124 42 55MB
German Pages 518 Year 2003
CARL SCHMITT Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954
CARL SCHMITT
Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954 Materialien zu einer Verfassungslehre
Vierte Auflage
Duncker & Humblot • Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2. Auflage 3. Auflage 4. Auflage
1958 1973 1985 2003
Unveränderter Nachdruck der 1958 erschienenen Auflage Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany I S B N 3-428-01329-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97060
JOHANNES POPITZ f
2. F E B R U A R IN
1945
MEMORIAM
Vorwort M i t dem Jahre 1929 begann eine Zeit der Wirtschafts- und Verfassungskrisen. E i n hervorragender Sachkenner, der Staatssekretär i m Reichswirtschaftsministerium Ernst Trendelenburg, hat das auslösende Ereignis dieser Krisenzeit, den Kurssturz an der Ne*w Yorker Börse von Ende Oktober 1929, m i t dem Fenstersturz i n Prag vom M a i 1618, dem auslösenden Ereignis des 30jährigen Krieges, i n eine Parallele gebracht. I n Deutschland versuchte man der kritischen Situation mit den verfassungsrechtlichen
M i t t e l n des Präsidialsystems u n d des Aus-
nahmezustandes zu begegnen. Hierbei hat sich eine Reihe von verfassungsrechtlichen Erkenntnissen und Begriffen ergeben, für welche die Aufsätze dieser Sammlung als verfassungsgeschichtliche mente vorgelegt werden. Sie sind i n
bestimmten
Doku-
geschichtlichen
Situationen entstanden, aber sie betreffen Themen, die auch heute noch das verfassungstheoretische Denken beschäftigen können: das Problem der negativen Mehrheiten und der Stabilität der Regierung; die Unterscheidung von Gesetz u n d Maßnahme; das System der Grundrechte und institutioneller Garantien; die Grenzen der Verfassungsänderung und die Frage nach dem Hüter der Verfassung; schließlich das neue Problem des rechtsstaatlichen Verfassungsvollzugs. Die E n t w i c k l u n g vom Rechtsstaat zum Sozialstaat hält alle diese Fragen unerbittlich wach. Auch zu dem Thema Legalität u n d Legitimität haben sich i n Deutschland in der Situation des Winters 1932/33 Einsichten ergeben, die heute noch Interesse verdienen, wenn man bedenkt, was sich i m F r ü h j a h r 1948 i n der Tschechoslowakei als ParallelfaH von der entgegengesetzten Seite her ereignet hat. Die hier abgedruckten Aufsätze sind verfassungsgeschichtliche und rechts wissenschaftliche Dokumente zum Schicksal der Weimarer Verfassung. Zeitgeschichtlich stehen die Krisenmonate 1932/33 i m Mittel-
8
Vorwort
p u n k t der Sammlung. D a r i n liegt eine gewisse Distanz zur Gegenwart. Bonn ist bekanntlich nicht Weimar, und die heutige Verfassungslage ist von der des Jahres 1932 durchaus verschieden. Trotzdem bleiben die Krisen-Erfahrungen der Weimarer Zeit für jede demokratische Verfassung wichtig und bedürfen einer sachlichen Betrachtung. E i n T e i l der abgedruckten Aufsätze ist i n der Nähe entscheidender Vorgänge entstanden u n d m i t
vollem
Bewußtsein
in
die
Waagschale dei Zeit geworfen; alle aber gehen i n ihren Thesen und Begriffen auf konkrete Situationen und Beobachtungen zurück und kommen deshalb als Materialien für eine Verfassungslehre w o h l i n Betracht. Die angefügten Bemerkungen sollen dem Leser informatorische Hinweise geben und einen Durchblick durch die Fülle schwie^ riger Fragen erleichtern. A u f Kontroversen des Bonner Grundgesetzes gehe ich nicht ein, wenn sie auch gelegentlich erwähnt werden mußten. Das Sachregister kann dazu beitragen, begrifflich-systematische Zusammenhänge zu vermitteln. Die Ereignisse des 20. Juli 1932 und die Streitpunkte des anschließenden Prozesses Preußen-Reich sind beiseite gelassen, weil sie durch das U r t e i l des Staatsgerichtshofes vom 25. Oktober 1932 verfassungsrechtlich res judicata
geworden sind,
obwohl sie unbewältigte Geschichte blieben. Ich widme diese Sammlung dem Andenken an Johannes Popitz» den Staatssekretär
i m ReichsfinaTizministerium
und letzten preu-
ßischen Finanzminister. M i t i h m war ich i n Berlin seit 1929 durch gemeinsame Arbeit und wissenschaftliche Interessen, durch Nachbarschaft
und
persönliches
Vertrauen
und
durch
das
gemeinsame
deutsche Schicksal i n wachsender Freundschaft bis zu seinem Tode am 2. Februar
1945 verbunden. Sein Aufsatz von 1931 über den
Hüter der Verfassung ist liier (auf Seite 101) als verfassungsgeschicht* liches Dokument mitabgedruckt. Herbst 1957
Carl Schmitt
Inhalt Vorwort
7 Ausgangslage
1. Reichstagsauflösungen (1924) Nochmalige Reichstagsauflösung (1924) Einmaligkeit und gleicher Anlaß bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung (1925) 2. Staatsstreichpläne Bismarcks und Verfassungslehre (1929) . . . . . . . . 3. Zehn Jahre Reichsverfassung (1929) 4. Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930) . .
13 13 15 29 34 41
Das Problem des Hüters der Verfassung und der verfassungsrechtlichen Garantien 5. Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929) 6. Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929) 7. Ratifikation völkerrechtlicher Verträge und innerstaatliche Auswirkungen der Wahrnehmung auswärtiger Gewalt (1929) 8. Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931) 9. Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzungen (1931) . . . . 10. Grundrechte und Grundpflichten (1932) Formale Bestimmungen und Einteilungen 181 — Das Verhältnis des Grundrechtsteils zum organisatorischen Teil der Verfassung 189 — Sachliche Einteilung 206 — Grundpflichten 216 — Verschiedene Arten von Positivität, Vorbehalten, Geltungsvermutungen und Funktionen 217
63 110 124 140 174 181
Ausnahmezustand und Bürgerkriegslage 11. Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit (1931) 12. Legalität und Legitimität (1932) Das Legalitätssystem des Gesetzgebungsstaates 263 — Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates 263 — Drei außerordentliche Gesetzgeber der Weimarer Verfassung 293 — Schluß 335 13. Die Stellvertretung des Reichspräsidenten (1933) 14. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (1933) 15. Machtpositionen des modernen Staates (1933)
235 263
351 359 367
Allgemeines 16. Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941) 375
10
Inhalt
17. Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44) Geschichtliche Tatsache einer europäischen Rechtswissenschaft 386 — Die Wissenschaft des römischen Rechts als Trägerin europäischer Rechtswissenschaft 391 — Krisis der gesetzesstaatlichen Legalität, erstes Stadium: die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzgeber 397 — Zweites Stadium: der motorisierte Gesetzgeber 404 —Savigny als Paradigma 408 — Die Rechtswissenschaft als letztes Asyl 420 18. Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem (1947) 19. Das Problem der Legalität (1950) 20. Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug (1952) 21. Nehmen / Teilen / Weiden (1953) Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen.
386
430 440 452 489
Namenverzeichnis
505
Sachregister
508
Ausgangslage
Reichstagsauflösungen (1924) a) Nochmalige Reichstagsauflosung Ein staatsrechtlicher Hinweis D i e Befugnis, den Reichstag aufzulösen, beruht auf A r t . 25 der Weimarer Verfassung. Danach kann der Reichspräsident den Reichstag auflösen, jedoch — hier macht die Verfassung eine wichtige Einschränkung — „ n u r einmal aus dem gleichen Anlaß". Die Auflösung von Parlamenten hat längst aufgehört, ein seltener Ausnahmefall zu sein und wiederholt sich i n verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen. Daher kann die Beschränkung auf den „gleichen A n l a ß " praktisch werden u n d ist bei jeder Auflösung ihr G r u n d oder Anlaß (beides bedeutet hier dasselbe) zu beachten. Die staatsrechtliche Literatur der Weimarer Verfassung hat nun zwar verschiedene hier naheliegende Fragen erörtert, z. B. welches die Folge einer mehrmaligen Auflösung trotz gleichen Anlasses wäre; ob der Reichstag eine solche ungültige Auflösung einfach ignorieren kann; wer i n Zweifels fällen entscheidet usw. Angesichts der letzten Reichstagsauflösung erhebt sich aber ein ganz anderes Problem. Die Auflösungsverfügung vom 20. Oktober 1924 gibt den G r u n d der Reichstagsauflösung an. „Parlamentarische Schwierigkeiten machen die Beibehaltung der gegenwärtigen Reichsregierung und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher befolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich." Das bedeutet: der Reichstag ist i n seiner gegenwärtigen Zusammensetzung nicht i n der Lage, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Es zeigt sich eben besonders deutlich, daß Unklarheit u n d Zerrissenheit der Partei Verhältnisse die Voraussetzung einer parlamentarischen Regierung — einfache und berechenbare Mehrheiten — aufhebt. A n laß dieser Reichstagsauflösung ist also die Regierungsunfähigkeit des Reichtstages. W i e nun, wenn der neue, i m Dezember 1924 gewählte Reichstag wiederum dieselbe Parteizersplitterung und infolgedessen eine gleiche oder ähnliche Unfähigkeit zeigt? Wenn wiederum gleiche oder ähnliche parlamentarische Schwierigkeiten die Beibehaltung der gegenwärtigen und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung unmöglich machen? Wie die Dinge i n Deutschland nun einmal
14
Reichstagsauflösungen (1924)
liegen, besteht immerhin eine solche Möglichkeit. Dann würde die jetzige Reichsregierung sich wiederum vor derselben Schwierigkeit sehen, und es wäre vernünftig, auch den neuen, regierungsunfähigen Reichstag wieder aufzulösen. Stände nun das Verbot des A r t . 25 i m Wege, w e i l die abermalige Auflösung aus dem gleichen Anlaß erfolgen würde wie die Auflösung vom 20. Oktober? Hier t r i t t eine Grundschwierigkeit der Weimarer Verfassung zutage. Die Verfassung übernimmt den Parlamentarismus u n d hält es stillschweigend für selbstverständlich, daß eine auf parlamentarische Mehrheiten sich stützende Regierung funktionieren werde. Wenn man nun i n die Verfassung hineinschrieb, daß der Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlaß aufgelöst werden dürfe, so setzte man voraus, daß der Reichstag zu einer politischen Frage eine Stellung einnehmen könnte, die von der politischen Überzeugung der Reichsregierung abwich. I n diesem Falle darf der Reichstag aufgelöst werden, d. h. das V o l k soll die Meinungsverschiedenheit zwischen Reichstag und Regierung entscheiden. Die Beratungen des Verfassungsausschusses, insbesondere die Äußerungen des Berichterstatters D r . A b laß und des damaligen Reichsministers des Innern, Hugo Preuß, lassen darüber keinen Zweifel. „ D e r Präsident und die Regierung", sagte Preuß, „sollen nicht die Möglichkeit haben, durch immer wiederholte Auflösung wegen derselben Frage — ich erinnere an die Konfliktzeit — zu versuchen, den Reichstag und die Wählerschaft allmählich mürbe zu machen. D u r c h die Auflösung w i r d Berufung an die Wähler eingelegt. Das U r t e i l der Wähler ist endgültig. I n derselben Frage soll keine neue Berufung eingelegt werden können." Es ist also i n A r t . 25 vorausgesetzt, daß Reichsregierung und Reichstag i n einer bestimmten Frage nicht übereinstimmen, z. B. der Reichstag eine Regierungsvorlage ablehnt, daß aber jeder von beiden zu einer bestimmten politischen Frage eine bestimmte Stellung einnimmt und die Wählerschaft durch Neuwahl sich für eine der beiden Meinungen entscheidet. Diese Voraussetzung t r i f f t für die Auflösung vom 20. Oktober nicht zu. Ein ganz anderer Sachverhalt liegt hier vor, daß nämlich infolge seiner inneren Zerrissenheit der Reichstag überhaupt nicht i n der Lage ist, eine klare Stellung zu nehmen und eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Es handelt sich gar nicht um eine Meinungsverschiedenheit, über welche das Volk durch die Neuwahl m i t Ja oder Nein entscheiden könnte, vielmehr soll die Neuw a h l überhaupt erst die handlungsfähige, d. h. vor allem einer klaren Meinung fähige Mehrheit ermöglichen. Ehe das Volk entscheiden
Reichstagsauflösungen (1924)
15
kann, ob es die Politik des Parlaments oder die etwa abweichende Politik der Regierung billigt, muß es ein Parlament wählen, welches überhaupt eine Meinung haben und eine P o l i t i k machen kann. Würde dieses Ziel der Neuwahl nicht erreicht, würden sich bei den Wahlen i m Dezember wiederum die beschämenden, unmöglichen Parteiverhältnisse ergeben, die zur Auflösung vom 20. Oktober 1924 geführt haben, so wäre die Reichsregierung zweifellos i m Recht, wenn sie durch eine nochmalige Auflösung wieder den Versuch machte, die Voraussetzung für ein regierungsfähiges Parlament zu schaffen. Das wäre keine Auflösung „aus dem gleichen A n l a ß " , welcher A r t . 25 der Reichsverfassung entgegenstände, sondern der unumgängliche Weg, überhaupt erst die Voraussetzung zu schaffen, unter welcher die ganze Weimarer Verfassung und auch der A r t . 25 steht, nämlich ein handlungsfähiges Parlament m i t einer regierungsfähigen Mehrheit.
b) „Einmaligkeit" und „gleicher Anlaß" bei der Reichstagsauf losung nach Art. 25 der Reichs Verfassung D u r c h eine Verordnung des Reichspräsidenten vom 13. März 1924 (RGBl. I, S. 173) wurde der deutsche Reichstag aufgelöst, wie die Verordnung sagt, „nachdem die Reichsregierung festgestellt hat, daß das Verlangen, die auf G r u n d der Ermächtigungsgesetze vom 13. O k tober und 8. Dezember 1923 (RGBl. I, S. 943 und 1179) ergangenen und von ihr als lebenswichtig bezeichneten Verordnungen zur Zeit unverändert fortbestehen zu lassen, nicht die Zustimmung der Mehrheit des Reichstags findet". Der am 4. M a i 1924 neugewählte Reichstag wurde dann wiederum aufgelöst, und zwar durch eine Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Oktober 1924 (RGBl. I, S. 713). A u c h bei dieser Auflösung ist der Anlaß angegeben: „Parlamentarische Schwierigkeiten machen die Beibehaltung der gegenwärtigen Reichsregierung und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher befolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich." Anlaß der Auflösung vom 13. März war eine sachliche Meinungsverschiedenheit, ein Gegensatz zwischen Reichstagsmehrheit und Reichsregierung. Dadurch, daß der am 4. M a i neugewählte Reichstag dem Verlangen der Reichsregierung entsprach und die erwähnten Verordnungen fortbestehen ließ, war der Anlaß jener A u f -
16
R e i s t a g s a u f l ö s u n g e n (1924)
lösung vom 13. März 1924 erledigt. Wenigstens sollte man das annehmen. Allerdings hat (in Nr. 442 der Dresdner Nachrichten vom 26. Oktober 1924) Herr Landgerichtspräsident D r . Wagner (Zwickau) die Meinung vertreten, bei der Auflösung vom 20. Oktober 1924 liege wiederum der gleiche A n l a ß vor wie bei der Auflösung vom März, weil jedesmal dasselbe Kabinett M a r x keine sichere Mehrheit gehabt habe 1 . M i t einer solchen Auffassung w i r d aber der Begriff des A n lasses ins Grenzenlose verallgemeinert und zu einem verschwommenen letzten Grunde gemacht. Es wäre unfruchtbarer Scharfsinn, wollte man hier die Worte G r u n d oder Anlaß philologisch oder philosophisch ausdeuten. Aber irgendeine Grenze muß für den gleichen Anlaß oder den gleichen G r u n d doch gefunden werden. Die meisten Auflösungen beruhen nämlich auf ein und demselben allgemeinen G r u n d oder Anlaß, auf einem K o n f l i k t , einer Meinungsverschiedenheit, parlamentarischen Schwierigkeiten oder wie man den allgemeinen G r u n d umschreiben w i l l , und so könnte man schließlich alle Parlamentsauflösungen der Welt auf den gleichen Anlaß zurückführen. Wenn A r t . 25 RV. bestimmt, daß der Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlaß aufgelöst werden darf, so w i r d man den Zusammenhang dieser Einmaligkeit mit der Gleichheit des Anlasses genauer untersuchen müssen. Von dem Wort „ A n l a ß " , welches A r t . 25 gebraucht, w i r d man nur sagen können, daß es eine konkrete Sachlage, eine bestimmte Meinungsverschiedenheit oder Angelegenheit bezeichnet und dadurch den allgemeinen G r u n d (irgendwelche Gegensätze zwischen Regierung und Reichstag oder parlamentarische Schwierigkeiten) erst substanziiert und individualisiert. Von „Einmaligkeit" kann m i t Beziehung auf einen gleichen Anlaß logischerweise erst dann gesprochen werden, wenn eine Individualisierung und Konkretisierung vorgenommen ist. F ü r diese nähere Konkretisierung des auslösenden Konflikts dürfte das Wort Anlaß gut gewählt sein 2 . Während also, wenn auch zu Unrecht, die Ansicht vertreten wird, daß bereits die Auflösung vom Oktober aus dem gleichen Anlaß erfolgt sei wie die Auflösung vom März 1924 und deshalb gegen A r t . 25 verstoße, habe ich (in einem Aufsatz i n Nr. 836 der Kölnischen Volks1 „Der vor fünf Monaten unter der Regierung Marx neu gewählte Reichstag wurde also aufgelöst, weil dasselbe Kabinett Marx zur Fortführung seiner bisherigen Politik noch immer keine sichere Mehrheit hatte. Der Anlaß ist also seinem Kerne nach der gleiche wie am 13. März." 2 Schelcher, DJZ. November 1924, Sp.898.
Reichstagsauflösungen (1924)
17
zeitung vom 26. Oktober 1924) eine i n etwa entgegengesetzte Meinung ausgesprochen: daß eine nochmalige Auflösung des Reichstags zulässig ist, wenn sich bei den Wahlen vom 7. Dezember 1924 wiederum die gleiche Parteizerrissenheit und Regierungsunfähigkeit des Reichstags ergäbe, die zur Auflösung vom 20. Oktober geführt hat. Inzwischen haben die Wahlen stattgefunden, und die Besorgnis, die jenem Aufsatz zugrunde lag, hat sich leider als gerechtfertigt erwiesen. Ganz unabhängig davon, wie sich das Kabinett M a r x aus irgendwelchen politischen Gründen zu dem neuen i m Dezember gewählten Reichstag stellen mag, erhebt sich hier jedenfalls die Frage, was als „gleicher A n l a ß " i m Sinne des A r t . 25 RV. zu betrachten ist. Daß die Frage so entgegengesetzte Antworten finden konnte, wie sie i n den genannten Zeitungsaufsätzen zum Ausdruck kommen, w i r d man nicht einfach durch den Gegensatz von Parteimeinungen erklären dürfen. Unser deutsches parlamentarisches Staatsrecht ist noch sehr j u n g und unentwickelt, und so kommt es, daß fremde, oft aus ganz anderen politischen und staatsrechtlichen Voraussetzungen gewonnene Begriffe ziemlich schematisch übertragen und angewandt werden. Treffend hat Koellreutter bemerkt, „daß das parlamentarische System i n dem Niederschlag, den es i n den deutschen Verfassungen gefunden hat, durchaus nicht eindeutig festgelegt ist". Insbesondere gilt das von der Auflösung der Volksvertretung, die er m i t Recht als einen „ K e r n p u n k t des parlamentarischen Systems" bezeichnet 3 . Das verfassungsrechtliche Institut der A u f lösung hat i n der Tat einen höchst mannigfaltigen, sachlich und rechtlich verschiedenartigen Inhalt, der infolge des gleichen Wortes Auflösung leicht übersehen wird. Hier sei nur kurz auf eine elementare Unterscheidung hingewiesen, damit der Sinn der Einmaligkeit klar werde, durch welche A r t . 25 RV. die Auflösungsbefugnis des Reichspräsidenten beschränkt. Man unterscheidet zunächst zwischen der monarchischen, der ministeriellen und der präsidentiellen Auflösung, der „dissolution royale. ministerielle et presidentielle" 4 . I n den Verfassungen des europäischen Kontinents hat sich die Auflösung der Volksvertretung i m 19. Jahrhundert zunächst als ein Institut der konstitutionellen (im Gegensatz zur parlamentarischen) Monarchie herausgebildet 5 . Dieses monar• Jahrbuch des öffentlichen Rechts, X (1921), S.413. 4 Saint Girons, La Separation des Pouvoirs, 1881, p. 347. Matter, La Dissolution des assemblies parlementaires, 1898. • Beispiele: Die Constitution francaise vom 6. April 1814 Art. 10 (Auf2
Carl Schmitt
18
Reichstagsauflösungen (1924)
chische Auflösungsrecht setzt voraus, daß keine parlamentarische Regierung besteht; es verleiht der königlichen Regierung ein Machtm i t t e l gegen die Volksvertretung, aber nicht i m Sinne einer Berufung an die Wähler, d. h. an das Volk, w e i l das V o l k i n diesen Verfassungen nicht die letzte Instanz ist. Die Beschränkungen, welchen dieses Auflösungsrecht unterworfen w i r d , betreffen daher wohl die Frist, binnen deren das neue Parlament einzuberufen ist, dagegen ist von einer nur einmaligen Ausübung nicht die Rede. Selbst für die englische Verfassung w i r d daran festgehalten, daß der König das Parlament so oft auflösen kann, wie er w i l l 6 . A u f dem Kontinent entwickelte sich dieses Auflösungsrecht zu einer A r t Angriffswaffe, mittels deren die königliche Regierung das Parlament durch mehrmalige Auflösungen, wie Prof. Preuß sich ausdrückte, „mürbe zu machen versuchte" 7 . Die großen Präzedenzfälle dieser A r t Auflösung liegen i n dem preußischen K o n f l i k t der Jahre 1862/63. Eine derartige Auflösungsbefugnis ist ein Angriffsmittel, „une arme offensive" 8 , und damit wäre die Beschränkung auf einmalige Ausübung nicht gut vereinbar. Ganz anderer A r t ist das sogenannte ministerielle Auflösungsrecht, das sich i n England unter der Voraussetzung einer parlamentarischen Regierung entwickelt hat. Bei dieser A r t Auflösung ist vorausgesetzt lösungsrecht des Königs gegenüber dem Corps législatif; die Verfassung von 1791 hatte ausdrücklich in Titel 3 Art. 5 ch. I bestimmt: Le corps legislatif ne pourra etre dissous par le roi; die Verfassung vom thermidor X [1802] Art. 55, 77 sah zum erstenmal ein Auflösungsrecht vor und zwar des Senates gegenüber dem Corps legislatif); Charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814 Art. 50; Acte additionel vom 22. April 1815 Art. 21; Französische Charte constitutionnelle vom 6. August 1830 Art. 42; Belgische Verfassung vom 7. Februar 1831, Art. 71; Reichsverfassung der Frankfurter Nationalversammlung vom 28. März 1849, § 79 (die letzten allerdings mit Ministerverantwortlichkeit); Preußische Verfassung vom 31. Januar 1850, Art. 71; Reichsverfassung vom 16. April 1871, Art. 24. Von deutschen Landesverfassungen seien noch erwähnt: Bayern (26. Mai 1818) Tit. VII § 23; Sachsen (4. September 1831) § 116; Württemberg (25. September 1819) § 186; Baden (22. August 1818 und Gesetz vom 24. August 1904) § 42; Oldenburg (22. November 1852) Art. 148 usw. 6 Maitland, The constitutional history of England (1908), p. 374: „the king without breaking the law can dissolve a parliament whenever he pleases". Alle „restraints" dieses Rechts sind keine „legal restraints", wenn es auch nicht gut wäre, ohne Rücksicht auf die Wünsche der Nation aufzulösen. 7 Berichte und Protokolle des Verfassungsausschusses der Weimarer Nationalversammlung, S. 251. 8 Esmein-Nezard, Elements de droit constitutionel frangais et compare (1921) I p. 160: Das Recht der Auflösung ist hier „une arme offensive donnee au chef de 1 etat contre la legislature qu'il veut reduire ä la soumission".
Reichs tagsauf lösungen (1924)
19
daß das Ministerium i n einen Gegensatz nicht zum König, sondern zur Mehrheit des Parlamentes gerät. D a n n soll die Auflösung das letzte und zwar wesentlich defensive M i t t e l des Ministeriums sein, sich i n der Regierung zu halten, obwohl es die Parlamentsmehrheit nicht mehr hinter sich hat und für eine wichtige Angelegenheit keine Mehrheit findet. H i e r bedeutet die Auflösung eine Berufung an die Wählerschaft, damit diese zwischen dem Ministerium und der Parlamentsmehrheit entscheidet. Nur für diese Art der Auflösung hat der Grundsatz der Einmaligkeit sich geschichtlich aus der Natur der Einrichtung entwickelt. Wenn ein Kabinett i n einer lebenswichtigen Frage überstimmt w i r d , sagt Dicey, so k a n n es durch das M i t t e l der Auflösung an das V o l k appellieren; fällt der A p p e l l gegen das Ministerium aus, so muß es vom A m t zurücktreten und hat dann kein Recht, das Parlament zum zweiten Male aufzulösen 9 . Hier hat die Einmaligkeit einen ganz bestimmten, guten Sinn. Die Wähler, an welche appelliert w i r d , sollen entscheiden, und ihre Entscheidung ist maßgebend. Wo immer die Vorstellung herrscht, daß die Wählerschaft zu einer bestimmten Frage das letzte W o r t gesprochen hat. ergibt sich diese A r t Einmaligkeit der Auflösung. I n allen Äußerungen über das ministerielle Auflösungsrecht begegnet man daher ununterbrochen der Vorstellung, daß das V o l k als der höhere D r i t t e eine Meinungsverschiedenheit zwischen Ministerium und Parlament, einen Konflikt oder eine Krise entscheidet. Die Worte: Berufung (appel, appeal), Richter (juge de la crise), U r t e i l (verdict) sind bezeichnend dafür, daß die Stellungnahme der Wählerschaft nach A r t eines rechtskräftigen Urteils eine konkrete Streitfrage endgültig beantwortet. Daraus folgt die Beschränkung: ein solches Auflösungsrecht darf nur einmal ausgeübt werden. Wenn die Auflösung anderen Zwecken dient, wenn etwa die Mehrheit des Parlaments selbst die Auflösung wünscht, ohne daß eine bestimmte Frage zur Entscheidung vorliegt, oder wenn die Parteiverhältnisse unklar sind und eine sichere Mehrheit unmöglich ist — w o f ü r es auch i n der englischen Parlamentsgeschichte Präzedenzfälle g i b t 1 0 —, so entfällt die Ratio der Einmaligkeit, und wenigstens in der Sache liegt keine ministerielle A u f lösung i m eigentlichen Sinne vor. 9 A cabinet, when outvoted on any vital question, may appeal at once at the country by means of a dissolution. If an appeal to the electors goes against the ministry, they are bound to retire from affice and have no right to dissolve Parliament a second time. Law of constitution, I. p. 344. 10 Anson, Law and Custom of the Constitution, I p. 293: Die Auflösungen von 1807, 1857, 1859, 1886, Fälle in denen „the Commons are unsettled".
