Sie werden Auffassungen vorfinden, die in der neuropsychologischen Literatur nicht vertreten werden. Es kommt mir auf die psychologische Äußerungsform des Neglect-Syndroms an, nicht auf dessen neurologischen Grundlagen. Dabei interessieren mich mehr die dynamischen als die statistischen Aspekte: mehr die Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Merkmalen als ihre genaue Häufigkeit; mehr ihre prinzipielle Verbindungsmöglichkeit als die statistisch erhobene Interkorrelation; mehr die Entwicklung über der Zeit als der aktuelle Querschnitt (zu einem Zeitpunkt). Ich stütze mich also auf die Vielfalt von klinischer Erfahrung und versuche nicht, die Komplexität der Phänomene zu reduzieren. Ich nutze also die Vorteile der klinischen Erfahrung gegenüber der Forschung. Entsprechend sind die Aussagen häufig nur qualitativ, ohne quantitative Festlegung. Insofern mögen sie angreifbar sein. Das Neglect-Syndrom wird als psychologisches Phänomen dargestellt, mit seinen unterschiedlichen Äußerungsformen, mit der Verbindung von Symptomen untereinander und ihrer möglichen Dissoziation, mit ihrem aktuellen Bild und dessen Entwicklung. Erst dann wird Bezug genommen auf die Assoziation mit neurologischen Symptomen und auf ihre organisch-neurologische Grundlagen. Daraus ergibt sich auch, dass zunächst nicht berichtet wird, dass linksseitige Neglect-Phänomene in ihrer Häufigkeit stärker verbreitet, in ihrer Schwere ausgeprägter und ihrer Äußerung anhaltender sind als rechtsseitige. Dieser Aufbau wird den Erwartungen des Lesers, der mit dem NeglectPhänomen vertraut ist, vielleicht widersprechen.
Phänomenologie des Neglect-Syndroms
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Um dem Begriff des Syndroms auszuweichen, spreche ich im Folgenden in der Regel von Neglect-Symptomatik. Der Anspruch ist also eher deskriptiv als auf der Suche nach Syndromen ordnend oder erklärend. Anders als Syndrom legt Neglect-Symptomatik nur ein lockeres Bündel von Einzelmerkmalen nahe. Auch Neglect-Verhalten würde diesem Anspruch genügen. Er würde aber nur auf das beobachtbar-äußere (das diagnostisch Sichtbare) verweisen, nicht auch auf die (Selbst-)Wahrnehmung und andere innere Prozesse, die auch mit angesprochen werden. Es werden zwar Anknüpfungspunkte theoretischer Erklärung, die in der Literatur angeboten werden, genannt; es wird aber nicht im Einzelnen auf diese eingegangen. Ich unternehme also den Versuch, in der theoretischen Deutung möglichst enthaltsam zu sein, das heißt, ich gebe in der phänomenologischen Darstellung keiner der theoretischen Deutungen den Vorzug. Aus diesem Grund spreche ich auch nicht von verschiedenen Arten von Neglect, da manche der Bezeichnungen (repräsentationaler, objektzentrierter Neglect) schon eine theoretische (Syndrom-)Festlegung enthalten. Nur eine Darstellung der Vielfalt und Differenziertheit des Phänomens und der häufig niedrigen Interkorrelationen von Einzelmerkmalen kann eine Basis für theoretische Erklärungsversuche sein. Erklärungen sollten nicht die Einzelmerkmale verabsolutieren, an denen sie einseitig anknüpfen. Ich nenne in der beschreibenden Darstellung einzelne Anknüpfungspunkte (modern: Schnittstellen) für die psychologische Deutung einzelner Phänomene (Deutungen, die nicht beanspruchen, das ganze Phänomen in seiner Komplexität zu erklären), ohne diese Deutungen hier auszuführen. Nur am Rande erwähnt werden die diagnostischen Methoden zur Prüfung von Art und Schwere des Neglect-Syndroms und auch therapeutische Interventionsmethoden (siehe dazu Ferber u. Karnath, 2002; Übersichten in Kerkhoff, 2004, S. 457 ff., sowie Rustenbach, Pawlik u. Wein, 2000). Die Abbildungen sollen - vor allem für die Leser, die mit dem Phänomen nicht oder wenig vertraut sind - die Darstellung im Text verdeutlichen. Zum Teil bringen sie zusätzliche Aspekte gegenüber dem Fließtext ein. Man wird es den Abbildungen an-
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Franz Dick
sehen, dass sie im Rahmen der klinischen Praxis und nicht im Rahmen eines (standardisierenden) Forschungsprojektes gesammelt sind. Bei einigen Abbildungen sind die ursprünglich (für neurologische Patienten typisch) schwach gezeichneten Linien nachgezogen, damit sie in der grafischen Verkleinerung besser zu erkennen sind.
1 Zum Begriff, zu Symptomen und Symptomebenen Neglect-Syndrom - wie bei jedem Syndrom-Begriii - lässt das Syndrom die Einheitlichkeit der damit zusammengefassten Phänomene leicht überschätzen. Die Forschung und vor allem die klinische Erfahrung im neurologisch-rehabilitativen Bereich zeigen, wie vielfältig die Neglect-Phänomene sind. Gleichwohl ist ihnen eines gemeinsam: Die Asymmetrie in der Zuwendung zur Welt (der äußern Welt u n d dem eigenen Körper), u n d zwar sowohl der passiven wie der aktiven Zuwendung: zunächst der Perzeption der Umgebung und des eigenen Körpers. Dieser Asymmetrie der Perzeption entspricht die Asymmetrie der Expression, also der Bewegung der Gliedmaßen, und die Asymmetrie der Handlung, in welcher die Einzelbewegungen unter dem Vorzeichen einer Intention zusammengefasst sind. Asymmetrie von rechts und links, also zwischen den beiden Seiten, wobei die Achse des Körpers und/oder die des Gesichtsfeldes als Bezugslinie gedacht sind. Terminologisch soll hier - der Einfachheit halber - festgelegt werden: Die Neglect-Seite ist die Seite der Neglect-Phänomene, nicht die Seite der organischen Läsion, welche das Neglect-Phänomen verursacht. Die Neglect-Seite ist also die gegenüber der Läsion kontraläsionale Seite. Die ipsiläsionale Seite (die Seite der Gehirnläsion) ist immer die Nicht-Neglect-Seite.
Phänomenologie des Neglect-Syndroms
1.1
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Explorationsverhalten
Das erste und sichtbarste Merkmal ist das asymmetrische Explorationsverhalten nach rechts oder nach links; die ungleiche Zuwendung der (rezeptiven) Aufmerksamkeit nach den beiden Seiten des Raumes und des eigenen Körpers. Rechts heißt dabei rechts von, und links heißt links von. Mitgedacht ist bei diesen räumlichen Parametern immer eine Bezugslinie:
Die wichtigsten Bezugslinien sind die Mittelachse des
ff
eigenen Körpers und die Mittelachse des Gesichtsfeldes (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Gesichtsfelddiagramm: Homonyme Hemianopie nach links. Das Gesichtsfelddiagramm kann auch als schematisches Modell visueller Aufmerksamkeit dienen, wobei es einen Fokus (um die Fovea) und eine Peripherie der Aufmerksamkeit gibt. Natürlich kann die Aufmerksamkeit auch ohne Verschiebung des visuellen Fixationspunktes in die Peripherie verschoben werden (Aufmerksamkeitsverschiebung).
Das neglecthafte Explorationsverhalten ist vergleichsweise leicht zu prüfen durch Beobachtung der spontanen und der evozierten Blickwendung bei Suchaufgaben. Zum Beispiel wird es beim Textlesen leicht sichtbar: Es wird nur ein kleiner Bereich des Textes berücksichtigt und erfasst; das wird besonders deutlich im sprunghaften Wechsel der Fixation, beim Zeilensprung, also beim Textlesen (siehe Abbildung 2). Dabei könnte die Zeilenform des Textes es den Augen leicht machen, die Fixation über die ganze Breite der Seite zu führen. Und bei unvollständigem Lesen könnte der Text selbst, seine inhaltliche Kohärenz, eine Aufforderung sein, erneut und dann vollständig zu explorieren (vgl.
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Franz Dick
Karnath, 1993, S. 122). Es treten beim Lesen aber auch Fehler auf der Nicht-Neglect-Seite auf (siehe Abbildung 3).
U H n SU Ilen dleiea alt« Irlich« Volksmärchen durch. Ajnenll»ß»na tollan Sie rr«9«n su diesen MKrehen beantworten.
/Pin« T«M nlnn «in armer alter Mann die Landitragrfantlang. Dar Tag war kalt un£pa5 gewesen] und der Alte hörte seinen Miwdjvor Hunger k n u r r e n j A ^ i ^ r ^ m d a c k t « «r ganz in der Nähe «infRlus. Er ging erwanunotySiTttarauf zu,[klopft« an die Haustür und b t t ä t t f i s t ü n . die Ihm/dt» t U öffnet«, um etwas EßbarasAioch die Prau^rwiderte. es sei n i c h u T S i r a Da fragte der alte Manfi die Köchin. offerRcht wenigstens eintreten/dürfe, um sich am Ofen tu trocknen. -Nur|gut" t sagte
Abbildung 2: Lesediagramm zwei und sieben Monate nach cerebrovasculärem Infarkt. 64-jährige Patientin mit Hemiparese und Hemianopie links. Auch bei der zweiten Untersuchung gelingt nach gutem Beginnen der Fixationssprung zum Anfang der Zeile nicht. Herr undjf7rau M e i e r frühstücken j gemütlich zusammen. D a n a c h zieht) H e r r M e i e r s e i n e n M a n t e l an, n i m m t seinejTascheJ u n d g c i ) 0 i u s d e i n I laus. Er fahrt m i t s e m e m / a l l e n . roten A u t o , mit d e m röhrenden/Auspuff, z u m Büro. d a s j B ü r o i i s t / i n d e r l n n e n s t a d t r irh 1 0 . S t o c k "eines) H o c E h a u s e s T ) ÄTs H e r r M e i e r i n d a s j H o c h h a u s h i n e i n g e h t , sieht er e i n S c h i l d [ a m A u f z u g . N i c h t in B e t r i e b steht darauf. Er g e h t d i e ^ T r e p p e h i n a u f . D i e T r e p p e h a t über 2 0 0 StufenJHerr M e i e r k o m m t z u spät. Sei^ Chef schimpft. Abbildung 3: Neglect-Lesefehler - trotz Links-Neglect auf der rechten Seite in Wirklichkeit auf der linken Seite; nämlich links von der Blickachse, die naturgemäß beim Lesen wechselt. Und zwar springt sie von einem visuellen und semantischen Schwerpunktwort eines Satzes zum nächsten. Einzelne Wörter oder Wortanfange gelangen so auf die linke Seite. So kommt es zu Links-Neglect-Fehlern auch auf der rechten Seite des Textes.
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Phänomenologie des Neglect-Syndroms
Beim Lesen geben die Worteinheiten Anhaltspunkte dafür, dass ein Leseakt unvollständig war und die visuelle Exploration sozusagen noch einmal ausholen muss. Daher werden zur Prüfung unvollständigen
Explorationsverhaltens
gerne nicht
zusam-
menhängende Wort- und Zahlzusammenstellungen genommen. Oder es werden sinnleere Figuren oder Buchstaben vorgegeben, wie bei dem gebräuchlichen Albert-Test (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Einfache Explorationsaufgabe: „Streichen Sie bitte die Linien durch, die Sie sehen." Drei Anwendungen des Albert-Tests mit einem Patienten mit rechtshemisphärischem Insult mit einigen Wochen Abstand. Die linke Seite wird nach und nach wieder besser exploriert.
Abbildung 5 zeigt, dass rechts und links keine absoluten Begriffe sind, die sich fest auf eine Raumseite (gemessen an der Körperachse) beziehen. Bei visuellen Aufgaben ist rechts immer rechts von etwas, nämlich von der Blickachse; links ist links von der Blickachse. Wo links war, kann rechts werden, und wo rechts war, kann links werden - wenn die Blickachse verschoben wird. Und immer wieder wird der Gegenstand auf der einen Seite weniger exploriert als auf der anderen. Allerdings: Je weiter die Blickachse nach links bewegt wird (in dem Beispiel ist das nicht der Fall), desto stärker setzt sich die Unterscheidung zwischen links und
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Franz Dick
rechts in den Objektzeichnungen durch, und desto unvollständiger wird in der Regel die Zeichnung auf einer Seite ausgeführt. (Schon der bekannte russische Neuropsychologe Luria, 1970, S. 175, hat darauf aufmerksam gemacht.)
Abbildung 5: Sorgfältige Seidenmalerei einer Patientin, 61 Jahre alt, drei Monate nach Media Teilinfarkt rechts: Die linke Seite des Blattes wird ausgeschöpft, aber die linke Seite der Bäume fehlt - immer von Neuem. Format: immerhin etwa DIN A2!
Die einseitig defizitäre Exploration kann sich auf zwei Arten manifestieren: als einseitig verschobener Ansatz der Exploration, in dem Sinne, dass die Fixation bei Links-Neglect erst in der Mitte ansetzt, statt links außen. Sie kann sich darin manifestieren, dass die Richtung der Exploration (und von Handlungen, die von Exploration abhängen, zum Beispiel zeichnerisches Kopieren) entgegen der kulturbedingt gewohnten Richtung realisiert wird (zum Beispiel von rechts nach links Zeichnen - oder auch beim Lesen, wenn einzelne Wörter oder Zahlen statt eines kohärenten Textes zum Vorlesen innerhalb der Prüfung vorgegeben werden).
Phänomenologie des Neglect-Syndroms
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1.2 Spontanzeichnungen und Visuokopien Wird die Aufgabe gegeben, einen konkreten Gegenstand oder eine geometrische Figur (ohne Vorlage) zu zeichnen, so wird geprüft, ob die räumliche Vorstellung dieser Figur beziehungsweise des konkreten Gegenstandes vollständig ist. Vorsichtiger ausgedrückt: Es wird geprüft, ob aktuell ein Zugang zu einer inneren Vorstellung realisiert wird, welche sich, wie sich zeigen wird, auch als vollständig präsentieren kann (siehe Abbildung 6 A und 6 B).
Abbildung 6 A: Weihnacht! 6 B: Europa hört im Westen schon bei Frankreich auf. Zeichnung eines Lehrers (Geografie!) nach rechtshemisphärischem Hirninfarkt.
Klassisch und bekannt ist die Neglect-Uhr: Die Zahlen, welche die Uhrzeit bedeuten (in der Regel auf der linken Seite), werden verlagert auf die rechte Seite - oder sie werden gleich ganz weggelassen. Das geht über eine unsymmetrisch-fehlerhafte Exploration hinaus. Es wird in diesem Fall ja nicht visuell exploriert, sondern es wird zeichnerisch die innere Vorstellung der räumlichen Formeines Gegenstandes ausgedrückt. (Gelegentlich wird dies als objektzentrierter Neglect bezeichnet.) Ist diese innere Vorstellung gar auf einer Seite unvollständig? Oder kann sie nur auf einer Seite in unvollständiger Form (wegen gestörter
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Aufmerksamkeit) übertragen werden? Ist das Prinzip der Geschlossenheit, jenes oberste Prinzip der Wahrnehmung, wie es die Gestaltpsychologie ausgeführt hat, abhanden gekommen oder beschädigt? (Vgl. Rock u. Palmer, 1991, S. 68: „Einige ihrer [der Gestalttheorie; F.D.] Ideen sind in der Theorie der neuronalen Netze zu neuem Leben erwacht.") Es scheint so zu sein (siehe Abbildungen 7 A, B und C).
Abbildung 7 A, 7 B, 7 C: Unterschiedliche Neglect-Uhren. Uhr A: Eine ganz normale Neglect-Uhr. Die Zahlen werden nach rechts verlagert, links bleibt frei. B: Die Zahlen eins bis sechs werden zunächst einigermaßen korrekt eingezeichnet. Die Zahlen, die größer sind als sechs, dann auch auf die rechte Seite, es wirkt die laterale Schwerkraft. Am interessantesten ist Zeichnung C: Sie wirft nachträglich ein Licht auf die vorherigen Zeichnungen. Sie zeigt, dass das Bewusstsein für eine Seite des Gegenstandes, und zwar für die linke, abhanden gekommen zu sein scheint. Die Zahlen, die größer sind als sechs, werden gleich gar nicht eingezeichnet. Das symbolische Wissen um die Zahlen, die auf die linke Seite gehören, scheint dem räumlichen Defizit zum Opfer gefallen. Häufiger und typischer sind die Beispiele entsprechend B: Die Zahlen werden auf eine Seite verlagert. Das Wissen um die Zahlen ist sichtbar erhalten, nur ihre räumliche
Anordnung ist einseitig verzerrt. Das Resultat
dieser Zeichnungen ist also ein Kompromiss zwischen dem (intakten) symbolischen Wissen einerseits und der Vorstellung von der räumlichen Anordnung der Zahlen andererseits. Für mich hat das Beispiel paradigmatischen Charakter und großen Verallgemeinerungswert: Für den beobachtenden Diagnostiker hat die Zeichnung Symptomcharakter; es signalisiert bloß das Defizitäre. Dabei zeigt sich in dem Prozess des Zeichnens nicht nur das Fehlende, sondern auch das Vorhandene, das Gelingende.
Zeichnerische Kopieraufgaben dagegen setzen Exploration voraus. Sie eignen sich dazu, die Symmetrie der Exploration zu prüfen, und zwar insbesondere, wenn sinnfreie oder annähernd
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Abbildung 8: Kopie einer einfachen Blumenzeichnung.
sinnfreie (abstrakte) Vorlagen zu kopieren sind. Bei solchen erleichtert nicht eine innere Vorstellung die Übertragung und sie erübrigt nicht die Exploration. Einfache Vorlagen erleichtern die Exploration (siehe Abbildungen 8 und 9). Sind die Vorlagen vergleichsweise komplex, wird die Exploration erschwert und daher besonders fehleranfällig. Das ist wohl der Grund dafür, dass sich die Rey-Figur (siehe Abbildung 10), welche ursprünglich nicht als Neglect-Test gedacht war (vgl. Rey, 1941), sich so gut zur Prüfung von Exploration und Neglect-Verhalten eignet. Wenn nun bekannte Gegenstände (also solche Muster, von denen eine innere Vorstellung besteht) zu kopieren sind, dann vermischen sich die unsymmetrisch-fehlerhafte Exploration und die Realisierung einer inneren Vorstellung, die lateral unvollständig zu sein scheint. Wenn Kopiezeichnungen auf einer Seite unvollständig bleiben, so wird das in der Regel der unvollständigen Exploration zugeschrieben. Reicht dieser Hinweis aus? Erklärungen dieser Art berücksichtigen nicht den klassischen Beitrag der Gestaltpsychologie. In vielen Kopien von abstrakten Figuren (Rey-Figur, siehe Abbildung 10) oder konkreten Vorlagen (Uhr, Blumen, Haus, siehe Abbildung 8 und 9) fehlen nicht nur Bausteine auf einer Seite, vielmehr bleiben auch elementare Bausteine (zentral gelegene Bausteine und so einfache Bausteine wie Quadrat und Kreis) in der Kopie unvollständig. Es besteht offenbar nicht das Bedürfnis, die Grundstruktur zu vollenden. Das allgemeine Ge-
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auf der rechten Seite keinen Abbruch.
setz der Gestaltschließung
(in Wahrnehmung und Handlung)
scheint aufgehoben, wenn auch nur am Rande der Exploration, an der Grenze zur Nichtexploration. Diesem Gesichtspunkt wird in der neuropsychologischen Literatur zum Neglect-Syndrom wenig Aufmerksamkeit geschenkt (z. B. in Karnath, 2000; und in Kerkhoff, 2004). Bei der Methode der Transparentkopie
(Kopieren auf Trans-
parentpapier) ist die Vorlage ohne häufigen Blickwechsel dauernd annähernd sichtbar. Sie macht dem Patienten das Zeichnen leicht, da sein Blick nicht zwischen Vorlage und Zeichnung zu wechseln braucht. Nimmt der kopierende Patient auch nur ein bisschen neben dem Fixationspunkt wahr, so ist er veranlasst, weiter zu dieser Seite zu explorieren. Diese Methode gibt dadurch dem Beobachter Gelegenheit, den Vorgang der Exploration, das stückweise Vorgehen insbesondere auf die eine - die vernachlässigte - Seite, genauer zu beobachten. Unterschiede zwischen den Seiten rechts und links innerhalb der Exploration werden nicht nur bei Betrachtung des Resultates, sondern in der Beobachtung des Vorgehens leicht sichtbar (siehe Abbildung 11).
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Abbildung 10: Rey-Osterrieth-Figur in der Originalversion von Rey (1941, 1957) und verschiedene Kopierversuche. Wegen ihrer Komplexität sind die Patienten beim Kopieren besonders überfordert (vgl. dazu Visser, 1980), was ihre unsymmetrische Exploration zum Vorschein bringt. Es wird in der Regel vorgeschlagen, sie in seitlicher Lage darzubieten; die aufrechte Vorgabe hat aber den Vorteil, dass die Figur annähernd symmetrisch erscheint. Die ReyOsterrieth-Figur ist - mit Recht - besonders verbreitet in der neuropsychologischen Diagnostik. Die zahlreichen Versuche, ihre Auswertung zu standardisieren (z.B. Fastenau, Denburg, u. Hufford, 1999), drücken die große Beachtung für sie aus. Die Figur und ihre diagnostische Vielseitigkeit überstanden und überstehen diese Versuche tapfer.
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1.3 Neglect-Verhalten und Sinnesmodalität Neglect-Verhalten kann an eine (Sinnes-)Modalität gebunden sei, und es kann modalitätsübergreifend (supramodal, multimodal) auftreten. Es ist - wenn isoliert - vor allem an die visuelle Modalität geknüpft, weswegen auch häufig bloß von einem visuellen Neglect gesprochen wird. Auditiv kann es sich wiederum mehrfach zeigen. Zunächst darin, dass bei akustischen Reizen auf der Neglect-Seite nicht reagiert wird - als ob sie überhört würden. Oder zu einer Zuwendung zur anderen Seite hinführen. Patienten wenden sich beispielsweise nach rechts, wenn sie von links angesprochen werden. Oder sie lokalisieren den akustischen Reiz in der entgegengesetzten Richtung, wenn sie gefragt werden, in welcher Richtung eine akustischer Quelle lokalisiert ist. Also weg von der Neglect-Seite. Ähnlich können sie taktile Reize auf der Neglect-Seite ignorieren oder - in ihrem verbalen Report oder in ihrem praktischen Verhalten (z. B. durch Hingreifen) - auf die entgegengesetzte Seite lokalisieren (Allästhe-
sie).
1.4 Neglect-Verhalten und Greifraum Neglecthafte Wahrnehmung kann sich im körpernahen Greifraum (personaler Neglect1) anders darstellen als in dem körperentfernten Fernraum (überpersonaler Neglect). Neglect-Prüfungen können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem, ob sie auf große oder geringe Distanz durchgeführt werden (vgl. Klos, Geggus, Kohl u. von Stockert, 2003). Es kann auch innerhalb einer Seite weiter oben und weiter unten unterschiedlich stark ausgeprägt sein (vgl. Baas, Bivetti, Gutbrod u. Müri, 2004). Das ist meine klinische Erfahrung; darüber wird auch in der Literatur berichtet.
' „Personal"
- welche gedankenlose Wortwahl! Abseits von jeglicher
(philosophischer, juristischer) Bedeutung des Wortes „Person"!
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Abbildung 11: Drei Aufgaben in Folge für denselben Patienten A: die ReyFigur bei vertikaler Vorlage kopieren. Bei einer solchen Aufgabe muss der Blick zwischen Objekt und Handlung hin und her wechseln. Fehlende Details, unvollständige Figuren, fehlende Gestaltschließung. B: Zweite Aufgabe: dieselbe Vorlage auf Transparentpapier durchpausen: Blickführung und Handlung können eng zusammenbleiben. Das Ergebnis ist eine bessere, eine vollständigere Kopie. C: Dritte Aufgabe: nach Kopie und Transparentkopie die Figur aus dem Gedächtnis zeichnen. Nach dieser längeren und für den Patienten etwas mühsamen Auseinandersetzung mit der Figur blieb nur das Detail ganz auf der rechten Seite. In der räumlichen Erinnerung scheint die linke Seite gelöscht. 76-jähriger Patient, vier Wochen nach rechtshemisphärischem ischämischem Insult.
1.5 Neglect in Perzeption u n d Expression; Motorischer Neglect u n d Direktionale Dyskinesie Neglect-Verhalten bezieht sich zunächst augenfällig auf die rezeptive Seite. Es kann die expressive Seite umfassen. Um das zu erfassen, reicht genaue Beobachtung nicht aus, sondern es muss in der Regel eine diagnostische Intervention erfolgen. Neglect-Verhalten umfasst die expressive Seite in dreifacher Hinsicht. a) Bewegung beginnt bei der Haltung der einzelnen Gliedmaßen (sozusagen als Nullzustand der Bewegung) und des gesamten Körpers. Die typische Körperhaltung (physiologisch bedingt durch Hypertonus auf der ipsiläsionalen Seite und Hypotonus auf der kontraläsionalen Seite) bei Neglect-Patienten wurde ursprünglich als Pusher-Syndrom beschrieben (Kerkhoff,
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2004, S. 1 3 - 1 4 ) . Die bekannte Physiotherapeutin P. Davies (1986) hat unter diesem Begriff eine gute Beschreibung von Neglect-Symptomatik abgegeben, die in der neuropsychologischen Literatur häufig ignoriert wird. Sie hat dabei das Wort Neglect nicht verwendet (S. 294 ff.). Freilich wird gegenwärtig das Pusher-Syndrom anders beschrieben und definiert (siehe z. B. Greß-Heister, Letzel u. Heister, 2000). Darunter wird inzwischen das aktive Drücken des Körpers in Richtung der nicht gelähmten Seite verstanden. Das Phänomen Pusher-Syndrom wird also vom Neglect-Phänomen losgelöst. Die neglectbedingte Fehlhaltung wird inzwischen korrekter als Posturale Imbalance, bezeichnet, was sich durchgesetzt hat (vgl. Kerkhoff, 2004, S. 2 9 - 3 0 ) . Auch hier gibt es eine große Vielfalt. b) Häufig werden die Gliedmaßen auf einer Seite spontan (d. h. ohne Aufforderung) nicht oder erheblich weniger bewegt, obwohl keine oder nur eine unverhältnismäßig schwache Lähmung vorliegt. Der tatsächliche Einsatz der Gliedmaßen auf einer Seite entspricht nicht ihrer Einsatzfähigkeit (Motorischer Neglect oder unilaterale Hypokinesie). In diesen Zusammenhang gehört die Unfähigkeit, beispielsweise eine Armhaltung, welche besondere Kraftanstrengung erfordert, längere Zeit aufrechtzuerhalten (Motoric impersistence). Wer Neglect-Patienten bei Entspannungsübungen (Progressive Muskelentspannung, Jacobson-Methode) beobachtet, hat viel Gelegenheit, dieses Phänomen in Bezug auf ihre Augenlider, die nur für kurze Zeit geschlossen gehalten werden, zu registrieren. Die Vernachlässigung des Einsatzes von Gliedmaßen auf einer Seite kann sich auf einfache Bewegungen beziehen oder auf komplexe Handlungen: Ich habe beobachtet, dass ein Patient (der ohne Armlähmung war) den Lichtschalter nur dann betätigte, wenn dieser sich nicht auf der Neglect-Seite befindet. Befand sich der Schalter auf der Neglect-Seite, äußerte sich also nicht das Bedürfnis, ihn zu betätigen. Das Bewusstsein für die notwendige Handlung scheint an eine Seite geknüpft. Das Problem des motorischen Neglect-Verhaltens enthält meines Erachtens den Schlüssel für den Übergang von bewusstintentionaler Bewegung einzelner Gliedmaßen zur unbewusstautomatisierten Bewegung im Kontext der Fortbewegung im
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Raum (Locomotion: mit oder ohne Hilfsmitteln wie Rollstuhl) oder anderer Handlungen. Das Rehabilitationsziel Laufen Lernen besteht für diese Patienten darin, dass sie von der bewusst intendierten Einzelbewegung zu deren Automatisierung übergehen. Die Bewegung einzelner Gliedmaßen muss zum selbstverständlichen Bestandteil einer komplexen Handlung (Laufen, Ortsbewegung zu einem Ziel hin) werden. Einer meiner Patienten mit noch leichten NeglectSymptomen hat das eindrucksvoll ausgedrückt: „Früher bin ich mit den Beinen gegangen, heute muss ich mit dem Kopf gehen." Auf dieses Problem antwortet die verhaltenstherapeutische Methode der Selbstinstruktion bei Neglect-Patienten (Brüggemann, Ruoß u. Weber, 1999). Mit diesem Übergang sind innerhalb der Rehabilitation eher die Physiotherapeuten befasst als Ärzte und Psychologen. Ich habe den Eindruck, dass dem vor allem in der psychologischen Neglect-Literatur verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. c) Mehr noch: Das Bewegungsmuster auf der Nicht-NeglectSeite (der „gesunden" Seite2) kann in seiner Richtung bizarr verzerrt sein. Typisch ist, dass Patienten neben ein Zielobjekt greifen, und zwar bei Links-Neglect rechts daneben und entsprechend bei Rechts-Neglect links daneben. Es scheint so, als ob die Bewegung sich mühsam gegen eine einseitige Kraft, eine Art lateraler Schwerkraft, behaupten müsste (Direktionale Dyskinesie; siehe dazu Abbildungen 12, 13 A und 13 B). Mit Recht verwehren sich viele Physiotherapeuten dagegen, dass von einer kranken und einer gesunden Körperseite gesprochen wird. Bei einer zerebralen Lähmung sind eben nicht bloß die einzelnen Gliedmaßen betroffen, sondern das Bewegungssystem, was vor allem bei Patienten mit Neglect-Symptomen sichtbar der Fall ist.
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Gesund ist hier in Anführungszeichen gesetzt: Diese Seite ist bei ze-
rebraler Lähmung immer mit betroffen.
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Abbildung 12: „Fügen Sie bitte in diesen Kreis die Zahlen der Uhr ein!" Patient fängt rechts mit der Zwölf an, um dann noch weiter rechts fortzufahren. Es wirkt die laterale Schwerkraft nach rechts. Die Papiervorlage musste nach rechts hin angebaut werden. 72-jähriger Patient, zwei Monate nach CVI rechtsparietal, mit Hemiparese links, ohne Hemianopie.
liegt unter Transparentpapier). Die Nummern zeigen die Folge der Zeichnungsschritte: Die laterale Schwerkraft nach rechts hin wird sichtbar: Wo immer die Möglichkeit besteht, nach unten, nach links oder nach rechts zu zeichnen, wird der Weg nach rechts gewählt. 56-jährige Patientin mit CVI rechts, ohne Parese.
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Abbildung 13 B: Im zweiten Versuch wird die Pauskopie bis zum Ende angefertigt. Die Zahlen zeigen - auch mühsam für den Leser dieses Textes die für den Patienten mühsame Reihenfolge der Schritte.
1.6 Verschränkung von (räumlicher) Neglect-Symptomatik und symbolischen Funktionen Wörter und Zahlen unterscheiden sich grundlegend von räumlichen Elementen und Beziehungen (Punkte, Linien, Strukturen ...). Räumliche Elemente stehen für sich selbst. Wörter und Zahlen weisen auf anderes, sie haben Bedeutung, und erst diese macht ihr Wesen aus. Wir nennen sie Symbole, wenn ihre Bedeutung konventionell bestimmt ist. Aber wenn sie hingeschrieben werden, gewinnen sie auch materielle Gestalt mit räumlicher Ausdehnung. Es verschränken sich dann räumliche und symbolische kognitive Funktionen. Entsprechend können sich deren Störungen verschränken. Das ist auf einfache Weise beim Lesen der Fall (siehe oben: Auf der einen Seite behindert die Explorationsstörung das Lesen und damit die Aufnahme der Bedeutung und somit die symbolische Funktion; auf der anderen Seite kann das Verstehen gelesener Wörter wiederum die Ex-
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ploration anregen). Das ist auf andere Weise bei der Vorstellung von Zahlen der Fall: Werden gesunde und neglecthaft beeinträchtige Individuen aufgefordert, die wertmäßige Mitte zwischen zwei größeren Zahlen (deren Mittelwert nicht spontan bekannt ist) gefühlsmäßig zu schätzen, schätzen sie unterschiedlich. Die Nicht-Neglect-Patienten werden korrekt oder mehr oder weniger fehlerhaft schätzen, ihre Fehler gehen in beide Richtungen. Links-Neglect-Patienten verlagern die Mitte systematisch-fehlerhaft zu den größeren Zahlen hin (Zorzi, Priftis u. Umiltà, 2002). So verlagern sie die Mitte des symbolischen Systems der Zahlen sozusagen nach rechts. Wenn man das so ausdrückt, macht man die einfache Voraussetzung, dass sie sich das Zahlenkontinuum - entsprechend unserer kulturell bedingten Leserichtung - von links nach rechts vorstellen. Es wird berichtet, dass auch die Repräsentation von Buchstaben räumlich eingeschränkt sein kann (Bohrer, Dengler, Münte u. Nager, 2004). So kann sich das räumliche Defizit auch bei rein symbolischen Elementen und Operationen auswirken. Darin drückt sich aus, dass diese im Gehirn auch räumliche repräsentiert sind.
1.7 Neglect-Verhalten im Alltag Neglect-Verhalten wird im Alltag häufig sichtbar. Das ist für Angehörige von Neglect-Patienten und insbesondere für die Betreuungspersonen in der neurologischen Rehabilitation sehr augenfällig. Es wurde in der Literatur häufig beschrieben. Ich nenne es nur kurz, da es in diesem Beitrag mehr um die Systematik geht: Übersehen von Gegenständen beim Suchen; daher auch Anstoßen an Hindernissen in der Locomotion; den Teller halb leer essen; unvollständige Körperpflege und Anziehen; der eine Bügel einer Brille wird auf der Neglect-Seite nicht korrekt über das Ohr gelegt ... Für Menschen, die damit nicht vertraut sind, kann es sich um bizarre Phänomene handeln.
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2 Übersicht über Neglect-Phänomene 2.1 Schema Perzeptive Seite
Expressive Seite
Sinnesmodalitäten:
•
•
tung zu einer Seite hin
Neglect •
Auditiver Kanal - Auditiver
•
Neglect •
•
Akinesie von nicht gelähmten Gliedmaßen: motorischer Neglect
(Haut-)Sensibler Kanal: Somato-sensibler und Taktiler Neg-
Lateral verzerrte Körperhaltung: z. B. spontane Kopfhal-
Visueller Kanal - Visueller
•
Direktionale Dyskinesie: das
lect
Bewegungsmuster der nicht
Olfaktorischer Kanal: Olfakto-
gelähmten Seite ist verzerrt,
rischer Neglect (z. B. von Kerk-
Bewegungen tendieren zur
hoff, 2004, S. 5 beschrieben. Ich
Nicht-Neglect-Seite.
habe damit keine Erfahrung.)
Das Schema soll die phänomenologische Vielfalt von NeglectPhänomenen geordnet vermitteln. Es ist nicht vollständig, es kann nicht vollständig sein. In das Schema von Perzeption und Expression nicht einzuordnen ist, was sich gleichsam zwischen Perzeption und Expression abspielt: die innere Vorstellung von Objekten und räumlichen Beziehungen. Spontanzeichnungen (aus der inneren Vorstellung; siehe oben) gehören dazu. Als Zeichnungen gehören sie zur expressiven Seite, werden aber im Zusammenhang mit der Neglect-Diagnostik nur als Ausdruck der neglecthaften inneren Vorstellung beziehungsweise des Zugangs zu dieser, genommen. Manchmal wird dieser Sachverhalt auch als eine besondere Neglect-Form aufgenommen: Repräsentationaler Neglect (z. B. Kerkhoff, 2004). Jegliche Kopieraufgaben haben Anteil sowohl an der rezeptiven wie an der expressiven Seite. Sie setzen (rezeptiv) Exploration voraus, und sie enthalten (expressiv) ein Bewegungsmuster. Die Exploration spielt dabei eine größere Rolle, wenn abstrakte oder unbekannte Vorlagen kopiert werden sollen. Sie spielt eine geringere Rolle, wenn bekannte Vorlagen kopiert werden sollen.
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An dem neglecthaften Schreibmuster (siehe Abbildung 14) haben - auf der rezeptiven Seite - die unvollständige Rezeption wie auch die direktionale Hypokinästhesie Anteil.
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JoAr>e, Abbildung 14: Typisches Neglect-Schreibmuster: Zuerst wird beim Schreiben weit links angefangen, das scheint schwer zu fallen und wird nicht durchgehalten (zweite bis fünfte Zeile); dann ein erneuter Anstoß, sich nach links vorzuarbeiten (sechste Zeile), was aber wiederum nicht durchgehalten wird.
Auch ist die Störung des Körperschemas hier nicht einzuordnen: Sie wird sowohl über die rezeptive Seite (Reaktion auf taktile Signale, ihre Entdeckung und räumliche Identifizierung) wie über die motorisch-expressive Seite sichtbar (verzerrte Körperhaltung in Ruhe und bei Bewegung), sie muss aber ihre Grundlage in der veränderten Wahrnehmung (der Position von Gliedmaßen im Raum usw.; also perzeptiv) haben.
2.2 Eine einfache Handlung, bei der sich die Äußerungsformen von Neglect vermischen - und zu einem charakteristischen Ergebnis hinführen Es ist üblich, das Neglegt-Verhalten zu prüfen, indem vor allem Explorations- oder Kopieraufgaben vorgegeben werden. Das folgende Beispiel eines Testergebnisses zeigt, wie sich verschiedene Neglect-Phänomene in einer Handlung vermischen und gerade in dieser Mischung Neglect-Phänomene manifestieren.
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Es ist - wenngleich in der Testkonstruktion ganz andere Absichten verfolgt wurden - (neglect-)diagnostisch ungeheuer aufschlussreich.
Abbildung 15: Diese Abbildung zeigt das Ergebnis eines typischen NeglectHandlungsmusters. Die Aufgabe Zahlen Ordnen („Ordnen Sie die Zahlen, die Sie eben gelesen haben, ihrer numerischen Größe nach") in dem SyndromKurztest, der kritisiert wurde, da er den psychometrischen Anforderungen nicht gerecht werde. {„Die SKT-Debatte": Kranzhoff u. Fürwentsches, 1995; Wolfram, 1997 und mehr.) Es handelt sich dabei um ein typisches, von mir extrem häufig beobachtetes Bild bei Links-Neglect.
Das erste Feld oben links bleibt leer. Die erste Zahl links unten bleibt liegen. Die Exploration reichte in beiden Fällen nicht weit genug in die Neglect-Seite hinein. Die Zahl 79 wird falsch eingeordnet. Sie wurde (was das nachträgliche Vorlesen ausweist) als 19 gelesen: ein typischer Neglect-Lesefehler, der die Ziffer auf der linken Seite als Teil der zusammengesetzten Zahl betrifft. Häufig wird bei einer Zahl aus zwei Ziffern auch nur eine Ziffer gelesen. Im Fortschreiten der gedanklich und praktisch einfachen Aufgabe wird immer weniger nach links hin exploriert, so dass der Raum horizontal sehr unvollständig und stattdessen zum Teil vertikal ausgeschöpft wird: Die Zahlen werden nach rechts hin untereinander aufgehäuft. Das wird durch die auf der Vorlage sichtbaren Zahlen offenbar nicht verhindert. Links ist
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nicht die linke Hälfte der Tafel, sondern links von der Blickachse (der Platz neben der 15), so dass auch nach der Mitte hin vorgesehene Plätze (in dem Beispiel nur ein Platz) leer bleiben. Auch die korrekt gelegten Zahlen werden falsch aufgelegt, und zwar immer ein bisschen nach rechts neben die Vorlage. Es wirkt sich die direktionale Hypokinästhesie aus. Mehr noch. Durch die Aufgabe „Zahlen Ordnen" wird intendiert, bei hirnorganischem Durchgangssyndrom allgemeine (räumlich unspezifische) Konzentrations- und Gedächtnisstörungen zu untersuchen. Die Test-Autoren schreiben nichts von räumlicher Aufmerksamkeit und deren mögliche Störungen, die durch den Test miterfasst werden könnten. Dabei manifestieren sich in diesen Testaufgaben auch leichte Neglect-Phänomene, möglicherweise besser als in manchem Neglect-Test, der sein diagnostisches Ziel, die Erfassung der räumlichen Aufmerksamkeit, direkt und ohne Umweg, ansteuern soll (wie z. B. im Albert-Test, siehe oben, Abbildung 4 ; dieser ist für feinere Neglect-Phänomene wenig sensitiv.) Ein diagnostisches Paradoxon? Die Erklärung ist naheliegend: Die durch die Instruktion vorgegebene Aufgabe fordert symbolische und keine räumlichen Operationen (das Urteil über die numerische Größe der Zahlen). Auf diese soll sich - entsprechend Testinstruktion - die Aufmerksamkeit richten. Die räumliche Seite der Handlung bildet (gestaltpsychologisch gesprochen) den Grund oder den Hintergrund,
dieser einfachen ko-
gnitiven
bildet.
Leistung,
welche
die
Figur
Als
solcher
Hintergrund ist er selbstverständlich, und auf ihn braucht sich die Aufmerksamkeit nicht zu richten. Umso leichter kann - sozusagen beiläufig - das Defizit der räumlichen Aufmerksamkeit an die Oberfläche treten. Dass Tests, die ihr diagnostisches Ziel unverblümt auf dem direkten Weg ansteuern, ihrer Aufgabe weniger gerecht werden als Aufgaben, die unter anderem Vorzeichen konstruiert sind, ist in meinen Augen eine Art Niederlage des psychometrischen Dogmas, nach dem psychologische Prozesse in reiner (unifaktoriell,
eindimensional)
Form
erfasst werden sollen; sozusagen
unverfälscht von den Beigaben, welche die Wirklichkeit nun einmal bereithält. Es ist dagegen eindrucksvoll, wie einfache und
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gleichwohl komplexe (zusammengesetzte!) SKT-Aufgaben die kognitiven Funktionen in ihrer Wirkung verbinden und zu einem deutlichen und diagnostisch aufschlussreichen Ergebnis hinführen.
2.3 P s y c h o p a t h o l o g i s c h e P h ä n o m e n e Der Vollständigkeit halber müssen hier auch einige psychopathologische Phänomene genannt werden, die ebenfalls nicht in das Schema einzuordnen sind, da sich in ihnen sensorische und motorische Phänomene vielfältig vermischen. Als Erstes die Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers in dem Sinne, dass eigene Gliedmaßen (z. B. der paretische oder der motorisch vernachlässigte Arm) anderen Menschen zugeschrieben werden: Somatoparaphretiie. In dem Zusammenhang der besondere Hass auf eigene gelähmte Gliedmaßen: Misoplegie. Genau genommen ist dieses Wort irreführend. Der Hass („Miso...") des Patienten richtet sich ja nicht auf die Lähmung (die vielleicht nicht erkannt wird), sondern auf das (gelähmte) Gliedmaß. Das ist ja das Psychopathologische. Dieser Hass kann so weit gehen, dass der eigene Arm geschlagen wird. Sodann die als Bewegung wahrgenommene Nichtbewegung z. B. von einem Arm: illusorische Bewegung. Diese Aufzählung ist nicht vollständig. In den Zusammenhang der psychopathologischen Phänomene gehört vor allem auch die Anosognosie (NichtWahrnehmung der Lähmung), die in einem eigenen Abschnitt abgehandelt wird. Die Phänomene, die hier als psychopathologische eingeordnet werden, können bei flüchtiger Neglect-Diagnostik häufig übersehen werden. Sie sind vor allem in der Frühphase recht verbreitet. Grundlage dieser Einschätzung ist meine Erfahrung in Neglect-Therapie-Gruppen: Häufig genug hat der Bericht einzelner Patienten, z. B. über Fremdgefühle gegenüber dem eigenen Körper, andere Patienten dazu angeregt, ähnliche Erfahrungen von sich selbst zu berichten. Die Patienten haben sozusagen erst mit den für sie im Nachhinein fremdartigen Erlebnissen ausgepackt, als sie von anderen Patienten Gleichartiges gehört haben.
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In der Neuropsychologie werden diese psychopathologischen Phänomene als Merkmale dargestellt, die vorhanden oder nicht vorhanden sind. Sie werden in der Regel isoliert betrachtet. Sie werden nicht in den Zusammenhang des Selbstgefühls gestellt, das elementar eine körperliche Dimension hat: Was bedeutet es psychologisch (d. h. unter dem Gesichtspunkt der ganzen Persönlichkeit), wenn ein Arm oder Bein als fremd erlebt oder gar einem anderen Menschen zugeschrieben wird? Im Zusammenhang mit Neglect-Verhalten verlangen spätestens diese Phänomene nach psychologischer Deutung, die über die Auflistung, Beschreibung und psychometrische Erhebung hinausgeht. (Dazu die Beiträge in diesem Buch.)
3 Schwere und Entwicklung des Neglect-Syndroms Neglect-Symptomatik tritt in sehr vielfältiger Ausprägung und in unterschiedlicher Schwere auf: von einer Hinwendung zu einer Raumseite, die sich (multimodal, supramodal) in grob verzerrter Körperhaltung, mit starrer Explorationsgrenze und in bizarren Verhaltensweisen ausdrückt, bis zu nur leicht unterschiedlicher visueller Exploration (also unimodal), die im Alltag kaum auffällt und erst durch besondere Untersuchungsarrangements auszumachen ist. Die vielfaltigen Assoziationen und Dissoziationen von Neglect-Symptomen führten zu Versuchen, Typologien (Subtypes: Visueller Neglect, Repräsentationaler Neglect usw.; z. B. Buxbaum et al., 2004) zu generieren, die aber meines Erachtens wenig überzeugend sind. Neglect-Symptomatik tritt häufiger und stärker in der Frühphase nach einer zerebralen Läsion (Kontusion, Tumor; insbesondere aber nach vaskulären Erkrankungen - Schlaganfall: Infarkte, Hämorrhagien) auf; sie kann sich mehr oder weniger zurückbilden. Aber sie kann auch in hartnäckiger Weise bestehen bleiben. Ich habe auch beobachtet, dass sie zunächst nicht sichtbar war und es sich erst später ausbildete (siehe Abbildung 16 A und B). Abbildung 17 A und B gibt einen Hinweis auf die diagnostische Erklärung.
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Abbildung 16 A: Erste und spätere Rey-Zeichnungen eines 24-jährigen Patienten nach Angiom-Blutung rechts frontal. Leicht konfabulatorisch; noch keine Anzeichen von Neglect.
Abbildung 16 B: Später eindeutige Neglect-Zeichen
Es liegt auf der Hand, dass eine Neglect-Symptomatik die Mobilität und die selbständige Bewältigung des Alltags stark behindern wird und die Rehabilitation, die aktive Wiedergewinnung einer relativen Selbständigkeit, insbesondere die eigenständige Locomotion (Fortbewegung durch Gehen oder im Rollstuhl), erschwert oder hinausschiebt. Auch bei leichter Ausprägung kann es zu Gefährdung führen. Natürlich führt sie dazu, dass das Führen von Fahrzeugen fachärztlich verboten werden muss. Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass das Ausmaß von Neglect-Verhalten nicht innerhalb einer Phase
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konstant ist. Es ist der Fluktuation unterworfen wie Stimmungen oder andere neurologische oder psychologische Symptome. Es kann variieren mit Müdigkeit, Stimmungslage und mit körperlichen Schmerzen. Es ist in dieser Hinsicht der spastischen Muskelkontraktion vergleichbar.
Abbildung 17 A: Ein typisches Explorationsmuster. Der Albert-Test zeigt in erster Anwendung einen ganz normalen Links-Neglect. 17 B: Dann geschieht etwas, was in der Neglect-Literatur nicht vorgesehen ist. Ich lasse den Patienten mit dem (sehr leicht paretischen) linken Arm die Linien des AlbertTests abhaken. Es zeigt sich jetzt ein Rechts-Neglect. Wie das? Nach und nach wird deutlich: Der Patient hatte ein Alien-Hand-Syndrom (Fremde-HandSyndrom; die Tätigkeit des betroffenen Armes bzw. der Hand verselbständigt sich gegenüber der bewussten Absicht und wird als fremd erlebt). Das CT zeigte eine leichte Balkenbeteiligung der Blutung. Das bedeutet: Je nachdem, welcher Arm eingesetzt wird, zeigt sich eine lateral unterschiedliche Zuwendung. In einer ergotherapeutischen Übung kam es vor, dass der Patient mit dem rechten Arm zerstörte, was er mit dem linken Arm - besser als mit dem rechten - mühsam gebaut hatte (auf Video dokumentiert).
4 Assoziation mit Merkmalen, die definitorisch nicht zum Neglect-Syndrom gehören Neglect-Phänomene sind häufig assoziiert mit allgemeiner Störung der Raumauffassung in Wahrnehmung (räumlich-visuelle Störungen) und in praktischen Operationen (räumlich-konstruktive Störungen). Auch hier ist die Variabilität groß. Viele Neglect-Patienten können zum Beispiel in dem Bereich, den sie beachten, sehr schlecht zeichnen (siehe Abbildung 18 A und 18 B);
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aber auch das Gegenteil kann der Fall sein: Sie übertragen räumliche Relationen auf einer Seite gut; nur dass sie eben auf der anderen Seite unvollständig übertragen (siehe Abbildung 18 C).
Abbildung 18 A: Rey-Zeichnung einer 58-jährigen Patientin ca. sechs Wochen nach einer intrazerebralen Blutung rechts parietal. Die Patientin ist mit der genauen Übertragung weit überfordert.
Es können sich das Neglecthafte und die räumlich-konstruktive Störung in der Weise verschränken, dass Aktionen im ipsilateralen Bereich vergleichsweise gut gelingen, dass aber Aktionen zur Neglect-Seite hin in ihrer räumlichen Struktur fehlerhaft werden oder zerfallen. Insbesondere bei gefaßbedingter demenzieller Entwicklung können sich Neglect-Phänomene und die allgemeine Destrukturierung kognitiver Prozesse (der Gestaltzerfall) miteinander verschränken. Das kann auch bei traumatisch bedingtem (Hirnkontusion) demenziellem Gesamtbild der Fall sein, wenn dieser auch selten zu beobachten ist (siehe Abbildung 19). Neglect-Patienten haben häufig Probleme im schriftlichen Umgang mit größeren Zahlen. Zum Teil mag sich das aus der
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Abbildung 18 B: Patient 71 Jahre alt, vier Wochen nach CVI rechts mit Hemiplegie links, ACI-Verschluss rechts und ACI-Stenose links 40 %-Vernachlässigung und verzerrtes Empfinden von räumlichen Beziehungen (man beachte die Abstände!).
Abbildung 18 C: Der Versuch eines 61-jährigen Architekten ca. sechs Wochen nach einer rechtshemisphärischen Blutung mit Neglect-Symptomatik, die Vorlage des Mosaik-Tests aus dem HAWIE-R nachzulegen. Allgemein fällt es schwer, das Muster nachzulegen. Gleichwohl ist die rechte Seite korrekt. Die linke Seite wird immerhin beachtet, es gelingt aber nicht das Nachlegen des Musters auf der linken Seite.
unvollständigen Exploration erklären. Es kann aber das eigenständige Problem der räumlichen Dimension größerer Zahlen hinzukommen - der Stellenwert, die Abhängigkeit der Wertigkeit
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einer Ziffer von ihrer Position in der Gesamtzahl. Es gibt eine Korrelation zwischen Neglect-Symptomatik und dieser räumlichen Dyskalkulie (Claros Sahnas u. Willmes, 2000, S. 525). Neglect-Patienten können häufig nicht nur die Uhr schlecht lesen (was aus der Störung der Exploration und darüber hinaus aus der Störung der Raumauffassung zu erklären ist). Sie haben häufig - analog zum Raumgefühl - ein schlechtes Zeitgefühl.
Patient, fünf Monate nach SHT mit parieto-occipitalen und temporalen Kontusionsherden und Hygrom rechtsfrontal. Hemianopie nach links, Apraxien. Ausgeprägte Gedächtnisstörung. Insgesamt einzustufen als posttraumatische Demenz, von mittelschwerer Ausprägung.
Neglect-Patienten sind häufig im Eigenantrieb herabgesetzt, sind langsam in der Reaktion auf einfache Signale (vgl. Behrmann, Ebert u. Black, 2004). Es fällt ihnen schwer, die Aufmerksamkeit zu teilen, das heißt auf mehrere Reize unterschiedlicher Modalität gleichzeitig zu achten. Anders ausgedrückt: Schon bei einfachen Tätigkeiten müssen sie sich besonders konzentrieren (bewusste Anstrengung aufbringen); sie sind dabei leicht ablenkbar. Wenn sie - nach Überwindung der Lähmung - wieder laufen lernen, empfiehlt es sich nicht, sie beiläufig anzusprechen.
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Die unvorhergesehene Ansprache kann dazu führen, dass ein Bein einknickt, mit absehbaren Folgen. Neglect-Patienten schneiden bei der Prüfung des visuellen Gedächtnisses besonders schlecht ab. Natürlich muss man berücksichtigen, dass dabei die Gedächtnisleistungen nicht mit den Neglect-Phänomen konfundiert werden, was schwierig sein kann. Sie erscheinen im emotionalen Ausdruck häufig wenig differenziert (über die durch Gesichtsmuskellähmung bedingte Hypomimie hinaus) und können auch im emotionalen Empfinden (geprüft nicht durch Beobachtung, sondern über den verbalen Report, Fragebögen usw.) entdifferenziert sein (siehe Abbildung 22). Auch wenn die Korrelation zu diesen Merkmalen empirisch mehr oder weniger hoch sein mag, sie gehören begrifflich nicht zum Neglect-Syndrom, da sie sich nicht auf eine räumliche Unsymmetrie beziehen. Einen Sonderfall bildet in diesem Zusammenhang das Symptom der Anosognosie, der mangelnden Bewusstheit „handfester" körperlicher Symptome wie der Halbseitenlähmung oder der Hemianopie. Anosognosie wird häufig zum Neglect-Syndrom gezählt, manchmal wird der Begriff sogar synonym mit Neglectverwendet, da eine enge empirische Beziehung dieser Phänomene besteht. Der Anosognosie ist - im Zusammenhang mit dem allgemeineren Begriff des Störungsbewusstseins - ein besonderer Abschnitt gewidmet.
5 Geäußerte Empfindungen bei Neglect-Syndrom Was empfinden Neglect-Patienten, wenn ihre Aufmerksamkeit entgegen ihrem spontanen Bedürfnis und Verhalten - von außen auf die Neglect-Seite der äußeren Umgebung oder auf ihre vernachlässigte Körperseite gelenkt wird? Beziehungsweise was sagen sie über ihre Empfindung? Es fällt auf, dass diesem Gesichtspunkt in der Literatur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
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Sehr häufig beschreiben sie, dass die vernachlässigte Körperseite oder einzelne Gliedmaßen ihnen irgendwie fremd seien, dass sie diese nicht mögen, sie hassen: „Der Arm ist mir ein bisschen fremd, ich hab da so ein eingeschränktes Gefühl." „Anfangs war mir der linke Fuß ganz fremd, jetzt ist er nur noch ungewohnt, ich hab' so eine begrenzte Kontrolle darüber." (Äußerungen von Patienten in der Neglect-Gruppe, die ich über etwa zehn Jahre geleitet habe.) Äußerungen dieser Art sind recht verbreitet, unterhalb der Schwelle der Zuschreibung der eigenen Gliedmaßen an andere Personen ( S o m a t o p a r a p h r e n i e ) . Der Übergang vom recht verbreiteten Gefühl von Unbehagen und Fremdheit eigener Gliedmaßen zu dem psychopathologischen Gefühl ihrer Fremdzuschreibung ist nach meiner Erfahrung fließend. Oder, wenn ich frage: „Sie haben eben auf meine Bitte hin den linken Arm gehoben, den sie sonst nicht bewegen. Was empfinden Sie dabei?" Es fällt Neglect-Patienten in der Regel schwer, darauf zu antworten. Gelegentlich geben sie Schmerzen an oder ein Unbehagen, für das sie keine Worte haben. Ein Patient: „Ich habe einfach kein Bedürfnis, den linken Arm einzusetzen." In einem Fall hatte ich Gelegenheit, eine 48-jährige Patientin drei Jahre nach einer rechtshemisphärischen Hirnblutung, welche zu Lähmung und Neglect-Syndrom führte, auf ihre Erfahrung hin zu befragen. Ich zitiere ausführlich: Wie war damals Ihre Konzentration? Sehr schlecht. Das ist vor allem immer wieder die linke Seite. Wenn ich arbeiten will, oder ich soll mir was angucken, das links ist, ich sehe das zwar, aber ich kann das im Kopf nicht verwerten,
das gibt so ein
Durcheinander... Sagen Sie das aus heutiger oder aus damaliger Sicht? Das sage ich so aus heutiger Sicht, damals war mir die Sache noch nicht so bewusst, und ich hatte die Hoffnung, das wird in kurzer Zeit besser. Im Laufen ist es ja besser geworden, aber im Kopf hat sich nicht so viel geändert
(...) Das ist mir im Haushalt so richtig bewusst ge-
worden, ob das beim Wäschezusammenlegen
ist oder am Ofen, ob ich
den richtigen Knopf einschalte. Alles was auf die linke Seite
rübergeht,
das tut mir wahnsinnig weh (...) Ich will rüber auf die linke Seite, aber ich komm da nicht hin, ich kann das im Kopf nicht verarbeiten
...
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Das gibt eine Spannung, eine furchtbare Spannung im Kopf, nicht wie Kopfschmerzen, ich hab den Gedanken, das muss ich können, aber das geht nicht (...) Wenn ich z. B. ein Kleidungsstück zusammenlegen will, auf der linken Seite den Reißverschluss aufmachen will, ich greif' bestimmt nach rechts. Dann wird mir das bewusst, dann werd' ich nervös. Es ist immer alles so verdreht. (...) Oder beim Bügeln. Die eine Seite geht ganz gut, aber wenn ich mit der linken Hand was machen will, greife ich bestimmt rechts daneben. (...) Ich geh an der Tür zum Speisesaal vorbei, geradeaus auf die Schwingtür zu, obwohl ich weiß, dass die Tür zum Speisesaal da links ist, muss ich das erst wieder korrigieren. Ich habe auch zu Hause Probleme, vor allem mit den Lichtschaltern. Muss immer erst suchen, obwohl ich weiß, dass sie da sein müssen. (...) Oder mit dem Uhrablesen. Die eine Seite übersehe ich irgendwie. Ichseh' sie, wenn ich ganz angestrengt hingucke, wie jetzt, aber wenn ich nur kurz hinsehe, dann sehe ich die eine Seite gar nicht oder ich verarbeite in meinem Kopf nicht, was ich sehe. (...) Beim Zeichnen, wenn ich einen Strich von rechts nach links rüberziehe, dann habe ich auch so Probleme. Da stockt irgendetwas, es ist, als ob jemand meine Hand heben würde. Auch beim Schreiben, da setzt es einfach aus. Den linken Arm so am Körper angewinkelt zu halten, das ist auch so eine Angewohnheit (...) Anfangs bin ich damit öfters angestoßen.
6 Zum Status des Neglect-Syndroms und zu den Erklärungsversuchen Die oben entwickelte Systematik zeigt: N e g l e c t - P h ä n o m e n e sind übergreifend. Sie sind - v o r allem bei stärkerer Ausprägung nicht an eine sensorische Modalität gebunden, sondern sie können supramodal (in der visuellen und der taktilen Exploration usw.) sein; sie können die perzeptiven und die expressiven Lebensäußerungen betreffen. Es handelt sich sozusagen zentrale
Phänomene,
um
die nicht in Sinnes- oder in m o t o r i s c h e n
Behinderungen aufgehen oder von ihnen ableitbar wären. Sie betreffen die komplexe integrierende Verarbeitung der Informationen aus den verschiedenen Sinneskanälen, durch welche das individuelle Subjekt die einzelnen Objekte der Wahrnehm u n g und das Gesamt der äußeren Welt (einschließlich des eigenen K ö r p e r s ) nachkonstruiert.
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Phänomenologie des Neglect-Syndroms
Neglect-Phänomene betreffen elementare psychische Funktionen, welche phylogenetisch älter sind und welche sich in der Entwicklung des einzelnen Menschen früh ausbilden, früher als die symbolische Verarbeitung, also die sprachlich-kognitiven Funktionen. Sie befinden sich sozusagen auf einer anderen Ebene als sensorische oder motorische Phänomene wie Gesichtsfeldeinschränkungen oder Lähmungen. Sie können mit diesen verbunden sein. Es handelt es sich nicht um einander ausschließende Symptome oder Syndrome. Und es ist nicht korrekt, diese unterschiedlichen Phänomene (Neglect auf der einen und sensorische Einschränkungen auf der anderen Seite) in einem Atemzuge nebeneinander zu nennen, wie das häufig getan wird.
1
Abbildung 20: „Ich habe hier eine Strecke aufgezeichnet, um Ihr Augenmaß zu prüfen. Lesen Sie bitte zuerst die beiden Buchstaben am linken und am rechten Ende der Strecke und zeichnen Sie einen Strich ein, wo Sie die Mitte der Strecke vermuten." Der Strich weit auf der rechten Seite deutet an, wo die Patientin die Mitte der Strecke wahrnimmt. Es ist bei Weitem nicht die stärkste Verlagerung nach rechts, die ich beobachtet habe. Viel Platz auf der linken Seite ist notwendig, um ein subjektives Äquivalent zu bilden zu wenig Raum auf der rechten Seite. Hat sie unvollständig nach links hin exploriert? Die linke Seite scheint weniger dicht zu sein, psychologisch (d. h. in der Aufmerksamkeitszuwendung oder der Repräsentanz) weniger dicht. Oder wie die Autoren Savazzi, Frigo und Minuto es formulieren: „Es gibt eine räumliche Anisometrie zwischen den beiden Raumseiten" (Savazzi et al., 2004, S. 212).