2*
20
Reichstagsauflösngen (1924)
Das Auflösungsrecht des Präsidenten einer Republik wurde bei der Beratung der französischen Verfassungsgesetze von 1875 als besondere A r t der Auflösungsbefugnis erörtert 1 1 und trat hier zum erstenmal i n einer republikanischen Verfassung auf. Noch die wichtigste theoretische Abhandlung, die für die Beratungen von 1875 von großem Einfluß war, „ L a Nouvelle France" von Prevost-Paradol, hält ein A u f lösungsrecht des republikanischen Präsidenten für unpraktisch, weil der Präsident notwendig einer Partei angehöre, und gibt der konstitutionellen Monarchie gerade wegen des selbständigen Auflösungsrechts den Vorzug. Jedenfalls beruhen alle Gedankengänge, die zum präsidentiellen Auflösungsrecht führen, auf der Teilung u n d Balancierung der Gewalten und versuchen, beim Präsidenten ein Gegengewicht gegen die Macht des Parlaments zu konstruieren. Darauf beruht auch die bekannte, von Redslob als „echter Parlamentarismus" bezeichnete Konstruktion, die von den Berichterstattern Prof. Preuß und D r . Ablaß i m Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung übernommen wurde und zum A r t . 25 der Reichsverfassung führte. Aber die Konstruktion wurde nicht konsequent durchgeführt. E i n Staatspräsident, der durch das Auflösungsrecht dem Parlament gegenüber unabhängig werden soll, dürfte eigentlich für die Ausübung dieses Rechts nicht an die Gegenzeichnung der vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragenen Minister gebunden werden. I n den Beratungen und während der ersten Jahre der Weimarer Verfassung hat man diese Frage eingehend erörtert 1 2 . Hier ist nur von Interesse, daß die Weimarer Verfassung, indem sie den Präsidenten an die ministerielle Gegenzeichnung bindet, eine Verbindung von ministerieller u n d präsidentieller Auflösung herstellt. Infolge11 Darüber die sehr interessanten und wertvollen Untersuchungen von J. Barthelemy, Le role du pouvoir executif dans les Republiques modernes, 1906, p. 629—750. 12 Berichte und Protokolle des Verf.-Ausschusses, 23. Sitzung; Sitzungsberichte vom 5. Juli und 30. Juli (1339, 2113). Pohl, Die Auflösung des Reichstags, 1921, S. 18 ff.; Koellreutter, Das parlamentarische System in den Landesverfassungen, 1921, S. 6 ff.; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922 meint (S. 319) die „Auflösbarkeit" des Reichstags werde infolge des Erfordernisses der Gegenzeichnung „kaum je in praktische Wirksamkeit treten" — eines der Fehlurteile dieses an falschen Diagnosen reichen Buches. Richtig dagegen AöR. N. F. 7, S. 87, wo die Auflösung nach Art. 25 als mögliche Form der Selbstauflösung erkannt ist, freilich ohne die Konsequenzen, die sich daraus für „Einmaligkeit" und „gleichen Anlaß" ergeben. An die Selbstauflösung erinnert auch Herr Ministerialrat Dr. Lammers in einem Aufsatz der Neuen Preußischen Kreuzzeitung, Nr. 523 vom 6. Nov. 1924, ebenfalls ohne auf die ratio der Einmaligkeit einzugehen.
Reichstagsauflösngen (1924)
21
dessen kann die Auflösung von F a l l zu F a l l ganz verschiedenen Charakter haben. Für die Auslegung der Worte „ E i n m a l i g k e i t " und „gleicher A n l a ß " ist das von großer Bedeutung. Zwar scheint die positive Bestimmung des A r t . 25 die Beschränkung auf die Einmaligkeit bei gleichem Anlaß allgemein ohne jede Unterscheidung vorzuschreiben. Aber notwendigerweise bedeuten „ E i n m a l i g k e i t " und „gleicher A n l a ß " jeder Auflösung etwas Besonderes und ändert sich je nach der konkreten A r t der einzelnen Auflösung der Sinn dieser Worte. D i e Verbindung von präsidentiellem und ministeriellem Auflösungsrecht gibt dem A r t . 25 eine besondere Schwierigkeit. I m englischen Verfassungsleben sind gleichfalls mehrere Arten der Auflösung trotz der stets gleichen Form der Auflösung zu unterscheiden, die Beschränkung auf die einmalige Ausübung gilt aber erstens überhaupt nur übungsmäßig und zweitens nur für das eigentlich ministerielle Auflösungsrecht. Die Weimarer Verfassung dagegen t r i f f t ganz verschiedene Fälle m i t derselben positiven Bestimmung. Das schließt natürlich nicht aus, daß man sie vernünftig auslegen, d. h. daß man auf die sachliche Unterscheidung der verschiedenen Auflösungsarten zurückgehen muß. Nicht nur aus der Eigenart der Rechtsbildung und dem Erfordernis einer vernünftigen Auslegung, sondern auch aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich diese Notwendigkeit. I n den Äußerungen des Berichterstatters D r . Ablaß und des Prof. Preuß t r i t t die Verbindung der verschiedenartigen Gesichtspunkte, andererseits aber auch die Ratio der Einmaligkeit deutlich hervor: wenn das Volk durch seine Stellungnahme einen K o n f l i k t entschieden hat, so ist die Angelegenheit erledigt. Der Berichterstatter D r . Ablaß sagt von dem Auflösungsrecht des Reichspräsidenten: „Dieses Recht geht unzweifelhaft sehr weit, aber w i r müssen es unter allen Umständen zubilligen. Der Reichspräsident muß die Möglichkeit haben, wenn er nach bester Überzeugung davon ausgeht, daß der Reichstag m i t seinen Beschlüssen auf falschem Wege oder m i t dem Volksempfinden in Widerspruch ist, das Volk gegen den Reichstag anzurufen. Das ist demokratisch, und gegen den A p p e l l an das V o l k w i r d sich ein guter Demokrat nicht wehren können 1 3 ." Andererseits w i r k t e aber die Erinnerung an das monarchische Auflösungsrecht noch stark nach und wurde gerade für die ausdrückliche Aufnahme der Beschränkung auf einmalige Ausübung entscheidend. Als hätte er plötzlich vergessen. 1S
Berichte und Protokolle S. 233.
22
Reichs tagsauf l ö s n g e n (1924)
daß die Weimarer Verfassung auf einem ganz demokratisch-republikanischen Fundament beruht, und als sei es notwendig, Gesichtspunkte des Kampfes zwischen Königlicher Regierung und Volksvertretung i n eine demokratische Verfassung aufzunehmen, äußerte sich Preuß: , y Der Sinn der Bestimmung (,aüs dem gleichen Anlaß 4 ) ist wohl klar. Der Präsident und die Regierung sollen nicht die Möglichkeit haben, durch immer wiederholte Auflösung wegen derselben Frage — ich erinnere an die Konfliktzeit — zu versuchen, den Reichstag und die Wählerschaft allmählich mürbe zu machen 1 4 /' Hier überwältigt den Demokraten offenbar die Erinnerung an eine gerade durch die Weimarer Verfassung beseitigte Vergangenheit. Wenn Preuß nun ebenfalls von der Berufung an das V o l k und der endgültigen Entscheidung der Wählerschaft spricht, so erkennt er damit die maßgebende Voraussetzung der Einmaligkeit an. Diese Voraussetzung ist eine bestimmte politische Meinungsverschiedenheit, welche das Volk durch Ja oder Nein endgültig entscheidet. Zu den genannten Arten der Auflösung kommt aber noch eine weitere hinzu, die wiederum ihre eigenen Voraussetzungen und Gesichtspunkte hat: die Selbstauflösung des Parlaments. E i n Parlament kann seine eigene Auflösung beschließen, weil es sich nicht mehr arbeitsfähig fühlt, weil es das Bedürfnis hat, sich einer neuen Zustimmung der Wählerschaft zu vergewissern, vielleicht auch nur deshalb, weil es den Augenblick für günstig hält, um sich das Mandat erneuern zu lassen, alles Beispiele, wie man sie auch aus der englischen Parlamentsgeschichte k e n n t 1 5 . I n solchen Fällen vollzieht sich in der Form einer durch den König oder den Staatspräsidenten verordneten Auflösung i n der Sache eine Selbstauflösung der Volksvertretung. I n deutschen Landesverfassungen hat die E n t w i c k l u n g des Parlamentarismus seit 1919 zu einer ausdrücklichen verfassungsmäßigen Regelung und zur Ausbildung der Selbstauflösung als eine? verfassungsmäßigen Institutes geführt 1 6 . Hier t r i t t die Beschränkung auf Einmaligkeit und gleichen Anlaß nicht auf. Sie wäre auch sinnlos. Denn der Anlaß, der ein Parlament zu dem Beschluß der Selbstauflösung bestimmt, ist bei jedem neuen Parlament ein neuer. Es 14
A.a.O., S. 251 (die Hervorhebung durch Sperrdruck rührt von mir). Sidney Low, The governance of England, p. 108. 16 Preußische Verfassung vom 30. November 1920, Art. 14; Bayrische Verfassung vom 14. August 1919. § 31; Sächsische Verfassung vom 26. Oktober 1920, Art. 9; Thüringische Verfassung vom 11. März 1920 § 16; Hamburgische Verfassung vom 7. Januar 1921, Art. 14; Bremer Verfassung vom 18. Mai 1920, § 17. 15
Reichstagsauflösngen (1924)
folgt schon aus dem Begriff der Selbstauflösung, daß sie überhaupt nur einmal stattfinden kann, w e i l ein Parlament naturgemäß nur einmal seine eigene Existenz vernichten kann. Die Fragen der Einmaligkeit und des gleichen Anlasses haben also hier eine fundamental verschiedene Bedeutung. Wenn das neugewählte Parlament sich ebenso wie das alte Parlament selbst auflösen w i l l , so ist das eine neue Angelegenheit, und eine Bindung an den Selbstauflösungsbeschluß eines früheren Parlaments wäre k a u m denkbar. Der Anlaß wiederholter Selbstauflösung w i r d i n vielen Fällen, vielleicht sogar meistens, der gleiche sein: parlamentarische Schwierigkeiten, Unmöglichkeit der Regierungsbildung, das Bedürfnis, sich der Zustimmung der Wähler zu versichern usw. Wiederum zeigt sich, daß Einmaligkeit und Gleichheit des Anlasses keine absoluten, sondern relative Begriffe sind und ihren I n h a l t durch den Zweck und die F u n k t i o n der besonderen, einzelnen Auflösung erhalten. Bei der Selbstauflösung des Parlaments widerspricht sowohl die begriffliche Eigenart dieser Rechtsbildung als auch die geschichtliche E n t w i c k l u n g dem Versuch, die Ausübung der Befugnis durch Einmaligkeit u n d gleichen Anlaß zu beschränken. Eine solche Beschränk u n g auf einmalige Ausübung ergibt sich geschichtlich und gedanklich aus der demokratischen Vorstellung, daß eine vom ganzen Volk ausgesprochene Entscheidung endgültig sein muß. Die Beschränkung richtet sich aber nur gegen die Exekutive, nicht gegen die Volksvertretung und erst recht nicht gegen das V o l k selbst. Sobald eine weitere (vierte) A r t der Auflösung, nämlich durch Volksabstimmung. a u f t r i t t 1 7 , findet sich daher wieder keine Beschränkung auf Einmaligkeit, obwohl sie vielleicht praktisch nahegelegen hätte, u m die andauernde Beunruhigung, die solche Volksabstimmungen m i t sich bringen, zu vermeiden. W o die Regierung eine Volksabstimmung über einen Beschluß des Landtages herbeiführen kann, und wo die Verfassung sagt, daß der Landtag aufzulösen ist, wenn die Abstimmung gegen den Landtag entscheidet 18 , ergibt sich dagegen naturgemäß wieder die Beschränkung auf die Einmaligkeit. Hier ist eben vorausgesetzt, daß eine Meinungsverschiedenheit zwischen Regierung und 17
Preuß. V. Art. 6 und 14; Bayr. § 30; Sädis. Art. 9; Württ. § 16; Hess. Art. 24; Bad. § 46; Thüring. § 25; Medcl.-Schwerin §§ 30, 45; Oldenburg § 55, 65 usw. 18 Mecklenburg-Strelitz vom 29. Januar 1919, § 7, Abs. 2; vgl. auch Thüringische Verfassung vom 11. März 1921, § 17, Bremen vom 18. Mai 1920, Art. 14.
24
Reichstagsauflösngen (1924)
Volksvertretung durch die Wählerschaft endgültig entschieden wird. Sollte aber, was immerhin möglich wäre, der nach einer solchen A u f lösung neugewählte Landtag trotz jener Volksabstimmung m i t dem früheren, aufgelösten Landtag übereinstimmen, dann dürfte wieder eine Volksabstimmung herbeigeführt werden, was gegebenenfalls eine nochmalige Auflösung zur Folge haben könnte 1 9 . Die wesentliche Voraussetzung für die Beschränkung des Auflösungsrechts auf einmalige Ausübung liegt immer darin, daß eine sachliche Meinungsverschiedenheit zwischen Regierung und Parlament durch das Volk mit Ja oder Nein endgültig entschieden wird. Das Institut des A r t . 25 hat i m Verfassungsleben des Deutschen Reiches sehr verschiedene Funktionen wahrzunehmen, und es wäre unvernünftig, ohne Rücksicht auf die verschiedenen Voraussetzungen und Zwecke einer konkreten Auflösung, abstrakt über Einmaligkeit und Gleichheit zu räsonnieren. I n den Formen des A r t . 25 kann sich sowohl eine präsidentielle, wie eine ministerielle Auflösung, wie endlich auch eine Selbstauflösung vollziehen. Wenn das Parlament nicht i n der Lage ist, eine sichere Mehrheit zu bilden, wenn es die bestehende Regierung nicht durch ein Mißtrauensvotum abberuft und auch dann kein Mißtrauensvotum beschließt, wenn ihm die Absicht der Auflösung längst bekannt ist, so liegt i n der Sache eine A u f lösung vor, die einer Selbstauflösung mindestens sehr nahe kommt. Ob man die Auflösung vom 20. Oktober direkt als einen F a l l der in den Formen des A r t . 25 sich vollziehenden Selbstauflösung ansehen w i l l , kann dahingestellt bleiben. Entscheidend und für den AnlaR individualisierend ist jedenfalls, daß sowohl die Beibehaltung der gegenwärtigen als auch die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher befolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich war. Hinsichtlich dieser bisher befolgten Innen- und Außenpolitik ist es nicht zu einem K o n f l i k t zwischen der Regierung und der Mehrheit des Reichstags gekommen, weil die grundlegenden Gesetze eine Mehrheit fanden. Die Auflösung bezweckte also nicht, der Wählerschaft die Entscheidung über einen K o n f l i k t zu übertragen, sondern hatte den typischen Zweck der Selbstauflösung, nämlich ein Parlament m i t einer sicheren, regierungsfähigen Mehrheit zu schaffen. Vielleicht k a n n man hier darüber streiten, ob es überhaupt zweckmäßig ist, das ganze V o l k anders als über ein einfaches Ja oder Nein entscheiden zu lassen, wie das in Gesetzen über Volksabstimmung 19
Eine ähnliche Kombination wäre nach Art. 43, Abs. 2 RV. denkbar.
Reichstagsauflösngen (1924)
25
meistens vorgesehen i s t 2 0 und wie man das analog auch auf solche Anlässe der Reichstagsauflösung anwenden könnte. Es wäre vielleicht besser, immer einen K o n f l i k t scharf in seinem sachlichen Gegensatz zu formulieren, damit die Wählerschaft eine einfache und entschiedene Stellung einnehmen kann. Sonst kommt es leicht zu lächerlichen, Demokratie und Parlamentarismus gefährdenden Erscheinungen, u n d das V o l k antwortet auf irgendeine schwierige außenpolitische Frage womöglich m i t Aufwertungs- und Mieterschutzwünschen. Eines ist jedenfalls sicher: der Auflösung vom 20. Oktober 1924 fehlte die wesentliche Voraussetzung, welche der Beschränkung auf die Einmaligkeit ihren Sinn gibt. Es handelte sich nicht darum, eine Meinungsverschiedenheit zu erledigen, zu welcher das Volk mit Ja oder Nein endgültig Stellung nahm, sondern darum, ein Parlament zu schaffen, welches überhaupt erst eine Regierung bilden und eine Meinung haben konnte. Der Sachverhalt dieser Auflösung ist also ein ganz anderer als der, den A r t . 25 voraussetzt. Als das deutsche Volk am 7. Dezember 1924 wählte, stand es ihm natürlich frei, ein Parlament zu wählen, dessen Mehrheit eine and^rr als die bisher befolgte Politik betrieb. Hätte es so gewählt, so wäre das eine Entscheidung gewesen, die bisherige Regierung mußte nach demokratischen Grundsätzen zurücktreten und hatte nicht das Recht, den Reichstag nochmals aufzulösen. Die Wahlen vom 7. Dezember sind aber so ausgefallen, daß die bisher befolgte Politik durch sie nicht abgelehnt ist. Sie haben auch keine klare Entscheidung: darüber gebracht, ob auf der Grundlage der bisher befolgten Politik die bisherige Regierung beibehalten oder eine neue gebildet werden soll. Zu der in der Auflösung vom 20. Oktober 1924 enthaltenen Frage hat das V o l k keine Stellung genommen, und damit entfällt die Voraussetzung, welche dem Urteil der Wählerschaft seine maßgebende K r a f t und der Beschränkung auf die Einmaligkeit ihren Sinn gibt. Stellen sich dann i m neugewählten Reichstag wiederum die gleichen parlamentarischen Schwierigkeiten ein, so wäre es kein Verstoß gegen A r t . 25 RV., wenn die Regierung den Reichstag abermals auflöste, um eine klare Regierungsbildung zu ermöglichen. Ob sie sich w i r k l i c h dazu entschließt, ist eine andere Frage, die sich nach sehr verschiedenartigen innen- und außenpolitischen Gesichtspunkten beantworten läßt. Rechtlich aber steht ihr A r t . 25 nicht im 20 Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni 1921. § 15: ..Die Stimme lautet nur auf Ja oder Nein; Zusätze sind unzulässig."
26
Reichstagsauflösngen (1924)
Wege. Denn es fehlt die wesentliche Voraussetzung, die klare Entscheidung durch das Volk, ohne welche die Einmaligkeit überhaupt ein sinnloser Begriff ist und zu dem absurden Ergebnis führt, daß entweder eine unhaltbare Situation vier Jahre ertragen oder ein fingierter neuer Anlaß gesucht werden müßte. Es fehlt aber noch eine weitere, für die Anwendung des A r t . 25 wesentliche und grundlegende Voraussetzung. Die Weimarer Verfassung geht als Ganzes u n d i n jeder besonderen organisatorischen Bestimmung, also auch i n A r t . 25 davon aus, daß das von ihr übernommene parlamentarische System normal funktionieren werde. Dazu gehören vor allem erkennbare Mehrheitsverhältnisse, die es dem Parlament ermöglichen, eine Meinung zu haben, Stellung zu nehmen, Beschlüsse z u fassen, durch welche der K o n f l i k t , den A r t . 25 voraussetzt, überhaupt erst denkbar wird. T r i f f t diese Voraussetzung nicht zu und ergeben sich dann parlamentarische Schwierigkeiten der Regierungsbildung, so darf man Verfassungsbestimmungen, welche ein normales Parlament m i t einer erkennbaren Mehrheit voraussetzen, nicht auf einen ganz anderen, abnormen Sachverhalt anwenden. Das ist eine elementare Regel jeder juristischen Auslegung. Die Regierung dürfte also den Reichstag wegen der gleichen parlamentarischen Schwierigkeiten nochmals auflösen, wenn sie das für notwendig hält, um den unhaltbaren Zuständen unklarer Parteiverhältnisse und der ewigen Krise ein Ende zu machen. I h r dieses Recht nur einmal zu geben, würde einer vernünftigen Auslegung des A r t . 25 widersprechen. Wer nicht etwa ein politisches Interesse daran hat, die Verfassung durch ein unvernünftiges „beim Wort nehmen" ad absurdum zu führen, darf ihre wesentlichen Voraussetzungen nicht mißachten, und was Sir W . Anson für die englische Verfassung ausspricht, w i r d man jeder, auch der Weimarer Verfassung zubilligen müssen: daß es für die Frage, ob etwas verfassungsmäßig ist, schließlich doch darauf ankommt, ob es vernünftig ist.
„Nochmalige Reichstagsauflösung" ist als Leitartikel in Nr. 836 der Kölnischen Volkszeitung vom 26. Oktober 1924 erschienen; „Einmaligkeit und gleicher Anlaß" im Archiv des öffentlichen Rechts, NF 8, Heft 1/2 S. 162—174. Die durchgängige Bedeutung des Problems der Parlamentsauflösung ergibt sich aus folgender
Reichs tags auf lös ii ngen (1924)
27
Ubersidit über die Reichstagsauflösungen 1924 bis 1933: Datum 13. 3.1924
20.10.1924
31. 3.1928
18. 7.1930
4. 6. 1932
12. 9.1932 1. 2.1933
Anlaß oder Begründung Neuwahl Die Reichsregierung bezeichnet Verordnungen, die sie auf Grund von Ermächtigungsgesetzen erlassen hat, gegen die Mehrheit des Reichstags als lebenswichtig und will sie unverändert bestehen lassen 4. 5.1924 Parlamentarische Schwierigkeiten machen die Beibehaltung der gegenwärtigen Reichsregierung und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher erfolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich 7.12.1924 Der Reichstag hat alle Gesetze verabschiedet und neue gesetzgeberische Arbeiten können in dieser Wahlzeit nicht zum Abschluß gebracht werden (sog. Überalterung) 20. 5.1928 Der Reichstag hat beschlossen, von der Reichsregierung nach Art. 48 erlassene Verordnungen außer Kraft zu setzen 14. 9.1930 Der Reichstag entspricht nach dem Ergebnis der Landtagswahlen nicht mehr dem politischen Willen des deutschen Volkes 31. 7.1932 Es besteht Gefahr, daß der Reichstag die Aufhebung der Notverordnung vom 4. 9. 32 verlangt 6.11.1932 Nachdem sich die Neubildung einer Arbeitsmehrheit als nicht möglich herausgestellt hat, wird aufgelöst, damit das deutsche Volk durch die Wahl eines neuen Reichstages zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt 5. 3.1933
2. Die verschiedenen Anlässe oder Begründungen, die in den Auflösungsverordnungen der Regierung formuliert werden, sind von großem verfassungsgeschichtlichem Interesse. In ihnen spiegelt sich die Entwicklung der Weimarer Verfassung selbst und die sich steigernde, schließlich umschlagende Verfassungskrise. Die Begründung der Auflösung vom 20. Oktober 1924 enthält hierfür eine schon beinahe klassische Formulierung. Das ist der Grund, warum jener Leitartikel aus der Kölnischen Volkszeitung hier mitabgedruckt wird. Die Auflösungsverordnung spricht von „parlamentarischen Schwierigkeiten". Diese wurden unüberwindlich, als es an einer positiven Parlamentsmehrheit fehlte und negative Mehrheiten das legislative Vakuum bildeten, das für die letzten Jahre der Weimarer Verfassung kennzeichnend ist. Die verschiedenen Versuche, dem Vakuum abzuhelfen, standen meistens unter dem Stichwort: Erschwerung des Mißtrauensvotums; sie haben schließlich in Art. 67 des Bonner Grundgesetzes von 1949 zu einem folgenreichen praktischen Ergebnis geführt.
28
Reichstagsauflösngen (1924)
3. Die Auflösungspraxis der Weimarer Verfassung laßt eine wachsende Tendenz zur plebiszitären Demokratie erkennen. Sie endete in dem offenen Dualismus eines parlamentarischen gegenüber einem plebiszitären Gesetzgebungsstaat (vgl. unten S. 312—319). Auch in dieser Hinsicht ist das Bonner Grundgesetz aus den Erfahrungen der Weimarer Verfassung zu verstehen. Es beseitigt die Möglichkeiten einer Parlamentsauflösung bis auf einige, in normalen Zeiten schwache Reste (Art. 63, 68 GG). Wenn eine Verfassung bewußt bestimmte Einrichtungen und Möglichkeiten der vorangehenden Verfassung negiert, so liegt darin eine Entscheidung, zu deren Verständnis die Kenntnis des Negierten gehört. Der verbleibende Rest von Auflösungsmöglichkeiten könnte allerdings in kritischen Momenten eine um so größere Bedeutung erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt ist es symptomatisch, daß die Auflösung durch den Bundespräsidenten nicht mehr an das Erfordernis einer konstitutionellen Gegenzeichnung gebunden ist (Art. 58). 4. Art. 25 der Weimarer Verfassung von 1919 war eine posthume Antwort auf die Versuche der preußischen Regierung, während des Konflikts 1862 l>is 1866 den Widerstand der oppositionellen Landtagsmehrheit durch mehrmalige Auflösungen zu brechen. Aber im preußischen Konflikt stand eine zielbewußte und außenpolitisch erfolgreiche Regierung einer klaren Parlamentsmehrheit gegenüber. Zur Zeit der Weimarer Verfassung dagegen nicht; auch ging es jetzt um Fragen, wie sie für die sozialstaatliche Problematik einer industriellen Massendemokratie kennzeichnend sind. Bei den Auflösungen des Jahres 1924 handelte es sich um Folgen der Deflation; bei denen des Jahres 1932 um Folgen der Arbeitslosigkeit. Es ging, mit anderen Worten, um die drei Fragen: Vollbeschäftigung, Marktwirtschaft und Stabilität der Währung. Das ist das berühmte Keynessche Trilemma, das in jeder modernen, nicht-sozialistischen Demokratie unabweislich wird. In dem Zwang dieses Trilemmas war die Regierung Brüning durch parlamentarische Schwierigkeiten genötigt, zur Rettung der Verfassung auf die Möglichkeiten des Art. 48 zurückzugreifen und diese Möglichkeiten nach der wirtschaftsund sozialstaatlichen Richtung zu entwickeln (unten S. 235—242, 259). 5. Die Frage der wiederholten Parlamentsauflösung erreichte den äußersten Grad ihrer verfassungsgeschichtlichen Intensität im Winter 1932/33. Hier wurde auch der unterschiedliche Sinn des Zusammenhangs von Auflösungsund Ausnahmezustandsbefugnissen evident. Bei der letzten Reichstagsauflösung vom 1. Februar 1933 war die eigentliche Schicksalsfrage der damaligen Situation — ob die Regierung Schleicher oder die Regierung Hitler während der Vorbereitung und Durchführung der Neuwahl über den Einsatz staatlicher Macht und die Prämien auf dem legalen Machtbesitz verfügen würde — durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bereits im Sinne Hitlers entschieden; vgl. Bemerkung 5 unten S. 350 und Bemerkung 5 unten S. 450.
Staatsstreichpläne Bismarcks und Verfassungslehre (1929) Das Buch des jungen Marburger Historikers Egmont Zechlin über Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms I I . (Cotta 1929) ist schnell in den Streit der parteipolitischen Gegensätze hineingezogen worden; begreiflicherweise bei einem so hochpolitischen und aktuellen Thema. Daß manche Historiker von Fach Bedenken gegen das Buch haben werden, ist ebenfalls leicht zu erklären. Denn es ist überhaupt schwierig, für ernsthafte Staatsstreichpläne klare und unwiderlegliche Dokumente zu finden, und nur sehr harmlose Tröpfe werden ihre Staatsstreichpläne so zu Papier bringen, wie man- Gründung, Organisation und Programm eines Turnvereins protokolliert. Darüber, ob Bismarck und W i l h e l m I I . ernsthaft einen Staatsstreich erwogen oder ob sie nur damit gespielt haben und Bismarck nur „den Teufel a n die W a n d malte", w i r d man deshalb noch lange streiten können. F ü r die deutsche Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre aber ist Zechlins Buch, unabhängig von diesen historischen Diskussionen, von größtem Interesse, weil es jedenfalls unwiderleglich zeigt, welche Vorstellungen Bismarck sich 1890 von der damaligen Verfassung, seinem Werk, gemacht hat. Die folgende Zeit und die mehr oder weniger ernsthaften Pläne einer Wahlreform, die unter C a p r i v i auftauchten, treten demgegenüber an verfassungstheoretischer Bedeutung zurück. M a n k a n n nicht mehr daran zweifeln, daß Bismarck, nachdem er aufgehört hatte, i m Reichstag den zuverlässigen Träger deutscher Einheit und deutschen Nationalgefühls zu sehen, auf die „bündische", d . h . vertragsmäßige Grundlage des Deutschen Reichs zurückgegriffen hat. Die deutschen Fürsten schienen i h m jetzt bessere Garanten der nationalen Einheit zu sein als der von verschiedenartigen, teils unter-, teils übernationalen Parteiinteressen beherrschte Reichstag. Ob Bismarck ernsthaft oder nur „ m i t dem Gedanken spielend" den Plan erwogen hat, daß die deutschen Fürsten von dem 1870/71 geschlossenen Bund zurücktreten und das Reich auf neuer Grundlage wieder errichten könnten, ist für die verfassungsrechtliche Betrachtung nicht
30
Staatsstreichpläne Bismarcks u n d Verfassungslehre (1929)
so wesentlich wie die Tatsache, daß er eine solche Konstruktion für diskutabel hielt. Denn hier t r i t t besonders auffällig zutage, daß Bismarcks Reich und Verfassung auf eine doppelte Grundlage gestellt war: die Solidarität der Bundesfürsten und die nationale Homogenität des i n sich einigen deutschen Volkes. Der Vorteil dieser Doppelkonstruktion lag darin, daß ein großer Staatsmann wie Bismarck gegen partikularistische Neigungen und nationale Unzuverlässigkeit der Fürsten das Nationalgefühl des ganzen deutschen Volkes, gegen ein unsicheres und instinktloses Nationalgefühl des deutschen Volkes und der deutschen Parteien die nationalen Dynastien ausspielen konnte. Der Meister des außenpolitischen „Spiels m i t den fünf Kugeln" und der Rückversicherungen wußte auch die innerpolitische Equilibristik zu handhaben. Man kann die ganze Bismarcksche Verfassung als ein System doppelspieliger Rückversicherungen ansehen. So ist z. B. die schwierige Frage der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nach dieser Verfassung zu begreifen; die doppelte Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Kaiser und dem Reichstag ermöglichte i n Wahrheit nach beiden Seiten h i n eine doppelte politische Selbständigkeit, indem vor dem Kaiser die Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag, vor dem Reichstag die Verantwortlichkeit gegenüber dem Kaiser geltend gemacht werden konnte. I n gleicher Weise konnte der Reichskanzler, wenn er gleichzeitig preußischer Ministerpräsident und Bundesratsbevollmächtigter war, sich von der einen auf die andere Position zurückziehen.. Freilich gehörte die ganze Überlegenheit Bismarcks dazu, dieses Doppelspiel zu handhaben, und jeder andere wäre von dem furchtbaren Gewicht der zu handhabenden Massen erdrückt worden. Trotzdem brauchte diese glänzende Doppelkonstruktion an sich nicht mehr zu sein als die Erfindung eines fabelhaften Arrangeurs oder eines bloßen Organisators, wenn die Doppelheit nicht bis in die letzte Tiefe dieser ganzen Epoche deutscher Geschichte hineingereicht hätte und aus deren letzten Prinzipien m i t unentrinnbarer Notwendigkeit heranwuchs. Der letzte „Staatsstreich"-Plan des alten Kanzlers offenbart mit plötzlicher Klarheit die Wurzel aller deutschen Verfassungskämpfe des letzten Jahrhunderts, und es ist das große Verdienst des Buches von Zechlin, das mit wichtigen neuen Dokumenten anschaulich gemacht z u haben. Bismarcks Deutsches Reich ruhte auf zwei Grundlagen, auf dem dynastischen Prinzip eines Bundes fürstlicher Regierungen und dem
Staatsstreichpläne Bismarcks u n d Verfassungslehre (1929)
demokratischen Prinzip des einheitlichen nationalen Willens des ganzen deutschen Volkes. Dadurch entspricht die Reichs Verfassung von 1871 i n ihrer Struktur der konstitutionellen Monarchie deutschen Stiles, die ebenfalls einen Kompromiß zwischen dem dynastischen und dem demokratischen Prinzip enthält. Die Verdoppelung der Grundlage konnte eine Stärkung und Festigung der deutschen Einheit, aber auch das Gegenteil sein. Denn die grundlegenden Prinzipien standen miteinander i n Widerspruch u n d waren sogar die beiden entscheidenden, miteinander kämpfenden innerpolitischen Gegensätze des 19. Jahrhunderts. I n jeder kritischen Situation war deshalb der deutsche Staat vor ein klares Entweder-Oder gestellt. I n Zeiten außenpolitischer Sicherheit und innerstaatlicher Prosperität war man der Entscheidung enthoben u n d konnte hoffen, wenn man sich überhaupt Gedanken darüber machte, daß ähnlich wie i n England i n langsamem Wachstum ein Prinzip in das andere überging. Jeder kritische Augenblick aber verlangte sofort eine Entscheidung. Daß Bismarck i n einem gefährlichen Moment des Jahres 1890 noch daran denken konnte, gegen den Exponenten des demokratischen Prinzips, den deutschen Reichstag, den Bund der Fürsten, also das dynastische Prinzip auszuspielen, zeigt, wie sehr die Struktur dieser deutschen Einheit bis i n ihre Fundamente hinein dualistisch war und zwei widersprechende Prinzipien nebeneinander verwertete. A l l e deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts enthielten eine Suspension der Entscheidung zwischen dynastischem und demokratischem Prinzip. I n der Organisation des Deutschen Reichs aber komplizierte sich dieser an sich schon schwierige Kompromiß dadurch, daß statt einer einzigen legitimen Dynastie ein Bund legitimer Fürsten das dynastische Prinzip vertrat. Es ist fraglich, ob selbst Bismarck mit dem Aufgebot aller K r a f t und Autorität i m Jahre 1890 noch die Möglichkeit gehabt hätte, den Kompromiß zwischen Demokratie und Dynastie zu redressieren und einfach wieder zur Dynastie zurückzukehren. Seine Nachfolger jedenfalls konnten das nicht mehr t u n und mußten sich damit begnügen, i n Zeiten der Ruhe und Sicherheit die Grundprobleme ihrer Verfassung einfach zu ignorieren. Als dann der Höhepunkt der Krisis kam, brach der eine der beiden Gegenspieler, das dynastische Prinzip, ebenso einfach zusammen. Es wäre ein I r r t u m , nunmehr, weil jene Doppelstruktur von dynastischem und demokratischem Prinzip i m November 1918 entfallen ist, die Einheit des Deutschen Reiches jeder Gefahr enthoben zu glauben und anzunehmen, jetzt handele es sich nur darum, die Kon-
32
Staatsstreichpläne Bismarcks u n d Verfassungslehre (1929)
Sequenzen eines demokratischen Unitarisinus zu entfalten und durch die Beseitigung von Resten der alten bundesstaatlichen Struktur die deutsche Einheit zu „organisieren". So bequeme Aufgaben pflegt die politische Geschichte eines großen Volkes nicht zu stellen. I n demselben Augenblick, i n dem der bisherige Gegner des demokratischen Prinzips verschwand, traten innerhalb der Demokratie selbst die Gegensätze der verschiedenartigen sozialen Gruppen und Parteien hervor, die sich i n Zeiten des gemeinsamen Gegners nicht hatten entfalten können. Vielleicht bestand der größte Vorteil von Bismarcks Doppelkonstruktion darin, daß bei der Eigenart der Gegenspieler immer der eine benutzt werden konnte, um den anderen zu zwingen, national zu bleiben. Wenn dieser Zwang aufhört, entsteht die große Gefahr, daß das Nationale als eine Parteisubstanz neben anderen Parteisubstanzen erscheint, neiben sozialen, wirtschaftlichen und konfessionellen Sachgehalten verschiedener A r t . Das würde bedeuten, daß an die Stelle der dualistischen Struktur etwas Schlimmeres getreten ist, der Pluralismus der sozialen und wirtschaftlichen Gruppen. Bis jetzt spricht man i n Deutschland noch nicht vom Pluralismus und dem m i t diesem Wort bezeichneten Problem. Es ist anscheinend das Unglück nicht nur der Könige, sondern aller regierenden Gruppen, daß sie die Erörterung fundamentaler Fragen als unangenehm empfinden und sich lieber an den Gewinn und Applaus der Tagesp o l i t i k halten. Eine echte Verfassungstheorie steht infolgedessen heute nicht weniger vor einer undankbaren Aufgabe als i n der Ä r a Wilhelms I I . Überdies ist an formalistischen Verschleierungen und Ausweichungen kein Mangel. Demgegenüber könnte eine gründliche Erörterung jener Staatsstreichpläne Bismarcks zu einer lehrreichen und ernsthaften Warnung werden, wenn das Buch von Zechlin nicht nur als Übungs- und Diskussionsstoff für staatsrechtliche und historische Seminare benutzt würde (wozu es sich vortrefflich eignet), sondern auch als eine praktische Mahnung von höchster A k t u a l i t ä t , sich auf die heutigen Grundlagen der deutschen Einheit und die Problematik mancher unserer Kompromisse zu besinnen.
Der Aufsatz erschien in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 10. Juli 1929. Das Buch von Egmont Zechlin ist verfassungsrechtlich deshalb außerordentlich aufschlußreich, weil die sogenannten „Reichsstreichpläne' Bismarcks den pathognomischen Moment in seiner Verfassung hervortreten lassen. Für
Staatsstreichpläne Bismarcks u n d Verfassungslehre (1929)
den Zweck der verfassungsrechtlichen Erkenntnis genügt das Material, das Zechlin in seinem Buche bietet, ohne daß es weiterer Kontroversen über das Thema des Buches und die Widerlegbarkeit seiner Thesen bedürfte. Weitere Ausführungen zu der ungelösten Struktur-Problematik von Bismarcks Verfassung finden sich in meiner Schrift „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches" (Hamburg 1934). Gegen diese Schrift hat Fritz Härtung in der Historischen Zeitsdirift Bd. 151, S. 528 bis 544 (1935) lebhaft polemisiert. Doch hat er mein spezifisch verfassungsjuristisches Interesse an dem Struktur-Problem verkannt und nicht genug beaditet, daß Bismarcks Verfassung keine typische Verfassung im Stile des 19. Jahrhunderts ist, sondern eher — wie Rudolf Smend mit einer treffenden Formulierung gesagt hat — ein diplomatisches Aktenstück. Ich habe eine bisher unbeachtete anonyme Abhandlung „Zur preußischen Verfassungsfrage" von Lorenz von Stein Deutsche Vierteljahrsschrift 1852) im Jahre 1941 im Verlag W. Keiper, Berlin, neu herausgegeben und bin in dem Nachwort auf das Thema — die Verfassungsunfähigkeit Preußens und das Problem einer deutschen im Verhältnis zu einer europäischen Verfassung — zurückgekommen. Das Nachwort ist als besonderer Aufsatz in Schmollers Jahrbuch, 64. Jahrgang, 1940, S. 641 bis 646 unter dem Titel „Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts" veröffentlicht.
3
Carl Schmitt
Zehn Jahre Reichsverfassung (1929) Der Weg, den die Reichs Verfassung i n diesen zehn Jahren zurückgelegt hat, ist weit und war i m Sommer 1919 k a u m zu berechnen. Viele ihrer Bestimmungen w i r k e n heute anders als ihre Urheber es sich gedacht haben; manches hat seinen Sinn und seine Funktion geändert. Die großen Wandlungen, die sich für den ersten, die politische Organisation des Reiches enthaltenden H a u p t t e i l ergeben haben, sollen hier außer Betracht bleiben, obwohl sie zum Gesamtb i l d der E n t w i c k l u n g gehören u n d wesentliche Fragen betreffen, wie z. B. das Verhältnis von Reich und Ländern oder die Änderung, die i n der Bestimmung der Richtlinien der P o l i t i k durch die ständige Praxis von Koalitionsregierungen eingetreten ist. Hier interessiert vor allem die Praxis des täglichen Rechtslebens, die sich i n immer größerem Umfang und m i t wachsender Schnelligkeit des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung bemächtigt hat. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Entwicklung, die bisher zu beobachten ist, vielleicht am besten als ein Vordringen des zweiten Ilauptieils der Reichsverfassung kennzeichnen. F ü r diesen, „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" ü beschriebenen T e i l der Verfassung ist das B i l d des Jahres 1929 gegenüber dem Jahre 1919 i n besonders auffälliger Weise verschieden. Bekanntlich wollte Hugo Preuß keine oder nur wenige Grundrechte i n die Reichs Verfassung aufnehmen. Es ist deshalb sehr bemerkenswert, daß sich schon i m Laufe der wenigen Monate des Jahres 1919, i n denen die Weimarer Verfassung entstand, eine ganz andere Vorstellung durchsetzte. Die unter der Überschrift „Grundrechte u n d Grundp fliehten der Deutschen" zusammengefaßten Bestimmungen stiegen auf fast 70 A r t i k e l , ihr Umfang macht fast die Hälfte der Reichsverfassung aus. I n den ersten Auflagen der Verfassungskommentare, die damals erschienen, wurde freilich meistens noch ganz i m Stil der Vorkriegszeit ein großer, wenn nicht der größte T e i l dieser Bestimmungen des zweiten Hauptteils als „bloße Proklamation" oder „bloßes Programm" hingestellt, dem für die Rechtspflege des täglichen Lebens, insbesondere des bürgerlichen Rechts,
Zehn Jahre Reichsverfassung (1929)
35
offenbar nur geringe Bedeutung beigemessen wurde. Das änderte sich aber schnell. Schon i n einem U r t e i l des R G 6. ZivSen. vom 28. A p r i l 1921: R G 102, 165 = J W 1924, 52 findet sich die Wendung, daß die Grundrechte „doch als Heiligtum des deutschen Volkes gedacht sind". Ungefähr seit dem Ende der I n f l a t i o n und m i t der relativen Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse w i r d dann die Aktualisierung u n d „Positivierung" des zweiten Hauptteils der Verfassung besonders lebhaft. Daß die Gerichte Landesgesetze auf ihre Ubereinstimmung m i t dem Reichsrecht, vor allem m i t dem Reichsverfassungsrecht, und daß sie einfache Reichsgesetze auf ihre Übereinstimmung m i t der Reichsverfassung prüfen, insbesondere also das i n entschiedener Weise seit dem U r t e i l des R G 5. ZivSen. vom 4. November 1925: R G 111, 320 = JW 1926, 145 bejahte allgemeine richterliche Prüfungsrecht gegenüber Reichsgesetzen, führt notwendigerweise dazu, die Reichsverfassung auch i n Prozesse und A n gelegenheiten des täglichen Rechtslebens hineinzuziehen. Die Positivierung von Verfassungsbestimmungen wie A r t . 153 (Privateigentum) und 131 (Haftung öffentlicher Körperschaften für Amtsmißbrauch ihrer Beamten) und mancher anderen Bestimmung w i r k t i n derselben Richtung. Es zeigt sich hier eine i n der ReehtsentWicklung oft zu beobachtende, für jede Juridifizierung charakteristische Wechselwirkung: die Positivierung von Normen führt zur Gerichtlichkeit u n d umgekehrt, die gerichtliche Verwendung allgemeiner Grundsätze und Wendungen (z. B. Treu und Glauben, oder Eigentum verpflichtet, oder auch die Begriffe des § 10 I I 17 ALR.) führt zu einer durch Präzedenzfälle (case law) bewirkten Positivierung. Heute w i r d es keine Darstellung des bürgerlichen Rechts mehr geben können, die nicht den zweiten H a u p t t e i l der Reichsverfassung berücksichtigt. Das von H . C. Nipperdey herausgegebene Sammelwerk „ D i e Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung" (Band I Berlin 1929) zeigt schon durch die Namen seiner Mitarbeiter, daß die Behandlung dieses Teils der Reichsverfassung nicht mehr ein Monopol der Staatsrechtslehrer ist und die Verfassung nicht mehr wie früher i n einer ziemlichen Entfernung von den Disziplinen des täglichen Rechtslebens schwebt. Die Entwicklung ist i n gewissem Sinn fast schon beim Gegenteil ihres anfänglichen Ausgangspunktes angelangt. I n dem einleitenden Aufsatz jenes eben erwähnten Sammelwerks hat Richard Thoma den Grundsatz aufgestellt, „daß die Jurisprudenz, wenn nicht Treu und Glauben verletzt werden sollen, von mehreren m i t Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte vereinbarten Aus3*
36
Zehn Jahre Reichserfassung (1929)
legungen einer Grundrechtsnorm allemal derjenigen din Vorzug zu geben hat, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltetDas ist die Auffassung eines Verfassungslehrers von anerkannter Autorität und dürfte auch der mehr oder weniger bewußten, allgemein geltenden Auffassung entsprechen. Es besteht n u n die Gefahr, daß, nachdem früher die deutsche Rechtswissenschaft und -praxis Generationen hindurch die Grundrechte bagatellisiert hat, nunmehr eine kritiklose Überspannung einsetzt und unterschiedslos die verschiedenartigen Sätze des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung als Gewährleistungen und Schranken der Reichs- und Landesgesetzgebung hingestellt werden. Das könnte unerwartete Folgen haben. Denn der zweite H a u p t t e i l ist vieldeutig und weder „durchgängig" gleichartig, noch unterschiedslos „justiziabel". Er enthält ein Nebeneinander von Wünschen, Proklamationen, Programmen, Richtlinien, echten Grundrechten, institutionellen Garantien und verfassungsgesetzlichen Einzelbestimmungen, Liberal-individualistische, katholisch-naturrechtliche und sozialistische Gedankengänge verbinden sich hier zu Kompromissen und die Kompromisse selber sind nicht immer echt, sondern oft nur dilatorische Formelkompromisse. Die Gewährleistungen und Verankerungen dieses Teils der Verfassung dürfen also nicht schematisch gleich behandelt werden. Wenn es sich, wie Popitz (DJZ. 1929 Sp. 20) bemerkt, empfiehlt, die „den Staatstypus tragenden organischen Verfassungsnormen" von anderen verfassungsgesetzlichen Normierungen zu unterscheiden, so w i r d es ebenso unumgänglich werden, innerhalb des zweiten Hauptteils nicht nur nach der formalen Geltungsstärke, sondern auch inhaltlich besser zu gruppieren als das bisher i m allgemeinen üblich war. Wollte man jede Gewährleistung inhaltlich absolut nehmen, so würde man i n einer oft grotesken Weise den rechtlichen und tatsächlichen status quo des August 1919 verewigen. So w i r d z. B. neuerdings i n einigen Gutachten zu A r t . 127 RVerf. jeder Gemeinde eine reichsverfassungsgesetzliche Gewährleistung ihrer Existenz zu geben versucht, was zu dem Ergebnis führen muß, daß jedes am 11. August 1919 bestehende D o r f nur durch ein nach A r t . 76 ergehendes reichsverfassuiigsänderndes Gesetz gegen seinen Willen eingemeindet werden könnte; oder die Garantie der wohlerworbenen Rechte der Beamten (Art. 129) w i r d gelegentlich dahin ausgelegt, daß überhaupt nur noch gehaltserhöhende Besoldungsgesetze und keine Gehaltsherabsetzungen mehr zulässig sind, so daß hier stets der jeweils günstigste status quo der Beamtenansprüche verfassungs-
Zehn Jahre Reichserfassung (1929)
gesetzlich garantiert wäre. Andere Uber Spannungen zeigen sich i n der Auslegung der A r t . 109 (Gleichheit vor dem Gesetz) und A r t . 153 (Gewährleistung des Privateigentums). Sie sind ebenso abwegig wie der umgekehrte Fehler einer Nihilisierung oder Bagatellisierung der Grundrechte und der institutionellen Garantien. Es bleibt eben nichts übrig, als für die verschiedenartigen Bestimmungen dieses Verfassungsteiles das Maß der Gewährleistung zu suchen und das M i n i m u m zu umschreiben, das für den Landes- oder den Reichsgesetzgeber oder sogar für den verfassungsändernden Gesetzgeber nach A r t . 76 unantastbar ist. Das ist eine schwierige, aber unumgängliche und keineswegs unlösbare Aufgabe. Hier können manche Unbestimmtheiten offen bleiben und muß manches der Loyalität des Gesetzgebers überlassen werden, doch ist es jedenfalls heute nicht mehr zulässig, immer wieder nur die Schwierigkeit der Abgrenzung von Einzelfällen hervorzuheben und einen „Katalog von Unantastbarkeiten" zu verlangen, wie ein Gerichtsvollzieher einen Katalog der unpfändbaren Sachen hat. M i t dieser etwas zu einfachen Ausflucht kann man sich einer unvermeidlichen Unterscheidung nicht entziehen. Daß es Grenzfälle und Ubergänge gibt, rechtfertigt doch keineswegs, daß man überhaupt keine Unterscheidungen mehr macht, und das ganze Rechtsleben ist voll von unbestimmten, i n einzelnen Fällen schwer abgrenzbaren Begriffen. Was würde man von einem Verwaltungsrechtslehrer sagen, der behaupten wollte, die Polizei habe grenzenlose Befugnisse und dürfe tun was sie wolle, weil es in vielen Einzelfällen w i r k l i c h zweifelhaft sein kann, was man unter „öffentlicher Ordnung und Sicherheit" zu verstehen hat, u n d weil es keinen erschöpfenden „Katalog" aller denkbaren polizeilichen Möglichkeiten gibt. Ein Blick i n die neueren Auflagen der Kommentare der Reichsverfassung zeigt deutlich genug, daß es heute nicht mehr möglich ist, auf den bequemen Zustand der Vorkriegszeit zurückzugehen. A n dererseits ist eine schematische Verabsolutierung ebenfalls unmöglich, und so bleibt eben nur jener schwierige Mittelweg, das jeweilige Maß der verschiedenen Gewährleistungen zu bestimmen. Die falschen Positivierungen und Überspannungen haben bereits manche Verwirrung und Unsicherheit hervorgerufen. Dadurch entsteht die andere Gefahr, daß sich falsche Aushilfsmittel und Korrekturen anbieten, die einen Fehler durch einen anderen Fehler überbauen. M a n r u f t nach einem Staats- oder Verwaltungsgerichtshof, der justizförmig alle die vielen Meinungsverschiedenheiten aus der Reichs Verfassung entscheiden soll, aber man hat dabei meistens nicht
38
Zehn Jahre Reichs Verfassung (1929)
einmal einen klaren Begriff von Verfassungsstreitigkeit oder Parteifähigkeit, u n d oft sind die Vorstellungen so grenzenlos, daß — am gesichts der unerschöpflichen Quelle von Meinungsverschiedenheiten, die der zweite H a u p t t e i l darstellt, und angesichts der unübersehbaren Menge von Interessenten, die sich auf seine verschiedenartigen Gewährleistungen berufen können — ein solcher Staatsgerichtshof in Wahrheit eine ungeheuerliche Universal-Zentral-Kontroll-Instanz wäre, ein Monstrum von Zuständigkeit, das alle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- und Rechtspflegeangelegenheiten des Deutschen Reichs und seiner Länder zu beurteilen hätte. Der andere falsche Ausweg geht dahin, aus der YeTfassxmgs-Revisionsbefugnis des Art. 76 das normale Instrument zur Korrektur eines normal gewordenen Mißbrauchs zu machen u n d deshalb die Zuständigkeit zu Verfassungsänderungen i. S. eines grenzenlosen Absolutismus zu interpretieren. Es wäre begreiflich, wenn man infolge der immer weiter ausgedehnten Positivierung der Gewährleistungen des zweiten Hauptteils und der ständig sich vermehrenden Bindungen des Reichsgesetzgebers schließlich befürchtete, das staatliche Leben würde lahmgelegt und A r t 76 wäre das letzte Ventil, das man i m Interesse der „Elastizität" offen halten muß, wenn man nicht gezwungen sein w i l l , den status quo i n sinnloser Weise zu stereotypisieren. Trotzdem bleibt es ein Mißverständnis, die Befugnis zu Verfassungsrevisionen i n eine absolutistische Allmacht anzudeuten, welche die Weimarer Verfassung nicht nur „ändern", sondern ganz beseitigen, vernichten und vertilgen darf. Das widerspricht dem klaren Sinn des Wortes „Änderung" (denn „ändern" ist etwas anderes als beseitigen oder vernichten) und reduziert den ganzen Inhalt der Verfassung auf ein bloßes Provisorium, das unter dem Vorbehalt des A r t . 76 steht. Die Weimarer Verfassung wäre dann i n W i r k l i c h k e i t nicht einmal ein „Notbau", sie wäre nur ein Änderungsverfahren. Auch wenn etwas ausdrücklich „ d u r c h die Verfassung" gewährleistet oder unter den „Schutz der Verfassung" gestellt ist, wie in den drei interessanten Fällen A r t . 119 (Ehe), 135 (ungestörte Religionsübung) und 153 (Privateigentum), wäre das nur eine Redensart und gälte nur vorbehaltlich einer Beseitigung durch die Zweidrittelmehrheiten des A r t . 76. M i t einem W o r t : die vorliegenden 181 Verfassungsartikel würden dann nichts anderes bedeuten, als die vorläufige Ausfüllung einer i n A r t . 76 enthaltenen Blankooerfassung. F ü r eine solche A n sicht hätte die Weimarer Verfassung allerdings keinen Boden mehr. Der E i d auf eine solche Verfassung wäre eine rechtlich, politisch und
Zehn Jahre R e i s V e r f a s s u n g (1929)
moralisch sehr problematische Angelegenheit, ein Blankoeid auf A r t . 76, und alle constitutional morality, alle Verfassungsethik, alles moralische Pathos, wie es etwa i n dem zur Zehn Jahresfeier geplanten Verfassungstaler (mit der zum Schwur erhobenen H a n d und der Inschrift „Treue der Verfassung") zu erkennen ist, beträfe i n Wahrheit eben nur die Zweidrittelmehrheiten des A r t . 76. I n diesen Tagen hat Carl Bilfinger i n seiner Hallenser Verfassungsrede (Hallische U n i versitätsreden Nr. 43, Halle 1929) die eigentliche Frage eindringlich gestellt und m i t Recht gesagt: „Es geht j a doch u m mehr als um eine de lege ferenda Anregung von beachtlicher politischer Bedeutung. Vielmehr muß einmal offen ausgesprochen werden, daß es sich i m Ergebnis um die Frage handelt, ob man w i r k l i c h sich in Weimar für ein System scheinbar legalisierter Methoden des Staatsstreichs entschieden hat oder — für eine Verfassung". Es k a n n hier nicht auf die Kontroverse über die Auslegung dieses A r t . 76 eingegangen werden, eine Kontroverse, deren Schwierigkeit sich i n den oben erwähnten Ausführungen von Richard Thoma über „die juristische Bedeutung der Grundrechte der deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen" zeigt. Aber wenigstens auf den gefährlichen Kreislauf fortzeugender Überspannungen sei hingewiesen, der sich daraus ergibt, daß aus einer Übersteigerung der Gewährleistungen des zweiten Hauptteils eine Übersteigerung und, wenn ich so sagen darf, Normalisierung der Revisionsbefugnis des A r t . 76 folgen muß. Das Schicksal des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung liegt heute im weiten Maße in den Händen der deutschen Gerichte und der deutschen Rechtswissenschaft. Denn die Justiz ist der eigentliche Träger jenes Vordringens des zweiten Hauptteils. D a der erste, organisatorische Teil der Verfassung von dem zweiten T e i l stark beeinflußt und überschattet w i r d — jede Gewährleistung u n d Verankerung bedeutet nämlich eine Hemmung der Gesetzgebung und eine Einschränkung des demokratischen Prinzips der Mehrheitsentscheidung —, so kann man sagen, daß auch die Reichsverfassung i m ganzen weithin von der deutschen Rechtspraxis abhängt. Eine solche Macht der Rechtspflege über eine Verfassung ist etwas Ungewöhnliches und von weittragender Bedeutung. Es ist daher wohl begründet, den zehnten Jahrestag der Verfassung zu benutzen, um sich der außerordentlichen Lage und der daraus folgenden großen Verantwortung bewußt zu werden. Es darf vor allem nicht dahin kommen, daß sich die Verfassung zu einem „ n u r erschwert abänderbaren Gesetz" subalternisiert und ihre Gewährleistungen wie irgendeine
40
Zehn Jahre ReichsVerfassung (1929)
privatrechtliche Regelung von den Interessenten m i t einem Aufgebot von spitzfindigen Argumentationen und Wortpressungen ins Grenzenlose erweitert werden. Ebensowenig wie es rechtlich zulässig ist, daß die Regierung oder die staatlichen Behörden Verfassiungsbestimmungen als M i t t e l für Umgehungen, Aushöhlungen und andere illoyale Praktiken benutzen, darf man die Verfassung als das Instrument privater Egoismen behandeln. D i e Reichsverfassung als Ganzes und als Einheit ist nicht nur graduell, sondern qualitativ etwas anderes als irgendeine der vielen gesetzlichen Regelungen von Rechtsbeziehungen und Interessen. Sie betrifft immer das Ganze des deutschen Volkes, sie kann deshalb nicht ohne Substanz u n d ohne Boden gedacht werden, und nur wenn man sich dieser grundlegenden Besonderheit einer Verfassung bewußt bleibt, hat man ein Recht, von ihren Grundrechten als einem „ H e i l i g t u m des deutschen Volkes" zu sprechen.