Allgemein gesprochen betreffen Neglect-Phänomene eine (mehr oder weniger) stark unsymmetrische Hinwendung zur äußeren Welt (einschließlich des eigenen Körpers). Die äußere
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Welt auf der linken und der rechten Seite sind psychologisch unterschiedlich dicht. Abbildung 20, die bekannte Aufgabe der Streckenhalbierung, soll das ausdrücken. Insofern als die Richtung dieser einseitigen Hinwendung abhängt vom gesundheitlichen Status des Individuums (laterale Lokalisation der Gehirnläsion) und nicht von der situativen Außenwelt oder dem einzelnen Objekt, sind diese Patienten krankheitsbedingt egozentrisch. Da die Richtung ungleicher Zuwendung der gesunden Seite des verletzten Körpers entspricht, liegt es nahe, ihnen auf physiologischer oder psychologischer Ebene eine Schutzfunktion zuzuschreiben. Auf physiologischer Ebene wäre I. P. Pavlov zu nennen, wenn dieser sich auch nicht mit dem Neglect-Phänomen auseinandergesetzt hat. Er hat ausgeführt (Pavlov, 1953, S. 373), dass verletzte Nervenzellen während der Regenerationsphase nach einer Verletzung um sich herum eine Irradiation von Hemmung (als Gegenbegriff zu physiologischer Erregung) aufbauen, zu ihrem zeitweiligen Schutz. Auf psychologischer Ebene ist natürlich die psychoanalytische Theorie der Verdrängung zu nennen: Die Wahrnehmung einer Seite der äußeren Welt und des eigenen Körpers wird auf unbewusster Ebene ausgeblendet; so kann sich das Ich vor der Verletzung/Kränkung durch die krankheitsbedingte Parese oder Plegie oder Hemianopsie schützen. Kurzgefasst wird Neglect-Verhalten als Verdrängung gedeutet. Der egozentrische Charakter des Neglect-Phänomens wird in dieser Deutung besonders deutlich (vgl. Weinstein u. Kahn, 1951, zit. n. Karnath, 2003). Aus meiner Sicht sind viele theoretische Erklärungen (Übersichten in: Marshall, Halligan u. Robertson, 1993) von NeglectPhänomenen, die in der Literatur angeboten werden, unbefriedigend. In der Regel knüpfen sie an einzelnen Symptomebenen der Neglect-Symptomatik an, verabsolutieren diese und behandeln sie als das Ganze. Die Auffassung von Neglect-Syndrom als Störung der Aufmerksamkeit (Posner, Inoff u. Friedrich, 1987) knüpft an dem lateralen Explorationsdefizit an, sie berücksichtigt zum Beispiel nicht die körpernahe Ebene der Haltung als Nullzustand von Bewegung.
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Die Auffassung des Neglect-Syndroms als verzerrte innere Repräsentation der Außenwelt (Bisiach u. Luzzatti, 1978) knüpft daran an, da beispielsweise Zeichnungen aus der Vorstellung unvollständig oder verzerrt sind. Sie berücksichtigt nicht, dass die Repräsentation mal unvollständig und mal vollständig erscheinen kann, je nach Untersuchungsmethode (dazu siehe unten). Die Auffassung des Neglect-Syndroms als Folge einer fehlerhaften Transformation des sensorischen Inputs über die Körperhaltung in motorische Aktionen (vgl. Jeannerod u. Biguer, 1987; Karnath, 1997) knüpft daran an, dass das kinästhetische Körperschema verändert ist, zum Beispiel in der Weise, dass die empfundene Mittellinie des Körpers verschoben sein kann. Sie berücksichtigt nicht die Neglect-Phänomene, die dann auftreten, wenn innere Vorstellungen (z. B. durch Objektzeichnungen) ausgedrückt werden sollen. Die Auffassung des Neglect-Syndroms als Verdrängung berücksichtigt nicht, dass Neglect-Verhalten auch auftreten kann, wenn keine Parese/Plegie oder Hemianopsie vorliegen und es in dieser Hinsicht gar nichts zu verdrängen gibt. Um es polemisch zu formulieren: Vor dem Anspruch umfassender Erklärung dieses komplexen Phänomens sollte die genaue Beschreibung des Phänomens stehen, in seiner Vielfalt und Differenziertheit, in seinen quantitativ unterschiedlichen Ausprägung und in seiner zeitlichen Dynamik. An diesen Merkmalen sind die Versuche theoretischer Erklärung zu messen.
7 Neglect und neurologische Symptome/Syndrome; Extinction Neglect-Symptomatik kann ohne primärsensorische und ohne primärmotorische Störungen auftreten. Häufiger aber ist es mit solchen vergesellschaftet. Zu dem Unterschied zwischen Gesichtsfeldeinschränkung und Neglect am ausführlichsten: Werth, 1988). Auf der sensorischen Seite: Unilaterale (einseitige) Gesichtsfeldeinschränkungen (homonyme Hemianopie und homonyme Quadrantenanopie; es gibt die Schreibweise Anopie und
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Anopsie) und Hemihypästhesie (einseitig herabgesetzte Hautsensibilität). Auf der motorischen Seite: Hemiparesen oder Hemiplegie der Arme oder der Beine. Neglect-Phänomene gehen aber nicht darin auf: Bei einer reinen Hemianopie (also Hemianopie ohne Neglect) kann der Fixationspunkt im Prinzip in das blinde (Skotom-)¥e\d geführt werden. Erst wenn das spontan nicht oder sehr wenig geschieht, und erst recht dann, wenn es auch nach verbaler Aufforderung schwer fällt, handelt es sich um Neglect-Phänomene. Es ist häufig verbunden mit Hemihypästhesie (Störungen der Hautsensibilität oder der Tiefensensibilität auf einer Seite). Es ist noch häufiger verbunden mit Halbseitenlähmungen (Hemiplegie oder Hemiparese). Sozusagen zwischen den primären Störungen und den Neglect-Phänomenen ist die Extinction - als sensorisches oder motorisches Phänomen - einzuordnen (vgl. z. B. Milner, David, Mclntosh u. Robert, 2005). Extinction meint, dass bei unilateraler Darbietung von Reizen (z. B. innerhalb der Gesichtsfeldprüfung) beide Seiten wahrgenommen werden, dass aber bei bilateraler Darbietung die Reize nur auf einer Seite wahrgenommen werden. Das bezieht sich sowohl auf die visuelle wie die (haut-)sensible Modalität und auch auf die Bewegung. („Heben Sie beide Arme und behalten Sie beide Arme oben.") Obwohl jeder Arm einzeln bewegt werden kann, können nicht beide simultan bewegt werden oder in einer Haltung fixiert werden (Motoric Impersistence). Die Wahrnehmung beziehungsweise Bewegung auf der einen Seite geht auf Kosten von Wahrnehmung beziehungsweise Bewegung auf der anderen Seite. Neuerdings wird die Untersuchung der Extinction als Zugang zu dem behandelt, was als Körperschema und dessen Störungen zusammengefasst werden kann. Von dieser Forschung sind wohl beeindruckende Ergebnisse zu erwarten. Extinction wird dazu verwendet, das Körperschema und Körperschema-Störungen zu untersuchen (vgl. Goldenberg, 2004). Extinction wird häufig als feststehendes Symptom dargestellt, das vorhanden ist oder auch nicht vorhanden ist. Nach meiner
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Erfahrung ist es - wie viele Symptome, die zunächst nur als qualitativ fest abgegrenzt galten - quantitativ abgestuft. Ausführlichere Prüfungen zeigen: Extinction kann mehr oder weniger schwach oder stark auftreten: Führt man die bilaterale visuelle oder sensible Prüfung durch, so kann der eine Patient in 100 % der Prüfungen das Extinctionsphänomen zeigen, der andere in 30 oder 70 % ... Auch hier scheint eine quantifizierende Denkweise angebracht. In der Extinction scheint ein Grundparadigma der Neurophysiologie auf: Die (perzeptive oder expressive) physiologische Aktivierung auf der einen Seite hemmt (löscht, inhibiert; eben: extinguiert) die Aktivierung auf der anderen Seite.3 Extinction wird in der Literatur manchmal zu den NeglectPhänomenen gezählt, manchmal aber auch als eigenständiges Phänomen behandelt - mit dem Argument, dass die Korrelation zwischen Neglect und Extinction nicht absolut oder nicht sehr hoch sei. Dagegen wäre einzuwenden, dass auch andere NeglectMerkmale, wenn man sie streng prüft, nicht sehr hoch miteinander korrelieren. Meiner Auffassung nach sind der Begriff und das Phänomen der Extinction geeignet, zwischen den primären (neurologischen) Störungen und den (eher psychologischen) NeglectPhänomenen zu vermitteln. „Die gleichzeitige Darbietung [der Reize bei der Prüfung; der Verf.] induziert also einen Wettlauf zwischen den beiden Reizen um die Aufmerksamkeit des Patienten. Die einseitige Hirnschädigung beeinflusst den Wettlauf zugunsten desjenigen Reizes, der zur intakten Hemisphäre projiziert wird" (Driver, 2003, S. 270). Der Begriff Extinction hat zur weiteren Untersuchung und zur theoretischen Deutung auf physiologischer Ebene - eine große suggestive Kraft.
3
Man beachte die Nähe des Phänomens zu dem Verhältnis von Erregung
und Hemmung, wie sie der große Physiologie I. P. Pavlov untersucht und beschrieben hat: Die Ausbreitung von Erregung ist immer begleitet von Erregungshemmung im Umfeld.
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8 Neglect: Lateralität und Lokalisation der zugrunde liegenden Läsion Bis jetzt habe ich - aus methodischen Gründen - Neglect-Symptome beschrieben ohne auf den empirischen Sachverhalt Bezug zu nehmen, dass sie lateral unterschiedlich häufig auftreten. Sie treten häufiger nach rechtshemisphärischen als nach linksseitigen Läsionen auf, und es beziehen sich die Defizite in Exploration, Perzeption und Expression entsprechend häufiger auf die linke als auf die rechte Seite. Linksseitige Vernachlässigungen sind (statistisch) auch stärker und länger andauernd. Es gibt aber auch rechtsseitige Vernachlässigung, und deren Häufigkeit wird - aus welchen Gründen auch immer - aus meiner Sicht leicht unterschätzt (dazu Abbildung 21 A, B und C).
Abbildung 21 A: Rey-Zeichnungen eines Patienten von 76 J., ein, zwei und drei Monate nach CVI links posterior, inkomplette Hemianopie rechts (30 % fehlen bei der ELEX-Gesichtsfeld-Prüfung). Die rechte Seite wird in der Folgezeit nach und nach exploriert und - noch unsicher - übertragen.
Für diese Unterschätzung kommen mehrere Gründe infrage: Wenn der rechte Arm gelähmt ist, fällt es schwerer, zu schreiben oder zu zeichnen; daher fällt die Prüfung der Symmetrie der Aufmerksamkeit schwer. Wegen der mit Wahrscheinlichkeit auftretenden Aphasie wird der Symmetrie der Exploration in der neurologischen und der neuropsychologischen Untersuchung weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Wie häufig aber kommt es in der neurologischen
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Abbildung 22: Antwortmuster eines Patienten mit Links-Neglect im Depressions-Fragebogen TSD. - Kein Grund zur Traurigkeit, dem Patienten
geht es gut (Anosodiaphorie).
10 Neglect, Unbewusstes und Bewusstsein Bewusst versus unbewusst - gibt diese Polarität - u n d deren Umfeld - im Zusammenhang mit Neglect-Phänomen etwas her? 9 Einfach ist die Beziehung dieser Polarität zum motorischen Neglect beziehungsweise zur unilateralen Hypokinesie. Wir erinnern uns: Der motorisch vernachlässigte Arm wird spontan nicht eingesetzt, obwohl er bewegt werden kann. Dass er nicht gelähmt ist, zeigt sich erst, wenn seine Bewegung durch verbale Instruktion von außen angeregt wird. Besondere Intention ist also notwendig zu seinem Einsatz. Anders ausgedrückt: Der bewusste Einsatz gelingt; der (unbewusst-)spontane Einsatz u n d der nicht selektiv intendierte Einsatz im Zusammenhang mit einer Bewegungssequenz, bei der die einzelnen Bewegungsseg9
Dieser Abschnitt ist im Besonderen angeregt durch die Arbeit innerhalb der Gruppe Neuropsychoanalyse.
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mente automatisch eingesetzt werden, findet nicht statt. Er gelingt nicht.10 (Der vernachlässigte Arm wird bei der Locomotion nicht mitbewegt, wie Physiotherapeuten sagen.) Laufen lernen besteht nach partieller Überwindung der Paresen gerade darin, dass die selektiv aufgebauten Einzelbewegungen im gesamten Bewegungsablauf selbstverständlich eingesetzt werden. Bewusst ist dem Menschen, der sich durch Gehen (oder im Rollstuhl) von der Stelle bewegt, die Fortbewegung allgemein und das anvisierte Ziel; unbewusst - im alltäglichen, theoretisch unprätentiösen Sinn des Wortes - sind die eingesetzten Einzelbewegungen. Ähnlich bei der visuellen Vernachlässigung. Außer bei schwerem Neglect-Syndrom (mit annähernd starrer Explorationsgrenze) gelingt die visuelle Wahrnehmung zur vernachlässigten Seite hin auf Abruf, das heißt mit besonderer Intention, die durch Aufforderung angeregt ist; sie wird aber nicht spontan (nicht unbewusst-automatisch) eingesetzt. Anders ausgedrückt: Es wird nicht oder weniger zur Neglect-Seite hin spontan exploriert. Auch hier besteht die Therapie zum großen Teil darin, dass (durch eingeübte Selbstinstruktion, durch bestimmte technische Hilfsmittel usw.) die Exploration automatisiert wird. Anders ist die Beziehung von Neglect-Phänomen zur Polarität bewusst-unbewusst beim Problem Störungsbewusstseins. Der hemiparetische Patient, der auf Nachfrage seine Lähmung - und erst recht seine Neglect-Symptomatik - verneint, ist sich der Parese und der Neglect-Symptomatik nicht bewusst. Er kann darüber nicht Auskunft geben; jedenfalls in diesem Augenblick nicht. Da er unter anderen Umständen (z. B. bei kalorischer OhrStimulation; vgl. Ramachandran, 1994) Auskunft geben kann, muss man schließen, dass sehr wohl ein inneres Wissen über die
10
Bei der ideomotorischen Apraxie verhält es sich - das ist den in der Neurorehabilitation Arbeitenden vertraut - sozusagen spiegelbildlich entgegengesetzt: Eine Bewegung gelingt beiläufig in dem Zusammenhang einer Bewegungssequenz, ist aber nicht selektiv abrußar, d. h., sie gelingt nicht bei bewusster (z. B. verbal induzierter) Intention. Ähnlich bei der Amnestischen Aphasie: Das Zielwort - oder seine phonematische Bildung - sind nicht abrufbar, können sich aber beiläufig einstellen.
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Lähmung besteht, das aber nicht immer abrufbar ist. Es ist also in diesem Sinne unbewusst. 11 Zwischen diesen Sachverhalten liegen wiederum die Phänomene neglecthafter Produktionen (Zeichnungen, verbale Berichte) aus der inneren Vorstellung. Wenn ein Gegenstand unvollständig gezeichnet wird, so scheint das darauf zu verweisen, dass die innere Vorstellung, das innere Konzept, unvollständig ist. Allerdings wird dasselbe Konzept bei Einnahme einer anderen Perspektive vollständig - oder in anderer Weise unvollständig - realisiert. Dafür steht das Beispiel von Bisiach und Luzzati, das durch die Negect-Literatur geistert, als ob es der einzige Hinweis darauf wäre: Je nachdem, welche Position der Patient eingenommen hat, um den Platz vor dem Mailänder Dom aus der inneren Vorstellung verbal zu beschreiben, fehlt mal die eine, mal die andere Seite (Bisiach u. Luzzatti, 1978). Das kann nur so sein, wenn die innere Vorstellung des Platzes im Prinzip vorhanden ist, ihre Expression nur eben davon abhängt, in welcher Weise sie abgerufen wird. Es ist wohl so, dass sich das Neglecthafte zwischen der (unbewussten) inneren Konzept und dessen Realisierung, abspielt, in dem also, was in der Psychologie früher einmal Apperzeption genannt wurde (I. Kant). In der Experimentellen Psychologie ist dieser Begriff aus der Mode gekommen. In der neuropsychologischen Unterteilung des umstrittenen Syndroms Agnosie in apperzeptive
u n d assoziative
Agnosie (Lissauer, 1974;
vgl. Hartje u. Poeck, 2000, S. 302 f.) ist er erhalten. Die Synopse der verschiedenen Seiten der Neglect-Symptomatik zeigt, dass es sich um die Übergänge zwischen Unbewusstem und Bewusstem handelt, und zwar Übergänge in beide Richtungen: vom Bewussten zum Unbewussten und umgekehrt. Es wird sich lohnen, diesem Sachverhalt, der in der klinischen Erfahrung geläufig und bekannt ist, aber nicht in dieser Weise konzeptualisiert wird, theoretisch-wissenschaftliches und systematisch-empirisches Interesse zukommen zu lassen.
11
Vielleicht ist dieses Phänomen die Veranlassung dafür, dass sich auch
im deutschsprachigen Raum Awareness statt Bewusstsein durchgesetzt hat: Es hat keine Assoziation zu einem möglichen inneren Wissen.
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11 Die verallgemeinernde Erklärung und die individuelle Deutung Es kam in der Darstellung auf die Phänomenologie in ihrer ganzen Breite und zunächst nicht auf psychologische Deutungen und Erklärungen an. Aus dieser Darstellung ergeben sich mehrere Problemfelder von Erklärung, insbesondere psychologischer Erklärung der Phänomene oder bloß von Deutungen, welche nicht den Anspruch erheben können, allgemeine Erklärung zu sein: das Neglect-Phänomen selbst allgemein zu erklären - aus dem Ort der Läsion (anatomisch), aus der Dynamik des Geschehens im Umfeld der Läsionsorte (physiologisch), aus den psychischen Prozessen, insbesondere den emotionalen Prozessen als Folge veränderter Neurologie (psychologisch, psychoanalytisch). Aus meiner Sicht gibt es einige Felder, die zu psychologischer Deutung (welche noch nicht Erklärung ist) herausfordern, das heißt, welche dazu herausfordern, in psychologischen Begriffen, in Begriffen der Persönlichkeit (und nicht nur einzelner Symptombeschreibungen) gefasst zu werden: — Die Beziehung zum eigenen Körper, von dem einzelne Gliedmaßen gar nicht oder als fremd oder als anderen Menschen zugehörig wahrgenommen werden. Hier ist die Frage nach dem Körperbewusstsein, dem Körperse/frsf - oder welche Terminologie immer dafür verwendet wird - aufgeworfen. — Die Beziehung zur Bewegung, die bewusst-intentional (auf besondere Aufforderung hin) ausgeführt werden kann, die aber nicht als Teil einer Gesamtbewegung unbewusst-automatisch ausgeführt wird. Hier ist auf einer elementaren Stufe die Frage von bewusst-unbewusst aufgeworfen. — Die Beziehung der gestörten Wahrnehmung und motorischen Expression auf der einen Seite und der Möglichkeit, dass diese aktuell vorübergehend oder nachhaltig zu Bewusstsein kommt und Fragen über seine Zukunft aufwerfen wird. Hier ist die Frage nach der Selbstsicht des Individuums, deren Integration und der emotionalen Reaktion aufgeworfen. In anderer Richtung auch die Wirkung von Störungsbewusstseins und emotionaler Reaktion auf die besondere Intention
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der Exploration und des Einsatzes vernachlässigter Gliedmaßen. Unabhängig von der allgemeinen Erklärung ergibt sich immer die Frage nach der Beziehung zwischen dem einzelnen Symptomen und den Besonderheiten des Individuums, seinen Spezifika, seiner individuellen Biografie. Der Blickpunkt der Forschung ist ein anderer als der Blickpunkt des Arztes oder des Klinischen Psychologen, der mit dem einzelnen Patienten arbeitet. Die Forschung will ein Phänomen allgemein erklären und fasst aus diesem Grund viele Patienten, die Träger eines Symptoms sind, zu Gruppen zusammen. Individuelle Besonderheiten werden dabei vernachlässigt, statistisch gegeneinander aufgewogen. Der behandelnde Arzt und der Klinische Psychologe sehen den einzelnen Patienten, die besondere Ausprägung und Konstellation seiner Symptome, mit seinem Persönlichkeitshintergrund, mit seiner individuellen Biografie. Die Forschung stellt allgemeine Regelmäßigkeiten fest, gemeinsames Auftreten von Symptomen und anderes. Sie kann dadurch Anregungen geben für die Arbeit des Klinikers am einzelnen Patienten. Immer aber muss der Kliniker über diese Anregungen hinausgehen, er deutet im Bereich der individuellen Besonderheiten, er kann bei diesen Deutungen nicht warten auf das regelhaft Allgemeine, das ihm vielleicht einmal von der Forschung angeboten werden wird (oder auch nicht). Eine Theorie, welche beansprucht, das Phänomen NeglectPhänomene allgemein zu erklären, muss sich dieser phänomenologische Vielfalt bewusst sein, ob sie sich nun auf der physiologischen oder der psychologischen Untersuchungsebene befindet. Sie sollte die Vielfalt des Eintretens von Einzelsymptomen nicht unterschätzen; ihre Korrelation untereinander und ihre mögliche Dissoziation. Eine allgemeine Theorie, welche das Phänomen NeglectPhänomene psychologisch zu erklären beansprucht, muss sich darüber hinaus einiger Merkmale bewusst sein: — der Nähe und Vielfalt der Beziehung zu primären Störungen; der Umstand, dass es viele Übergänge zwischen den neurologisch-primären Störungen und den eher psychologisch-
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sekundären Neglect-Phänomenen gibt. Das Brückenphänomen ist wohl die Extinction.
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— die laterale Vielfalt. Zuweilen wird der Bezug von NeglectPhänomenen zur linken Körper- und Raumseite schon innerhalb der Definition genannt. Die laterale Unterschiedlichkeit sollte aber als empirische Frage behandelt werden, und nicht schon in eine (nominale) Definition hineingepackt werden. Unterschätzt wird - nach meiner Erfahrung - die Häufigkeit von Neglect-Phänomenen auf der rechten Seite. Es bleibt aber das empirische Faktum, dass, wie gesagt, NeglectPhänomene auf der linken Seite häufiger, ausgeprägter und nachhaltiger sind. — der lokalisatorischen Vielfalt. In meiner klinischen Erfahrung habe ich Neglect-Phänomene bei nahezu allen Gehirnlokalisationen angetroffen. Eine psychologische Theorie, welche einen bestimmten anatomischen Ort als lokalen Träger der räumlichen Aufmerksamkeit oder gar der Aufmerksamkeit allgemein ansieht, unterschätzt diese Vielfalt. Auf der einen Seite: Die Korrelation mit primärsensorischen und primärmotorischen Störungen und besonders die Gebundenheit an anatomisch-morphologische Faktoren verlocken dazu, nach rein anatomisch-lokalisatorischer Erklärung zu suchen. Es wird häufig angenommen, dass es bestimmte Orte in der Anatomie des Gehirns gebe, welche für die Aufmerksamkeit und ihre räumliche Verteilung zuständig seien und deren Verletzung dann Neglect-Phänomene erklärten. Aber auch wenn man eine feste Korrelation zwischen Lokalisation und psychologischer Phänomenologie finden würde - wäre das Neglect-Phänomen dadurch wirklich erklärt? Auf der anderen Seite: Die Entwicklung des Neglect-Phänomens über die Zeit und die Wechselbeziehung mit emotionalen und sozialen Faktoren - der fluide Faktor namens Störungsbewusstsein - führen zu psychodynamischer Erklärung, und diese ist, wie das Neglect-Syndrom insgesamt, eine große theoretische und praktisch-therapeutische Herausforderung. Eine Sache ist es, das Neglect-Syndrom allgemein zu erklären. Eine andere Sache ist es, in Diagnostik und Therapie mit vielen
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individuellen Patienten d e r e n b e s o n d e r e A u s p r ä g u n g , ihre b e s o n d e r e Entwicklung, das U m g e h e n d a m i t , die B e z i e h u n g z u r L e b e n s g e s c h i c h t e , z u r Persönlichkeit u n d a n d e r e s z u u n t e r s u chen, i n s b e s o n d e r e dabei die B e z i e h u n g v o n d e n S y m p t o m e n u n d d e r F r a g e , wie sie z u Bewusstsein k o m m e n , wie der einzelne Patient sie erkennt, sie akzeptiert -
o d e r a u c h n i c h t ; wie er
ü b e r h a u p t d a m i t u m g e h t . N a c h wie v o r ein faszinierendes Feld.
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Phänomenologie des Neglect-Syndroms
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe Frankfurt/Düsseldorf/Köln1
Neglect und Anosognosie Psychoanalytische Arbeit mit rechtshirngeschädigten Patienten
1 Vorbemerkung Gegenstand dieser Arbeit sind zwei Phänomene, die häufig bei Patienten mit einer Schädigung der rechten Hirnhälfte anzutreffen sind: Neglect und Anosognosie. Die Ausblendung sowohl der linken Körperhälfte als auch der linken Seite der Umgebung (Neglect) sowie die Leugnung der Halbseitenlähmung oder sonstiger neurologischer Ausfälle (Anosognosie) legen eine Verwandtschaft mit dem in der psychoanalytischen Theorie beschriebenen Abwehrmechanismus der Verleugnung nahe. In neurologischer Sichtweise wurde ihre Entstehung bisher hauptsächlich auf die Schädigung der rechten Hemisphäre zurückgeführt. Jüngere Untersuchungen, von denen noch die Rede sein wird, zeigen jedoch, dass diese Symptomatik durch bestimmte Prozeduren aufzuheben ist - wenn auch nur vorübergehend. Dies legt die Vermutung nahe, dass noch andere Mechanismen am Neglect-Syndrom beteiligt sind, als dass die Schädigung des Hirngewebes alleine dafür verantwortlich zu machen wäre. Der rein neurologischen Sichtweise scheint ein Teil zu fehlen. Dass auch in psychotherapeutischen Gesprächen ein vorübergehender Rückgang der Phänomene zu beobachten ist, zeigten die Forschungen von Kaplan-Solms und Solms (2000). Sowohl Neglect
1
Mitglieder: Franz Dick, Rosemarie Kennel, Marianne Leuzinger-
Bohleber, Hans-Joachim Rothe, Klaus Röckerath, Hermann Schultz, Laura Viviana Strauss. Ich danke der Gruppe, insbesondere Franz Dick und Hermann Schultz, für kritische Diskussion, Anregungen, Ergänzungen und Korrekturen.
Neglect und Anosognosie
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als auch Anosognosie scheinen demnach eher einer dynamischen, prozesshaften Verarbeitung zu folgen, als dass sie einem statischen Geschehen entsprächen.
2 Neurologische Schädigung und Psychoanalyse Bekanntermaßen hegte Freud zu seiner Zeit die Hoffnung, dass es in ferner Zukunft möglich sein würde, den neurotischen Symptomen ein neurologisches Substrat zuzuordnen. Die zeitgenössische neurologische Methodik verunmöglichte jedoch eine tiefer gehende Kooperation zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften. Obwohl Freud sich aus diesen Gründen ausschließlich auf die psychologischen Aspekte des psychischen Apparates beschränkte, ließ er nie einen Zweifel daran, dass er letztendlich die Psyche im biologischen Substrat verankert sah um einen modernen Ausdruck zu benutzen: embodied. Freuds Abkehr von der neurologischen Sichtweise führte unter anderem dazu, dass beide Disziplinen getrennte Wege gingen. Wenn hier in den letzten drei Jahrzehnten eine Umkehr beziehungsweise Wiederannäherung zu beobachten ist, so sind die Gründe dafür vielfältig. Einer davon liegt sicherlich in dem exponentiellen Wachstum neurophysiologischer Untersuchungsmethoden. Vieles, was früher nicht unmittelbar beobachtbar war, scheint heute in Echtzeitaufnahmen des denkenden Gehirns anschaulich zu werden. Und auch in umgekehrter Richtung wird die Frage laut: Was kann die Psychoanalyse zur Erforschung des Denkapparates beitragen und was kann sie den Neurowissenschaften geben? Es ist ein grundsätzliches Element der psychoanalytischen Untersuchung, dass sie dem Patienten dabei hilft, den Blick auf sich selbst in seinem So-sein zu erweitern. Dies wird auch dadurch erreicht, dass der Psychoanalytiker einen Standpunkt im Hintergrund einnimmt und sich bemüht, in der gleich schwebenden Aufmerksamkeit den freien Assoziationen des Patienten einen Raum des Austausches und des Abgleichs zur Verfügung zu stellen. Psychoanalyse zeigt hier durchaus evolutionstheoretische Aspekte. Trotz der Tatsache, dass es der Neurologe Sigmund
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
Freud war, der die Psychoanalyse als Methode zur Erforschung immaterieller, scheinbar nicht im neurologischen Substrat lokalisierbarer seelischer Störungen entwickelte, ist die von ihm vermutete Bindung solcher Symptomatik an neurologische Prozesse als Forschungsgegenstand in der Psychoanalyse wie auch in den Neurowissenschaften in den Hintergrund getreten. Wie oben erwähnt, trug das noch wenig differenzierte Untersuchungsinstrumentarium dazu bei. Umgekehrt schienen die Verhaltensauffälligkeiten manifest neurologisch geschädigter Patienten für die psychoanalytische Methodik kein Gegenstand des Interesses zu sein. Einzelne Forscher, etwa der Psychologe und Psychoanalytiker Alexander Lurija (1992), bilden hier die Ausnahme von der Regel. Die unselige Trennung von Körper und Geist beeinträchtigte das Denken in beiden Disziplinen für die letzten 100 Jahre. Geht man aber davon aus, dass seelische und VerhaltensPhänomene auf Prozessen beruhen, die im neurologischen Substrat verortet sein müssen, erscheinen der Mensch und die Wissenschaft von ihm in neuem Licht. Plötzlich wird sichtbar, dass Neurowissenschaft und Psychoanalyse sich ein und demselben Problem von zwei Seiten nähern: Wie kommt es zur Entstehung menschlichen Verhaltens und wie muss ein stimmiges Gesamtkonzept von dem Wesen aussehen, das eine Antwort auf das Rätsel der Sphinx ist? Hier genügen nicht die minutiöse und detailgenaue Aufzeichnung neurologischer Leitungsbahnen und eine Konzeptualisierung ihrer synaptischen Verbindungen. Andererseits bieten psychoanalytische Konzepte seelischer Phänomene für sich genommen zwar in hohem Maße valide Erklärungen für den Gegenstand ihrer Untersuchung - wie aber sieht es mit der „Anschließbarkeit" (ein Begriff von Hermann Schultz) an die harten Daten neurophysiologischer Befunde aus? Es scheint, dass auf beiden Seiten ein Mangel besteht. Dies haben sowohl einige Neurowissenschaftler als auch einige Psychoanalytiker erkannt. Forscher wie Gerald Edelman, Antonio Damasio, Joseph LeDoux, Jaak Panksepp oder Rudolfo Llinäs, um nur einige zu nennen, haben versucht, basierend auf ihren neurophysiologischen Untersuchungsergebnissen, umfassende Visionen vom Menschen
83
Neglect und Anosognosie
zu entwerfen - doch alle greifen dabei auch auf das Vokabular der Psychoanalyse zurück. Auf der anderen Seite setzen sich Psychoanalytiker mit neurowissenschaftlichen Befunden auseinander, beispielsweise der Gedächtnisforschung. Ergebnisse solcher interdisziplinärer Unternehmungen finden sich zunehmend in der Literatur, etwa in den zahlreichen Veröffentlichungen des südafrikanischen
Psychoanalytikers
und
Neuropsychologen
Mark Solms sowohl zum Neglect-Syndrom (Kaplan-Solms u. Solms, 2000) als auch zu einer Synopsis neurowissenschaftlicher und psychoanalytischer Konzepte (Solms u. Turnbull, 2002) oder in den Arbeiten zum Gedächtnisworkshop der Köhler-Stiftung (Leuzinger-Bohleber, Pfeifer, Röckerath, 1998). Das Feld ist in Bewegung geraten, und ein Journal wie „The International Journal of Neuro-psychoanalysis" ist beredter Ausdruck der eingeschlagenen Richtung. Die psychoanalytische Auseinandersetzung mit neurologisch geschädigten Patienten - in diesem Falle solchen mit einer Läsion der rechten Hirnhemisphäre - folgt dabei einem Ansatz des bereits erwähnten russischen Forschers Alexander Lurija. Er fragte sich, welchen Einfluss auf Ausdruck und Verhalten eine bestimmte Schädigung im Gehirn seiner Patienten unter psychoanalytischen Gesichtspunkten hatte und welche Rückschlüsse sich auf die normale
Funktion dieser Struktur ziehen ließen.
Wenn es heute auch als sicher gilt, dass die sogenannte Lokalisationstheorie
(bestimmte Hirnteile sind für bestimmte Funk-
tionen zuständig) in dieser Form nicht zu halten ist, so lässt doch die Fülle der Beobachtungen vielleicht zu, ein umfassenderes Bild von den Auswirkungen einer Schädigung bestimmter Areale des Gehirns zu zeichnen. So verstehen wir unsere Befunde und die aus ihnen abgeleiteten Thesen auch nicht als einen Beleg für den Zusammenhang bestimmter Areale und Verhaltensauffälligkeiten, sondern eher als Versuch, die Auswirkung einer massiven Hirnschädigung
in einem umschriebenen
Bereich
auf das
Selbstverständnis des Patienten zu beschreiben und daraus wiederum ein Verständnismodell für den Zusammenhang zwischen der Veränderung seiner Weltsicht und dem daraus resultierenden Verhalten abzuleiten. In diesem Sinne sind die Befunde im Einzelnen zwar konkret und beobachtbar; sie gehen aber auf
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
in einen Kontext, der mit der Persönlichkeit zu tun hat und nicht mit einem neurophysiologischen Apparat.
3 Das Neglect-Syndrom Unsere Arbeitsgruppe hat sich in den letzten Jahren Patienten gewidmet, die an den Folgen einer Rechtshirnläsion leiden und die eingangs erwähnte Symptomatik zeigen. Die Gründe für dieses Unterfangen sind vielfältig. Hier sollen nur einige aufgezählt werden. Die Neuropsychologie hat sich im Allgemeinen mit den Funktionen beziehungsweise Dysfunktionen neurologischer Erkrankungen befasst. Psychodynamische Aspekte, die Selbstrepräsentation der Patienten oder ihre Erfahrung mit sich selbst in Bezug zu anderen waren nicht primärer Gegenstand ihrer Forschung. Unter Berücksichtigung neuerer Befunde der kognitiven Wissenschaften, wo Identitätsbildung eher als Prozess denn als statische Konstruktion verstanden wird, scheint uns ein psychoanalytischer Zugang einen angemesseneren Weg zu ermöglichen hinsichtlich Fragen der Integration oder mangelnden Integration von Körperempfindungen und ihren Folgen für die Persönlichkeit. Übertragung und Gegenübertragung erscheinen — neben anderen - als adäquate Instrumente, die Veränderungen des Selbst dieser Patienten in der Folge eines Schlaganfalles zu beschreiben. Dabei konzentrierten sich unsere Untersuchungen auf folgende fünf Aspekte: — Lebensgeschichte, prägende Erfahrungen, Leitmotive — Objektbeziehungen (früher, jetzt und in der Übertragung zum Therapeuten) — Beziehung zum Selbst, bewusste und unbewusste Selbstkonzepte, Subjektivität, Identität — Bezug zum eigenen Körper, Veränderungen des Körperselbsterlebens — Bewusste und unbewusste Konflikte, Ich-Funktionen, Abwehr- und Bewältigungsstrategien
Neglect und Anosognosie
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Keiner dieser Aspekte wurde bisher in der Neuropsychologie näher untersucht. Franz Dick hat in diesem Band eine ausführliche Darstellung des Neglect-Syndroms vorgenommen, sodass hier darauf verzichtet werden kann. Ich möchte aber kurz noch einmal einige Aspekte seiner Ausführungen in Erinnerung rufen. Im Wesentlichen herrschen bei Rechtshirnläsionen drei Symptomenkomplexe vor: Anosognosie, das Nicht-gewahr-Sein beziehungsweise die Leugnung der Schädigung; Neglect, die Ignorierung des linken Halbraumes und Anosodiaphorie, die emotionale Gleichgültigkeit gegenüber der Symptomatik. Darüber hinaus gibt es das Phänomen der Misoplegie, einer übermäßigen Besetzung der gelähmten Glieder in hasserfüllter oder abwertender Haltung. Hier soll nur auf den Neglect und die Anosognosie eingegangen werden. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Anosognosie und Neglect, obwohl beide häufig in Kombination gefunden werden und sich oftmals auch überschneiden. Anosognosie, ein von Babinski (1914) eingeführter Begriff 2 , bezieht sich auf die Verleugnung der Schädigung an sich, das heißt, der Patient verleugnet seine Halbseitenlähmung. Neglect dagegen bezeichnet das Phänomen, dass der Patient sich einer Körperhälfte und der Umgebung auf dieser Körperseite nicht bewusst ist. Dieser Zustand tritt in der Regel bei Rechtshirnläsionen auf, und deshalb betrifft der Neglect meistens die linke Körperseite. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Hemianopie, bei der ebenfalls ein Halbraum nicht gesehen wird. Sie ist zurückzuführen auf eine Schädigung der visuellen Zentren im Gehirn. Insofern Neglect, Anosognosie und Hemianopie bei Rechtshirnläsionen in der Regel kombiniert auftreten, werden sie leicht verwechselt. Diese Begriffe betreffen (s. a. den Beitrag von Franz Dick in diesem Band) unterschiedliche Funktionsebenen. Neglect-Verhalten ist in der Regel gebunden an bestimmte Schädigungsorte im Gehirn bei unterschiedlicher Häufigkeit. 2
Babinskis Begriff beruht auf einem „Defekt"-Modell. Ich möchte
festhalten, dass wir diesen Begriff hier um seine dynamischen Aspekte erweitern.
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
Eine besondere Betonung erfährt immer wieder der hintere parietale Bereich der rechten Hemisphäre. Aus klinischer Sicht jed o c h erscheint der Bezug auf bestimmte Lokalisationen reichlich überbewertet, wenn man mit Patienten arbeitet, die nicht für empirische Forschung ausgewählt wurden (s. den Beitrag von Franz Dick in diesem Band). Dieser klinische Befund ist von einiger Bedeutung. Er scheint darauf hinzuweisen, dass m e h r Gründe b e i m Neglect-Anosognosie-Phänomen eine Rolle spielen als rein neurologische Schädigungen oder Ausfälle. Es entsteht nicht aus einer Unfähigkeit der Patienten, Gegenstände links von sich wahrzunehmen. Grundsätzlich sind sie dazu durchaus in der Lage, wenn ihre Aufmerksamkeit auf ein Objekt gelenkt wird, etwa durch eine Bewegung oder einen Lichtblitz oder auch wenn man sie auffordert, einen Blick nach links zu werfen. Für sich allein j e d o c h sind sie sich der linken Seite ihrer Welt nicht bewusst. Die in der neurowissenschaftlichen Welt zurzeit akzeptierte Erklärung für diesen Ausfall besagt, dass die A u f m e r k samkeit dieser Patienten sehr leicht durch Objekte auf ihrer rechten Seite gefangen g e n o m m e n wird und sie nicht in der Lage sind, sie von diesen abzuziehen, um sich ihrer linken Seite zu widmen. Ein Grund dafür könnte sein, dass die linke Hemisphäre, welche die rechte Seite der Weltwahrnehmung abdeckt, noch intakt ist, abgesehen davon, dass sie bei Rechtshändern ohnehin die dominante Hemisphäre ist. Neglect/Anosognosie wird grundsätzlich also als eine Aufmerksamkeitsstörung verstanden. Was aus diesen Phänomenen geschlossen werden kann, ist Folgendes: Die Tatsache, dass anatomisch-morphologische Faktoren eine Rolle zu spielen scheinen, verführt leicht dazu, in der anatomischen Lokalisation begründete Erklärungen finden zu wollen; es wird oft angenommen, es gäbe bestimmte Zentren im Gehirn für die Verteilung von Aufmerksamkeit, und ihre Schädigung würde das Neglect-Phänomen erklären. A b e r : Die Entwicklung des Neglect-Verhaltens über die Zeit hinweg und die Beziehung zu emotionalen und sozialen Faktoren - der fluide Faktor des Störungsbewusstseins
(s. den Beitrag von
Franz Dick in diesem Band) - führen zu einer psychodynami-
Neglect und Anosognosie
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sehen Erklärung und das ist, wie das Neglect-Verhalten überhaupt, eine große theoretische und klinische Herausforderung.
3.1 A n o s o g n o s i e Wie bereits erwähnt, wurde die Bezeichnung „Anosognosie" von Babinski (1914) zur Beschreibung der Störung vorgeschlagen. Sie besteht in einer vollständigen Verleugnung der Halbseitenlähmung. Sie tritt besonders in der akuten Phase nach einem Schlaganfall auf. Im Gegensatz zu der offensichtlichen Behinderung der Patienten leugnen sie, eine gelähmte Gliedmaße zu haben, oder behaupten, das Glied gehöre jemand anderem, ein Symptom, das als somatophrenische Illusion bezeichnet wird. So leugnete eine unserer Patientinnen kurz nach dem Schlaganfall, der gelähmte Arm sei der ihre, und sie behauptete stattdessen, er gehöre ihrer Schwester, die allerdings nicht anwesend war. Als sie mit dieser Tatsache konfrontiert wurde, hatte sie keine Erklärung dafür, blieb aber starrsinnig bei ihrer Behauptung. Es hat eine ganze Reihe von Erklärungsversuchen für das Phänomen der Anosognosie gegeben. Die vielleicht wichtigsten stellen eine Verbindung her zum Neglect des linken Halbraumes. Diese Sichtweise fußt auf der Annahme, dass die rechte Hirnhälfte für die Raumwahrnehmung verantwortlich ist und außerdem eine wesentliche Rolle bei der Aufmerksamkeitsverteilung für beide Raumseiten spielt. So wird Anosognosie verstanden als eine Folge des Neglects - mit anderen Worten, die Patienten verneinen die Hemiplegie, weil sie sie gar nicht wahrnehmen. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich nicht um eine Verleugnung im psychischen Sinne, sondern eher um ein Nicht-Bewusstwerden der Störung, da die Systeme, welche die linke Körperseite überwachen, beschädigt sind. Es gibt jedoch zwei bedeutsame Befunde, die gegen eine Verknüpfung von Anosognosie und Neglect sprechen. Zum einen gibt es Berichte über Patienten, die einen Neglect ohne Anosognosie zeigen, und umgekehrt. Diese Art von Befund, eine doppelte Dissoziation, wird in der Neuropsychologie im Allgemeinen als Indiz dafür verstanden, dass beide psychologischen Funk-
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
tionen eine unterschiedliche funktionelle Architektur haben und wahrscheinlich auch unterschiedliche neurobiologische Substrate. Mit anderen Worten, Neglect und Anosognosie entstehen durch die Schädigung zweier unterschiedlicher Systeme. Darüber hinaus haben die erstaunlichen Experimente von Ramachandran (1994, 1996) und die psychoanalytischen Interviews von Kaplan-Solms und Solms (2000) deutlich gemacht, dass sowohl Anosognosie als auch Neglect unter bestimmten Umständen zumindest vorübergehend aufzuheben sind. Diese Tatsache macht das Neglect-Syndrom zu einem interessanten Forschungsobjekt für die Psychoanalyse: Die Befunde sprechen dafür, dass der Patient eine verborgene, unbewusste Wahrnehmung der Störung besitzt, obwohl Hirngewebe zerstört wurde.
3.2 R a m a c h a n d r a n s E x p e r i m e n t e Ramachandran, ein indischer Neuropsychologe und Hirnforscher, führte einige sehr ausgeklügelte Experimente mit NeglectPatienten durch. Eines davon war die Stimulation des linken Ohrs des Patienten mit eiskaltem Wasser (Ramachandran, 1994,1996; Ramachandran u. Blakeslee, 1998). Wenn er das Wasser in das Ohr einflößte, waren Neglect und Anosognosie vorübergehend aufgehoben. Einige Minuten nach der Behandlung konnte eine vorher anosognostische Patientin klar sehen und feststellen, dass sie gelähmt war (Ramachandran u. Blakeslee, 1998, S. 143 - 1 4 7 ) . Sie berichtete auch, dass sie bereits seit einigen Tagen gelähmt sei. Folglich hatte sie vielleicht ihre Lähmung ausdrücklich und bewusst verleugnet, war sich aber offenbar auf einer bestimmten Ebene ihrer Behinderung und ihrer Dauer durchaus bewusst. Einige Stunden später hatte die Wirkung der kalorischen Stimulation nachgelassen, und sie fiel zurück in die Anosognosie. Ihre Erinnerungen an das Experiment sind von besonderem Interesse. Sie konnte das Experiment in allen Einzelheiten erinnern und wusste sogar noch die Krawatte zu beschreiben, die Ramachandran getragen hatte. Jedoch hatte sie absolut keine Erinnerung mehr an die Tatsache, dass sie sich ihrer Lähmung bewusst gewesen war.
Neglect und Anosognosie
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In einem anderen Experiment fragte er die Patientin, ob sie die Ringe an ihrer linken (gelähmten) Hand kenne. Die Patientin war immer stolz auf ihren Schmuck gewesen und sollte daher keine Schwierigkeiten haben, sie als die ihren zu erkennen. Dennoch behauptete sie, die Ringe seien ihr unbekannt. Ramachandran zog ihr die Ringe von den Fingern und platzierte sie woanders. Als die Ringe der Patientin diesmal gezeigt wurden, erkannte sie sie sofort als die ihren. Sie erkannte sie sogar, wenn jemand anders sie trug. Ein drittes Experiment bestand in der falschen Behauptung, dass er eine Substanz in den gelähmten Arm eines Neglect-Patienten, der seine Hemiparese vollständig leugnete, injizieren werde, die zu einer vorübergehenden Lähmung führen würde. Ramachandran injizierte dann Kochsalzlösung. Als er den Patienten nach der Injektion fragte, ob er seinen Arm bewegen könne, verneinte der Patient und sagte, der Arm sei gelähmt. Auf der Grundlage seiner Forschungen stellt Ramachandran fest, dass Anosognosie eine Abwehr darstellen könnte und dass uns „solche Patienten die fantastische Gelegenheit bieten, zum ersten Mal die Freudschen Theorien zu testen" (Ramachandran u. Blakeslee, 1998, S. 155; Übersetzung K. R.).
3.3 Neuro-psychoanalytische Forschungen Kaplan-Solms und Solms (2000, S. 148-199) beschreiben in ihrem Buch eine Reihe von psychoanalytischen Interviews mit Neglect-Patienten, die alle ihre Behinderung leugneten. Alle Fälle zeigten eine linksseitig betonte motorische Behinderung, die von einer kompletten Hemiplegie bis zu einer Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit durch Schwäche und klonische Krämpfe reichten. In den Interviews konnten die Patienten, die sich durch den therapeutischen Kontakt offenbar gehalten fühlten, ihre Behinderung und was sie für sie bedeutete, vorübergehend eingestehen. Wenn die Lähmung anerkannt wurde, zeigten sich alle Zeichen einer Depression. Dies scheint daraufhinzuweisen, dass Neglect und Anosognosie der Abwehr gegen eine schwere De-
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
pression infolge der Konsequenzen einer Hirnschädigung dienen.
3.3.1 Anosognosie als Abwehr gegen Depression Dieser Befund ist von unmittelbarer Bedeutung für psychoanalytische Überlegungen und von großem Interesse im Zusammenhang mit dem Modell Anosognosie als Abwehr. Die offensichtlich dramatischen Affektschwankungen, die während der psychotherapeutischen Sitzungen auftraten, zeigen, dass hinter der angeblichen Nicht-Bewusstheit der Störung ein Drama stattfindet. Die im Buch der Solms geschilderten Tränenausbrüche sind innerhalb des emotionalen Kontextes unmittelbar zu verstehen. Offensichtlich brachen in den Sitzungen Gefühle im Zusammenhang mit der Behinderung durch, die vorher unterdrückt waren. In einigen Fällen kam es nicht nur zu vorübergehenden Tränenausbrüchen, sondern zu einer vollkommenen Vergegenwärtigung der gelähmten Gliedmaßen. Was in den Sitzungen passierte, hatte denselben Effekt wie Ramachandrans Experimente. Die Tatsache, dass vollständige Anosognosie durch eine psychotherapeutische Intervention vorübergehend aufgehoben werden kann und dass es dabei auch zu dramatischen Affektdurchbrüchen kommen kann, widerspricht einem Defekt-Modell, das heißt nichtdynamischem Modell der Anosognosie. Das dynamische Affektmuster dieser Patienten passt nicht zu der Annahme eines Zusammenbruchs eines Wahrnehmungssystems. „Es scheint also, dass nur wenn ein Ereignis in der äußeren Welt (z. B. eine psychotherapeutische Intervention) eine Verbindung herstellt zwischen einem bewussten Gedanken und dem Wissen um die Behinderung außerhalb des Bewusstseins, der Patient sich (wenigstens teilweise) seines Verlustes bewusst wird. Natürlich wäre dieser Gedanke im Bewusstsein höchst unwillkommen, da der Patient typischerweise dazu tendiert, sich gegen eine solche Bewusstwerdung zu wehren. Folglich ist die Episode wahrscheinlich kurz, bevor die Abwehr sich erneut konstituiert. Daher erleben viele Patienten auch nur einen Anflug von Trau-
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rigkeit" (Turnbull, Jones und Reed-Screen, 2002, S. 72; Übersetzung K. R.). Diese Befunde legen nahe, dass eine wichtige Ursache für Anosognosie im Bedürfnis der Patienten liegt, sich gegen die Depression infolge der narzisstischen Verletzung des Körpers zu wehren. Somit scheint Anosognosie auf einer unbewussten Dynamik zu gründen. 3.3.2 Aspekte der p r ä m o r b i d e n Persönlichkeit Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den man bei der Untersuchung der Reaktionen von Patienten auf ihre Behinderung berücksichtigen muss. Ihr Verhalten hängt auch von der prämorbiden Persönlichkeit ab. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine große individuelle Bandbreite in der jeweiligen Konstitution von Emotionssystemen (Panksepp, 1998) gibt, welche die Grundlage individueller Persönlichkeitsunterschiede ausmachen könnten: — Such- und Lustsystem — Wutsystem — Furchtsystem — Paniksystem (Trennung-Verzweiflung) — Fürsorge(-Unter)system Gemäß den Vorstellungen Panksepps wird die jeweilige Dominanz eines dieser Systeme einen Einfluss darauf haben, wie eine Person auf eine Veränderung seiner Umgebung reagieren wird. Dies ist kein genetischer Ansatz. Vielmehr werden alle Systeme im Laufe der Entwicklung durch die Interaktionen mit der Umgebung geformt, das heißt, sie haben eine gewisse Stabilität im Hinblick auf ihre synaptische Stärke. Aber sie werden die Reaktion auf einen Einbruch wie einen Schlaganfall beeinflussen. So schreibt Oliver Turnbull: „Die Zerstörung rechtshemisphärischer Strukturen, die subkortikale Emotionssysteme regulieren, könnte somit eine große Bandbreite emotionsgesteuerter Reaktionen auf die Parese auslösen. Eine dieser Reaktionen, die wir als Anosognosie bezeichnen, könnte auf einem emotionalen Erfahrungsmuster beruhen, das besonders empfindlich für Verlusterlebnisse ist (oder Trennung-Verzweiflung, s. Panksepp, 1998, S. 226-261). Unter der
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
Annahme, dass dies die Emotion ist, die unbedingt vermieden werden muss, könnte der Patient kognitive Reserven benutzen, um das zur Verfügung stehende Wissen um die Lähmung zu verzerren (ignorieren, herunterspielen, rationalisieren ...), und würde so die negativen affektiven Konsequenzen vermeiden, die einer vollständigen Bewusstwerdung folgen würden. Für diejenigen jedoch, in denen eine Wut generierende Architektur (Panksepp, 1998, S. 165-187) als dominierendes subkortikales Emotionssystem die kortikale Kontrolle verliert, würde das Ergebnis eine hasserfüllte Besessenheit (Misoplegie) sein. So könnten individuelle Unterschiede in den basalen Emotionssystemen (und ihrer Regulation) dem Befund der Beeinflussung der Agnosie durch die prämorbide Persönlichkeit zugrunde liegen" (Turnbull et al., 2002, S. 84; Übersetzung K. R.). Eine Schädigung der rechten Hemisphäre, die für die Verarbeitung von Emotionen verantwortlich sein soll, führt also nicht zu einem Verschwinden emotionaler Prozesse, sondern zu einer Veränderung emotionaler Reaktionen. Zusammenfassend: Sowohl Ramachandrans Ergebnisse wie auch die von Kaplan-Solms und Solms zeigen, dass im NeglectAnosognosie-Phänomen in der Tat etwas anderes als das Aufmerksamkeit/Unaufmerksamkeits-Modell eine Rolle spielt. An dieser Stelle soll kurz auf eine andere Untersuchung eingegangen werden. Sie ist nicht direkt mit dem Neglect-Anosognosie-Phänomen verbunden, könnte aber zur Diskussion des Problems beitragen.
4 Die interozeptive Leitungsbahn Innerhalb der Neurowissenschaften wird heute weitgehend akzeptiert, dass Empfindungen der linken und rechten Körperseite in der rechten Hirnhemisphäre zu einem Körperbild integriert werden. Das erklärt, warum Neglect häufiger bei Rechtshirn- als bei Linkshirnschädigungen gefunden wird; die linke Hirnhälfte ist hauptsächlich mit der rechten Körperseite beschäftigt. Eine linksseitige Schädigung wird also in der Regel keinen Neglect
Neglect und Anosognosie
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hervorrufen, da die rechte Hirnhälfte immer noch beide Körperseiten registriert. Craig (2002) berichtete über Erkenntnisse in der funktionellen Anatomie des „Lamina-I-spinothalamocorticalen Systems". Hier soll nicht auf die detaillierte Beschreibung der verschiedenen Aspekte seiner Theorie eingegangen werden. Vielmehr soll ein Gesichtspunkt stärker hervorgehoben werden, der ein neues Licht auf das Neglect-Phänomen werfen könnte. In den Lehrbüchern werden die Sinneswahrnehmungen nach Sherrington (1900, 1941, zit. nach Craig, 2002) üblicherweise eingeteilt in telorezeptive (Sehen und Hören), propriozeptive (Körperhaltung), exterozeptive (Berührung), chemorezeptive (Geruch und Geschmack) und interozeptive (Eingeweide). In dieser Einteilung werden Temperatur und Schmerz als Teilaspekte von Berührung verstanden und es wird angenommen, dass sie wie andere Hautreize über den ventroposterioren Thalamuskern zum somatosensorischen Kortex weitergeleitet werden. Die viszeralen Empfindungen dagegen werden nach dieser Auffassung durch ein System weitergeleitet, das vagale, glossopharyngeale, faziale und spinale afferente Aktivität über den parabrachialen Kern des Hirnstamms an denselben ventrobasalen Thalamuskern beziehungsweise dessen medialen Anteil schickt und von dort aus zum Inselbereich des Kortex. Craig stellt einige der Folgerungen in Frage, die aus dieser traditionellen Sichtweise herrühren. So stellt er fest, dass Schmerz- und Temperaturempfindungen - im Unterschied zu den stärker objektzentrierten Tast- und Berührungsempfindungen - einen viel ausgeprägteren affektiv-emotionalen Aspekt aufweisen. Zwar projizieren wir Temperaturempfindungen (kalt, warm) typischerweise auf die Objekte unserer Umgebung. Letztendlich aber beziehen sich Kälte- und Wärmeempfindungen in erster Linie auf den eigenen Körper und rufen immer einen bestimmten Affekt hervor (angenehm oder unangenehm) - mit anderen Worten ein Gefühl, das ihre homöostatische Bedeutung anzeigt. Schmerz- und Temperaturempfindungen sind daher nach der Auffassung dieses Autors dem interozeptiven und nicht dem exterozeptiven Sinnesbe-
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reich zuzuordnen. 3 Craig stellt fest, dass „alle Körpersensationen direkt mit homöostatischen Bedürfnissen verschränkt und mit Verhaltensmotivationen assoziiert sind, die notwendig sind zur Aufrechterhaltung der Körperintegrität" (Craig, 2002, S. 655; Übersetzung K. R.). Insofern sind sie essenziell wichtig, um uns selbst als lebendige Organismen erleben zu können. Lamina-I ist die äußerste Schicht im Hinterhorn des Rückenmarks. Als einziger nervaler Bereich erhält sie monosynaptische Impulse der primären Afferenzen, die aus allen Körperbereichen kommen. Diese Fasern sind nicht nur empfindlich für Temperatur oder mechanische Belastung, sondern auch gegenüber einer ganzen Reihe physiologischer Verhältnisse: lokaler Metabolismus (Säuregehalt, Sauerstoffmangel, Unterzuckerung, Hypo-Osmolarität, Milchsäuregehalt), Zellrupturen (ATP und Glutamat), Hautverletzungen durch Parasiten (Histamine), Mastzellenaktivierung (Serotonin, Bradykinin und Eikosanoide) und Immun- und Hormonaktivität (Cytokine und Somatostatin). Die aufsteigende Lamina-I-Leitungsbahn projiziert zunächst zur sympathischen Zellsäule des thoracolumbalen Markbereiches. Weiterhin projiziert sie zu den wichtigsten Kernbereichen der homöostatischen und autonomen Zentren im Hirnstamm. Diese sind außerdem stark vernetzt mit dem Hypothalamus und der Amygdala. Schließlich erzeugt sie zusammen mit den gustatorischen und viszeralen Afferenzen, die im Kern des Tractus solitarius (Nucleus solitarius) umgeschaltet werden, eine thalamokortikale Repräsentation des Körperzustandes, die für Körpergefühle unabdingbar ist. „Dieses System stellt eine afferente homöostatische Leitungsbahn dar, die Signale aus dünnen primär-afferenten Nervenfasern überträgt, die den physiologischen Status sämtlicher Körpergewebe repräsentieren" (Craig, 2002, S. 659; Übersetzung K. R.). Die anatomische Organisation, so Craig, zeigt, dass diese Gefühle sensorischen
3
Es kann hier nicht diskutiert werden, inwieweit alle Sensationen, d. h.
auch die exterozeptiven, Projektionen sind. Demnach läge der Unterschied eher in der emotionalen Bedeutung (ein quantitativer Aspekt) als in einer qualitativen Differenz.
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Neglect und Anosognosie Aspekten fortlaufender h o m ö o s t a t i s c h e r Veränderungen
ent-
sprechen, die den physiologischen Zustand des ganzen Körpers abbilden. Dieses interozeptive kortikale Abbild ist dann re-repräsentiert im vorderen Inselbereich der nicht dominanten (in der Regel der rechten) Hemisphäre. Für Craig bildet es die Grundlage „für die subjektive Einschätzung der eigenen Befindlichkeit, d . h . ,wie m a n sich fühlt'" (Craig, 2 0 0 2 , S. 6 6 3 ; Übersetzung K. R.). Diese Sichtweise deckt sich mit der Theorie des (Selbst)Bewusstseins von Antonio Damasio ( 1 9 9 4 , 1999). Seine Erklärung für das P h ä n o m e n der Anosognosie fußt auf der Schädigung eben der Zentren, die Craig beschreibt. In seiner (Damasios) Sichtweise ist das neurobiologische Substrat des sogenannten ProtoSelbst bei Rechtshirngeschädigten mit Anosognosie in Hinsicht auf die linke Körperseite äußerst eingeschränkt. Insofern es die Grundlage des „Kern-Selbst" darstellt, das seinerseits wiederum der Ursprung von erweitertem Bewusstsein und autobiografischem Selbst ist, existiert das Kern-Selbst zwar noch, ist jedoch dramatisch reduziert. Daher kann es nicht m e h r im bisherigen Umfang zur Entstehung der höheren Bewusstheitsgrade beitragen: Die Patienten müssen auf Erinnerungen von Körperzuständen zurückgreifen, die sogenannte
Als-ob-Körpersensatio-
nen. Diese Theorie wird von unseren Befunden unterstützt. In einer schematischen Übersicht ergibt sich folgende Informationskette (siehe Abbildung 1). Wie m a n sieht, sammeln sich die dünnkalibrigen sympathischen und parasympathischen Afferenzen der Zustände des gesamten Körpers besonders in der rechten vorderen Inselregion. Das m a g zu der Erklärung beitragen, w a r u m eine Schädigung der rechten Hemisphäre zu einem massiven Neglect der linken Körperseite führt: Die W a h r n e h m u n g der rechten Körperseite ist ungestört, sie wird i m m e r n o c h von der linken Hirnhälfte überwacht. Die Schädigung der rechten Inselregion würde auch die emotionalen Turbulenzen erklären, die sich bei
Rechtshirn-
schädigungen finden, nämlich durch die engen Verbindungen dieser interozeptiven Leitungsbahn zum limbischen System: Ihre regulierende Funktion ist gestört. Insofern dieses System dazu beiträgt, dass wir uns unserer selbst bewusst werden können auf
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe Rechter orbitofrontaler Kortex
t Linke vordere
Rechte vordere Insel
Vordere Insel
Mittlere / hintere dorsale Insel
Ventromedialer Thalamuskern
Ventromedialer Thalamuskern
( p o s t e r i o r e r Teil)
( b a s a l e r Teil)
A
A Nucleus 'parabrachialis
Lamina I
i Dünnkai ibrige sympathische Afferenzen
Nucleus solitarius •
Dünnkalibrige parasympathische Afferenzen
Abbildung 1: Der „interoceptive pathway" (nach Craig, 2002, S. 659). Anmerkung : Die gestrichelten Linien deuten die nur bei Primaten vorhandene direkte Projektion der Lamina-I und des Nucleus solitarius zum ventromedialen Thalamuskern an. Bei allen anderen Säugetieren ist der Nucleus parabrachialis zwischengeschaltet.