Der Aufsatz ist zum 10. Jahrestag der Weimarer Verfassung, 11. 8. 1929, in der Juristischen Wochenschrift 1929, Heft 32/33, erschienen. Der Aufsatz enthält im Anschluß an eine Äußerung von Johannes Popitz (DJZ 1929, Sp. 20) den ersten Hinweis darauf, daß es sich empfiehlt, eine Verfassung auf die organischen, den Staatstypus tragenden Bestimmungen zu beschränken. Damit ist ein grundsätzliches Problem aufgeworfen, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von organisatorischem und materiellem Verfassungsrecht. Die Frage ist bis auf den heutigen Tag (1957) zu wenig beachtet worden; vgl. unten S. 227, 298. In dem Kommentar zum Bonner Grundgesetz von v. Mangoldt-Klein (2. Auflage) ist die grundsätzliche Bedeutung einer Beschränkimg auf klassische Grundrechte gut erkannt (Vorbemerkung B XV S. 120 ff. und Anmerkungen des Kommentars zu Art. 2, S. 177, Art. 4 und Art. 5 GG).
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930) I Wenn die innerpolitische Neutralität des Staates heute als ein besonders dringliches Problem empfunden w i r d , so denkt man gewöhnlich an auffällige Mißstände der heutigen Parteipolitik, vor allem auf dem Gebiet der 'Stellenbesetzung und des Beamtenwesens; daneben sind praktische Einzelfragen von Interesse, wie die politische Neutralität der Schule, des Rundfunks usw. Soweit es sich dagegen um das umfassende und grundlegende Problem des ganzen Staates (zum Unterschied von einzelnen Teilen oder Gebieten der staatlichen Organisation und Funktionen) handelt, kommt in erster Linie die Neutralität des Staates gegenüber der Wirtschaft in Betracht. Hier erhebt sich die Frage, ob das heutige innerpolitische System gegenüber diesem wichtigen Gebiet des sozialen Lebens einer sachlichen und objektiven Stellungnahme fähig ist. Allgemein gesprochen besteht das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates auch für andere Gebiete, und i n den verschiedenen geschichtlichen Situationen treten verschiedene Neutralitätsprobleme i n den Vordergrund: Neutralität gegenüber Religion, Konfession und Weltanschauung, gegenüber Wissenschaft, Kunst und K u l t u r usw. Aber zweifellos bildet das Verhältnis des Staates zur Wirtschaft jetzt den eigentlichen Gegenstand der unmittelbaren und aktuellen innerpolitischen Fragen. Das Problem kann heute nicht mehr m i t dem alten liberalen Prinzip unbedingter Nicht-Einmischung, absoluter Nicht-Intervention. gelöst werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, w i r d das allgemein anerkannt. I n jedem modernen Staat, und zwar um so mehr, je mehr er moderner Industriestaat ist, machen die wirtschaftlichen Fragen den H a u p t i n h a l t der innerpolitischen Schwierigkeiten aus. I m heutigen Staat ist die Innen- und Außenpolitik zum großen Teil Wirtschaftspolitik, und zwar nicht nur als Zoll- und Handelspolitik oder als Sozialpolitik; der heutige Staat hat auch ein ausgedehntes Arbeitsrecht, Tarifwesen und staatliche Schlichtung von Lohn-
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Streitigkeiten, durch welche er die Löhne maßgebend beeinflußt; er gewährt riesige Subventionen an die verschiedenen Wirtschaftszweige; er ist ein Wohlfährts- und ein Fürsorgestaat u n d infolgedessen gleichzeitig i n ungeheurem Maße ein Steuer- u n d Abgabenstaat. I n Deutschland kommt hinzu, daß er auch noch ein Reparationsstaat ist, der Milliarden-Tribute für fremde Staaten aufbringen muß. I n einer solchen Lage w i r d die Forderung der Nicht-Intervention zu einer Utopie, ja, zu einem Selbstwiderspruch. Denn NichtIntervention würde bedeuten, daß man i n den sozialen u n d w i r t schaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die heute keineswegs mit rein wirtschaftlichen M i t t e l n ausgekämpft werden, den verschiedenen Machtgruppen freie Bahn läßt. Nicht-Intervention ist in einer solchen Lage nichts anderes als Intervention zugunsten des jeweils Überlegenen und Rücksichtslosen, und es zeigt sich wieder einmal die einfache Wahrheit des scheinbar so paradoxen Satzes, den Talleyrand für die Außenpolitik ausgesprochen hat: Nicht-Intervention ist ein schwieriger Begriff, er bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention. Der heutige Staat ist ein Wirtschaftsstaat. Aber, wie i n den meisten modernen Staaten, ist auch in Deutschland die staatliche Verfassung keine Wirtschaftsverfassung, sondern eine, ungenau so genannte politische Verfassung, welche die wirtschaftlichen Größen u n d Mächte als solche ignoriert und insofern gegenüber der Wirtschaft neutral ist. Natürlich hat die Wirtschaft i n sich irgendwie eine Verfassung und, wie alles menschliche Zusammenleben, irgendeine Ordnung, so daß man, i n einem ganz anderen Sinne, ungenau und irreführend von einer Wirtschaf tsverfassung sprechen kann. Aber diese „Verfassung" ist eben nicht die Staatsverfassung. F ü r die Organisation und den politischen A u f b a u des Staates werden nicht wirtschaftliche Gebilde und Größen als solche verwendet (z. B. Betrieb, Gewerkschaft, W i r t schaftsverband, Wirtschaftskammern oder andere Interessenvertretungen), und der einzelne Staatsbürger hat seine politische Stellung und staatsbürgerlichen Rechte nicht i n seiner Eigenschaft als W i r t schaftssubjekt, etwa als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Produzent oder Steuerzahler, oder irgendwie auf G r u n d einer ökonomischen Qualität oder Leistung; er ist für eine solche Staatsverfassung immer nur citoyen, u n d nicht producteur. Es gehört zu den grundlegenden, positiven Entscheidungen der geltenden Reichsverfassung, daß sie das System einer Wirtschaf tsverfassung, insbesondere das „politische" Rätesystem abgelehnt hat. A u c h die „Verankerung des Rätesystems* in A r t i k e l 165 RV. sollte, wie man nachdrücklich betont hat, nur eine
Das Problem der i n n e r p o l i t i s e n Neutralität des Staates (1930)
4
wirtschaftliche und keine staatlich-organisatorische Bedeutung haben. Würde man jenen A r t i k e l anders auffassen, so wäre die geltende Reichsverfassung ein Gebilde von phantastischer Monstrosität, weil sie verschiedene, einander widersprechende Verfassungen i n sich enthielte u n d i n ihrem letzten A r t i k e l sozusagen anhangsweise eine zweite, den ganzen früheren organisatorischen A u f b a u wieder in Frage stellende Neben-Verfassung fundierte. Es ist deshalb nicht zulässig, diesen A r t i k e l 165 zu benutzen, u m aus der geltenden Verfassung eine Wirtschaf tsverfassung zu machen. Auch der Reichswirtschaftsrat ist kein entscheidendes staatliches Organ, selbst wenn er. i n Ausführung des Räteprogramms des Artikels 165, endgültig gemacht würde. Der erste, organisatorische H a u p t t e i l der Reichsverfassung muß der politisch entscheidende T e i l bleiben. Er enthält eine mit vollem Bewußtsein getroffene Entscheidung gegen den politischen A u f b a u des Reiches auf einer Wirtschaftsverfassung. So ergibt sich eine offensichtliche Diskrepanz: ein Wirtschaftsstaat, aber keine Wirtschaf tsverfassung. Es liegt nahe, nach irgendeiner der beiden gegebenen Richtungen eine Harmonie herbeiführen zu wollen, indem man entweder den Staat von allen Elementen reinigt die i h m den Charakter eines Wirtschaftsstaates geben, also den Staat entökonomisiert; oder «umgekehrt, indem man die geltende NichtWirtschaf tsverfassung durch eine Wirtschaf tsverfassung ersetzt, also den Staat entschlossen ganz verwirtschaftlicht. Die erste Forderung würde dazu führen, die heutigen politischen Parteien, die zum großen Teil fest organisierte Interessenvertretungen und mehr oder weniger feudalständische Organisationen sind, wieder i n unabhängige, nach politischen Meinungen orientierte, auf freier Werbung beruhende Gebilde zu verwandeln u n d auch den einzelnen Abgeordneten wieder unabhängig zu machen, wie es der geltenden Verfassung (Artikel 21) entspricht. Man könnte das namentlich i n der Weise versuchen, daß man strenge „Unvereinbarkeiten" einführt, u n d zwar nicht nur die traditionellen Unvereinbarkeiten, wie die „ I n k o m p a t i b i l i t ä t " von parlamentarischem Mandat und Beamtenstellung, sondern sog. w i r t schaftliche Inkompatibilitäten, d. h. Unvereinbarkeiten von parlamentarischem Mandat und bestimmten wirtschaftlichen Berufen oder Stellungen, z. B. der eines Syndikus, Verbands- oder Parteisekretärs. A u f sich tsratspos ten, Bankier, Staatslieferanten usw. Derartige Inkompatibilitäten wären vielleicht i m einzelnen sehr wertvoll u n d notwendig und würden einer Forderung moralischer Sauberkeit des staatlichen Lebens entsprechen. Aber das System i m ganzen, das i n
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
der engen Verbindung von Staat und Wirtschaft besteht, könnten sie nicht beseitigen. Die Massen der heutigen Wähler werden sich wahrscheinlich immer nach wirtschaftlichen Interessen gruppieren, und das läßt sich durch kein Gesetz wegdekretieren; die Einführung von Inkompatibilitäten für bestimmte wirtschaftliche Berufe und Stellungen würde bei unseren verwickelten wirtschaftlichen Verhältnissen eine Ungleichheit und Ungerechtigkeit gegenüber anderen, ebenfalls wirtschaftlich determinierten Stellungen und Berufen bedeuten; den mittelbaren Einwirkungen sozialer u n d wirtschaftlicher Mächte aber stehen so viele, gesetzgeberisch nicht faßbare Möglichkeiten offen, daß auf diese Weise nur ein neues System von Verschleierungen entstände, nicht aber die Gesamtstruktur des staatlichen Lebens geändert würde. Die andere, umgekehrte Forderung, dem Staat, der nun einmal ein Wirtschaftsstaat ist, jetzt auch eine echte Wirtschaf tsverfassung zu geben, sei es die eines Stände-, Gewerkschafts- oder Räte-Staates, hat auf den ersten Blick den Vorteil der Ehrlichkeit und der Anpassung an die Realität der Lage. Doch ist das nur abstrakt ein Vorteil und in Wahrheit irreführend und gefährlich. Es soll hier nicht von den praktischen Schwierigkeiten der Durchführung gesprochen werden — Bewertung und Unterscheidung der einzelnen Berufszweige und Gruppen, Stimmenberechnung und Verteilung der politischen Macht auf der Grundlage der wirtschaftlichen Bedeutung —, sondern nur von dem grundsätzlichen Bedenken gegen derartige scheinbar so plausible Forderungen. Ihre E r f ü l l u n g würde die Einheit des staatlichen Willens nicht stärken, sondern nur gefährden; die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze würden nicht gelöst und aufgehoben, sondern träten offener und rücksichtsloser hervor, weil die kämpfenden Gruppen nicht mehr gezwungen wären, den Umweg über allgemeine Volkswahlen und eine Volksvertretung zu machen. Es ist sehr bemerkenswert, daß heute nur zwei große Staaten solche W i r t schaftsverfassungen haben: das kommunistische Rußland mit seinem Sowjet-System u n d das faschistische Italien m i t seinem stato corporativo. Das sind zwei zum großen Teil noch agrarische Länder, die keineswegs an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung u n d des industriellen Fortschritts stehen, und von denen jeder weiß, daß ihre Wirtschaf tsverfassung i m Schatten einer straff zentralisierten Parteiorganisation und des sogenannten Ein-Parteien-Staates steht. Das System der Wirtschaftsverfassung hat hier keineswegs den Sinn, die
Das Problem der inner politischen Neutralität des Staates (1930)
46
Wirtschaft frei und autonom zu machen, sondern, i m Gegenteil, sie dem Staat i n die H a n d zu geben und i h m zu unterwerfen. II D i e allgemeine, die verfassungsmäßige Struktur des staatlichen Ganzen betreffende Frage t r i t t i n Deutschland augenblicklich hinter den täglichen Schwierigkeiten des Parteien- und Fraktionenstaates zurück. Jeder demokratische Staat und vielleicht überhaupt jeder Staat ist irgendwie ein „Parteienstaat", aber diese allgemeine schlagwortartige Charakterisierung bedarf, u m brauchbar zu werden, einer näheren Angabe über die konkrete A r t , Organisation und Zahl der Parteien. Die gegenwärtigen Zustände i n Deutschland sind dadurch gekennzeichnet, daß die staatliche Willensbildung auf labile, von F a l l zu F a l l wechselnde Parlamentsmehrheiten zahlreicher, i n jeder Hinsicht heterogener Parteien angewiesen ist. Der Staat ist, m i t einem Wort, ein labiler Koalitions-Parteien-Staat. Die Mängel und Mißstände eines solchen Zustandes sind oft genug dargestellt und kritisiert worden: unberechenbare Mehrheiten, regierungsunfähige und infolge ihrer Kompromißbindungen unverantwortliche Regierungen, ununterbrochene, auf Kosten eines D r i t t e n oder des staatlichen Ganzen zustandekommende Partei- und Fraktions-Kompromisse, bei denen jede beteiligte Partei sich für ihre M i t w i r k u n g bezahlen läßt, Verteilung der staatlichen, der kommunalen und anderer öffentlicher Stellen und Parteieinkünfte unter die Parteigänger nach irgendeinem Schlüssel der Fraktionsstärke oder der taktischen Situation. Es ist natürlich u n d selbstverständlich, daß gegenüber solchen Methoden der staatlichen Willensbildung eine neutrale, d . h . von den Mächten dieser A r t Parteienstaat unabhängige Politik gefordert w i r d . Wichtiger aber als allgemeine Forderungen und Proteste ist die Tatsache, daß sich schon Gegenwirkungen eingestellt haben, die in ihrer Gesamtwirkung ein ganzes Gegen-System bilden können. Sie sind i n ihrem Zusammenhang bisher nicht k l a r genug zum Bewußtsein gekommen, w e i l sie unter sich sehr verschieden und nur durch den gemeinsamen Gegensatz gegen den labilen Koalitions-ParteienStaat verbunden sind, weil einige von ihnen unter mythischen Stichworten verkleidet werden und a p o k r y p h bleiben, während andere offen hervortreten, und vor allem, w e i l sie der Natur der Sache nach weniger anfällig sind, während die Methoden des labilen Koalitions-
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Parteien-Staates den Vordergrund des politischen Lebens aufdringl i c h und augenscheinlich beherrschen. Trotzdem gehören solche neutralen Gegenkräfte zum heutigen Staat und wäre dieser Staat ohne sie überhaupt undenkbar, weil es i n Wahrheit keinen Staat geben kann, der nur Parteienstaat wäre. Außer den rein parteimäßigen Kräften muß es immer auch andere unparteiische u n d überparteiische Kräfte geben, wenn die staatliche Einheit sich nicht i n ein pluralistisches Nebeneinander kollektiver Gebilde auflösen soll. Es ist der Sinn aller verfassungsmäßigen Institutionen und Methoden eines demokratischen Staates, einen fortwährenden Prozeß des Übergangs u n d Aufstieges von egoistischem und kurzsichtigem Parteiwillen zu einem überparteilichen Staats w i l l e n zu organisieren. A u c h die Parteien selbst sind als M i t t e l der staatlichen Willensbildung gedacht, und ihre Zulassung u n d Anerkennung hat natürlich nicht den Sinn, daß sie ihre Beteiligung an der staatlichen Willensbildung als Erpressungsmittel benutzen sollen. Das Parlament soll der eigentliche Schauplatz dieses Umschaltungsprozesses sein. Es ist ein alter, allerdings mehr liberaler als demokratischer Glaube, daß gerade die parlamentarischen Methoden am besten geeignet sind, i n solcher Weise die Parteien i n Transformatoren zu verwandeln, u n d daß gerade das Parlament der Schauplatz ist, auf welchem der Parteiegoismus k r a f t einer List der Idee oder List der Institution i n ein Mittel zur Bildung eines überegoistischen, echten politischen Willens übergeführt wird. Insbesondere soll eine Partei, wenn sie zur Regierung gelangt, eben dadurch gezwungen werden, weitere und höhere Gesichtspunkte gelten zu lassen als die Motive ihrer engen Parteihaftigkeit. Wenn nun aber infolge der A r t , Zusammensetzung u n d Zahl der Parteien und vor allem infolge einer sinnlosen Parteizersplitterung der Aufstieg vom egoistischen Partei- zum verantwortlichen Staatswillen immer wieder verhindert w i r d und, den Voraussetzungen der verfassungsmäßigen Regelung zuwider, nur Regierungen Zustandekommen, die infolge ihrer fraktionellen KompromißBindungen zu schwach und kurzsichtig sind, um zu regieren, andererseits aber natürlich immer noch so v i e l Macht und Besitztrieb haben, um zu verhindern, daß andere regieren, wenn also jene „ L i s t " der Idee oder der Institution einfach nicht mehr funktioniert und statt eines staatlichen Willens nur eine nach allen Seiten schielende Addierung von Augenblicks- u n d Sonderinteressen zustande kommt — und das ist doch das eigentliche Unglück des deutschen KoalitionsParteien-Staates —, so w i r d es, solange überhaupt noch eine poli-
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
tische Einheit vorhanden ist, ganz unvermeidlich, daß die politischen Entscheidungen u n d Entschlüsse anderswo als bei den verfassungsmäßigen Stellen zustande kommen. D i e politische Substanz wandert nach irgendwelchen Punkten des sozialen Systems ab, und andere, seien es legale, seien es apokryphe Mächte, übernehmen f r e i w i l l i g oder notgedrungen, bewußt oder halbbewußt, die Rolle des Staates und regieren sozusagen unter der Hand. Die List der Idee ist nämlich keineswegs auf die Koalitionsparteien u n d die Fraktionszimmer angewiesen. Zu einem B i l d von der W i r k l i c h k e i t unserer heutigen staatlichen Zustände gehören daher notwendig auch solche verschiedenartigen Gegenkräfte und Abhilfen. Sie lassen sich durch einen gemeinsamen bestimmenden Gegensatz zusammenfassen, den Gegensatz gegen die Zustände des gegenwärtigen labilen Koalitions-ParteienStaates, u n d können insofern i n ihrer Gesamtheit als inner politisch neutraler Staat gekennzeichnet werden. Dabei versteht sich Ton selbst, daß das an sich vieldeutige und wie jeder politische Begriff von dem konkreten Gegensatz bestimmte W o r t „neutral" i n diesem Zusammenhang nichts anderes bedeutet als den Gegensatz gegen die Kräfte und Methoden des labilen Koalitions-Parteien-Staates, deren Macht groß und aufdringlich genug ist, u m eine Mehrzahl untereinander verschiedener Gegenkräfte durch den gemeinsamen Gegensatz zusammenzuhalten. Es entspricht der geschichtlichen Tradition des deutschen Staates, hier i n erster Linie an die Einrichtungen eines echten Beamtenstaates zu denken und i n i h m das eigentliche Gegengewicht gegen die auflösenden Wirkungen des labilen Koalitions-Parteien-Staates zu suchen. Die geltende Reichsverfassung kommt dem entgegen u n d schützt das deutsche Beamtentum durch verfassungsmäßige, institutionelle Garantien vor den Methoden parlamentarischer Beutep o l i t i k ( A r t i k e l 128—130 RV.). Sie verbietet es sogar ausdrücklich, daß die Beamten „Diener einer Partei" sind und gibt gewisse Sicherheiten für ihre unabhängige Stellung (Grundsatz der Anstellung auf Lebenszeit, Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte, ordentlicher Rechtsweg für vermögensrechtliche Ansprüche usw.). Man weiß längst, daß trotz jenes VerfassungsVerbotes die Beamtenstellen wenigstens i n vielen Ländern offen als Beute- und Kompromißöbjekte der Koalitionsfraktionen behandelt werden. Uber die Widerstandskraft des deutschen Beamtenstaates gegenüber dem KoalitionsParteien-Staat denken die meisten heute sehr skeptisch und resigniert. Doch ist zu beachten, daß i m Reich, wo ein von den Koalitions-
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Parteien unabhängiger Reichspräsident die Beamten, und zwar auch die sogenannten politischen Beamten, ernennt, die Verteilung der Beamtenstellen unter die Koalitionsparteigänger noch nicht so selbstverständich geworden ist wie i n Ländern, i n denen sich die Koalitions-Parteien-Minister ohne einen solchen Umweg ohne weiteres als Parteiagenten betätigen. Außerdem k a n n man m i t einigem O p t i mismus vielleicht hoffen, daß durch die lebenslängliche Anstellung der Beamten und andere verfassungsmäßige Garantien die zu Beamten ernannten Parteigänger von der Partei gelöst werden, w e i l es ihnen durch die Unabhängigkeit gegenüber der Partei doch ermöglicht und erleichtert ist, von der staatlichen Gesinnung des deutschen Beamtentums erfaßt und, durch die Institution des Berufsbeamtentums, aus Parteidienern in Staatsbeamte verwandelt zu werden. Die Elemente des Beamtenstaates, die man heute noch i n Deutschland voraussetzen darf, können auf diese Weise einen beachtenswerten Faktor i m System des innerpolitisch neutralen Staates bilden und den Sinn für unparteiische Sachlichkeit retten. Aber so wertvoll und unersetzlich sie zweifellos sind, dem eigentlichen Mißstand des labilen Koalitions-Parteien-Staates, nämlich dem Mangel einer regierungsfähigen und stabilen Regierung, vermögen sie nicht abzuhelfen. Das Berufsbeamtentum ist der Natur der Sache nach auf Justiz und Verwaltung beschränkt. Es erhält infolgedessen von der Gesetzgebung oder von der Regierung seine entscheidenden Normierungen oder Direktiven. Es ist unfähig, von sich aus die politische Entscheidung zu treffen und an der H a n d der Normen und Maßstäbe seiner Fachlichkeit die Richtlinien der P o l i t i k zu bestimmen. Es kann hemmen und zurückhalten und i n diesem Rahmen seine neutralisierende W i r k u n g betätigen, aber nicht entscheiden und i m eigentlichen Sinne regieren. Noch viel weniger wäre es möglich, den neutralen Staat auf die Justiz zu gründen und die politischen Entscheidungen unter irgendwelchen justiz'förmigen Verschleierungen den m i t Berufsrichtern besetzten Gerichten oder Staatsgerichtshöfen zu übertragen. Eine Zeitlang wurden solche Forderungen ohne jedes staats- u n d verfassungstheoretische Bewußtsein m i t großer Naivität erhoben und sogar unter das Zeichen des „Rechtsstaates" gestellt. Nicht nur den eigentlichen Justiz-Juristen, deren gedankliche Gewöhnung durch die Bahnen der Zivil- u n d Strafprozeßordnung bestimmt ist, sondern auch gewissen Neigungen des deutschen Charakters, insbesondere dem „rührenden Legalitätsbedürfnis" der Deutschen, konnten solche Vorschläge
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
plausibel erscheinen. Heute urteilt man w o h l mit mehr Bewußtsein über solche Pläne einer apokryphen Politik und erkennt besser die engen Grenzen der Justizförmigkeit, die man gerade i m Interesse einer unabhängigen Justiz u n d eines wahren Rechtsstaates vor der Politisierung zu schützen sucht. Das unabhängige deutsche Berufsrichtertum gehört als innerpolitisch neutrale Größe zu dem Komplex, der vorhin als Beamtenstaat gekennzeichnet wurde. M a n würde sowohl dieses Berufsrichter t u m selbst wie auch den Zweck einer unparteiischen O b j e k t i v i t ä t gefährden, wenn man es benutzen wollte, u m einen krypApolitischen Justizstaat als neutralen Staat einzuführen. Ernster und außerhalb der Kreise der Justiz-Juristen weiter verbreitet ist das Bestreben, eine A r t von neutralem Sachverständigenund Gutachter-Staat zu schaffen, i n welchem die politischen Entscheidungen den Sachkundigen der einzelnen Gebiete, insbesondere den ökonomischen Sachverständigen, überlassen werden. Hierfür finden sich zahlreiche Ansätze i n den meisten modernen Staaten. F ü r das geltende deutsche Recht sei als Beispiel an die zwölf von der Reichsregierung nach freiem Ermessen zu ernennenden Mitglieder des Reichswirtschaftsrates erinnert, „die durch besondere Leistungen die Wirtschaft des deutschen Volkes i n hervorragendem Maße gefördert haben oder zu fördern geeignet sind". I n gewissem Sinne kann auch die ganze Institution eines aus Wirtschaftskennern und Interessenten zusammengesetzten, bei der Gesetzgebung gutachtlich mitwirkenden Reichsmirtschaftsrates (auch der französische Conseil National Economique, der englische Economical Advisory Council und ähnliche Bildungen) als Ansatz zu einem Expertenstaat bezeichnet werden, wenn man hier nicht sogar schon das Ubergangsglied zu einer eigentlichen Wirtschaftsverfassung finden w i l l . Ferner sind hier die parteipolitisch unabhängigen wirtschaftlichen EnqueteAusschüsse zu nennen, die, zum Unterschied von den parteipolitisch bestimmten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, eine vom Parlament unabhängige, objektive Feststellung ermöglichen sollen, wie das bei dem deutschen „Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft" (Reichsgesetz vom 15. A p r i l 1925, RGBl. I S. 195) der F a l l ist, dessen Mitglieder von der Reichsregierung berufen werden und eine weitgehende durch Verantwortungsfreiheit gesicherte Unabhängigkeit haben. Sodann gehören die Kammern, ferner die Beiräte bei den verschiedenen Verwaltungszweigen in diesen Zusammenhang. A u f dem 4
Carl Schmitt
Das Problem der i n n e r p o l i t i s e n Neutralität des Staates (1930)
Gebiet der Gerichtsbarkeit sind die Sachverständigenmitglieder des Reichs wirtschaftsgerichts zu erwähnen, die neben den rechtskundigen Mitgliedern stehen und vom Präsidenten aus einer Vorschlagsliste berufen werden, die vom Reichs w i r tschaftsr at „unter Berücksichtigung der verschiedenen Berufsgruppen und Interessenvertretungen und der einzelnen Länder" gebildet w i r d , wobei vorbehaltlich anderweitiger Regelung der Senat des Reichs wirtschaftsgerichts i n der Besetzung von einem Vorsitzenden und vier sachverständigen Beisitzern entscheidet (Verordnung über das Reichs wirtschaf tsgericht vom 21. M a i 1920). Besonders interessant ist die Besetzung des beim Reichs wirtschaf tsgericht gebildeten Kartellgerichts, über welche die sogenannte Kartell-VO. (§11 der VO. gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen vom 2. November 1923) bestimmt, daß zwei Beisitzer unter Berücksichtigung der widerstreitenden wirtschaftlichen Belange, als weiterer Beisitzer aber eine sachkundige Person einzuberufen ist, „von der erwartet werden darf, daß sie die Belange des Gemeinwohls, unabhängig von den widerstreitenden wirtschaftlichen Belangen, vertreten w i r d " . Diese letzte Bestimmung ist deshalb außerordentlich instruktiv, weil sie den sachkundigen Interessenten von dem von Interessen unabhängigen, also gewissermaßen absolut neutralen Sachkundigen unterscheidet und die sehr notwendige, allerdings gleichzeitig die Schwierigkeit des Problems enthüllende Gegenüberstellung von Interessenten-Sachverständigen (mit denen man während der Zwangswirtschaft der Kriegs- und Ubergangszeit genügend Erfahrungen machen konnte) und nichtinteressierten Sachverständigen macht. Bei der Entscheidung wirtschaftlicher Gegensätze und Konflikte stehen sich die Interessenten-Sachverständigen natürlicherweise als Parteien gegenüber, und der Staat, der den Konflikt entscheiden soll, wahrt hier nur eine (mit der Neutralität oft verwechselte) Parität, wenn er jedem streitenden Interesse eine gleich große Zahl von Vertretern oder Beisitzern gibt, während ein Vertreter des Staates oder ein absolut neutraler Sachverständiger als der eigentliche Neutrale und Objektive entscheidet. I m staatlichen Schlichtungswesen wiederholt sich der gleiche Vorgang. Schlichtungsausschuß und Schlichtungskammer sind i n der Weise zusammengesetzt, daß ein unparteiischer Vorsitzender den i n je gleicher Zahl vertretenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzern gegenübersteht (§ 5 der V O . über das Schlichtungswesen vom 30. O k tober 1923). Die Unterscheidung von interessierten und nichtinteressierten Sachverständigen führt notwendig zu einem Dilemma, das