Grund interozeptiver u n d emotionaler Prozesse, stellt diese Theorie ein Modell zur Verfügung, wie physische Vorgänge zu psychischen Veränderungen führen, besonders, w e n n
diese
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Strukturen beschädigt sind. Man könnte die Frage stellen, wieso die Patienten überhaupt etwas fühlen sollten, wenn die rechte Hirnseite tatsächlich emotionale Vorgänge prozessiert. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Emotionssysteme der rechten Hemisphäre zwar bei der Anosognosie beschädigt sein können; sie stellen jedoch nicht den Kern des Emotionssystems dar. In den letzten zwei Jahrzehnten ist deutlicher geworden, dass die Zentren der Emotionssysteme über eine Reihe subkortikaler Strukturen verteilt sind, besonders im oberen Hirnstamm, Hypothalamus, Amygdala und vorderen Cingulum (s. a. LeDoux, 1996; Panksepp, 1998; Damasio, 1999). Die rechts lateralisierten kortikalen Systeme, die bei der Anosognosie zerstört sind, üben eine mehr regulierende Funktion auf die subkortikalen Emotionssysteme aus. Verlassen wir diese Theorie nun und kommen zu den Ergebnissen unseres Forschungsprojektes.
5 Eigene Untersuchungen Es sei vorausgeschickt, dass wir nicht strikt zwischen Anosognosie und Neglect getrennt haben. Beide Phänomene schließen etwas von der Wahrnehmung aus beziehungsweise vom Bewusstsein. Die im Artikel von Franz Dick aufgeführten Beispiele von Patienten, die um den Neglect kognitiv wissen, sich aber so verhalten, als wären sie nicht beschädigt, sprechen für eine nahe Verwandtschaft, trotz der Beobachtung, dass beide unabhängig voneinander beobachtet werden können. Möglicherweise handelt es sich um unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Störung. Wenn im Folgenden von Neglect-Verhalten
bezie-
hungsweise Neglect die Rede ist, sind beide Phänomene dadurch repräsentiert. Die Befunde von Ramachandran und Kaplan-Solms und Solms erweckten unser Interesse am Neglect-Anosognosie-Phänomen. Die Tatsache, dass diese Patienten sich ihrer Behinderung - wenn auch nur vorübergehend - bewusst werden können, schien die Vorstellung zu unterstützen, dass es sich in der Psychodynamik von Neglect und Anosognosie möglicherweise um
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Klaus Röckerath und Neuropsychoanalytische Studiengruppe
Verleugnungsphänomene im psychoanalytischen Sinne handeln könnte. Mark Solms hat seine Untersuchungen dahin gehend interpretiert, dass das Hauptziel der Anosognosie in der Abwehr einer Depression liege; das heißt, es kommt zu einer Unfähigkeit zu trauern. Wir waren ebenfalls interessiert an der Psychodynamik, die zu diesem Ausschluss von Realitäten führt. Darüber hinaus wollten wir wissen, ob das Neglect-Anosognosie-Phänomen noch anderen Zwecken dient als der Abwehr von Depression. Einer unserer Fälle soll als Grundlage für die Diskussion vorläufiger Hypothesen über die Psychodynamik des NeglectVerhaltens und seiner Veränderungen in der weiteren Entwicklung der Persönlichkeit dienen (s. den Beitrag von Laura Viviana Strauss in diesem Band). Sie legen den Schwerpunkt auf einen etwas anderen Aspekt als Solms. Es scheint jedoch unabweisbar, dass die Abwehr von Depression beim Neglect-Verhalten zumindest eine wesentliche Rolle spielt.
5.1
Parameter
Angesichts der spezifischen Behinderungen, unter denen die Patienten leiden, wurde sehr schnell klar, dass einige Parameter in das übliche psychoanalytische Setting eingeführt werden mussten. Nicht nur die körperlichen Einschränkungen mussten Berücksichtigung finden, indem wir die Patenten beispielsweise im Krankenhaus oder zu Hause besuchten. Wir erwarteten auch einen Mangel an Selbstwahrnehmung hinsichtlich emotionaler Vorgänge und dachten, es könne notwendig werden, diese Thematik aktiver zu verfolgen als üblich. Obwohl man davon ausgehen sollte, dass ein Patient mit einem Neglect und/oder Anosognosie einer Psychotherapie ablehnend gegenüberstehen würde, war dies nicht der Fall. Die Mehrzahl der Patienten, die wir gesehen haben, waren dankbar für die Möglichkeit, therapeutische Gespräche zu führen; von einem psychoanalytischen Standpunkt aus gesehen ein erster Hinweis darauf, dass unbewusste Faktoren eine Rolle spielen.
Neglect und Anosognosie
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5.2 Ergebnisse Sobald mehrere Patienten in Behandlung waren, wurde deutlich, dass die aufgeworfenen Fragen bei jedem Patienten unterschiedlich waren. Das Bild des Neglect-Syndroms ist vielfältiger, als wir gedacht hatten. Einige Aspekte, die für unsere Hypothese von Bedeutung sind, sollen kurz angesprochen werden. Hinsichtlich des Kontaktes zum Analytiker war in zwei Fällen ein Phänomen deutlich sichtbar: Die Patienten tendierten unbewusst dazu, den Analytiker auf die Neglect-Seite zu platzieren. Dies geschah besonders zu Beginn der Behandlung immer dann, wenn unangenehme Themen zur Sprache kamen. Sie positionierten ihren Rollstuhl in einer Weise, in welcher der Analytiker quasi ausgeblendet war. In gewisser Weise ähnelte diese Anordnung dem psychoanalytischen Setting, wo der Analytiker vom Patienten nicht gesehen wird. Ein Grund für dieses Verhalten könnte der Wunsch sein, einer Konfrontation mit der Behinderung zu entgehen. Sich einander gegenüber zu sitzen würde die Notwendigkeit mit sich bringen, die räumliche Position der Hemianopie anzupassen, wie es Patienten mit einer reinen Hemianopie auch tun. Dass beide Patienten dies nicht taten, verstanden wir als Ausdruck eines regressiven Wunsches, die Realitätsprüfung zugunsten einer narzisstischen Fusion mit dem Analytiker zu vermeiden. Es würde außerdem der Kontinuität im Erleben eines intakten körperlichen Selbst dienen. Darauf soll später noch ausführlicher eingegangen werden. Die gelähmte Gliedmaße wurde häufig personalisiert. Meistens repräsentierte sie verlorene autobiografische Objekte. Dieses Phänomen verstanden wir als Derivat einer unbewussten symbolischen Gleichsetzung - der Verlust der Funktion wurde auf den Verlust beziehungsweise die verlorene Person projiziert, wie etwa im Fall der Patientin, die ihren gelähmten Arm als den ihrer Schwester bezeichnete, die im Ausland lebt. Die Subjektivität der Patienten, die nach Damasios Theorie auf den Vorgängen im Proto-Selbst, Kern-Selbst und autobiografischem Selbst beruht, baut sich auf einem geschädigten Gehirn auf. Dies zeigt sich in der Verzerrung ihres gesamten Glaubens-
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Tabelle 1: Fälle (Auswahl aus insgesamt neun)
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systems, nicht nur in Bezug auf die Hemiparese, sondern auch in den irrtümlichen Annahmen über Gegenwart und Zukunft. Nach Mark Solms führt die Rechtshirnschädigung typischerweise zu einer Regression von der Objektliebe zum Narzissmus. Er schließt daraus, dass die rechte perisylvanische Konvexität das neurologische Substrat für die Repräsentation realer äußerer Objekte und der Motor für ganzheitliche Objektbesetzungen sei. Wir können dies bei unseren Patienten nicht durchgängig finden. Vielmehr scheint ein emotionaler Aspekt der Realitätsbeziehung erhalten zu bleiben, wohingegen ein Wahrnehmungselement in Bezug auf den linken Halbraum beschädigt ist. Die bereits erwähnte Tatsache, dass einige Patienten den Analytiker auf die Neglect-Seite positionierten, könnte so auch verstanden werden als Bedürfnis, die Kommunikation von den Wahrnehmungsdefiziten zu befreien. So würde dieses Verhalten nicht nur der Verleugnung des Defektes dienen, sondern auch der Verbesserung der Beziehung. Schließlich wurde das Problem Depression und Versagen oder Vermeidung von Trauer in der Gruppe unterschiedlich gesehen. Den beschriebenen Durchbruch unterdrückter Gefühle verstanden wir als Ergebnis einer affektiven Labilität mit verminderter Affektkontrolle und affektiver Ansteckung - typisch für rechtshemisphärische Schädigungen. Trauer bedeutet, Besetzung von einem geliebten Objekt abzuziehen. Wir meinen, dass Trauer unmöglich ist, wenn die Anwesenheit eines Objektes zunächst einmal auf Grund der Hirnschädigung gar nicht konzeptualisiert werden kann. Mark Solms vertritt die Meinung, dass Trauer auf Grund des narzisstischen Rückzuges von der enttäuschenden linken Körperhälfte unmöglich ist, und das dieser Umstand auch für den Neglect des linken Halbraumes verantwortlich ist: Der Besetzungsabzug von diesem Objekt (der gelähmten Körperhälfte) führt zu einer Spaltung des Objektes in gute und schlechte (böse) Teile; dadurch bricht der Raum, der ansonsten durch Objektbeziehungen aufgespannt wird, zusammen. Bei unseren Patienten stand nicht die Unfähigkeit zu trauern im Vordergrund, sondern das starke Bedürfnis, eine zusammenhängende Selbstrepräsentation aufrechtzuerhalten. In diese Selbstrepräsentation konnte die irritierende Erfahrung einer entfremdeten
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gelähmten Körperseite nicht integriert werden. Dies wird bei links- und rechtshemisphärischen Hemiplegien unterschiedlich empfunden: Auf der linken Seite verschwindet das Gefühl für die gelähmten Gliedmaßen, es entsteht eine Lücke in den Körpergrenzen, wodurch die Furcht vor einem Verschlungenwerden durch das gierige orale Objekt (Horror Vacui) auftaucht. Dies führte auch zu einem Gefühl der Unheimlichkeit bei unseren Patienten, in einigen Fällen in Form der Fantasie, verrückt geworden zu sein. Einige von ihnen zeigten die paranoide Furcht, dass ihnen etwas passiert sei, was ihren Geisteszustand verändert habe, worüber jeder Bescheid wüsste, aber dass man es ihnen nicht sage.
5.3 Hypothesen Auf der Grundlage der bisher vorgestellten Ergebnisse könnte eine vorläufige Hypothese für das Neglect-Phänomen folgendermaßen aussehen. Allen unseren Patienten war gemeinsam, dass der Schlaganfall einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellte. Aus einem bestimmten Blickwinkel erschien es logisch, dass jeder Strategien entwickeln würde, um so einem Schicksalsschlag zu begegnen. Um ein Modell der Neglect-Strategie zu bilden, das auf den Folgen einer Schädigung der neurobiologischen Substrate beruht, die für die Generierung eines Selbstgefühls verantwortlich sind, griffen wir zur Analogie des Zyklopenauges des Sehsystems: Die unterschiedlichen Inputs von beiden Augen werden im Gehirn zu einem einheitlichen Bild der Welt verrechnet; analog hierzu werden die beiden Hälften des Körperschemas zu einem ganzen Körper verrechnet. Der Neglect-Patient, so unsere Schlussfolgerung, der für sich selbst trotz seiner Behinderung ein Gefühl von Ganzheit (im Sinne von Integrität) hat, errechnet dieses Erleben aus der verbliebenen (rechten) intakten Körperseite. Die Hälfte seines Körpers steht für das Ganze. Seine Aufmerksamkeit würde folgerichtig ganz auf die rechte (gesunde) Seite wechseln. Dieser Vorgang kann analog einer Schockphase verstanden werden, in der eine Zentralisierung der vitalen Funktionen stattfindet.
Neglect und Anosognosie
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Ganzheit, so scheint es, ist von höchster Wichtigkeit. Die Erfahrung von Ganzheit basiert auf Erinnerung, verankert in früheren Erfahrungen des Körperbildes. Diese Erinnerung bricht jedoch mit der kognitiven Erinnerung an die Kenntnisnahme der Behinderung und der Halbseitenlähmung zusammen. Diese Wahrnehmung läuft dem psychischen Restitutionsversuch entgegen. Die Bedrohung durch körperliche Depersonalisation führt in der Folge zu einem psychischen Restitutionsversuch, einem virtuellen Konstrukt, das den physischen Defekt psychisch aufheben soll. Somit würden Neglect/Anosognosie nicht einer aktiven Verleugnung entsprechen, sondern eher einer Fehlwahrnehmung: eine illusionäre Sichtweise, eine Subjekt-zentrierte Wahrnehmung seiner selbst, als ganz und vollständig empfunden. Sie erleichtert, indem sie Widersprüche aufhebt und vermittelt ein Gefühl psychischer Kontinuität, sogar in zeitlicher Dimension. Die Nicht-Wahrnehmung der Behinderung würde dazu dienen, ein ganzheitliches Körper-Selbst wiederzuerlangen oder aufrechtzuerhalten - ein Gefühl intakter körperlicher Ganzheit auf Kosten intakter Realitätswahrnehmung. Die existenziell wichtige Rolle, die die Anosognosie dabei spielt, wird sofort offensichtlich, wenn der Therapeut versucht, sie zu durchbrechen: Es entsteht heftiger Widerstand und es kommt zur Gegenbesetzung. Die Fallvignette (s. Beitrag von Laura Viviana Strauss in diesem Band) gibt einen Eindruck von der massiven Angst und wie der Neglect benutzt wurde. Alles wird unternommen, um eine kognitive Dissonanz zu vermeiden. Unter diesen Annahmen können wir feststellen, dass NeglectPatienten keine Störung ihrer persönlichen Identität haben. Die Ganzheit des Subjekts 4 bleibt mehr oder weniger erhalten. Die Lebensgeschichte des Patienten bleibt intakt. Jedoch ist eine Art Verkrustung nötig: Der Patient hält hartnäckig fest an dem Er-
4
Das heißt, die Ganzheit der subjektiven Eigenanschauung hinsichtlich
der persönlichen Lebensgeschichte.
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leben eines ganzheitlichen Selbst5. Wird dies in Frage gestellt, droht ein Therapieabbruch. Die auf die beschriebene Weise erworbene Fortdauer des Selbstgefühls wird auch auf zeitliche Bereiche ausgedehnt, das heißt, Konfabulationen dienen ebenfalls der Aufrechterhaltung von Kontinuität. Das ist notwendig, da die Erfahrung körperlicher Kontinuität wie auch das Erleben einer Kontinuität in der Zeit der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Selbst-Kohärenz dient (s. a. Damasios Modell des Bewusstseins). Der behinderte Teil des Körpers wird dem Ich entzogen. Warum geschieht dies häufiger bei Rechtshirnschädigungen? Das erwähnte Modell von Craig reicht aus, um die Präferenz zu erklären. Da im rechten Frontallappen die sensorischen Impulse aus beiden Körperhälften zusammenlaufen, steht bei einem Linkshirninfarkt die Information aus der gelähmten rechten Körperseite uneingeschränkt zur Verfügung. Folgt man dem Zyklopenauge-Modell, so ist die Herstellung des körperlichen Selbstgefühls intakt, das heißt, die Impulse aus den gelähmten Gliedmaßen werden ungestört in der rechten Hemisphäre verarbeitet. Die Lähmung ist dem Bewusstsein so unabweisbar. Darüber hinaus, so könnte man spekulieren, ist vielleicht die bei Linkshirnschädigungen häufig auftretende Aphasie ein limitierender Faktor: Wenn die sozialen Fähigkeiten, die der Überprüfung der persönlichen Identität dienen, nicht so dramatisch beschädigt sind - wie bei der Rechtshirnschädigung - , kann der Versuch, das Körperschema wieder herzustellen, wesentlich ungestörter vonstattengehen, als wenn auch das Sprechvermögen beschädigt ist. Während die basalen Schichten des Selbst im limbischen System verankert sind, wird das höhere Selbst wesentlich leichter durch Sprache aufrechterhalten. Bei Linkshirnschädigungen ist nicht nur die dominante Hemisphäre beschädigt, sondern auch die Sprachmächtigkeit. Die zerstörte Fähigkeit, sich auszudrücken, führt zu einer Störung der expressiven Kohärenz. Daher neigen diese Patienten eher zu De5
Im Sinne eines körperlich
als „ganz" erfahrenen „Ich-Gefühls",
scheinbar ohne Einschränkung der durch die Sinnesmodalitäten übermittelten Impulse.
Neglect und Anosognosie
105
pression. Außerdem müssen sie die kommunikative Ebene mit anderen, das soziale Echo, entbehren. Neglect als Form von Verleugnung ist wesentlich effektiver, wenn das soziale Umfeld intakt bleibt. Je nach Seitenlokalisation der Schädigung könnte man eine beschädigte Expressions-Kohärenz (linksseitig) einer beschädigten körperlich-räumlichen Kohärenz (rechtsseitig) gegenüberstellen. Nichtsdestoweniger findet sich Depression auch bei NeglectPatienten. In dem hier vorgeschlagenen Modell würde sie allerdings mehr auf dem tiefen Einbruch in die Lebensumstände beruhen, die häufig frühere Lebenskonflikte wach werden lassen; Neglect/Anosognosie würden in erster Linie nicht der Abwehr von Depression und/oder Trauer dienen, sondern der Wiederherstellung eines vergangenen ganzheitlichen Selbstgefühls. In einigen Fällen ist das Neglect-Syndrom nicht ausreichend, besonders, wenn das soziale Umfeld nicht intakt ist; die Depression ist dann deutlich sichtbar. Ein weiterer Aspekt ist die Tiefe der Störung. Patienten mit Rechtshirnschädigungen sind stärker gestört, weil ihr prä-semantisches Selbst beschädigt ist. Bei Linkshirnschädigungen ist der reflektive Teil der Persönlichkeit gestört; weil sie dies aber durchaus wahrnehmen, sind sie offen depressiv. Im Gegensatz dazu bedeuten rechtshemisphärische Läsionen eine Bedrohung der konstituierenden Elemente des Selbst. Der Zweck des Neglect-Syndroms läge somit in dem Versuch, die Erfahrung eines ganzheitlichen Selbst aufrechtzuerhalten: Eine Hälfte des Körpers wird entsprechend der anderen aufgebaut. Die andere Seite des Neglects ist die Kontinuität des Selbstgefühls. Neglect und Anosognosie entsprechen einem evolutionären Rettungsmanöver. Wie schon erwähnt, glauben wir, dass es auch hinsichtlich der bewussten Anteile der Persönlichkeit Veränderungen gibt im Vergleich zur prämorbiden Persönlichkeit. Es scheint zu einer Verhärtung der Persönlichkeit zu kommen, einer Affektverflachung, eine Abwehr, die der Aufrechterhaltung der neu gebildeten Selbstorganisation dient. Die Reorganisation ist eine Folge der Läsion, welche die Kontinuität des körperlichen Selbst bedroht, eine Kontinuität, die notwendig ist, um die Persönlichkeit
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intakt zu halten. Insofern ist das Neglect-Syndrom eher ein Restitutionsversuch als eine einfache Behinderung infolge Schädigung einer umschriebenen Hirnregion. Er organisiert sich um eine bewusst schmerzlose, jedoch unbewusst schmerzhafte Wunde (ein Begriff von Franz Dick) und ist ein Versuch, die Selbstkohärenz aufrechtzuerhalten.
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Neglect und Anosognosie
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Laura Viviana Strauss
Das Neglect-Syndrom als psychischer Akt Reflexionen und Fallbericht
1 „Embodied Mind und Minded Body" Während die Neurowissenschaften den Begriff „embodied mind" prägten, um zu verdeutlichen, dass die Psyche nicht ohne einen Körper (ein Gehirn, verbunden mit metabolischen Prozessen, Reflex-Reaktionen und immun-systemischen Prozessen, die zu chemischen und physikalischen Prozessen führen, Damasio, 2003) existieren kann, haben Psychoanalytiker von ihrem Standpunkt aus Hypothesen über den „minded body" 1 formuliert. Dieser Begriff, der nur eine Umkehrung des Begriffs „embodied mind" zu sein scheint, enthält jedoch eine weitere Bedeutung, nämlich eine Ausdehnung der Psyche auf eine andere wirkende Psyche. Er impliziert, dass das psychische Sein nur entstehen kann in einer Beziehung des Säuglings zu einem Anderen (Primärobjekt) - der Mutter, die „nach ihm sieht" („minds").2 1
Dieser Begriff wurde von Dr. Gloria Burk geprägt und von Thomas
Ogden (2001) aufgegriffen. 2
„to mind" Doppelbedeutung: Mind: memory, remembrance, spirit,
recollection, opinion, seat or subject of consciousness, the thinking and perceiving part of consciousness, intellect or intelligence, attention, notice, all of an individual's
conscious experiences,
the conscious and the uncons-
cious together as a unit, the intellect in its normal state... „to mind": to look after, to care for, to direct one's mind to, to observe, to perceive, to heed, to be careful about ... Webster's New World Dictionary Language,
of the
American
1970. „Mind": Geist, Verstand, Gedanken, Gedächtnis,Lust,
Absicht, Meinung, Ansicht. „To mind": aufpassen auf, achten auf, beachten, sich kümmern um. Wahrig Deutsches Wörterbuch
1986.
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Es ist nicht nur, dass sie dem Baby dazu verhilft, physisch zu überleben, sondern dass sie es ihm durch ihre denkende Präsenz ermöglichen wird, auch ein psychisches Sein zu entwickeln. Diese denkende Präsenz der Mutter setzt eine emotionale Offenheit („Reverie", Bion, 1962) gegenüber den körperlichen Veränderungen ihres Babys voraus, die sie nicht nur wahrnimmt, sondern in einen Sinn einbindet (Beispiel Weinen: Die äußere Erscheinung eines körperlichen Zustands beim Säugling - von diesem subjektiv erlebt als unangenehm oder schmerzhaft - wird von der Mutter als ein Ergebnis von „disstress" wegen - beispielsweise - Hunger verstanden). Das führt dazu, dass ein somatischer Zustand als ein Affekt symbolisiert wird, dessen Wirkung den Säugling zu einem empfindenden („affektierten") Subjekt werden lässt. Der Säugling kann dann mit der Zeit eine „Theory of mind" (ToM) über die Existenz und Funktion einer Psyche im Anderen und in sich selbst entwickeln. Die Fähigkeit, symbolisch zu denken, basiert dann auf diesen emotionalen Erfahrungen, die am Anfang des Lebens zwischen dem Säugling und dem Anderen stattfinden aufgrund psychischer Wahrnehmung von körperlichen Signalen und deren Transformation in psychische Inhalte durch gedankliches Begreifen. Damasio untersucht in seinem Buch „Der Spinoza Effekt" (2003), wie ursprüngliche Emotionen (äußere körperliche Veränderungen im Säugling) sich in Gefühle (private psychische Zustände) entwickeln (empfundene Emotionen). Für Damasio sind Gefühle gebunden an psychisches Sein, im Gegensatz zu Emotionen, die einer sichtbaren körperlichen Reaktion entsprechen. Die Bedeutung des Anderen (die Psychoanalyse spricht von Objekt, in Anlehnung an Freuds Trieb-Theorie, die besagt, dass der Trieb nach einem Objekt sucht) in der Entstehung der psychischen Struktur hat in der Psychoanalyse zunehmend an Bedeutung gewonnen. Das hat zu einer Ausdehnung des Konzeptes der Psyche geführt. Das Kontinuum Soma/Psyche dehnte sich aus auf die soziale Komponente, die denkende Präsenz des Anderen, denn nur durch die Mediation eines externen Objektes kann dem Säugling zum psychischen Sein verholfen werden. In diesem Prozess stehen ihm auf der einen Seite die eigenen physiologischen Funktionsweisen zur Verfügung und auf der anderen der
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denkende Andere. Mit dem Ansatz psychoanalytischer Objektbeziehungstheoretiker vertiefte sich gleichzeitig die Annahme, dass körperliche Empfindungen sich auf die Entstehung psychischer Wahrnehmungsmodalitäten auswirken, denn es sind die körperlichen Vorgänge im Säugling, die die gedankliche Intervention der Mutter erfordern. Die Welt des Säuglings fängt an, nach dem Muster von Gut und Böse wahrgenommen zu werden, je nachdem, in welchem Zustand (Stress oder Entspannung) er sich befindet. Wenn seine körperliche Spannung gelindert wird durch die Intervention der Mutter, die ihn in den Arm nimmt und füttert, ist seine Wahrnehmung der Welt eine von „gut" (freundliche Welt). Wenn seine Not nicht gelindert werden kann, ist seine Wahrnehmung der Welt eine von „böse" (feindlich). Es entsteht ein Pendant zwischen Innen und Außen, da die Wahrnehmung der äußeren Welt in Zusammenhang mit körperlichen Empfindungen von Entspannung oder Stress steht. Psychisches Leben wurde in der Psychoanalyse, nach diesem Modell, zunehmend als eine Fantasie über körperliche Vorgänge („Unbewusste Fantasie"; Klein, 1925; Isaacs, 1943) verstanden, die sich in Kontakt mit einem Objekt entwickelt und immer eine Form von Verbindung zum Objekt enthält. Mit anderen Worten, es entsteht durch die „denkende" Wirkung der Mutter eine subjektive Erfahrung von körperlichen Vorgängen und Wahrnehmung der Welt.
2 Psychisches Leben nach dem körperlichen Modell Der Psychoanalytiker Gaddini (1980) betrachtet die Entstehung psychischen Lebens und primitiver Wahrnehmung als einen Prozess, der in körperlichen Erfahrungen verankert ist. Die intrauterine Erfahrung von Raum (Grenzen) beispielsweise lässt im Organismus ein körperliches Gedächtnis einer „begrenzten" Existenz entstehen. Nach diesem körperlichen Modell beginnt sich durch die Erfahrungen von Raum, die nach der Geburt entstehen und körperliche Vorgänge in Gang setzen, die psychische Erfahrung eines „abgegrenzten" Selbst zu bilden. Es
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entsteht die Vorstellung eines Selbst nach dem Muster eines Körpers, der Grenzen erfährt. Gaddini behauptet, dass die primitive Wahrnehmung in ihrem biologischen Modell physisch imitativ ist und in einer dem Reiz entsprechenden Veränderung des Körpers besteht. Was wahrgenommen wird, ist die Veränderung des eigenen Körpers, und das ist auch das, was physiologisch gelernt wird (Gaddini, 1969): „Imitieren um psychisch zu sein". Diese Formulierung Gaddinis stellt eine unmittelbare Parallele her zu den jüngsten Überlegungen Damasios (2003). Nach seiner Vorstellung sind Emotionen basale körperliche Prozesse, nämlich durch Kontakt mit einem inneren oder äußeren Objekt ausgelöste Körperveränderungen. Sie sind objektiv beobachtbar und als Veränderung physiologischer Komponenten messbar, jedoch nur subjektiv als Gefühle wahrnehmbar. Seine Theorie der Entstehung von SelbstBewusstheit, die er explizit als „gefühlsbasiert" (also als Wahrnehmungsqualität) begreift, gründet in körperlichen Prozessen. Damasio scheint hier Gaddinis Vorstellung mit durch neurowissenschaftliche Methodik erhobenen neurophysiologischen Befunden zu untermauern.
3 Die Rolle des Objektes in der Entstehung von psychischem Sein Wenn man Gaddinis Modell weiter ausführt und in Zusammenhang mit den Erkenntnissen der Objektbeziehungstheorie bringt, kommt man zu dem Gedanken, dass die physische und psychische Präsenz des primären Objektes (Mutter) dem Säugling dazu verhilft, dass die physischen Funktionen sich zu psychischen Funktionen ausweiten, indem sie die Funktionen, die beim Kind noch nicht entwickelt sind, gewissermaßen „vorausahnend" ersetzt. Es findet eine Projektion des Körperlichen auf das Psychische statt. Es entwickelt sich eine Psyche, die danach strebt, die Bedürfnisse des Organismus zu befriedigen, wie ursprünglich die Mutter es tut, die den Körper des Babys „bedenkt". Psychische Qualität ist ihrem Wesen nach sinnhaft an Sinnge-
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bung gebunden, denn psychische Qualität ist ihrem Wesen nach sinnhaft, was für physiologische Prozesse nicht gilt.
4 Der Neglect und die Erfahrung des „Selbsterlebens" Durch die Ausdehnung physischer auf psychische Funktionen gewinnen die ersten intersubjektiven Begegnungen für die Bildung des Selbstgefühls und der Identität an Bedeutung. Zu diesem Selbst gehören nicht nur „ich", sondern auch die Psychen der Objekte, die nach „mir" als Säugling „gesehen" haben („minded"). Das heißt, dass das Gefühl von „Selbst" sich aus ursprünglich eigenen somatischen Reaktionen entwickelt, aber auch durch die Wirkung des Anderen. Es bilden sich durch Gedächtnisprozesse (Erinnerungen an somatische Erfahrungen in Interaktion mit Objekten) innere Objekte, die zu unserem Selbst gehören. Konfrontiert mit einem Konflikt hören wir verschiedene „Stimmen" oder Meinungen in unserem Inneren, die uns zu verschiedenen Handlungen anregen oder sie verbieten. Oft sind diese Stimmen kontrovers und führen innerliche Dialoge in uns. Diese Stimmen entsprechen verschiedenen psychischen Zuständen von Lust oder Trauer, Angst oder Wut. Psychoanalytiker behaupten, dass sich im Inneren Objektrepräsentanzen (Bilder von der Psyche des Anderen) entwickeln, die sich mit der Zeit dynamisch auf unser Denken und Verhalten auswirken. Wir sprechen von inneren Objekten im Selbst. Sie bilden sich, nach dem Gaddinischen Modell der Entstehung des Psychischen, in Imitation des physischen Modells der Inkorporation. Nach diesem Modell bleiben diese introjizierten Objekte wirksam in der subjektiven Entstehung des Selbstgefühls. Das führt zu dem Gedanken, dass eine Veränderung des Selbstgefühls mit einer Veränderung der (inneren und äußeren) Objektwahrnehmung verbunden ist. Der psychoanalytische Prozess basiert auf der Entfaltung der Übertragung in der psychoanalytischen Situation. Sie ermöglicht, dass innere Objekte (Fantasien von inneren Objekten, die unser Selbst formen) sich in der Beziehung zwischen Patient und
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Analytiker entfalten. Der Analytiker wird dann unter Umständen als eine Verlängerung dieser inneren Objekte gesehen und es werden ihm Motive „unterstellt", die aus der Erfahrung des Patienten mit - beispielsweise - seinem Vater entspringen. In diesem Prozess wird der Analytiker zu dem Anderen, zu einem externalisierten Objekt des inneren Lebens des Patienten. Diese Übertragungs-/Gegenübertragungssituation ermöglicht einen Abruf von Beziehungsmustern und Erinnerungen, und dadurch wird eine Transformation durch die Wirkung des Analytikers plausibel. Das Dreieck Soma/Objekt/Subjekt konstelliert sich erneut im psychoanalytischen Setting. Das führt dazu, dass das Selbstkonzept sich auch transformieren kann.
5 Das Neglect-Symptom als psychischer Akt Das neurologische Symptom des Neglects besteht in einer Ignorierung des (meistens) linken Halbraumes und erscheint oft kombiniert mit einer Anosognosie (Leugnung der Schädigung). 3 Kaplan-Solms und Solms (2000) postulieren, dass der Neglect der Abwehr einer schweren Depression infolge der Konsequenzen einer Hirnschädigung dient. Es würde sich dann um eine Verleugnung der Krankheit handeln, um die durch die Krankheit verursachten schmerzhaften Gefühle zu vermeiden. Angeregt durch diese Annahme entschied sich unsere Gruppe, Patienten mit Neglect-Symptomatik unter Voraussetzungen zu untersuchen, die der psychoanalytischen Theorie und Technik entsprechen. Wir wandten uns an diese Patienten innerhalb eines psychoanalytischen Settings (feste Termine, feste Einhaltungen der Zeiten, regelmäßige Gespräche) auf dem Hintergrund unserer psychoanalytischen Theorien über die Entstehung des Psychischen und klinischen Erfahrungen. Das bedeutet, dass wir von der Hypothese ausgegangen sind, dass die Symptomatik des Neglects nicht nur ein organisches Phänomen sei, sondern dass es sich auch um einen „psychischen 3
Auf andere oft begleitende Symptome wie z. B. Anosodiaphorie und
Misoplegie werde ich in dieser Arbeit nicht eingehen.
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Akt" handle, der seinen Ursprung allerdings im körperlichen Substrat des Neglects hat. Als solcher wäre er den Prinzipien des psychischen Geschehens unterworfen, die unbewusste und bewusste Prozesse regeln, gleichzeitig aber auch der körperlichen Funktionsweise des Neglects. Unter diesem Konzept gewann auch die Darstellung eines dynamischen Konfliktes im psychischen Geschehen, wie sie die Psychoanalyse vertritt, an Gewicht. Der Neglect könnte nicht nur ein Ergebnis einer Läsion sein, sondern Ausdruck der Reaktionsweise der nicht beschädigten Teile des Gehirns. Es entwickelt sich ein psychischer Konflikt zwischen verschiedenen Tendenzen in der Persönlichkeit nach einem Muster, das in körperlichen Vorgängen verankert ist. Das räumliche Nichtwissen der Neglect-Patienten wäre dann gleichzeitig das neurologische Symptom des Neglects und der psychische Akt der Verleugnung. Darüber hinaus interessierte es uns, die Wirkung unserer Präsenz als Analytiker auf die Entwicklung der Psyche des Patienten und seiner Symptomatik zu untersuchen. Wie in jeder anderen Wissenschaft ist die Aufmerksamkeit der Untersucher oft auf Phänomene gerichtet, die eine Irritation des Selbstverständlichen, des normalen alltäglichen Geschehens darstellen. Manchmal ist es aber auch die Sichtweise der Beobachter, die die „nicht Alltäglichkeit" des beobachteten Phänomens bestimmt. Je nachdem, wo sich die Perspektive befindet, dienen oft „nicht alltägliche" Phänomene oder Sichtweisen dazu, die normalen, gewöhnlichen Prozesse zu durchleuchten. So kam Freud auf die Entdeckung des Unbewussten durch die Behandlung einer hysterischen Patientin. Wie im Fall von Phineas Gage kann manchmal ein einziger Fall zu Hypothesen führen, die als Grundlage für eine weitere Untersuchung dienen. In diesem Zusammenhang ermöglichte der Tan-Tan-Patient von Broca (in einem weiten Sinne gesehen) die Entdeckung des Sprachzentrums im Gehirn. Aus dieser Perspektive wage ich es in diesem Artikel, einen einzigen Fall darzustellen, mit dem ich neun Sitzungen psycho-
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analytisch gearbeitet und dessen Beobachtungen ich in der Gruppe besprochen habe.
6 Über das psychologische Verständnis des Neglects In ihrer Arbeit „Implicit awareness of deficit in anosognosia" verlassen Turnbull, Jones und Reed-Screen (2002) die klassischen Modelle zum Verständnis von Patienten mit Anosognosie und konzentrieren sich, in Anlehnung an Untersuchungen von Ramachandran (1994) und Kaplan-Solms und Solms (2000), auf die Untersuchung der Frage, ob Patienten mit Anosognosie über eine implizite Wahrnehmung ihrer körperlichen Beeinträchtigung verfügen, die sie wegen der unerträglichen Konsequenzen der Wahrnehmung verleugnen. Während die klassischen Modelle sich auf die Störung des Körperschemas konzentrieren und Beobachtungen darstellen, die auf eine Minderung der affektiven Resonanz dieser Patienten hindeuten, postulieren Turnbull, Jones und Reed-Screen, dass diese Patienten nicht nur eine implizite Kenntnis ihrer körperlichen Beeinträchtigung haben, sondern dass sie auch über dieselbe Palette an affektivem Repertoire und dieselbe Affektintensität verfügen wie hemiparetische Patienten ohne Anosognosie. Sie stellen fest, dass die anosognostischen Patienten die emotionale Erfahrung des Neglects mit der vollen dazugehörigen emotionalen Palette erleben; sie dirigieren aber ihre Emotionen zu einem nichtneurologischen Objekt. Es findet das statt, was die Psychoanalyse den Abwehrmechanismus der Verschiebung nennt. Sie konnten nämlich beobachten, dass Patienten mit Anosognosie ihre Affekte nicht in Zusammenhang mit ihrer Beeinträchtigung entwickeln, dass jedoch diese Affekte in Situationen auftauchten, die nicht mit ihrer Behinderung zusammenhingen. Im Besonderen geht es um Situationen, wo eine Trennung oder ein Verlust im Raum steht, zum Beispiel, wenn der Patient einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand verlegt hat. Solms berichtet (mündliche Mitteilung, Frankfurt) wie eine Patientin sich über den Verlust ihrer Brille (oder Zigaretten) aufregte, jedoch nie über die viel gravierendere linksseitige Lähmung klagte. Nach
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Solms handelt es sich bei diesen Patienten um eine narzisstische Regression mit sehr primitiven Abwehrmechanismen, wobei das Verhalten und Erleben nicht global beeinträchtigt sind, sondern nur in umschriebener Form, besonders die gelähmte linke Körperseite und die linke Raumseite betreffend, wohingegen die Patienten ansonsten durchaus zu reiferen Objektbeziehungen und Abwehrmechanismen in der Lage sein können. Die Frankfurter Gruppe, die sich über drei Jahre mit NeglectPatienten beschäftigt hat, hat diese Hypothesen ausgedehnt. Wir haben die Frage zur Diskussion gestellt, ob der Neglect nicht nur mit einer aktiven Verleugnung zu tun hat, sondern mit einer Fehlwahrnehmung: eine subjektzentrierte Fehlwahrnehmung des Selbst, das illusionär als ganz und vollständig erlebt wird. Widersprüche werden dadurch aufgehoben und es entsteht ein Gefühl psychischer Kontinuität. Ein ganzheitliches KörperSelbst-Gefühl wird wiedererlangt. In diesem Fall würden Affektverschiebungen in der Persönlichkeit von Neglect-Patienten im Dienste der Aufrechterhaltung eines psychischen Gleichgewichtes stehen, da sie den Patienten dazu verhelfen, die emotionale Konfrontation mit ihrer Behinderung zu vermeiden.
7 Hypothese Aus dieser Diskussion heraus ist die Hypothese entstanden, die ich jetzt, in Anlehnung an die oben genannten psychoanalytischen Überlegungen, zur Diskussion stellen möchte: Wir vermuten, dass im Bereich des Neglect-Erlebens zum Teil sehr primitive psychische Mechanismen in einem psychischen Rahmen wiedererlebt werden können, wie sie bei der Konstituierung des Körper-Selbst Erlebens grundlegend sind. Der körperliche Neglect beeinträchtigt nicht nur das Körperschema und die Wahrnehmung der Räumlichkeit auf der linken Seite, sondern er scheint eine Veränderung des Verständnisses des Selbst und der Objektbeziehungen zu prägen. Diese Prägung und Veränderung steht in Zusammenhang mit Veränderungen in der physiologische Funktionsweise des Gehirns. Diese scheinen sich psychologisch-phänomenal als „Neglect-Verhalten" auszu-
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drücken. Mit anderen Worten, es findet eine psychische Aktualisierung und Historisierung des Neglects in der Persönlichkeit statt. Ich möchte in dieser Arbeit zur Diskussion stellen, ob das Phänomen des Neglects, das sich in einem „irrtümlichen" Verständnis des Körpers und des Raumes niedergeschlagen hat, nicht auch ein „irrtümliches" Verständnis der Objektbeziehung und des Selbst prägt. Das würde bedeuten, dass das Verständnis des Selbst und der Objektbeziehungen sich durch den Neglect verändert. Mit anderen Worten: Es ist die Frage, ob der „Neglect" in die Wahrnehmung des Selbst und der Objektbeziehungen eingebaut wird. Vielleicht wäre es aber auch sinnvoller anzunehmen, dass der Neglect zu einem Behälter szenischer Konzepte des Selbst und der Objektbeziehungen wird, indem er als eine Art „Attraktor" fungiert, der das Verständnis und die Wahrnehmung der Objekte beeinflusst. Anhand des einzelnen Fallbeispiels einer Patientin, die zum Zeitpunkt des Eintritts des Krankheitsbildes geschieden war, möchte ich diskutieren, ob das plötzliche Auftreten einer unerwarteten Veränderung in der Beziehung zu ihrem Ex Mann nicht der Niederschlag des Neglects in der Objektbeziehung sein könnte, der zu einer Veränderung des Verständnisses des Selbst und der Objekte führt aufgrund einer Veränderung im Gehirn und einer daraus resultierenden Symptomatik.
8 Klinische Beobachtungen Ich werde anhand von Vignetten aus neun Sitzungen versuchen, meine Beobachtungen über die psychische Verfassung der Patientin und die Zusammenhänge zwischen ihrer Empfindung des „Neglects" und der Art, wie sie die Beziehungen zu ihren Objekten erlebt, darzustellen. Um das zu erläutern, werde ich versuchen zu zeigen, wie sich im Laufe der Gespräche Vorstellungen der Patienten über sich selbst bilden und verändern. Ich werde nach jeder Vignette meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen über die Patientin zusammenfassend darstellen.
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Frau H. ist eine 62-jährige Patientin, die sich in der Klinik befindet, nachdem sie bei der Entfernung eines Mediaaneurysmas durch einen postoperativen Verschluss der a. carotis media rechts einen Teilinfarkt der rechten Hemisphäre erlitt. Neurologisches Syndrom: Brachiofacialbetonte linksseitige Hemiparese, leichtes hirnorganisches Psychosyndrom. Es besteht ein Neglect-Syndrom links, das sich unter anderem in der visuellen Vernachlässigung der linken Raumseite beim Lesen und Schreiben ausdrückt.
1. Sitzung Schon bei der Begrüßung der Patientin, die mich trotz ihres ausdruckslosen Gesichtes mit meinem Namen begrüßt und sich mit einer leisen monotonen Stimme nach der korrekten Schreibweise meines Namens erkundigt, entsteht in mir das Bild einer Frau, die gewohnt ist, mit sozialen Formen umzugehen, und sich anstrengt, dass ihr keine „Fehler" unterlaufen. Ich denke, dass sie sich bemüht, sich keine Blöße zu geben, indem sie sich über die richtige Wahrnehmung des Anderen, über Fakten, zu vergewissern versucht. Ein ganzheitlich emotionaler Austausch wird dadurch erst einmal geblockt. Nachdem sie einen „Small Talk"-Kommentar über das schöne Wetter macht, bezieht sie sich auf die Schwere ihrer Situation, um ganz schnell, ohne eine Spur von Selbstmitleid, sich auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Patientin (P): Ich werde lernen, die Situation zu bewältigen und zu akzeptieren. Pause. Sie guckt ins Leere. Analytikerin (A): Vielleicht ist es nicht so leicht. Vielleicht sind Sie noch geschockt über das, was passiert ist. P: Ich habe das nicht erwartet, obwohl ich mich vor der Operation bemüht habe, etwas über die möglichen Konsequenzen zu erfahren. Ich wusste von den Risiken, aber als es wirklich passiert ist, konnte ich es nicht glauben.
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Sie zieht ein Tempo-Taschentuch aus der Tasche und ganz langsam versucht sie, es zu öffnen. Da sie mich dabei anguckt, biete ich an, ihr zu helfen, aber sie sagt: „Nächstes Mal". Es entwickelt sich in mir eine Vorstellung über die prämorbide Persönlichkeit der Patientin (von der ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts weiß) als einer redegewandten Frau, die sich im sozialen Umgang auskennt. Gleichzeitig fällt mir auf, dass die Anstrengung um die „richtige Wahrnehmung", verbunden mit der Nachfrage über die richtige Schreibweise meines Namens, sofort ins Spiel kommt, eingebettet in ihre Sorge nach sozialer Korrektheit. Durch die Wahrnehmung körperlicher Signale wie erstarrter Mimik und monotoner Stimmlage entwickelt sich in mir auch eine Hypothese über ihren aktuellen psychischen Zustand: Sie wirkt, als stünde sie noch unter Schock. Darüber hinaus scheint sich ein psychischer Konflikt anzudeuten, der sich durch Unstimmigkeiten zwischen ihren körperlichen Signalen (Erstarrung, Mangel an Mimik) und ihren eher reifen, verbalen Äußerungen verrät: Glauben und Akzeptieren versus Nicht-Glauben/Nicht-akzeptieren-Können. Ich denke, dass Frau H. auf ihr prämorbides Selbstbild zurückgreift, um sich psychisch zu stabilisieren. Sie schien damit ihr Selbstbild, das in ihrem Fall mit einer gewissen gesellschaftlichen Position verbunden zu sein scheint, behalten und festigen zu wollen. Das Krankheitsbild „gehört" noch nicht zu „ihr", obwohl sie kognitiv weiß, was passiert ist. P (mit festerer Stimme): Ich werde hier hervorragend gepflegt. Ich bekomme hier erstklassige Medizin. Und ich bin sicher, Sie werden mir auch helfen. Ich will nichts außer Acht lassen, um zu genesen und ich weiß, dass die positive psychische Einstellung des Patienten auf die Gesundheit wirken kann. Hier scheint sie in die Offensive zu gehen. Mir fällt ihr Wunsch auf, „nichts außer Acht" zu lassen. Ich denke, dass durch ihre Neglect-Symptomatik die linke Raumseite, trotz ihrer Bemühungen, auf alles zu achten, „außer Acht" bleibt. In diesem Zusammenhang bezieht sie sich auf die Psyche als eine Leistungsträgerin, die nicht „vernachlässigt" (neglected) werden soll, weil sie zur Genesung „dienen" kann.
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Die Patientin scheint ein Bild von mir zu entwerfen als einer gut bezahlten Dienstleisterin, die ihr einen guten Service andienen soll, indem ich für das gute „positive" Funktionieren ihre Psyche sorge. Sie sagt mir, was sie von mir erwartet. Sie scheint eine Vorstellung von sich selbst zu haben als jemandem, die gewöhnt ist, auf „alles zu achten", damit es gut funktioniert. Ihr psychisches Gleichgewicht scheint sich dadurch zu festigen, dass sie sich als „Arbeitgeberin" erlebt, die mir sagt, was sie von mir erwartet und mich als Arbeitnehmerin einordnet. Die Stimmung der Patientin hellt sich auf (ihre Mimik wird ausdrucksvoller) und sie scheint Selbstsicherheit zu entwickeln (festere Stimme). Indem sie das Gefühl bekommt, dass sie auf „alles achten" kann, damit es gut funktioniert, scheint sie das Gefühl zu bekommen, dass auch ihr Körper unter Kontrolle zu kriegen ist. Zu der Herstellung eines Selbstbildes, das ihr in der Vergangenheit geholfen hat, sich stabil zu halten, gehört auch die Herstellung eines Bildes vom „Anderen" als einem Gegenüber, das ihr untergeordnet ist. Sie stellt eine Beziehungskonstellation zu mir her, die es ihr ermöglicht, sich nicht so hilflos fühlen zu müssen, indem alte bekannte Muster, wo sie sich dominant erlebt, noch selbstregulierend funktionieren. Sie versucht noch einmal, ein Taschentuch aus der Tasche zu nehmen. Sie lächelt und lässt sich helfen. Dann spricht sie über ihre Enkelin, die sie auffordere, zu lächeln. Die Selbstregulation scheint dazu zu führen, dass sie sich ein bisschen entspannen kann. Es handelt sich um eine primitive Abwehr auf der Ebene der Objektbeziehung. Sie modelliert das Objekt nach den eigenen Bedürfnissen. Indem sie mich in dieser Art wahrnimmt, kann sie mich als „Andere" in ihren Raum einbauen. Die Angst scheint sich dadurch zu verringern, und sie kann ein wenig aus der Erstarrung herauskommen. Eine emotionale Reaktion macht sich sowohl in ihrer annehmenden Haltung mir gegenüber bemerkbar, als sie sich von mir helfen lassen will mit ihrem Taschentuch, wie auch in der Mitteilung des Einfalls über die Enkelin, mit der sie sich in einer emotional zärtlichen Beziehung befindet.
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Das Objektbeziehungsmuster bleibt vielleicht noch hierarchisch erhalten (zwischen Großmutter und Enkelin), aber eine neue affektive Komponente tritt ein. Das neue Taschentuch knüpft jetzt an zwei Erinnerungen an, an eine von Anfang der Stunde (ich hatte ihr schon da meine Hilfe angeboten) und an eine zärtliche Begegnung mit ihrer Enkelin. Es ist, als ob diese Erinnerungen und die Verfassung, in der sie sich am Ende dieser Sitzung befindet, einen Zugang zu einem emotionalen Bereich liebevoller Zärtlichkeit ermöglicht. Das scheint dazu zu führen, dass sie etwas von ihrer Hilflosigkeit annehmen und meine Hilfe beanspruchen kann. Man könnte sagen, dass an der Verleugnung gerüttelt wurde, da sie jetzt in der Lage zu sein scheint, ihre Hilflosigkeit zu erkennen. In dem Moment, wo eine emotionale Bindung mit dem Anderen stattfindet, kommt sie an ein Erleben des Verlustes ihrer Fähigkeit heran, für sich alleine sorgen zu können. Ihre Fähigkeit, „neu" zu lernen, scheint sich intensiviert zu haben. Sie lächelt, als ob sie wüsste, dass sie eine neue Erfahrung macht. Das ermöglicht das Auftreten eines Trostgedankens, verbunden mit der Aufforderung ihrer Enkelin, sie soll sie anlächeln. Es ist, als ob sie, je mehr sie den Anderen als Anderen akzeptieren kann, umso mehr akzeptieren kann, unvollständig zu sein, weil sie Trost in einer Objektbeziehung (wie zu der Enkelin) finden kann.
2. Sitzung Nach einer Erzählung über ihre vorherige berufliche Tätigkeit, die deutlich macht, dass sie in einer wichtigen leitenden Position war, fährt sie fort: P: Ich kann schon meine ersten Erfolge sehen. Ich konnte gestern zum ersten Mal selbst stehen. Aber irgendwie gehorchen mir die Beine nicht. Ich fange an zu gehen, ohne zu merken, dass mein linkes Bein auf dem rechten ruht, obwohl ich weiß, dass es gelähmt ist. A: Sie sind gewohnt, dass man Ihnen gehorcht. P: Ich war immer erfolgreich, und das beruhte auf der Tatsache, dass ich den anderen immer eine Nase voraus war. Aber jetzt muss
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ich mich extrem konzentrieren beim Sprechen, weil ich sonst die Worte nicht zu fassen kriege. Sie haben sicher bemerkt, wie langsam ich spreche, wo ich sonst so redegewandt war. Die Patientin scheint auf Dissonanzen zu stoßen, die zwischen ihrem vorherigen Selbstbild und ihrer aktuelle Situation bestehen. Jedoch werden diese Widersprüche aufgehoben durch die Entwicklung eines Bildes ihrer Beine als „Bedienstete", von denen sie erwartet, dass sie ihr gehorchen. Gleichzeitig stellt sie Parallelen auf zwischen den neuen Erlebnissen mit ihren gelähmten Beinen und Situationen, die sie mit lebendigen Wesen (Menschen oder Tieren) erlebt. Menschen und Tiere „gehorchen". Die Empfindung der Lähmung in den Beinen wird personifiziert und in Objektbeziehungen gesetzt, die sie nach dem Muster Befehlen/Gehorchen begreift. Sie richtet sich jetzt ihre Beine als Objekte ein, wie sie sie braucht, so wie sie mich vorher auch als ein Objekt eingerichtet hatte, wie sie es braucht. Durch meine Intervention („Sie sind gewohnt, dass man Ihnen gehorcht"), die aus den Hypothesen entstanden ist, die ich im ersten Gespräch über ihre prämorbide Persönlichkeit und ihre aktuellen Äußerungen über ihren körperlichen Zustand sowie durch meine Gegenübertragung, als sie zu gehen versucht, entwickelt habe, scheine ich ihr die Vermischung zwischen beiden Bildern (ihre Beine und lebendige Wesen, die gehorchen müssen) zu verdeutlichen. Das scheint der Patientin dazu zu verhelfen, ihre körperliche Situation mit Bedauern wahrzunehmen. Sie bedauert den Verlust ihrer Redegewandtheit. Und sie scheint zu wissen, dass sie jetzt nicht in der Lage ist, ohne Weiteres eine Nasenlänge voraus zu sein. Es ist, als ob ich, indem ich als Interpret agiere, ihr helfe, die Krankheit (gelähmte Beine als gelähmte Beine und Verlust der Redegewandtheit und Beweglichkeit) momentan anzuerkennen und ihre deplatzierte Erwartung an ihre Beine (sie sollen gehorchen) wahrzunehmen. Ich scheine mich psychisch-räumlich bei ihr bemerkbar zu machen.
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3. Sitzung P: Sie tragen ein schönes Kostüm. Am Wochenende war meine Tochter hier. Wir sind gemeinsam einkaufen gegangen. (Die Patientin lächelt mich wie auffordernd an, als ob wir ein gemeinsames Vergnügen an Einkäufen teilen würden.) Durch ihren initialen Kommentar zu meinem Aussehen und die Erzählung über ihre Tochter entwickelt sich in mir die Hypothese, dass sie ein verändertes Beziehungsmuster zu mir entwickelt. Auf dieser neuen Ebene sieht sie sich und mich als zwei Frauen, verbunden in freundschaftlicher Komplizenschaft. Dieses neue Bild zeigt eine Veränderung in ihrem vorherigen Beziehungsmuster. Jetzt scheint sie ein Selbstbild zu entwickeln, das dem Bild, das sie von mir entworfen hat (als eine Frau, die Spaß am Einkaufen hat), entspricht. Es ist, als würde sie sich bemühen, ihr Selbstbild an mein Vorbild anzupassen. Diese Gleichsetzung bedeutet, dass sie die „neue" Situation (körperliche Beeinträchtigung) wahrgenommen hat, sie jedoch erneut missachtet („neglects") in dem sie sich auf eine Ebene mit mir (und ihrer Tochter) gleichsetzt, wo wir beide unversehrt sind. Jetzt richtet sie ihr Selbstbild ein, wie sie es braucht, indem sie es dem Bild, das sie sich von mir eingerichtet hat, angleicht. Durch diese Extension ihrer Selbst kann sie eine Subjekt Position annehmen, die nicht defekt ist. Indem ich eine Spiegelfunktion übernehme, kann sie sich in ihr projektiv reduplizieren und sich als ganz und unbeschädigt erleben (de M'Uzan, 1977). P: Mein Mann kommt heute Abend. Er kümmert sich sehr um mich. Eigentlich sind mein Mann und ich schon seit 15 Jahren getrennt. Er hatte zwei Affären während der Ehe. Bis dahin hatte die Patientin immer von ihrer Familie gesprochen, als ob es sich um eine intakte Familie handelte. Ich denke, dass die Verleugnung der Versehrtheit auch ihre soziale Situation umfasst. Die Trennung von ihrem Mann und die Nicht-Intaktheit ihrer Familie kommen jetzt als bewusste Erinnerung. In der letzten Stunde hat sie Bedauern über den Verlust ihrer Redegewandtheit geäußert. Diese Stunde kann sie über den
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Verlust ihres Ehemannes reden. Eine Einbeziehung der Analytikerin in ihr Erleben als Selbst-Objekt scheint ermöglicht zu haben, dass ihre subjektive Wahrnehmung sich durch die Wahrnehmung ihrer psychischen Verfassung durch die Analytikerin verändert hat. Sie konnte die Defizienzen sowohl in ihrem Körper als auch in ihrer Familie objektivieren. Das subjektive Körperselbst und die familiäre Situation werden jetzt von beiden, Therapeutin und Patientin, betrachtet.
4. Sitzung Sie beginnt die Sitzung mit einem unerwarteten, zackigen Gähnen, das in ihrem ausdruckslosen Gesicht wie ein Reflex aussieht. Anschließend kommentiert sie in monotoner Stimme den angebrochenen Frühling (den klaren Himmel und die milde Temperatur). Plötzlich und unerwartet sagt sie: P: Ich weiß nicht, ob ich meinen Ex-Mann wieder heiraten soll. Ich kann sehr romantisch sein. A: Sie haben verschiedene Jahreszeiten erlebt und sind durch verschiedene Stimmungen gegangen. P: Nach eine Pause. Ich musste an meinen Großvater denken. Von ihm habe ich viel über Pflanzen gelernt. Zuerst kommt eine unerwartete, plötzliche reflexartige körperliche Reaktion. Dann eine unerwartete, fast unpassende Äußerung. Das Gähnen und die Aussage über ihren Mann scheinen mit der gleichen Plötzlichkeit aufzutreten. Die Gleichartigkeit, mit der beide Phänomene in Erscheinung treten, deutet auf einen Zusammenhang zwischen beiden hin. Das Gähnen scheint eine körperliche Reaktion zu sein, die sie nicht kontrollieren kann, die ihr aber eine Entlastung bietet. Es entspringt aus einer bestehenden gelähmten Ausdruckslosigkeit, die durch das Gähnen durchbrochen wird. Die angenehme Vorstellung einer Wiedervereinigung mit ihrem Mann bricht plötzlich aus unerklärlichen Gründen aus ihr
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heraus. Sie scheint, wie der Frühling draußen, sie wiederum aus der Verlangsamung und Leblosigkeit zu entlassen. Es scheint ein regulierender Prozess stattzufinden, der sowohl einen körperlichen wie psychischen Ausdruck findet. Die Plötzlichkeit der Vorstellung, wie die Plötzlichkeit ihres reflexartigen Gähnens, deutet auf die Notwendigkeit hin, eine Entlastung zu finden. Es ist, als ob die Linderung einer Not nur durch einen körperlichen Reflex oder eine unerwartete plötzliche illusionäre Vorstellung möglich ist. Als ich jedoch die vielen Jahreszeiten, die sie erlebt habe, anspreche, kommt sie in Kontakt mit einer Erinnerung an ihren Großvater, von dem sie viel über Botanik gelernt hat. Ich denke, dass sie in Kontakt kommt mit einer Erwartung von Veränderung und Lernen, die sie in Zusammenhang mit der Beziehung zu mir bringt, als ob sie erwarten würde, mit mir mehr „über Gefühle" zu erfahren. P: Ich habe den Fehler gemacht, dass ich nie mit meinem Mann über Gefühle gesprochen habe. Sie kann jetzt einen „Fehler" erkennen, eine Behinderung in der Beziehung zu ihrem Mann. Es ist, als ob die Patientin durch das Gespräch einen Zugang bekommt zur vernachlässigten Trauer über nicht so gelungene Lebensstrategien, und diese Vernachlässigung als möglichen „Fehler" erkennt. Es findet erneut die Aufhebung einer neglecthaften Haltung statt. P: Ich glaube nicht, dass ich vergessen kann. Er hat mich so verletzt. Er hatte ein Verhältnis mit einer Frau, die obendrein meine Haushälterin war. Ich habe ihr vertraut. Die Aufhebung der Verleugnung der Trennung und der Schmerz in der Beziehung zu ihrem Mann bringen bittere Erinnerungen hoch, wo sie sich verletzt und verraten gefühlt hat. Ich denke, dass ihr Schmerz sie misstrauisch werden lässt gegenüber der Vorstellung, dass es sich vielleicht lohnen würde, mit mir im Gespräch zu bleiben und mehr „über Gefühle" von Kränkung und Trauer zu sprechen, denn das würde sie in die hilflose Situation der Abhängigkeit führen, von der sie befürchtet, sich am Ende verlassen und verraten fühlen zu müssen. Es entsteht ein Kontakt, der ihr Misstrauen steigert, weil sie sich schmerzhaften Verlusten annähert.
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P: Meine berufliche Situation hat mir geholfen, damit fertig zu werden. (Sie beschreibt es ausführlich.) Über 50 Jahre habe ich so gelebt. A: Ich merke, dass diese Information nicht stimmen kann, und versuche das mit ihr zu klären. Die Patientin versucht, wieder auf eine Erinnerung ihrer Autonomie zurückzugreifen, um sich aus der unangenehmen Verfassung von Angst und Misstrauen, wenn sie sich anvertraut, zu entfernen. Dieser Versuch scheint nicht ganz erfolgreich zu sein, denn sie kann kein psychisches Gleichgewicht herstellen. Sie gerät in Konfusion. Warum sie diese Fehlleistung macht, konnte nicht geklärt werden. P: Ich habe gestern eine Haushälterin interviewt. Obwohl sie tüchtig zu sein scheint, weiß ich nicht, ob ich sie nehmen soll, bei meinen Erfahrungen mit Angestellten und meinem Mann. Sie beendet die Stunde, indem sie ein Selbstbild aufgreift von einer mächtigen Arbeitgeberin. Aber sie kann jetzt ihre „Kränkung" nicht vergessen. Das Motiv der Haushälterin erscheint als ein erneuter Versuch, sich zu stabilisieren, nachdem sie in Konfusion geraten ist. Jedoch ist diesmal die Stabilisierung nicht so gelungen, da sie Misstrauen spürt. Es taucht eine verfolgende Vorstellung auf. Sie weiß dass das, was „scheint", nicht immer ist, wie es aussieht. Ihr Misstrauen bedeutet, dass sie die Spaltung, die durch Verleugnung (jahrelang hat ihre berufliche Situation ihr geholfen, die Situation mit ihrem Mann zu ertragen) entstanden ist, spüren kann.