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
51
gerade bei schwierigen Gegensätzen und Konflikten den Wert des neutralen Sachverständigenstaates problematisch macht: entweder ist der Sachverständige gleichzeitig Interessent, dann ist er nicht neutral, und die paritätische Heranziehung führt nicht zur Entscheidung, weil Parität, i m Gegenteil, gerade Nicht-Entscheidung bedeutet; oder der Sachverständige ist kein Interessent, und dann fehlt i h m oft die letzte und eigentliche Sachkunde. Es kann ein nützlicher Ausweg sein, die Entscheidung auf unabhängige Sachverständige abzuschieben. Aber politische Entscheidungen lassen sich auf diese Weise nicht gewinnen, und bei ernsthaften Konflikten reicht die Autorität des Gutachters meistens nicht aus, um der Entscheidung die politische Realisierbarkeit zu verleihen. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Übertragung politischer Entscheidungen an die berufsbeamtete Justiz: auf die Dauer führt das nicht etwa zu einer neutralen Versachlichung, sondern umgekehrt zur Parteipolitisierung der bisher neutralen Größen. Die wirklichen Inhaber der politischen Macht können sich leicht den nötigen Einfluß auf die Besetzung der Richterstellen und die Ernennung der Sachverständigen-Gutachter verschaffen; gelingt ihnen das, so w i r d die justizförmige oder sachverständige Erledigung der Frage ein bequemes M i t t e l ihrer Politik, und das ist das Gegenteil dessen, was man mit der Neutralisierung bezweckt: gelingt es ihnen nicht, so verlieren sie das Interesse an den Meinungen u n d Gutachten der Sachverständigen, deren Denkschriften und Voten leicht ignoriert werden können. Das Schicksal vieler unabhängiger Gutachter- und Sachverständigen-Kommissionen hat diese alte Erfahrung i n den letzten Jahren oft genug bestätigt. Dagegen sind i m Deutschen Reich auf der Grundlage des Reparationsstaates zwei Gebilde entstanden, deren Sinn gerade darin liegt, i m Gegensatz zu dem Koalitions-Parteien-Staat unabhängige, neutrale Größen zu sein: die Reichsbank und die Reichsbahn. Es sind autonome, von der übrigen staatlichen Regierung und Verwaltung getrennte Komplexe, die m i t weitgehenden Sicherungen gegen parteipolitische Beeinflussungen ausgestattet sind. Daß gerade parlamentarische Inkompatibilitäten diese Unabhängigkeit sicherstellen, ist das sichere Kennzeichen für die Richtung, i n der solche Autonomisierungen sich bewegen. A u c h die neue Regelung der YoungplanGesetze hat daran festgehalten. Für die Reichsbank vermittelt der vom Parlament unabhängige Reichspräsident die Beziehungen zur deutschen Regierung, indem er die W a h l des Reichsbankpräsidenten durch den Generalrat, die Ernennung der Mitglieder des Direktori4*
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
ums nach Zustimmungen des Generalrats durch den Präsidenten und die Abberufung des Präsidenten oder eines Mitglieds des Direktoriums bestätigt (§ 6 des Reichsbankgesetzes i n der Fassung des Gesetzes vom 13. März 1930); die Mitglieder des Generalrates der Reichsbank dürfen weder unmittelbare Staatsbeamte noch Personen sein, die vom Deutschen Reich oder einem deutschen L a n d eine Bezahlung erhalten (§ 17); die Kontrolle der Banknotenausgabe erfolgt durch den jeweiligen Präsidenten des Rechnungshofes des Deutschen Reiches als Kommissar, der m i t allen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit umgeben ist und ebenfalls dem Reichstag nicht angehören darf (§§ 121, 123 der Reichshaushaltsordnung). I n der Begründung zu den Gesetzen über die Haager Konferenz (11. Teil. Bankges. S. 3/4) ist die volle „ W a h r u n g des Grundsatzes der Unabhängigkeit" als notwendig anerkannt und als eine „grundlegende Garantie für die Aufrechterhaltung der Währung" bezeichnet. Was die Reichsbahn angeht, so ist die nach dem Reichsbahngesetz vom 30. August 1924 bestehende strenge Trennung gemildert; die (parlamentarische) Reichsregierung hat weitgehende Auskunftsrechte und Kontrollbefugnisse erhalten, die Mitglieder des Verwaltungsrats der Reichsbahn werden jetzt von der Reichsregierung ernannt (Art. I I , §11), ein ständiger Vertreter der Reichsregierung kann an den Sitzungen des Verwaltungsrates u n d seiner Ausschüsse ohne Stimmrecht teilnehmen. I m übrigen aber gilt auch hier der Grundsatz der Unabhängigkeit und Selbständigkeit, und die parlamentarischen Inkompatibilitäten bleiben für den Verwaltungsrat bestehen, dessen Mitglieder „erfahrene Kenner des Wirtschaftslebens oder Eisenbahnsachverständige" sein müssen und „ n i c h t Mitglieder des Reichstages, eines Landtages, der Reichsregierung oder einer Landesregierung" sein dürfen (§ 10). Die Begründung hebt hervor (S. 16), daß die deutsche Reichsgesetzgebung zwar Änderungen des Reichsbahngesetzes vornehmen darf, aber nur unter der Voraussetzung, daß für die Gesellschaft keine neuen Belastungen erwachsen und die Bestimmungen u n d Garantien der Reparationszahlungen „sowie der unabhängige Charakter der Gesellschaft m i t ihrer selbständigen Verwaltung nicht berührt werden". H i e r ist die außenpolitische und völkerrechtliche Grundlage der Unabhängigkeit und Neutralität sichtbar — die letzte u n d stärkste Sicherheit gegen die Interventionen des Parteienstaates. I n beiden Fällen, Reichsbank und Reichsbahn, ist eine Absplitterung staatlicher Hoheitsrechte eingetreten und ein selbständiges
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Rechtssubjekt gebildet worden, das gegenüber dem Parteienstaat unabhängig und neutral erscheint. Es sind noch andere Möglichkeiten autonomer Bildungen denkbar, sei es auf dem Wege über verselbständigte Monopole, sei es dadurch, daß bestehende autonome Gebilde, etwa der Sozialversicherung, der kommunalen oder der w i r t schaftlichen Selbstverwaltung, Kirchen oder Weltanschauungsgesellschaf ten oder andere Verbände zu Trägern derartig abgesplitterter staatlicher Rechte werden. Die autonomen Gebilde der kommunalen Selbstverwaltung scheinen vorläufig hierfür nicht mehr i n Betracht zu kommen, weil sie infolge der Bestimmungen des A r t . 17 RV. selbst zum Schauplatz des partei- und fraktionspolitischen Systems geworden sind. Dagegen können einzelne deutsche Länder Träger einer gewissen neutralisierenden F u n k t i o n werden. O b w o h l auch sie parlamentarisch regierte Parteienstaaten sind, b e w i r k t doch der Umstand, daß i n ihnen anders zusammengesetzte Koalitionen als i m Reich regieren, schon durch die bloße Verschiedenheit ein gewisses Gegengewicht. Die föderalistischen Elemente der heutigen deutschen Verfassung haben dadurch eine völlig neue Aufgabe und Funktion erhalten, nämlich die einer neutralisierenden W i r k u n g gegenüber dem labilen Koalitions-Parteien-Staat i m Reich. Das w i r d i n demselben Maße stärker, in welchem das Bedürfnis nach einer Gegenw i r k u n g stärker wird. Hier t r i t t ein wichtiger Funktion swan del ein. der dem Föderalismus alten Stils aus ganz anderen als bündischen Gesichtspunkten und Motiven eine neue ratio essendi und dem K a m p f gegen den Unitarismus i m Reich und gegen den Zentralismus in Preußen neues Leben gibt. Er stärkt nicht nur die Lebensfähigkeit derjenigen Länder „mittleren Typus", die noch als Staaten bezeichnet werden können, sondern nährt auch die Tendenzen, welche darauf hinzielen, durch territoriale Abtrennungen aus Gebieten und Provinzen m i t kultureller und wirtschaftlicher Eigenart neue Länder dieses Typus zu bilden. So erscheinen, neben dem Beamtenstaat, dem Sachverständigen- und Gutachterstaat und neben den Gebilden des Reparationsstaates, auch noch Kräfte des Bundesstaates i n der Reihe von Gegenwirkungen, die in ihrem durchaus nicht planmäßigen, aber doch zu dem gleichen Ergebnis führenden Zusammenspiel heute die Funktionen des neutralen Staates zu übernehmen suchen. Der Pluralismus des heutigen deutschen Staates w i r d dadurch noch stärker. Das innerstaatliche Leben ist schon jetzt i n weitem Maße von Verträgen und Vereinbarungen der verschiedensten A r t beherrscht: zwischen Reich u n d einzelnen Ländern, zwischen einzelnen
Das Problem
er innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Ländern, zwischen Staat und Religionsgesellschaften, und es läßt sich denken, daß weitere Verträge und Abmachungen folgen werden, die sich mit den Abmachungen der Koalitionsparteien verbinden können. E i n solches System innerstaatlicher vertraglicher Bindungen des Staates ist der Ausdruck eines Pluralismus, der sich an die Stelle der staatlichen Einheit und ihrer verfassungsmäßigen Methoden setzt. Seine wirksamste Rechtfertigung liegt in Schlagworten wie Entpolitisierung und Neutralisierung, d. h. i n dem Schutz vor den Mißständen des labilen Koalitions-Parteien-Staates. III I n manchen Tendenzen zu weiteren autonomen Bildungen und Absplitterungen liegt ohne Zweifel eine notgedrungene, unentbehrliche Korrektur. Läßt sich aber w i r k l i c h daraus ein allgemeines Prinzip staatlichen Aufbaues gewinnen? 1st es berechtigt, etwa unter Berufung auf das echt deutsche Genossenschaftsprinzip, diese Entwicklung zum Pluralismus noch weiter zu treiben? H a t man heute schon das Recht, die Parole auszugeben: allgemeine Kapitalflucht alles dessen, was i n Deutschland an staatlicher Substanz noch vorhanden ist? Ich möchte das verneinen, und zwar gerade deshalb, weil es den einzig rechtfertigenden Zweck, nämlich Sachlichkeit und O b j e k t i v i t ä t des Staates, bestimmt verfehlen muß. D u r c h eine falsche Verallgemeinerung werden unter Worten wie Neutralität, Entpolitisierung und Sachlichkeit in der heutigen Lage Deutschlands vielfach verschiedene, entgegengesetzte Ziele miteinander vermengt. Das hat zur Folge, daß die Abhilfen sich gegenseitig wieder aufheben und paralysieren. Der labile Koalitions-ParteienStaat führt zu einer regierungsunfähigen Regierung, zu einer NichtRegierung, und aus diesem Mangel einer Entscheidung, aus dem Bestreben nach wirklicher Regierung und echter politischer Entscheidung, entstehen die verschiedenartigen Abwanderungen der politischen Substanz. A u f der anderen Seite aber bekämpft man gleichzeitig den Mangel, der darin liegt, daß die politischen Entscheidungen parteiisch und unsachlich seien. W e i l es der Natur jeder politischen Entscheidung entspricht, daß irgendein Interessent sie als nachteilig empfindet, kann man stets auf Beifall rechnen, wenn man einen „ K a m p f gegen die Politik überhaupt" proklamiert und absolute Entpolitisierung als absolute Sachlichkeit verlangt. I m ersten F a l l ist das Bedürfnis nach einer politischen Entscheidung das maßgebende
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
Motiv und entstehen die Gegenbildungen daraus, daß eine politische Entscheidung fehlt, weil eben i n Wahrheit überhaupt nicht regiert w i r d ; i m zweiten Falle versucht man, ein System zu organisieren, in welchem es gar keine politischen Entscheidungen mehr gibt, sondern nur noch Sachlichkeit und Fachlichkeit, und wo die Dinge sich selbst regieren und die Fragen sich aus sich selbst beantworten. Die erste Tendenz geht davon aus, daß eine politische Entscheidung und Regierung notwendig ist, die andere dagegen, daß Politik und Regierung etwas ihrem Wesen nach Unsachliches und Überflüssiges sind. I n dem R u f nach Entpolitisierung geht beides oft durcheinander, weil man die Parteipolitik im allgemeinen oder die Parteip o l i t i k des labilen Koalitions-Parteien-Staates i m besonderen nicht als echte Politik und gleichzeitig als etwas Unsachliches ansieht, so daß sich hier die Negationen von zwei entgegengesetzten Richtungen verbinden und zwei entgegengesetzte Übel, die mit entgegengesetzten Mitteln bekämpft werden müßten, durch ein und dasselbe ungenaue Schlagwort getroffen werden sollen. I n Wahrheit w i r d aber deshalb keines von beiden getroffen. Die i n sich selbst widerspruchsvolle Unklarheit richtet sich aber auch i n ihrem praktischen Ergebnis gegen ihre eigentlichen Ziele. Der Pluralismus des öffentlichen Lebens, zu welchem die Weitertreibung autonomer Bildungen und Absplitterungen führen muß, kommt m i t seinem System von Vereinbarungen und fortwährenden Kompromissen den Zuständen eines mittelalterlichen Ständestaates nahe, in denen der deutsche Staat schon einmal zugrunde gegangen ist. Die eigentliche Gefahr des labilen Koalitions-Parteien-Staates, die m i t den entpolitisierenden Verselbständigungen bekämpft werden soll, liegt nun durchaus in der gleichen Richtung. Auch dieser Staat mit seinen fortwährenden Parteien- und FraktionsVereinbarungen verwandelt den Staat in ein pluralistisches Nebeneinander von Kompromissen und Verträgen, durch welche die jeweils am Koalitionsgeschäft beteiligten Parteien die Ämter und Einkünfte des Staates nach dem Gesetz der Quote unter sich verteilen und die Parität, die sie dabei beobachten, womöglich noch als Gerechtigkeit empfinden. Auch dieser Staat reduziert dann seine Verfassung auf den Satz „pacta sunt servanda" und den Schutz der auf solche Weise „wohlerworbenen Rechte". Das gehört zur Eigenart jedes pluralistischen Staates. Das Interesse der Parteien und Fraktionen und eines „bürokratisierten Parlamentarismus" steht dabei keineswegs in notwendigem Gegensatz zu den partikulären Interessen abgesplitterter und
Das Problem der i n n e r p o l i t i s e n Neutralität des Staates (1930)
verselbständigter Gebilde. Es kann sich leicht mit ihnen verbinden und Bündnisse schließen. Hier sind viele Überschneidungen und sogenannte Querverbindungen möglich. Die letzte Folge eines solchen doppelt fundierten Pluralismus wäre eine völlige Zersplitterung der deutschen Einheit. Es bliebe dann dem D r u c k von außen, dem Interesse der Gläubigerstaaten an der Einheit des Reparationsschuldners, überlassen, ob die staatliche Einheit Deutschlands weitergeführt werden soll oder nicht, und es wäre eine Frage des Ermessens fremder Regierungen, ob ein ausländischer Kommissar oder Podestä die Richtlinien der deutschen Innenpolitik bestimmt, nachdem der politische Sinn des deutschen Volkes zu einer eigenen Willensbildung nicht mehr ausgereicht hat. D a m i t wären die deutschen Zustände nicht entpolitisiert; es wäre nur an die Stelle einer deutschen Politik eine fremde Politik getreten. Der grundsätzliche I r r t u m aller jener Entpolitisierungs-Bestrebungen ist schon i n dem mißverständlichen, irreführenden Schlagwort „Entpolitisierung" enthalten. M i t diesem W o r t ist, soweit es sich um ernsthafte Vorschläge handelt, i n W i r k l i c h k e i t meistens nur die Beseitigung einer bestimmten A r t von Politik verstanden, nämlich der Parteipolitik, also nur eine „Entparteipolitisierung", und auch das nur i n dem Sinne der besonders gearteten Parteipolitik des labilen Koalitions-Parteien-Staates. Das W o r t t r i f f t also nur einen bestimmten Gegensatz gegen bestimmte politische Methoden. I m übrigen ist zu beachten, daß Politik unvermeidbar und unausrottbar ist. Man kann m i t leichten und bequemen Gegenüberstellungen P o l i t i k und Recht, P o l i t i k und Wirtschaft, Politik und K u l t u r unterscheiden, aber man geht dabei gewöhnlich von der falschen Vorstellung aus, daß es möglich sei, ein besonderes Gebiet „ P o l i t i k " von anderen Sachgebieten wie Wirtschaft, Religion, Recht abzutrennen. Die Eigenart des Politischen liegt jedoch gerade darin, daß jedes denkbare Gebiet menschlicher Tätigkeit der Möglichkeit nach politisch ist und sofort politisch w i r d , wenn die entscheidenden Konflikte und Fragen sich auf dieses Gebiet begeben. Das Politische kann sich m i t jeder Materie verbinden und gibt ihr — wenn ich eine von Eduard Spranger gebrauchte Formel hier übernehmen darf — nur eine „neue Wendung". So ist es ein Mißverständnis und eine trügerische, wenn nicht betrügerische Redensart, m i t dem Wort Entpolitisierung anzudeuten, daß die unbequeme Verantwortung u n d das Risiko des Politischen vermieden und ausgemerzt werden könne. Alles, was irgendwie von öffentlichem Interesse ist, ist irgendwie
Das Problem der i n n e r p o l i t i s e n Neutralität des Staates (1930)
politisch, und nichts, was wesentlich den Staat angeht, k a n n i m Ernst entpolitisiert werden. D i e Flucht aus der Politik ist die Flucht aus dem Staat. Wo diese Flucht endet, und wo der Flüchtende landet, kann niemand voraussehen; jedenfalls ist sicher, daß das Ergebnis entweder der politische Untergang oder aber eine andere A r t von Politik sein w i r d . Die Lösung der gegenwärtigen Schwierigkeiten kann nicht darin liegen, daß man den Staat weiter schwächt, und noch weniger darin, daß man i h n in einem allgemeinen sauve qui peut zugrunde gehen läßt. Die Ursache aller Mißstände und alles Mangels an Sachlichkeit und O b j e k t i v i t ä t ist gerade die Schwäche des Staates, die sich aus den Methoden der labilen Koalitions-Parteien-Politik ergibt, und diesem Mangel ist nicht durch weitere Schwächungen zu helfen. Die meisten Entpolitisierungsvorschläge und -forderungen vergessen die einfache Wahrheit, daß zur Neutralität i m Sinne einer unabhängigen Sachlichkeit eine besondere Stärke und K r a f t notwendig ist, die mächtigen Gruppierungen und Interessen Widerstand zu leisten vermag. Fehlt sie dem Staat, so muß irgendeine andere K r a f t für ihn eintreten, die sich damit in den Staat verwandelt. Neutralität im Sinne von Sachlichkeit und O b j e k t i v i t ä t ist nicht Schwäche und Politiklosigkeit, sondern das Gegenteil. Die Lösung liegt also nicht in einer unpolitischen Sachlichkeit, sondern in einer sachlich-informierten, das Interesse des Ganzen i m Auge behaltenden, entscheidungsfähigen Politik. Es ist der Sinn jeder vernünftigen Verfassung, ein organisatorisches System zu geben, das eine staatliche Willensbildung und eine regierungsfähige Regierung ermöglicht. Es ist vor allem die bewußte und wohlüberlegte Absicht der geltenden Reichsverfassung, dieses Ziel zu erreichen, und alle ihre Einrichtungen einer parlamentarischen und plebiszitären Demokratie sollen i n erster Linie eine leistungsfähige Regierung schaffen. Sie geht davon aus, daß eine auf demokratischen Grundlagen beruhende, die Zustimmung und A k k l a m a tion des Volkes findende Regierung stärker und intensiver ist als jede andere A r t von Regierung. Wenn man nun weder eine unheilvolle Flucht aus dem Staat inszenieren, noch Katastrophen oder Gewaltstreiche vorbereiten w i l l , so bleibt nichts übrig, als von diesen verfassungsmäßigen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und gegenüber der durchaus verfassungswidrigen, ganz von Vorkriegsmethoden beherrschten labilen Koalitionspraxis den Sinn der Verfassungsbestim-
Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930)
mungen zur Geltung zu bringen. Jene verfassungsmäßigen Möglichkeiten sind bei weitem noch nicht erschöpft. Ihre Erkenntnis leidet noch unter den Interpretationen, welche mit den alten, i n der Vorkriegszeit entstandenen Klischees die Weimarer Verfassung zu einer K a r i k a t u r machen, indem sie in ihr nichts sehen als eine Anti-Verfassung gegen die frühere Reichs Verfassung. Es ist das große Verdienst des Bundes zur Erneuerung des Reiches und seines damaligen Vorsitzenden, D r . Hans Luther, in einer Schrift über „die Rechte des Reichspräsidenten nach der Reichs Verfassung" (Berlin 1929) den einfachen Sach- und Rechtsverhalt weiteren Kreisen zum Bewußtsein gebracht zu haben. Zur Verfassungsloyalität gehört es, die Möglichkeiten einer Verfassung zu benutzen, bevor man an gefährliche Katastrophen oder an eine allgemeine K a p i t a l f l u c h t aller staatlichen Substanz denkt. Heute steht das deutsche V o l k vor einer einfachen Alternative: entweder aus eigenem politischem W i l l e n seine politische Einheit zu retten oder aber als Reparationseinheit k r a f t fremden Willens zu existieren. Vor einem solchen Entweder-Oder gibt es für einen Deutschen keine Neutralität, und es wäre eine schnell erledigte Illusion, neutral bleiben zu wollen, wenn es sich um das eigene Leben handelt, um den eigenen Staat und die politische Existenz des eigenen Volkes.
Vortrag gehalten beim Empfang des deutschen Industrie- und Handelstags durch die Industrie- und Handelskammer zu Berlin am 8. April 1930; veröffentlicht in den Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin vom 10. Mai 1930. Die Vorstellung vom Staat als einer neutralen Größe, die als solche gegenüber allen innerstaatlichen Spannungen und Parteiungen einer sadilichen Entscheidung fähig ist, hat ihren geschichtlichen Ursprung darin, daß der Staat des europäischen Kontinents im 16. und 17. Jahrhundert gegenüber den Parteien des konfessionellen Bürgerkrieges die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung bewirkte, ohne die religiöse Wahrheit der Streitpunkte eines solchen Bürgerkrieges entscheiden zu wollen. Das ist die geschichtliche Leistung, durch welche dieser Staat ein Reich der objektiven Vernunft (Hegel), oder, wie Thomas Hobbes sagte, ein imperium rationis wurde. Mit dieser Neutralisierung und Rationalisierung beginnt eine Stufenfolge weiterer Neutralisierungen, die in der modernen Technik endet. Ein solcher Ursprung ist in seiner konkreten Gesdiichtlichkeit so strukturbestimmend und spezifisch, daß es irreführend ist, mit dem Wort Staat einen unterschiedslos für die verschiedensten geschichtlichen Epochen zu verwen-
Das Problem der i n n e r p o l i t i s e n Neutralität des Staates (1930)
denden Allgemeinbegriff zu bezeichnen; vgl. darüber unten S. 375—385. Ob die Art von Gemeinwesen, die aus der Uberwindung von Klassenkämpfen und aus der Auflösung sozialer Spannungen hervorgeht, sinnvollerweise noch als „Staat" bezeichnet werden kann, ist keine bloß terminologische, sondern eine überaus aktuelle begriffliche, sachlidie, geschichtlich-politische Frage. Sie steht hinter der Kontroverse, die um die Schrift von Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem (Friedrich Vorwerk Verlag, Stuttgart 1951) entbrannt ist; vgl. besonders Bern. 2 auf Seite 384. Auch ist bei uns der Gedanke eines Hüters der Verfassung (vgl. S. 63 ff.) noch mit der Vorstellung einer neutralen Größe verbunden. Eine systematische Übersicht über die verschiedenen Richtungen und Bedeutungen des Begriffes „Neutralität" findet sich in meinem Buch Der Hüter der Verfassung. 1931. S. 111 bis 115; spanisdie Ausgabe S. 139 bis 143.
Das Problem des Hüters der Verfassung und der verfassungsrechtlichen Garantien
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929) l. Die Weimarer Verfassung spricht nicht ausdrücklich von einem „ H ü t e r der Verfassung". Andere Verfassungen haben ihren eigenen Schutz i n verschiedenartiger Weise Menschen oder Organisationen als H ü t e r n anvertraut; die französische Verfassung von 1791 z. B. allen Behörden und Staatsbürgern i n einer für unseren heutigen Geschmack vielleicht allzu rhetorischen A r t 1 . Napoleonische Verfassungen kannten einen besonderen „gardien du pacte social", als welcher aber nicht ein Gerichtshof, sondern eine zweite Kammer, der Senat, vorgesehen w a r 2 . I m übrigen erscheint i n den Verfassungen des 19. Jahrhunderts, soweit nicht das Parlament Verteidiger der Volksrechte ist (v. Mohl), meistens der über die Ministeranklage entscheidende Staatsgerichtshof als eigentlicher Hüter der Verfassung. Nach dem Weltkriege ist besonders der Verfassungsgerichtshof von Österreich oft als vorbildliche Einrichtung zum Schutze der Verfassung gerühmt worden, vor allem, weil er — neben anderen Zuständigkeiten — unter Ausschließung des allgemeinen richterlichen Prii1 „Die Verfassunggebende Nationalversammlung vertraut die Verfassung der Treue der gesetzgebenden Körperschaft, des Königs und der Richter an, der Wachsamkeit der Familienväter, den Gattinnen und Müttern, der Liebe der jungen Staatsbürger und dem Mute aller Franzosen" (Schluß der Verfassung von 1791). Nach Art. 110 der französischen Verfassung vom 4. November 1848 vertraut die Nationalversammlung diese Verfassung und die von ihr geheiligten Grundrechte der Wachsamkeit und dem Patriotismus aller Franzosen an; über den Versuch, aus diesem Appell praktische Konsequenzen zu ziehen, vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 116. 2 Verfassung des Jahres V I I I (1799), Art. 21: der Senat Conservateur bestätigt oder annulliert alle vom Tribunat oder der Regierung als verfassungswidrig vorgelegten Akte; Verfassung vom 14. Januar 1852, Art. 29: Der Senat bestätigt oder annulliert alle von der Regierung oder durch Petitionen der Staatsbürger als verfassungswidrig an ihn gebrachten Akte. Die Regelung des Jahres V I I I geht auf Ideen von Sieyes zurück, der einen solchen Schutz der Verfassung für notwendig hielt und schon im Jahre I I I eine „jurie constitutionnaire" gefordert hat; darüber Andre Blondel, Le contröle juridictionnel de la Constitutionnalite des lois S. 173 (Paris 1928), über den geschichtlichen Zusammenhang mit Harrington: H. F. Rüssel Smith, Harrington and his Oceana S. 15, 205 f. (Cambridge 1914).