5. Sitzung P: Ich habe eine böse Ernüchterung am Wochenende erlebt. Mein Mann war nur in seinen eigenen Sachen unterwegs. Ich weiß nicht, wie das gehen soll, wenn ich entlassen werde. Ich habe eine Verlängerung beantragt. Ich denke, dass die Patientin mit ihrer Situation mehr in Kontakt gekommen ist. In dieser Verfassung braucht sie einen schützenden Rahmen.
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Sie berichtet dann über die Umstände der Trennung und stellt ihre souveräne Haltung von damals infrage. P: Vielleicht hätte ich versuchen sollen, ihn zu halten. Sie kann an verpasste Möglichkeiten denken.
6. Sitzung Sie fasst sich an die Stirn. P: Ich habe Kopfschmerzen. Ich lag heute Morgen offenem Fenster, und es war kalt. Es hat gedauert, gekommen ist, um das Fenster zu schließen. Es Schichtwechsel, und niemand hat auf das Klingeln
im Bett mit bis jemand gab einen reagiert.
Sie fährt fort mit der Erzählung eines Traums, wo sie an der See geschwommen sei. „Ich konnte normalerweise sehr gut schwimmen". Es habe ziemlich hohe Wellen gegeben. Das Meer sei grau und kalt. In einer weiteren Szene kann sie im Traum gehen. Überrascht sagt sie: „Ich bin gelaufen im Traum!" Es ist nicht schwer für mich, mir die Angst und Verlassenheitsgefühle vorzustellen, die die Patientin durch diesen bildlichen Traum mir nah bringt. A: Sie müssen sich sehr verlassen gefühlt haben. Die Patientin berichtet über eine Situation am Wochenende, wo sie wegen eines Missverständnisses lange darauf gewartet hat, von ihrer Familie abgeholt zu werden. Ich denke, dass ihre Kopfschmerzen auf einen Vorwurf hindeuten. In ihrer Vorstellung scheinen die Kopfschmerzen das Ergebnis einer Situation von Vernachlässigung zu sein. Insofern könnten die Kopfschmerzen in diesem Kontext ein Ausdruck ihrer Wut sein. Die Erinnerung an den Traum an dieser Stelle scheint alte Bilder von ihr hervorzurufen, wo sie sich selbstständig bewegen kann. Vielleicht ist das eine Form, die Wut in Schach zu halten, in dem sie sich als autonome schwimmende Frau sieht und nicht auf die Bewegung von anderen angewiesen ist. Nur der gefährliche Kontext (hohe Wellen und grauer Himmel) deutet an, dass diese Vorstellung nicht tragend ist, weil ihre Situation eine andere ist. Es ist interessant, zu sehen, wie Ereignisse der Vergangenheit und
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Gegenwart in speziellen bildhaften Symbolen ausgedrückt werden. Erst durch die Erzählung des Traumes tritt sie wieder in Kontakt mit Teilen ihres Körpers (das Bein, das sich nicht bewegen kann). Sie nimmt den Kontrast zwischen Traum und Realität war. Auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich denke, dass dieser Traum mit der Tatsache zu tun hat, dass die Patientin sich zunehmend in einem depressiven Zustand befindet, wo ihr deutlicher zu werden droht, dass sie hilflos ist und sich verlassen fühlt. Das scheint in ihr Affekte von Wut hervorzurufen, die sich in Vorwürfen äußern. Dann kommt die Verleugnung wieder durch. Sie kann schwimmen und laufen. Im Traum ist sie alleine. Anders als in der Stunde, wo sie sich in meiner Anwesenheit als „defekt" erleben kann, hält sie es nicht aus, sich defekt zu träumen. Sie muss dementieren, was sie mit mir erlebt hat. Aber die hohen Wellen verraten die Verleugnung. Und sie merkt es selber: „Ich bin gelaufen im Traum!". Es ist nicht eine kognitive Erkenntnis alleine, sondern eine Erkenntnis mit Trauer.
7. S i t z u n g Sie sieht mich mit versteinertem Blick an. Nach einem langen Schweigen:
P: Ich habe nicht gut geschlafen. Der Katheter musste gewechselt werden. Solange ich den Katheter trage, werde ich nicht nach Hause gehen können. A: Es ist leichter für Sie, das Personal zu beanspruchen, als Ihre Familie. Es folgt eine Erzählung über die starken Frauen in ihrer Familie, die sich gegenseitig geholfen haben. Der Vater ist im Krieg verschollen. Die Mutter hat ihn nie für tot erklären wollen. Sie hat die Patientin und ihren Bruder alleine erzogen.
P: Ich kann nicht sagen, dass ich je einen Vater vermisst habe. Während dieser Erzählung habe ich den Eindruck, als ob sie sich fast manisch in ihrem Stuhl aufrichten will.
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Das versteinerte, ausdrucklose Gesicht und ihr langes Schweigen lassen mich denken, dass Frau H. sich ohne Antrieb fühlt. Als sie über den Wechsel des Katheters berichtet, denke ich, dass sie sich gedemütigt gefühlt hat und dass sie zunehm e n d bewusster über ihre Lage wird. Sie versucht, sich durch die Erinnerung an die Autonomie der Frauen, die ohne Männer leben können, zu stabilisieren. Eine mächtige und unberechenbare Mutterfigur (La mer/La Mère) taucht auf, die in der Lage ist, alles alleine zu schaffen. Jedoch verleugnet auch diese Mutter einen Verlust, da sie den Vater nie für tot erklärt hat. Die begleitende manische Reaktion der Patientin, die daraufhin folgt und ihr körperlichen Antrieb gibt, deutet jedoch an, dass sie ihre Depression zunehmend verzweifelt zu bekämpfen versucht. So wie die Konfusion und das Misstrauen in der Sitzung davor, scheint jetzt ihre manische körperliche Reaktion auf eine Dekompensation zu zusteuern. Die Erinnerung an ihren verschollenen Vater, der nicht für tot erklärt worden ist, scheint sich aufzudrängen, als würde die Patientin durch diese Erinnerung auf ihre konfuse innere Situation hindeuten. Der verschollene (abwesende) Vater wurde nie für tot erklärt. Er könnte theoretisch noch in Erscheinung treten. Ich denke, dass sie mit dieser Erinnerung auch auf die Art von Beziehung anspielt, die sie zu ihrem Mann hergestellt hat. Sie scheint ihn nie aufgegeben zu haben. P: Mein Mann meinte immer, dass er alles viel besser als ich machen kann. A: Das muss Sie wütend gemacht haben. P: Was nützt es, wütend zu werden? Die Funktionalisierung von Gefühlen macht die Wut nutzlos, da sie ihr weder ihre körperliche Unversehrtheit, noch ihren Mann zurückbringt. Die Wut muss vernachlässigt, („neglected") werden. Sie vermischt die äußere Realität mit der inneren Realität. Als ob die Trennung von ihrem Mann auch die Trennung von ihren Gefühlen (Teil ihres Selbst) bedeuten würde.
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8. Sitzung Frau H. liegt in ihrem Zimmer, als ich komme. Sie hatte am Tag davor einen epileptischen Anfall4 gehabt. Es könnte sein, dass die wachsende Spannung der letzten zwei Stunden eine Art Aura war, (symbolisch, die hohen Wellen im Traum), die den epileptischen Anfall ankündigte. Ich denke, dass Frau H. sich in einem Zustand extremer psychischer Spannung befand, der sie emotional überfordert haben könnte. Die beginnende Auflösung ihres Neglects (partielle Auflösung der Anosognosie als Aspekt des Neglects Syndroms) scheint sie in psychischen Schmerz zu stürzen. Sie fühlte sich in Gefahr, von ihren Affekten überwältigt zu werden. Ich habe mich gefragt, ob dieser epileptische Anfall nicht diese Überforderung zum Ausdruck brachte, indem eine körperliche krampfhafte Entladung nötig wurde. Als ich ins Zimmer komme, macht sie mit ihrem gesunden Bein Bewegungen, als ob sie gehen will. Sie bittet mich, ihr dabei zu helfen, zur Toilette zu gehen, obwohl sie einen Katheter hat. Nach einer Weile: P: Ich hatte einen Krampf, mir ist übel geworden, ich musste mich übergeben. Dann kann ich mich an nichts mehr erinnern ... Es tut mir leid, dass ich so schläfrig bin. Wenn das nächste Woche weiter so geht, werde ich Sie benachrichtigen lassen, damit Sie nicht umsonst kommen. Auch in diesem Zustand kämpft sie darum, ihre Unversehrtheit und ihre Souveränität mir und der Krankheit gegenüber aufrechtzuhalten. Ich denke, dass sie ein Scham Gefühl verleugnen muss. Sie greift, wie schon öfters zuvor, auf ihr inneres „Bestellende Arbeitgeberin"-Selbst zurück, die mich unter Umständen abbestellen kann, wenn sie glaubt, dass meine Leistun-
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„In zahlreichen aufdeckenden psychotherapeutischen Behandlungen
wurde die Bedeutung einer unbewussten Aggressivität beschrieben, die sich gegen nahestehende Personen richtet, wegen Schuldgefühlen abgewehrt wird, und sich dann als Anfall gegen die eigene Person wendet" (Stekel, 1910); „unzulänglicher Beherrschung der seelischen Ökonomie" (Freud, 1928); „Hauptsymptom des epileptischen Anfalles sei das Aufhören jeder Beziehung zur Außenwelt" (Ferenczi, 1921).
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gen überflüssig sind. Dadurch erlebt sie sich wieder mächtig und würdig auch in diesem regressiven Zustand von extremer Abhängigkeit, wo sie kaum sich bewegen noch sprechen kann, und nimmt ihre Position als „Arbeitgeberin" wieder an. A: Ich werde auf jeden Fall kommen, es sei denn, Sie wünschen sich, dass ich nicht komme. Ich denke, dass Frau H. eine immense Lebenskraft hat, die sie in ihre Abwehr steckt. Durch ihren Kampf gelingt es ihr, sich immer wieder alleine zu stabilisieren, auch wenn es nur vorübergehend ist und es ihren Zustand nicht wirklich stärkt. Meine Intervention greift beide Aspekte ihrer Abwehr auf. Einerseits sage ich ihr durch die Blume, dass ich vorhabe, zu ihr zu kommen, und lasse sie mein Interesse an ihr spüren, andererseits überlasse ich ihr die Möglichkeit, sich zu weigern, sodass sie sich nicht in ihrer Würde angegriffen fühlt.
9. S i t z u n g Als ich komme, ist sie schon im Zimmer, in ihrem Rollstuhl. Sie erklärt mir erneut, wie schon in der letzten Sitzung, dass sie einen Krampf gehabt hatte. Sie scheint vergessen zu haben, dass ich sie in ihrem Zimmer besucht hatte. Sie fixiert mich mit ihrem Blick, wie erstarrt. P: Ich möchte Ihnen meinem Mann vorstellen. (Er befindet sich nicht im Raum.) Sie dreht den Kopf nach rechts und ruft. P: Otto .... Otto ...¡Ich will dir die Frau Strauss vorstellen. Sie versucht, sich weiter mit dem rechten Bein nach rechts zu drehen. A: Ihr Mann ist nicht im Raum. P: Das ist nicht möglich. Er war gerade da. Sehr beunruhigt. „Otto ... Ottooü A: Sie wünschen sich, dass er hier wäre, dann würden Sie sich sichererfühlen. P: Er ist da. Ich sehe sein langes Bein. Sie zeigt auf ihr gelähmtes Bein. Es kann nicht sein, dass er abgehauen ist. Was mache ich jetzt? Sie fängt an zu weinen. Ich werde heute entlassen. Trotz des epileptischen Anfalls. Wer wird mich abholen ? Meine Kinder sind
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so mit sich beschäftigt und selbstständig, Arbeit, Familie. Ich bin ganz alleine. Sie weint. A: Ihre Kinder haben es durch Ihre Hilfe geschafft, selbstständig zu werden. P: Sie würden es anders sehen und sagen, dass sie es aus eigener Kraft geschafft haben. A: Manchmal ist es schwer, Hilfe anzunehmen. Ich denke, dass Frau H. sich sehr alleine gelassen fühlt, konfrontiert mit der Entlassung. Sie scheint gedacht zu haben, dass sich ihr Aufenthalt durch den epileptischen Anfall verlängern würde. In dieser Situation, wo die Hilflosigkeit und die Behinderungen nicht mehr zu verleugnen sind, braucht sie die kontinuierliche Präsenz eines Objektes, das ihr Sicherheit gibt. Sie kann weder Abwesenheiten noch leere Räume ertragen. Als sie jedoch in dem leeren Raum auf mich wartet, scheint sie zu dekompensieren. Als ich hereinkomme, konfabuliert sie eine Geschichte, wo ihr Mann Teil ihres Körpers wird (sie sucht ihn zuerst im Raum und als sie mit seiner Abwesenheit konfrontiert ist, zeigt sie auf ihr Bein, als ob er da zu finden wäre) und ihr Bein wird ihm zugeschrieben. Vielleicht fühlte ich mich deswegen gedrängt, sie als haltende Mutter, ohne die ihre Kindern es nicht geschafft hätten, lebenstüchtig zu werden, ins Spiel zu bringen, mit dem Halt, den sie ihren Kindern gegeben haben muss, damit sie so selbstständig werden. Als ob ich sie erinnern wollte, dass „jeder" Hilfe braucht und dass man ohne Hilfe nicht bestehen kann. Indem sie ihr altes souveränes Selbst in ihren Kindern betrachten kann und sich an den Halt erinnert fühlt, den sie selber ihren Kindern gegeben hat, kann sie verstehen, dass die Vorstellung von Autarkie, wonach sie strebt, nicht ganz stimmen kann. In ihrer Antwort distanziert sie sich von der Haltung ihrer Kinder (Altes Selbst). „Sie würden es anders sehen". In meiner nächsten Intervention versuche ich, eine Verbindung zwischen der Situation ihrer Kinder und der eigenen zu herzustellen, indem ich ein allgemeines Statement mache. Als wollte ich ihr die Hilflosigkeit annehmbar machen. Danach sagt sie: P: So ein Lump, mein Mann. Es hätte alles von Neuem anfangen können, und jetzt ist er wieder abgehauen.
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A: Es ist nicht das erste Mal, dass Sie sich von ihm enttäuscht fühlen. P: Das kann man wohl sagen. Er hat mich tief gekränkt und enttäuscht. Sie weint. Sie und ich scheinen jetzt Alliierte zu sein, vielleicht weil sie sich verstanden fühlt. Dann kann sie über ihn (ihre Beine?) schimpfen, als ob ich mit ihr die Meinung über ihren Mann teilen würde. In dieser Verfassung, wo sie sich weniger alleine fühlt und verstanden, kann sie weinen. Sie putzt sich die Nase mit der rechten Hand und will das Taschentuch in eine fiktive Hosentasche stecken. P: Ist da eine Tasche? A: Nein. P: Vorhin war eine da. A: Sie vermissen alles, was Ihnen so selbstverständlich erschien. P: Was soll ich alleine zu Hause machen ? Da ist niemand mehr. Weint. Die Suche nach der Tasche macht deutlich, dass sie mich in ihr Leben als einen Container ihrer Gefühle einbauen will, der ihr selbstverständlich zur Verfügung steht, damit sie mit mir ihre unerträglichen Gefühle von Trauer teilen kann (wo sie ihre Tränen deponieren kann). Es ist kein Wahrnehmungsproblem alleine, dass sie die Tasche nicht wahrnehmen kann, sondern ein emotionales. Denn die Tasche ist eine Metapher für die Containing-Funktion der Analytikerin, die ihr emotionales Leben annehmen kann. Als die Analytikerin ihren Affekt wahrnimmt, spricht sie die emotionale Realität des Patienten an und sie antwortet auf der emotionalen Ebene. Dann kann sie sich mit der Einsamkeit zu Hause auseinandersetzen. Es findet eine Durcharbeitung statt. Eine Erkenntnis, dass es ein Vorher und Nachher gibt und dass das Nachher ärmer ist als das Vorher. Der Trauerprozess ist im Gange. Und das Selbst der Patientin kann sich durch die Historisierung ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft erkennen, sowie sich auch räumlich, zwischen der Klinik und ihrem Zuhause, orientieren. Psychodynamische Faktoren spielen eine Rolle in dieser neuen Zeit-Raum-Einteilung.
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P: Ich habe eine Haushälterin eingestellt. Sie fängt an, krampfhaft zu weinen. A: Weinen Sie ruhig. Sie müssen nicht immer stark sein. P: Es tut mir gut, dass Sie das sagen. Ich denke immer, das Weinen hilft niemandem. Nach der Stunde frage ich nach dem Ex-Mann der Patientin und erfahre, dass er sich im Haus befindet und auf sie wartet. Als ich ihr das mitteile, weint sie erneut lächelnd und greift dankbar meine Hand.
Resümee Frau H. ist eine tüchtige und beruflich erfolgreiche Frau. Trotz der Scheidung von ihrem Mann, 15 Jahre vorher, ist es ihr gelungen, sowohl ihre Familie wie auch ihre berufliche Verantwortung mit Ernsthaftigkeit und Autorität zu bewältigen. Sie scheint psychische Strategien entwickelt zu haben, die es ihr erlaubt haben, mit schwierigen Situationen von Kränkung und Schmerz umzugehen. Die Aufrechterhaltung einer souveränen Haltung, unabhängig von ihrer emotionalen Verfassung, etwa wenn mit Situationen konfrontiert, die sie affektiv bedrohten, hat ihr geholfen, ihr Selbstwertgefühl stabilisieren. Eine wachsame Wahrnehmung der Situation, die ihr das Gefühl gegeben hat, anderen immer „eine Nase voraus" zu sein und „auf alles zu achten", hat es ihr ermöglicht, eine feste Position an der Spitze mehrerer Lebensunternehmen (Familie, Beruf, soziales Netz) zu behalten. Die Vernachlässigung (Zurückstellung) ihres emotionalen Lebens konnte dadurch „unbeachtet" bleiben. Wenn etwas „außer Acht" blieb, waren es die Gefühle von Verlust. Sie schenkte ihrem emotionalen Leben nicht viel Aufmerksamkeit. Besonders ihren Verlusten nicht. Als sie von den Geschehnissen betroffen wurde, die zur Operation und den darauffolgenden Konsequenzen führten und sie in eine Situation von extremer Abhängigkeit geriet, versuchte sie, wie es im Verlauf der Sitzungen deutlich wurde, zu ihren alten Lebensstrategien zu greifen. Sie stellte sich dar als eine tüchtige Arbeitgeberin, eine starke Frau, die weiter in der Lage ist, für sich
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zu sorgen. Am Kopf des „Unternehmens Krankheit" saß eine Frau, die auf alles zu achten versuchte und keine Zeit in Selbstmitleid oder Bedauern zu verlieren brauchte. Damit kann sie verhindern, sich emotional auf die Konsequenzen ihrer Beeinträchtigung einzulassen. Als Pendant dazu braucht sie mich als einen Anderen, den sie sich zurechtlegt, als sei ich eine „Dienstleisterin", um ihre alte Strategie von effektiver Kontrolle über die Situation beizubehalten. Ich, als Analytikerin, werde für sie eine „bestellbare" Arbeitnehmerin, die ihr helfen soll, effizient die „Krankheit" zu bekämpfen. Sie richtet mich in ihrem psychischen Raum als ein Objekt ein, wie sie es braucht, um sich weiter souverän und sicher zu fühlen. Dadurch kann sie ihre Ohnmachtsgefühle und körperliche und psychische Abhängigkeit von dem Anderen verleugnen. Obwohl sie eine kognitive Wahrnehmung ihres Zustands aufweist, die einen Eindruck von reifer Akzeptanz ihres Zustands entstehen lässt, wird deutlich, dass sie vermeidet, sich emotional mit den psychischen Auswirkungen der Krankheit auf sie und die Veränderungen ihres Selbstbildes auseinanderzusetzen. Die Präsenz des Neglects in ihrem psychischen Raum scheint in ihren Bemühungen, alles richtig wahrzunehmen und nichts außer Acht zu lassen, implizit zu sein. Ich habe versucht zu zeigen, wie sie zwischen Wahrnehmung und Verleugnung oszilliert. Bedeutungsvoll scheint, dass die Verleugnung emotionalen Geschehens stark verbunden ist mit der Verleugnung, die im Neglect stattfindet. Schon in der ersten Sitzung scheint jedoch meine Anwesenheit als ein empathischer und denkender Anderer eine Wirkung auf sie zu haben. Sie kann entspannen und praktische Hilfe von mir annehmen. Ihr Rückgriff auf hierarchische Positionierung als regulierende Strategie gerät ins Wanken, indem es von einer emotionalen Komponente durchdrungen wird. Von der „Angestellten" Anderen werde ich zu einer „Enkelin" Anderen, die in ihr zärtliche Gefühle erweckt und von der sie sich helfen lässt. Bedeutungsvoll für das Verständnis ihres „neglecthaften" Selbstbilds ist die Art, wie sie sich die Beine als nicht gehorchende Wesen einrichtet. Nachdem sie mich als Objekt funktionalisiert hat, funktionalisiert sie ihre Beine in ähnlicher Weise. Die Per-
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sonifizierung ihrer Beine ist eigentlich eine Verkörperlichung der Objekte als Selbstobjekte, die sich so darstellen sollen, wie sie es glaubt, um sich psychisch stabil zu halten: als gehorchende Wesen. Durch meine Intervention, die diese Verkoppelung andeutet, kann sie einen Zugang zu einem Erleben von Verlust bekommen und den Verlust ihrer Redegewandtheit bedauern. Im Behandlungsverlauf werden weitere Strategien sichtbar, die ihr helfen, immer wieder die Verleugnung aufrechtzuerhalten. Ihr Versuch, sich in meinem Bild zu spiegeln, um sich als unversehrte Frau zu erleben, scheint die Entwertung der Objekt zu verringern. Im Dienste einer Angleichung mit einem unbeschädigten Objekt gibt sie die hierarchische räumliche Einteilung ihres Selbst (als Arbeitgeberin) und der Objekte (als Bedienstete) auf. Dadurch kann sie sich mit mir (und der Tochter) auf einer Ebene zu fühlen, nämlich die von zwei Frauen, die dieselben Neigungen haben. Mögliche Gefühle von Neid und Rivalität, die deutlich werden, als sie über die Affäre ihres Mannes mit ihrer Sekretärin spricht, werden abgewehrt. Es gelingt jedoch, sich immer wieder an Erlebnisse von Verlust anzunähern. Indem sie in den Sitzungen über die Trennung von ihrem Mann, 15 Jahre zuvor, sprechen kann, objektiviert sie die Trennung, sodass es Objekt der Betrachtung in unseren Gesprächen werden kann. Die Oszillation zwischen Wahrnehmung von Verlust und Verleugnung im Dienste der Restabilisierung setzt sich fort. Als sie überraschenderweise zwei unerwartete und unkontrollierte Reaktionen (gähnen und die illusionäre romantische Vorstellung, ihren Mann wieder zu heiraten) zeigt, entsteht in mir der Gedanke, dass der (körperliche) Neglect sich auf die Objektbeziehungen ausdehnt, als ob die Objektbeziehungen in einen „Neglect-Modus" überführt würden. Die Scheidung und die 15 vergangenen Jahre werden verleugnet und die Fantasie, ihn wieder zu heiraten, taucht plötzlich als eine Selbstverständlichkeit auf. Ich denke, dass die Annäherung an Verlusterlebnisse eine extremere Strategie erfordert, um den Schmerz und die Trauer verleugnen zu können. In gewisser Weise führt sie zu einer Verstärkung des Neglects, der sich jetzt psychisch darstellt als ein reparativer Versuch, Intaktheit und Ganzheit wieder zu erlangen.
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Es ist, als würde in der Beziehung zu mir eine neue Bereitschaft auftreten: die Vorstellung, dass sie vielleicht lernen kann, über Gefühle zu sprechen. Meine Anwesenheit scheint ihr zu helfen, Zugang zu ihrem Wunsch zu bekommen, es lernen zu können über Gefühle von Verletztheit und Trauer zu reden (durch die Aktualisierung einer Erinnerung an den Großvater). Als sich der Kontakt mit den Verlusten fortsetzt, sieht sich die Patientin am Wochenende mit der Abwesenheit ihres Mannes konfrontiert und stellt mit Bedauern fest, dass ihr souveränes Verhalten von damals nicht ihren eigenen Bedürfnisse entsprochen hat. Eher hat sie ihre Not verleugnet. Sie macht einen Reifungsprozess durch, wo sie ihre Verluste und Trauer einräumen kann. Aber diese Erkenntnisse scheinen sie, wie die Wellen im Meer, zu überwältigen. Somatische Symptome stellen sich ein, Kopfschmerzen vielleicht als Ankündigung des epileptischen Anfalls. Man sieht hier die Wechselwirkung der psychischen und organischen Komponente. Konfrontiert mit Entlassung und Trennung, reagiert die Patientin mit einer Intensivierung des Neglects. Dadurch wird ihr Bein, Pars pro Toto, personifiziert zu ihrem Mann. Das Negativ, die Abwesenheit ihres Mannes, wird verleugnet, so wie der leere Raum und ihre Lähmung. Beide (Beine und Mann) verschmelzen zu einem Selbstobjekt, das subjektiv zu ihr gehört und ihr helfen kann, ihre Abhängigkeit zu verleugnen und die Leere, die in ihrem Leben entstanden ist (sowohl emotional wie räumlich), zu lindern. Sie scheint von ihrem Bein Gebrauch zu machen wie ein Baby von einem Übergangsobjekt, das ihm hilft, sich die Anwesenheit der Mutter vorzustellen, wenn sie nicht präsent ist. Das augenblickliche Dilemma zwischen Anwesenheit und Abwesenheit wird ausgelagert auf den gestörten Körper und auf ihren größten emotionalen Schmerz, die Trennung von ihrem Mann. Die Klammer des Verlusts wird sowohl bezüglich ihres Mannes wie ihrer Behinderung durch die volle Herstellung des Neglects verleugnet. Es ist eine Art konkretistischer Wiedergutmachungsversuch, um wieder komplett zu werden.
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9 Fallbezogene Schlussfolgerung Aufgrund der angeführten Beobachtungen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass die Patientin über ein unbewusstes Wissen um beide schmerzhaften Realitäten (ihre Krankheit und den definitiven Verlust des Ehemanns) verfügt, die sie jetzt, wo sie grausam mit der Realität konfrontiert wird, verleugnen muss. Sie erschafft durch die Konfabulation ihren corps morcelé zu einer Ganzheit, sowohl körperlich, wie psychisch und räumlich. Trennungen, auch die bevorstehende Trennung von der Analytikerin (und somit die Realität), werden aufgehoben. Wichtig ist zu erwähnen, dass nach dem epileptischen Anfall das psychische Funktionieren auf einem niedrigeren Niveau gewesen sein muss. Dadurch setzten sich emotionale Kräfte schneller durch, ohne Rücksicht auf Realität. Sie ist in einem regressiven Zustand, wo primärprozesshaftes Denken die Oberhand gewinnt. Dafür muss sie die Analytikerin wie einen Spiegel benutzen. (Sie will ihr den Mann vorstellen und sich selbst als Ganzes und ohne leere Räume, noch emotionale Verluste erleben.) Jedoch, als die Analytikerin ihr die Leere widerspiegelt, indem sie sie darauf aufmerksam macht, dass sich der Mann nicht im Raum befindet, verfällt sie in verzweifelte Trauer. Durch die Präsenz der Analytikerin wird es ihr möglich, den psychischen Akt des Neglects zu historisieren und zu aktualisieren. Ihre frühen Objektbeziehungen (der verschollene Vater, dessen Tod (Verlust) nie richtig anerkannt worden ist und die Anwesenheit einer starken Mutter, die alleine zurechtkommt) prägen ihre prämorbide Persönlichkeit. Dieses Selbstbild passt nach dem Eintreten der Hemiparese nicht mehr zu ihrer aktuellen Situation.
10 Diskussion Anhand der klinischen Arbeit mit dieser Patientin habe ich versucht zu zeigen, wie der Neglect sich nicht nur auf eine Einschränkung der Wahrnehmung des äußeren linken Raumes und ebenso wenig auf das Verleugnen ihrer halbseitigen Lähmung
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begrenzt (auch wenn sie über ein deklaratives Wissen darüber verfügt), sondern das Verständnis ihrer selbst und ihre Beziehungen zu den Objekten verändert. Ihre Biografie und prämorbide Persönlichkeit scheint eine Rolle zu spielen. Die klinische psychoanalytische Arbeit mit diesen Patienten hat die Gruppe zu der Annahme geführt, dass diese Patienten nicht nur die NeglectSymptomatik aufweisen, sondern dass weitreichende Persönlichkeitsveränderungen stattfanden. Unsere Annahme ist, dass der Neglect eine schützende Funktion hat. Wenn der Neglect zusammenbricht, ist die psychische Spannung intensiver. Darüber hinaus postuliert unsere Gruppe, dass die Funktion einer „Zyklopenaugen"-Berechnung im Gehirn dazu führen könnte, dass die Patienten, die unter Neglect-Symptomatik leiden, ein Selbstbild entwickeln, das es ihnen ermöglicht, sich als Ganzes zu erleben, auch wenn die neurologische Funktionsweise als Ergebnis einer rechtshemisphärischen Beschädigung nur eine begrenzte Raumwahrnehmung und ein begrenztes Körperbild erlauben.
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„Zwischen Baum und Borke" oder der Wunsch, zu wissen und zu verleugnen Bericht über die Psychotherapie einer linksseitig gelähmten achtzigjährigen Patientin mit Neglect*
Erste Begegnungen Die achtzigjährige Patientin war von ihrem behandelnden Neuropsychologen in einer neurologischen Rehabilitationsklinik zur Psychotherapie an mich überwiesen worden. Neben einer linksseitigen armbetonten Hemiparese, linksseitiger Hemianopsie und einem Neglect-Syndrom litt sie an einer ausgeprägten depressiven Symptomatik, die nicht nur hirnorganisch bedingt, sondern mit der seelischen Verarbeitung des Schlaganfalles zusammenhing. Neben dem Verlust der Selbstständigkeit durch die Erkrankung litt sie unter dem Wechsel des Wohnortes, da die Patientin aus Versorgungsgründen in ein Pflegeheim im Wohnort der Tochter aufgenommen wurde. Dadurch kam es zur Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten, ihren Freunden und dem gewohnten Milieu. Die Gespräche mit der Patientin fanden in ihrem Zimmer im Pflegeheim im regelmäßigen Abstand von 14 Tagen über den Zeitraum von dreieinhalb Jahren statt. Sie war schon bei der
* Meinem neurologischen Lehrer Prof. Dr. P.-A. Fischer zur Feier seines Geburtstags gewidmet. - Mein Dank geht an die Mitglieder der neuropsychologischen Arbeitsgruppe Frankfurt-Köln, Franz Dick, Rosemarie Kennel, Marianne Leuzinger-Bohleber, Klaus Röckerath, Hermann Schultz und Laura Viviana Strauss für die konstante hilfreiche Begleitung des Falles, an die Kollegen meiner Intervisionsgruppe und die von Christiane Schräder und Karola Hühn organisierte Arbeitsgruppe am Frankfurter Psychoanalytischen Institut „Altern und Psychoanalyse" für die engagierte Diskussion des Fallberichts.
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Überweisung darauf hingewiesen worden, dass die Gespräche wissenschaftlich ausgewertet würden, und war froh zur Erforschung ihres Krankheitsbildes beitragen zu können. Für mich war die Situation neu, außerhalb meiner Praxis zu behandeln. Allerdings schafften die Bedingungen in dem vorbildlich geführten Pflegeheim eine Art Krankenhausatmosphäre, sodass ein professioneller Rahmen gegeben war, wenn auch nicht ein eigener neutraler Raum für die Psychotherapie bereitstand. Ich war nicht Teil des Behandlungsteams und wurde dort eher wie ein Fremdkörper angesehen. Es entsprach dem Wunsch der Patientin, einen diskreten Rahmen für ihre Psychotherapie außerhalb des Einflusses von Familie und Pflegeheim zu haben, in dem sie sich offen aussprechen konnte. Als Behandlungsform wählte ich die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, in deren Rahmen ihre akute Lebens- und Konfliktsituation auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte bearbeitet werden sollte, nicht aber die Entwicklung einer regressiven übertragungsneurotischen Beziehung intendiert war. Die Kostenübernahme für fünfzig und dreißig Sitzungen wurde nach dem Gutachterverfahren von der gesetzlichen Krankenkasse bewilligt. Bei dem ersten Gespräch treffe ich die Patientin, eine mollige, intelligent blickende großmütterlich wirkende Frau in ihrem Rollstuhl sitzend. Im Gegensatz zu ihrer auf mich eher fremd wirkenden Umgebung erlebe ich sie wie eine kinderliebe Großtante aus meiner Kindheit, eine positive Übertragung von meiner Seite, die die ganze Behandlung über als Grundeinstellung bleibt, während sie selber später immer wieder die gute Beziehung zu ihrem Schwiegersohn betont, die wohl eine Grundlage des Arbeitsbündnisses mit mir bleibt. In den ersten Gesprächen berichtet die Patientin, dass sie an einer schweren Angina Pectoris gelitten habe, deretwegen schon einmal eine geglückte Bypass-Operation vorgenommen wurde; die Herzsymptomatik habe sich dann wieder verschlechtert und sei mit Medikamenten nicht mehr behandelbar gewesen. Sie habe es deshalb gewagt, eine erneute Herzoperation vornehmen zu lassen, bei der die Mitralklappe und die Aortenklappe operiert worden seien und auch eine neuerliche Bypass-Operation durchgeführt worden sei. Als sie von der Operation aufgewacht
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sei, sei sie linksseitig gelähmt gewesen. Sie habe aber auch keine Atemnot mehr seit dieser Zeit gehabt. Nun könne sie darüber nachdenken, was besser sei, mit schwerer Atemnot zu leben und den Tod vor Augen zu haben, oder wie jetzt ohne Angst und Atembeschwerden im Rollstuhl zu sitzen, halb gelähmt und auch nicht in der Lage, zu lesen und zu schreiben aufgrund ihrer Sehstörung. Im Anfang habe sie auch gar nicht bemerkt, wie schwer sie beeinträchtigt war, habe sich überhaupt nicht zurechtgefunden, obwohl ihre rechte Körperseite in Ordnung gewesen sei. Ihr sei immer erst nach und nach klarer geworden, dass sie linksseitig gelähmt sei, sie könne nun damit umgehen. Sie wisse, dass sie nicht nur eine Sehstörung, sondern auch eine Wahrnehmungsstörung habe. Sie wisse auch, dass sie Menschen im Gespräch nicht anblicke, worüber diese immer sehr gekränkt seien. Ihr sei klar, dass sich ihre Lähmung durch psychotherapeutische Gespräche nicht bessern würde. Sie brauche aber eine Aussprache, die mit den meist sehr verwirrten anderen Patienten überhaupt nicht möglich sei. Im Kontrast zu dieser realistisch-reflektierten Aussage ist in den anfänglichen Gesprächen immer wieder der Gegensatz einer Hoffnung auf völlige Genesung, durch die sich die Stimmung der Patientin immer wieder auflockert, und einer Hoffnungslosigkeit spürbar, in der sie ihr Leben als Dahinvegetieren erlebt. Ihre Wahl zur Patientenvertreterin sieht sie als völlig nutzlos an, da sie nichts an der Situation der anderen Patienten verbessern könne.
Vorgeschichte Die objektiven Befunde entsprechen den Angaben der Patientin. Bei der Operation einer Aortenstenose und der Wiederherstellung einer Mitralklappe sowie einer Bypass-Operation war es perioperativ zu einem rechts okzipital und frontal gelegenen Hirninfarkt mit linksseitiger Hemiplegie und Hemianopsie und linksseitigem Neglect gekommen. Bei der Aufnahme in die neurologische Rehabilitationsklinik war die Patientin vollständig orientiert und konnte Aussagen über ihre Erkrankung und Situation machen. In Kontakt und
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Kooperation war sie adäquat und wirkte leicht traurig. Auffällig war vor allem ihre Körperhaltung, der Kopf wurde ausgeprägt nach rechts gehalten und den Blick nach rechts gewendet. Sie suchte so gut wie keinen Blickkontakt auch nicht beim frontalen Gegenübersitzen. Nach seelischen Beschwerden befragt, gab die Patientin an, dass sie sich schlecht konzentrieren könne und ihr das Lesen schwerfalle; das sei das Schlimmste für sie. Sie wisse um ihre Seh- und Wahrnehmungsstörung auf der linken Seite, müsse immer wieder Gegenstände suchen und müsse häufig um Hilfe fragen. Bei der testpsychologischen Prüfung fielen ihr die einfachsten visuellen Aufgaben extrem schwer, beispielsweise die Erkennung und Benennung der Syndrom-Kurz-Test-(SKT-)Objektbilder. Der Zeitbedarf war zwanzigfach gegenüber gesunden Personen der Altersgruppe. Die typische Arbeitsrichtung ging von rechts nach links. Die Aufgabe Zahlenlesen im SKT gelang nur unter dauernder Hilfestellung, dabei wurden die Ziffern einzeln gelesen. Auch nach Hilfestellung verblieben Zahlen auf der linken Seite als fehlend. Aufgaben wie Zahlen ordnen und Text lesen waren gar nicht durchführbar. Die ELEX-Prüfung, eine Bildschirmgesichtsfeldprüfung bei Hemianopsie, war bei Weitem nicht in standardisierter Weise durchführbar, da die Patientin den Fixationspunkt mit ihrem Blick nur kurzfristig erreichte und dann nicht halten konnte. So wurden insgesamt nur etwa 20 % der Signale beantwortet, ausschließlich auf der rechten Seite. Von der Rey-Figur wurden nur drei Linien, ganz rechts übertragen; bei Transparentkopie gelangen ihr nur 20 % der Vorlage (siehe Abbildung 1). Spontanzeichnungen waren demgegenüber etwas besser (typisches Neglect-Verhaltensmuster). Bei Merkleistungen erreichte die Patientin knapp altersgemäße Ergebnisse. Die Auffassung von Bildern und Bildergeschichten war wegen extrem starken Neglect-Verhaltens nicht prüfbar. Bei sprachlicher Prüfung erwies sich die Abstraktionsfähigkeit als leicht herabgesetzt. Im Gespräch war die Patientin ausgeprägt haftend und umstellungserschwert. Im weiteren Verlauf realisierte die Patientin immer wieder ihre Explorationsprobleme, wie es sonst für Neglect-Patienten nicht typisch ist. Sie litt unter ihrer Gesamtsituation, der notwendigen
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Abbildung 1: A, B, C, D, E, F, G, H: Acht Versuche, die Rey-Figur (siehe Beitrag Dick) zu kopieren. Die Abbildung ist innerhalb der Zeilen von rechts nach links zu lesen, analog zu der mühsamen Exploration der Patientin beim Kopieren. Es liegen etwa drei Monate zwischen dem ersten und dem letzten Versuch. Zeichnung A : Patientin gibt nach mühsamem Versuch auf. In allen Zeichnungen gehen einige Linien ins Leere, und einige Elemente sind nicht geschlossen. Zeichnung C ist in den Proportionen relativ genau; es handelt sich um eine Transparentkopie, welche Exploration und Kopieren erleichtert (siehe Beitrag Dick). - Die Entwicklung der Kopien entspricht etwa den Fortschritten in der Rehabilitation insgesamt.
Veränderung
ihres Aufenthaltes
und
ihrer Lebensweise.
Im
Konflikt z w i s c h e n d e m Verbleib in i h r e m bisherigen W o h n o r t bei ihrem L e b e n s g e f ä h r t e n u n d d e m U m z u g in ein P f l e g e h e i m a m W o h n o r t ihrer Tochter reagierte sie eine Zeit lang sehr depressiv. P s y c h o t h e r a p e u t i s c h e G e s p r ä c h e hatten das Ziel, eine realistische Sichtweise der Situation u n d eine realisierbare praktische E n t s c h e i d u n g f ü r sich zu finden. Sie w u r d e n ergänzt praktische A r r a n g e m e n t s u n d E i n ü b e n einfacher
durch
Tätigkeiten
(z. B. U m g a n g mit d e m Telefon u. Ä . ) . E s w u r d e n E x p l o r a t i o n s übungen am E L E X - und a m Determinationsgerät durchgeführt.
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Die Körperhaltung und die Linksexploration verbesserten sich langsam, was sich auch in den wiederholten Rey-Kopien zeigte (siehe Abbildung 1). Unverändert blieb, dass die Patientin eine spontane Linksexploration nicht, und bei Hilfestellung nur sehr langsam und stückweise initiierte, obwohl sie sich des Problems bewusst war. Bei der Entlassung bestand eine komplette homonyme Hemianopsie links. Der Gesamtraum wurde zu etwa 80 % exploriert. Die Exploration einfacher Signale (ELEX) war stark verlangsamt. Es fand sich eine insgesamt verbesserte, jedoch noch leicht neglecthafte Schreibweise. Trotz guter Verbesserungen bestanden immer noch Probleme der praktischen Lebensweise, die mit dem Neglect-Syndrom zusammenhingen. Nach langer depressiver Verstimmung und Unentschiedenheit hatte sich die Patientin auf die gegenwärtige Situation eingestellt und einen Aufenthalt in einem Pflegeheim akzeptiert. Es wurde aber vermutet, dass die Patientin im weiteren Verlauf wieder in eine emotionale Krise geraten könne. (Für die freundliche Überlassung der Befundberichte danke ich Herrn Dr. Franz Dick. In seinem Beitrag zur „Phänomenologie des Neglect-Syndroms" in diesem Band findet sich eine detaillierte Darstellung der neuropsychologischen Untersuchungen, die auch bei dieser Patientin angewandt wurden.) Von der schweren akuten Symptomatik war nach der Rehabilitationsbehandlung noch eine armzentrierte spastische Hemiplegie links geblieben, durch die die Patientin, bis auf wenige unterstützte Schritte, an den Rollstuhl gefesselt war. Außerdem litt die Patientin seit Jahrzehnten an einer Psoriasis, die ihr im Pflegeheim wieder zunehmend zu schaffen machte. Obwohl die Patientin aus großstädtischem Milieu stammt, hatte sie ihren Lebensraum so weit wie möglich auf die Familie und wenige Bekannte beschränkt, was als Lösung des NäheDistanz-Problems im Rahmen ihrer Hauterkrankung verstanden werden kann. Dabei war sie geistigen Dingen sehr aufgeschlossen. Ihre am Kriegsende geschlossene Ehe mit einem Soldaten, aus dem ihre einzige Tochter stammt, scheiterte nach dem Kriege. Mit der Hilfe einer Tante zog sie ihre Tochter auf, da ihre Eltern bald nach dem Kriege starben. Die Fürsorge für ihre
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Tochter in der Zeit der Bombardierung und während der schweren Nachkriegszeit war für sie lange der einzige Lebenssinn. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist so als eine gegenseitig für das Überleben sorgende Beziehung charakterisiert. Mit ihrer Hilfe konnte die traumatische Erfahrung des Kriegsendes in der Heimatstadt der Patientin bewältigt werden. Als die Tochter selbstständig geworden war, begann die Patientin eine langjährige Beziehung zu ihrem Lebensgefährten, als dessen Versorgerin sie sich hauptsächlich erlebt hat.
Beginn der Behandlung Die ersten Gespräche dienen der Orientierung über ihre Situation und ihre Lebensgeschichte. Es zeigt sich, dass sie einen sehr realistischen Blick für ihre Situation hat und sie die Notwendigkeit ihres Aufenthaltes in dem Pflegeheim in der Nähe ihrer Tochter akzeptiert. Es wird aber auch deutlich, wie sehr sie unter dem Verlust ihrer vertrauten Umgebung und unter den fremden Pflegepersonen leidet, die „Dienst nach Vorschrift machen". Einen Psychotherapeuten hatte sie sich gewünscht, weil sie jemanden Neutralen braucht, der nicht Mitspieler ist, sondern quasi ein Unbeteiligter. Trotzdem ist ihm als Person gegenüber deutlich eine Ambivalenz spürbar. Sie erwartet zwar realistisch von der Psychotherapie nicht, von den Folgen ihres Schlaganfalls befreit zu werden, und sagt ihm das immer wieder, wirft ihm aber indirekt vor, dass auch er ihr nicht helfen könne. Diese Ambivalenz gründet möglicherweise schon darin, dass die Patientin durch die Anwesenheit des Psychotherapeuten daran erinnert wird, dass sie eine Lähmung hat. Möglicherweise hat ihr abgewandter Blick damit zu tun, dass er - wie andere Personen, die bei ihr sind -erschwert, ihre Lähmung zu vernachlässigen. So zeigt sie auch eine tiefe Hoffnungslosigkeit, sieht ihre ganze Existenz als sinnlos an. Aus dieser Resignation scheint ihr nur eine gelegentlich aufkommende illusionistische Hoffnung, dass sie wieder ganz gesund wird und in ihre Wohnung ziehen kann, herauszuhelfen. Wenn Konfliktsituationen entstehen, die mit Terminkollisionen zusammenhängen, der Bereitstellung der Chipkarte, die
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ich für einen Tag mit mir nehmen muss, oder sich Probleme im Bekanntenkreis ergeben, bewegt sie ihren Rollstuhl i m m e r so, dass ich z u m Schluss in der Neglect-Seite, der linken Seite des Gesichtsfeldes sitze, und sie mich dann visuell nicht mehr wahrnehmen kann. Dann ist es so, dass ich kein Gegenüber, keine eigene Person mehr bin, sondern wie eine Stimme aus d e m Off, die mit ihr spricht. Sie erlebt mich in Bezug auf ihre organischen Symptome so hilflos wie sich selber. Diese Identifizierung hat den Charakter einer Fusion: Z u m Beispiel unterzeichnet sie die Einverständniserklärung z u einer Anfrage nach früheren Arztbriefen mit meinem Namen. Ihre A b w e n d u n g von mir geht so weit, dass sie sich wegdreht und es v o r k o m m t , dass sie mit mir spricht, während ich in ihrem Rücken sitze, was mich - in professioneller Befangenheit - an die analytische Situation erinnert. Ob es sich dabei u m eine spontane N e u s c h ö p f u n g des analytischen Settings handelt, bleibt jedoch fraglich. Eher ist anzunehmen, dass es sich u m eine Dissoziation (im neuropsychologischen Sinn) von visueller und sprachlicher Kommunikation und räumlicher Orientierung handelt, während in der psychoanalytischen Situation der Analytiker zurücktritt und sich aus der visuellen Kommunikation löst, die den Patienten bei der Ausbildung seiner freien assoziativen Fähigkeit beeinträchtigen könnte. Es gibt Situationen, die an absurdes Theater im Sinne von Beckett erinnern, z u m Beispiel als die Versicherten-Chipkarte zu einem unerreichbaren Objekt wird, über das m a n nur noch sprechen kann und das nur in Verfügung anderer steht. Probeweise gegebene Übertragungsdeutungen, wenn sie beispielsweise über enttäuschende Pflegepersonen spricht, wendet sie ins Reale, z u m Beispiel, indem sie mir bestätigt, dass ich auch nicht am Schalthebel der Macht sitze, u m etwas zu verändern. Diese eigene Mischung und Gleichzeitigkeit der Modi v o n Verstehen und A b w e h r zeigen sich in folgender Episode aus der fünften Sitzung. Die Patientin fragt sich, w a r u m sie den Menschenschlag ihrer Heimatstadt hier bei den Heimbewohnern vermisst, ob es die Großzügigkeit dort und die Kleinkariertheit hier ist. Sie zweifelt aber gleichzeitig an, ob das wirklich die Ursache für ihr Vermissen der heimatlichen Atmosphäre ist. Ich sage ihr: „Vielleicht fühlen Sie sich hier von den vertrauten
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Menschen, mit denen Sie Ihre Lebensgeschichte verbindet, mit all ihren Erlebnissen abgeschnitten." Sie blickt mich etwas erstaunt an, wiegt ein wenig den Kopf, sagt aber nichts dazu. Sie meint dann: „Jedenfalls ist es nicht mein Freund, den ich vermisse. Der ist fast taub." Dann denkt sie darüber nach, was die größere Einschränkung ist, nicht hören zu können wie er oder gelähmt zu sein wie sie. Ich antworte ihr, dass sie ihre Einschränkung besonders deutlich wahrnehme, deutlicher als andere mit ihrem Lähmungstyp. Patientin: „Ja manchmal denke ich, ob ich mir wünschen soll, weniger klar im Kopf zu sein und nicht alles mitzukriegen, was mit mir los ist. Vielleicht wäre es dann einfacher." Da die Patientin schon mehrfach diese illusionäre Lösung im Sinne des Neglects zur Diskussion gestellt hatte, sage ich ganz unmittelbar, eine eigene Überzeugung ausdrückend, dazu: „Es hat mich sehr beeindruckt, wie Sie vor einigen Stunden sagten, es sei nicht recht, sich kränker zu wünschen, als man ist. Mir scheint es richtig und reifer, sich mit seinen Einschränkungen auseinandersetzen zu können." Plötzlich wird sie nachdenklich - vielleicht spielt sie das sogar etwas - und sagt: „Ich erinnere mich dunkel, dass sie letztmals das Versichertenkärtchen brauchten. Jetzt will ich mich erstmal darum kümmern." Sie fährt mit dem Rollstuhl los, überlegt dann aber, nachdem sie die Badezimmertür geschlossen hat, dass sie auch die Notrufklingel daneben benutzen kann. Sie meint, es sei besser, diese zu bedienen, als ins Stationszimmer zu fahren und dort niemanden vorzufinden. Nach einiger Zeit kommt eine missmutige Pflegerin, der sie längere Zeit erklärt, was sie braucht, dass ich ihr Psychiater sei, ihr die Behandlung von ihrer Klinik empfohlen worden sei, noch weitere Behandlungen stattfänden und die Krankenkasse die Behandlung genehmigt habe. Die Pflegerin beäugt mich misstrauisch. Sie bringt dann das Kärtchen, geht mit zweifelnder Miene, ob das Kärtchen wohl jemals zurückkehren wird. Die Patientin bleibt für die restliche Stunde neben der Badezimmertür und dem Notruf sitzen und hat sich schließlich so zu mir gedreht, dass ich im rechten sichtbaren Gesichtsfeld bleibe. So kann das Misstrauen der Pflegerin auch als abgespaltenes Misstrauen der Patientin interpretiert werden. Möglicherweise hat sie meine lobenden Worte über die richtige und reife Auseinader-
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setzung mit ihrer Erkrankung als Angriff auf die Verleugnung erlebt. Ähnliche Vorgänge werden beobachtet, wenn im psychotherapeutischen Prozess die Dissoziation eines Traumas aufgehoben werden soll. Sie erzählt dann über die Möglichkeiten in Frankfurt. Alle 14 Tage hat sie die Möglichkeit, einen Ausflug zu machen. Diesmal ist sie ins Städel, das bekannte Frankfurter Kunstmuseum, gefahren. Aber es ist ganz anders als früher, als sie noch laufen konnte und sich jedem Bild so nähern und so lange vor ihm verweilen konnte, wie sie es wollte. Sie traute sich nicht, dem jungen Mann, der sie im Rollstuhl fuhr, zu sagen, wie lang sie bei dem jeweiligen Bild bleiben wollte, und meint möglicherweise damit auch, dass sie den Zugang über den von mir vorgegebenen 14-täglichen Stundenrhythmus nicht selber regulieren kann. Ich interpretiere das nicht der Patientin gegenüber. Danach erzählt sie dann über die Familie der Tochter, wegen der sie nach Frankfurt gekommen ist, und wie sehr diese sich um sie kümmert. Das Ausweichen auf das Besorgen der Chipkarte, womit sie für meine Bezahlung sorgt, und das Verharren am Notrufschalter während des letzten Teils der Stunde zeigt, wie sehr Angst mobilisiert ist, obwohl sie meine Arbeit, die Erkenntnisse bringt, honorieren möchte. Nach dem Verlust der eigenen Sicht- und Herangehensweise an die Welt ist sie abhängig und gefährdet und darf nicht weiter gefordert werden.
Weiterer Verlauf Im Laufe der Behandlung ist die Beziehungsdynamik nicht mehr hauptsächlich durch Herbeiholen und Verschwindenlassen des Objekts gekennzeichnet. Die Patientin geht immer reifer mit ihrer Erkrankung um, zeigt Einfühlung und Humor für andere Patienten und kann ihr Schicksal besser akzeptieren. Hierfür möchte ich Beispiele aus dem fortgeschrittenen Behandlungsverlauf anführen. Es ergeben sich immer wieder Lichtblicke wechselnd mit erneutem Widerstand. Nachdem die Patientin in der 47. Stunde ihre schwierige Situation zwischen Familie und Freund darge-
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stellt hat, in der sie sich immer zwischen zwei Fronten fühlt und nicht in die Dinge hineingezogen werden möchte, sage ich: „Das Unangenehme, das Sie erleben, ist wie die Lähmung Ihrer linken Körperhälfte." Daraufhin wendet sich die Patientin, die bis dahin von mir weggeschaut hat, mir zu, blickt mich erstmals aktiv groß an und sagt ganz deutlich: „Ja!" Für kurze Zeit kann sie daraufhin ihr eigenes Interesse formulieren; „Erst muss ich mal wissen, was mit mir ist." Möglicherweise hat sich durch die Formulierung eines eigenen Standpunktes aber schon zu viel Spannung aufgebaut. Unser Gespräch verhakt sich. Aber die Patientin erinnert sich, wie das beharrliche Eintreten ihrer Tochter für sie wegen einer pflegerischen Maßnahme doch von Erfolg gekrönt war. In der 50. Sitzung bittet mich die Patientin, einen Brief vom Versorgungsamt für sie zu öffnen, in dem sich erwartungsgemäß ihr Behindertenausweis befindet. Darüber freut sie sich. Es ist aber noch nicht klar, wofür sie ihn nutzen wird. Wenn sie ihn brauche, sei das bei Aktionen, bei denen sie immer überlegen müsse, ob sie auch die Anstrengung durchstehen könne. Im Augenblick sei ja, obwohl November sei, schönes Sonnenwetter, aber sie schwitze. Ich frage sie direkt dazu, ob sie etwas Besonderes beschäftige, worauf sie erwidert, zwei Männer seien gestorben, zu denen sie aber keinen Kontakt gehabt habe. „Wir wissen alle, dass hier die letzte Station ist." Der eine sei derjenige gewesen, der einmal aus dem Haus getürmt sei. Darauf bemerke ich kurz: „Der wollte noch einmal vorher türmen." (Bei der Besprechung dieses Ereignisses hatten wir auch über ihre eigenen Fluchttendenzen gesprochen. Sie war nämlich eigenmächtig mit ihren Briefen zu einem entfernt gelegenen Postkasten gefahren und war dabei auf dem abschüssigen Zugang zum Pflegeheim hinuntergerollt.) Die Patientin reagiert nicht direkt auf meine Bemerkung, sondern springt zu dem anderen Verstorbenen, von dem sie meint, er sei schon recht „klapprig" gewesen. Sie betont, dass sie persönlich nicht betroffen sei, dadurch seelisch nicht angekratzt sei. Sie berichtet dann aber, wie es im Hause nach dem Ableben eines Heimbewohners weitergeht. Das Zimmer werde renoviert, das Personal habe dann viel Arbeit, habe seinen „Knietsch". Die Kleidung werde auf einen Basar gegeben. Auch sie habe sich dort Secondhand-Sachen gekauft. Dort habe sie ein
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Kostüm im Safarilook bekommen, das sehr angenehm bei der Hitze sei. Hier stellt sich nebenbei heraus, dass ihre Haut, die Schuppenflechte, sich deutlich gebessert hat und sie erwähnt zusätzlich, dass sie auch viel weniger Schwierigkeiten mit dem Magen habe. Sie kommt dann aber wieder auf ihr Problem, ihr Schwitzen. Sie wisse nicht warum. Es sei wie in den Wechseljahren. Ich: „Dann wäre es eine Verjüngung." Darauf muss die Patientin lachen und spricht darüber, wie es wäre, wenn sie mehr Exkursionen machen könnte und sich mehr nach draußen bewegen könnte. Die ganze Zeit über hat sie so gesessen, dass sie mich nicht sieht, von mir abgewandt gesprochen. Nun wendet sie sich aber den Bildern zu, die in ihrem Zimmer hängen, die ihr besonders viel bedeuten. Das eine sind Holzschuhe, die die Mutter ihres Schwiegersohns gemalt hat, und dann sind es Blicke aus ihrer früheren Wohnung in den Park. Nun blickt die Patientin mich an. Ich habe das Gefühl, wir haben einen gemeinsamen Ausblick auf etwas Gutes gewonnen. Die Patientin kann auf Objekte zugehen, wie sie es möchte. In der nächsten Sitzung ist das Zimmer weihnachtlich geschmückt. Die Patientin kümmert sich um eine Schreibunterlage für mich, an die sie aber nicht kommt und die ich mir hole. Ich sage zu ihr: „Sie kümmern sich darum, dass ich gut schreiben kann." Die Patientin meint, sie käme nicht ohne Unterlage zurecht, sie müsse noch einige Postkarten schreiben, was für sie mit großer Mühe verbunden ist. (So muss ich auch oft Adressen für sie schreiben.) Nachdem sie dann einige Zeit über den Besuch des Weihnachtsmarktes gesprochen hat und über die Schwierigkeit, den Angestellten Zuwendungen zu geben, kommt sie wieder auf ihre Schwierigkeiten beim Sehen. Immer fehle die linke Ecke. Sie könne dann schlecht lesen. Die nächste Zeile gebe keinen Sinn. Am meisten rege es sie aber auf, wenn sie Dinge nicht finden könne, wenn sie sie verlegt habe. Das könne sie nicht mit Gelassenheit nehmen. Dann rühre sich sofort ihr Magen. Das Intolerable des Mangelerlebens drückt sie so aus: „Das ist mein Magen, meine Verdauung. Dann kann ich nichts essen, das Essen steht vor dem Magen". Bisher hat die Patientin mir frontal gegenübergesessen, nun fährt sie an mir vorbei und wieder zurück, dreht sich von mir weg. Jetzt habe ich das Gefühl, auch unsere
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Situation damit in Verbindung bringen zu können, ohne die Patientin vor den Kopf zu stoßen, und sage zu ihr: „Seit wir vom Verlegen von Sachen sprechen, fahren Sie hin und her und haben sich so gedreht, dass Sie mich die ganze Zeit über nicht sehen konnten. Sie haben mich verlegt." Die Patientin sagt nichts dazu, wendet ihren Kopf zu mir und blickt mich skeptisch an und dreht sich mit dem Rollstuhl so, dass ich voll in ihrem Gesichtsfeld bin. Sie sagt, dass man zwar viel begreifen könne, aber sich an das Verstandene nicht halten könne, es nicht durchziehen könne. Danach lenkt sie projektiv auf die Bewegungsunruhe einer anderen Bewohnerin ab, deren Sprache schwer zu verstehen sei. Sie denkt über deren Behandlungsmöglichkeiten nach, kehrt dann zu sich zurück und kommt auf die Möglichkeit, ihre Sehstörung mithilfe der Behandlung mit einer Lichtquelle, die sie in den nicht wahrnehmbaren Gesichtsfeldbereich führt, zu verbessern. In einer späteren (53.) Sitzung wird noch einmal besonders deutlich, wie sehr aggressive Konflikte in die Neglect-Seite geschoben werden. Ein Konflikt mit dem Pflegepersonal wegen der Behandlungsstunde regt sie so auf, dass sie an mir vorbei fährt, wieder mit mir wie mit sich selber spricht und mich als Person, von der der Ärger ausging, ausgelöscht hat. In den nächsten Stunden wiederholt sich immer wieder das Spiel, sich mir zu- und von mir abzuwenden. Parallel dazu gehen die Versuche, sich mit ihrem Rollstuhl-Dasein abzufinden oder doch noch einmal aus dem Ganzen herauszukommen. In der 59. Sitzung treffe ich die Patientin an, wie sie eine Sendung über Mondraketen sieht, was sie lachend kommentiert: „Mit 'ner Rakete fliegen, das wär' das Richtige. Dabei bockt mein Rollstuhl, als ob er immer über eine Schwelle müsste, und die Handwerker kommen, wann sie wollen." Ich sage: „Auch ich war heute nicht ganz pünktlich." Patientin: „Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Auf dem Gang geht die Uhr eh' nach dem Mond." Sie lacht wieder: „Heute habe ich es mit den Mondraketen." Fast singend rezitiert sie aus Frau Luna von Paul Lincke: „Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, lieber Schatz!" Sie spricht weiter von den Unannehmlichkeiten des Pflegeheims und sagt zu mir: „Sie haben noch einen längeren Weg bis dahin!" Nachdem sie wieder über Widrigkeiten im Heim gesprochen hat, erinnert sie sich erneut, dass
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sie die Post, die sie eigenständig erledigt hatte, selber mit dem Rollstuhl zum Postkasten gebracht hat, wodurch sie sich wegen der abschüssigen Straße in Gefahr gebracht hat. Sie habe nur die Post los sein wollen. Lachend sagt sie: „Das war Leichtsinn." Nachdem ich gedeutet habe: „Als ob Sie sich in Ordnung gefühlt hätten", erinnert sich die Patientin, dass sie im Traum immer von sich als Gesunder und ihre Heimatstadt immer unzerstört vor dem Kriege träumt. Dann begegnet sie Leuten, die schon lange tot sind oder mit denen sie nicht mehr zusammenkommen kann. Alles spielt sich in ihrer Heimatstadt ab. „Ich träume mich zurück in die Zeit des Noch-Könnens. Ich hatte noch nie einen Traum, in dem ich in meinem jetzigen Zustand erscheine." Im Traum werde sie auch oft mit ihrem kindlichen Spitznamen angeredet. Auch von einer schwer kranken Freundin träume sie immer als Gesunder. Sie habe keine Schreck- oder Albträume.
Das Ende Diese Lösung, das Unangenehme auszublenden, führt später dazu, dass die Patientin mit ihrem Rollstuhl stürzt (64. Sitzung). Sie hatte versucht, ein Blatt vom Boden aufzuheben und hatte dabei das Gleichgewicht verloren. Dagegen gibt es Situationen in einem familiären Konflikt, die die Patientin nicht mit Neglect lösen kann (65. Sitzung). Um sie herum stehen PappmascheeSpucknäpfe. Es geht ihr nicht gut mit dem Magen: „Ich bin wie zugeschnürt! Immer wieder Ärger, den ich herunterschlucken muss." Die Patientin fühlt sich „zwischen Baum und Borke". Es sieht so aus, als ob ihr Lebensthema, keinen eigenen Platz zu haben, nicht mit Neglect verleugnet werden kann. Durch eine schwere Erkrankung der Tochter verstärkt sich diese Unfähigkeit. Zwar versucht sie, die Augen aufzuhalten und sich zu kümmern, wo es nötig ist. Aber die Nebenbedeutung des Wortes kümmern
gleich Kummer
haben wird deutlich, dass sie
unter der bedrohlichen Erkrankung der Tochter leidet. Daraus rettet sich die Patientin, indem sie ihr Leben ordnet und Verfügungen trifft.
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Auch ich versuche die Übersicht zu behalten. Da das zweite bewilligte Stundenkontingent nur noch zwölf offene Sitzungen aufweist und vom Gutachter keine Aussicht auf Verlängerung gemacht worden war, bespreche ich mit der Patientin eine Frequenzverminderung auf einmal im Monat, um noch für ein Jahr genügend Stunden zur Verfügung zu haben. Dieser Vorschlag führt dazu, dass die 68., die 69. und 70. Stunde in einem Abstand von einem Monat stattfinden. Nachträglich erscheint mir mein Vorgehen eher als Rationalisierung, als ein Spiegelbild der Abwehr der Patientin oder Gegenwiderstand gegen die Wahrnehmung der unerträglichen Hilflosigkeit. In der 69. Stunde schwankt das Gespräch zwischen Beruhigung, Ordnung und tiefster Beunruhigung. Sie schildert ihren Kooperationswillen. Am Tag der offenen Tür wird sie ihr Zimmer zeigen. Die Offenheit des Hauses insgesamt gibt Berührung mit dem Leben. Im Schwimmbad des Altersheimes findet BabySchwimmen statt und so begegnet sie jungen Müttern mit Babys im Fahrstuhl. Ich sage: „Es ist ein Haus der offenen Tür und Sie machen die Augen auf, bedecken sie aber auch zu anderen Zeiten." Darauf erwidert die Patientin, dass sie in einem natürlichen Alterungsprozess ist und viele Dinge nicht mehr erlernen kann: „Es schafft mich. Ich kann mich aber auch nicht entziehen und will mich nicht verschließen, weil ich mich entschlossen habe, dieses Haus [gemeint ist das Pflegeheim] hinzunehmen. Verweigern würde heißen, nur die Augen zuzumachen!" Wie ernst das Aufgeben der Verleugnung für die Patientin ist, zeigt sich am Ende dieser Sitzung, wenn die Patientin sagt, sie sei froh, dass sie mir heute wirklich etwas zu erzählen hatte. Als ich mich einige Tage vor der nächsten, der siebzigsten Sitzung ankündige, um sie wegen des großen Abstands an die Sitzung zu erinnern, weil sie die letzte Sitzung vergessen hatte, möchte die Patientin vehement verhindern, dass ich komme. Sie sei erkältet. Ich würde mich sicherlich anstecken. Davon lasse ich mich aber nicht abhalten. Ich habe aber das Gefühl, dass ich mich aufdränge und sie störe. Als ich komme, darf ich zunächst nicht ins Zimmer, weil der Rollstuhl noch gründlich gesäubert wird. Die Patientin wirkt ganz verändert, hat noch einen Verband am Kopf. Sie sagt zu mir: „Sie hätten sich sparen können zu kommen,
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wie ich es gesagt habe. Mir geht es so schlecht. Meine Tochter ist noch auf der Intensivstation nach drei Operationen." Sie selber sei mit dem Rollstuhl gestürzt, als sie versucht habe zu telefonieren. Sie habe eine 17 cm lange Wunde, die genäht werden musste, davongetragen. Sie schildert, wie schrecklich alles gewesen ist, wie sehr sie mit Essen, vor dem sie sich ekele, traktiert werde. Im Heim herrscht der Pflegenotstand, die Hälfte der Schwestern sei krank: „Sie sprechen mit mir wie mit einem Säugling. Es ist kein Wechselgespräch möglich. Ich weiß nicht, was noch werden soll. Es geht nicht um mich! Wenn meine Tochter nicht mehr ist, was dann? Mir wird es erst besser gehen, wenn es meiner Tochter besser geht." Ich erlebe die Patientin in einem panischen Ausnahmezustand, wobei sie immer wieder betont, ich hätte nicht kommen sollen. Die Patientin hustet heftig, es wird ihr übel und sie hat Angst, sich zu übergeben. Sie will ins Badezimmer gehen, sodass wir die Stunde beenden müssen. Ich erlebe die Patientin in höchster Alarmstufe, weil sie fürchtet, den ihr nächsten Menschen zu verlieren. Ihre Angst erlebe ich wie die eines Kindes vor dem Verlust der Mutter. Sie erscheint völlig aus dem Gleichgewicht geraten zu sein und der Sturz mit dem Rollstuhl hat das ins Konkrete umgesetzt. Ich verabrede deshalb mit der Patientin eine Extrasitzung 14 Tage später. In dieser (71.) Sitzung wirkt die Patientin wesentlich älter, als ich sie gewohnt bin. Da es ihrer Tochter besser geht, erscheint sie nicht mehr verzweifelt, obwohl sie sie nicht besuchen darf. Zur letzten Stunde kommentiert sie: „Letztes Mal war ich weit weg. Ich bin wie meine Tochter, will keinen sehen, wenn es mir schlecht geht. Ich kann es meiner Tochter nicht verübeln, dass sie niemanden sehen will. Ich würde aber gerne zu ihr gehen, um sie zu sehen." In der Zwischenzeit wird Kaffee mit einer Waffel gebracht, die die Patientin versucht, mit einer Kuchengabel zu zerteilen. Das klappt nicht und ich fixiere dann mit der Gabel die Waffel, sodass die Patientin sich immer ein Stückchen abbrechen kann. Heute habe ich das Gefühl, als Hilfsich oder Ergänzung angenommen zu sein und nicht durch meine Gegenwart ihr ihre Defizite vor Augen zu führen. Über einleitende Bemerkungen kommen wir auf die erste Seite der Frankfurter Rundschau an diesem Tag zu sprechen, die in ihrem
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Schriftbild so gestaltet ist, dass die Worte unverständlichen Wortsalat abbilden, den man nicht verstehen kann. Wir bleiben beim konkreten Problem Analphabetismus, dessen Problem damit illustriert werden soll. Der Patientin fällt ein, dass in der Vorlesestunde des Heims über ein Buch gesprochen wurde, bei dem es auch ums Sehen ging und dass ihre Wahrnehmungsschwierigkeiten unterschiedlich stark sind. Wenn sie von anderen auf Gegenstände aufmerksam gemacht wird, sieht sie sie sofort. Diese Sehübungen haben auch in der neurologischen Klinik stattgefunden, in die sie nach dem Schlaganfall zur Rehabilitation gekommen war. In dieser Stunde kann ich nicht entscheiden, ob die Ruhe bei der Patientin mehr einem Abwarten entspricht oder einem Ausblenden der Gefährlichkeit der Situation. Ein altes Problem der Patientin, die Doppeldeutigkeit des Nichtinformierens, auf der einen Seite im Ungewissen zu sein, auf der anderen jemanden durch Information nicht zu beunruhigen, Ausblenden und Nicht-lesen-Können werden zum Thema. Die 72. Sitzung ist die letzte, die mit der Patientin stattfindet. Sie fühlt sich durch äußere Dinge, ihre Weihnachtspost und die Möglichkeit, dass während der Sitzung Gardinen an ihrem Fenster aufgehängt werden, belastet. Die Gardinen bedeuten Sonnenschutz, aber auch Sichtbehinderung. Während eine Altenpflegerin Kaffee bringt und diesmal zum ersten Mal mir auch ein Kännchen hinstellt, formuliert die Patientin ihre Drucksituation: „Ich bin ganz aus der Tüte!" Diesen Ausdruck hat sie gerade erfunden. Die Patientin sitzt so rechtwinklig am Tisch, dass ich ganz auf der Neglect-Seite sitze. Sie erwähnt, dass sie meinen roten Bleistift, der auf dem Tisch liegt, sieht, worauf ich ergänze: „Und mich sehen Sie nicht." Die Patientin lacht: „Wenn ich mich zu Ihnen wende, sehe ich Sie." Ich: „Sie sind nicht auf den Kopf gefallen!" Patientin: „Heute nicht." Ich blicke auf die geheilte Platzwunde. Wie in einer primär-prozesshaften Verbindung sagt die Patientin: „Heute kann ich Ihnen keine Plätzchen anbieten." Die Patientin spricht von ihrer Weihnachtspost, die sie nur mit großer Mühe schreiben kann und dass ihre Tochter sie immer ermutigt, so viel Post wie möglich zu schreiben und nicht alles negativ zu sehen. Das sei alles schön und gut, aber solche Belehrungen brauche sie nicht. Die könne sie sich selber
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geben. Sie sehe alles sehr positiv, besonders, dass die Tochter nicht mehr auf der Intensivstation sei. Sie schildert dann ihre Situation im Heim vor Weihnachten. Obwohl man sich dort Mühe gebe, fühle sie sich doch nicht wohl. Patientin: „Es liegt daran, dass ich behindert bin, dass ich hier sein muss. Natürlich muss meine Tochter erst einmal zurechtkommen. Wenn ich als Achtzigjährige mich beklage ...! Ich opponiere nicht, weil es sich nicht ändern lässt. Ich mache keinen verantwortlich. Was sich mit meinen Eltern abspielte, war Kummer genug. Ich war verzweifelt, nach dem Kriege war das Geschäft kaputt und auch die Wohnung. Ich musste für alles geradestehen. Ich hatte meine Tochter als Aufgabe. Manchmal habe ich meinen Vater gescholten, wahrscheinlich unberechtigt angefahren, wenn er dem Kind zum Beispiel Brot weggegessen hat. Ich hatte praktisch zwei Kinder, den alten Vater und mein Kind." Ich kommentiere, dass sie die Situation mit klarem Blick sehe, der nicht von Gardinen verstellt sei. Darauf meint die Patientin, jetzt begännen wir zu philosophieren. Sie meint, dass sie den klaren Blick schätze, als ich aber etwas zu lange auf dem Thema der freien Sicht insistiere, wehrt sich die Patientin dagegen. Sie sagt, abends würden die Gardinen immer zugezogen, womit sie auch sichtlich ihren Unwillen, mit diesem Thema weiterzumachen, signalisiert. Sie spricht wieder von den Dingen, die sie schlucken müsse und dass sie in der Weihnachtspost nichts von den Sorgen und Nöten schreiben werde. Wir verabschieden uns und ich wünsche ihr eine frohe Weihnachtszeit und dass sie gut ins neue Jahr kommt. Ich habe den Eindruck, dass die Patientin immer wieder zwischen dem klaren Blick und dem Wunsch, wegsehen zu können, hin und her schwankt. Dahinter steht aber auch der Wunsch, den Vorhang schließen zu können. Zu Beginn des neuen Jahres erreicht mich die Nachricht, dass die Patientin am Tag vor Heiligabend gestorben ist. Einen Tag vor dem ersehnten Treffen mit der Tochter hatte sie einen unerwarteten plötzlichen Herztod erlitten. Es hatte einen dramatisch verlaufenden Wiederbelebungsversuch durch den Notarzt gegeben, der nicht glückte. Die Patientin hatte über die gesamte Zeit der Behandlung einen natürlichen Tod als Erlösung aus ihrer Hilflosigkeit her-
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beigesehnt, aber auch das Leiden, als ihr auferlegt, angenommen. In ihren letzten Lebensmonaten war sie durch die schwere Erkrankung ihrer Tochter darüber hinaus emotional stark belastet. Die auch ihr nachfühlbare Weigerung der Tochter, sich während der schwersten Krankheitsepisode von der Mutter besuchen zu lassen, hatte zu einer akuten depressiven Dekompensation der Patientin geführt und sie in eine innerlich nicht zu bewältigende Konfliktsituation gebracht. Der innere Konflikt könnte so formuliert werden: „Verleugne ich die Erkrankung meiner Tochter, werde ich als unbeteiligt und egozentrisch erlebt. Erlebe ich mich als hilflose Mutter, bin ich diejenige, die immer schon meine Tochter zur Halt gebenden Mutter gemacht hat." Die traumatische Situation, in der Mutter und Tochter sich gegenseitig das Überleben sicherten, wird wiederbelebt. In dieser durch Neglect nicht lösbaren Konfliktsituation erleidet sie am Tage vor der ersehnten Begegnung den Herzstillstand. Daran mag man als Hypothese knüpfen, dass die Patientin durch ihre Neglect-Symptomatik, die sie zwischen hilfloser Verzweiflung eines verlassenen Kindes und verleugnender Selbstreparation oszillieren lässt, nicht ausreichend ihre eigene schwer belastende Situation bewältigen konnte. Dadurch exazerbierte die ursprünglich durch die Bypass-Operation gut kompensierte koronare Herzerkrankung erneut. Insofern handelt es sich um eine spezielle Ausformung der Dynamik eines plötzlichen Herztodes. Eine spezifischere Hypothese wäre, dass der der psychogene Tod über körperliche Mechanismen als Abwehr eintritt, wenn der Neglect als Existenzform gefährdet ist, das heißt, nicht mehr zur verzerrten Verarbeitung der Situation ausreicht. Selbst der Wunsch, verleugnen zu können, sozusagen ein seelischer Neglect, Ausblendung oder Abspaltung der traumatischen Erlebnisse ist nicht mehr möglich.
Schlussbemerkung Die achtzigjährige Patientin hatte bei einer Bypass-Operation einen Schlaganfall mit der Folge einer Hemiparese und Hemianopsie links mit Neglect erlitten. Sie wurde während ihres
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Hans-Joachim Rothe
Aufenthaltes in einer neurologischen Rehabilitationsklinik für eine Psychotherapie motiviert, von der sie sich zunächst eine bessere Bewältigung der Folgen ihres Schlaganfalls erhoffte und mit der sie einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis ihrer Wahrnehmungsstörung leisten wollte. In der über dreieinhalb Jahre dauernden Psychotherapie schwankt die Patientin, die sich im Schema eines lebenslangen Versorgens und Versorgtwerdens und gegenseitiger Überlebenssicherung bewegt, zwischen Geborgenheitswünschen und Mobilisierung von Aggression gegen die Abhängigkeit. Sie wechselt zwischen Selbstobjektbeziehung und reifer Dankbarkeit. Über weite Strecken zeigt sie eine spezifische motorische Abwehrmodalität. Sie verlegt den störenden Objekt-Therapeuten in den Neglect-Bereich. Dieser wird als sichtbare Person ortlos, im sprachlichen Kontakt noch anwesend, aber in das visuelle Off abgedrängt. Bei der wiederholten Wendung des Rollstuhls handelt es sich um einen aktiven Prozess, im Unterschied zu der typischen spontan nicht ausreichenden visuellen Exploration zur Neglect-Seite hin, welchen das Gegenüber im Neglect-Bereich belässt. Im Verlauf kann die Patientin ihr Schicksal akzeptieren und sich immer wieder zum Subjekt ihres Lebens machen. Dabei wird sie von äußeren Erfolgen unterstützt, beispielsweise bei der hautärztlichen Behandlung. Der Tod der Patientin an ihrer koronaren Herzkrankheit ereignet sich plötzlich in einer schweren seelischen Belastungssituation, in der die Patientin zwischen der Identifizierung mit der Tochter und ihrem Verlassenheitsgefühl keine Vermittlung herstellen kann und die vernachlässigende Abwehr traumatischer Erfahrung nicht mehr gelingt. Es überlagern sich individuelle neuropsychologische Verlust- und Kompensationssymptome, eine übergreifende individuell-psychische Problematik und eine tief gehende soziale Verlustsituation, die zuletzt existenzielles Ausmaß annimmt. Ex posteriori kann die Psychotherapie als ein Mitgehen auf die letzten Stunden vor ihrem Tode angesehen werden. Die Patientin geht eine ambivalente Beziehung zu mir ein, aus der sie sich immer mehr lösen möchte und durch die sie sich vor ihrem Tod sogar gestört fühlt.
Das Mind-Body-Problem in der psychoanalytischen Praxis
Marianne Leuzinger-Bohleber
Erinnerungen und Embodiment Aus der Psychoanalyse einer Poliomyelitis-Patientin 1
1 Einleitende Bemerkungen Alfred Lorenzer kann als einer der ersten Pioniere die Relevanz des Dialogs mit den Neurowissenschaften für die Psychoanalyse gelten. Er nahm viele der Thesen von Mark Solms (2000) und anderen Autoren vorweg, indem er betonte, dass die Wurzeln der Psychoanalyse auch die neurophysiologischen Forschungstätigkeit von Freud einschließen. Wie Solms hebt Lorenzer hervor, dass es die Kritik an der Lokalisationsthese und den methodischen Begrenztheiten der neurologischen Forschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren, die Freud dazu bewogen, sich von der Neurologie abzuwenden und die Psychoanalyse als reine Psychologie zu definieren. Freud hielt - im Gegensatz zu den vorherrschenden Auffassungen von vielen Neurologen seiner Zeit - an einer holistischen Auffassung des Gehirns und seiner Funktionsweise fest. Diese holistisch-funktionale Auffassung hat sich inzwischen durchgesetzt. Lorenzers Position ist auch deshalb bemerkenswert, weil er damals mutig gegen den Strom schwamm. In den 1970er Jahren dominierte ein Zeitgeist, der auch stark beeinflusst war durch die brillante Analyse von Jürgen Habermas, der die Sehnsucht Sigmund Freuds nach einer naturwissenschaftlichen Begründung der Psychoanalyse als szientistisches Selbstmissverständnis der Psychoanalyse bezeichnete. Im Gegensatz zu Lorenzers Zeiten scheint es heute unbestritten, dass der Austausch zwischen der Psychoanalyse und den 1
Eine andere Version dieser Arbeit ist im International Journal of
Psychoanalysis (2008) erschienen.
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Neurowissenschaften für alle Beteiligten vielversprechend ist. Die Neurowissenschaften verfügen inzwischen über die objektivierenden und exakten Methoden zur Prüfung anspruchsvoller Hypothesen über menschliches Verhalten, während die Psychoanalyse aufgrund ihrer reichen Erfahrung mit Patienten die notwendige Konkretion und das Anschauungsmaterial in Bezug auf menschliches Verhalten beizutragen und dadurch genaue Fragen an die Biowissenschaften zu stellen vermag. Zudem hat die Psychoanalyse differenzierte Erklärungsansätze entwickelt, um die vielschichtigen und komplexen Beobachtungen in der psychoanalytischen Situation zu konzeptualisieren, Erklärungsansätze, die auch für Neurowissenschaftler von Interesse sein könnten. Mauro Manica (2006) schreibt dazu: „This book covers these varied scientific prospects with the aim of comparing objective data deriving from neuroscientific research with subjective data from psychoanalysis in the hope that this will trigger ideas and hypotheses that could give a deeper meaning to psychoanalytical work and at the same time offer possible interpretations of neuroscientific observations. These latter, having the privilege of objectivity and reproducibility, may provide psychoanalysis with anatom-functional basis that can give substance to the hypotheses deriving from the inter-subjective encounter between two people in the consulting room (...) The interdisciplinary work is also intended to create a common language, to allow understanding of the meaning of the terms and concepts used, an exchange of hypotheses and ideas, that can enrich both psychoanalysis and neurosciences. These latter, in fact, like all sciences, cannot ignore the conscious and unconscious mind of the person experimenting, observing and interpreting, and the study of these functions of the mind is the main task of psychoanalysis" (Manica, 2006, S. 3). Dennoch scheint mir wichtig zu betonen, dass dieser Dialog kein Anlass zu Euphorie bietet. Der Dialog der Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften stellt vielmehr, wie wir schon 19921998 in einem interdisziplinären Kolloquium zwischen zwanzig Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern (gefördert durch die Köhler Stiftung GmbH, Darmstadt) teilweise schmerzlich erfahren mussten, die Beteiligten vor hohe persönliche und
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fachliche Anforderungen (vgl. dazu Koukkou, Leuzinger-Bohleber u. Mertens, 1998; Leuzinger-Bohleber, Mertens u. Koukkou, 1998). Beim genauen Hinsehen sprechen wir oft nicht die gleiche Sprache, verwenden unterschiedliche Konzepte trotz analoger Begriffe, fühlen uns divergierenden wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Traditionen verbunden und brauchen einen langen Atem, ja viel Toleranz, um wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen und dadurch unsere bisherigen Denkweisen infrage zu stellen, was die Voraussetzung ist, um wirklich eine Vertiefung der disziplinären Erkenntnisse vorzustoßen. Zudem stellt der Vergleich der Modelle, die in den beiden Disziplinen aufgrund unterschiedlicher Forschungsmethoden und Daten entwickelt wurden, hohe wissenschaftstheoretische und -methodische Anforderungen, denken wir hier nur an die viel diskutierte Gefahr des Reduktionismus psychischer Prozesse auf neurobiologische Vorgänge oder an die Folgen einer unreflektierten Übertragung von Konzepten, Methoden und Interpretationen von einer wissenschaftlichen Disziplin auf die andere (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002; Hampe, 2003; Hagner, 2004). Wissenschaftstheoretisch geht es, wie wir andernorts ausführlich diskutiert haben, auch darum, die Psychoanalyse in Zeiten der Pluralität der Wissenschaften offensiv und selbstbewusst als eigene wissenschaftliche Disziplin zu vertreten, die über eine eigene Forschungsmethode verfügt, die ihrem Forschungsgegenstand - unbewussten Fantasien und Konflikten angemessen ist, sowie über eigene Güte- und Qualitätskriterien (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, Dreher u. Canestri, 2003). Diese Position ist keineswegs unumstritten, findet aber auch breite Zustimmung, etwa kürzlich von Heinz Weiss (1999). Ihre Qualität kann übrigens nicht direkt durch extraklinische, etwa neurowissenschaftliche Forschung gesichert werden, da sich deren Ergebnisse auf einem ganz anderen Abstraktionsniveau befinden und auf den konkreten Einzelfall erst jeweils angewandt - oder, wie Ulrich Moser dies nennt, instantiiert werden müssen. Dies mag einer der Gründe sein, warum wir die reiche Kultur der Supervisions- und Intervisionsgruppen zur professionellen Qualitätssicherung entwickelt haben.
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2 Der Dialog mit den Neurowissenschaften: Chancen, Notwendigkeiten und Gefahren für Psychotherapeuten und Psychoanalytiker Anhand einer dritten Analyse mit einer ehemaligen Poliomyelitis-Patientin werden im Folgenden sowohl die Chancen als auch einige Risiken des Dialogs zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften diskutiert.
2.1 Narrative versus biografisch-historische eine Debatte mit klinischer Relevanz
Wahrheit -
Die politisch hoch brisanten false memory debate der 1990er Jahre führte zu einer großen Skepsis, ob es Therapeuten aufgrund ihrer Beobachtungen in der therapeutischen Situation überhaupt möglich ist, biografische Ereignisse, wie beispielsweise einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch, objektiv und zuverlässig zu rekonstruieren. Wie wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert haben, teilen wir diese Skepsis (Leuzinger-Bohleber, Pfeifer u. Henningsen, 2008). Allerdings wurde nach unserer Meinung in dieser Debatte das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, indem auch Fonagy und Target (1997) postulierten, dass wir uns als Analytiker nicht um „reale" Erfahrungen vor dem vierten Lebensjahr im Sinne einer biografisch-historischen Wahrheit zu kümmern haben, sondern uns ausschließlich auf die Beobachtungen prozeduraler Erinnerungen in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker zu beschränken hätten. Diese Autoren beziehen sich bei ihrer These auf den Nobelpreisträger, Eric Kandel (1998, 2005). Bezug nehmend auf Miliner, Squire und Kandell (1998) diskutiert er anhand der folgenden Grafik (s. Abbildung 1) unterschiedliche Gedächtnissysteme. Das deklarative, explizite Gedächtnis wird - auf einer deskriptiven Ebene - von verschiedenen Formen des prozeduralen, impliziten Gedächtnisses unterschieden. Für die eben erwähnte Debatte ist entscheidend, dass sich traumatische Erfahrungen meist nicht als deklaratives, sondern als prozedurales Gedächtnis erhalten (vgl. u. a. Zerstörung der Sinnstrukturen in Bild und
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Abbildung 1: Eine Taxonomie der deklarativen und prozeduralen Gedächtnissysteme (Milner, Squire u. Kandel, 1998, S. 451).
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Sprache durch die Traumatisierung). Zudem bildet sich das deklarative Gedächtnis, beziehungsweise die für das Zustandekommen dieser Gedächtnisleistungen verantwortlich gemachte Hirnregionen (medial temporale Regionen, Hippocampus) erst circa im vierten Lebensjahr voll aus, was für Erinnerungsprozesse an die Traumatisierungen der ersten, vulnerablen Lebensjahre entscheidend ist (vgl. dazu u. a. Koch-Kneidl u. Wiesse, 2003). Daher schließen etwa Peter Fonagy und Mary Target (1997), dass explizite, deklarative Erinnerungen nur bis circa ins vierte Lebensjahr zurückreichen und daher ein Bewusstwerden früher traumatischer Erfahrungen in der therapeutischen Situation nicht möglich sei. Sie fassen ihre Position provokativ wie folgt zusammen: „(...) whether there is historical truth and historical reality is not our business as psychoanalysts or psychotherapists" (Fonagy u. Target, 1997, S. 209). Fonagy und Target plädieren daher dafür, dass sich Psychoanalytiker und Psychotherapeuten darauf beschränken sollen, im Hier und Jetzt der Übertragung prozedurales Gedächtnis zu beobachten und seine Bedeutung in der aktuellen Interaktion mit dem Analytiker zu verstehen. Wir haben - auch Bezug nehmend auf Aussagen psychoanalytischer Traumaforscher und Ergebnisse der Gedächtnisforschung der sogenannten Embodied Cognitive Science - dieser Ansicht in mehreren Arbeiten widersprochen: Klinisch-psychoanalytische Erfahrungen zeigen immer und immer wieder, wie wichtig sich für schwer traumatisierte Patienten eine „Annäherung an die historische Realität des Traumas" erweist, auch wenn die traumatischen Erfahrungen in den ersten vier Lebensjahren erlitten wurden (vgl. dazu u. a. Bohleber, 2000a, 2000b; Bokanowski, 2005; Fischer u. Riedesser, 2006). So gehörte beispielsweise zu den unerwarteten Ergebnissen einer repräsentativen Nachuntersuchung von über 400 ehemaligen Patienten aus Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeittherapien, dass 62 % der Patienten, die in den 1980er Jahren bei DPV-Analytikern in Behandlung waren, schwere Traumatisierungen als Kleinkinder, oft im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, erlebt hatten. Viele von ihnen schilderten in den ausführlichen Katamnese-Interviews, wie wichtig für sie
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die Auseinandersetzung mit diesen bisher verleugneten und verschwiegenen Erfahrungen ihrer frühen Kindheit in ihren Psychoanalysen war. Für viele gehörte die Integration ihrer Frühtraumatisierungen in ihr Selbst- und Identitätsgefühl zu den wichtigsten Ergebnissen ihrer Behandlungen (Leuzinger-Bohleber, 2003; Reerink, 2003). Bei einigen der eher negativ verlaufenen Behandlungen hatten wir den Eindruck, dass die Dimension der Aufarbeitung der eigenen biografischen Vergangenheit zugunsten einer fast ausschließlichen Arbeit in der Übertragung vernachlässigt worden war. - Daher schien uns sowohl das Durcharbeiten der erlittenen Traumatisierungen in der therapeutischen Beziehung als auch die Konfrontation mit der „Realität stattgefundener Traumatisierungen" für eine nachhaltige Wirkung des psychoanalytischen Prozesses unerlässlich (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, Stuhr, Rüger u. Beutel, 2002; Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2006).
Der eben skizzierten Argumentation, (deklaratives) Gedächtnis könne wegen der mangelnden Ausbildung des Hippocampus keine Erfahrungen vor dem vierten Lebensjahr erfassen, liegt ein sogenannter Kategorienfehler zugrunde (vgl. dazu ausführlich in Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002). Das oben aufgeführte Schema basiert auf einer deskriptiven Unterscheidung verschiedener Gedächtnisfunktionen. Diese müssen aber von den sie determinierenden Mechanismen im Gehirn, die Gedächtnis hervorbringen, klar unterschieden werden. Vereinfacht ausgedrückt: Der Hippocampus produziert nicht das deklarative Gedächtnis, er ist höchstens am Zustandekommen bestimmter Gedächtnisleistungen maßgeblich beteiligt. Heute gehen, wie einleitend erwähnt, die meisten Forscher von einer holistischfunktionalen Sicht aus und postulieren, dass am Zustandekommen bestimmter psychischer Prozesse das Gehirn in seiner Ganzheitlichkeit (bzw. der gesamte Organismus, vgl. unten) und nicht nur eine bestimmte Region beteiligt ist. Das Konzept des Embodiments (vgl. unten) postuliert, dass biologisch-genetische und Umweltfaktoren von Anfang an in komplexer Weise zusammenspielen und (körperlichen) Erinnerungsprozessen zugänglich sind. Auch wenn die Hippocampus-
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region noch nicht voll ausgebildet ist, schlagen sich von Anfang an (auch schon beim Embryo) soziale Erfahrungen in den neuronalen Netzwerken des Gehirns nieder. Unter anderem hat Edelman (1992) diese „dialektische Prägung" präzise beschrieben. Er spricht von der Entwicklung des primären und sekundären neuronalen Netzwerkes, gefolgt von der Kopplung neuronaler Karten. In anderen Worten: Traumatische Erfahrungen haben sich, auch wenn sie vor dem vierten Lebensjahr erlebt wurden, im Organismus niedergeschlagen und können daher auch (körperlich) erinnert werden. Selbstverständlich ist dabei zu bedenken, dass solche traumatischen Erfahrungen (biografisch-historische Realitäten) nie im Sinne eines £zns-zw-ems-Verhältnisses im Gedächtnis erhalten bleiben, sondern Gegenstand vieler nachträglicher Überschreibungen geworden sind. Dennoch ist die historische Realität als Kern dieser Umschreibungen immer enthalten. Zudem haben traumatisierte Patienten, beispielsweise in ihren Flashbacks, oft Details der real stattgefundenen Ereignisse auch aus den ersten Lebensjahren in genauester Erinnerung. Die Amnesie des Traumas kommt zwar vor, ist aber keineswegs die Regel. Oft sind Erinnerungen an das Trauma präsent, doch von den überflutenden Affekten und unerträglichen Erfahrungen dissoziiert. Entsprechend den erwähnten klinischen Erfahrungen, ist es erst die genaue Rekonstruktion der traumatischen Erfahrungen, wie sie Patienten zum Beispiel durch Befragung noch lebender Zeugen oder historische Studien versuchen, die eine minimale psychische Integration des Erlittenen ermöglicht. Um diese Konzepte hier verkürzt zusammenzufassen: Bezug nehmend auf die biologisch orientierte Gedächtnisforschung werden Erinnerungen als aktive, konstruktivistische Prozesse verstanden, in denen aufgrund aktueller Informationsverarbeitungen aus verschiedenen Sinneskanälen sensomotorische Informationen in analoger Weise koordiniert werden, wie dies in einer früheren (traumatischen) Situation geschah. Daher hat sich einerseits im neuronalen Netzwerk, das heißt, in den sensomotorischen Koordinationen, die historische Realität niedergeschlagen („objektive" Seite des Gedächtnisses). Andererseits
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wird durch die jeweils ablaufenden neuen Koordinationen die Verarbeitungsweise des Gehirns dauernd weiterentwickelt: Die historische Realität wird ständig neu umgeschrieben (subjektive Seite des Gedächtnisses, Näheres siehe Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002). Diese komplexen, unbewusst ablaufenden sensomotorischen Koordinationen führen zur Konstruktion von Erinnerungen, oft allerdings zuerst einmal ausschließlich körperlich erlebten Erinnerungen ohne Visualisierungen und Verbalisierungen.
Diese körperlichen
Reaktionen
im Sinne
eines
Enactments im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung zu entschlüsseln, mit den entsprechenden Bildern, Affekten und schließlich einer verbalen Beschreibung des ursprünglich Erlittenen zu verbinden, gehört zur wichtigsten Aufgabe einer psychoanalytischen Therapie mit traumatisierten Patienten. Mit diesen interdisziplinären Konzeptualisierungen wird die Freud'sche Aussage neu verständlich: „Das Ich ist vor allem ein körperliches" (Freud, 1923, S. 253). Die sensomotorischen Koordinationen sind ein Königsweg zum Verständnis erlittener, auch sehr früher Traumatisierungen, denn der Körper vergisst nichts. Im Unbewussten werden alle Erfahrungen
erhalten.
Traumatische Erfahrungen konnten, so die bekannte Definition von Cooper (1986), wegen ihrer unerträglichen Qualität vom psychischen Apparat in der damaligen Aktualität nicht ertragen und verarbeitet werden. Sie wurden daher ins Unbewusste verbannt, üben aber - als unverarbeitete seelische Erlebnisse, die aus einer Weiterentwicklung im Sinne einer dauernden Adaptation an neue Wirklichkeiten ausgeschlossen sind - unerkannt weiterhin ihren Einfluss auf aktuelles Denken, Fühlen und Handeln aus. Tutte (2004) spricht von der „archaischen Dimension", Hartke (2005) von der Alpha-Funktion (Bion) der determinierenden frühinfantilen Traumatisierungen. Solche Traumatisierungen sind daher oft eine wichtige, unbewusste Quelle inadäquaten Verhaltens. Folglich ist das Entschlüsseln solcher in der Gegenwart unverständlicher Reaktionen unverzichtbar, um das unerkannte Bestimmtwerden der Gegenwart durch die traumatische Vergangenheit zu durchbrechen (Genaueres dazu: vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber, 2006; Leuzinger-Bohleber, Roth u. Buchheim, 2008).
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2.2 Embodied Erinnerungen an traumatische Erfahrungen einer schweren Polioerkrankung - eine unerkannte Quelle persistierender Symptome in zwei Psychoanalysen Die meisten Analytiker, die der Relativierung der Bedeutung real erlittener Traumatisierungen für den psychoanalytischen Prozess widersprachen, stützten sich auf klinische Erfahrungen mit Opfern der Shoah (vgl. u. a. Bergmann, Jucovy u. Kestenberg, 1982; Cournut, 1988; Faimberg, 1987; Keilson, 1979; Krystal, 1968). Ich möchte hier die Vermutung thematisieren, dass diese Thematik auch für eine andere Gruppe traumatisierter Patienten entscheidend ist, nämlich Patienten mit gravierenden körperlichen Krankheiten in den ersten Lebensjahren, ein nicht sehr häufig diskutiertes Problem in der neueren psychoanalytischen Literatur. Ich habe im Rahmen der DPV-Katamnesestudie vier Patienten interviewt, die als Kinder eine schwere Polioerkrankung erlitten hatten. Alle vier beklagten sich, dass die Polioerkrankung in ihren Behandlungen nicht genügend bearbeitet worden sei. Vor einigen Jahren begann eine Patientin - über zwanzig Jahre nach zwei abgeschlossenen und soweit gut verlaufenen Psychoanalysen - bei mir eine dritte Psychoanalyse. Es stellte sich heraus, dass ihre Polioerkrankung - als traumatische Erfahrung mit unbewussten Langzeitwirkungen - weitgehend unbearbeitet geblieben war und sich als wesentliche Quelle immer noch bestehender, massiver Konflikte der Patientin herausstellte. - Wie wir im Laufe der Behandlung vermuteten, hatten sich weder die Patientin noch ihre beiden Analytiker für die neurologisch-medizinische Seite der Polioerkrankung und möglicher Langzeitfolgen interessiert. Es zeigte sich eindrücklich, dass das fehlende neurologische und neurobiologische Wissen die analytische Arbeit in bestimmte, und meines Erachtens nach, vermeidbare Grenzen verwiesen hatte. Vielleicht erscheint das Thema Polioerkrankung als zu spezifisch, um das generellere Thema des Fortwirkens körperlicher Traumatisierungen zu diskutieren. Allerdings wurde erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt, dass das sogenannte Post-Polio-
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Syndrom (PPS), beziehungsweise das vermutlich damit verbundene Chronigue-Fatigue-Syndrom (vgl. u. a. Colby, 2004), Jahrzehnte nach der akuten Polioerkrankung auftauchen kann und viel verbreiteter ist, als bisher angenommen. Daher kann diese Problematik durchaus heutige Patienten in Behandlungen betreffen. Zudem denke ich, dass wir analoge Abwehr- und Verleugnungsprozesse der Bedeutung von Traumatisierungen, die durch schwere körperliche Krankheiten mit neurologischen Befunden auch bei Patienten finden und psychoanalytisch bearbeiten sollten, die in ihren ersten Lebensjahren andere, extrem schmerzhafte und lebensbedrohliche Krankheiten überstanden haben. Wie entdeckten wir die Embodied
Memories
an die Polioer-
krankung in der Analyse von Frau B. ? Ich kann in diesem Rahmen nur einige Beispiele herausgreifen und auf die ausführlichere Arbeit dazu verweisen (Leuzinger-Bohleber, 2008): „ P l ö t z l i c h ist alles a n d e r s . . . " D i s s o z i a t i o n u n d T r a u m a Die Motivation, nochmals ein Stück Analyse zu suchen, waren vor allem die plötzlichen Zusammenbrüche von Frau B., in denen Frau B. von heftigster Todesangst, Verzweiflung, Schmerz und Panik überflutet wurde, außer sich geriet und meist ihren Ehemann attackierte - eine erschreckende Erfahrung für beide Ehepartner, die nun auch ihre Ehe bedrohte. Diese „Zusammenbrüche" waren trotz der beiden soweit erfolgreichen Analysen nicht verschwunden. Auslöser dafür war immer ein völlig unerwartetes Verhalten ihres Ehemanns, in einer Situation, „in der ich mich sehr entspannt fühle und nichts Schlimmes befürchte". Die Polioerkrankung ereilte die kleine Beatrice inmitten des Sommerurlaubs. Sie erinnert sich, wie sie mit ihrem Cousin im Garten spielte, entspannt und glücklich, auch weil der behinderte Bruder im Austausch mit diesem gleichaltrigen, gesunden Cousin bei dessen Familie in Ferien weilte: Plötzlich fühlte sie sich extrem unwohl, musst fürchterlich erbrechen. „Ich fühlte mich von einem Moment auf den anderen absolut elend - der ganze Körper tat mir weh, besonders mein Kopf." Die Mutter erzählte ihr, dass sie hohes Fieber bekam mit Schüttelfrost. Sie schrie vor
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Schmerz und ließ sich von niemandem anfassen, „weil jede Berührung w e h t a t . . . " Frau B. erlebt in ihren „Zusammenbrüchen" einen heftigen Ganzkörperschmerz: „Mein gesamter Körper ist eine einzige Wunde - alles tut mir weh - ein furchtbarer Zustand, den ich nur noch beenden will". Sie erträgt es auch stundenlang nicht, von ihrem Ehemann körperlich berührt zu werden, sondern tobt und attackiert ihn „vor allem, um irgendetwas zu tun und diese fürchterlichen körperlichen und seelischen Schmerzen nicht mehr aushalten zu müssen ..." Uns scheint wahrscheinlich, dass es sich bei diesen Zuständen um Embodied Erinnerungen handelt: die auslösende Erfahrung des „Plötzlichen", „Unerwarteten", des „abrupten Rückzugs des Ehemannes in einer vertrauensvollen Situation", die Erfahrung, „dass von einem Moment zum anderen alles anders ist", als auch der unerträgliche Ganzkörperschmerz weisen eine auffallende Analogie zu dem Beginn der Polioerkrankung auf. Die aktuellen Sinneswahrnehmungen (wenn ihr Mann sich abrupt und völlig unerwartet abwendet und sich in ihrer Wahrnehmung plötzlich verändert) koordinieren sensomotorische Stimuli in analoger Weise wie in der eben beschriebenen traumatischen Situation und konstruieren (selbstverständlich unbewusst) körperliche Erinnerungen daran. Vermutlich hatte der absolut unerwartete, plötzliche Einbruch der Polio mit ihren heftigen körperlichen Schmerzzuständen auch die Wahrnehmung ihrer Bezugspersonen - sowie der Realität um sie herum (Sonnenschein im Garten etc.) - „total verändert".
„Die Katastrophe - Todesangst und Panik" Eine der wenigen bewussten Erinnerungen an die Polioerkrankung ist die folgende: Frau B. liegt im dunklen Zimmer, allein friedlich und wünscht sich, der liebe Gott möge sie zu sich in den Himmel holen ... Frau B. empfindet in dieser Szene keine körperlichen Schmerzen: Sie liegt ganz ruhig. Das Bild des friedlichen Alleinseins und der „kindliche Wunsch, der liebe Gott möge sie zu sich holen" scheint uns Ausdruck einer massiven Verleugnung der extremen körperlichen Schmerzen, der bei der akuten Polio jede Körperbewegung begleitet, sowie eine Ver-
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leugnung der Wahrnehmung des Gelähmtseins und der massiven Todesangst. Als Parallele zwischen dieser Situation und dem Enactment verstehen wir schließlich, dass Frau B. in ihren „Zuständen" versucht, sich in einer Ecke des Zimmers - in eine paralysierte, zusammengekauerte Position zu bringen, sich nicht mehr zu bewegen, um die unerträglichen Affektstürme, die Panik und den Ganzkörperschmerz „einzufrieren". Oft gelingt es ihr nach Stunden einen solchen Zustand der bewegungslosen Ruhe, der Schmerzfreiheit beziehungsweise der „Lähmung der Affekte" zu erzielen, was für sie eine enorme Erleichterung auslöst. Erst wenn sie sich selbst auf diese Weise in einen affektiven Ruhezustand bringen konnte, kann sie ertragen, dass ihr Ehemann sie körperlich anfassen und „erlösen" kann. Auch hier scheint sie eine Embodied Erinnerung zu produzieren, ein Versuch, die Überflutung mit unerträglichem Schmerz und heftigsten Affekten dadurch zu bewältigen, dass „sie sich still stellt". Ansatzweise werden die eben skizzierten Affektstürme und Schmerzzustände auch in den analytischen Sitzungen direkt beobachtbar: Plötzlich wird (bei bestimmten Körperwahrnehmungen) Frau B. von heftigster Angst und körperlichem Schmerz überflutet, sodass sie unvermittelt von der Couch aufspringen muss, um sich zu bewegen und aus der Passivität und vor der auftauchenden Panik und unerträglichem Schmerz zu flüchten.
„Am erträglichsten ist es, wenn ich allein bin . . . " In den Zusammenbrüchen attackiert Frau B. ihren Ehemann massiv und schickt ihn weg - sie kann seine körperliche Anwesenheit und vor allem „sein wütend-ratlos-ängstliches Gesicht" nicht ertragen, obschon sie gleichzeitig panisch reagiert, wenn er die Wohnung verlässt. Ein weiteres Detail der eben geschilderten Erinnerung im dunklen Zimmer scheint uns ein Schlüssel zum Verständnis dieses Teils des Enactments zu bieten. Frau B. erinnert sich an das panische Gesicht ihrer Mutter. Sie in diesem Zustand anzuschauen, war möglicherweise für sie weit unerträglicher, als allein im dunklen Zimmer zu liegen. Vermutlich konnte die Mutter die Angst, ihr Kind könnte sterben oder mit einer noch schlim-
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meren Behinderung als der ältere Sohn überleben, kaum containen und teilte sie nonverbal dem kranken Kind mit. Jahrelang erzählte sie Frau B. immer und immer wieder, wie viele Kinder während der Epidemie in dem Dorf gestorben seien. Sie nahm Beatrice oft mit, wenn sie samstags Blumen auf die Gräber der „Poliokinder" stellte. Frau B. erinnert sich, wie sie sich vorstellte, selbst in einem dieser Gräber zu liegen. In der analytischen Arbeit vermuten wir, dass sich Frau B. mit dem fantasierten (oder möglicherweise realen) Todeswunsch ihrer Mutter in dieser Situation identifiziert hat, vermutlich ein weiterer Aspekt ihrer späteren Suizidalität. Jedenfalls entwickelte sie eine zentrale unbewusste Wahrheit, dass sie, wenn sie krank und bedürftig ist, eine so schwere Belastung für Andere darstellt, dass sie dies verbergen und „sich selbst heilen muss". Wir vermuten in dieser „unbewussten Wahrheit" einen Kern der abgrundtiefen Einsamkeit von Frau B. - nur ihr Mann, ein hoch geliebtes Kind einer körperlich kranken Mutter, konnte sie immer wieder in ihrer Einsamkeit emotional erreichen. Wir vermuten, dass der „erlösende Körperkontakt", der sie schließlich jeweils aus ihren „Zuständen herausholen kann", ebenfalls mit Embodied Memories verbunden ist. Der Vater setzte sich abends jeweils an ihr Bett und hielt ihre Hand - für sie eine wohltuende (vielleicht sogar psychologisch „lebensrettende") Erinnerung. Vermutlich konnte er seine eigenen Ängste um das Kind eher kontrollieren als die Mutter und daher der kranken Tochter eine hoffnungsvollere, positive Körpererfahrung vermitteln. - Frau B. versteht aufgrund dieser Rekonstruktionen besser, warum sie der einfühlsame Analytiker in der zweiten Behandlung aus der schweren suizidalen Krise herausführen konnte: Sie knüpfte vermutlich unbewusst an solche guten Objektbeziehungserfahrungen mit ihrem Vater an. Verleugnung des Schreckens, die Flucht in die Gesundheit als „Sonnenscheinkind" In eindrücklicher Weise wird nun deutlich, wie sehr sich Beatrice nach dem Überstehen der lebensbedrohlichen Krankheit in die Gesundheit flüchtete und den erlittenen Schrecken in ein besonderes „Glücks-Schicksal" umdeutete. Vermutlich erhielt sie
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auch von ihren Eltern kaum Unterstützung bei der Verarbeitung der erlittenen Traumatisierungen. Beide waren verständlicherweise froh und erleichtert, wieder ein gesundes, unkompliziertes und begabtes Kind zu haben. Unbewusst erlebte Beatrice sich als vom Schicksal positiv Ausgewählte, Auserkorene, die dank ihrer besonderen Begabung oder des besonderen Geliebtwerdens „vom lieben Gott" nun die existenzielle Verpflichtung aufgetragen bekam, als „Sonnenscheinkind" für Andere, besonders für Behinderte wie ihren Bruder, da zu sein. Sie entwickelte sich zu einer „altruistischen Persönlichkeit". Allerdings blieb das erlittene Trauma unbewusst dauernd gegenwärtig, in ihrem Grundgefühl, allein und einsam zu sein, keine eigene Existenz zu verdienen, sondern nur als „siamesischer Zwilling eines Behinderten" eine Lebensberechtigung zu haben. Die schweren Depressionen und Erschöpfungszustände der Spätadoleszenz schienen unter anderem mit dem abgewehrten und nicht verarbeiteten Schrecken des Traumas in Verbindung zu stehen. Die magische Fantasie der Schuld am Schicksal Frau B. erlebte, vor allem nachts, oft massive Schuldgefühlattacken, die eine fast psychotische Qualität zu haben schienen. Anhand von Träumen wird eine Quelle der archaischen Schuldgefühlproblematik verständlicher: Vermutlich hatte sich Beatrice - den ödipalen und magischen Fantasien ihrer Entwicklungsphase entsprechend - selbst die Schuld für ihre Erkrankung gegeben. Diese unbewussten Überzeugungen vermischten sich mit Schuldgefühlen wegen übermäßig stimulierten sadistischen Fantasien ihrem älteren, behinderten Bruder gegenüber und blieben, trotz ihrer Bearbeitung in der ersten Psychoanalyse, ein „wunder Punkt in meiner Seele". Unbewusste Körperfantasien Ein infantiler Wiederholungstraum von Frau B. während ihrer Grundschulzeit war, dass sich eine riesige Python im Haus versteckt, plötzlich die Treppe heruntergleitet und sie umschlingt. Sie wacht in Panik auf, weil ihr die Schlange die Luft abdrückt und sie glaubt, gleich zu ersticken. - Vermutlich hatten sich während der Polioerkrankung altersgemäße ödipale, sexuelle Fantasien
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verbunden mit einer magischen Verarbeitung der Atembeschwerden. Andere Versionen des Angsttraums drehten sich um Giftschlangen: Das Gift zerstöre den Körper von innen - auch dies möglicherweise eine Verarbeitung oraler Fantasien im Zusammenhang mit der Polio (vgl. dazu auch Falldarstellung von Bierman, Silverstein u. Finesinger, 1958). Frau B. erzählt, dass unbewusste Körperfantasien in der zweiten Analyse eine große Rolle spielten, ausgelöst durch die Schwangerschaft. „Dass ich eine so leichte Geburt hatte und meinen Körper in neuer Weise als gesund und funktionsfähig erlebte, hat wohl auch mit der wichtigen Bearbeitung meiner Ängste in meiner Psychoanalyse zu tun, etwas Destruktives könnte in meinem Körper verborgen sein." Allerdings wurde offenbar damals der Zusammenhang zur Polioerkrankung nicht explizit hergestellt. In unserer psychoanalytischen Arbeit stießen wir noch auf weitere Körperfantasien: Das Überleben der Polio schrieb Beatrice vermutlich auch ihrem „ganz besonderen Körper" zu, einem Körper, der eine tödliche Krankheit besiegen konnte und daher unsterblich, unverletzbar und ohne Grenzen ist. - Diese Körperfantasien lagen vermutlich auch der beschriebenen auffallenden Dissimulation körperlicher Zustände zugrunde oder ihrem auffallenden kontraphobischem Verhalten (Frau B. hatte sich z. B. in der Adoleszenz trotz ihres extremen Frierens und ihrem zierlichen Körperbau zur Rettungsschwimmerin ausbilden lassen! - vgl. dazu auch Jacobson, 1959). Das Gefühl, nicht so richtig in dieser Welt verankert zu sein Verschiedene psychoanalytische Traumaforscher haben beschrieben, dass schwer Traumatisierte psychisch aus der Realität herausgeworfen werden und nie wieder wirklich Grund unter ihre Füße gewinnen. Sie leben - isoliert von nahen Bezugspersonen - in einer anderen Wirklichkeit und haben ein Grundgefühl, „nie mehr so richtig in dieser Welt verankert zu sein". Die traumatische Erfahrung zerstört durch ihre unerträgliche Qualität und die Erfahrung extremer Ohnmacht und Hilflosigkeit das Urvertrauen in sich selbst, aber auch in ein helfendes, gutes Objekt. So schreibt Cooper (1986) „Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl
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der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass diese droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation" (S. 44; vgl. dazu auch Bohleber, 2000a, 2000b). Frau B. erkannte sich in solchen Schilderungen wieder. Vor allem in ihrer beruflichen Tätigkeit und in der Öffentlichkeit, fühlte sie sich meist „irgendwie neben mir. Ich funktioniere bestens, aber komme mir manchmal vor wie eine Art Roboter, nicht so richtig am Leben, und vor allem eigentlich total allein. Ich bin überzeugt, dass mir niemand hilft, wenn ich in Not bin. Ich muss das Ganze allein stemmen . . . " Möglicherweise gingen in die existenzielle Angst eines plötzlichen Verlusts der körperlichen Integrität und des ungebrochenen Vertrauens in schützende Objekte zudem frühere Traumatisierungen mit ein, zum Beispiel im Zusammenhang mit einer weiteren hirnorganischen Traumatisierung im vierten Lebensmonat. So milderten sich beispielsweise durch die Einsichten in die Embodied Memories im Zusammenhang mit der Polioerkrankung die schweren Schlafstörungen von Frau B., doch blieb sie weiterhin eine störungsanfällige Schläferin und reagierte weiterhin übersensibel auf Außenreize. Die Integration des Traumas und ihre therapeutische Wirkung Die Auseinandersetzungen mit den Embodied Memories dauerten Monate und waren gekennzeichnet durch einen dauernden Kampf mit erneuten Verleugnungen und dem Wunsch, die alte, manisch anmutende, kontraphobische Abwehr des erlittenen Schreckens wieder aufzurichten. Immer und immer wieder setzten Fluchtbewegungen ein, bis hin zu dem Gedanken, die Tranche Analyse vorzeitig zu beenden. Aus meiner Sicht erwies es sich als günstig, dass ich, ohne dass Frau B. dies wusste, selbst als Kind eine Polioerkrankung erlebt hatte und daher die traumatischen Erfahrungen mindestens ansatzweise nachvollziehen konnte. Aufgrund meiner eigenen analytischen Erfahrungen war mir daher die Versuchung, immer wieder das Trauma zu verleugnen, um dem erlittenen Schrecken nicht ins Auge schauen zu
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müssen, sehr bekannt. Eine weitere technische Schwierigkeit in Psychoanalysen mit schwer traumatisierten Patienten besteht, wie wir inzwischen wissen, durch eine schlecht dosierte Reaktivierung der traumatischen Erfahrungen in der analytischen Beziehung eine Re-traumatisierung zu riskieren. - Viele psychoanalytische Autoren haben beschrieben, dass eine solche Dosierung zu den Hauptschwierigkeiten im analytischen Prozess mit schwer traumatisierten Patienten gehört. Diesen Schwierigkeiten produktiv zu begegnen, ist gebunden an eine dauernde Bearbeitung von schwierigen Gegenübertragungsgefühlen, was oft nicht ohne Supervision zu leisten ist. Trotz aller Abwehrbewegungen kam es zu einer allmählichen vermehrten Integration des Traumas, was sich vor allem in einer Veränderung des Kernselbstgefühls von Frau B. manifestierte. Sie erlebte sich im Alltag ängstlicher, vorsichtiger und weniger ungebrochen leistungsfähig, was sie zuerst einmal als Bedrohung und als einen Verlust narzisstischer Befriedigungen erlebte. Sie fühlte sich vermehrt abhängig vom Gespräch mit anderen und ihrer Unterstützung bei der Lösung anstehender Probleme. Gleichzeitig stellte sich allmählich mehr Vertrauen in Andere ein, ein Grundgefühl des Verbundenseins, der geteilten Verantwortung, für sie eine völlig neue Erlebnisweise. Wichtig für sie war zudem, dass sie ihren Körper, vor allem Müdigkeitsreaktionen besser spüren und diesen Signalen Beachtung schenken konnte, vermutlich ein wesentlicher Grund, dass sich ihre chronischen Erschöpfungsgefühle milderten. Am wichtigsten war aber für sie, dass es kaum noch zu „Abstürzen" in den beschriebenen Beziehungskonflikten kam. „Für meinen Mann und mich ist es sehr wichtig, dass wir besser verstehen, was diese Abbrüche bedeuten und wodurch sie ausgelöst werden. Meist kann ich wahrnehmen, wenn die Panik auftaucht und dann meinen Mann direkt fragen, ob und warum er sich emotional zurückzieht. Ich bin zwar in solchen Situationen immer noch massiv geängstigt und habe mit Katastrophenerwartungen zu tun, aber ich stürze nicht mehr völlig ab ... Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie erleichtert ich darüber bin . . . " Frau B. schildert in eindrücklicher Weise, wie die Annäherung an ihr erlittenes Trauma zu einem veränderten Selbst- und Le-
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bensgefühl führte: „Es ist komisch, die Wahrnehmung meiner fragilen Seite, der Todesangst und der Furcht, irgendetwas Schlimmes könnte plötzlich über uns hereinbrechen, ist nun eigentlich dauernd psychisch präsent. Dies macht mich nachdenklicher und .weniger strahlend'." In vielen analytischen Sitzungen ist Frau B. mit ihrer Trauer beschäftigt: „Wie viel Leid hätte ich mir, meinem Mann und leider wahrscheinlich auch unseren Kindern erspart, wenn ich früher den Mut aufgebracht hätte, genauer hinzuschauen, statt ständig innerlich auf der Flucht zu sein, überzeugt, dass mich jederzeit eine Katastrophe einholen kann ..." Vorwürfe an ihre beiden Analytiker tauchen auf. Sie werden zuweilen in großer Klarheit, ja sogar Härte formuliert, allerdings ohne dadurch die Dankbarkeit zu zerstören, dass ihre beide Psychoanalysen, trotz ihrer Grenzen, viele Tore für ihre Lebensgestaltung aufgestoßen haben.