64
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
fungsrechtes über die Verfassungsmäfiigkeit von Gesetzen und Verordnungen urteilt 3 . Darin, daß dieser Verfassungsgerichtshof (übrigens nur auf Antrag der Regierung, evtl. von Amts wegen) über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen (Bundes- u n d Landesgesetzen) erkennt, sieht man den „ H ö h e p u n k t seiner F u n k t i o n als Garant der Verfassung" 4 . I m Deutschen Reiche gehen die bisherigen Vorschläge und Entwürfe fast sämtlich dahin, daß ein bestehender Gerichtshof (der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, unter Erweiterung seiner bisherigen, durch A r t . 19 RVerf. geregelten Zuständigkeit) die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen treffen soll 5 . I m übrigen würde nach diesen Vorschlägen ein wenig 8
Art. 89, 137 ff. der österreichischen Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920; Verfassungsgeriditshofgesetz (über die Organisation und über das Verfahren) vom 18. Dezember 1925; dazu der Kommentar von Kelsen (Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich); Adamovich, Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durdi den österreidiischen Verfassungsgerichtshof (Wien 1927); Charles Eisenmann, La justice constitutionnelle et la Haute Cour Constitutionelle d'Autriche (Paris 1928). 4 Kelsen, JalirbüR. II, 266 (1922); Verfassungsgeriditsbarkeit wird hier im wesentlichen zur Garantie der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (vgl. den Leitsatz I I Kelsens von der Staatsrechtslehrertagung 1928, ArchöffR. N. F. 14 S. 449); ähnlidi Eisenmann a.a.O. S. 20 ff., der den eigentlidien Sinn der Verfassungsgerichtsbarkeit darin sieht, die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem gewöhnlichen und dem verfassungsändernden Gesetzgeber zu wahren. ö Aus den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung ist hier der Antrag Ablaß (Nr. 273, Prot. S. 483) zu erwähnen, nach welchem der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich auf Antrag von 100 Mitgliedern des Reiditages über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze bindend entscheidet; der Antrag (ebenso ein Eventualantrag) wurde abgelehnt. Der 33. Deutsche Juristentag (Heidelberg 1924; Berichterstatter H. Triepel und Graf zu Dohna) forderte, daß die Möglichkeit vorgesehen werden solle, vor Verkündüng eines Reichsgesetzes eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes über die Vereinbarkeit des Reichsgesetzes mit der Verfassung herbeizuführen; ferner eine Ausdehnung der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich auch auf Verfassungsstreitigkeiten innerhalb des Reiches. Der 34. Deutsche Juristentag (Köln 1926; Berichterstatter Anschütz und Mende) empfahl ebenfalls eine Änderung des Art. 19 RVerf.; der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich sollte auch über Reichsverfassungsstreitigkeiten entscheiden; ferner sollte der Staatsgeriditshof zur Prüfung der Gültigkeit von gehörig verkündeten Reichsgesetzen ausschließlidi zuständig sein; als gesetzgeberisches Ziel sei anzustreben „die Auslegung des Reichsverfassungsrechtes in oberster Instanz beim Staatsgerichtshofe für das Deutsche Reich zu vereinigen". Das Reichsministerium des Innern hat 1925 (Verlag Heymann) den Entwurf eines „Gesetzes zur Wahrung der Rechtseinheit" veröffentlicht, nach welchem in einem Rechtsentscheidungsverfahren über Fragen des öffentlichen Rechtes, insbesondere auch des Verfassungsrechtes, durch ein Reichsspruchgericht entsdiieden werden soll. Ein in der DJZ. 1926 Sp. 842 von dem damaligen Reichsminister cles Innern
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
65
systematisches Nebeneinander von Staatsgerichtshof, Verfassungsgerichtshof, Reichsspruchgericht (Reichsrechtshof zur bindenden Gesetzesauslegung i m Sinne der Bestrebungen von Zeiler 6 , Reichsfinanzhof, Reichsrat, Reichs Verwaltungsgericht, Kompetenz-Konfliktsgerichtshof) bestehen, so daß R. Grau m i t Recht von einer „Mehrheit miteinander konkurrierender, unter Umständen miteinander i n Widerspruch tretender Verfassungshüter" sprechen konnte 7 . Von anderen Autoren w i r d an dem allgemeinen richterlichen Prüfungsrecht festgehalten, das die i m ordentlichen Rechtszuge entscheidenden Gerichte ausüben und das nach jenen Vorschlägen zu einem „Verfassungsgerichtshof" meistens beseitigt werden soll; Hugo Preuß hat eine solche Beseitigung des allgemeinen richterlichen Prüfungsrechts geradezu als „Negierung des Rechtsstaates" bezeichnet 8 . Das berühmte, immer noch sehr suggestive Beispiel des Obersten Bundesgerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika müßte seine A u f fassung unterstützen. Dr. Külz veröffentlichter Gesetzentwurf sieht vor, daß, wenn Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, ob eine Vorschrift des Reichsrechtes mit der Reichsverfassung in Widerspruch steht, der Reichstag, der Reichsrat oder die Reichsregierung die Entscheidung des Staatsgerichtshofes für das Deutsdie Reich anrufen kann, wobei nach diesem Entwurf das allgemeine richterliche Prüfungsrecht anscheinend nicht ausgeschlossen werden soll; vgl. den Aufsatz von Külz, DJZ Sp. 837; Richard Grau, Zum Gesetzentwurf über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen und Rechtsverordnungen, ArchöffR. N.F. 11 S. 287 ff. (1926); Fritz Morstein Marx, Variationen über richterliche Zuständigkeit zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Gesetzes S. 129 f. (Berlin 1927); Nawiasky ArchöffR. N. F. 12 S. 130 f.; Hof acker, Gerichtssaal 94, 221 (1927); vor allem die treffende Bemerkung von R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht 1928 S. 143. Ein 1927 an den Rechtsausschuß des Reichstages gelangter Entwurf (Reichstagsdrucksachen Nr. 2885 I I I 1924 bis 1926) läßt ebenfalls den Staatsgerichtshof (auf Antrag einer qualifizierten Minderheit des Reichstages oder des Reichsrates, auch der Gerichte, welche ihm die Akten vorzulegen haben, wenn sie eine Rechtsvorschrift für unvereinbar mit der Reichsverfassung halten) über die Verfassungsmäßigkeit mit Gesetzeskraft entscheiden. 8 Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung (München und Berlin 1911). 7 A.a.O. S. 291. Über die Unklarheiten schon Düringer in der Nationalversammlung am 3. März 1919 (Sten. Ber. 474), ferner Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung S. 190 („der tief dunkle Art. 19"), H. Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, Festgabe für Kahl S. 13, 103 (1923). Wer entscheidet, wenn nach Art. 19 und Art 13 RVerf. widersprechende Entscheidungen von Staatsgerichtshof und Reidisgericht ergehen? Hier einfach die Prävention entscheiden zu lassen, wäre ein allzu bequemer Formalismus. 8 Gegen den oben (Anm. 4) erwähnten Antrag Ablaß, Prot. S. 483/484 (dort audi die interessante Bemerkung über den „Bock, den man zum 5
Carl Schmitt
66
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
Die eigenartige Stellung, welche dem Reichsgericht i n dieser H i n sicht nach geltendem Rechte zukommt, soll hier unter den Gesichtspunkten der Verfassungslehre erörtert werden, soweit das i m Rahmen einer kurzen Abhandlung möglich ist. Vorher aber ist m i t einigen Worten auf die verfassungsgeschichtliche Lage einzugehen, aus der sich heute das Interesse an einem Hüter der Verfassung erklärt und durch welche dieses allgemeine Schlagwort einen bestimmten Inhalt bekommt. Denn ein solcher Begriff kann niemals abstrakt oder absolut verstanden werden. Es gibt keinen „schlechthmnigen" Hüter der Verfassung, und alle Bestimmungen und Organisationen zu ihrem Schutz erhalten ihren konkreten Sinn dadurch, daß man von einer bestimmten Seite her bestimmte Mißbräuche oder gar Verletzungen befürchtet. Die Frage nach dem Hüter der Verfassung ist also gleichzeitig die Frage nach der besonderen Richtung, aus welcher eine Gefahr droht. Solange eine mächtige, von der Volksvertretung unabhängige, auf Heer und Beamtentum gestützte monarchische Regierung vorhanden war, drohte die Gefahr von der Exekutive her. Die Verfassungsstreitigkeiten des 19. Jahrhunderts waren deshalb, wie sich besonders i n den deutschen konstitutionellen Monarchien zeigte, Kämpfe zwischen Volksvertretung und Regierung; der Schutz der Verfassung richtete sich gegen die Regierung; ein Staatsgerichtshof, der auf Anklage des Parlamentes über VerfassungsVerletzungen der Minister entscheidet, ist infolgedessen i m besonderen Sinne Hüter der Verfassung. Inzwischen aber ist diese Lage entfallen. Viele Schutzbestimmungen, insbesondere über Ministeranklagen, haben an politischer Bedeutung u n d A k t u a l i t ä t verloren. Die Regierung ist vom Vertrauen des Parlamentes abhängig, die Verwaltung dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit unterworfen, die Grundrechte sind nach clem Ausdruck von R. Thoma zum großen Teile „leerlaufend" geworden 9 . Gärtner madit"). Ferner sehr eindringlich Morstein Marx a.a.O. S. 116 f. (gegen das „österreichische Vorbild"), S. 139 (gegen die in den Entwürfen zutage tretende Bevormundung des Reichsgerichtes), S. 151/152 („Nichts Geringeres als die Gesetzmäßigkeit der Gesetzgebung, die Justizförmigkeit der Gesetzgebung, wird durch die unbeschränkte richterlidie Prüfungszuständigkeit im ordentlichen Rechtszuge verwirklicht. Das erst ist die Vollendung des Rechtsstaates"); oder Stoll, JheringsJ 2. Folge, 40. 201: „Das volle richterliche Prüfungsrecht krönt erst den Rechtsstaat!" 9 Grundrechte und Polizeigewalt in der Festgabe für das Preußische Oberverwaltungsgericht S. 195 (Berlin 1925); zur Kritik dieser Auffassung: Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 179.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
Während der K a m p f sich gegen die Exekutive richtete, hat man einen Schutz der Verfassung gegen den Gesetzgeber nicht als dringende Notwendigkeit empfunden. Von dieser Seite schien keine Gefahr zu befürchten und ein Mißbrauch unmöglich. Nicht nur einfach deshalb, weil das Gesetz von der Volksvertretung beschlossen wurde, sondern vor allem, weil es i n einem bürgerlichen Rechtsstaat nach seinem Begriff und seinem Zustandekommen alle denkbare Gewähr der Vernünftigkeit und Gerechtigkeit i n sich trägt: es ist eine generelle Norm, die i n öffentlicher parlamentarischer Diskussion zustandek o m m t 1 0 . Sobald dieser rechtsstaatliche Begriff des Gesetzes dem Bewußtsein der Zeit verlorenging, und alles, was die gesetzgebenden Stellen beschlossen, „Gesetz" hieß, als auch der Glaube an Öffentlichkeit und Diskussion schwand, wurde klar, daß die eigentlich rechtsstaatliche Idee — Herrschaft von Gesetzen, nicht von Gesetzgebern — gerade von der Seite her gefährdet war, auf welcher der K a m p f gegen die Exekutive alle politische Macht angehäuft hatte, nämlich von den Parlamenten als gesetzgebenden Körperschaften. Insbesondere schien es notwendig, Minderheiten gegen die wechselnden Parlamentsmehrheiten zu schützen und gewisse Interessen und Werte vor ihnen sicherzustellen. Denn der Staat scheint alle statische Festigkeit zu verlieren, u n d sich i n einen großen Umschaltungsprozeß zu verwandeln, i n welchem irgendwelche — sichtbaren oder unsichtbaren — sozialen u n d wirtschaftlichen Mächte mit H i l f e parlamentarischer Mehrheiten den staatlichen Gesetzgebungs- und Gesetzes10
Auf diesen systematischen Zusammenhang rechtsstaatlicher Begriffe — das Gesetz als generelle Norm, die in öffentlicher Diskussion zustande kommt — habe ich seit langem hingewiesen (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1. Aufl. [1923]; Unabhängigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privateigentums [1926]; Verfassungslehre S. 138 f. Durdi den Bericht von H. Heller Deutscher Staatsrechtslehrertag 1927 (Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4 S. 101 f.) ist das nicht widerlegt, vielmehr tritt es immer stärker in der systematischen verfassungstheoretischen Erörterung hervor, z.B. mit typischer Klarheit in dem Berichte, den Gaston Jeze für die erste Tagung des Institut international de droit public, Paris 1928, vorgelegt hat: „Les limitations aux libertes individuelles ne seront pas appreciees par un homme, prenant sa decision en secret. Elles seront decidees par des Assemblies electives, apres debat contradictoire et publique . . . Encore les Assemblies n'ont elles pas ä cet egard tout pouvoir: elles doivent prononcer par voie de dispositions generates et impersonelles." Oder in dem Berichte Kelsens für diese Tagung, Revue de droit public, Juni 1928 S. 17, der nur darunter leidet, daß er den echten Normbegriff durch den Pseudobegriff der „individuellen Norm" zerstört. *
68
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
anwendungsapparat ihren Interessen dienstbar machen 1 1 . Daraus entsteht das Bedürfnis, gewisse Angelegenheiten und Interessen der Macht dieser wechselnden Mehrheiten zu entziehen. Man erreicht dieses Ziel — vielfach ohne verfassungstheoretisches Bewußtsein, aber m i t mehr oder weniger politischem Instinkt — vermittels einer verfassungsgesetzlichen Normierung, welche der Normierung des einfachen Gesetzes m i t erhöhter Gesetzeskraft entgegentritt und die geschützten Interessen jenem Umschaltungsprozeß entzieht. Infolgedessen wurden manche materiell-rechtliche Normen des bürgerlichen oder öffentlichen Rechtes i n die Yerfassungsurkunde hineingeschrieben oder als verfassungsändernde Gesetze beschlossen, die an sich Angelegenheiten der einfachen Gesetzgebung wären. Die erschwerte Abänderbarkeit der verfassungsgesetzlichen Normierung, ihre sog. „erhöhte Gesetzeskraft", w i r d benutzt, um bestimmte Interessen und 11
Es liegt nahe, hier statt von „Umschaltung" mit Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) von „Integration" zu sprechen. Aber eine Herausnahme aus dem Integrationsprozeß kann es wohl für Smend eigentlich nicht geben, weil bei ihm restlos alles in die Bewegung des fortwährenden dynamischen Prozesses der staatlichen Integration aufgelöst wird und jede Art von Statik verschwindet. Demgegenüber mödite ich daran festhalten, daß es keinen Staat ohne statische Elemente gibt. Die heutige parlamentarisch-demokratische Methode der Gesetzgebung ist allerdings mit dem Begriffe Integration überaus treffend bezeichnet; auch ist der heutige Staat in seinem Kern Gesetzgebungsstaat (vgl. unten Anm. 48) und erhält durch Smends Begriff der Integration zum erstenmal eine spezifische Theorie. Trotzdem braucht audi dieser Staat statische, jener restlosen Dynamisierung entzogene Elemente (z.B. was Gneist die „Permanenz der Staatsverwaltung" nannte, Wittmayer sagt sehr mißverständlich „Entpolitisierung") und darf der Gesetzgebungsprozeß nicht mit dem Staate selbst identifiziert werden. Eine restlose Dynamisierung aller statischen Elemente würde nicht zur Integration, sondern zur Desintegration führen. Im Zusammenhange der Ausführungen des Textes ist dieser kurze und — angesichts der großen Bedeutung von Smends Buch — keineswegs erschöpfende Hinweis deshalb von Interesse, weil damit die Frage aufgeworfen wird, wieweit überhaupt durch eine verfassungsgesetzliche Normierung stabile Elemente geschaffen werden können und ob durch eine bloße Normierung überhaupt etwas stabilisiert werden kann, was nicht in sich stabil ist. Mit anderen Worten: eine Norm kann nicht Hüter einer anderen Norm sein. Der Hüter kann nicht ohne eine gewisse Statik gedacht werden; ein täglich neu zu integrierender Hüter würde seine konservierende und stabilisierende Funktion nicht erfüllen können. Daraus erklärten sich wohl auch, zum Teile wenigstens, die (von Smend S. 143 treffend kritisierten) Forderungen eines „Gerichtshofes" mit unabsetzbaren „Richtern", die in Wahrheit nur deshalb Richter sind, weil sie nicht abgesetzt werden können, im übrigen aber Gesetzgebungsfunktionen haben und damit „hemmend" wirken, d. h. in dem Integrationsprozeß ein statisches und konservierendes Element bedeuten, wodurch sie in verschleierter Form die Funktion eines Senates oder Oberhauses ausüben; vgl. Anm. 37.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
69
Werte aus dem normalen Funktionieren der staatlichen Gesetzgebung herauszunehmen und sicherzustellen, zu „verankern", wie man m i t einem banal gewordenen Ausdruck sagt. M a n hat z. B. i n den Vereinigten Staaten von Amerika das Alkoholverbot — doch wohl keine Verfassungsfrage — als Amendement der Verfassung angefügt, d. h. seine Beseitigung dem ordentlichen Gesetzgeber entzogen. I m 2. H a u p t t e i l der Weimarer Verfassung findet sich eine bunte Menge teils grundsätzlicher, teils detaillierter gesetzlicher Bestimmungen, die i n Wahrheit Angelegenheiten der einfachen Gesetzgebung sind und w i r k l i c h nicht mitbeschworen werden sollen, wenn jemand den Eid auf die „Verfassung" leistet. So erklärt es sich, daß die Verfassung nunmehr eines besonderen Schutzes gegenüber der Gesetzgebung bedurfte, daß bezeichnende Worte wie „Gesetzesdämmerung" und „Nomomachie" gebildet wurden 1 2 und der „ H i i t e r der Verfassung" sich heute weniger gegen die Exekutive als gegen die gesetzgebenden Instanzen richtet. Die Regierung ist in parlamentarisch regierten Ländern von den gesetzgebenden Körperschaften abhängig; die Hemmungen und Gegengewichte auf der Regierungsseite (Ablehnung der Verkündung des Gesetzes, Anordnung eines Volksentscheides, Auflösung des Parlaments) sind nicht immer wirksam genug und es liegt daher nahe, in der Justiz den wahren Hiiter der Verfassung zu sehen. Daß es heute vielen Juristen so plausibel u n d selbstverständlich erscheint, über alle Zweifelsfragen und Meinungsverschiedenheiten einen Gerichtshof entscheiden zu lassen, dürfte — abgesehen von einem mißverstandenen Gefühl der Rechtsstaatlichkeit — hauptsächlich darin seinen Grund haben, daß wohl k a u m ein anderer Schutz übrigbleibt. N u r sollte man nicht übersehen, daß die Verfassung, auf deren Schutz und H ü t u n g man bedacht ist, ihrem Begriff und ihrer Funktion nach nicht mehr dieselbe ist wie i m 19. Jahrhundert. „ D i e " Verfassung als einheitlicher Komplex, die 181 A r t i k e l der Weimarer Verfassung mit ihrem bunten Inhalt, die zahlreichen verfassungsändernden Gesetze seit dem Jahre 1919, was den „zufälligen Inhalt geschriebener Verfassungsparagraphen 1 3 ''bildet, das alles müßte besser unterschieden werden, ehe man glatthin vom Schutz „der" Verfassung spricht. Die Verfassung ist in ihrer positiven Substanz eine konkrete politische Entscheidung über A r t und Form der politischen 12
James Goldschmidt, JW 1924 S. 245 f.; zur Kritik vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 142. 18 R. Smend a.a.O. S. 132.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
Existenz (Republik, parlamentarische Demokratie, bürgerlicher Rechtsstaat, bundesstaatliche Organisation). Hüter der Verfassung in diesem Sinne könnte nur eine hochpolitische Instanz mit besonders intensiver politischer -Kraft sein. Eine andere Frage ist es, wie man allgemein die Gesetzmäßigkeit aller behördlichen Tätigkeit sichert (etwa durch verwaltungsgerichtliche Kontrolle oder Verfassungsbeschwerde), und wiederum eine andere Frage, auf welche Weise die stabilisierende und konservierende W i r k u n g gewisser verfassungsgesetzlicher Einzelnormierungen gegenüber dem ordentlichen Gesetzgeber geschützt werden kann, also H ü t u n g der Interessen und Rechte, denen eine Nationalversammlung oder eine verfassungsändernde Mehrheit den Schutz erhöhter Gesetzeskraft zu verleihen verstand, gegenüber der einfachen Parlamentsmehrheit. Wenn eine Instanz gewisse Hüterfunktionen zuständigerweise ausübt oder ihre Tätigkeit i m Ergebnis jenem Schutz zugute kommt, läßt sich das nicht dahin verallgemeinern, daß man nun gleich von „dem" Hüter „der" Verfassung sprechen dürfte.
2. I n einer Entscheidung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich vom 15. Oktober 1927 nennt der Staatsgerichtshof sich selbst „ H i i t e r der Reichs Verfassung" 14 und zieht daraus den Schluß, daß er i n erster Linie zur Auslegung der Reichs Verfassung berufen ist, eine Schlußfolgerung, welche allerdings die praktisch wichtigste F u n k t i o n einer solchen Hüterstellung ausspricht. I n einem Aufsatz aus dem Jahre 1924 hat der Reichsgerichtspräsident D r . Simons das Reichsgericht als „Wächter und Wahrer der Verfassung" bezeichnet 15 . I m Reichsgericht den Hüter der Reichsverfassung zu sehen, liegt heute nahe, seitdem die berühmte Entscheidung des 5. Zivilsenats vom 4. November 1925 die Befugnis der Gerichte zur Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen bejaht und das A u f w e r tungsgesetz vom 16. Juli 1925 auf seine Ubereinstimmung mit A r t . 153 RVerf. geprüft h a t 1 6 . Freilich haben auch andere höchste Gerichts14
RG. 118 Anh. S.4. D JZ 1924 Sp. 246. 16 RG. 111, 320. Vorher konnte es zweifelhaft sein, wieweit das Reichsgericht wirklich diese Prüfungsbefugnis in Anspruch nahm; vgl. besonders W. Jellinek, JW 1925 S. 454 (über das „Märchen" von dem richterlichen Prüfungsrechte des Reichsgerichtes) und Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 2 S. 39 (gegen die „Legende"); Anschütz, Kommentar (4. bis 7. Aufl.) S.217. 15
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
71
höfe, insbesondere der Reichsfinanzhof 1 7 und das Reichsversorgungsgericht 1 8 ein richterliches Prüflingsrecht gegenüber Reichsgesetzen für sich in Anspruch genommen und müßten daher ebenfalls als Hiiter der Verfassung bezeichnet werden. Eine ausdrückliche verfassungsgesetzliche Regelung über einen allgemeinen „ H ü t e r der Verfassung" fehlt. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich entscheidet nach A r t . 19 RVerf. über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes (der darin liegende Schutz der Landesverfassung bleibt hier außer Betracht), über Streitigkeiten nicht-privatrechtlicher A r t zwischen verschiedenen Ländern und zwischen dem Reich und einem Land. Darunter k a n n auch die Entscheidung über eine die Reichs Verfassung betreffende Streitigkeit fallen, sei es, daß die Verfassungsstreitigkeit innerhalb des Landes die Reichs Verfassung betrifft (weil i n jeder bundesstaatlichen Organisation die Verfassung des Bundes einen T e i l der Verfassung des Gliedstaates ausmacht) 1 9 , sei es, daß die nicht-privat rechtliche Streitigkeit zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reich und einem L a n d ein Streit über die Reichsverfassung ist. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, der nach A r t . 59 RVerf. über Anklagen des Reichstages gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder Reichsminister wegen schuldhafter Verletzung der Reichsverfassung entscheidet, könnte wegen dieser Zuständigkeit ebenfalls als Hüter der Reichs Verfassung angesehen werden. Hier (im Falle des A r t . 59 zum Unterschied von A r t . 19) besteht auch ein besonderer organisatorischer Zusammenhang m i t dem Reichsgericht, weil nach dem Reichsgesetz vom 9. Juli 1921 (RGBl. S. 906) der Staatsgerichtshof i n diesem Falle beim Reichsgericht gebildet w i r d und der Reichsgerichtspräsident Vorsitzender ist, während i n den anderen Fällen (§§ 16—23 des Gesetzes) der Staatsgerichtshof beim Reichsverwaltungsgerichtshof gebildet werden soll. I m Falle des A r t . 59 w i r d eine justizförmige Verantwortlichkeit wegen schuldhafter Verletzung der Reichsverfassung durchgeführt. Wenn daraufh i n von einem Hüter der Reichsverfassung gesprochen werden kann. 17
Entsch. 5, 333; 7, 97; dazu A. Hensel, ArchöffR. N. F. 6 S. 329 ff. Entsch. 4, 168 (21. Okt. 1924): 5. 95 (30. Jnni 1925). 19 Der Staatsgerichtshof bejaht hier seine Zuständigkeit: RG. 118 Anh. S. 4 (unter Verfassungsstreitigkeiten im Sinne des Art. 19 RVerf. sind ohne Einschränkung sowohl Streitigkeiten, die in der Landesverfassung, als auch solche „die in der Reichsverfassung wurzeln" zu verstehen; „denn beide sind Verfassungsstreitigkeiten"); ferner die Entsch. v. 12. Mai 1928 (RG. 120 Anh. S. 21). 18
72
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
müßte auch das Reichsgericht wegen seiner besonderen Zuständigkeit für Hochverrat und Landesverrat gegen das Reich (GVG. § 134) als Hüter der Verfassung gelten, ebenso ferner der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik, wie er auf Grund des Reichsgesetzes vom 21. Juli 1922 (RGBl. I 585) bis zum 1. A p r i l 1926 tätig war. Das Reichsgericht ist übrigens hier wiederum i n Einzelheiten an die Stelle dieses Staatsgerichtshofes getreten 20 . I n ganz anderer Weise kann man i m Reichsgericht wegen seiner Zuständigkeit aus A r t . 13 Abs. 2 RVerf. i n Verbindung m i t dem Reichsgesetz vom 8. A p r i l 1920 (Entscheidung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift m i t dem Reichsrecht vereinbar ist) einen Hüter der Reichs Verfassung erblicken. Auch die gutachtliche Tätigkeit des Reichsgerichtes muß hier wenigstens erwähnt werden, obwohl keine Verbindlichkeit des Gutachtens besteht; denn es ließe sich eine Gutachtenpraxis i n Gesetzgebungsfragen denken, die dem Reichsgericht tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, die Stellung eines Spruchgerichts fiir Rechtsfragen gäbe 21 . Schon diese kurze Übersicht zeigt, welche verschiedenartigen Einrichtungen nach heutigem Reichsrecht dem Schutz der Verfassung dienen. Aus geschichtlichen Gründen erklärt es sich, daß ein großer Teil dieser Einrichtungen spezifisch bundesstaatrechtlichen Charakter hat. Das gilt besonders für die A r t . 19 und 13 Abs. 2 RVerf. D a r i n liegt eine starke Einschränkung des Verfassungsschutzes auf eine besondere, nämlich die bundesstaatsrechtliche Funktion. Freilich scheint die Praxis des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich 20
ReichsG. v. 31. März 1926 (RGBl. I 190) und v. 2. Juni 1927 (RGBl. I 125). Nach § 3 Ziff. 2 der (auf Grund von § 140 GVG. erlassenen) Geschäftsordnung v. 8. April 1880 (BZB1.1880 S. 190) gehören „vor das Plenum die vom Reichsgerichte zu erstattenden Gutachten, insbesondere über Gesetzgebungsfragen". Die Gutachterpllicht der ordentlichen Gerichte behandelt ein Aufsatz von Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Bertram (ZZP. Bd. 53), dessen Manuskript der Verfasser mir freundlicherweise zugänglidi gemacht hat. Von besonderem Interesse ist hier folgende treffende Bemerkung des Aufsatzes: „Mit der quasi-authentischen Interpretation im Wege der Begutachtung würde das Reichsgericht de facto ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung werden; alles, was gegen den Plan eines solchen Gerichtshofes mit Recht vorgebracht ist (vgl. Reichel, Gesetz und Richterspruch S. 111 und die dort genannten) spricht auch gegen die Verwirklichung einer derartigen Gutachtenpflicht des Reichsgerichtes. Ein Reichsgericht, das Zweifel und Lücken des Gesetzes nachbesserte, würde eine Grenzüberschreitung ins Gebiet des Gesetzgebers vornehmen und sich gleichzeitig der für die richtende Tätigkeit erforderlichen Unbefangenheit berauben." Vgl. weiter unten Anm. 41 S.81. 21
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
den Begriff der Verfassungsstreitigkeit, entgegen seinem ursprünglichen Sinne, durch eine grenzenlose Ausdehnung der Parteirollen völlig aufzulösen und aus einem Staatsgerichtshof eine allgemeine Verfassungsbeschwerde-Instanz zu machen 2 2 . Immerhin dürfte die verfassungsgesetzliche Beschränkung auf Streitigkeiten „innerhalb eines Landes" eine absolute Hüterstellung dieses Staatsgerichtshofes verhindern. Seine Rechtsprechung behält dadurch ihren Zusammenhang m i t der Justiz des öffentlichen Bundesrechtes 23. Ein Staatsgerichtshof, der über schuldhafte Verfassungsverletzungen entscheidet, übt i n Wahrheit Funktionen vindikativer Strafjustiz aus. Eine allgemeine Gerichtsbarkeit oder Verf as sungs justiz besteht bisher nicht. Es gibt auch kein Gericht, das man daraufhin allgemein als den Hüter der Reichs Verfassung bezeichnen könnte. Angesichts der zahlreichen Vorschläge für eine „Verfassungsjustiz" und der Selbstverständlichkeit, m i t der sie vielfach vorgebracht werden, vor allem aber auch wegen der vielen formalistischen Entstellungen des Begriffes „Justiz", mögen hier einige allgemeine Erwägungen über Verfassungsjustiz und richterliches Prüfungsrecht wenigstens angedeutet sein 2 4 . 3. Verfassungsgerichtsbarkeit oder Verfassungsjustiz ist augenscheinlich in einem anderen Sinne Gerichtsbarkeit oder Justiz als Ziviljustiz, Strafjustiz oder Verwaltungsgerichtsbarkeit. Denn „Verfassung" ist kein Gebiet staatlicher Tätigkeit, wie Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten, Verhängung von Strafen oder Verwalten. Daß i n einem Prozeß auch über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung gestritten w i r d , genügt nicht, um die Entschei22 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 115; gegen die grenzenlose Ausdehnung neuerdings auch Triepel, ArchöffR. N. F. 14, 448. 23 Uber die staatsrechtliche Bedeutung dieser „Gerichtsbarkeit" sehr treffend Smend a.a.O. S. 135. 24 Die folgenden Ausführungen berühren sich in ihrer Betonung des politischen Charakters der Verfassungsjustiz vielfach mit den Gedanken des Referates von H. Triepel auf dem Staatsrechtslehrertag Wien 1928. Ich kenne bisher nur den ArchöffR. N. F. 14, 444 veröffentlichten Bericht von Lutz Richter und weiß daher nicht, wieweit die Übereinstimmung in der Beweisführung geht. Die Leitsätze von Kelsen (a.a.O. S. 449) sind wegen ihrer praktischen Vorschläge von großem politischen und praktischen Interesse. Was ihre theoretische Begründung angeht, so verbleiben sie in den bekannten, öfters wiederholten Formeln eines Normativismus und einer formalistischen Entleerung der Begriffe Gesetz und Justiz (vgl. unten Anm. 39).