3 Abschließende Bemerkungen Zentriert um Erkenntnisse aus der dritten Psychoanalyse mit Frau B. versuchte ich in diesem Beitrag die These zu erhärten, dass sich sowohl ein Durcharbeiten der traumatischen Erfahrung in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker als auch eine genaue Rekonstruktion der biografisch-historischen Realität der erlittenen Traumatisierung als unverzichtbar für eine dauerhafte strukturelle Veränderung von schwer traumatisierten Patienten erweist. Diese These wurde vor allem durch psychoanalytische Traumaforscher, die mit Überlebenden der Shoah gearbeitet hatten, vertreten. Wir selbst sind auch durch die systematische Nachuntersuchung von Psychoanalyse und Langzeittherapiepatienten auf ähnliche Einsichten gestoßen, besonders durch Äußerungen schwer traumatisierter Kleinkinder im Zweiten Weltkrieg (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2006). In diesem Beitrag wurde eine analoge These bezogen auf Patientinnen und Patienten vertreten, die in ihren ersten Lebensjahren an einer schweren körperlichen Krankheit (mit massiven Schmerzen, Lebensgefahr etc.) gelitten und sie, wie Frau B., zuweilen ohne sichtbare kör-
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perliche Folgen überlebt hatten. Wie ich anhand des klinischen Materials zu illustrieren versuchte, war die traumatische Erfahrung als unerkannte Quelle in das Kernidentitätsgefühl von Frau B. eingegangen und hatte ihre Persönlichkeitsentwicklung weitgehend bestimmt: Überzeugt, von einer „göttlichen Macht" als „Auserwählte" auserkoren zu sein, war sie bestimmt von der unbewussten Überzeugung, in einer schwer fassbaren, „ewigen Schuld als Begünstigte des Schicksals" zu stehen. Als Individuum stand ihr kein eigenes Lebensrecht zu: Ihr „nicht behindertes" Überleben schien die Verpflichtung mit sich zu bringen, als „siamesischer psychischer Zwilling" des behinderten Bruders für dessen Lebensglück verantwortlich zu sein, ja sogar sein Leid lindern oder heilen zu können. Der Suizid dieses Bruders führte zu einem schweren psychischen Zusammenbruch in der Spätadoleszenz, auch weil dadurch die unbewusste narzisstische Retterfantasie, und damit eine der zentralen Lebensquellen von Frau B., in sich zusammenbrach. Dank einer ersten Psychoanalyse, in der diese unbewussten Fantasien sowie die fantasierte Schuld am Tod des Bruders (u. a. stimuliert durch verbotene sadistische Impulse und Fantasien), durchgearbeitet werden konnte, fand Frau B. aus der schweren Depression heraus und konnte ihr Studium erfolgreich beenden. Allerdings blieben weitere Folgen der Traumatisierung vorwiegend unerkannt und beeinflussten nicht nur die Berufs- und Partnerwahl von Frau B., sondern auch ihr basales Lebensgefühl sowie ihren lieblosen, ja sogar destruktiven Umgang mit dem eigenen Körper, unter anderem bedingt durch eine chronische Verleugnung des Realitätsprinzips (Freud, 1915). - In einer zweiten Psychoanalyse erfolgte eine erste Annäherung an das Trauma der Polioerkrankung: Die ständig körperliche Überforderung, bedingt durch die massive Angst vor Passivität, sowie die vertiefte Analyse ihrer Überlebensschuldgefühle ermöglichten ihr einen adäquateren Umgang mit ihrem Körper, der sie, angesichts der neueren Erkenntnisse zum Post-Polio-Syndrom, womöglich vor schweren gesundheitlichen Schädigungen zu schützen vermochte. Entscheidend war für Frau B. aber vor allem, dass sie sich aus einer pathologischen, aufopfernden Partnerbeziehung herauslösen und sich einer neuen, auch sexuell befriedigenden Partnerschaft
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zuwenden konnte. Schwangerschaft und Geburt erlebte sie als existenziell neue Erfahrung mit ihrem weiblichen Körper, den Alltag mit ihren Kleinkindern als große Chance, „in der Gegenwart zu leben". Beide Psychoanalysen fanden in der Spätadoleszenz statt und ermöglichten Frau B. korrigierende Weichenstellungen in ihrer beruflichen, persönlichen und sexuellen Identitätsfindung. Ihrer Einschätzung nach wäre ihr Leben ohne die beiden Behandlungen völlig anders verlaufen. Daher empfindet sie beiden Analytikern gegenüber eine große Dankbarkeit. Allerdings zeigte sich in der dritten Psychoanalyse, dass ihre Angst, beziehungsweise unbewusste Überzeugung, am Rande eines Abgrundes zu leben und jederzeit möglicherweise von einer unerwarteten Katastrophe getroffen zu werden, ihre archaische Schuldgefühlsproblematik, ihr irreales Lebensgefühl sowie ihre „psychotischen Zusammenbrüche" nicht, wie sie nach dem Abschluss der zweiten Psychoanalyse dachte, Manifestationen einer „unbehandelbaren Frühstörung" sind, sondern mit der Verleugnung und massiven Abwehr der erlittenen Traumatisierungen im Zusammenhang standen. Wir vermuten, dass die beiden Psychoanalytiker die Flucht vor der überflutenden Erinnerung an Todesangst, Panik und unerträglichen körperlichen Schmerz und die damit verbundene Verleugnung des erlittenen Traumas nicht genügend gut erkannt hatten. In Psychoanalysen mit schwer Traumatisierten besteht immer die Gefahr, dass sich Analytiker und Analysand unbewusst auf eine Abwehr des Schreckens der Traumata einigen und dadurch eine Wiederbelebung der damit verbundenen unerträglichen Emotionen und Körperempfindungen in der analytischen Beziehung vermeiden. Ich konnte in diesem Rahmen nur andeuten, dass es während der ganzen dritten Psychoanalyse um einen Kampf um die Erinnerung des Traumas in der Übertragung ging. Auch ich erlebte in der Gegenübertragung den wiederkehrenden Wunsch, nicht genau hinzuschauen, das Trauma (z. B. im Vergleich mit Extremtraumatisierten der Schoah) zu bagatellisieren, die technisch einleuchtende Überlegung der Gefahr einer Re-Traumatisierung als eigene Abwehr zu benutzen. - Immer wieder kam mir der Gedanke, dass es Frau B. vor über 20 Jahren aufgrund der noch instabilen Persönlichkeitsstruktur in der Spätadoleszenz
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nicht möglich gewesen wäre, sich mit dem erlittenen Trauma und der enormen Prägung ihres Charakters durch dieses Lebensereignis produktiv auseinanderzusetzen. Ist dies Ausdruck meines Wunsches, meine beiden Kollegen vor der deutlichen und sogar harten Kritik von Frau B. in Schutz zu nehmen? Frau B. sagte unter anderem: „Mir selbst, meinem Mann und leider auch meinen Kindern wäre so viel Leid erspart geblieben, wenn ich früher den Mut gehabt hätte, genau hinzuschauen . . . Warum haben mich meine beiden ersten Analytiker nicht adäquater dabei unterstützen können?" Ich hoffe durch diese Mitteilung meiner Analysandin, zu einer vermehrten Diskussion der Behandlungstechnik bei körperlich traumatisierten Patienten beizutragen. Mir scheinen noch viele Fragen offen. Zum Beispiel liegen meiner Kenntnis nach noch wenige psychoanalytische Arbeiten vor, die das Spezifische verschiedener Traumatisierungen und deren Auswirkungen zu fassen versuchen. Verglichen mit Opfer von Man-Made-Disastern scheint mir zum Beispiel möglich, dass körperlich traumatisierte Patienten und Patientinnen wie Frau B. andere unbewusste Fantasien entwickeln, mit denen sie ihr Überleben zu
erklären
versuchten. Bei Frau B. schienen sich diese Fantasien auf ein Topos des „Auserwählten", vom „Schicksal Begünstigten", aber auch auf exklusive Körperfantasien zu richten. Die beschriebene Dissimulation körperlicher Beschwerden war auch durch die „unbewusste Wahrheit" gespeist: „Mein Körper hat schon mal überlebt. Er ist etwas ganz Besonderes, stark, unverletzbar, ohne Grenzen und nicht totzukriegen . . . ! " Diese unbewussten Fantasien könnten auch in die von Freud (1915) beschriebenen Schwierigkeiten der „Auserwählten" eingehen, das Realitätsprinzip wirklich anzuerkennen (vgl. Jacobson, 1959). Weiterer Diskussionsbedarf besteht weiterhin in der Beziehung zwischen narrativer
und historisch-biografischer
Wahrheit in
Psychoanalysen. Wie ich hoffentlich illustrieren konnte, bleibt die klinische Erfahrung unbestritten, dass eine intellektuelle Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Erlebnisse keine therapeutischen Veränderungen bewirkt. Erst das genaue Entschlüsseln des Enactments in der therapeutischen Beziehung, beziehungsweise in Intimbeziehungen (wie den „Abstürzen" von Frau B.) unter Ein-
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beziehung der intensiven, meist kaum erträglichen affektiven Reaktionen, erzielt eine verändernde Wirkung. Ohne die Holding Function der Analytikerin und die verstehend, einfühlende Interaktion mit ihr, hätte sich Frau B. den Schrecken der traumatischen Erfahrung nicht annähern und daher diese auch nicht ansatzweise verstehen und psychisch integrieren können. Wie ich Bezug nehmend auf das Konzept des Embodied Memory zu diskutieren versuchte, ist im Körper das Trauma eingeschrieben und in sensomotorischen Koordinationen in aktuellen Interaktionen mit einem „Bedeutungsvollen Anderen" erkennbar. Diese sensomotorischen Koordinationen sind daher ein Schlüssel für die Erinnerung an das Trauma. Sie führen allerdings vorerst meist zu einer ausschließlich körperlichen Erinnerung, die mit heftigen Affekten und Empfindungen, aber nicht mit Visualisierungen oder Verbalisierungen verbunden ist. Diese extremen, bizarren und der aktuellen Situation in hohem Maße inadäquaten Körperreaktionen mit Bildern, Affekten und schließlich mit sprachlichen Beschreibungen zu verbinden, also zu symbolisieren und zu mentalisieren, ist und bleibt das Hauptanliegen einer psychoanalytischen Behandlung von körperlich traumatisierten Patienten. So hoffe ich illustriert zu haben, dass das auf dem Dialog mit den Neurowissenschaften in der Cognitive Science entwickeltes Konzept des Embodied Memory sich auch in der klinischen Praxis als hilfreich erweisen kann, bestimmte Phänomene in der psychoanalytischen Situation beziehungsweise bestimmte Symptome, Fantasien und Konflikte unserer Patienten - dank einer dritten, triangulierenden Perspektive, vertiefend zu verstehen. Allerdings diente mir das Beispiel der Verwerfung der Bedeutung der biografisch-historischen Wahrheit aufgrund einer schnellen und unkritischen Übertragung eines Befundes aus der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung gleichzeitig dazu, einige Gefahren bei diesem faszinierenden, aber anspruchsvollen Dialog anzudeuten. Daher scheint mir persönlich eine Reflexion der wissenschaftstheoretischen und -methodischen Dimensionen dieses Diskurses unverzichtbar, vor allem um nicht einer Idealisierung des Fremden, das heißt der Neurowissenschaften, als einer neuen Leit- oder Metawissenschaft anheimzufallen.
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Demenzielle Veränderungen aus der Sicht der Psychoanalyse Psychodynamische Überlegungen zur Differenzialdiagnostik demenzieller Prozesse
Einführung: „Ich habe einen Konflikt" Herr S., ein hochgewachsener, schlanker, älterer Herr von vitaler und sportlicher Erscheinung eröffnete das Erstgespräch mit mir, indem er über Depressionen klagt. Er präzisierte: „Ich stehe vor einem großen Konflikt". Er sagt, er sei pensioniert, 70 Jahre alt, und habe sich bei seiner interessanten Arbeit (er sagt nicht „Beschäftigung") - einer Friedensinitiative - in eine Frau verliebt. Nun stehe er zwischen seiner Ehefrau und dieser jüngeren Frau und könne sich zwischen beiden nicht entscheiden. Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass er sein ganzes Leben über eine Art Einzelgängerdasein geführt hat. Er hat zwar geheiratet und zwei Töchter, habe sich aber den Aufgaben als Familienvater nie wirklich gewachsen gefühlt. Früher sei er in den Ferien oft mit seinem Fahrrad allein unterwegs gewesen, er sei an der Ostsee, in Skandinavien oder sogar bis nach Russland geradelt. Seine Frau sei aus finanziellen Gründen bei den Kindern zu Hause geblieben. Ich erfahre weiter, dass er schon einige Gespräche bei einem „Männertherapeuten" gehabt hat. Dass dieser ihn eindringlich aufgefordert habe, sich gegenüber seiner Frau besser durchzusetzen, habe er ihm sehr geholfen. Bis zu diesem Punkt im Gespräch überwog meinEindruck von einem narzisstischen Mann, der sich schon immer mit Kontakten schwer tat. Vermutlich reagierte er auf die vom Alternsprozess angegriffenen und geschwächten Omnipotenzgefühle mit einer depressiven Verstimmung und versucht diese mit Fantasien über einen Neuanfang zu restituieren. Ein wenig zu rasch hatte ich die
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Gabriele Junkers
Idee, ihm eine Psychotherapie oder gar Psychoanalyse anzubieten; denn ich hatte bereits mit anderen Patienten in fortgeschrittenem Alter erfolgreich gearbeitet. Aber es gab auch etwas, was mich auch zögern ließ. Wie Herr S. mir gegenübersaß, den Kopf auf die Finger gestützt mich eindringlich mit großen Augen anschauend, hatte ich den Eindruck, als würde der Kontakt zwischen uns plötzlich abreißen. Indem ich diesem Gedanken nachspürte, möchte ich präzisieren, dass es nicht nur um den Kontakt zwischen uns, sondern mehr noch um die Verbindung zu dem geht, was er gerade gesagt hatte. Es ist, als hatte er das eben Geäußerte im nächsten Moment vergessen, als hatte er die innere Beziehung zu sich selbst verloren. Diese plötzlichen Pausen empfand ich als sehr unangenehm: Ich fühlte mich wie in einem schallisolierten Raum, einsam und allein gelassen. Gleichzeitig fühlte ich mich auch von diesem wie verloren wirkenden Mann angerührt und aufgefordert, ihm zu helfen. Erst jetzt fielen mir seine unwillkürlichen Mundbewegungen auf. Waren diese als Nebenwirkungen längerer NeuroleptikaEinnahme zu interpretieren? Meine Frage, ob er mit seinen Problemen schon einmal einen Nervenfacharzt aufgesucht habe, bejahte er sofort: Ab und zu bekäme er Spritzen eines Depot Neuroleptikums. Ich frage ihn nach der Qualität seiner depressiven Gefühlen und wann am Tag er darunter besonders leide. Nie morgens, sondern immer erst am Nachmittag setzten die beschriebenen Verstimmungen ein. Diese Information lässt mich aufgrund meiner gerontopsychiatrischen und auch psychoanalytischen Erfahrung mit depressiven Patienten eher an eine durch körperliche Erschöpfung verursachte Verstimmung als an eine neurotisch bedingte denken. Ich erklärte ihm als Grund meiner Nachfrage, dass verschiedene mögliche Ursachen der Depression in Erwägung zu ziehen seien. Er wirkte plötzlich erleichtert und schlug mir von sich aus vor, seinen Psychiater um ein Gespräch mit mir zu bitten. Im Gespräch mit seinem Arzt erläuterte ich diesem meine Eindrücke. Er bestätigte mir daraufhin, dass ausgeprägte Anzeichen von Arteriosklerose diagnostiziert worden seien und verbreitet Plaques im Computertomogramm nachweisbar sind. Er habe zunächst mit einer Ginkgo-Therapie begonnen, erwäge
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aber jetzt, die Entwicklung einer Alzheimererkrankung mit Hilfe einer gezielteren medikamentösen Therapie anzugehen. Mit dieser kurzen Vignette möchte ich auf meine Überlegungen zur gegenseitigen Beeinflussung von organischer, demenzieller Störung und psychopathologischer Symptomatik einstimmen. Natürlich fielen mir zu der geschilderten Gegenübertragung sogleich Bions „Angriffe auf Verbindungen (attacks on linking)" ein, auf deren Hintergrund diese „Leerstellen" als eine Art destruktive Veränderung des Denkprozesses auf der Grundlage einer narzisstischen Pathologie zu verstehen wären. Aber es tauchten in mir gleichzeitig auch Erinnerungen an viele Balintgruppen auf. Die typischen Gegenübertragungsgefühle, die uns bei Fallbesprechungen wichtige Hinweise für das Verständnis des diskutierten Patienten geben, sind Affekte wie Trauer, Ärger, Wut, Langeweile oder auch Rollenzuschreibungen (Sandler, 1976), durch die sich der Psychoanalytiker/Psychotherapeut zu einer bestimmten Aktion gedrängt fühlt. Bei einigen in Balintgruppen dargestellten Schilderungen von Patienten breitete sich jedoch ein anderes Gefühl aus: Diese Fallbeschreibungen hinterließen keinerlei emotionalen Widerhall bei den Gruppenteilnehmern ; vielmehr entstand in der Gegenübertragung ein Gefühl der „Leere", einer Leerstelle im Sinne eines „Nichts". Aufgrund von ähnlichen Erfahrungen in meiner gerontopsychiatrischen Arbeit riet ich in solchen Fällen zu einer medizinischen und neurologischen Abklärung. In fast allen dieser Fällen erwies sich die „Ahnung" von einer neurologischen Störung als zutreffend. Unbefriedigend bleibt jedoch, dass keine Noxenspezifizität aufspürbar ist, durch die eine morphologische Zuordnung hinsichtlich des veränderten Erlebens und Verhaltens möglich ist. Insofern lassen diese Fälle lediglich den allgemeinen Schluss zu: Da ist noch etwas anderes im Spiel. Als Psychoanalytiker bemühen wir uns um eine sehr genaue Wahrnehmung, um aus dem auf den verschiedensten Ebenen Erfassten Rückschlüsse zu ziehen. Wir benutzen unsere Empfindungsklaviatur in Verbindung mit theoretischem Wissen zur bewussten Erfassung unserer Gegenübertragung und ziehen daraus Schlussfolgerungen. Wir zentrieren unseren Blick dabei auf die seelischen Vorgänge, um eine psychodynamische Inter-
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pretation des Wahrgenommenen zu finden. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir in unserer Arbeit als Analytiker nie ganz die körperliche Seite außer Acht lassen dürfen und gehe davon aus, dass ich mit einem Patienten nur dann psychoanalytisch arbeiten kann, wenn er auf einen weitgehend intakten Körper zurückgreifen kann. Käme ein Patient mit hohem Fieber, so würde ich ihn erst einmal bitten, dieses abklären und behandeln zu lassen, bevor wir mit der psychotherapeutischen Arbeit beginnen können. Ich möchte deshalb mit dem dargestellten Fallbeispiel darauf aufmerksam machen, dass wir es - vor allem bei älteren Patienten - unter Umständen mit einem dynamischen Zusammenspiel von körperlichen und seelischen Komponenten zu tun haben. Bei dem steigenden Durchschnittsalter unserer Patienten und dem damit erhöhten Risiko von somatischen und neurologischen Veränderungen ergeben sich vielfältige Schwierigkeiten bei der Bewertung und Zuordnung von Symptomen durch das Ineinandergreifen dieser verschiedenen Ebenen. Mir sind keine Arbeiten bekannt, in denen von spezifischen Gegenübertragungswahrnehmungen berichtet wird, die speziell als Hinweis auf Störungen aus dem Bereich des Körpers zu werten wären. Lassen Sie mich dies mit einer kurzen Vignette illustrieren: FrauK., 84 Jahre, sehr rüstig und geistig rege, ist vor drei Jahren aus ihrer Heimatstadt in eine benachbarte Stadt in ein Altersheim in der Nähe ihres Sohnes gezogen. Sie hat sich prächtig eingelebt, hat viele neue Kontakte geknüpft und leitet mehrere Gruppenaktivitäten. Jetzt wird sie zu einem größeren Fest einer jüngeren guten Freundin eingeladen, auf das sie sich lange freut und bereits ein „tolles neues Outfit" gekauft hat. Vier Tage vor dem Fest ruft sie an und spricht in einer sich selbst analysierenden Weise darüber, dass sie merkwürdig depressiv sei, wo sie sich doch eigentlich so auf das Fest freue. Sie überlegte dann, ob sie vielleicht unbewusst etwas dagegen habe, in die alte Heimat zu fahren und sich durch eine Ausweichbewegung vor dem seelischen Schmerz in der alten Heimat drücken wolle. Aber irgendwie scheine ihr diese Erklärung nicht zu passen, denn eigentlich glaube sie, den Abschied bereits gut bewältigt zu haben. Zwei Tage später wird sie mit einer ischämischen Attacke und
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Sprachstörungen sowie leichten Lähmungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert. Dieses Beispiel ist in zwei Richtungen zu interpretieren: Entweder ist die emotionale Belastung, die Heimat wiederzusehen, zu groß gewesen und das Unbewusste hat sich der körperlichen Ebene bedient, um den möglichen seelischen Schmerz zu umgehen; oder aber die ungewohnt traurige Stimmung vor der Teilnahme an einem Fest, auf dass sich Frau K. so gefreut hatte, können wir als seelischen Vorläufer oder Warnsignal für etwas sich im Körper Entwickelndes verstehen. Dazu passen würde die Bezeichnung eines psychiatrischen Kollegen, der von einer „prämonitorischen Depression" (Lauter, 1973) spricht und beobachtet hat, dass depressive Symptome sehr häufig die ersten Anzeichen einer sich im Körper entwickelnden Störung oder Krankheit sind. Häufig habe ich in der gerontopsychiatrischen Arbeit bestätigt gefunden, was immer wieder in der Literatur beschrieben wird: Meist geht der Entwicklung einer Demenz eine nicht erfolgreich zu behandelnde Depression voraus. Es geht hier um einen Trauerprozess, der sich einen benennbaren Vorgang wählt, um darüber den Verlust der körperlichen Integrität zu bearbeiten.
Was ist eine Demenz und was ein demenzieller Prozess? Zunächst ein Blick auf den Beginn von möglichen demenziellen Veränderungen aus neurologischer Sicht. Der krankhafte und irreversible Abbau von Intelligenzfunktionen in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms, den wir Demenz nennen, ist als Endstadium weitaus bekannter als die subtil schleichend beginnende Symptomatik, die sich zunächst wie im Verborgenen, weil im Einklang mit der Persönlichkeit und ihren Eigenarten entwickelt. Ich möchte daher im Folgenden: - einen kurzen Einblick in die typische Symptomatik geben, - differenzialdiagnostische Schwierigkeiten zwischen Demenz und Depression aufzeigen,
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- überlegen, welche Auswirkungen demenzielle Störungen auf die Therapierbarkeit bei einem psychoanalytischen Patienten haben könnten. Die Krankheitsbezeichnung Alzheimer ist in der Öffentlichkeit dankbar aufgegriffen worden, da mit diesem altersassoziierten Begriff etwas benennbar wurde, was vorher kaum fassbar oder beschreibbar erschien. „Er/sie wird alt, merkwürdig, komisch" waren hilflose Versuche der Umschreibung. Das bedeutet, das vom Beobachter Wahrgenommene wird durch etwas gestört, was nicht in das vertraute Bild von dieser Person passt. Der Arzt Alzheimer beschrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Erster verschiedenartige Gewebeveränderungen und Verdichtungen im Gehirn, die er Plaques nannte. Die Patientin, an deren Gehirn er dies erstmals nachwies, war erst 51 Jahre alt, als sie erkrankte, und 56, als sie starb. Die neue Krankheitsbezeichnung wurde erst in den 1970er Jahren in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Lange Zeit war man überzeugt, die Demenz verschärfe nur das, was sich an intellektuellen Funktionen ohnehin mit dem Alter ändere, sodass die ersten Anzeichen eines nachlassenden Gedächtnisses meist als Teil des normalen Alterns verstanden wurden. Heute wissen wir jedoch, dass hier deutlich zu unterscheidende neurologische Prozesse ablaufen, die sich jedoch im Anfangsstadium in ihrer psychologischen Äußerung kaum voneinander unterscheiden lassen. Während wir bei AlzheimerPatienten erheblich dezimierte Hippocampusneuronen finden, gibt es diese Veränderungen bei normalen Alterungsprozessen nicht (Schacter, 2001, S. 459). Eine leichte, unter Umständen zunehmende Vergesslichkeit ist im Alter normal (man muss sich jetzt häufiger etwas notieren; verelgt das Schlüsselbund, die Brille usw.). Namen (d. h. sinnloses Material) können beispielsweise mit zunehmendem Alter schlechter behalten werden; besser dagegen wird das behalten, was einen Sinn ergibt oder in die persönliche Bedeutungswelt als hineinpassend empfunden wird. Die Vergangenheit bekommt eine größere Bedeutung; das Bedürfnis, sich mit Autobiografischem zu beschäftigen, nimmt zu. Die Verfügbarkeit von Erfahrungswissen verhilft dazu, dass ältere Menschen Geschichten, in
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denen es um etwas Vertrautes geht, komplexer und organisierter erzählen können als Jüngere; diesen gelingt diese Aufgabe dagegen dann besser, wenn Neues integriert werden muss. Das semantische Gedächtnis lässt im Alter kaum nach: Die Fähigkeit, sich ein gewaltiges Netz an Fakten und Assoziationen zu Nutze zu machen, bleibt erhalten. Über Veränderungen der Persönlichkeit mit zunehmendem Alter ist zwar viel spekuliert, aber wenig Brauchbares geschrieben worden. Es gehört zum Allgemeinwissen, dass Charakterzüge mit zunehmendem Alter schärfer hervortreten können. In der Literatur finden sich zahlreiche Beispiele dafür: etwa die Beschreibung Molieres, wie aus dem Sparsamen im Alter ein Geizhals wird. Als Demenz dagegen bezeichnen wir einen progredienten, also nicht umkehrbaren Abbau der intellektuellen Fähigkeiten und der Fähigkeit, sich mit der Umwelt wirkungsvoll auseinanderzusetzen. Da unsere Lebenserwartung seit Freuds Veröffentlichung der „Traumdeutung" 1900 bis heute um über 50 % angestiegen ist, ist die Demenz zu einem der größten Gesundheitsprobleme unseres Jahrhunderts geworden. In der Alltagssprache verbinden wir mit dem Begriff Demenz die Vorstellung von einem Menschen, der alt und abgebaut, aufgrund seiner Gedächtniseinbußen nicht mehr eigenständig lebensfähig und damit eindeutig krank und nicht mehr behandelbar ist. Die Prävalenz zwischen dem 65. und 74. Lebensjahr betrifft 2 % und steigt bei den über 85-Jährigen auf 15 % an. Seltener machen wir uns Gedanken darüber, dass sich diese Krankheit schleichend entwickelt,welche Bedeutung dies für die seelische Innenwelt des Kranken, seine psychischen Anpassungsleistungen und seine Selbstwahrnehmung hat und was von der Umwelt an ihm als verändert oder gleichbleibend wahrgenommen wird. Gemeint ist ein Prozess, der etwa in der eindrucksvollen romanhaften Darstellungen von Bayley „Elegie für Iris" oder in Suters „Small World" eindrucksvoll beschrieben wird. Die verschiedenen medizinischen Definitionen und Formen der Demenz (MID = MultiInfarkt-Demenz, SDAT = Senile Demenz vom Alzheimer-Typ etc.) werde ich vernachlässigen und mich auf das Erleben des
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Zusammenspiel von somatischen Einbußen, Erlebnisverarbeitung und Verhalten konzentrieren. In Folgenden sind die Hauptmerkmale dieses Abbauprozesses zusammengefasst: Demenz vom Alzheimer-Typ 1. Nachlassende Merkfähigkeit; 2. Einbuße von intellektuellen Fähigkeiten wie: Informationsverarbeitung, Abstraktionsvermögen, Problemlöseverhalten, Erkennen von Zusammenhängen, Visuomotorische Geschicklichkeit sowie Beeinträchtigungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens im weitesten Sinne, der Motivation. Verschiedene amnestische Störungen können in späteren Entwicklungsstadien hinzutreten (Agnosie, Apraxie, Aphasie, Alexie können später hinzutreten); 3. Störungen der Sprache: Wortfindungsstörungen, Weitschweifigkeit, Paraphrasien (können zu sozialen Rückzugstendenzen führen); 4. Störungen der Wahrnehmung: z. B. die Abschätzung von Entfernungen bei Störung des räumlichen Sehens; 5. Störungen der Bewegungs- und Handlungsplanung; 6. Störungen des abstrakten Denkens: Mit fortschreitender Krankheit schwindet die Fähigkeit, abstrakte Vorstellungen zu verstehen und zu entwickeln (z. B. werden Redewendungen oder Metaphern nicht verstanden); 7. Störungen der Aufmerksamkeit: Die Spanne, in der Aufmerksamkeit gehalten werden kann, wird immer geringer, es kommt zu einer schnellen Ermüdung. Die Ablenkbarkeit ist erhöht. Auch Perseverationen des Denkens treten auf (Unfähigkeit, aus einem Gedankenkreis herauszukommen); 8. Störung der Urteilsfähigkeit. Leitsymptom ist die nachlassende Merkfähigkeit, begleitet von einer Abnahme der Aufmerksamkeitsspanne. Die Wahrnehmung engt sich mehr auf das ein, was bekannt und vertraut ist. Später kann eine verminderte Resonanzfähigkeit (Beeindruckbarkeit und emotionale Resonanz) sowie ein Nachlassen des Abstraktionsvermögens hinzutreten. Der Kranke kann dann dem Ge-
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spräch nicht mehr wach und aufmerksam folgen, hat Schwierigkeiten, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; es kommt zu einer erhöhten Umweltabhängigkeit und Suggerierbarkeit und damit einer Manipulierbarkeit; das kreative Denken wird eingebüßt und die Fähigkeit zum gewohnten Gebrauch der Sprache angegriffen. Die Tatsache, dass bei den relevanten Symptomauflistungen in der psychiatrischen Literatur die messbaren Störungen im Vordergrund stehen rührt daher, dass einfache Denkfunktionen, Wahrnehmung und Geschwindigkeit geistiger Abläufe eher messbar sind, als Funktionen des Fühlens und Wollens. Veränderte affektive Befindlichkeit sowie der Umgang mit Erlebnissen und Gefühlen bleiben in der medizinischen Fachliteratur meist unerwähnt oder werden als Persönlichkeitsstörungen zusammengefasst: - Die intellektuelle Steuerungsfähigkeit lässt nach und führt zu einem zunehmenden Kontrollverlust, - Impuls- und Reizabhängigkeit nehmen zu, - Stör- und Irritierbarkeit sowie Ermüdbarkeit und Durchhaltefähigkeit verstärken sich, - Diskrepanz zwischen Wollen und Können: Die Wünsche können nicht mehr realitätsgerecht kontrolliert werden. Die oben beschriebenen primären Symptome ziehen sekundäre Symptome nach sich (s. Abbildung 1). Diese Abbildung versucht schematisch darzustellen, dass die genannten Krankheitssymptome einer dem individuellen Charakter entsprechenden Bearbeitung unterliegen. Die persönlichen Abwehr- und Bewältigungsformen prägen die Art und Weise, wie die kognitive „Reservekapazität" genutzt wird. Das erlebende Individuum nimmt diese neuen, irritierenden und stärker werdenden Defizite wahr und bemüht sich, mit ihnen umzugehen, sowohl gegenüber der Umwelt, wie gegenüber dem Selbst. So können wir verstehen, dass sich demenzielle Entwicklungen meist in der Tarnung einer affektiven Störung ankündigen: Aufgrund des - meist unbewusst - wahrgenommenen Verlus-
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Primäre und sekundäre Symptome der Demenz Primärsymptome
Sekundärsymptome
= kognitive Ausfalle
= emotionale und intervenierende Variablen
Amnesie abstraktes + logisches Denken PERSÖNLICH Urteilen Hirnwerkzeugstörungen (Aphasie, Apraxie, Agnosie) Somatische Variablen
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Verhaltensstörungen Depressive Reaktionen Paranoide Reaktionen Aggressives Verhalten Apathie, Indifferenz Motorische Unruhe Perservationen Tag - Nacht - Umkehr
Abbildung 1: Primäre und sekundäre Symptome der Demenz
terlebens von bisher verfügbaren Fähigkeiten kommt es sehr häufig zur Entwicklung einer Depression, seltener zu einer paranoiden Entwicklung. Die korrekte Diagnose eines intellektuellen Abbausyndroms lässt sich oft erst nach mehreren Jahren stellen. In der Gerontopsychiatrie gilt die Differenzialdiagnose zwischen einer Depression und einem Abbauprozess aufgrund eines diagnostischen Gespräches als sehr schwierig. Während meiner gerontopsychiatrischen
Arbeit hatte ich ein lebenspraktisch
orientiertes stationäres Therapieprogramm aufgebaut, mit Hilfe dessen wir folgende differenzialdiagnostisch
relevanten Beob-
achtungen machen konnten (Junkers, 1991): Während der Depressive eher über seelische Symptome in der Vorgeschichte klagt, finden sich bei beginnenden demenziellen Veränderungen weniger psychische Auffälligkeiten in der Anamnese. Der Depressive klagt zwar auch über Gedächtnis- und Leistungsverlust; mit Hilfe eines geeigneten Testverfahrens lassen sich diese Defizite jedoch nicht bestätigen. Dagegen klagt der demenziell Kranke selten über Störungen der Merkfähigkeit; Ausfälle werden meist gut überspielt. Der
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Depressive scheut schon vor leichten Leistungsanforderungen zurück; der demenziell Veränderte wird sogleich aktiv, verfehlt aber meist die Aufgabe, sodass das Resultat misslingt. Der Depressive antwortet häufig auf Fragen mit: „Das habe ich vergessen"; der demenziell Veränderte antwortet zwar, verfehlt aber mit seiner Antwort den Sinn. Beim Depressiven kann die Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Aufgabe sehr schwanken; beim demenziell Veränderten finden wir meist eine gleichmäßig eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Ich möchte diese Unterscheidungen an praktischen Beispielen aus der stationären Arbeit veranschaulichen: In der Gymnastikgruppe verhält sich der Depressive eher passiv: „Ich kann nicht" sind seine stereotyp wiederholten Klagen. Nimmt er jedoch als Zuschauer an einer mit Musik untermalten Gymnastikgruppe teil, können wir bald beobachten, dass sich - kaum sichtbar - sein Fuß nach dem Rhythmus der Musik bewegen wird (er ist anregbar bzw. erweckbar). Der demenziell Veränderte dagegen macht sogleich mit, aber er kann aufgrund seiner eingeschränkten visuo-motorischen Koordinationsfähigkeit den vorgemachten Bewegungsablauf nicht kopieren. Er bemerkt dieses Verfehlen jedoch selbst nicht; er wird hinterher eher sagen, das habe ihm Spaß gemacht. In der Kochgruppe wird die depressive Hausfrau anfangs die Teilnahme verweigern: „Ich kann doch nicht". Bemerkt sie aber nur den geringsten Fehler im Handlungsablauf bei einer anderen Gruppenteilnehmerin, springt sie auf und korrigiert den beobachteten Fehler. Beeindruckend ist der zu beobachtende Unterschied bei der Durchführung von Testaufgaben. Bitte ich einen Patienten mit demenzieller Symptomatik, eine einfaches geometrisches Bild mit Klötzchen nachzulegen, so reagiert er entweder empört: „So einen Kinderkram können Sie doch mit mir nicht machen!" Oder er wirkt rat- und mutlos und zieht sich schließlich resigniert zurück. Wird er gebeten, eine bestimmte Figur, etwa eine Kreis nachzuzeichnen, nimmt er den Stift zur Handund setzt an zu zeichnen; dann aber wird die Linie bald unsicher in ihrer Zielführung und versandet irgendwo auf dem Blatt. Der Getestete zeigt einen zunehmend ratlosen Blick, der beim Gegenüber nach Orientierung und Hilfe sucht.
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Was ich hier beschrieben habe, bezieht sich auf Störungen, die in einem Fünf-Minuten-Gespräch in der Praxis leicht übersehen werden, aber in einem vertrauten und sehr viel komplexeren Handlungsvollzug deutlich erkennbar sind. Leicht kann uns in die Irre führen, dass soziale Verhaltensmuster aus dem täglichen Leben am längsten erhalten bleiben; Floskeln können trotz eines erheblichen Abbaus noch sehr lange zur Verfügung stehen.
Wie wird auf Defizite reagiert? Die beschriebenen zugrunde liegenden Defizite werden im alltäglichen Erlebens- und Handlungsvollzug innerseelisch wahrgenommen und verarbeitet. Mich interessiert deshalb die Frage, wie erste, minimale neurologische Veränderungen subjektiv wahrgenommen und verarbeitet werden. Entwickelt sich eine Demenz und machen sich erste Störungen der Merkfähigkeit, eventuell sogar auch des Handlungsvollzuges bemerkbar, scheinen subjektiv empfundene Versagensgefühle Angst oder depressive Verstimmungen als Reaktion in Gang zu setzen. Wie beschrieben, wird mit der meist unbewussten Wahrnehmung eines Gefühls von: „ich kann das nicht mehr" in Abhängigkeit von der Persönlichkeitsstruktur auf sehr verschiedene Weise umgegangen. Es kann ein Gefühl der Depression auslösen oder zu dem Wunsch führen, das Defizit zu vertuschen. Ebenso ist es möglich, dass jemand mit einer hypomanischen Gemütslage unbekümmert reagiert, seine Fehler einfach passieren lässt und mit einem Scherz darüber hinwegzugehen versucht. In Ermangelung von Wissen, was da vor sich geht, wird rationalisierend nach Erklärungen gesucht: „Das ist weil ...". Für den Außenstehenden wird das Versagensgefühl: „Ich kann nicht mehr" einfühlbarer, wenn wir uns vor Augen führen, dass das Versagen in einer regressiven Bewegung in Begriffen des „ich kann noch nicht" des infantilen Selbst erlebt wird. Der Anschaulichkeit halber hier ein Überblick, wie in Abhängigkeit von der Schwere der Störung eine Regression der Fähigkeiten zu diagnostizieren ist (s. Abbildung 2).
Demenzielle Veränderungen aus der Sicht der Psychoanalyse Tabelle 1: Funktionelles Assessment der Alzheimer Demenz (mod. nach B. Reisberg. Aus: Lichtenhagen u. Jovic, 1988, S. 62/63)
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In vergleichbarer Weise können wir uns die die neurologischen Veränderungen begleitenden psychischen Veränderungen vorstellen. Für einige ist das Versagen schambesetzt und kann entweder einen emotionalen Rückzug in Gang setzen und/oder zu innerer Entfremdung von der Umwelt führen. Bei wieder anderen kann es das Abhängigkeitsbedürfnis verstärken oder die Verletzbarkeit für ein Gefühl der Ausgeschlossenheit bis hin zur paranoiden Entwicklung verstärken. In einem noch weiter fortgeschrittenen Stadium geht die reflektierende Position verloren. Wie im Fallbeispiel oben bemerkt der Kranke, dass er plötzlich nicht mehr weiter weiß, Angst bekommt oder ganz ratlos verloren erscheint. Es ist dann, als ob keine vermittelnde Instanz, kein Ich mehr zur Verfügung steht, das aktiv ein Ziel verfolgen kann; der Kranke wir immer abhängiger von den Aktionen seiner Umwelt. Die Rückversicherung, die wir gewohnt sind, in der analytischen Haltung zu verweigern, wird jetzt zur Erhaltung des seelischen Gleichgewichtes lebenswichtig. Zunehmend entwickelt sich eine adynamische Haltung und Ratlosigkeit bestimmt das Bild. Die nachlassende Impulskontrolle kann zu einer Affektinkontinenz führen; der Kranke ist schnell den Tränen nahe oder es kommt zu ungezügelten Affekt-, also auch Zornesausbrüchen. Die Modulationsfähigkeit für Gefühle wird immer mehr eingebüßt. Komplexe Gefühle von Missachtung, Rache, Sadismus, Schadenfreude und Verzeihung können nicht mehr empfunden werden. Die dargestellten Veränderungen greifen auch die unabhängige eigene Urteilsfähigkeit an. Unlogisch erscheinende Diskrepanzen von Wahrnehmungen werden kreativ überdeckt. Angst begünstigt, dass nur Vertrautes aufgenommen werden kann und Argumentationen benutzt werden, die einen sich stereotyp wiederholenden Charakter haben. Aber sie kann auch zu einer zunehmenden Einengung des Lebensradius führen. Intellektuell geübte Personen können - wie bereits erwähnt - oft lange mit theoretisch oft benutzten Floskeln über ihre Einbußen hinwegtäuschen. Da sich all diese Veränderungen überwiegend im Einklang mit der Persönlichkeit vollziehen, ist diese Krankheit - besonders zu Beginn - sehr schwer zu diagnostizieren. Insbesondere Vertraute wie Familienmitglieder oder Arbeitskollegen erkennen diese
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Veränderungen häufig nicht und reagieren völlig überrascht: „Er/sie soll krank sein? Nein, so war er/sie doch schon immer!" Diejenigen, die über längere Zeit hin Zeuge von minimalen Veränderungen werden, können nicht zwischen Persönlichkeitseigenart und Krankheitssymptom unterscheiden.
Ein Exkurs in die Neurowissenschaft Das Ehepaar Damasio, beide Neurowissenschaftler, hat sich ausführlich mit der Erforschung des Bewusstseins, der Kognition und der neuroanatomischen Basis psychischer Identität beschäftigt. Sie führen uns vor Augen, dass wir als Menschen biologisch gesehen - in einer ständigen Auflösung und einem fortwährenden Umbau begriffen sind. Trotz dieser permanenten biologischen Vergänglichkeit gibt es auf der geistigen Ebene etwas wie eine kontinuierliche Identität - wie geht das? Dies ist die Frage, die sie zur Forschung motiviert. Auch wenn verschiedene Autoren unterschiedliche Modelle zur Beantwortung dieser Frage entworfen haben, möchte ich hier die von Damasio getroffene Unterscheidung des Bewusstseins in einfache und komplexe Funktionsweisen zur Veranschaulichung der Entwicklung einer Demenz heranziehen. Ein Kernbewusstsein sieht er als biologisches Phänomen, unabhängig von Gedächtnis, Denken oder Sprache: Es wird in Schüben (pulsierend) für jeden einzelnen Bewusstseinsinhalt, entstanden als Reaktion auf etwas (auf ein Objekt, allerdings nicht im psychoanalytischen Sinne), neu erzeugt und ist für das Hier und Jetzt eines jeden Momentes zuständig. Es steht in enger Verbindung zu den Sinnesmodalitäten. Es gibt ein Sein, aber kein Wissen darüber, keine schlussfolgernden Prozesse. Das erweiterte Bewusstsein baut auf dem Kernbewusstsein auf: Es verknüpft die Wahrnehmungen des Organismus im Hier und Jetzt mit der Vergangenheit und der antizipierten Zukunft, also der individuellen Geschichte, und erschafft im Sinne einer Verortung ein autobiografisches Bewusstsein. Voraussetzung dazu sind die Fähigkeit zum Lernen und Speichern, die Fähigkeit zur Aufzeichnung und die Fähigkeit zu deren Reaktivierung. Letzt-
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lieh entscheidend ist das Arbeitsgedächtnis, das erst die Nutzung des gespeicherten Wissens- und Erfahrungsschatzes ermöglicht. Das autobiografische Selbst als Repräsentant eines kontinuierlichen geistigen Gefühls von sich selbst ist also an ein intaktes erweitertes Bewusstsein gebunden. Es setzt Denkfähigkeit (im allgemeinen Sinne) voraus. Bei einer demenziellen Entwicklung wird das erweiterte Bewusstsein in seinen Einzelfunktionen zunehmend angegriffen; dies bewirkt schließlich die schrittweise Einbuße eines autobiografischen Selbst. In analytischer Terminologie ausgedrückt finden wir hier etwas beschrieben, was wir als eine fortschreitend verloren gehende Symbolisierungsfähigkeit bezeichnen können: Die Dreidimensionalität des Denkens wird zugunsten eines konkretistischen Denkens eingebüßt.
Konsequenzen für den analytischen Patienten Was können wir aus den hier skizzierten Beobachtungen im Hinblick auf die Frage, ob ein älterer Patient von einer analytischen Therapie profitieren könnte, schlussfolgern? Es gibt Kollegen, die die Ansicht vertreten, dass leichte Gedächtnisstörungen einer Analyse im klassischen Setting nicht entgegenstehen, da es um emotionale, vorwiegend unbewusste und nicht intellektuelle Inhalte ginge. Ich glaube, hier ist im individuellen Fall zu entscheiden, ob ein Patient in einer regressionsfördernden Situation gehalten werden kann oder nicht und welche Indikation die richtige ist. Im Fall von Herrn S. hätte ich - wäre er noch einmal gekommen - gern in Zusammenarbeit mit dem Psychiater und einer von ihm begleiteten medikamentösen Therapie eine Psychotherapie begonnen. Mir wäre es in dieser Arbeit wichtig gewesen, den von ihm vorgebrachten Konflikt zu bearbeiten, aber ihn gleichzeitig auch als Metapher für den Wunsch zu benutzen, aus einem innerlich wahrgenommenen alten Zustand (langjähriger Ehe) ausbrechen zu wollen und sich in einen möglichen Neuanfang hineinzufantasieren. Dies würde ich als Abwehrbewegung verstehen, um dem psychischen
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Schmerz, der das Alte, jetzt Ungenügende (physischen Seinszustand) begleitet, ausweichen zu können. Aber es ist gerade dieses metaphorische Verständnis, auf das beim Fortschreiten der Krankheit nicht mehr verlässlich gezählt werden kann; es ist als hätten wir es mit einem psychosenahen Patienten ohne ausreichende Symbolisierungsfähigkeit zu tun. Andererseits gibt es eine inzwischen sehr anerkannte Methode im Umgang mit schwer Demenzkranken, die Validation. Sie macht sich zunutze, dass der Kranke zwar noch Gefühle erlebt (momentweise, wie im Kernbewusstsein ausgedrückt), sie aber nicht reflektieren und als konstituierend für ein Gefühl von sich selbst nutzen kann. Die Hilfs-Ich Aufgabe des Gegenübers besteht darin, die geäußerten Gefühle aufzugreifen und sie benennbar zu machen, ganz ähnlich der Arbeit mit Träumen. Eine sehr kranke alte Frau sagt: „Mein Plafond hat ein Loch. Wenn es regnet tropft das Wasser aus meinem Bett. Niemand will das reparieren." Unschwer können wir aus dem Gesagten verstehen, dass diese Frau sehr unglücklich ist über ihr Versagen, ihr Wasser nicht halten zu können und ihre Umwelt anklagt, ihr nicht genügend zu helfen. Das bedeutet, dass ich in einem sehr frühen Anfangsstadium, in dem die geistigen Fähigkeiten zur Bildung einer therapeutischen Allianz und zum Reflektieren noch erhalten sind, eine Arbeit für hilfreich halte, die auch die Bewältigung der Veränderung mit in den Blick nimmt. Bei einem fortgeschrittenen Krankheitsbild scheint kein Umdenken und Neulernen mehr möglich. Konnte ich Betreuern von Demenzkranken einen psychoanalytischen Verständniszugang eröffnen, so wurde es dadurch möglich, nicht verstehbares ver-rücktes Verhalten verstehbar zu machen. Mitarbeiter haben mir nach einem solchen Seminar gesagt: „Ich tue das gleiche wie vorher, aber ich fühle mich anders dabei. Vor allem fühle ich mich der Aggression nicht mehr so hilflos ausgeliefert und bin demzufolge viel geduldiger bei der Arbeit".
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Die Anfälligkeit unseres Handwerkszeuges als Analytiker Abschließend möchte ich auf ein heikles Thema zu sprechen kommen. Können beginnende demenzielle Veränderungen im Sinne einer „somatisch bedingten Dementalisierung" unser Handwerkszeug als Analytiker beeinträchtigen? 1 Die Mehrheit unserer Kollegen ist in einem Alter, in dem andere Menschen pensioniert werden. Erfahrungen aus Arbeitsgruppen zur Frage des Älterwerdendens von Analytikern und diese Veränderung begleitende gesundheitliche Probleme, die die Fähigkeit zum Analysieren angreifen können, haben mich bestärkt, ein Projekt zu initiieren, das der Erhellung der Lebens- und Arbeitssituation mit zunehmendem Alter in den Blickpunkt nimmt. Grunberger (1971) sagt, die archaische, das heißt körperliche und geistige Integrität des Psychoanalytikers sei unerlässliche Voraussetzung für seine reflektive, bewahrende, verstehende und interpretierende Arbeit. Ähnlich ist im Ethik Case Book der American Psychoanalytic Association gefordert: „Psychoanalysts should take steps to correct any impairment in his or her analysing capacities and do whatever is necessary to protect patients from such impairment" (Dewald u. Clark, 2002). Ein intensiver internationaler Austausch über Fragen der Ethik in Psychoanalytischen Gruppierungen führen uns vor Augen, dass hier ein Problem der mangelnden Selbstbeobachtung und der Ängstlichkeit und Ratlosigkeit unter Kollegen existiert, wie den heute hier beschriebenen Veränderungen zu begegnen ist.
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Wir wissen seit Langem, dass sich traumatische Ereignisse affektiv und
kognitiv in den mentalen Strukturen niederschlagen und - wie Hartke (2005) es ausdrückt - eine Zone der Dementalisierung schaffen. Hiermit wird ein Vorgang bezeichnet, der sich ausschließlich im Psychischen abspielt. Ich möchte dagegen von somatisch bedingter Dementalisierung sprechen, wenn körperliche Veränderungen dazu beitragen, dass die zur Bewältigung notwendigen Strukturen angegriffen werden. Ich nehme an, dass sich dieser Vorgang analog der psychischen Situation durch ein Versagen der internalisierten Alpha-Funktion und der Fähigkeit zur Symbolisierung beschreiben lässt.
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Was tut der Analytiker? Der Analytiker sollte seinem Patienten einen sicheren Rahmen zur Verfügung stellen, der diesem die Entfaltung seiner Übertragung ermöglicht. Neben der benötigten frei flottierenden Aufmerksamkeit (Freud) aufseiten des Analytikers rät Sandler (1976), in analoger Weise die frei flottierende Reaktionsbereitschaft (responsiveness) zu kultivieren. Es ist außerdem seine Aufgabe, seine Gedanken, Gefühle und Reaktionen zu einem besseren Selbstverständnis des Patienten einzusetzen. Während der Arbeit des Analytikers sind Enactments nicht vermeidbar (Joseph, 2003); sie überschreiten die Grenze vom Denken zum Handeln und können, wenn sie nicht wahrgenommen und korrigiert werden, in die Grauzone zwischen normaler Technik, technischen Fehlern und ethisch fraglichen Grenzüberschreitungen münden (Gabbard u. Lester, 1995). Die Fähigkeit zur Wahrung der Grenze zwischen Denken und Handeln setzt auf der Wahrnehmungsseite einen gut funktionierenden Realitätssinn voraus und ist zur Beibehaltung der psychoanalytischen Haltung von entscheidender Bedeutung. Das Denken des Analytikers ist zentral für das Konzept des Containment, das sich auf die Fähigkeit des Analytikers stützt, Projektionen aufzunehmen, auf sie gefühlsmäßig zu reagieren und gleichzeitig die Spannung ohne zu große Bereitschaft zum Handeln auszuhalten (Steiner, 2006). Je nach Schwere der Pathologie des Patienten wird dieser umso intensiver Druck ausüben, um den Analytiker zu einer Reaktion im Sinne des Verlassens seiner analytischen Haltung zu bewegen. Enactments tauchen umso eher auf, je weniger der Analytiker die Notwendigkeit, einen begrenzten Rahmen zur Verfügung zu halten, internalisiert hat oder je schwerer es der Analytiker selbst findet, die Grenzen des Settings für sich selbst zu tolerieren. Er sollte in der Lage sein, .innere Spannung unter Feuer' aushalten zu können. Wie ist die richtige Balance zwischen den Bedürfnissen und Rechten des Patienten und denen des Analytikers zu finden? Halten wir uns diese Aufgabe vor Augen, müssen wir zugestehen, dass diese so komplexe Fähigkeit, Analysen zu führen, sehr störanfällig und verletzbar ist. Schauen wir in die Literatur, so finden wir einige Aufsätze, die sich mit dem Problem des Analytikers beschäftigen, den schwerwiegende emotionale Er-
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eignisse so gefangen nehmen, dass er der geschilderten Aufgabe nicht mehr oder nur noch unter größten Schwierigkeiten nachkommen kann. Hier geht es um die Frage, inwieweit die Fähigkeit zum Analysieren trotz der psychischen Bewältigungsarbeit eigener Probleme aufrechterhalten werden kann; inwieweit es gelingt, Gegenübertragungsgefühle mit voller Bewusstheit (der ganzen Bandbreite des erweiterten Bewusstseins) wahrzunehmen. Andere Arbeiten behandeln die seelische Belastung, die ein schwer kranker Analytiker auszuhalten und hinsichtlich seiner eigenen emotionalen Situation wie auch gegenüber seinen Patienten zu bewältigen hat (z. B. Abend, 1982; Lasky, 1990). Immer wieder wird in diesen Arbeiten betont, wie wichtig die selbstreflektiven und selbstkritischen Fähigkeiten des Analytikers sind, um die eigenen Fähigkeiten kritisch zu prüfen und die immer wieder neuen Gegenübertragungsgefühle unverzerrt aufnehmen zu können. Ich habe allerdings bisher keine Arbeit gefunden, in der auf die Gefahr einer somatisch bedingten Dementalisierung hingewiesen wird. Meinem Eindruck nach besteht unter vielen psychoanalytischen Kollegen, die ja in ihrer Wahrnehmung vorwiegend auf seelische Prozesse ausgerichtet sind, ein großes Wissensdefizit über mögliche Zusammenhänge zwischen emotionalen und somatischen (neurologischen) Veränderungen, die mit fortschreitendem Alter auftauchen können. In den meisten Fällen wird das, was durchaus an Kollegen wahrgenommen wird, mit der Bemerkung eingeordnet: „Ja, Herr/Frau X ist älter geworden". Es besteht sehr viel Angst, über die Konsequenzen derartiger Veränderungen nachzudenken oder gar zu sprechen. Aber mit zunehmendem Alter des Analytikers wächst das Risiko, dass aufgrund der oben beschriebenen schleichend auftretenden Veränderungen die Grundfesten der analytischen Arbeitsfähigkeit erschüttert werden können. An erster Stelle steht die verminderte Impulskontrolle: Es kommt zu Abstinenzverletzungen, Gefühlsausbrüchen aufgrund von nicht aushaltbaren Gegenübertragungsgefühlen. Die Fähigkeit zur Bewusstheit (awareness) kann angegriffen werden und damit auch die Fähigkeit zur gleichzeitigen Reflektion auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen. Bei erhöhter Suggestibilität kann dem Druck, der ins-
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besondere von schwer gestörten Patienten ausgeht, nicht mehr standgehalten werden, so dass die Durchführung einer lege artis durchgeführten Analyse gefährdet sein kann. Ich bin deshalb für die Ermutigung dankbar, meine Überlegungen zur sensiblen Phase der Entwicklung von demenziellen Symptomen und der Bedeutung für die psychoanalytische Praxis hier zur Diskussion stellen zu können.
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Johannes Döser
Woran erinnert das Schmerzgedächtnis? Zur Psychoanalyse des Phantomschmerzes - am Beispiel einer jungen Künstlerin nach unfallbedingtem Verlust der Oberkieferzähne
„Die Funktion des lebendigen Leibes kann ich nur verstehen, indem ich sie selbst vollziehe, und in dem Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin (...) Es gilt also das Zusammenspiel psychischer Determinanten und physiologischer Bedingungen zu verstehen." M. Merleau-Ponty (1966, S. 99 ff.)
Ausgehend von dem Satz Gaddinis, dass das Psychische das Körperliche nachbildet, fragt diese Arbeit nach Verbindungen zwischen Phantomschmerz und depressivem Selbst-ObjektVerlust bei nicht gelingender Trauerarbeit und sensorischem Afferenzverlust. Ihre Hypothese lautet, dass der Phantomschmerz dann auftritt, wenn die mit dem Organ verlorenen Sinnesempfindungen nicht ersetzt und ausgeglichen werden können. Entfällt das sensorische und motorische Feedback, entsteht an dieser Stelle in der zentralnervösen Repräsentanz des verlorenen Organs eine Lücke mit erheblichen Folgen für das Körpergefühl. Durch neurophysiologische Veränderungen wird diese Lücke mit der Ausbildung eines Schmerzsyndroms gefüllt. Es wird eine Studentin geschildert, die nach einem Unfall mit Zahnverlust behandlungsresistente Zahn-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen entwickelte. Diese Schmerzen ließen sich in ihrer Charakteristik und Genese am ehesten einem Phantomschmerz mit konversionsneurotischer Überformung zuordnen. Aufgrund der Intensität des Schmerzsyndroms wurde die Patientin arbeitsunfähig. Die verzweifelte Drohung, das Studium aufgeben zu müssen, sowie die Ohnmacht der somatischen Behandlung führten sie in die Psychoanalyse. Hier wurde bald klar,
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dass sie sich bereits lange vor dem Unfall psychisch verstümmelt fühlte. Sie fühlte sich nämlich vom Liebesleben abgeschnitten, und dies hat in ihrem Narzissmus eine Lücke hinterlassen, die sie mit einem intensiven psychischen Schmerz wahrnimmt. Sie fühlt sich vom Lebendigen abgetrennt, ohne dafür Worte zu finden. Im Laufe des therapeutischen Prozesses konnten die Schmerzen ab dem Moment in den Hintergrund treten, als die Patientin die Möglichkeit fand, über ihr psychisches Abgeschnittensein zu sprechen und an die abgespaltenen Affekte anzuknüpfen. Dies ebnete ihr auch den Weg zu einem Wiederfinden ihrer schöpferischen und sozialen Aktivität. Die Lücke, die bis dahin mit dem Phantomschmerz gefüllt war, wurde mithilfe der Analyse zu jenem Übergangsraum, der ihr in ihrer Kindheit gefehlt hat. In der Übertragung konnte sie erstmals ihr emotionales Abgeschnittensein betrauern wie auch später ihr Getrenntsein vom Analytiker und beides mithilfe von Träumen mentalisieren. Anhand des Initialtraums wird dargestellt, wie die traumatische Einbuße sowohl der Zähne als auch ihres sinnlichen Begehrens in die psychische Verarbeitung gelangen und bewältigt werden konnte. Trauer bedeutet hier, im selben Zuge den traumatischen Verlust zu akzeptieren sowie die verdrängte Potenz zu entdecken. Mit dem Wiederfinden ihrer abgeschnittenen Sinnlichkeit war der Phantomschmerz aufgelöst. Daran knüpfen heuristische Überlegungen an, inwieweit Fantasien und Träume analog einer Prothese auf körperlicher Ebene fungieren: Die neurowissenschaftliche Forschung hat ergeben, dass diejenigen Patienten, die aktiv und motorisch handelnd intensiv und täglich mit Prothesen umgehen, signifikant weniger Phantomschmerzen entwickeln. Wenn man mit de M'Uzan (2006, S. 191 f.) einen Zusammenhang herstellt zwischen einer Analysestunde und einer erogenen Zone des Körpers, könnte die Couch beziehungsweise die analytische Situation auch als vorübergehender prothetischer Ersatz im Dienste der Regeneration und Bewältigung narzisstischer Verletzung und als Teil einer holistischen Schmerzbehandlung begriffen werden. Auch die überaus bedeutsame „Placebo Response" (Wall, 1999, S. 151 ff.) wäre hier neu zu bewerten.
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1 Schmerz und Lust in der psychoanalytischen Auffassung
Freuds Satz, dass das Ich vor allem ein körperliches sei, hat der italienische Psychoanalytiker und Psychosomatiker Eugenio Gaddini so präzisiert, dass die psychischen Vorgänge die körperlichen nachbilden und ihnen zeitlich später folgen (Jappe, 1998, S. 15). Die Fortschritte in den Neurowissenschaften machen es möglich, einige Fragen zur Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele neu zu stellen. Dazu gehört der „Fall des Schmerzes" (Freud, 1915, S. 249), von dessen Aufklärung Freud auch ein besseres Verständnis der ökonomischen Vorgänge in der Depression und der Trauer erhofft hatte. Die Psychoanalyse entwickelt sich und ändert sich, weil sich der epistemologische Horizont der Forschung erweitert, sowohl in den objektivistischen Wissenschaften als auch in den hermeneutischen. Dies zwingt die Psychoanalytiker, sich mit den Ambiguitäten und Unbestimmtheiten neu auseinandersetzen, die Freud hinterlassen hat, und macht aus dem Wunsch, Freud völlig treu zu bleiben, eine Illusion, die in ihrer Abwehrfunktion der anderen gleichkommen kann, Freud zu verwerfen. Keine Erfahrung zeigt uns überzeugender, wie innig das Seelische mit dem Körperlichen verbunden ist, als das Erleben von Schmerz. So wie unsere fünf Sinne - das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten - dem Erkennen unserer Umgebung dienen, so dient der Schmerz dem Wahrnehmen des eigenen Zustands, insbesondere, wenn uns ein Reiz Schaden zufügt. Er weist auf den Einbruch eines Traumas, auf eine Verletzung des Körpers und der Seele. Der Schmerz holt uns immer wieder auf die physischen Leidenstatsachen zurück und hilft im günstigen Falle, uns vor dauerndem Schaden zu bewahren. Darum konnte Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft" sagen, dass im Schmerz so viel Weisheit sei wie in der Lust und dass der Schmerz gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges gehöre: „Dass er weh tut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen". Als Grenzphänomen zwischen Psyche und Sorna, Körper und Seele, gehört der
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Schmerz mit der Scham, der Angst, dem Hass und dem Verlangen zu den basalen Erfahrungen des menschlichen Bewusstseins. Der Mythos (Genesis 3,16) erwähnt ihn gleich nach dem Sündenfall: „Unter Schmerzen gebärst du Kinder". Der Schmerz ist eine der frühesten subjektiven Erfahrungstatsachen in unserer Phylo- und Ontogenese. Einerseits markiert er in unserer Wahrnehmung die Grenze zu traumatischen Reizgrößen, andererseits ermöglicht er die Herausdifferenzierung des Körpergefühls aus der Wahrnehmungswelt. Zugespitzt könnte man sagen: Wie der Traum die via regia zum Unbewussten ist, so ist der Schmerz die via dolorosa zum Ich. Wie entsteht der Schmerz? Wie lässt sich die kurative Langzeitwirkung der Analyse bei chronifizierten Schmerzsyndromen erklären, die jeder erfahrene Analytiker kennt? Woher kommen die analgetischen Begleitwirkungen der analytischen Situation, ohne die keine Analyse die tief greifenden Auseinandersetzungen mit seelischen Kränkungen überstehen würde? Vielfaltige Erfahrungen aus psychoanalytischen Behandlungen depressiver und chronifizierter Schmerzpatienten haben mir gezeigt, wie sich der Schmerz und die Depression in aller Regel in dem Maße auflösen konnten, als die Patienten aus ihrem seelischen Rückzug auftauchten, ihre libidinösen Objektbesetzungen zunahmen und der Kreisverkehr ihrer melancholischen Grübeleien einer interessierten und bewegten Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Welt wich, zu der auch Abschiednehmen und Neubeginn, Wut und Zorn, mit anderen Worten: die Sinnlichkeit der Trauerarbeit gehörte; das heißt: die Konfrontation mit der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft aus dem vollen Erleben der Gegenwart heraus. Das Feld, auf dem sich diese Bewegungen vollziehen, die Welt der Leidenschaften, der Gefühle, der Sehnsüchte und der Wünsche war während der Zeit ihrer Schmerzbeschwerden und Depression von ihrem Erleben abgetrennt. Es lag brach, und die Patienten mussten lernen, es neu zu bewirtschaften. Im Laufe der psychoanalytischen Arbeit wurden diese Patienten weitgehend schmerzfrei und sind es bis heute geblieben. Eine Patientin kommentierte das Wiedergewinnen ihrer Erlebnisfähigkeit von Leidenschaft, Lust und In-
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tensität mit den Worten: „Das hat einen ganz anderen Geschmack - sowohl im konkreten als auch im abstrakten, übertragenen Sinn." Ihre Schmerzsymptomatik war einst ein hilfloser stummer Schrei, den sie selber nicht begriff, und es dauerte lange, bis sie eine Sprache entwickeln konnte, die es möglich machte, hinter dem körperlichen auch den psychischen Schmerz aufzuspüren und ihn in den Zusammenhang anderer Empfindungen und Erfahrungen, aktueller und vergangener, einzubetten. Erst jetzt konnte sie die Symptome, die wie unsinnige Fremdkörper ihr Leben belasteten, als Markierungen unbewusster Kränkungen erkennen. Aus den Symptomen sind am Ende Erzählungen und aus der Resignation ist Interesse geworden. Sie wurde belastbarer und sensibler, begann ihre Träume zu erinnern, und was sie wahrnahm, empfand sie - und das war eben so neu - als wirklich und wichtig. Sie sagte: „Was ich entdecke, schmerzt mich oft, und ich bin dann sehr traurig, aber ich bin trotzdem nicht mehr so depressiv. Es ist ganz komisch. Ich merke viel schärfer, wie weh das alles tut und wie schlimm das auch ist, aber ich selbst fühle mich gleichwohl irgendwie besser, nicht mehr so elend und zerschlagen. Und ich war schon lange nicht mehr krank." Solche Bemerkungen, die die Wechselbeziehung von Schmerz und Lust im psychoanalytischen Prozess berühren, werfen Fragen auf: - Hinsichtlich der Schmerzgenese: Steht die Entstehung von Schmerz mit dem Abschneiden des Subjekts von seiner Erogenität, seinem Gefühlsleben, seinen sinnlichen Erfahrungsbedürfnissen im Zusammenhang? - Hinsichtlich der Schmerzauflösung: In welchem Zusammenhang steht das Abklingen der Schmerzen mit der Versinnlichung der Beziehung im analytischen Prozess und der analytischen Situation? Ich nahm an, dass in diesem Behandlungsfall die analytische Situation als „Background of Safety" (Sandler, 1961) und der analytische Prozess als die hochemotionale Erfahrung des seelischen Durcharbeitens das Zustandekommen einer belegbaren dauerhaften und signifikanten Veränderung der Schmerzöko-
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nomie unterstützten. Welche Faktoren könnten hier eine Rolle spielen? In einer interessanten Untersuchung zu den Abläufen auf einer Verbrennungsstation wies Didier Anzieu (1985/1991) auf die Erotisierung des therapeutischen Kontaktes im Sinne eines Lebendigwerdens des Dialogs bei der Behandlung organischer Läsionen: Sie bewirkte Schmerzlinderung und eine Reduktion des Medikamentenverbrauchs. Es zeigte sich, dass der Austausch, die Kommunikation, das fürsorgliche Interesse dabei halfen, ein psychoökonomisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, die Ich-Funktionen zu bewahren, die Ich-Grenzen durch Kommunikation und Funktionslust zu stärken und zu erweitern, und schließlich auch: den Schmerz mitteilbar zu machen. Die Bildung einer „Haut aus Worten" beziehungsweise eines „Sprachkörpers" - als ein symbolisches Äquivalent körperlicher Intaktheit - könne zum „Behälter für die Affekte" werden und mache den Schmerz im verletzten realen Körper erträglicher. Eine derartige unanstößige Erotisierung der therapeutischen Situation zu einer Haut aus Worten ermögliche psychische Berührung vor allem da, wo auf reales Berühren verzichtet werden müsse, weil es aus verschiedenen Gründen unmöglich und schmerzlich wäre. „Unanstößig" bedeutet hier auch, dass es um eine Amplifikation, nicht um eine Reduktion des sinnlichen Erlebens und um eine Stärkung und Vitalisierung der Wahrnehmung und des Wirklichkeitssinnes geht. Die auf diese Weise entstehende emotionale Intensität der Objektbeziehung moduliere den Schmerz, mache ihn repräsentierbar, dadurch tolerierbarer und könne auch helfen, die individuellen Sinneswahrnehmungen von vorbewusst aktivierten, Angst machenden, kollektiven Grausamkeits-Fantasien zu unterscheiden. Der Schmerz, so Anzieu (1985/1991, S. 258), werde im Zuge der Erotisierung wieder „teilbar". Eine solche Besetzung des subjektiven Interesses wirke der Gefahr einer Sinnentleerung und Ich-Zerrüttung entgegen, die der chronische Dauerschmerz ab einer gewissen Intensität nach sich ziehe. Man könnte auch in psychoanalytischer Diktion sagen: Die gemeinsame Lust schütze in der Schmerzerfahrung vor einer Triebentmischung und Entbindung des Todestriebs.
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So wichtig das Verstehen des Zusammenhangs zwischen Schmerz und Lust ist, so komplex ist es auch. Schmerz hat eine andere Qualität und Herkunft als Unlust. Schmerz und Unlust dürfen nicht als synonym missverstanden werden. Genauso wenig dürfen Schmerz und Lust als Gegensatzpaare oder Gegenpole auf ein und derselben psychologischen oder neurologischen Funktionsebene betrachtet werden. Hierin besteht ein wichtiger Konsens zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaft (Solms u. Turnbull, 2004, S. 123). Der Schmerz resultiert aus Läsion und Kränkung. Er signalisiert einen Einbruch, eine Einschmelzung, eine Implosionswirkung, der die Existenz von körperlichen und seelischen Grenzen voraussetzt. Lust und Unlust hingegen resultieren aus dem Kontakt und dem Austausch, seinem Gelingen und Misslingen. Schmerz kann den Wunsch nach Kontakt aufheben. Gleichwohl kann es ab einer gewissen Schmerzintensität zu einer Miterregung libidinöser, sexueller Triebanteile kommen. Denn im Organismus, so Freud (1905, S. 106), könne überhaupt nichts Bedeutsameres vorfallen, „was nicht seine Komponente zur Erregung des Sexualtriebs abzugeben hätte". Von hier aus ergibt sich die Abzweigung zum Masochismusproblem und zur „primären, erogenen Schmerzlust" (Freud, 1924, S. 375). Wenn der Schmerz nachlasse, erlebe man dies als Erleichterung. „Andere, direkte Lust", so Freud (1915, S. 249) „kann aus dem Aufhören des Schmerzes nicht gewonnen werden."
2 Zur Rolle der unanstößigen Erotisierung in Freuds Behandlungstechnik: Fräulein Elisabeth von R. Für den aufgeworfenen Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz liefern Freuds frühe Fallgeschichten beredte Zeugnisse (vgl. Kütemeyer u. Schultz, 1989). Zunächst stellt Freud klar, dass die Hypnose allein der Aufgabe nicht gewachsen ist, den Konversionsschmerz in seine psychische Bedeutung zurückzuübersetzen. Denn die Konversion ist in Wahrheit der Behälter einer verdrängten Erinnerung, und die Heilung lässt sich nicht anders erreichen als durch die Wiedergewinnung der Erinnerung an
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jene seelischen Traumata, die im Körpersymptom gespeichert sind. Dies aber ist nur unter der Bedingung höchster affektiver Beteiligung erreichbar. „Affektloses Erinnern", so Breuer und Freud (1895, S. 85), „ist fast immer völlig wirkungslos." Wie sehr Freud die affektive Besetzung über die Hysterisierung und Erotisierung der Behandlung herbeiführt, zeigt sich auf anschauliche Weise in der genialen Fallgeschichte des Fräulein Elisabeth von R., Freuds erster ,,vollständige[r] Darstellung einer Hysterie". Hier schildert Freud die Behandlung einer Schmerzpatientin (Beinschmerzen mit Abasie), die vom konvertierten Körperschmerz ausgeht. Diesen Körperschmerz erkennt Freud als ein unbewusstes Archiv oder als einen geheimnisvollen „Schacht" verdrängter Erlebnisse, und er versucht, diese wie ein Archäologe Schicht für Schicht freizulegen. Das Freigelegte kann sodann in den psychischen Schmerz zurückübersetzt werden, und die abgespaltenen kränkenden Vorstellungskomplexe können so wieder ins Bewusstsein eingefügt und dort verarbeitet und bewältigt werden. Es geht also darum, das unbewusste Subjekt in die Lage zu versetzen, seine „ganze Geschichte" preiszugeben, und dies kann nur gegen inneren Widerstand gelingen. So kann die Behandlung von Fräulein Elisabeth von R. als die erste Psychoanalyse im eigentlichen Sinne bezeichnet werden. Das Verdrängte, das das analytische Paar herauszuschälen versuchte, war im Kern ein verworfener schwelender SeelenKonflikt, der mit der Moral des Fräuleins nicht zu verbinden war: Eingespannt in eine absorbierende Pflege ihres kranken Vaters musste sie nämlich auf eine unerträgliche Weise ihre eigenen Liebessehnsüchte zurückstellen, die sie heimlich an den Schwager geknüpft hatte. Es war diese Tatsache, den Schwager zu lieben und ihrer Schwester den Tod zu wünschen, die sie unter dem Druck ihrer moralischen Einwände verdrängt hatte. Als ihre Schwester während der zweiten Schwangerschaft an einem Herzleiden starb, wurde Fräulein Elisabeth schmerzkrank. Sie konnte erst wieder genesen, als sie in langer und kleinschrittiger Analyse ihren unmoralischen Wunsch als unausweichliche Lebensäußerung akzeptieren lernte. Was an dieser Behandlungsgeschichte vor allem auffällt, ist das emotionale Engagement Freuds, das über eine distanzierte
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ärztliche Behandlung weit hinausgeht. Wie involviert Freud in diesen Fall war, zeigt seine folgende Bemerkung: „Im Frühjahr 1894 hörte ich, dass sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke in raschem Tanze hinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet" (Freud, 1895, S. 226). Auch sonst ergeben sich in dieser Fallgeschichte viele Hinweise auf die Erotisierung der Übertragungs-Beziehung im Heilungsgeschehen: „Wenn man aber bei Frl.v.R. die hyperalgische Haut und Muskulatur der Beine kneipte und drückte, so nahm ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck an, eher den der Lust als des Schmerzes, sie schrie auf - ich musste denken, etwa wie bei einem wollüstigen Kitzel - , ihr Gesicht rötete sich, sie warf den Kopf zurück, schloß die Augen, der Rumpf bog sich nach rückwärts, das alles war nicht sehr grob, aber doch deutlich ausgeprägt und ließ sich nur mit der Auffassung vereinigen, das Leiden sei eine Hysterie und die Reizung habe eine hysterische Zone betroffen. Die Miene passte nicht zu dem Schmerze, den das Kneipen der Muskeln und Haut angeblich erregte, wahrscheinlich stimmte sie besser zum Inhalte der Gedanken, die hinter diesem Schmerze steckten und die man in der Kranken durch Reizung der ihnen assoziierten Körperstellen weckte (...) Wir empfahlen Fortsetzung einer systematischen Knetung und Faradisierung der empfindlichen Muskeln, ohne Rücksicht auf den dadurch entstehenden Schmerz, und ich behielt mir die Behandlung der Beine mit starken Franklinschen Funkenentladungen vor, um mit der Kranken in Verkehr bleiben zu können (...) Wir erzielten so eine leichte Besserung. Ganz besonders schien sie sich für die schmerzhaften Schläge der Influenzmaschine zu erwärmen, und je stärker diese waren, desto mehr schienen sie die eigenen Schmerzen der Kranken zurückzudrängen" (Freud, 1895, S. 200). Erst auf diesem so gefestigten Kontakt kann sich schließlich die eigentliche psychologische Behandlung „der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials" aufbauen. Metaphorisch könnte man von einer allmählichen libidinösen Besetzung des „inneren Auges", der Einbildungskraft, sprechen, mithilfe derer die autobiografischen Zusammenhänge Stück um
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Stück rekonstruiert werden, und zwar immer im Zusammenhang mit dem Symptom und unter dem Gewicht des stärksten Affekts. In einem fortgeschrittenen Stadium der Behandlung war die Patientin jeweils zu Beginn der Behandlungsstunde schmerzfrei, bis eine heikle Erinnerung wachgerufen wurde. Geschah dies, so „meldete sich zuerst eine Schmerzempfindung, meist so lebhaft, dass die Kranke zusammenzuckte und mit der Hand nach der schmerzenden Stelle fuhr. Dieser geweckte Schmerz (Hervorhebung vom Ref.) blieb stehen, solange die Kranke von der Erinnerung beherrscht war, erreichte seine Höhe, wenn sie im Begriffe stand, das Wesentliche und Entscheidende an ihrer Mitteilung auszusprechen, und war mit den letzten Worten dieser Mitteilung verschwunden. Allmählich lernte ich, diesen geweckten Schmerz als Kompass zu gebrauchen; wenn sie verstummte, aber noch Schmerzen zugab, so wusste ich, dass sie nicht alles gesagt hatte, und drang auf Fortsetzung der Beichte, bis der Schmerz weggesprochen war. Erst dann weckte ich eine neue Erinnerung" (Freud, 1895, S. 212). Man könnte sagen, dass in der Geschichte dieser Kranken ständig neue erogene Zonen mit Schmerzmotiven entstanden, deren Abtragung über kathartische, rekonstruktive, assoziative und einsichtserweiternde Erzählungen, die die verdrängten Reminiszenzen ins Bewusstsein hoben, allmählich den Weg zur dauerhaften Schmerzfreiheit ebnete. Den unbewussten Knotenpunkt, auf den hin die Erzählungen der Patientin kulminierten, fasste Freud in einer Deutung zusammen, die zur eigentlichen Nagelprobe der Kur wurde. Dass sie auf entschiedenen affektiven Widerstand stieß, begriff Freud nicht als Widerlegung, sondern erst recht als Beleg für ihre Signifikanz und Wahrheit: „Sie schrie laut auf, als ich den Sachverhalt mit trockenen Worten zusammenfasste: Sie waren also seit langer Zeit in den Schwager verliebt. Sie klagte über die grässlichsten Schmerzen in diesem Augenblicke, sie machte noch eine verzweifelte Anstrengung, die Aufklärung zurückzuweisen." Und er fügte hinzu: „Es (...) dauerte lange, bis (...) meine (...) Tröstungen (...) Eindruck auf sie machten" (Freud, 1895, S. 223). Das Subjekt verankert sich lieber im körperlichen Schmerz als sich einer Veränderung auszusetzen, die als unerträglicher Ver-
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zieht wahrgenommen wird (vgl. Pontalis, 1977/1998, S. 224). Die Rückführung der Konversion in die Erinnerungsarbeit, die Deutung der Schmerzen und die Überwindung des Widerstandes von Seiten des Patienten setzt also eine vitale libidinose Besetzung der Objekt- oder genauer: Übertragungsbeziehung voraus und ist ohne affektive Intensität vergeblich. Umgekehrt hat die französische Psychosomatik beschrieben, wie die psychische Kränkung und der seelische Schmerz zu einem Rückzug der libidinösen Besetzung und zu einem Entzug der Affekte führen können. Wenn dies geschehe, komme es zunächst zu einer Auflösung der Sinnbindung, zu einer Anästhesierung des Erlebens und zu einer merkwürdigen Herbeiführung der Nicht-Existenz dessen, der verstehen will. Die energetische Besetzung des Fantasierens und die Resonanztiefe der Beziehung verflache, die Traumvorgänge sistierten, die affektive Vorstellungsaktivität erlösche, und stattdessen werde die faktische Realität auf zusammenmontierte, mechanistische, operationalisierte Weise überbesetzt. Es entstehe eine Alexithymie und ein operationales Denken („Pensée opératoire"; Marty u. de M'Uzan, 1978). Unter psychischem Stress komme es leicht zu einer Entregelung des Sornas, und die Schmerzempfindlichkeit steige. In umgekehrter Richtung folgt daraus, dass das psychische Leben mit der libidinösen Besetzung und mit dem sinnlichen Begehren beginnt, an den erogenen Zonen des Körpers anknüpft und die körperlichen Funktionen schützt. McDougall (1997, S. 342) fasste diesen Zusammenhang in der Aussage zusammen: „Die leidenschaftlichen Gefühle stehen auf der Seite des Lebens. Das wahre Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Indifferenz."
3 Fragestellung Gibt es ein Modell, das bezüglich des Wesens und der Genese des Schmerzes erklären kann, warum das in der Kommunikation hergestellte Lustgefühl dem Schmerz entgegenwirkt? Welche Rolle spielt die Lust beim Aufbau eines Reizschutzes gegenüber dem Unerträglichen? Welche Faktoren unterstützen den „seelischen Apparat" bei der Bindung traumatogener Reizeinwirkung,
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bei der Bewältigung von Schmerzreizen und beim Wiedergewinnen eines psychoökonomischen Gleichgewichts? Folgt der Sprachsinn physiologischen Gegebenheiten, wenn er die seelische Pein, die im Symbolischen situiert ist und auf eine soziale Kränkung zurückgeht, den körperlichen Schmerzen gleichstellt, die auf einer Gewebsläsion beruhen und in der Realität des Leiblichen wurzeln? Wenn Gaddinis Aussage zutrifft, dass die Psyche dem Körper nachgebildet ist, könnte uns dann das neurophysiologische Verständnis des Körperschmerzes per Analogieschluss nicht auch Aufschlüsse über die Kränkungsabläufe in der Seele liefern ? Der Phantomschmerz scheint für eine Vertiefung des Schmerzverständnisses schon deshalb besonders geeignet und aufschlussreich, weil er von Veränderungen in der Peripherie seinen Ausgang nimmt und sich dann aber wie kaum ein anderes Phänomen mitten in der Leib-Seele-Problematik situiert: Es schmerzt etwas, das nicht mehr da ist! Andererseits handelt es sich um ein systematisch untersuchtes neurowissenschaftliches Schmerzphänomen, dessen physiologische Vorgänge sich von den Veränderungen in der Peripherie bis zu den Modifikationen in der Großhirnrinde einigermaßen plausibel in der Neuro-Materie verifizieren und naturwissenschaftlich konzeptualisieren lassen.
4 Zur Klinik und Neurophysiologie des Phantomschmerzes Zur Klinik und Physiologie des Phantomschmerzes gibt es ein breites Spektrum medizinischer Literatur, aus der ich die wichtigsten klinischen Parameter zusammenfasse. Der Übersichtlichkeit halber verzichte ich möglichst auf umfängliche Zitierung und verweise stellvertretend auf die guten Übersichten bei Karl (1999) und Fritsche (2001) sowie auf Ramachandran und Blakeslee (2002). Phantomschmerzen treten am häufigsten nach der Amputation von Gliedmaßen auf, aber auch nach Brustamputationen, Rektumamputationen, Entfernungen von Hoden und Penis,
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Enukleation des Auges, Entfernung der Zunge, Hysterektomien, Appendektomien und anderen amputativen Eingriffen. Phantomschmerzen können - was für den unten diskutierten Fall wichtig ist - auch nach der Extraktion der Zähne auftreten in der Form atypischer Odontalgien, das heißt Dauerschmerzen im Bereich eines ehemaligen Zahns: Diese atypische Odontalgie, die sich zum atypischen Gesichtsschmerz ausweiten kann (Egle, Hoffmann, Lehmann u. Nix, 2003, S. 276), tritt in der Regel nach einer Durchtrennung primärer afferenter trigeminaler Nervenfasern im Zuge einer zahnärztlichen Behandlung auf. Man spricht dann terminologisch von einem „Phantomzahnschmerz" (Türp, 2001, S. 59 ff.). Die atypische Odontalgie wird gelegentlich zusammen mit anderen Schmerzdiagnosen unter der Bezeichnung „idiopathische orofaziale Schmerzen" zusammengefasst (Türp, 2001). Dem Phantomschmerz vergleichbare Schmerzen können auch ohne das Vorliegen einer Amputation bei deafferentierten Gliedmaßen (d. h. Lähmung der versorgenden Nerven wie in der Nase bei Durchtrennungen des Trigeminusnervs im Gesicht) und Läsionen des zentralen Nervensystems (z. B. Querschnittslähmung) auftreten. Die schmerzhaften Empfindungen an der Stelle des verlorenen Körperteils können unterschiedlichste sensorische Qualitäten annehmen, zum Beispiel brennend, stechend, klopfend, kribbelnd, pochend, einschießend, stoßend, krampfartig, vom Verlauf her attackenartig von einigen Sekunden bis mehrere Stunden, episodisch über Tage oder kontinuierlich sein. Den Phantomschmerzbild kann kompliziert und überlagert werden durch unterschiedlichste Schmerzempfindungen wie etwa ischämieartige Missempfindungen, Schmerzqualitäten wie „gequetscht", „eingezwängt" im Sinne schmerzhaft verdreht wahrgenommener Gliedmaßen oder geballter Fäuste mit schmerzhaft in die Handballen gegrabenen Fingernägeln. Die verschiedenen Schmerzphänomene werden oft am stärksten an jenen Stellen des fehlenden Körperteils empfunden, die vom Körper am weitesten entfernt liegen. Von den Phantomschmerzen können die Stumpfschmerzen unterschieden werden, die nach der Wundheilung im Gebiet der Amputationsnarbe auftreten, zum Beispiel durch mechanische Reizung oder auch in Phasen der Berührungsempfindlichkeit
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beim Kontext von Ermüdung und Wetterwechsel. Oft ist das Narbengebiet an der Stelle dann kalt, zyanotisch, minderdurchblutet. Phantom- und Stumpfschmerzen können auch gemeinsam auftreten und im Schmerzgefühl ineinandergehen. Von den Schmerzempfindungen können zudem Phantom- und StumpfEmpfindungen nichtschmerzlicher Art unterschieden werden: Dies können Empfindungen kinästhetischer (Größen-, Längen-, Volumenveränderungen des Phantomglieds, z. B. Teleskop-Phänomen), kinetischer (spontane, gewollte oder assoziierte Bewegungen des Phantomkörperteils) sowie exterozeptiver und kutaner Natur (Berührungs-, Druck-, Temperatur-, Kribbel- oder Juckempfindungen) sein. Schließlich gibt es noch übertragene Phantomerscheinungen, die besonders rätselhaft wirken und im Phantomglied durch Stimulation in anderen Körperzonen hervorgerufen werden: Eine Berührung oder Kälteempfindung im Gesicht kann als Berührung oder Kälteempfindung an der Phantomhand erlebt werden, ein Lächeln kann die Phantomhand spürbar machen, Rasieren kann Handjucken auslösen, Geschlechtsverkehr kann im Phantombein seltsame Empfindungen hervorrufen, orgastische Erfahrungen können sich auf den Fuß ausweiten, Reizung der Ohrläppchen kann zur Erregung der Brustwarze in der Phantombrust führen, ja eine Blickbewegung kann bei bestimmten Dysfunktionen in der Hörbahn (bei Deafferenzierungsvorgängen aufgrund von Verarbeitungsstörungen oder zerebralen Schädigungen) sogar einen Tinnitus (Ohrenklingen) hervorrufen (Moller, 2000). Das rationale Bewusstsein, dass der entsprechende Körperteil in Wirklichkeit verloren ist, ist dabei sehr wohl vorhanden, jedoch sind diese sensorischen Erfahrungen für den Amputierten zugleich subjektiv sehr real. Die körperliche Substanz fehlt, aber das Erlebnis- und Vorstellungsbild wird dynamisch und lebendig empfunden. Leider gibt es immer noch wenig überzeugende psychologische Erklärungen an dieser Stelle (Kütemeyer u. Schultz, 1989, S. 189; Uexküll, 1996, S. 1008). Wie sieht es mit den neurophysiologischen Erklärungen aus? Mit Hilfe nichtinvasiver Stimulations- und Bildgebungsverfahren wie transkranielle Magnetstimulation (TMS), ereigniskorrelierte Potenziale (EKP), somatosensorisch evozierte Po-
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tenziale (SEP), ereigniskorrelierte motorische Hirnpotenziale (MECP), Elektromyografie (EMG), Elektroenzephalografie (EEG), Magnetresonanz-Tomografie (MRT), Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und computergestützte Überlagerungsprogramme zur Quellenlokalisation konnte in den letzten Jahren detailliert gezeigt werden, dass sowohl der sensorische als auch der motorische Kortex bei Tieren wie bei Menschen einer sowohl nutzungs- als auch verletzungsbedingten Plastizität unterliegt (Karl, 1999). Wenn es nun zu einer Deafferenzierung eines Körperteils kommt, das heißt zu einem amputationsbedingten Verlust des sensorischen Inputs, wird die Stelle, an der der betreffende Körperteil im Kortex kartografiert ist, von den benachbarten Territorien infiltriert. Sensible Nervenfasern, die früher die Gesichtsregion aktivierten, innervieren nun den Handkortex, was auch die oben beschriebenen Merkwürdigkeiten orofazialer Auslösung von Phantomhandempfindungen erklären könnte. Die durch die neuen Bildgebungsverfahren visualisierbaren Hirnkarten lassen sich also durch afferente Einflüsse verändern und somatotop nachweisbar umkartieren, sei es durch Nutzung (z. B. vergrößertes Handareal bei Geigern), sei es läsionsbedingt wie im Falle des Phantomschmerzes. Flor et al. (1995) fanden bei Armamputierten eine Verschiebung der Gesichtsrepräsentation um 1,5 Zentimeter ins Handareal. Hieraus wurde die für die Behandlung des Phantomschmerzes wichtige Frage abgeleitet, inwieweit eine trainingsinduzierte Plastizität eine läsionsbedingte maladaptive kortikale Reorganisation zurückdrängen könnte. Für die Phantomschmerzgenese gibt es nun verschiedene Hypothesen. Kütemeyer (2002) erklärt den neurophysiologischen Mechanismus des Deafferenzierungsschmerzes nach Amputation als periphere (s. u.) Durchtrennungsfolge der schmerzhemmenden dicken A-Beta-Fasern, die nunmehr die Berührungs-, Bewegungs- und Schmerzreize ungefiltert in die zum amputierenden Glied gehörenden (spinalen und zerebralen) Schmerzverarbeitungsareale gelangen lassen. Andere Hypothesen (Spitzer, Böhler, Weisbrod u. Kischka, 1995) bleiben in ihrer Lokalisierung allgemeiner und postulieren, dass es durch den Wegfall afferenter Eingänge zu einer verringerten Ordnung des
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sensorischen Zustroms und zu einem erhöhten unspezifischen neuronalen Rauschen komme, zum Beispiel durch irreguläre Spontanaktivität der Neuronen auf spinaler Ebene. Dieses Rauschen führe wiederum zu einer Erhöhung der Neuronenaktivierung und induziere eine Funktionsübernahme in den Nachbarstrukturen. Da diese Veränderungen häufig maladaptiv erscheinen, bleibe ihr biologischer Nutzen einstweilen unklar. Die Reorganisation müsse sich nicht auf den sensorischen Kortex beschränken, sondern beziehe häufig auch den motorischen Kortex und andere Bereiche (z. B. subkortikale, thalamische, limbische etc.) mit ein. Diese Reorganisation sei nun weder mit einer Tilgung des Areals des verlorenen Körperteils gleichzusetzen, noch erscheine sie zweckmäßig wie bei einer trainingsbedingten Reorganisation. Möglicherweise lägen die funktionellen Gründe für die Maladaption im Verrauschungscharakter der Input-Muster, der zur Aktivierung von Neuronen führt, die ihres normalen Inputs beraubt wurden, nach wie vor aber die deafferenzierten Input-Muster zu codieren versuchen und zu Falschinterpretationen in höheren Neuronennetzen beitragen. Schmerz sei eben mit der Aktivierung viel größerer, komplexerer kortikaler und subkortikaler Netzwerke verknüpft als nichtnozizeptiver Einstrom (Karl, 1999, S. 215). Durch Reverberation in diesen Netzwerken könne es daher auch zu einer assoziativen Stärkung von Engrammen kommen, die der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses zugrunde lägen. Interessanterweise sind auch bei anderen chronischen Schmerzsyndromen (z. B. Rückenschmerzen) Vergrößerungen im somatosensorischen Areal nachgewiesen worden. Des Weiteren konnte eine unspezifische kortikale Erregbarkeitssteigerung über weitverbreitete assoziierte Kortex-Netzwerke festgestellt werden, mit der man sich gewisse klinische Beobachtungen erklärt: So antworten Menschen mit Phantomschmerzen auf visuelle und verbale Reize mit einer signifikant höheren kortikalen Aktivierung, egal ob sie schmerzrelevant oder anderweitig verknüpft sind. Das heißt, bei Phantomschmerzpatienten wurde eine erhöhte Verarbeitungstiefe gegenüber kognitivem, semantischem, linguistischem Material im Vergleich zu Amputierten ohne Phantomschmerz und zu Ge-
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sunden festgestellt (Karl, 1999, S. 49). Andere Studien vermuten eine allgemein erhöhte Erregbarkeit zentraler Schmerzempfindlichkeitsregulatoren (Reshetnyak, Kukushkin, Ovechkin, Smirnova u. Gnezdilow, 1996) und gehen von einer Verknüpfung der Schmerzzentren mit einer Unzahl multifokaler interner Stimuli wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Ablenkung, Stress, Angst, Erschöpfung, Depression etc. aus, die die Wahrnehmung der Schmerzintensität verstärken (Karl, 1999, S. 27 u. a. 0.). Eine kortikale Reorganisation scheint durch unterschiedliche Vorgänge zustande zu kommen. So gibt es einerseits schnelle Reorganisationsprozesse, die innerhalb von Minuten ablaufen können und mit der GABA-ergen Demaskierung stiller Synapsen beziehungsweise mit dem cholinergen Wegfall von Hemmungen erklärt werden, und andererseits solche, die sich im Laufe von Stunden, Wochen und Monaten herstellen und auf die Veränderung der prä- und postsynaptischen Effektivität (LTP/LTD = long term potentiation/depression, Effizienzsteigerung veränderter Zellen (Hebb'sches Lernen), Aktivierungsbahnung von NMDA-Rezeptoren, Erhöhung des Glutamatspiegels) zurückzuführen sind oder durch (z. T. chaotisch organisiertes) Wachstum und Aussprossung (sprouting) von Axonen (sowohl kortikal als auch subkortikal und spinal) zustande kommen. Da im Gehirn eine erhebliche Redundanz von Neuronenverbindungen ohne erkennbare Funktion angenommen werden muss, ist es auch denkbar, dass ein sensorischer Input vom Gesicht sowohl zur Gesichtskarte als auch zur Handkarte gehen könnte, aber unter gesunden Bedingungen okkult oder verdeckt bleibt, weil er von den sensorischen Erregungen der realen Hand unterdrückt wird. Das heißt, dass im Normalfall der permanente sensorische Rückstrom, das Feedback der Sinneserregungen, eine differenzierte Kanalisierung, eine sinnvoll geordnete Kartografie aufrechterhalten hilft und umgekehrt im Falle einer Deafferenzierung eine Entregelung erfährt. Ein weiterer Hypothesenkomplex fokussiert das „Schmerzgedächtnis". Katz und Melzack (1990) fanden bei einem hohen Anteil der Phantomschmerzpatienten eine Übereinstimmung der Phantomschmerzen mit präamputativen Schmerzen. Ramachandran und Blakeslee (2002, S. 103) zitieren Berichte von
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Soldaten, denen eine Handgranate in der Hand explodiert sei und deren Phantomhand in der Stellung fixiert sei, in der sie sich im Moment des schrecklichen Geschehens befunden habe: die Finger um die Granate geschlossen und die Hand in Wurfposition, mit einem unerträglichen Explosionsschmerz, der sich in ihr Gehirn „gebrannt" habe. Eine Frau, deren Daumen vor der Amputation häufig Frostbeulen gehabt habe, habe in den Phantomgelenken immer dann unter arthritischen Beschwerden gelitten, wenn es kalt und feucht geworden sei wie im präamputativen Zustand. Diese somatosensorischen Gedächtnisse könnten so lebhaft sein, dass manche Amputierten nicht glauben, dass die Operation stattgefunden hat, obwohl sie es wissen und nicht unter Anosognosie leiden. Bei einem Großteil der von Katz und Melzack (1990) untersuchten Patienten habe der postamputative Phantomschmerz dem präamputativen Schmerz in Qualität und Ort, nicht aber in der Intensität geähnelt, weshalb er ein physisches, somatosensorisches Engramm annahm, das vor der Amputation etabliert und nach der Amputation wiederbelebt wird. (Das erinnert mich an den Fall eines 50-jährigen Bergmanns, dessen Daumen in einem Arbeitsunfall in jungen Jahren verstümmelt wurde und amputiert werden musste und der erstmals qualvoll zu schmerzen begann, als seine Ehe 25 Jahre später in die Brüche zu gehen drohte.) Auch könne sich der nozizeptive Einstrom bei der Operation selbst im Schmerzgedächtnis niederschlagen und die Wahrscheinlichkeit unangenehmer postoperativer Amputationsfolgen erhöhen. Die Beziehungen zwischen dem Schmerzgedächtnis und dem allgemeinen Gedächtnis scheinen eher eine Negativrelation zu ergeben, wie man ja bereits auf dem Hintergrund der psychoanalytischen Konversions- und Verdrängungslehre vermuten kann. In psychischer Hinsicht scheint bei Phantomschmerzpatienten die Tendenz groß zu sein, den Verlust des Körperteils zu verdrängen, zu negieren und rationalistische Bewältigungsstrategien emotionaler Verarbeitung vorzuziehen (Szasz, 1975; Parkes, 1975). Viele dieser Patienten berichten nur ungern über Phantomempfindungen, oft aus Angst, als verrückt zu gelten. Untersuchungen zum Traumerleben zeigen, dass Amputierte sich überwiegend intakt träumen (Karl, 1999). Amputierte Pa-
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tienten, die hilflos und katastrophisch auf den Verlust des Körperteils reagieren, wiesen eine subjektiv höhere Schmerzempfindung und psychische Belastung auf (Hill, Niven u. Knussen, 1995). Bei Krankheiten, die zu einem allmählichen Verlust führten, wie zum Beispiel Lepra, stellten sich hingegen kaum Phantomphänomene ein. Eine fraglos wichtige Rolle bei der Schmerzempfindung und dem Schmerzgedächtnis spielen die subkortikalen Strukturen, vor allem der Thalamus im Zwischenhirn und das limbische System im Vörderhirn. Die thalamischen Kerne, die den hauptsächlichen Einstrom von spinalen nozizeptiven Neuronen erhalten, projizieren in verschiedene Regionen des Kortex: Das nozizeptive System, das Erregungen aus peripheren Schmerzfasern an das Gehirn weiterleitet, kann von nun an von der komplexen Komposition der Schmerzempfindung unterschieden werden. Während das nozizeptive System schmerzspezifisch ist, wird das persönliche Schmerzempfinden in verschiedenen Hirnstrukturen verarbeitet, die selbst nicht schmerzspezifisch, aber an der schmerzlichen Empfindung beteiligt sind. Der Schmerzaffekt geht auf jeden Fall mit einer limbischen Aktivierung im Frontallappen einher. Hypnotische Techniken scheinen durch Aktivierung unter anderem der Insel und des Gyrus Cinguli die Schmerzempfindung alterieren zu können, ohne dabei die Intensität der peripheren noxischen Erregungen selbst zu verändern. Im Unterschied zu nichtschmerzhaften Stimuli ist die schmerzbezogene Aktivierung im Gehirn viel weiter verteilt. Für das Schmerzgedächtnis seien vor allem die Verbindungen des insulären Kortex mit dem somatosensorischen und limbischen System von Bedeutung. Die Schaltkreise auf thalamischer Ebene sind allerdings auch nur Teil der Ereigniskaskade zwischen Peripherie, Rückenmark, Zwischenhirn und Großhirn, die bei der Phantomschmerzgenese eine Rolle spielen. Die Karten des Körpers werden im Falle des Schmerzes vermutlich auf verschiedenen Stockwerken umgeschrieben. Melzacks (1989) Generierungsmodell des Phantomschmerzes geht von einer sogenannten „Neuromatrix" aus, die ein angeborenes ausgedehntes thalamisches Netz darstelle, das für alle sensorischen Eingänge und körperbezogenen Erfahrun-
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gen ein einzigartiges, idiosynkratisches Engramm im Sinne eines dreidimensionalen Körperbildes herstelle und nach und nach durch Lebenserfahrungen modifiziert beziehungsweise mit affektiver Tönung sowie kognitiver Bedeutung verknüpft werde. Innerhalb dieser Neuromatrix werde die Aktivität der verschiedenen sensorischen Systeme zu einem Körperselbst integriert, und von hier aus würden auch motorische Efferenzen vorbereitet. Für die Auslösung von Körperempfindungen sind periphere Reize keine unbedingte Voraussetzung. Wenn eine aktive Neuromatrix keinen modulierenden peripheren Reizeinstrom mehr erhält, könne sie nun abnorme Signalmuster produzieren, die an der Schmerzgenese Anteil haben. Diese Neuromatrix schließe Schleifen zwischen Thalamus, Kortex (insbes. primärer sensorischer Kortex und hinterer Parietallappen) sowie limbischem System mit ein. Die affektiv-motorische Tönung des Schmerzes („Das tut gemein weh!") lasse sich vor allem im Mittelhirn und in der Amygdala (Roth, 2003, S. 320), die Verknüpfung mit Annäherungs- und Vermeidungsverhalten beziehungsweise Lust und Unlust im dorsalen Tegmentum des oberen Hirnstamms (Solms u. Turnbull, 2004 S. 125), und die vegetativen Begleitreaktionen im Hypothalamus-Gebiet lokalisieren (Roth, 2003, S. 320). Durch die vegetative Koppelung mit dem Sympathicus können alle Faktoren, die zu einer Erhöhung des Sympathikotonus führen (z. B. Stress, Wut), auch zur Verstärkung der Phantomschmerzen beitragen (wie umgekehrt in manchen Fällen eine Sympathikusblockade bei Phantomschmerz lindernd wirkt). Die Initialisierung des Phantomschmerzes scheint aber bereits auf einer tieferen, spinalen Ebene stattzufinden. Denn der Verlust des afferenten Einstroms führe schon im Hinterhorn des Rückenmarks zu einer Kaskade morphologischer, physiologischer und neurochemischer Veränderungen. Diskutiert werden erhöhte neuronale Erregung (LTD, „Excitotoxity"; Woolf u. Thompson, 1991), Aussprossung von Neuronen in afferente intakte Nachbarnerven (Murray u. Goldberger, 1986; dieses Phänomen sei möglicherweise verantwortlich für die distale Betonung der Phantomschmerzen) sowie eine verringerte absteigende Hemmung im Sinne der körpereigenen Schmerzmodulation durch das endogene Opiatsystem und andere hemmende Rü-
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ckenmarksbahnen. Polypeptide (Substanz P) und NMDA-aktivierende exzitatorische Aminosäuren (z. B. Glutamat) können nach Deafferenzierungen beteiligt sein an reizunabhängigen Depolarisationen, Zellbeschädigungen sowie der Entstehung eines spontanen Schmerzgenerators durch synaptisches Remodelling. Das hormonal induzierte Absterben inhibitorischer Interneuronen führe zu einer Inaktivierung des Gate-ControlMechanismus, mit dessen Hilfe periphere sensorische Erregungen über die Aß-Fasern normalerweise die Fortleitung von Schmerzerregungen hemmen können. Dies hat zur Konsequenz, dass Berührungs-, Bewegungs- und Schmerzreize ungefiltert in die zum amputierten Glied gehörenden Schmerzverarbeitungsareale gelangen (Hallen, 1956; Kütemeyer, 2002). Auch im peripheren Nerven kommt es nach der Durchtrennung der Axone zu einer Reihe pathogener Veränderungen, etwa zu einer Veränderung der Ionenkanalpermeabilität im Neuron durch Überproduktion von Natriumkanälen, zur Neurom-Bildung (Aussprossung) mit erhöhter Sensibilität, zur schnelleren Aktivierung nozizeptiver C-Fasern sowie zur chaotischen Reinnervation des Stumpfes mit der Formierung ektopischer Erregungsbildung, die zu einer veränderten Sensibilität führt. Ein Axon, das sonst nur der Weiterleitung dient, kann die Eigenschaften eines Rezeptors annehmen. Nichtnozizeptive Rezeptoren (Aß-Fasern) können unter bestimmten Bedingungen anfangen, wie A5- oder C-Fasern nozizeptive Botschaften zu transportieren (Raja, Meyer, Ringkamp, Campbell, 1999), sodass schon leichter mechanischer Druck oder Kälte Schmerz auslösen (Allodynie). Zudem können polymodale nozizeptive Rezeptoren sensibilisiert werden und zu einer Senkung der Schmerzschwelle führen. Allerdings scheinen diese peripheren Mechanismen eher den Stumpfschmerz als den Phantomschmerz zu erklären, denn sonst würde der Phantomschmerz durch Leitungsblockaden peripherer Neurone effektiver gelindert. Umgekehrt können Stumpfschmerzen Phantomschmerzen bahnen und verstärken. So fanden Sherman und Arena (1992), dass die Intensität des Phantomschmerzes bei verringertem Oberflächenblutfluss und erhöhter Muskelspannung am Stumpf stärker wurde.
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Der Phantomschmerz gilt als relativ behandlungsresistent, und die verschiedenen Therapieverfahren bleiben unter einer Erfolgsquote von mehr als 30 %, was einem Placebo-Effekt entspreche (Winter-Barnstedt, 2001). Die Bemühungen sind heute eher präventiv, das heißt, verbesserte Anästhesie-Techniken vor, während und nach der Amputation (Leitungsblockaden zusätzlich zur Vollnarkose) zur Verhinderung des Ausbaus eines Schmerzgedächtnisses, sodann verbesserte Stumpfversorgung, psychologische Vorbereitung der Amputation, später Antikonvulsiva, Sympathikusblockaden, Lokalanästhesie an Triggerpunkten, transkutane elektrische Nervenstimulation zur Aktivierung schmerzhemmender nichtnozizeptiver Nervenfasern, vibratorische Stumpf-Stimulation, trizyklische Antidepressiva, Opioide, NMDH-Antagonisten Memantine (Fritsche, 2001) und schließlich Stimulationsverfahren auf der Ebene des Thalamus und des Rückenmarks zur Aktivierung des absteigenden schmerzhemmenden Systems. Destruierende operative Verfahren (Stumpfkorrektur, Nervendurchtrennung, Neuromentfernung, Rhizotomie, Chordotomie) haben sich hingegen als unwirksam erwiesen. Wirksamer ist der Einsatz von Biofeedback-, Hypnose-, Entspannungs-, Imaginations- und traumatherapeutischen Verfahren. Bei Letzteren wird eine Schmerzreduktion mit einer Veränderung der kognitiv-emotionalen Schmerzkomponente und einer Modifikation schmerzbezogener Gedächtnisinhalte begründet (Fritsche, 2001, S. 24). Nun haben die systematischen Untersuchungen von Karl (1999) und Fritsche (2001) zur plastischen Reorganisation beim Phantomschmerz einen besonders interessanten Befund ergeben: dass nämlich der frühe und häufige Gebrauch einer Prothese der maladaptiven deafferenzierungsbedingten kortikalen Reorganisation und dem Phantomschmerz entgegenwirke und dass der Phantomschmerz umso weniger chronifiziere, je früher nach der Amputation mit der Anpassung der Prothese begonnen werde. So ermögliche eine Prothese nicht nur eine orthopädische, sondern auch eine neuronale Kompensation im Kortex. Vor allem bei Prothesen, die ein hohes Maß an Aktivität erfordern und durch eine hohe Funktionalität gekennzeichnet sind, wie zum Beispiel myoelektrisch gesteuerte Prothesen sei der Rück-
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gang der maladaptiven Reorganisation und des Phantomschmerzes signifikant. Zu ähnlichen Ergebnissen führe die Anwendung von sensorischem Diskriminationstraining. Dies erklären die Untersucher mit der Hypothese, dass der ungeordnete pathologische neuronale Einstrom - Rauschen - aufgrund der permanenten, durch Prothesengebrauch bedingten Muskelaktivität durch einen polysensorischen, integrierten, „geordneten Einstrom" in die deafferenzierten Areale des Kortex kompensiert werde. Dies werde zudem unterstützt durch das visuelle Feedback und die bilaterale Bewegungsintegration und führe auf kortikaler Ebene zu einer Stärkung nichtnozizeptiver assoziativer Netzwerke (Karl, 1999; Fritsche, 2001). Die Bedeutung visueller Rückkoppelungsprozesse und ihrer Interaktion mit propriozeptiven Reizen für die Auflösung von Phantomschmerzen hat auch Ramachandran und Blakeslee (2002) beschrieben. Diese neurophysiologischen Untersuchungsergebnisse zur Genese und Linderung des Phantomschmerzes ermöglichen nun interessante heuristische Extrapolierungen hinsichtlich der schmerzrelevanten Vorgänge und Veränderungen im psychoanalytischen Prozess. Sie könnten die bisherigen Spekulationen, wie die Psychoanalyse Strukturveränderungen in der neurophysiologischen Architektur und in der Schmerzökonomie bewirken könnte, vertiefen, erweitern und präzisieren. Die „Deafferenzierungsvorgänge" auf der körperlichen Ebene könnten in Analogie gesetzt werden zum „Affektentzug" beziehungsweise „libidinösen Besetzungsentzug" oder auch emotionalen Desinteresse auf der psychischen Ebene - kurz: mit dem traumatischen Abgerissensein von einem glücklichen Zustand und dessen Abwehrfolgen - , wenn auch eingeräumt werden muss, dass derartige begriffliche Analogisierungen die Kluft zwischen den leiblichen und seelischen Vorgängen eher verdeutlichen als schließen. „Tatsächlich wissen wir nicht", räumen Ramachandran und Blakeslee (2003, S. 102) ein, „wie das Gehirn die Impulsmuster der Nerven in bewusste Erfahrung übersetzt - egal, ob es sich um Schmerz, Lust oder Farbe handelt." Worauf uns die naturwissenschaftlichen und systematischen Befunde jedoch hinweisen, ist, dass zwischen erogener sinnlicher Wahrnehmungserfahrung und chronischem Schmerz eine um-
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gekehrte Relation zu bestehen scheint; des Weiteren, dass sinnliche Exterozeption einen analgetischen, schmerzhemmenden Einfluss zu haben scheint und dass der psychophysische Organismus die Deafferenzierung durch Abtrennung eines Körperteils (und seiner Funktion bzw. Potenzialität als erogener Zone, die entsprechenden sensorischen Input vermittelt) durch Ersatzbildungen zu kompensieren versucht. Der Rückgang des Phantomschmerzes beispielsweise durch frühen und ausgiebigen Gebrauch myoelektrischer Prothesen beziehungsweise in umgekehrter Relation die Persistenz oder Verstärkung der Phantomschmerzen durch Inaktivierung und Schonhaltung der verletzten Körperpartie könnte somit - bei einiger Kühnheit der Schlussfolgerungen - auch mit einem heuristischen Modell zur Bewältigung des psychischen Schmerzes und zur Unterscheidung von Trauerarbeit und depressivem Rückzug korrespondieren. In praktischer und behandlungstechnischer Hinsicht erscheint mir die Phantomschmerzforschung ein Exempel dafür zu sein, wie die Kenntnis beider Wissenschaften, der Psychoanalyse wie der Neurophysiologie, zu einer wechselseitigen Präzisierung der Konzeptbildungen beitragen könnte. Namhafte Neurowissenschaftler (s. Roth, 2003) haben bereits die Vermutung vertreten, dass es in den Veränderungsprozessen der psychoanalytischen Behandlung zu veränderten Netzwerken in der Amygdala und anderen limbischen Zentren kommt, dass die therapeutische Stärkung des bewussten und zum Unbewussten geöffneten Ich mit einem gesteigerten Einfluss des orbitofrontalen und cingulären Kortex auf die Amygdala einhergeht, dass die wirksamere Impulskontrolle und der Rückgang der Destruktivität mit der Auflösung „verknoteter" Netzwerke im limbischen System korrelieren, und - last but not least - dass der psychoanalytische Prozess Zeit braucht, weil diese zerebralen Veränderungen jenseits der hypnogenen und anderen schnellen Hemmungs- und Demaskierungsvorgängen nur in kleinen Schritten und unter großem Zeitaufwand möglich sind. Die Theorie des Phantomschmerzes und der „Deafferenzierungsfolgen" wiederum könnten veranschaulichen, warum die Übertragung und die emotionale Besetzung mit einem hinreichenden Feedback sinnlicher Erfahrungsqualitäten bei
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diesen Veränderungen eine so wichtige Voraussetzung sind und warum die analytische Situation einen analgetischen Effekt induziert, der die schmerzliche Umschrift der geistigen, emotionalen und physiologischen Strukturen unterstützt und möglich macht. So könnten die psychoanalytischen Behandlungserfolge auf Mentalisierungsprozesse und kartografische Umschriften zurückgeführt werden, die mit einer architektonischen Umgestaltung in lokalisierbaren anatomischen Zentren des Gehirns einhergehen. In diesem Falle hätten die Mittel der Sprache und der Bilder die Macht, auf komplexe bio-psycho-soziale Aktivitätsmuster Einfluss zu nehmen und auch somatische Vorgänge umzubauen. Dies wird niemanden überraschen, der mit der Wirkung erregungsbindender und sinngebender Metaphern auf die innere Welt der Gefühle und Vorstellungen und mit den psychosomatischen Folgen solcher Einflussnahme vertraut ist. Wie wichtig für die Veränderungsmöglichkeit eines Patienten eine hinreichend emotionale Dichte und eine ermutigende Qualität der therapeutischen Beziehung sind, wird von Hirnforschern und Psychoanalytikern uneingeschränkt bestätigt. So schreibt Gerald Hüther (2006) in einem Aufsatz über „Beziehungsgestaltung als angewandte Neurobiologie": „Das Gehirn kann sich verändern, aber nur dann, wenn es auch anders als bisher genutzt wird. Aber was muss passieren, damit wir unsere Gedanken auf ganz neue Wege schicken und neue Vorstellungen über das, worauf es im Leben ankommt, entwickeln können? Auch diese Frage ist inzwischen mithilfe der neuen Erkenntnisse der Hirnforscher recht leicht beantwortbar, wenngleich diese Erkenntnisse im Grunde nur das bestätigen, was wir alle längst wissen: Es muss etwas passieren, d. h., eine Person muss etwas erleben oder erfahren, was ihr ,unter die Haut geht'. Es darf nicht so stark sein, dass sie gleich in Angst und Panik gerät. Es sollte als Gefühl vielleicht noch nicht einmal so eindringlich sein, dass es sie betroffen macht, sie also u. U. gar beschämt. Es müsste etwas sein, was sie im Innersten berührt oder irgendwie anrührt. Und anrühren kann einen Menschen nur etwas, was eine alte Sehnsucht in ihm wiedererweckt, was etwas in ihm wachruft oder an etwas in ihm anknüpft, das ihm irgendwie abhanden-
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ist" (Hüther, 2006, S. 84; Hervorhebungen durch Verf.). Der seelische Schmerz infolge einer Trennung von einem geliebten Objekt, insbesondere, wenn es für das Subjekt die Funktion eines Selbstobjekts innehat, kann an Intensität und Unerträglichkeit einem Amputationsschmerz gleichkommen oder ihn überragen. Freud hat den seelischen Schmerz im Unterschied zur Angst, die eine Reaktion auf die Gefahr eines Objektverlusts darstelle, als die „eigentliche Reaktion auf den Objektverlust" (Freud, 1926, S. 307) definiert. Die Trennungs- und Verlassenheitserfahrung in der Schmerzgenese könnte also mit einer „Verrauschung" des Wahrnehmungseinstroms in Verbindung gebracht werden, die die ganze Existenzwahrnehmung umfasst. Fälle extremen Schmerzens können jegliches Interesse am Weiterleben und an der Welt zerstören. Der Schmerz ist in diesem Fall so unerträglich, dass das Ich daran zugrunde geht. In diesem katastrophischen Dauerzustand zerrüttet der Trennungsund Verlustschock das Lustprinzip und mobilisiert den Todestrieb. Hier taucht der Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz in einen Horizont der Negativität und Auslöschung, und der Schmerz lässt jegliche Perspektive auf eine Wiederkehr neuer Lustmöglichkeiten unmöglich erscheinen. Deshalb kann Goethe im „Werther" schreiben: „Die menschliche Natur hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist." Anders gesagt: Ein vollständiger existenzieller Affektentzug oder Liebesentzug, wie er bei einem radikalen Objektverlust, der vom Ich nicht bewältigt werden kann, auftritt, kann imstande sein, jegliches Interesse am Weiterleben und an der Welt zu vernichten. Das Belebende der Seele und das Lebendige des Leibes entbehrt dann der affektiven Resonanz auf eine Weise, dass der Lebenswille erlischt und die Stoffwechselprozesse objektiv entgleisen, wie beispielsweise Spitz (1946) es in Zuständen anaklitischer Depression beschrieben hat. Damit komme ich zum praktischen Teil meiner Überlegungen. Ich möchte Ihnen nun die Fallgeschichte einer Musikstudentin und ihrer zweijährigen Analyse schildern, die die oben diskutierten Zusammenhänge zwischen Deafferenzierung, Phantom-
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schmerz und Genesung im konkreten Behandlungsverlauf veranschaulicht.
5 Passagen aus einer psychoanalytischen Schmerztherapie Der Unfall hatte sich etwa ein halbes Jahr vor dem Erstinterview zugetragen. Es sollte noch ein weiteres halbes Jahr dauern, bis sie mir den Hergang schilderte, vielleicht, weil sie so große Scham vor der Absurdität des Geschehenen empfand: denn es geschah aus einem „albernen Spiel" heraus, in der Endphase beziehungsweise nach dem Beenden ihrer Freundschaft mit einem Kommilitonen. Sie war soeben in die Wohnung zurückgekommen, wollte rasch wieder weg zur Probe und sah den Freund nicht, der hinter einem Vorhang kauerte und ihr einen Überraschungsbesuch abstatten wollte. In der Eile stolperte sie über ihn, er richtete sich reflexhaft auf und stieß ihr mit dem Hinterkopf mit solcher Wucht gegen den Oberkiefer, dass ihr - nach außen hin unsichtbar - die vordere Zahnleiste brach. Der Zahnarzt diagnostizierte eine Alveolarfortsatzfraktur im Bereich der gesamten Oberkieferfront und versuchte die reponierte Kieferleiste sowie die luxierten Zähne durch Schienung zu stabilisieren. Dann aber entwickelte sich eine Infektion und breitete sich im ganzen Verletzungsbereich aus. Die Infektion war medikamentös nicht zu beherrschen und erzwang eine Extraktion der beteiligten Zähne sowie eine Dekortikation des Alveolarbereichs. Die Patientin wurde zunächst mit einer provisorischen Prothese versorgt, und es war geplant, mittels Implantaten die Oberkieferfront zu rekonstruieren, sobald sich die Entzündungen beruhigt haben. Nach der Z a h n e x t r a k t i o n u n d weiteren Eingriffen entwickelte die Patientin jedoch starke Zahn- u n d Kieferschmerzen, die sich schließlich auf den ganzen Kopfbereich ausweiteten und zur Studierunfähigkeit führten. Die Schmerzkomplikationen, die drohende Chronifizierung, die Erfolglosigkeit der somatischen S c h m e r z b e h a n d l u n g u n d die Vermutung, dass psychische Belastungsfaktoren den Genesungsverlauf er-
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schweren, haben die Patientin veranlasst, psychotherapeutische Hilfe zu suchen. In der Begegnung spüre ich Sympathie auf den ersten Blick. Die Patientin ist eine attraktive, vitale Frau mit schönen Gesichtszügen und von intelligentem, charmantem und nuanciertem Wesen. In ihren Bewegungen wirkt sie zögerlich, vielleicht ein wenig gehemmt, und auch von ihrer Stimme her erscheint sie so, als würde sie die volleren Register, die zu ahnen sind, in sich zurückhalten. Die Prothese ist ihr nicht anzusehen, aber es ist nachfühlbar, wie sie darunter leidet: „Ich komme mir vor wie eine alte Frau. Einmal ist mir die Prothese in der Mensa runtergefallen und ich stand dann ohne Zähne da." Gleich schildert mir die Patientin ihren Schmerz und wie er immer stärker um sich griff: „Ich habe oft nur noch so eine Schmerzwolke um meinen Kopf herum und weiß dann nicht mehr, wie ich da herauskomme. Ich habe Albträume mit Bildern vom Krankenhaus und von Ärzten und seit mehreren Monaten fast gar nicht mehr schlafen können. Das absorbiert meine ganze Aufmerksamkeit, hat auch zu einer totalen Konzentrationsschwäche geführt, die sich besonders beim Musizieren auswirkt. Es ist dann, als wäre ich ganz ausgeleert." Und weiter erzählt sie: „In letzter Zeit sind auch Ängste und Hemmungen dazugekommen, die ich sonst nur aus meiner Kindheit kannte. Die kommen jetzt immer wieder in unterschiedlicher Form, zum Beispiel als extreme Platzangst oder eine ständige Angst, das Geringste falsch zu machen. Das, was ich tue, und das, was ich möchte, kriege ich nicht mehr zusammen, und was ich in mir habe, kann ich nicht zur Entfaltung bringen. Zeitweise bin ich nur noch verzweifelt, kann nicht mehr studieren, weiß nicht, wie ich mir helfen kann." Bald wurde deutlich, dass bereits vor dem Unfall ein latenter Behandlungswunsch vorhanden war: „Ich dachte schon länger, dass ich professionelle Hilfe bräuchte, hatte aber weder Kraft noch Vorstellung, meine Probleme aufzuarbeiten, wollte auch gar nicht mehr an die Kindheit denken. Dies ist jetzt nach dem Unfall anders geworden. Ich dachte nun, vielleicht kann mir eine Therapie beim Eindämmen und Abbauen meiner Ängste helfen. Meine Vorstellung ist, dass ich die Eindrücke meiner Kindheit besser verdauen kann und einen natürlicheren Umgang mit an-
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deren Menschen finde. Meine Hemmungen hindern mich am Leben. Ich hatte bis jetzt noch keine intime Beziehung. Ich habe auch die Vorstellung, wenn ich da weiterkäme, würde das auch immense Auswirkungen auf meine Musik haben." An dieser Stelle wird deutlich, wie rasch sich die konzeptuelle Fragestellung bezüglich des Schmerzes komplizieren kann. Inwieweit kann ein Phantomschmerz auch die Funktion einer Konversion übernehmen, als Stellvertreter für eine psychische Not, und inwieweit können beide - genetisch unterschiedliche Schmerzphänomene - ineinander übergehen oder aufeinander aufsatteln? Ab wann dient der körperliche Schmerz selbst als Prothese für ein angeschlagenes Ich, das einen Zusammenbruch befürchtet? Inwieweit füllt der Schmerz Lücken im seelischen Reizschutz und fungiert als Bollwerk gegen ein Bewusstsein, das die Patientin nicht erträgt, und zwar an der Stelle, wo sie mit den Anforderungen ihres Entwicklungsanspruchs, ihrer Liebesbedürfnisse und ihres Studienalltags nicht mehr fertig wird? Dies alles würde Sinn machen. Allerdings schien mir das Phantomschmerzkonzept als übergeordnetes Prinzip deshalb besonders hilfreich, weil es dazu anhält, die unerträglichen Folgen eines „Abgeschnittensein von sinnlicher Resonanz" in ihrer ganzen psychosomatischen Schmerzlichkeit in der therapeutischen Aufmerksamkeit zu halten. Den Hinweis, ohne Rücksicht alles erzählen zu können, was ihr durch den Sinn geht, greift die Patientin mit großer Erleichterung auf. Was nun im Erstinterview folgte, gleicht einem berstenden Staudamm. Der Übersicht halber fasse ich kurz zusammen, was sie von ihrer Biografie erzählt: Sie ist zwei Jahre nach ihrem Bruder im Süden Deutschlands geboren worden. Die Ehe der Eltern und den familiären Hintergrund ihres Aufwachsens beschreibt sie als „zweigeteilte Welt", die ihr Leben bis heute belaste: „Solange ich denken kann, war es zu Hause immer schwierig, immer eine extrem hohe Anspannung. Es gab viel Krach ohne Sinn und Verstand." Der Vater habe sich mit unerbittlichem Ehrgeiz aus sozial schwachen Verhältnissen zu einer leitenden Position hochgearbeitet, habe eine strenge („Versagen gibt es nicht!"), prüde und
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cholerische Persönlichkeit. Ihre Bindung zum Vater sei „nicht eng, insofern auch, dass er nie viel über mich wusste." Ihre Beziehung zu ihm war von der Kindheit bis heute vor allem von Einschüchterung geprägt. Mit seinem pessimistischen, zwanghaften, geizigen und pingeligen Wesen habe er die Familie tyrannisiert und fürchterliche Ehekräche heraufbeschworen. Gleich nach seiner Heirat habe er sich mit der gesamten Schwiegerfamilie komplett überworfen und von da an jeglichen Kontakt zwischen seiner Frau und ihrer Herkunftsfamilie paranoisch unterbunden. Die Mutter kam aus einer angesehenen pietistischen Familie und war 18 Jahre jünger. Im Grunde war die gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits vom Vater „amputiert" worden. Aber auch vonseiten der Mutter habe es wenig körperliche Zuneigung („Umarmung o. Ä.") gegeben: „Zuhause wurden keine Gefühle, Wünsche, Träume, Ängste ausgetauscht. Ich habe mich eigentlich immer danach gesehnt, und ich habe bis heute Schwierigkeiten, wenn mir jemand nahe kommt. Dann bekomme ich einen Neurodermitis-Ausschlag, zeitweise extrem." Die Patientin war ein Kaiserschnittbaby, wurde nicht gestillt. Ihr Kinderzimmer war ein hallender Durchgangsraum mit großen Fenstern neben dem Elternschlafzimmer, wo praktisch keine Intimität möglich und alles unter Kontrolle war. Als Kind sei sie wild gewesen mit einer Neigung zu Unfällen, die oft chirurgische Eingriffe erforderten: Bänderriss, Ostitis am Finger nach Türquetschung, Kopfverletzung bei Sturz gegen Heizung und anderes. Bis auf seltene negativistische Phasen in der Pubertät und Adoleszenz fand sie im Bruder Anlehnung, Zuneigung und Freundschaft und baute mit ihm „Luftschlösser": „unsere Welt .jenseits' der Familie". Aus Angst vor schlechtem Einfluss habe der Vater die Kinder ständig überwacht, beargwöhnt und Kontakte unterbunden. Sie sei deshalb auch nicht im Kindergarten gewesen. Auch später in der Schule durfte sie abends nicht weg und keine Besuche nach Hause bringen. Einziger Lichtblick waren Orchesterfahrten, die sie als Fluchten aus der familiären Enge genoss. Zum Wendepunkt wurde ein Auslandsjahr in Alaska nach dem Abitur: „Ein eigenes Leben und Erleben. Hier hab ich gesehen,
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dass alles auch ganz anders sein kann. Hier kam mir der Wunsch, Musik zu studieren, und ich hab mich das selbst zum ersten Mal getraut zu denken. Ich wollte dort bleiben, konnte mich aber gegen die Eltern nicht durchsetzen." Ab dieser Zeit hätten die Eltern mehr Zuneigung und Hilfsbereitschaft gezeigt, der Vater finanziell, die Mutter mit „Tüddelkram". Aufgrund ihres Wunsches, Musik zu studieren, kam es bald aber erneut zu Konflikten mit dem Vater. „Er wollte Medizin, etwas Handfestes und gesellschaftlich Höheres." Ihr Bruder habe sich dem väterlichen Wunsch gebeugt. Sie habe sich nur zu einem Kompromiss breitschlagen lassen und sich in Musikpädagogik eingeschrieben. Später habe sie heimlich umgesattelt auf Orchestermusik. Wieder gab es Stress. „Erst seit jemand von außen vom guten Ruf meiner Hochschule gesprochen hat, hat sein Druck wieder etwas nachgelassen ... Das Studium geht zäh voran. Als wär' in mir ein Zwiespalt zwischen Wollen/Denken und Tun, als wäre meine eigene innere Person so permanent mit einbezogen." Diesen Zwiespalt kann die Patientin als Fortsetzung der periodischen Explosionen und Zusammenbrüche im familiären und elterlichen Spannungsfeld erkennen. Das Reißen der Spannungsbögen im Wüten zwischen den Eltern und im stummen Zorn der Tochter gegen den Vater setzt sich auch in ihr selber fort, bis hinein in die musikalische Ebene, so dass ihr die melodischen Spannungsbögen reißen und die Töne flach werden. Sie erlebt dies als die ernsthafteste Gefährdung ihres Studiums und ihrer beruflichen Perspektive. An einer zentralen Stelle des Erstinterviews schildert die Patientin, wie es während einer der vielen Auseinandersetzungen zu einer solchen Kränkung gekommen sei, dass die Mutter vor den Augen des Vaters und der Kinder ihren Rucksack, in dem sie ihre Kindheitsbilder und Familiendokumente aufbewahrte, aufriss und seinen Inhalt halb trotzig, halb kapitulierend wegwarf. Als die Patientin im selben Kontext von der Inkonsistenz und die Unzuverlässigkeit ihrer musikalischen Entwicklungsschritte und ihrer Rückfälle im Unterricht spricht, biete ich ihr eine Probedeutung an, die die Familiendynamik, den Unfall, die Schmerzkrisen, die Individuationsangst und ihre Abwehrmechanismen auf einen
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kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen versuchte: „... als hätten Sie den Rucksack Ihrer Fähigkeiten gerade in dem Moment aufgerissen und ausgeschüttet, als sie dabei waren, einen Sprung in Ihrer Entwicklung zu machen". „Stimmt!", antwortet sie mit entschlossener Miene und lacht mich mit großen Augen und klarem Blick an. Dieses „Stimmt!" hat dann auch die weitere Analyse begleitet und mir jedes Mal verlässlich angezeigt, wenn wir eine Metapher gefunden haben, die die Sache trifft und ein Verstehen ermöglicht. Von diesem Moment an war in uns beiden ein Gefühl entstanden, miteinander arbeiten zu können, um den unbewussten Zusammenhängen ihrer Katastrophen auf die Spur zu kommen und vielleicht eine Handhabe in Richtung Veränderung zu finden. In erster Linie ging es hierbei um das „Zusammenhalten des Rucksacks" beziehungsweise um das sorgfältige Achten auf die „containing-function" ihres Gefühlshaushalts. Die Entscheidung zur Analyse war damit getroffen, die Zuversicht groß genug. Überrascht war ich dennoch über die Folgen des Gesprächs: die Schmerzen gingen erstmals signifikant zurück. Das Verstehen hat zu einer sofortigen Erleichterung und Befreiung geführt, die sich auch unmittelbar im besseren Musizieren niederschlug. Denn im nächsten Gespräch erzählte die Patientin: „Ich konnte plötzlich und zum Erstaunen meines Lehrers frei spielen. Mein Stimmklang war voll, nicht mehr so dünn. Es fiel ihm sofort auf. Er fragte, was denn passiert sei. Ich war total glücklich. Ich merke jetzt, ich brauche vier feste eigene Wände, um mich musikalisch zu entwickeln, und um meine Eindrücke verarbeiten zu können." Es scheint mir neben der haltenden Funktion des analytischen Rahmens vor allem die Intensität der positiven Anfangsübertragung und die starke libidinöse Besetzung der analytischen Situation sowie die Ahnung der Möglichkeit einer narzisstischer Restitution dabei ein Rolle gespielt zu haben, dass es zu einer so raschen Besserung kam im Sinne einer Übertragungsheilung, einer Heilung im Sinne eines Übertragungseffektes, der in seiner analgetischen Wirkung einem Hypnoid gleichzukommen schien. Im Rückblick aus einer späteren Analysephase verriet mir die Patientin, wie sie sich nach dem ersten Gespräch fühlte: „Ich kam so gedemütigt und eingeschüchtert hierher, und dann war das
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Erstgespräch, und ich schaute in den Wolkenhimmel und sah lauter Bilder. Und ich hatte immer gedacht, ich könnte nicht fantasieren. Da habe ich wieder so etwas wie Hoffnung oder Glück gespürt." Die ersten vierzig Stunden der Analyse standen nun ganz im Zeichen des „Honeymoon", der Reparatur, der liebevollen Übertragung, der Hoffnung und Festigung. Die Zahnimplantate gelingen endlich ohne entzündliche Komplikation. Mir scheint dabei von großer Bedeutung, dass sie davor geträumt hat, die OP liefe schmerzlos ab, und, was vielleicht hinsichtlich der Konversion und der psychischen Verarbeitung noch wichtiger ist, dass sie träumte, sie sei eine große Frau, und die operierenden Ärzte ganz klein. Man wird nicht fehlgehen, diese Mitteilung an den Analytiker auch im Hinblick auf die Übertragungsbeziehung zu bewerten. Jedenfalls war für sie aus innerer Ahnung und intuitiver Gewissheit die eigentliche Albtraumzeit zu Ende, denn es hatte zu ihren schrecklichsten Albträumen gehört, dass sie ganz klein ist und riesige Ärzte an ihr herumoperieren. Und da sie nach der OP auch sofort spürt, dass diesmal die chronischen Folgeschmerzen und Entzündungen ausbleiben, erklärt sie: „Ich bin keine Schmerzpatientin mehr." Und sie dehnt die Erklärung auch auf ihre Arbeit aus: „Ich merke, dass ich gut bin." Denn sie habe das Gefühl, innerlich mehr Ruhe, mehr Gewicht, mehr Raum, mehr Wahrnehmung zu haben, und weniger Ablenkung, wozu ich im ersten Schritt nichts anderes notieren konnte als den bekannten Satz: Wer liebt, hat recht. In dieser Zeit erwachen starke Versöhnungsimpulse gegenüber den Eltern. Mit einer überaus erfolgreichen Tournee ihres Ensembles in ihrer Heimat kann sie auch Anerkennung vonseiten des Vaters gewinnen und ihm eine versöhnliche Geste abringen. Die Irritationen blieben erträglich, bis auf eine Bemerkung aus der väterlichen Verwandtschaft zu den Ohrringen und den dünnen Trägern des Abendkleides: „Kind, erkältest du dich nicht?" Ihren Zorn konnte die Patientin diesmal halten ohne Hautausschlag. Die Mutter leiht ihr von nun an fürs Studium ein Auto. Und ich hatte den Eindruck, dass ihre beschädigte, labilisierte narzisstische Verfassung sich langsam wieder festigen konnte.