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
dung dieses Prozesses zur Verfassungsgerichtsbarkeit zu machen, so wenig eine Auslegungsfrage, wie sie i n den meisten Prozessen hinsichtlich einer Gesetzesbestimmung auftreten kann, diesen Prozeß zu einer Gesetzesgerichtsbarkeit macht. Wenn clie Verfassung nach der bisher üblichen Begriffsbestimmung ein Gesetz ist, so wäre Verfassungsgerichtsbarkeit Gesetzesgerichtsbarkeit, und der ganze Widersinn eines solchen Begriffes zeigt sich schon an diesem Wort. Die Verfassung ist nicht Gegenstand eines Prozesses. Wenn gelegentlich eines Prozesses incident er k r a f t des richterlichen Prüfungsrechtes einer gesetzlichen Bestimmung die Anwendung verweigert w i r d , so ist das nach dem treffenden Ausdruck von H . T r i e p e l 2 5 nur ein Akzessorium der Justiz und schon deshalb nicht Gesetzes- oder Verfassungsgerichtsbarkeit zu nennen. Es genügt auch nicht, daß der Prozeß den Schutz der Verfassung bezweckt, sonst wäre jeder Hochverratsprozeß Verfassungsgerichtsbarkeit, was er offenbar nicht ist. Logischerweise k a n n nur dann von Verfassungsgerichtsbarkeit oder -justiz gesprochen werden, wenn es sich um die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten handelt, die entweder durch ihren Gegenstand oder durch ihre Partei i n spezifischer Weise als Verfassungsstreitigkeiten bestimmt sind. Etwas ganz anderes wiederum ist die Entscheidung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt einer Verfassungsbestimmung. Ob diese Tätigkeit justizförmig organisiert werden soll, ist eine praktisch-politische Frage. Man k a n n die verschiedenartigsten Aktionen justizförmig organisieren — Entmündigungen, Heiligsprechungen usw. —, man k a n n für einen „Zwangsausgleich" 2 6 widersprechender Interessen richterliche Beamte zuständig sein lassen und vielleicht sogar die Bestimmung der Richtlinien der Politik justizförmig gestalten, einen „Verfassungsa n w a l t " bestellen, der den Reichskanzler auf Bestimmung der Richtlinien der P o l i t i k verklagt, und einen „Gerichtshof", der ihn dazu verurteilt; aber man sollte sich nicht darüber täuschen, daß das in der Sache nicht mehr Justiz ist und daß eine absolute Formalisierung des Begriffes (Justiz ist alles was ein Richter t u t ; Richter ist jeder, der unabhängig und unabsetzbar ist) zu absurden Ergebnissen führen muß. Gerade der bürgerliche Rechtsstaat beruht auf einer materiellen Unterscheidung der Justiz von den anderen Zweigen der 25
Staatsrechtslehrertagung 1928, Bericht a.a.O. S. 447. Über die Verschiedenheit von „Zwangsausgleich" und Rechtsstreit die grundlegenden Ausführungen von H. Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, Festgabe für Kahl, 1923 S. 19 ff. 26
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
staatlichen Tätigkeit. Es wäre deshalb ein sehr mißverstandener Beg r i f f von Rechtsstaatlichkeit, für Gesetzgebung und Regierungsfunktionen den trügerischen Schein einer Justizförmigkeit zu organisieren. Man kann einen Gerichtshof, der über Auslegungsfragen entscheidet, als „Verfassungsgerichtshof" bezeichnen und nach dem bekannten österreichischen V o r b i l d 2 7 einrichten. Aber die Entscheidung solcher Zweifel über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung und ihre richtige Anwendung ist weder Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit i m allgemeinen, noch Entscheidung einer Verfassungsstreitigkeit im besonderen und nur in einem sehr problematischen Sinne Justiz. Bei einer echten Verfassungsstreitigkeit müssen die Parteien des Streits zur Verfassung i n einer Beziehung stehen, aus der sich sowohl ihre Parteirolle, wie ihre A k t i v - und Passivlegitimation ergibt 2 8 . Dieser Sachverhalt ist klar, solange die Verfassung als ein Vertrag angesehen werden kann. D a n n sind Verfassungsstreitigkeiten in demselben einfachen und vernünftigen Sinne durch ihren Gegenstand und ihre Parteien bestimmt, wie etwa Mietstreitigkeiten solche Streitigkeiten sind, die zwischen den Parteien des Mietvertrages, zwischen Mieter und Vermieter, aus diesem Vertrag entstehen. Ähnliches gilt für Streitigkeiten aus Staats vertrügen nach A r t der gemäß A r t . 90, 170, 171 RVerf. geschlossenen Verträge zwischen Reich und Ländern. Wo ein Bundesvertrag vorliegt, ist ein Streit zwischen Bundesmitgliedern oder zwischen dem Bund und den Mitgliedern über den I n h a l t des Bundesvertrages eine echte Verfassungsstreitigkeit, weil beim Bunde die Verfassung ein Vertrag i s t 2 9 . W i r d die Verfassung als ein Vertrag zwischen Fürst und Volk, Regierung und Volksvertretung, angesehen, wie das i n Deutschland noch i m 19. Jahrhundert sehr verbreitet war, so ist eine Verfassungsstreitigkeit ein Streit zwischen Regierung und Parlament über den I n h a l t des zwischen ihnen vereinbarten Vertrages. Wenn die Auflösung des heutigen 27 Art. 137 ff. der österreichischen Bundesverfassung von 1920, vgl. oben Anm. 4. 28 „Nicht jeder Streit über den Sinn eines Verfassungsartikels ist ein Verfassungsstreit. Es kommt auf die streitenden Subjekte an." Richard Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, ArchöffR. 43, 283. 29 Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Streitigkeiten aus dem Bundesvertrage sich für eine justizförmige Behandlung eignen. Audi für Bundesstaat und Bundesvertrag gilt keineswegs eine allgemeine Justizförmigkeit der Erledigung von Konflikten; darüber die wertvollen Ausführungen bei C. Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, 1923 S. 9/10.
76
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
Staates weiter fortschreitet u n d eine pluralistische Staatstheorie sich auch praktisch durchsetzt 3 0 , kann die Verfassung eines Tages auch rechtlich als ein Kompromiß verschiedener Faktoren angesehen wer* den, den politische Parteien, Interessenverbände, Religionsgesellschaften, Länder, Kommunalverbände usw. miteinander geschlossen haben und für welchen die Entscheidung der Streitigkeiten aus diesem Vertrag einer Instanz übertragen w i r d , die man dann als echten Verfassungsgerichtshof ansehen könnte 3 1 /" 3 2 . Ein Pessimist könnte vielleicht heute schon i n der bedenklichen Ausweitung, welche der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich dem Begriff der Verfassungsstreitigkeit und den Parteirollen nach A r t . 19 RVerf. gibt, ein Zeichen dieser Auflösung und Rückbildung zu ständischen Verhältnissen erkennen. Jedenfalls führt die Freigebigkeit m i t Parteirollen in ihrer praktischen Konsequenz zu einem interessanten politischen Pluralismus. Solange A r t . 19 auf Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes beschränkt bleibt, t r i f f t die Auflösung freilich nur das L a n d und kommt sie infolgedessen der Einheit und Unitarisierung des Reiches zugute. Anders bei einer gedankenlosen Übertragung auf das Reich. 30 Der bekannteste Vertreter der pluralistischen Staatstlieorie ist heute Harold; J.Laski, dessen nicht immer systematischen und homogenen Argumente rechtsgeschichtlich und rechtstheoretisch auf Gierke und Duguit zurückgehen, philosophisch auf dem Pragmatismus von James und seinem pluralistischen Weltbild beruhen, deren eigentlicher rechtswissenschaftlicher Wert in einer phänomenologisch richtigen Darstellung heutiger Staatlichkeit liegt (Studies in the problem of Sovereignity 1917; Authority in the Modern State 1919; Foundation of Sovereignty 1921; A Grammar of Politics 1925); zur Kritik: Carl Brinkmann, Recent Theories of Citizenship (Yale University Press 1927 S.65ff.; Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, ArchSozW. 58 (1927) 12 ff. (=Probleme der Demokratie, Heft 5 der Sammlung Politische Wissenschaft, Berlin-Grunewald 1928). 31 Nach der Theorie Kelsens müßte die Verfassung heute in der Sache ein Kompromiß, also Vertrag, sein, denn der Staat ist für Kelsen in der Sache ein fortwährender Kompromiß (Staatslehre S. 324, 355, 359) und die Verfassung mit dem Staate identisch. Aber das formalistische („normativistische") System Kelsens gibt jeden sachlichen Zusammenhang preis, es kann deshalb (theoretisch) jeder sachlichen Konsequenz entgehen und jeden Sachverhalt verschleiern. 32 Die Auflösung durdi den Vertrags- oder Kompromißgedanken könnte noch weitergehen und völkerrechtlich werden. Audi im Völkerrecht gelten ja gerade Streitigkeiten über die Auslegung eines Vertrages als justiziabel oder arbitrabel; vgl. z.B. Art. 58 des Haager Schiedsgerichtsabkommens von 1907; Art. 13 Abs. 2 der Völkerbundssatzung; Art. 36 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofes; Art. 2 des Deutsch-Schweizerischen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrages v. 3. Dez. 1921 (Strupp, Documents V S. 591) usw.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
77
Die Verfassung ist aber kein Vertrag u n d w i r d wenigstens theoretisch heute i m allgemeinen auch nicht mehr oder noch nicht so behandelt. D a m i t ändert sich auch jener klare Begriff der Verfassungsstreitigkeit. Wenn man die Verfassung m i t dem einzelnen Verfassungsgesetz verwechselt und Verfassung gleich Verfassungsgesetz behandelt, so k a n n die Verfassung nicht Gegenstand des Prozesses sein, weil ein Gesetz Grundlage der Prozeßentscheidung, nicht aber Gegenstand des Verfahrens ist 3 3 . Ein sog. Verfassungsgerichtshof w i r d infolgedessen entweder eine allgemeine Instanz für sog. Verfassungsbeschwerden, die jeder Staatsbürger oder jeder Interessent gegen einen staatlichen A k t vorbringen kann, oder eine Instanz zur Entscheidung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen. I m ersten Falle liegt eine allgemeine Kontrolle aller Staatstätigkeit vor, die verwaltungsgerichtlichen Charakter h a t 3 4 , i m zweiten Falle kann man i n der Sache nicht mehr von Gerichtsbarkeit sprechen, sondern nur noch von Gesetzgebung i n Form eines mehr oder weniger „justizförmigen" Verfahrens. Denn hier w i r d der Inhalt eines Gesetzes maßgebend festgestellt. Das ist Gesetzgebung, während die richterliche Entscheidung i n ihrem Inhalt durch den Inhalt der tatbestandsmäßigen, vorher bestimmten Regelung eines Gesetzes bestimmt wird. Eine Entscheidung über den Inhalt eines Gesetzes ist ihrem Sinn und Zweck nach offenbar eine andere A r t Entscheidung als die Entscheidung eines streitigen Anspruches auf G r u n d eines Gesetzes. Das streitige Gesetz kann nicht Grundlage der Entscheidung über seinen Inhalt sein. D i e richterliche Entscheidung setzt eine vom Gesetzgeber generell bereits getroffene Entscheidung voraus. Darauf allein beruht die eigenartige Sonderstellung des Richters i m bürgerlichen Rechtsstaat, seine O b j e k t i v i t ä t , seine Stellung über den Parteien, 33
Ohne begriffliche Präzision heißt es in den Leitsätzen Kelsens (Nr. V I a.a.O. S.450): „Den Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Judikatur hat zu bilden: vor allem die Gesetze und verfassungsunmittelbare Verordnungen usw." Vgl. auch R. Grau a.a.O. S. 291: „Bei einem Verfassungsgerichtshofe ist an ein Gericht gedadit, das in Fragen des Verfassungsrechtes als Treuhänder der Verfassung allgemein an Stelle anderer Gerichte zu entscheiden hat, und zwar wegen des sachlidien Gegenstandes der Rechtsfrage." 34 So mit Recht Nawiasky, Bayerisches Verfassungsrecht 1923 S. 457 zu der in § 93 der Bayerischen Verfassung eingeführten Beschwerde an den Staatsgerichtshof; ebenso W. Jellinek, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 2 S. 25. Zu der Verfassungsbeschwerde der Schweizerischen Bundesverfassung: Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 112,
78
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
seine Unabhängigkeit von dienstlichen Befehlen und Anweisungen, sein unpolitischer Charakter; denn die politische Entscheidung liegt i n der Entscheidung des Gesetzgebers und nicht der des Richters. Erst dadurch, daß eine generelle N o r m besteht, unter deren Tatbestände ein F a l l subsumiert werden kann, w i r d dieser F a l l „justiziabel". Der Streit u m den Inhalt der gesetzgeberischen Entscheidung ist aus demselben Grunde nicht justiziabel, nicht Sache der richterlichen Entscheidung, sondern der politischen Entscheidung des Gesetzgebers. Organisiert man hierfür ein justizförmiges Verfahren, so organisiert man i n Wahrheit eine gesetzgebende Instanz, welche die Funktionen eines Oberhauses oder einer zweiten bzw. ersten Kammer wahrnimmt. Darin, daß dieser „Gerichtshof" nur auf A n t r a g politischer Instanzen (Regierung, Reichstag) tätig w i r d , zeigt sich dann wieder der wesentlich politische Zweck und die i n der Beseitigung des allgemeinen richterlichen Prüfungsrechtes liegende „Negierung des Rechtsstaates" 35 . Eine solche Instanz ist eben nur insofern Gericht, als sie mit „unabhängigen Richtern" besetzt ist, die Richter sind (ganz formalistisch) nur deshalb Richter, w e i l sie „unabhängig" und „unabsetzbar" sind. Aber ganz ohne Bezug auf den sachlichen Inhalt der Tätigkeit lassen sich solche Einrichtungen nicht organisieren und diese A r t „Formalismus" führt, wie erwähnt, zu sinnlosen Konsequenzen. Denn auch der Monarch ist. unabhängig und unabsetzbar; auch der parlamentarische Abgeordnete für die Dauer seines A m t e s 3 6 usw. E i n solcher Formalismus k a n n nur dazu dienen, die sachliche Bedeutung der F u n k t i o n zu verdunkeln. Die Offenheit, m i t welcher die eingangs erwähnten Napoleonischen Verfassungen einen Senat, d. h. eine (der Natur der Sache nach konservative) zweite Kammer, m i t der Entscheidung des Streites über Verfassungswidrigkeiten betrauten, hat immerhin gewisse politische Vorzüge 3 7 . In: 35
Hugo Preuß a.a.O. Prot. S. 483 f. (über den „Bock als Gärtner"); sehr nachdrücklich mit treffender Kritik Morstein Marx a.a.O. S. 117 ff. 36 Über die Verschiedenheit von richterlicher und parlamentarischer Unabhängigkeit Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 274. 37 Eine solche Instanz ist ihrer Natur nach notwendigerweise Hüter des Status quo. Schon nach römischem Staatsrecht sollte die Bestätigung des Volksbeschlusses durch den Senat (die patrum auetoritas) zwar nicht dem rechtmäßig freien Belieben des Volkes Schranken setzen, aber Verletzungen der verfassungsmäßigen Ordnung und völkerrechtlicher Verpflichtungen hindern (Mommsen, Römisches Staatsrecht 3, 1041). Gneist nennt das Oberhaus (hier die erste Kammer) das „Organ zum Schutze der bestehenden Rechtsordnung" usw. Vgl. Verfassungslehre S. 293.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
79
übrigen ist es, wie erwähnt, eine praktisch-politische Frage, wie weit man hier die echte Justiz einer politischen Belastung aussetzen w i l l 3 8 . Die meisten Vorschläge, die m i t großer Selbstverständlichkeit einen Gerichtshof zur Entscheidung solcher Fragen fordern, verkennen den untrennbaren Zusammenhang von richterlicher Unabhängigkeit und richterlicher Bindung an eine generelle, tatbestandsmäßige, Subsumtionen ermöglichende Norm. Sie verkennen aber auch die Eigenart der Entscheidung als solcher, das „dezisionistische" Element jeder Entscheidung, das nicht normativ abzuleiten ist. Dieser „Dezisionismus" gilt am klarsten für politische (im Gegensatz zu richterlichen) Entscheidungen. Es ist offenbar unmöglich, den Inhalt politischer Gestaltungsakte wie Gesetzgebung oder Regierung aus dem Inhalt der verfassungsgesetzlichen Bestimmungen abzuleiten, welche Gesetzgebung und Regierung „regeln". Dagegen w i r d der I n h a l t der richterlichen Entscheidung aus dem Inhalt des Gesetzes abgeleitet und kommt durch tatbestandsmäßige Subsumtion zustande. Der Strafrichter, der einen Menschen wegen Diebstahls zu Gefängnis verurteilt, subsumiert unter die Tatbestände einer strafrechtlichen Regelung, der Zivilrichter unter die Tatbestände einer zivilrechtlichen Norm und leitet daraus seine Entscheidung inhaltlich ab. Der Reichskanzler dagegen, der die Richtlinien der P o l i t i k bestimmt, gewinnt nicht den Inhalt seiner politischen Entschlüsse durch eine Subsumtion unter A r t . 56 RVerf. („der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der P o l i t i k " ) ; ebensowenig subsumiert der Reichstag, wenn er ein Gesetz beschließt, unter A r t . 68 RVerf. („die Reichsgesetze werden vom Reichstag beschlossen"). Die Verschiedenheit ist für die Frage des sogenannten Verfassungsgerichtshofes deshalb von Bedeutung, weil die Entscheidung, welche 38 Schon die Ausübung des richterlichen Prüfungsrechtes durch den Höchsten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika (also nicht einmal eine eigene organisierte Zuständigkeit zur Entscheidung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt verfassungsgesetzlicher Bestimmungen) hat dazu geführt, daß man den Gerichtshof als zweite Kammer bezeichnete, von „richterlichem Veto", „richterlidier Zensurgewalt" und „government of judges" spradi; vgl. die interessanten Nachweise bei Lambert, Le gouvernement des juges, Paris 1921, S. 21 f. Über den österreichischen Verfassungsgerichtshof die Äußerung von Ch. Eisenmann a.a.O. S. 216: „la justice constitutionnelle fait apparaitre plus nettement que toute autre le pouvoir createur . . . de la Jurisprudence; la Cour, en realite, complete, determine la Constitution plus qu elle ne Tapplique — au sens que Ton attache generalement ä ce mot: eile de ,dit* pas le droit, elle le fait." Diese richtige Erkenntnis wird infolge des theoretischen Normativismus und Formalismus leider nicht fruchtbar.
80
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
den Zweifel über den I n h a l t einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung beseitigt, nicht aus dem zweifelhaften Inhalt abgeleitet werden kann. Sie ist daher ihrem Wesen nach nicht mehr richterliche Entscheidung. Liegt w i r k l i c h ein ernsthafter Zweifel über den I n h a l t der Norm vor, so läßt er sich nicht unter Hinweis auf die Norm erledigen 3 9 , vielmehr entsteht eine einfache u n d einleuchtende Alternative: entweder liegt ein offenbarer Widerspruch gegen verfassungsgesetzliche Bestimmungen, also eine VerfassungsVerletzung vor: dann Es ist deshalb nichts damit gewonnen, die Verfassung (unter Verwechslung von Verfassung und verfassungsgesetzlicher Einzelbestimmung) als die Spitze einer „Hierarchie von Normen" hinzustellen und darauf eine Verfassungsgerichtsbarkeit aufzubauen, wie das in den Ausführungen Kelsens über Verfassungsgerichtsbarkeit geschieht und auch von Eisenmann in seiner eingangs erwähnten Abhandlung übernommen ist. Wenn es Normen gibt, die anderen Normen im Kollisionsfalle vorgehen und man insofern von „höheren" und „niederen" Normen sprechen kann, ist das noch keine allgemeine „Hierarchie der Normen" und keine Grundlage für eine Justizförmigkeit von Gesetzgebungsakten. Ein Richter kann gelegentlich eines Prozesses einer Norm die Anwendung versagen, aber nur weil eine andere ihn bindende Norm, unter deren Tatbestände er den streitigen Fall subsumiert, vorgeht. Darauf beruht die Ausübung des richterlichen Prüfungsredites (Verfassungsgesetz als höhere Norm gegenüber einfachem Gesetz; Reichsgesetz höhere Norm gegenüber Landesgesetz). Daraufhin eine Hierarchie der Normen oder gar eine Justiz der Normen als solche gegeneinander anzunehmen, wäre nur mit fiktiven Personifikationen möglich. In Wahrheit gibt es nur eine Hierarchie von konkret existierenden Wesen oder Instanzen. Die Hierarchie der Normen ist, soweit man davon sprechen kann, eine Hierarchie der Normengeber. Der Rechtsstaat beruht aber darauf, daß der Richter dem Gesetz und nicht dem Gesetzgeber unterworfen ist; richterliche Unabhängigkeit und richterliche Bindung an das Gesetz sind sofort beseitigt und das rechtsstaatliche System der Gewaltenunterscheidung zertrümmert, wenn der Normengeber hierarchisch der Vorgesetzte des Richters wird. Soweit echte Normativität herrscht, im Bereiche einer unabhängigen, an generelle tatbestandsmäßige Normen gebundenen Justiz, gibt es daher keine Hierarchie und die höhere richterliche Instanz ist eben nicht der Vorgesetzte der unteren Instanz. Echte Normativität schließt die Hierarchie aus. Nur in phantasievoller Allegorie, nicht im Ernst könnte man sagen, daß die höhere Norm über die niedere zu Gericht sitzt und ihr den Prozeß macht. Eine durchgängige Normativität besteht in keinem Staate, solange Gesetzgebung, Regierung und Justiz unterschieden werden. Bindung an die Norm, Konkretisierung der Norm, „Ermächtigung", „Normgemäßheit" usw. sind auf den verschiedenen Gebieten so verschieden, daß nur mit Hilfe fortwährender Verwechslung eine in der Verfassungsgerichtsbarkeit gipfelnde Gerichtsbarkeit der Normen erdacht werden kann. Die Mahnung Otto Mayers (Verwaltungsrecht I 3. Aufl. S. 84 Anm. 5) hat keine Beachtung gefunden und sei deshalb hier wiederholt: „Unvorsichtiges Umgehen mit der Bezeichnung Norm, die man bald für Rechtssatz, bald für rechtliche Bestimmung des Einzelfalles gebraucht, richtet hier Verwirrung an. Manchmal scheint man auch absichtlich die Sache damit im unklaren zu lassen."