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Als sich dann wegen allerhand Konzertverpflichtungen Terminverschiebungen häuften, schien es mir notwendig, die Rahmenfrage zu thematisieren. Dabei ist zu sagen, dass ich mich an keinen Patienten erinnere, der mit der Zeit so punktgenau und skrupulös umgegangen ist wie sie. Was nun folgte, hat mich in dieser Wucht doch überrascht: sie interpretierte meinen Hinweis auf eine etwaige Bereitstellungsregelung bei Nichtpräsenz als Misstrauensvotum, und ihre Enttäuschung war immens, als stürze sie aus allen Wolken, als bräche der Himmel ein. Zum ersten Mal schössen ihr die Tränen ins Gesicht, ihre Haut bekam überall rote Flecken und ich spürte in meiner Gegenübertragung einen riesigen Schmerz, als hätte ich nun alles zerstört. Sie schien unversöhnlich und voller Wut. Wieder droht die Arbeitsfähigkeit zusammenzubrechen, diesmal aber durch den Unfall mit mir. Meine untergründige Befürchtung, dass wir der Wiederholung nicht Herr werden und die analytische Beziehung abrupt und definitiv zerbricht wie die Beziehung zu ihrem Freund nach dem Unfall, bewahrheitet sich allerdings nicht. Sie kann auch in jenen Stunden weiterarbeiten, in denen sie mir noch nicht vergeben kann. Sie thematisiert ihre Angst vor ihrem Jähzorn, was sie damit schon alles angerichtet hat und noch anrichten könnte, und - so denke ich - thematisiert damit im Stillen wohl auch ihre erotischen Impulse, die ich in ihrer Heftigkeit nicht minder beunruhigend vermute. Diese Krisenstunden gaben einen Blick frei in die mit gewaltigem Affekt beladenen ödipalen Themen der Patientin: Wenn sie in ihren Tagträumen vor einer Höhle voller Gold steht und sich der Sesam trotz ihrer Bemühungen und Charmeoffensiven nicht öffnet, dann kann sie werden wie ihre Mutter, die wütend und trotzig den Rucksack zerreißt, um „es dem Vater zu zeigen". Und dann wird deutlich, wie sehr sie den Vater der Kindheit eigentlich geliebt hat und er sie! Und dass sie ihm die pubertäre und adoleszente Desillusionierung, die wie ein Abgerissensein vom Kindheitsglück erschien, nie verziehen hat. Wichtig war in diesen Stunden, dass es uns beiden möglich war, es auszuhalten, wenn sie mir die ganze Aggression vor die Füße wirft beziehungsweise werfen muss. Auch musikalisch spiele sie dann „Schrott" und finde keine Stimmigkeit. Mittlerweile hatten wir es allerdings nicht mehr mit dem körperlichen Phantom-
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schmerz, sondern mit ihrem psychischen Schmerz zu tun, der den Verlust der Unschuld und der übertragenen Verliebtheit, aber auch die Trauerarbeit begleitete. Es ging dabei nicht mehr um die Erfahrung einer traumatischen Ruptur, sondern um die Verknüpfung der Wut mit der Erfahrung des Trennenden und des Verlusts innerhalb der Persönlichkeitsentwicklung, also um eine unausweichliche Enttäuschungsverarbeitung. Die Prämie, die dafür entlohnte, war ein robusterer, vollerer, sinnlicherer Kontakt. Auch die Stimme der Patientin gewann neue Register hinzu. Ihre gesundheitliche Situation nach ungefähr der Hälfte des Analyseverlaufs fasste die Patientin folgendermaßen zusammen: „Meine körperlichen Krisen treten seit der Behandlung seltener auf und verlaufen weniger heftig. Ich kann mich nun schneller wieder .aufrappeln'. Mein Kiefer ist noch eine sehr sensible Zone, aber die starken Schmerzen sind weg. Auch die Migräne ist seltener, und die Neurodermitis-Schübe sind über Strecken fast weg. Ich spüre den Zusammenhang dahin gehend, dass ich psychisch, emotional stabiler, gelassener geworden bin, auch nicht mehr so panisch reagiere oder .aufbrause'. Ich habe gelernt, das Leben mehr aus der Perspektive sehen zu können, wie ich es gestalte, nicht, wie es mir zugefügt wird. Das hat mir geholfen, selbstbewusster zu werden, mich mehr als Mitglied der Gesellschaft zu fühlen, nicht mehr so ausgeschlossen. Daraus resultiert ein viel schöneres Erleben, weil ich mir das Erleben erlauben kann. Ich kann wieder besser arbeiten, gehe mit mir selber nicht mehr so aggressiv ins Gericht, kann auch im Umgang mit den anderen etwas sanfter sein, aber auch bestimmter. Ich lasse nicht mehr alles mit mir machen. Manchmal gelingt es mir schon, die Konflikte auf emotionsfreierer Ebene zu lösen. Die Wirkung meiner inneren Konflikte auf meine Konzentration, mein Denken, mein Spiel und meine Kreativität ist erschreckend. Wenn etwas in mir aus dem Gleichgewicht kommt, schlägt sich das sofort in der Musik nieder und es wird alles flach." Diese positiven Veränderungen im Selbst, die ich zu Beginn als ich-stärkende Folgewirkung vor allem der analytischen Situation, der therapeutischen Übertragungsbeziehung („Containing") und ihrer Deutung betrachtete, hatten sich unterdessen stabilisiert und erwiesen sich als die Resultate einer intensiven analy-
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tischen Arbeit: „Das ist in mir wie zwei Welten, die aufeinandertreffen, wie in der Kindheit und Jugend. Früher erschienen sie mir unvereinbar, ich fand keine Lösungen, langsam,nähern' sich die zwei Standpunkte mehr und mehr an, und die Konflikte lösen sich auf, dann ergibt sich daraus ,eine Welt', das ist dann ein wunderbar leichtes Gefühl, das gelingt mir aber noch nicht so häufig." Diese inneren Veränderungen haben auch positiven Einfluss auf die Gestaltung ihrer realen Beziehungen zu den Eltern: „Mein Verhältnis zu meiner Mutter ist mittlerweile viel, viel besser. Ich teile viel meines Lebens mit ihr, und sie mit mir. Ich habe auch das Gefühl, dass sie jetzt meine berufliche Entscheidung akzeptiert und anfängt, mich da zu unterstützen. Mein Verhältnis zum Vater ist auch schon viel besser, aber so richtige Akzeptanz spüre ich noch nicht. Da ist noch Arbeit nötig. Vor allem aber ist meine Beziehung zum Professor besser, seit ich mich als selbstbewusster erlebe und mich nicht mehr so abhängig fühle. Ich habe das Gefühl, dass er so mehr mit mir anfangen kann. Das Gefühl, etwas beweisen zu müssen, stört diese Entwicklung am meisten. Das würde ich gerne noch verändern." Gleichwohl muss die Analyse vor dem Vater nach wie vor geheim bleiben, muss die Mutter der Patientin die Analyserechnungen vor dem Vater verstecken: „Wenn der Vater hören würde, dass ich eine Analyse mache, würde er nur noch das Leben meiner Mutter zur Hölle machen und selber nicht mehr aufhören zu schimpfen, dass diese Leute alle in die Klapse gehören. Er spinnt da einfach. Er hat einen Knall. Das hat da keinen Zweck. Wie schimpft er meinen Bruder, seine Freundin sei eine schlechte Frau, weil sie nicht bürgerlich genug ist und der Mutter gewagt hat, eine Blumenstrauß zu schenken und in ihrem Quartett zu laut und energisch gespielt hätte, was ich gar nicht finde." Das „düstere Tunnelgefühl" der Patientin rückt allmählich in den Hintergrund, und der „graue Vorhang" vor ihrer Kreativität scheint endlich „zu reißen", was eine andere Form der Öffnung ist als das kapitulative Zerstören des Rucksacks. Nun kann sie einen eindrucksvollen Initialtraum träumen: „Ich bin in einem Raum wie der in der alten Frankfurter Oper. Mein Bruder und meine Eltern und noch andere sind da, eine
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Freundin meines Bruders, meine Freundin, und wir wollen Quartett spielen. Wir sollen nach Bad Nauheim zu unserer Aufführung, sind aber noch nicht so weit und kommen unter Druck. Mein Bruder ist ganz bleich, etwas stimmt nicht mit ihm. Als hätte er etwas im Kopf, eine Blutung vielleicht. Die Eltern sagten, da müsse man einen Krankenwagen holen, aber sie sind ganz gleichgültig, indifferent. Ich komme die Treppe runter. Ich habe einen blutigen Mund. Mir fallen alle Zähne aus, zum Teil blockweise, vier nebeneinander. Ich taste das alles mit meiner Zunge ab. Und es ist kein einziger Zahn mehr d a . . . Dann komme ich aus dem Traum raus, und ich taste noch im Schlaf mit der Zunge in meinem Mund, und ich merke, ich habe da noch Zähne. Dann träume ich einen zweiten Traum. Ich gehe von der einen Straßenseite auf die andere Straßenseite. Ich stelle fest, ich habe mein Gebiss - ich trag' ja ein Gebiss - liegen lassen. Ich gehe noch einmal zurück, nehme das Gebiss, will es in den Mund stecken, habe aber feste Zähne drin, stülpe es darüber. Sehr witzig." Wie kann man diesen Traum verstehen? Bei aller Blutigkeit und Ängstlichkeit spürte sie nach dem Traum auch ein Gefühl der Erleichterung und Zuversicht. In der weiteren psychoanalytischen Arbeit häufen sich Einfälle und Assoziationen, die zeigen, wie sehr der Traum ihr Gefühl des beschädigten und vereitelten Frauseins und ihre Wünsche nach der Überwindung ihres Abgeschnittenseins vom Leben und von der Sexualität auf die Mundregion verschiebt. Könnte der Traum darauf hin deuten, dass es Hoffnung gibt, dass sie nicht nur ihren Biss und ihr ungeschmälertes Attraktivitätsgefühl wiedererlangen kann, sondern auch ihre unterschwellig äußerst qualvoll erlebte Virginität hinter sich lassen könnte, im Sinne einer frohen Prophezeiung, sich sowohl hinsichtlich ihrer fraulichen Attraktivität wie auch ihres künstlerischen Selbstbewusstseins Legitimation und Anerkennung verschaffen zu können und auch zu dürfen? Freilich gäbe es noch vieles zu sagen zum Traum: die Zähne, das Beutereißen, das Freiwerden der geknebelten, ins Kannibalische reichende Lust („einen zum Fressen gern haben"), die Verschiebung von der traumatischen Brutalität zum Exzess der Sexualität u n d vieles mehr. Jedenfalls ging der neu g e f u n d e n e Zugang zur innerpsychischen Dimension der „Zahnamputation/Deaffe-
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renzierung" und ihrer prothetischen Restitution auf klinisch beeindruckende Weise mit der endgültigen Aufhebung ihre Arbeitslähmung einher. In der wiedergefundenen Arbeitslust, phasenweise mit Zügen von Euphorie und Hochstimmung, kann sie verlorene Zeit aufholen und macht im Studium große Fortschritte. Eine große Rolle dabei spielte auf der musikalischen Ebene der innere Schritt, der Rhythmus und seine Stabilität sowie die Intensivierung des Klangs und der Phrasierungen. Auf dieser sublimatorischen Ebene ihres musikalischen Experimentierens und ihrer leidenschaftlichen Vorstöße in der Interpretation kann sie die blockierenden paranoischen väterlichen Zuschreibungen des „Verruchtseins" und „Hungerleidens" zunehmend hinter sich lassen. Sie engagiert sich erfolgreich für eine Professionalisierung ihres Ensembles, bewirbt sich für Orchestervorspiele, nimmt eine umfangreiche Konzerttätigkeit an, erspielt sich viel Anerkennung und bewirbt sich für ein weiterführendes Konzertstudium. Die weitere analytische Arbeit fördert wertvolles Traummaterial und biografische Zusammenhänge zutage, die neben der traumatisierenden Pathologie der Herkunftsfamilie und der Situation ihres Aufwachsens ein tieferes und plastischeres Bild ihres eigenen Wesens vermitteln. Es werden auch ihre Überlebens- und Abwehrtechniken deutlich, mit denen sie unter der paranoisch-sexualfeindlichen Kontrolle bei aller Verdrängung ein heimliches erotisches und sinnliches Welt- und Selbsterleben bewahren konnte: „Wenn ich an meine erste Liebe denke ... ich habe zum Sterben geliebt, und mein Vater hat diesen Faden - nun wohl nicht abgeschnitten, aber doch abgeklemmt ... Meine Gefühle waren so stark - mich wundert es, dass ich die Schule so gut geschafft hab ... Ich wollte Ohrringe. Da ist mein Vater durchgedreht. Dann habe ich geträumt, ich mache zwei Ohrringe dran, und immer mehr, bis mein Ohr voller Ohrringe hing ... Und jetzt stelle ich fest, und es ist so befreiend, und ich habe dafür alle Zeit der Welt, dass ich mich entdecken darf, und niemand kann mich hindern ... Als wäre ich lang durch einen Tunnel, eine graue Zeit gegangen, wo ich durch bin, und nun aber besorgt bin, ob ich alles, was an Gefühlen in mir ist, mitgenommen habe oder etwas zurückgelassen habe, was sich dann wie eine Verarmung anfühlt
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... Und dann, beim Musikmachen, kommt so etwas wie ein Gefühl aus anderer Zeit, aus ganz früher, von vor dem Tunnel. Kann das sein?" Die milde, positive Übertragung erscheint wie ein Reflex der frühen Vater-Tochter-Beziehung in der Kindheit, in der der Vater in die kleine Tochter vernarrt war. Die Probleme ihres Aufwachsens verschärften sich erst mit dem Beginn der Vorpubertät. Der Vater war von da an unfähig, die Tochter aus der Kindheit zu entlassen. Er hielt sie in sozialer Isolation fest und zwang sie zum „Doppelleben", durch das sie mit Hilfe des Musizierens im Orchester der väterlichen Kontrolle entkommen konnte - wenigstens zeitweise - und dabei leidlichen Anschluss an Gleichaltrige fand. Einige wichtige Themen, die sich im weiteren Analyseverlauf entfaltet haben, kann ich hier nur noch kursorisch skizzieren: Während ihrer Schulzeit hatte die Patientin ein erschreckendes Panorama von Urszenenfantasien entwickelt, in denen das elterliche Haus unter explosiven Streitigkeiten abbrennt und der Vater erschossen wird. Sie geriet darüber regelmäßig in ein verwirrendes Chaos zwischen Entwicklungsdrang (-wünsch) und Individuationsangst sowie -schuld, als würde sie den Tod der Eltern heraufbeschwören, wenn sie ihren eigenen Wünschen Raum gibt. Ihre negativ-ödipale Fixierung manifestierte sich zunächst über Nebenübertragungen - etwa in der symbiotischen Beziehung zu einer Professorin und in Ambivalenzkonflikten mit dem Professor wurde aber zunehmend auch in der therapeutischen Übertragung erkennbar und bearbeitbar. Die Wut und die Trauer über die Härten ihrer Vergangenheit, wo sie voller Vergeblichkeit „soviel Herzblut" vergossen habe, brauchte in der Folge viel Raum in der Therapie. Neue und wiederholte Rückschläge ihres Lebens waren schwer zu „verdauen". Diese Trauerarbeit und die Bemühung um die Versöhnung mit dem Vater, dessen Gesundheitszustand sich während der Analyse verschlechterte, wurde zu einem beherrschenden Thema. Für das Deprimierende, die Armseligkeit, die Destruktivität und das Elend, mit denen sie sich dabei konfrontieren musste, wurde der Ausbau ihres Selbstbewusstseins ein Gegengewicht. So schrecklich der absurde, zufällige Unfall, bei dem sie ihre Zähne verlor, sich
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anfänglich ausnahm, so wichtig war das, was er später in Gang setzte. Aus nachträglicher Sicht wurde er zum katastrophischen Auftakt einer andersartigen Arbeit, einer Arbeit am Unbewussten, die dem drohenden existenziellen Zusammenbruch als Folge einer unerträglichen erotischen Beziehungsschwierigkeit zuvorkommen konnte. Das Stagnierte, Gehemmte konnte sich über die Möglichkeiten des freien Assoziierens wieder lösen. Die analytische Situation wurde zu einem neuartigen „Flussbett für ihre Gefühle" und zum „Ausweg aus dem Tunnel", den die Analysandin als große Befreiung verspürte: „Ich darf mich entdecken, ich darf mich entwickeln, ich darf eigene Erfahrungen machen". Die äußeren Erfolge ihrer Konzerte haben die Wirksamkeit dieser Auseinandersetzung eher bestätigt als hervorgerufen. Ihren Erfolg musste sie nicht mehr zwanghaft infrage stellen, sondern konnte ihn auch wertschätzen als berechtigten Lohn ihrer Arbeit und ihres Talents. Bei der Ensemble-Prüfung glänzte sie mit einer glatten Eins. Von diesen Beurteilungen unterstützt konnten sich auch ihre Über-Ich-Reaktionen mildern. Im selben Zug konnte sie ihren „nichtbürgerlichen Wünschen" bei aller Vorsicht mehr Duldung und Verständnis entgegenbringen, auch im Sinne einer freundlicheren Kompromisslösung mit ihrem Ich-Ideal und mit einem stärkeren Gefühl für ihren inneren Reichtum und ihre Lebendigkeit. Sie konnte zunehmend Träume erinnern, in denen erotische Erlebnisse auftauchen, die ihre Entwicklung begleiten, unter anderem vom Schwimmen im hohen Wellengang oder von einer „Blitzheirat" mit einem Mann, in den sie sich „verlieben könnte". Diese Träume unterscheiden sich von ihren Albträumen, die in zwanghafter Weise in der Destruktivität endeten, wie in einem Traum vom Trampolinspringen, wo sie mit ihrem Gesicht auf dem Rahmen aufschlägt. In ihrem Äußeren wagte sie es, ihren Vorzügen mehr Raum und Wirkung zu geben. Als ich gegen Ende der Behandlung - etwas nach Worten ringend - bezüglich ihrer Sexualität eine Bemerkung machte in der Art: „Ich glaube, Sie waren in dieser Sache besorgter als ich", antwortete sie mit einem vielsagenden Lächeln und einem hinreißenden Gesichtsausdruck - und mit einer Stimme, die mit den Registern zu spielen weiß: „Ich glaube, das ist nicht mehr mein Problem." Sie absolvierte ihren Hochschulabschluss mit einer hervorragenden Leistung und be-
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endete die Analyse, um in einem anderen Land an einer lang ersehnten Stelle ihre Ausbildung vertiefen zu können.
6 Schlussfolgerungen Der Behandlungsfall veranschaulicht die schmerzlindernde Wirkung der psychischen Reorganisation durch die Übertragungsbeziehung in der analytischen Situation. Der Verlauf verdeutlicht, wie es der Patientin durch Umfokussierung auf ihre Person und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowie durch Abbau durch Hemmungen gegenüber lustvolleren Körpererfahrungen gelingen konnte, sich aus der qualvollen Fixierung auf den Zahn-, Gesichts- und Kopfschmerz zu lösen. Der erweiterte Spielraum und die gesteigerte Intensität im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und der mit großer Erleichterung erlebte Zurückgang der Schmerzen entstanden in ein und derselben Bewegung. Das Phantomschmerzmodell der Neurowissenschaften ist hier deshalb von heuristischem Interesse, weil es Erklärungsmöglichkeiten enthält, wie sich hier Leib und Seele berühren. Im Unterschied zum Konversionsmodell, das die Entlastung der Seele durch eine projektive Externalisierung des psychischen Schmerzes in die Peripherie der körperlichen Wirklichkeit zum Zwecke der Abwehr unbewusster (struktureller und dynamischer) Konflikte beschreibt, zeigt das Phantomschmerzmodell, wie sich das traumatisierte Subjekt in einem peripher beschädigten, verstümmelten Körper repräsentiert und um ein Wiedergewinnen primordialer beziehungsweise prätraumatischer narzisstischer Intaktheit kämpft. Der Verlust der seelischen Balance aufgrund eines Ausfalls sensorischen Feedbacks und psychophysischer Resonanz erfordert das Wiederfinden eines neuen Gleichgewichts, zu dem die regressiv-progressiven Internalisierungsvorgänge (Regression und Neubeginn) im psychoanalytischen Prozess auf spezifische und entscheidende Weise beitragen. Am Phantomschmerzmodell haben die Neurowissenschaften aufzeigen und abbilden können, welche Veränderungen zwischen sensorischen und neuronalen Prozessen unter dem Einfluss eines körperlichen Amputationstraumas mit einem
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Funktions- und Substanzverlust zustande kommen und auf der Ebene der Neuronennetze anatomisch-physiologische Umschriften induzieren. Die Psychoanalyse und die Neurobiologie des Phantomschmerzes zeigen in ihrer dialektischen Bezogenheit, wie sehr auch die geistig-emotionalen Vorgänge auf der menschlichen Physis gründen und wie sehr das Leibliche in psychische Trennungstraumata involviert ist. „Die Psychoanalyse vergisst niemals, dass das Seelische auf dem Organischen ruht", schrieb Freud 1910 (S. 101). Und doch ist die Subjektivität, die sich im Übertragungsprozess konstituiert, nicht identisch mit der Anatomie und Physiologie des Körpers als eines Dings. Der libidinöse Körper und das Unbewusste würden objektivistisch verkannt, wenn die Psyche dem Nervensystem untergeordnet und die reduktionistische Beobachtung der amplifikatorischen Hermeneutik übergeordnet würde. Der psychoanalytische Prozess lässt aufleuchten, wie sehr das, was wir als eine materiale Umwelt betrachten, das Werk des Geistes ist, in dem sich der Mensch als Kulturwesen bewegt, und zwar von frühester Kindheit an. Was die Psychoanalyse hier den Erkenntnissen der Neurowissenschaften hinzufügen kann, ist ein lebendiges Vorstellungsvermögen von diesen beseelten psychosomatischen Abläufen sowie ein methodischer Umgang mit dem emotionalen, personalen und interpersonalen (auch biografischen) Kontext des Schmerzerlebens, der oft - wie im Beispiel der Patientin - für die Behandlung entscheidend ist. Die Psychoanalyse nimmt hier im Sinne einer „Vervollständigung" Einfluss auf die komplexe Organisation, die den Menschen im konfliktreichen Kräftefeld zwischen dem Biologischen und dem Sozialen auszeichnet, indem sie die Kindheit und das Triebleben, anstatt es zu verwerfen, in den Bereich der Vorstellung und des Bewusstseins seiner selbst aufnimmt (vgl. Green, 1979).
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
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Der vorliegende Band hatte zum Ziel, dem Leser einen Einblick zu geben in den Versuch, dem tieferen Verständnis der Auswirkungen neurologisch-organischer Veränderungen des menschlichen Organismus auf seine Psyche mit einer psychoanalytischen Herangehensweise, das heißt mit einer eigenen Methodik zur Untersuchung der Auswirkungen psychischer Prozesse auf den Organismus näher zu kommen. Für das Feld der Neuropsychoanalyse ist dies nicht ungewöhnlich. Noch ungewohnt ist es aber für eine Fachwelt, die neurologische Störungen vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der defizitären Folgen solcher Schäden hinsichtlich der neurologischen Funktionen sieht und die ihre Rehabilitationsmaßnahmen auf deren Reduzierung ausrichtet. Das Selbstverständnis einer Fachrichtung, die sich mit dem Menschen und seinen Funktionen beschäftigt, hat Auswirkungen auf ihre Sichtweise und ihr Instrumentarium, mit dem sie dem Menschen begegnet. Wenn Psychoanalytiker sich mit neurologisch beschädigten Patienten beschäftigen, wird man Skepsis erwarten dürfen in den Fachdisziplinen, die sich traditionell als zuständig für derartige Störungen verstehen. Die Untersuchungsmethoden sowohl gestörter wie ungestörter Funktionen des menschlichen Gehirns sind in der Tat sehr unterschiedlich. Während die Neurologie sich hauptsächlich mit der anatomischen, physiologischen und funktionellen Sichtweise beschäftigt, befasst sich die Psychoanalyse mit der ganzen Persönlichkeit, mit den kognitiven und emotionalen Funktionen sowie mit den intrapsychischen Strukturen, die eine Persönlichkeit bilden. In der Neurologie taucht die Persönlichkeit da-
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gegen allenfalls am Rande auf, beispielsweise als prämorbide Persönlichkeit und als Vergleichsmaßstab des akut-krankheitsbedingten defizitären Bildes. Während sich die Neurologie mit objektiven, konkreten, mittels operationaler Verfahren erfassten Symptomen und Befunden befasst, gewinnt die Psychoanalyse ihre Daten und Theorien aus der disziplinierten Beobachtung und Interpretation subjektiver und intersubjektiver Phänomene. Wie kam es dazu, dass eine Verknüpfung zwischen den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse denkbar wurde, die zunehmend mehr Interessenten anzieht? Der Grundstein dieser Verbindung wurde von Mark Solms gelegt, Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Kapstadt, Südafrika, der auch Psychoanalytiker ist. Er hatte schon früh die Vorstellung, dass Neurowissenschaften und Psychoanalyse aus zwei verschiedenen Blickwinkeln auf denselben Gegenstand blicken: ein Organ, das eine Psyche hervorbringt. Es erschien nur folgerichtig, diese beiden Sichtweisen zusammenzuführen. Der 1. Internationale Neuropsychoanalytische Kongress fand im Jahre 2000 in Anwesenheit von Oliver Sacks, der auch den Eröffnungsvortrag hielt, in London statt. Auf ihm wurde die Internationale Neuropsychoanalytische Gesellschaft gegründet, die seither jährlich Kongresse zu verschiedenen Themen neurologischer und psychoanalytischer Forschung ausrichtet, gesehen aus dem Blickwinkel der Neuropsychoanalyse. In Deutschland bildete sich auf Anregung von Marianne Leuzinger-Bohleber (Frankfurt/Main) die Neuropsychoanalytische Arbeitsgruppe Frankfurt/Köln, die in Anlehnung an Mark Solms Untersuchungen wie die hier vorgestellten durchführt. Derartige Gruppen finden sich inzwischen weltweit. Dieser neue Wissenschaftsbereich verdankt seine Entstehung der Erkenntnis, dass eine umfassendere Untersuchung der Persönlichkeit (die immer an die biologische Natur ihres Wesens angelehnt bleibt) nicht einseitig stattfinden kann, denn der Körper und sein Gehirn generieren, beeinflussen und verändern unsere Persönlichkeit. Umgekehrt haben psychische Funktionen einen Einfluss auf Aktivitäten im Gehirn, wenngleich sie nicht die Anatomie verändern können. Doch die Einsicht, dass die Persönlichkeit und die Psyche ein komplexes Phänomen darstellen,
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
das über die empirischen objektiven Fakten hinaus verweist, kann auch von den empirischen Wissenschaften nicht mehr geleugnet werden. So müssen beispielsweise die Neurowissenschaften zu Konzepten greifen, die von dem psychoanalytischen Denken zu konzeptuellen und theoretischen Paradigmen entwickelt worden sind, wie zum Beispiel Selbst, Unbewusstes,
Be-
wusstes. Darüber hinaus zeigt die Zusammenarbeit, dass manche der psychoanalytischen Theorien, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben, von den empirischen Fakten gestützt werden (s. z. B. Solms, 1997). Diese „Korrelation" zwischen den verschiedenen Wissenschaften kann die Entwicklung beider Bereiche befördern, denn zwei Wissenschaften, die in Korrelation stehen, entwickeln sich schneller, nachdem die Korrelierung stattgefunden hat (Money-Kyrle, 1928). Die November Ausgabe der Zeitschrift Nature von 2007 berichtet über eine neurowissenschaftliche fMRI 1 -Untersuchung zur menschlichen Möglichkeit des Optimismus (Sharot, Riccardi, Raio u. Phelps, 2007). Die Forscher gingen von der Beobachtung aus, dass Menschen im Allgemeinen a priori dazu neigen, in der Zukunft positive Ereignisse zu erwarten, selbst wenn die Erfahrung zeigt, dass dies nicht der Fall ist. So erwartet man zum Beispiel, länger zu leben und gesünder zu sein als der Durchschnitt, unterschätzt die Wahrscheinlichkeit, selber Opfer von Krankheiten oder einer Scheidung zu werden und überschätzt die Aussichten auf Erfolg am Arbeitsmarkt. Die Resultate 2 zeigten, dass diese Tendenz hauptsächlich in enger Beziehung zu einer Aktivierung der Amygdala und des rostralen anterioren Cingulums stand. Interessanterweise sind dies dieselben Regionen, die bei der Depression Unregelmäßigkeiten in der Aktivierung zeigen, was mit Pessimismus in Verbindung gebracht wurde. Es stellte sich heraus, dass (fantasierte) zukünftige positive Ereignisse stärker positiv gewertet wurden als vergangene positive Ereignisse und auch als zeitlich näher empfunden als zukünftige negative Erfahrungen und alle vergangenen Erfahrungen. Je optimistischer die Teilnehmer waren, desto eher er1
Functional magnete resonance imaging.
2
Auf die genaue Methodik soll hier nicht eingegangen werden.
Ausblick
259
warteten sie positive Ereignisse zeitnah in der Zukunft und mit einer stärkeren Empfindung, sie schon einmal erfahren zu haben. Die erwähnten aktivierten Hirnstrukturen, zusammen mit den ebenfalls aktivierten Arealen des ventralen medio-präfrontalen Kortex, posterioren Cingulum und dorso-medialen präfrontalen Kortex spielen bekannter Maßen eine Schlüsselrolle beim Abruf autobiografischer Erinnerung und bei der Vorstellung zukünftiger Ereignisse. Die Autoren schließen aus ihren Untersuchungen, dass die Vergangenheit in Hinsicht auf Veränderungen als begrenzt empfunden wird, während die Zukunft offen für Interpretationen ist, die dem Individuum ermöglichen, sich von möglichen negativen Ereignissen zu distanzieren und sich positiven anzunähern. Sie kommen auf Grund der fMRI-Daten zu dem Schluss, dass die Amygdala - die bei der Vorstellung neutraler zukünftiger Ereignisse nicht aktiv ist - in Bezug auf die Vorstellung emotional bedeutsamer Ereignisse in der Zukunft eine Schlüsselrolle spielt. Führt man sich vor Augen, dass außerdem bei Fantasien über die Zukunft dieselben Areale wie bei der Erinnerungsspeicherung aktiv sind, könnte man den Schluss ziehen, dass die psychoanalytische Arbeit mit ihren Instrumenten - Regression und freie Assoziation - genau hier ansetzt. Denn die Psychoanalyse arbeitet mit den Fantasien und der Rekonstruktion von Vergangenheit in der Übertragung. Vergangenheit, Gegenwart (das Hier und Jetzt der analytischen Situation) und die vorgestellte Zukunft kommen in dieser Arbeit zusammen und durchdringen sich gegenseitig. An dieser Studie wird deutlich, wie die Neurowissenschaften an menschliche Eigenschaften wie Optimismus herangehen. Ohne Zweifel sind solche Untersuchungen notwendig und hilfreich auf dem Weg, einen umfassenderen Blick auf die Funktionsweise des Zentralorgans zu erhalten. Komplementär dazu kann die Psychoanalyse andere Aspekte herausstellen, die auf intrapsychische Prozesse hindeuten. Unter diesem Aspekt sind psychische Entwicklungen und Veränderungen der Persönlichkeit nicht nur ausschließlich eine Wirkung der progressiven Abfolge biologischer Anpassung, sondern auch ein Ergebnis psychischer Arbeit, die von Anfang an stattfindet. Diese psychische Arbeit entsteht in Kontakt mit der Welt u n d mit Hilfe der
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
Bezugspersonen, die nicht nur eine physische Aufgabe bei der Ernährung und Pflege des Säuglings erfüllen, sondern eine psychische Funktion, die darin besteht, psychische Manifestationen im Säugling zu ahnen und darauf kognitiv und emotional zu reagieren. Diese Auffassung wird in den folgenden Zitaten von der Psychoanalytikerin Melanie Klein veranschaulicht: „Objektbeziehungen sind von Beginn an vorhanden, und ebendies ist der Grund, weshalb den Gefühlen des Säuglings ein so großes Gewicht zukommt" (Klein 1944, S. 345) und: „Zwischen der Prüfung der äußeren Realität und den Versuchen, sie zu modifizieren, zu kontrollieren und sich mit ihr zu arrangieren, sowie der Beziehung zur inneren Welt besteht eine ständige Wechselwirkung. Nach und nach wird zwischen der Innenorientierung einerseits und der Außenorientierung anderseits ein ausgeglichenes Verhältnis hergestellt; der Grad, zu dem dies gelingt, ist ein Maßstab der normalen Entwicklung" (Klein 1944, S. 309). Nimmt man das Beispiel des Optimismus, so könnte man sagen, dass bei der Entwicklung einer hoffnungsvollen Einstellung Kriterien eine Rolle spielen, die sich mit den subjektiven Hindernissen befassen, die einem gesunden, realistischen Optimismus im Wege stehen, sowie mit der Qualität dieses Optimismus (realistisch, verleugnend, manisch etc.). In diesem Zusammenhang wird die Rolle der primären Beziehungen und des subjektiven Verständnisses des Individuums untersucht sowie deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit und die gesamte Psyche. Dazu bietet der psychoanalytische Prozess einen geeigneten Rahmen, denn durch die freie Assoziation, die regressiven Prozesse und die Untersuchung von projektiven und introjektiven Prozessen in der Beziehung zum Analytiker (Übertragung und Gegenübertragung) kann ein Zugang zu einem umfassenderen Blick auf psychische Prozesse erlangt werden. Denn für die Psychoanalyse haben psychische Funktionen einen Sinn, wie wir hier am Beispiel des Optimismus zu erläutern versuchen. Bekannterweise fühlen sich Menschen in depressiven Zuständen weniger optimistisch bezüglich der Zukunft als Menschen, die sich nicht in einem depressiven Zustand befinden. Der pathologische Zustand der Manie (übersteigerter Optimis-
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261
mus) auf Grund von Verleugnung depressiver Reaktionen, wie beispielsweise auf Trennungen und Trauer, kann unter Umständen zu gefährlichen Handlungen führen. Für die psychoanalytische Betrachtungsweise hat die Depression nicht immer nur eine pathologische Rolle. Sie wird auch gesehen als Teil einer normalen Entwicklung, deren Integration in die Persönlichkeit die Entstehung einer moralischen Funktion, wie des Gewissens, fördert, die sich aus Trennungen, Trauer und nachfolgenden Identifikationsprozessen mit den Eltern entwickelt. Die Depression wird auch als ein Verarbeitungsmodus gesehen, deren Präsenz in der Psychogenese eine psychische Arbeit erfordert, die zu Entwicklungen in der Persönlichkeit führt und zu der Entstehung eines realistischen Optimismus beiträgt. Diese Sichtweise ermöglicht der Psychoanalyse, auch auf psychische Funktionen zu achten, die durch neurologische Schädigung oder psychische Reaktionen auf diese Schädigung zu sehr in den Hintergrund oder in den Vordergrund geraten sind. Ähnlich, wenngleich auch näher am zwischenmenschlichen Bereich als die Neurowissenschaften, sind neuropsychologische Untersuchungen wie zum Beispiel die von Turnbull, Jenkins und Rowley (2004). Diese Autoren beschäftigten sich mit den Konfabulationen, wie sie von Patienten mit Korsakow-Syndrom geäußert wurden. Ihre Untersuchung beschreibt nicht nur, wie eng der Inhalt der Konfabulation mit der persönlichen Geschichte des Patienten verknüpft ist; sie macht auch deutlich, dass eine starke Tendenz besteht, positive Ereignisse und Erinnerungen zu produzieren. Anders als die Neurowissenschaft, die sich instrumenteller Hilfsmethoden wie fMRI bedient, werden die Ergebnisse neuropsychologischer Untersuchungen durch Testverfahren und Vergleichsstudien erhoben. Sie sind näher am seelischen Spektrum. Wenn wir auf unsere Patienten mit der Neglect-AnosognosieProblematik, wie sie in diesem Buch beschrieben sind, zurückblicken, so können wir die menschliche Neigung, nach positiven Aussichten zu greifen, auch dort finden. Nehmen wir die anderen Arbeiten hinzu, so können wir annehmen, dass die Tendenz, psychisch-körperliche Beeinträchtigung zu bagatellisieren, die erste Abwehrmaßnahme bei solchen Schädigungen ist.
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
Franz Dick hat sich eingehend mit dem Störungsbewusstsein der Patienten aus neuropsychologischer Sicht beschäftigt. Die Arbeit zeigt deutlich, wie sehr sich die rein neurologische Sichtweise eines organischen Defektes wandelt, wenn man die Person des Patienten und seine Zugänglichkeit für seine Defizite berücksichtigt. Neurologie existiert immer in einer Persönlichkeit. Sowohl die Falldarstellung von Laura Viviana Strauss als auch die von Hans-Joachim Rothe zeigen deutlich, wie ihre Patientinnen versuchen, mit der veränderten Lebenssituation zurechtzukommen. Die eine, herausgerissen aus einem aktiven Berufsleben, versucht, an ihr altes Selbstbild anzuknüpfen und ist zunächst voller Hoffnung, ihr altes Leben wiedererlangen zu können. Erst allmählich, unterstützt von der Analytikerin, wird ihr deutlich, wie groß die Diskrepanz zwischen Hoffnung und Realität ist. Die andere, bereits im Ruhestand befindlich und auf ihr Leben zurückschauend, erlebt plötzlich den Niedergang eben noch als beherrschbar erlebter Funktionen und den Verlust von Selbständigkeit. Nach einer durch Verluste gekennzeichneten Biografie, die durch eine symbiotische Verbundenheit mit ihrer Tochter kompensiert werden konnte, mündet die Erkenntnis des Bruches der Einheit mit der Tochter schließlich in ihren Tod. Es ist nicht zu übersehen, wie in diesen Fällen die menschlichen Möglichkeiten der Kompensation (ein)greifen. Individuell geformt, entsprechen sie doch dem Überlebenswillen, der sich manchmal - wie in dem von Klaus Röckerath versuchten Korrelationsansatz zwischen anatomischen Leitungsbahnen und psychischer Verarbeitung dargelegt - der (Selbst)Täuschung bedient. Auch Gabriele Junkers beschreibt in ihrer Arbeit, wie schwierig es ist, mit organisch verursachten Einbußen der Funktionsfähigkeit nicht nur zurechtzukommen, sondern sie zunächst einmal überhaupt zu konzedieren. Hier wird deutlich, welche enormen psychischen Auswirkungen diese Beeinträchtigungen sowohl auf der persönlichen, als auch auf der Ebene des sozialen Umfeldes haben. Die Kompensation äußert sich hier oft in Form der Verleugnung.
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263
Wie weit die kompensatorische Balance gehen kann, wird in der Arbeit von Marianne Leuzinger-Bohleber deutlich. Ein ganzes Kapitel einer Lebensgeschichte ist zunächst nicht erinnerbar. Es ist jedoch eingeschrieben in körperliche Strukturen, die im Laufe einer Re-analyse zum Leben erweckt werden können. Das Konzept der Embodied Memories bringt den Aspekt der Legierung von körperlichen wie psychischen Funktionen - und ihr Zusammenspiel - vielleicht auf den Punkt. Johannes Döser erläutert anhand einer schwierigen psychoanalytischen Behandlung, wie ein körperlich traumatisierendes Ereignis eine psychische Dimension erhält, die sich maßgebend auf das Leben der Patientin auswirkt. Schmerz als psychisches Symbol für einen Verlust - die Verknüpfung von physischem Geschehen und psychischer Empfindung - sind hier augenfällig. Wir glauben, dass die psychoanalytische Herangehensweise an neurologische Störungen und ihre Folgen einen Bereich abdeckt, der weder in den neurowissenschaftlichen noch in den neuropsychologischen Untersuchungen in diesem Umfang berücksichtigt wird: die Persönlichkeit der Betroffenen. So greifen Turnbull, Jenkins und Rowley (2004) zwar auf die Biografie ihrer Probanden zurück; sie verwenden sie aber vornehmlich zum Aufspüren biografisch bedeutsamer Reminiszenzen in den jeweiligen Konfabulationen. Die Fallbeschreibungen unserer Patienten mit Neglect-Syndrom dagegen machen deutlich, dass der psychoanalytische Dialog mehr von der prämorbiden Persönlichkeit der Patienten erkennbar werden lässt. Dieser zwischenmenschliche Bereich denn Persönlichkeit existiert nicht für sich, sondern im Kontakt mit anderen Persönlichkeiten - kann von den neurowissenschaftlichen Methoden in dieser Form nicht berücksichtigt werden. Der Verzicht darauf ist ihren Methoden inhärent, da sie diesen Bereich nicht untersuchen können - ihr Instrumentarium zielt auf andere Erkenntnisse. Psychoanalyse beschäftigt sich jedoch mit dem Verstehen persönlicher Gleichungen. Ihre Methodik beruht auf den von Sigmund Freud beschriebenen Prozessen von Übertragung und Gegenübertragung, die von Melanie Klein und Wilfred Bion um die Konzepte der projektiven Identifizierung und des Container/Contained-Modells bereichert
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wurden. Diese Methodik ermöglicht den Entwurf eines Persönlichkeitsbildes; das ist etwas anderes als die Untersuchung einer beschädigten neuronalen Struktur und deshalb - in diesem Sinne - reichhaltiger als die Schlussfolgerungen, wie sie die oben erwähnten Studien hervorbringen. Es muss betont werden, dass diese Aussage keine Wertung enthält. Es soll nur deutlich gemacht werden, dass es einen Unterschied zwischen den verschiedenen Disziplinen gibt, der eine Verständigung zwischen ihnen schwierig, wenn auch nicht unmöglich, im Gegenteil, sogar erstrebenswert macht. Ihre Untersuchungsmethoden haben dasselbe Ziel: zu verstehen, wie ein circa 1400 g schweres Organ es fertig bringt, denkende und fühlende Persönlichkeiten zu erschaffen, beziehungsweise was passiert, wenn es beschädigt ist. Die oben erwähnten neurowissenschaftlichen Untersuchungen verweisen auf die Rolle des limbischen Systems bei der Erzeugung positiver Vorstellungen. Dieses System ist bei der Schädigung der rechten Hemisphäre, wie sie unsere Patienten erlitten haben, offenbar nicht in einem Ausmaß betroffen, das Hoffnung verunmöglicht. Diese Hoffnung der Patienten betrifft nicht nur den Wunsch, das Unglück als solches ungeschehen zu machen, also von Lähmung und Fehlwahrnehmungen befreit zu werden; es geht auch um die Wiederherstellung der Persönlichkeit, die sie einmal waren. Dieser Wunsch, wie er in der Reaktionsweise der Patienten und ihrer Selbstwahrnehmung zum Ausdruck kommt, ist unbewusst. Wir finden diesen Wunsch nicht nur bei neurologisch geschädigten Patienten. Alle, die psychotherapeutische und psychoanalytische Hilfe suchen, sind von der Motivation beseelt, sich in Richtung auf ein sich besser fühlen zu engagieren. Das heißt, sie suchen Veränderung in dem innerseelischen Kontinuum, das wesentlich von dem Zusammenspiel der neurowissenschaftlich beschriebenen neuronalen Netze bestimmt wird. Auf einem Workshop in London im Dezember 20073, das sich mit dem Versuch befasste, neurowissenschaftliche und psychoana3
„From Cognitive Psychology and Neuroscience to the Couch: Is There
a Common Language? 2 nd Meeting: Emotion: Perspectives from Neuroscience, Psychology and Psychoanalysis", UCL.
Ausblick
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lytische Termini miteinander in Korrelation zu bringen, hielt der Neurobiologe Jaak Panksepp einen Vortrag mit dem Titel: „Archaeology of the Affective Mind: Ancestral Sources of Emotional Disorders" 4 . Er vertrat dabei die Ansicht, dass die subkortikalen Strukturen des menschlichen Gehirns denen anderer Säugetiere sehr ähneln. Sie scheinen über die Evolution hinweg einen ähnlichen Entwicklungsgang genommen zu haben und in ihren Funktionen fast identisch zu sein. Sie stellen das grundsätzliche Motivationssystem dar, das die Organismen dazu bringt, sich in der Welt umzusehen, Nahrung und Paarungspartner zum Zweck der Fortpflanzung zu suchen und sich zu verteidigen. Die fundamentale Neuerung in der Evolutionsgeschichte aber ist der Neokortex des Menschen: Die subkortikalen Systeme suchen einen Raum, in den hinein sie projizieren können. Dieser Raum ist der Neokortex - nach Panksepp bei der Geburt eine „Tabula rasa" 5 , der sich erst im Austausch mit der Umwelt differenziert. Die Verbindung von Neokortex und subkortikalen Strukturen eröffnet völlig neue Möglichkeiten, die anderen Säugern vorenthalten geblieben sind, in erster Linie die Fähigkeit zum Probehandeln, das heißt antizipatorischer Denkarbeit bei der Planung zukünftiger Handlungen. Der Austausch mit der Umwelt das heißt für den menschlichen Säugling zunächst und vor allem mit seinen Pflegepersonen - modifiziert dieses interaktive System zwischen kortikalen und subkortikalen Arealen. Mit anderen Worten, archaische Strukturen, gewachsen über die Jahrmillionen, werden nun domestiziert. Bis in die späte Adoleszenz kommt es zu Untergang und Neubildung milliardenfacher synaptischer Verbindungen im Neokortex, dem nunmehr die Aufgabe zukommt, die Aktivität der subkortikalen Strukturen zu regulieren. Daraus, so darf man annehmen, entsteht die Persönlichkeit, die Ergebnis eines psychischen Werdens ist. Dies geschieht ein Leben lang. Das Modell der Psychoanalyse spricht hier von Triebregulation, Über-Ich, Ich und Es. Triebe, Affekte und Emotionen 4
„Archäologie der gefühlshaften Seele: Ur-Quellen emotionaler Stö-
rungen". 5
Diese Ansicht ist radikal u n d sicherlich nicht u n u m s t r i t t e n .
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
(Müller-Pozzi, 2007) bilden die Matrix, in welcher Menschen sich wohl oder unwohl fühlen, und diese wird beeinflusst durch die psychische Funktion, ursprünglich geübt in den ersten Bindungen an die primären Bezugspersonen. Schädigungen des Gehirns verändern durch Zerstörung neuronaler Strukturen das Gleichgewicht dieser Matrix. Was neurotische Störungen als neurotische Symptome zeigen, entsteht aus den neurologischen Schäden in ähnlicher Weise: Die Persönlichkeit wird beeinträchtigt, unfrei, verzerrt und eingeschränkt in ihrer Fähigkeit, sich aus Vergangenem und Gegenwärtigem in die Zukunft zu entwerfen. Ein Aspekt, den die Psychoanalyse in den letzten Jahren mehr und mehr betont, ist die Rolle, die der caregiver6 für die Entstehung einer Persönlichkeit spielt. Mit anderen Worten, die strukturelle Beteiligung des caregiver in der Persönlichkeit des Säuglings. Gerade dieser Punkt wird auch in der psychoanalytischen Behandlung hervorgehoben. Durch die freie Assoziation des Patienten versucht der Psychoanalytiker, unbewusste Prozesse zu erschließen und zu verstehen. Der psychoanalytische Prozess erlaubt einen indirekten Zugang zu frühen Schichten der Persönlichkeit durch regressive Prozesse. So kann ein psychoanalytischer Prozess zwar keine irreversiblen Schäden im Gehirn reversibel machen, doch kann er einem Patienten helfen, neue und integrative Verbindungen innerhalb seiner Psyche herzustellen. Was kann die Psychoanalyse als Spezialwissenschaft des Psychischen hier, in einer neurologischen Domäne, beitragen? Wie wir zu zeigen versucht haben, erlaubt der psychoanalytische Dialog die Erschließung unbewusster Phänomene auch bei neurologisch geschädigten Patienten. Abgesehen von Parametern, die das Setting betreffen und die in der Art der Schädigung begründet sind, bleibt die Methodik der Psychoanalyse unverändert. Im Falle des Neglect-Syndroms ergaben unsere Untersuchungen ein vielfältiges Persönlichkeitsspektrum in jedem einzelnen Fall. Jeder unserer Patienten verarbeitete den Schicksalsschlag individuell, wenn auch allen der Wunsch ge6
„Versorger" trifft als Übersetzung nicht ganz. Der Begriff beinhaltet
die emotionale Zuwendung.
Ausblick
267
meinsam war, das Gefühl von Selbstkohärenz aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten, die Schädigung eines bestimmten Hirnareals führt zu ähnlichen Erscheinungsbildern, wenn auch eingebettet in die spezielle Persönlichkeitsstruktur. Hier fügt sich die psychoanalytische Methodik der klinisch-anatomischen Methode an, wie sie von Alexander Luria (1973) einst initiiert wurde. Die Syndrom-Analyse, konzipiert aus Ort der Schädigung und der damit verbundenen Einschränkung von Funktionen, wird erweitert durch ein tieferes Verständnis der psychischen Antworten, die der Organismus auf die Schädigung gibt. Die psychoanalytische Herangehensweise kann hier einen Einblick geben in das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Strukturen, unbewusst/bewusst, subkortikal/kortikal. Sie geht damit über die reine Beschreibung des Syndroms hinaus und ermöglicht den Entwurf eines Persönlichkeitsbildes, das auf einem geschädigten Gehirn aufsetzt. Dies kann den Patienten ein besseres Gefühl vermitteln, verstanden zu werden und dabei helfen, die Veränderung zu akzeptieren. Nicht nur das: Sie kann ihnen dabei helfen, sich mit sich selbst anders als nur unter Defizit-Aspekten auseinander zu setzen, die Persönlichkeit anzunehmen, zu der sie jetzt geworden sind. Darüber hinaus zeigen die psychoanalytischen Untersuchungen solcher Syndrome aber auf, dass auch ein organischer Schaden nicht nur einer bestimmten neuronalen Struktur zuteil wird, sondern einer Person. Die Reaktion der Patienten mit dem NeglectSyndrom ist individuell, jedoch ist ihnen gemeinsam der Versuch, eine Art Ganzheit ihres subjektiven Erlebnisfeldes wiederherzustellen. Diese Tendenzen der Persönlichkeit zur restitutio ad integrum als der menschlichen Natur inhärent entgehen dem klinischen Blick, der sich auf die Defizite in den Funktionen richtet. Die Psychoanalyse vervollständigt hier das Bild eines Syndroms und erweitert es um die psychische Dimension, die entscheidenden Einfluss auf die Rehabilitation hat. Sie vermittelt einen Einblick in psychische Mechanismen, ihre Beteiligung an der Verarbeitung der Schädigung. Im Grunde ist es nicht verwunderlich, dass wir auch bei organischen Läsionen u n d nicht nur bei psychischen Traumatisierungen die nämlichen Abwehrmechanismen finden, wie wir sie aus der analytischen Arbeit mit
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Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss
n e u r o t i s c h e n Patienten kennen. Der M e n s c h reagiert i m m e r als Ganzes, nie isoliert. Die lokal b e g r e n z t e V e r ä n d e r u n g innerhalb einer S t r u k t u r hat K o n s e q u e n z e n für das übrige System, für d e n g e s a m t e n O r g a n i s m u s . Diese Arbeit hat uns e r m u t i g t , uns a u c h in Zukunft m i t a n d e r e n n e u r o l o g i s c h e n S y n d r o m e n in dieser Weise zu beschäftigen.
Literatur Klein, M. (1944/1996). Einführender Kommentar zur Diskussion des Vortrags „Gefühlsleben und Ich-Entwicklung des Säuglings". In M. Klein, Gesammelte Schriften, Bd. I, Teil 2. Stuttgart: Frommann-Holzboog. Luria, A. R. (1973). The working brain: An introduction to neuropsychology. London: Penguin Books. Money-Kyrle, R. (1928/1978). The psycho-physical apparatus. In the collected papers of Roger Money-Kyrle. Perthshire: The Roland Harris Education Trust: Clunie Press. Müller-Pozzi, H. (2007). Eine Triebtheorie für unsere Zeit. Sexualität und Konflikt in der Psychoanalyse. Bern: Huber. Sharot, T., Riccardi, M. A., Raio, C. M., Phelps, E. A. (2007). Neural mechanisms mediating optimism bias. Nature, 450 (7166), 102-105. Solms, M. (1997). The neuropsychology of dreams. Mahwah, NJ: Lawrence Earlbaum. Turnbull, O. H., Jenkins, S., Rowley, M. L. (2004). The pleasantness of false beliefs: An emotion-based account of confabulation. Neuro-Psychoanalysis, 6, 5 - 1 6 .
Danksagung
Die Arbeitsgruppe Frankfurt/Köln dankt den ehemaligen Mitgliedern der Arbeitsgruppe: Susanne Hoffmann-Metzger, Michael Huber und Hans-Geert Metzger für die zahlreichen anregenden Diskussionen und Ideen. Unserem Gruppenmitglied Hermann Schultz danken wir für seinen kreativen Einfluss und seinen stringenten wissenschaftlichen Blick, der unsere theoretischen und klinischen Diskussionen geprägt hat. Dem Neurologischen Rehabilitationszentrum Godeshöhe e.V. (ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Hans Karbe) gebührt unser Dank für die freundliche Unterstützung. Für die sorgfältige und professionelle redaktionelle Bearbeitung der Manuskripte danken wir Frau Ute Ochtendung vom Institut für Psychoanalyse der Universität Kassel.
Die Autorinnen und Autoren
Dr. Franz Dick ist Klinischer Neuropsychologe (GNP) und Supervisor in eigener Praxis in Frankfurt a. M. Dr. med. Johannes Döser ist Psychoanalytiker und Psychotherapeut in eigener Praxis in Essen. Dr. phil. Gabriele Junkers, Dipl.-Psych., ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Bremen. Prof. Dr. phil. Marianne Leuzinger-Bohleber ist Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt a. M. und Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Dr. med. Klaus Röckerath, Lehranalytiker und Supervisor, ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Köln. Leiter der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf e.V. Dr. med. Hans-Joachim Rothe ist Psychoanalytiker, Neurologe und Psychiater in eigener Praxis in Frankfurt a. M. Prof. Dr. phil. Mark Solms ist Direktor des Arnold Pfeffer Center for NeuroPsychoanalysis am Psychoanalytischen Institut New York. Dr. phil. Laura Viviana Strauss, Liz. in Psychologie (Argentinien), ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Düsseldorf sowie Lehranalytikerin und Supervisorin (DPV/IPA), Übersetzerin und Dolmetscherin.
Schriften des Sigmund-FreudInstituts Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Band 9 : Gisela C r e v e
Band 4: Marianne Leuzinger-Bohleber /
Bilder deuten
Yvonne Brandl /
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ADHS - Frühprävention statt
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2. Auflage 2 0 0 6 . 3 0 6 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kart. ISBN 978-3-525-45178-6
Band 8 : S t e p h a n H a u Unsichtbares sichtbar machen
Band 3: Marianne Leuzinger-Bohleber /
2 0 0 8 . 3 2 6 Seiten mit 13 Abb. und
Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.)
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