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
81
übt der Gerichtshof, der diese Verletzung i n aller Form ausdrücklich feststellt, i n Wahrheit eine vindikative Justiz nach A r t einer Strafjustiz; oder der Zweifel über den I n h a l t einer Norm ist so begründet und die Norm an sich so unklar, daß von einer Verletzung auch dann nicht gesprochen werden kann, wenn das Gericht anderer Auffassung ist als der Gesetzgeber, dessen Gesetz m i t dem zweifelhaften Verfassungsgesetz i n Widerspruch steht. D a n n w i r d es k l a r , daß der Gerichtshof, indem er einen zweifelhaften I n h a l t m i t Gesetzeskraft außer Zweifel stellt, selber als Gesetzgeber fungiert. Die spezifische Bedeutung der Entscheidung als solcher ist immer, selbst bei einem nur akzessorisch Stellung nehmenden ordentlichen Gericht, erkennbar, und wenn man sich die Mühe gibt, einmal i n der Geschichte des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Warren nachzulesen, welche schwankenden Argumentationen und starken Minderheiten überstimmter und dissentierender Richter bei politisch wichtigen Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vorkommen 4 0 , w i r d man nicht mehr des naiven Glaubens sein, die Beweisführung einer solchen Entscheidung hätte den Sinn, eine bisher zweifelhafte Verfassungswidrigkeit i n eine nunmehr aller Welt einleuchtende zu verwandeln. Der Sinn ist nicht überwältigende Argumentation, sondern eben Entscheidung durch autoritäre Beseitigung des Zweifels. Der Richter ist kein Gutachter und die Verbindung gutachtlicher Tätigkeit mit richterlicher Tätigkeit enthält eine unklare Vermischung, w e i l die Gutachtertätigkeit, solange das Gutachten unverbindlich ist, i n der Sache nicht richterliche, sondern Verwaltungstätigkeit bedeutet; ist das Gutachten aber verbindlich, so ist es Entscheidung und nicht mehr wesentlich Gutachten 4 1 . Das autoritäre, über den Dezisionismus jeder gerichtlichen Entscheidung weit hinausgehende Element w i r d man aus der Tätigkeit eines solchen Gerichtshofes nicht ausscheiden können, ohne ihm Sinn 40
Charles Warren, the Supreme Court in United States history, Boston 1924, z.B. I I I S.22 ff. (Dred Scott Case), S.244 (Legal Tender Cases). 41 A. Bertram am Schlüsse seines oben (Anm. 21) erwähnten Aufsatzes: „Die Begutachtung ist kein Bestandteil richterlicher Tätigkeit, sie ist Verwaltungstätigkeit, und darin muß sie sich (sc. wegen § 4 des Einführ ungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz) auf das beschränken, was den Gerichten übertragen werden kann, auf Geschäfte der Justizverwaltung." — Es ist in diesem Zusammenhang besonders beachtenswert, daß der Höchste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Anträge des Kongresses, Gutachten zu erstatten, abgelehnt hat, weil er nur bei Vorliegen eines real „case" or „controversy " tätig wird (Warren 1 S. 52, 108 ff.; Charles Evans Hughes, The Supreme Court of the United States, New York 1928 S.31). 6
Carl Schmitt
82
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
und praktischen Wert zu nehmen. Für eine Verfassung von der A r t der Weimarer Verfassung ist das noch aus einem besonderen Grunde von unmittelbarer praktischer Bedeutung und unabsehbaren Folgen. Der zweite H a u p t teil der Reichs Verfassung (auf den sich doch die meisten und wichtigsten Zweifel und Meinungsverschiedenheiten beziehen) enthält i n der bunten Mannigfaltigkeit seiner grundsätzlichen und verfassungsgesetzlichen Einzelbestimmungen vielfach überhaupt keine Entscheidung, auch keine Kompromißentscheidung, sondern nur mehrdeutige Formeln, durch welche die Entscheidung hinausgeschoben und verschiedenartigen, oft sogar widersprechenden Gesichtspunkten Rechnung getragen werden soll. Die Kompromißregelung in der Kirchen- und Schulfrage enthält hierfür einleuchtende Beispiele. Bei solchen „dilatorischen Formelkompromissen" 4 2 enthält die Entscheidung über „Zweifel und Meinungsverschiedenheiten" i n Wahrheit überhaupt erst die sachliche Entscheidung. Eine Instanz, die i m Sommer 1927 über die Verfassungsmäßigkeit des damaligen, lebhaft umstrittenen Reichsschulgesetzentwurfes entschieden hätte, würde dem A r t . 146 RVerf. erst seinen I n h a l t gegeben und die Schulfrage maßgebend entschieden haben. Wenn hier ein Gerichtshof entscheidet, ist er offenbar Gesetzgeber i n hochpolitischer Funktion. Noch mehr als i n anderen Fällen zeigt sich angesichts dieser Eigenart des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung, wie sehr die Bedenken Richard Thomas berechtigt sind, wenn er eine „Überhöhung des Staatsgerichtshofes über den Gesetzgeber" für weder „reasonable" noch einem staatspolitischen Bedürfnis entsprechend hält; denn es handelt sich darum, „aus der Diskussion ohne allzu große juristische Erschwerung zur Dezision zu gelangen, über deren Vernünftigkeit und Gerechtigkeit man immer streiten kann, und die dem Gesetzgeber zu überlassen, dem Richter zu nehmen, eine der artbestimmenden Tendenzen des modernen Staates i s t " 4 3 . Solche Erwägungen treffen aber nur einen besonderen, Zweifel und Meinungsverschiedenheiten über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen entscheidenden, sog. Verfassungsgerichtshof, nicht das bloß akzessorische richterliche Prüfungsrecht, das, streng i n den Grenzen einer bürgerlichen, strafrichterlichen oder verwaltungsrichterlichcn 4 4 42
Verfassungslehre S. 31 f. Grundrechte und Polizeigewalt S. 223; die Stellungnahme Thomas auf dem Staatsrechtslehrertag in Wien 1928 ist, wenigstens nach dem bisher vorliegenden Bericht von Lutz Richter nicht ebenso klar. 44 Der Höchste Geriditshof der Vereinigten Staaten lehnt in seiner stren43
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
Prozeßeiitscheidung verbleibend, entweder rein defensiv die eigene verfassungsmäßige Sphäre wahrt (durch Prüfung der ordentlichen Verkündung eines Gesetzes 45 , Abwehr von unzulässigen Einzelbefehlen und von Entziehungen des gesetzlichen Richters), oder aber zum Zwecke der sachlichen Prozeßentscheidung sich nur i n der Weise ergibt, daß es aus der unmittelbaren Bindung des Richters an den tatbestandsmäßigen Inhalt einer generellen Norm i m Falle einer Kollision materieller Normen hervorgeht. Was jene defensive Prüfung angeht, so ist jede öffentliche Behörde m i t der Kompetenz versehen, die Voraussetzungen ihrer Tätigkeit zu prüfen, und nicht nur eine verfassungswidrige Tätigkeit zu unterlassen, sondern auch die ihr obliegende Tätigkeit vorzunehmen 4 6 . Daraus ergibt sich schon eine allgemeine behördliche Prüfungspflicht. Aber schließlich hat auch jeder Staatsbürger ein Prüfungsrecht u n d eine Prüfungspflicht und sind w i r alle Hüter der Verfassung. I n dieser Bedeutung hatte der eingangs erwähnte A p p e l l , den die französische Verfassung von 1791 zu ihrem Schutze an alle Staatsbürger richtete, doch einen guten Sinn. Zum Unterschiede von diesen allgemeinen Arten der Prüfung, zum Unterschiede ferner von der Korrektur innerhalb der Justiz (Revision, Justizaufsicht, Kassation u. a.) handelt es sich hier um die Stellung der Justiz gegenüber dem Gesetzgeber und das Verhältnis zweier unterschiedlicher Gewalten. Hier enthält das akzessorische richterliche Prüfungsrecht die Besonderheit, daß es sich i m Rahmen der — auf der Gesetzesunterworfenheit beruhenden — richterlichen Unabhängigkeit bewegt. N u r aus der eigenartigen Vereinigung von Unabhängigkeit und Bindung erklärt sich diese Besonderheit. Die Gerichte sind zwar staatliche Instanzen, aber, infolge ihrer unmittelbaren Bindung an das Gesetz als generelle Norm, aus der Hierarchie gen Beschränkung auf die „strictly judicial function" auch jede verwaltungsgerichtliche Tätigkeit ab (Hughes a.a.O. S. 32). 45 „Unstreitig ist und war immer, daß der Richter zu prüfen hat: 1. ob ein von ihm anzuwendendes Gesetz ordnungsmäßig verkündet ist44 (Anschütz a.a.O. S. 217). 46 Wenn der 3. Zivilsenat in einem Beschlüsse v. 25. Januar 1924 (RG. 107, 319) sagt: Art. 105 RVerf. i. V. m. Art. 103 belaste „die Gerichte mit der Verantwortlichkeit, darüber zu wachen, daß die Gerichtsbarkeit in allen den Fällen ausgeübt wird, in denen sie nach den Gesetzen Platz greifen soll44, so muß das dem Sinne nach für alle Verfassungsbestimmungen und für alle Behörden gelten; es ist so allgemein, daß es gegenüber Art. 105 RVerf. nicht durchschlägt, vgl. den folgenden Plenarbeschluß v. 22. Febr. 1924 a.a.O. S. 323, nach welchem Art. 103 u. 105 nichts über den Umfang der von deö Gerichten auszuübenden Gerichtsbarkeit besagen. *
84
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
der staatlichen Behördenorganisation herausgenommen und i n Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit an Anweisungen von Vorgesetzten nicht gebunden. Darauf beruht die Überlegenheit einer richterlichen Prüfung; daraus ergeben sich aber auch die engen Grenzen, i n denen dieses Prüfungsrecht sich bewegt, wenn es nicht seine eigene Grundlage — den untrennbaren Zusammenhang von richterlicher Unabhängigkeit und gesetzlicher Bindung — zerstören w i l l . Man kann nicht die Vorzüge des richterlichen Prüfungsrechtes wahren und jene Grenzen mißachten. Verläßt der Richter das Gebiet, auf welchem eine tatbestandsmäßige Subsumtion unter generelle Normen und infolgedessen eine Bindung an das Gesetz möglich ist, so ist er nicht mehr unabhängiger Richter i m Sinne des bürgerlichen Rechtsstaates und kein Schein von Justizförmigkeit kann diese Folgerung abwenden 4 7 . I n der (unter 4 näher zu erörternden) Begründung des reichsgerichtlichen Urteils vom 4. November 1925 w i r d das richterliche Prüfungsrecht mit folgendem Satz begründet: „ D a die Reichs Verfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes dem Richter entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht 47
Die Freirechtsbewegung hat die verfassungsrechtlichen Zusammenhänge von Unabhängigkeit und Bindung vielfach verkannt, trotz des Hinweises von Radbruch, ArchSozW. N. F. 4 (1906), 355 ff. (über den „Notstand" des Richters beim Verbot der Justiz Verweigerung). Sehr treffend die Ausführungen von E.Kaufmann auf dem Staatsrechtslehrertag 1926 (Veröffentlichungen Heft 3 S. 19): der Richter muß sidi im Rahmen seiner spezifischen richterlichen Aufgabe halten, er darf die zwischen Richter und Gesetzgeber obwaltende Ordnung nicht umstoßen, nicht spezifisch gesetzgeberische Aufgaben an sich reißen, er darf nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen rügen. Trotz aller „Freiheit" der richterlichen „Schöpfer"tätigkeit, trotz der Weite seines Ermessens und mancher unbestimmten Begriffe bleibt es, solange am bürgerlichen Rechtsstaate festgehalten wird, bei dieser „Bindung an das Gesetz". „Ganz frei halt sich die Justiz von der Rechtsetzung" (W. Jellinek, Verwaltungsrecht 1928 S. 10). „Die Ausfüllung von Gesetzeslücken durch Interessenabwägung hat immer in erster Linie auszugehen von der Interessenwertung, die vom Gesetz selbst in erkennbarer Weise vollzogen worden ist" (Triepel, Streitigkeiten S. 52). Über die Grenzen des richterlichen Ermessens hinsichtlich der Gestaltung neuen Rechtes sehr gut Juncker, 3. Aufl. des Steinschen Grundrisses des Zivilprozeßrechtes, 1928 S. 23/24; darüber, daß es nicht „pflichtmäßiges", sondern nur „gesetzmäßiges" Ermessen gibt: Scheuner, Nachprüfung des Ermessens durch die Gerichte, VerwArch. 33 (1928), 77 (für die Justiz ist das zweifellos richtig; im übrigen bleibt die Problematik der Verschiedenheit zwischen Bestimmungen, die zum „freien" Handeln „ermächtigen" und echten Normen, d. h. solchen, die eine tatbestandsmäßige Subsumtion ermöglichen, sei es auch nur durch Weiterverweisung an Normen wie „Treu und Glauben", Verkehrsüblichkeit usw.).
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
85
und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen, anerkannt werden." Diese Schlußfolgerung ist nicht ohne weiteres zwingend. Der Satz stellt zwei Dinge gleich, innerhalb deren unterschieden werden muß: 1. die Prüfung und 2. die Aberkennung der Gültigkeit. Es kann ein Prüfungsrecht bestehen ohne die weitere Befugnis, bei negativem Ergebnis den der Prüfung unterworfenen Staatsakt als ungültig zu behandeln. Welche Befugnisse dem Prüfungsberechtigten zukommen, ist eine durchaus selbständige Frage für sich. Man kann auch nicht sagen, es entspreche einem allgemeinen Satze des öffentlichen Rechtes, daß jedes Ressort die A k t e eines anderen Ressorts, die es für fehlerhaft hält, einfach als ungültig behandeln kann. Innerhalb der i m Wege der Prüfung festgestellten Fehlerhaftigkeit kann es verschiedene Grade geben und innerhalb der Folgen und Wirkungen bestehen wieder große Unterschiede: bloße Feststellung, Rüge, Anfechtbarkeit, das Recht, die Aufhebung zu verlangen, das Recht, nochmalige Beschlußfassung zu fordern, absolute Nichtigkeit usw. Jedenfalls ist unter diesen möglichen Folgen der Fehlerhaftigkeit die Nichtigkeit eines fehlerhaften Staatsaktes, wie W. Jellinek mit Recht hervorgehoben hat, durchaus die Ausnahme und eine nur seltene Folge der Fehlerhaftigkeit 4 8 . Aber auch i n sich selbst ist jener Satz der Beweisführung des Urteils vom 4. November 1925 i n seiner abstrakten Allgemeinheit nicht schlüssig und bedarf einer ergänzenden Beweisführung verfassungsrechtlicher A r t . Daraus allein, daß die Reichs Verfassung dem Richter die Prüfung nicht ausdrücklich entzieht, folgt keineswegs, daß sie i h m zusteht. I n einer solchen Beweisführung ist das selbständige Problem der Entscheidung umgangen. Selbst wenn ein zweifellos verfassungsgesetzwidriges, einfaches Gesetz vom Richter als ungültig behandelt werden darf, folgt daraus nichts für die ganz andere Frage, wer i m Zweifelsfallc zuständig ist, über die Verfassungswidrigkeit zu entscheiden. Daß ein einfaches Reichsgesetz offenkundig und zweifellos verfassungsgesetzwidrig ist, w i r d in Deutschland k a u m vorkommen. Aber auch wenn es einmal vorkommen sollte, und wenn allgemein anerkannt w i r d , daß der Richter ein solches Gesetz als ungültig behandeln muß, ist damit für die Zweifelsfälle nichts bewiesen. Die Frage, wer den Zweifel entscheidet. 48
Der fehlerhafte Staatsakt, Tübingen 1908; Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913, S. 238 ff.; Verwaltungsrecht, 1928, S. 254 f.; ferner mit besonderem Bezug auf die Frage des richterlichen Prü • fungsrechtes: DJZ. 1921 Sp. 754.
86
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
ist nicht damit beantwortet, daß man auf die Ungültigkeit zweifellos verfassungsgesetzwidriger Gesetze verweist. Die Frage, wer zuständig ist, solche Zweifel zu entscheiden, betrifft überhaupt nicht die W i r k u n g der Verfassungswidrigkeit, sondern nur die oben behandelte, eigenartige, zum Gebiet der Gesetzgebung gehörende Entscheidungsbefugnis. Daraus allein, daß keine verfassungsgesetzliche Bestimmung dem Richter die Prüfung verbietet, läßt sich sein Prüfungsrecht nicht beweisen. Bis hierhin müßte man R. Thoma zustimmen, der i n seinem Bericht für den Staatsrechtslehrertag 1922 zu dem Ergebnis kommt: „Beim Schweigen der Gesetze gibt es keine logisch-juristische Nötigung weder zur Bejahung noch zur Verneinung der Uberprüfbarkeit formgerecht kundgemachter Gesetze 49 ." Eine logisch-juristische Beweisführung ergibt sich auch nicht daraus, daß man zwischen dem (angeblich allmächtigen und schrankenlosen) verfassungsändernden Gesetzgeber und dem (an die Verfassung gebundenen) einfachen Gesetzgeber unterscheidet und, wie das bisher leider meistens geschieht, den für die Revision verfassungsgesetzlicher Bestimmungen zuständigen sog. verfassungsändernden Gesetzgeber m i t dem Träger der verfassunggebenden Gewalt verwechselt 5 0 ; in Wahrheit haben alle verfassungsmäßigen gesetzgebenden Instanzen, auch die für die Verfassungsänderung zuständigen Stellen, nur verfassungsmäßige Befugnisse und sind sie als Gesetzgebungsinstanzen hinsichtlich ihrer staatlichen F u n k t i o n von der Justiz unterschieden. E i n Beweis für das richterliche Prüfungsrecht ergibt sich vielmehr aus der Eigenart einer bürgerlich-rechtstaatlichen Verfassung m i t ihrer materiellen Unterscheidung von Gesetzgebung und Justiz. Es ist durchaus richtig, was 49
A.a.O. S. 285, ihm zustimmend z.B. Morstein Marx a.a.O. S. 1 f.; Geiler, D JZ. 1923 Sp. 263. Dagegen entspricht die Beweisführung des Reichsgerichtes ganz dem Satze von Hugo Preuß: „Das richterliche Prüfungsrecht existiert unbedingt dort, wo es nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist", Prot. S. 483. Ein wichtiger Hinweis auf eine spezifisch verfassungsrechtliche Argumentation bei Smend a.a.O. S. 152. 60 Aus der Verschiedenheit (oder Niditverschiedenheit) von einfachem und verfassungsänderndem Gesetzgeber sucht W. Jellinek eine juristische Beweisführung für oder gegen das richterliche Prüfungsrecht abzuleiten (DJZ. 1921 Sp. 743 bis 754); auch der Aufsatz von Carre de Malberg, La constitutionnalite des lois et la Constitution de 1875, Revue politique et parlementaire, CXXXII (Sept. 1927) S. 339 f., dessen Gedankengang darauf beruht, daß es die gesetzgebenden Körperschaften sind, die nach Art. 8 Abs. 1 des Verfassungsgesetzes v. 25. Febr. 1875 allein darüber entscheiden, was eine Verfassungsänderung ist. Über die Unterscheidung von verfassunggebender Gewalt und Revisionsbefugnis: C. Schmitt, Verfassungslehre S. 77, 102 f.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
87
A r t . 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sagt: daß es ohne diese Gewaltenunterscheidung überhaupt keine Verfassung, nämlich keine bürgerlich-rechtstaatliche Verfassung gibt. Die Weimarer Verfassung w i l l eine Verfassung i m Sinne dieses bürgerlichen Rechtsstaates sein. Das gehört zu den grundlegenden politischen Entscheidungen, die ihre Substanz ausmachen. Infolgedessen hat die Justiz ihre eigene verfassungsmäßige Sphäre, gleichgültig, ob darüber ausdrückliche verfassungsgesetzliche Bestimmungen wie A r t . 102 RVerf. („Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen") oder A r t . 105 („Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden") i m Texte der Verfassungsurkunde stehen oder nicht. Die Wahrung der eigenen verfassungsmäßigen Sphäre mit den spezifischen M i t t e l n dieser Sphäre gehört zu den verfassungsmäßigen Befugnissen jeder verfassungsmäßigen Gewalt. I m Rahmen der Rechtsprechung besteht infolgedessen eine doppelte Möglichkeit: 1. Verfassungswidrige Eingriffe der gesetzgebenden Stellen abzuwehren und die Sphäre der unabhängigen Justiz gegen Kabinettsjustiz des Gesetzgebers, Entziehung des gesetzlichen Richters, Ausnahmegerichte usw. zu verteidigen; u n d 2. i m Rahmen der Zulässigkeit des Rechtsweges bei Entscheidung eines bestimmten „Falles" die Interessen, die durch verfassungsgesetzliche Garantien den Schutz erhöhter Gesetzeskraft gefunden haben, dadurch gegenüber dem einfachen Gesetz zu schützen, daß der F a l l unter die verfassungsgesetzliche Norm (nicht clas einfache Gesetz) subsumiert w i r d . Das erste ist ein rein defensiver Selbstschutz der Justiz; die Gerichte sind hier Hüter, zwar nicht der Verfassung i m ganzen, wohl aber eines wichtigen Teiles jeder rechtsstaatlichen Verfassung, nämlich der unabhängigen Justiz i m rechtsstaatlichen Sinne. Das zweite ist nicht Schutz und H ü t u n g der Verfassung oder auch nur eines Verfassungsgesetzes; Gegenstand des prozessualen Schutzes bleibt das Interesse der prozeßführenden Partei und der Richter fungiert nur i m Rahmen der tatbestandsmäßigen Subsumierung unter das i h n bindende Gesetz. Der Richter hat hier durchaus nicht die spezielle Aufgabe, Hüter der verfassungsgesetzlich mit erhöhtem Schutz ausgestatteten Interessen zu sein. Diese Schutzwirkung ist nur ein Akzessorium; die Nichtanwendung des einfachen Gesetzes bleibt i m Rahmen der tatbestandsmäßigen Subsumierung unter ein anderes, vorgehendes Gesetz. Der Richter hat i n dieser Hinsicht keineswegs die besondere Aufgabe, den Gesetzgeber zu kontrollieren, sondern befindet sich i n gewissem Sinne i n einem „Notstände": er darf die Prozeßentschei-
88
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
dung nicht wegen Unklarheit oder Fehlerhaftigkeit eines Gesetzes ablehnen, u n d bleibt doch an ein Gesetz gebunden und diesem unterworfen; er sucht die „höhere N o r m " aus den Notwendigkeiten seiner Bindung an eine Norm, nicht aus einer Überlegenheit 51 . Bei der Ausübung dieses richterlichen Prüfungsrechtes ist daher auch immer davon auszugehen, daß i m Zweifelsfalle die Vermutung für die Gültigkeit des Gesetzes spricht, daß der Gesetzgeber und nicht der Richter die politische Entscheidung zu treffen hat und die Sphäre der Gesetzgebung unbedingt respektiert werden m u ß 5 2 . Sowohl jene nur defensive Wahrung der Kompetenzsphäre einer unabhängigen Justiz, wie auch diese nur hemmende, nur tatbestandsmäßig subsumierende Nichtanwendung eines einfachen Gesetzes bewegen sich also i n einem engen Rahmen. Das richterliche Prüfungsrecht bleibt i n beiden Fällen akzessorisch; seine W i r k u n g ist grund61 Besonders treffend daher die Ausdruckweise der Gründe des Urteils v. 4. Nov. 1925 (RG. 111, 322 bis 333): die Verfassungsbestimmungen bleiben verbindlich und nötigen den Richter, die widersprechenden Bestimmungen des späteren Gesetzes außer Anwendung zu lassen. 62 Die Praxis des Höchsten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika ist sich dieses verfassungsrechtlichen Zusammenhanges bewußt, in ihrer strengen Selbstbeschränkung auf die Entscheidung von bestimmten, streitigen Fällen (contested cases and controversies), Ablehnung von Gutachten und von verwaltungsgerichtlicher Tätigkeit, Ablehnung jeder poli tischen und gesetzgeberischen Stellungnahme. Chief Justice Taney sagt mit Recht, daß jede Expansion der Justiz über ihr eigentliches Gebiet die in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte Ordnung in Anarchie verwandeln würde (Luther v. Borden, 7 How. 1, in einem Fall, von dem Warren I I S. 460 sagt, der Gerichtshof habe niemals eine Sache entschieden, in welcher die Möglichkeit politischer Gegensätze größer war, und trotzdem habe er sein Urteil mit nur einer dissentierenden Stimme, gegen den Standpunkt der politischen Partei abgegeben, aus deren Reihen die meisten Richter ernannt waren). — Für den Satz, daß im Zweifel die Vermutung für die Gültigkeit des Gesetzes spricht, vgl. die Ausführungen von Chief Justice Marshall (Fletcher v. Peck, 6 Cranch, 87): die Frage, ob ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit nichtig ist, ist immer eine sehr delikate Frage, die selten, wenn überhaupt, im Zweifel bejaht werden darf (a question of much delicacy, which ought seldom, if ever, to be decided in the offirmative in a doubtful case) . . . Der Widerspruch von Verfassung und Gesetz muß derartig sein, daß der Richter die klare und strenge Überzeugung der Unvereinbarkeit des einen mit dem anderen hat (the opposition between the constitution and the law should be such that the judge feels a clear and strong conviction of their incompatibility with each other); ferner die berühmte Entscheidung McCulloch v. Maryland (4 Wheat, 316), wo Chief Justice Marshall sagt (nachdem er auf den großen Spielraum einer verfassungsmäßigen Gesetzgebung hingewiesen hat), es würde über die Grenzen der Justiz hinausgehen, den Grad der Notwendigkeit gesetzgeberischer Entschlüsse zu untersuchen; das wäre schon Gesetzgebung. „This court disclaimes all pretensions to such a power."
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
89
sätzlich auf die Entscheidung eines vorliegenden Rechtsstreites beschränkt; die Stellungnahme zur Anwendung oder Nichtanwendung des einfachen Gesetzes ist keiner Rechtskraft fähig. D a r i n liegt eine große Schwäche, die man in K a u f nehmen muß. Die W i r k u n g der richterlichen Entscheidung geht nur insofern über die einzelne Prozeßentscheidung hinaus, als eine präjudizielle (genauer; nur Präzedenzwirkung) eintritt. Das aber läßt sich nicht mit befehlsmäßiger Bindung erreichen. Immer bleiben widersprechende Entscheidungen nicht nur anderer höchster Instanzen, sondern auch unterer Gerichte, die sich der PräzedenzWirkung nicht fügen, möglich, ebenso k a n n der Höchste Gerichtshof in einem späteren Falle seine Stellungnahme ändern. Also eine Fülle von Besonderheiten, welche dem Bedürfnisse nach einer inechanisch-zentralistischen W i r k u n g und Berechenbarkeit widersprechen und dazu geführt haben, daß man einen mit Gesetzesk r a f t bindend entscheidenden Gerichtshof, d. h. eine gesetzgeberische Instanz forderte. D a m i t wäre aber die Sphäre der Justiz bereits wieder verlassen. I n normalen Zeiten w i r d jene präzedenzielle W i r kung sich von selbst durchsetzen. Was vom Standpunkt eines kommandomäßigen Funktionierens als Schwäche erscheint, ist dann ein Vorzug und die eigentliche Überlegenheit. I n kritischen und bewegten Zeiten soll die Justiz nicht den Versuch machen, soziale und politische K o n f l i k t e zu entscheiden. Hier versagt auch die W i r k u n g des richterlichen Prüfungsrechts. Gerade die Geschichte des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten enthält hier warnende Beispiele 5 3 . Es ist besser, die Grenze zu respektieren, die sich innerhalb eines bürgerlichen Rechtsstaates aus der Natur der Sache für eine unabhängige Justiz ergibt, als i m Interesse einer rohen Promptheit den eigenartigen Wert einer bloßen Präzedenzwirkung preiszugeben. Mehr als ein nur akzessorisches, nur tatbes tan cismäßig subsumierendes richterliches Prüfungsrecht hat das Reichsgericht i n der Entscheidung vom 4. November 1925 nicht i n Anspruch genommen. 4. I n welchem Umfange das Reichsgericht ein richterliches Prüfungsrecht i n Anspruch nimmt, läßt sich nur aus der Beweisführung seiner Entscheidungsgründe erkennen. Die Entscheidung vom 4. No53
Aus der Zeit des Kampfes um die Abschaffung der Sklaverei ist hier der Dred Scott Fall zu erwähnen, aus der Zeit der Geldentwertung infolge der Währungsgesetze des Sezessionskringes die Legal Tender Cases (vgl. oben Anm. 40).
90
Das Reichsgericht als H t e r der Verfassung (1929)
vember 1925 enthält die Beweisführung i n wenigen Sätzen, von denen hier (für die Frage nach dem Umfange des i n Anspruch genommenen Prüfungsrechtes) drei besonders betrachtet werden sollen. Angesichts der alten und schwierigen, mit einem Aufgebot von Scharfsinn und Argumentationen behandelten Streitfrage könnte das auffällig kurz und summarisch erscheinen. Aber die drei Sätze sind sehr prägnant; sie ermöglichen eine klare Auseinandersetzung und zeigen vor allem die — sehr engen — Grenzen, innerhalb deren das Prüfungsrecht bejaht w i r d 5 4 . Erster Satz: Daß der Richter dem Gesetz unterworfen ist (Art. 102 RVerf.), „schließt nicht aus, daß einem Reichsgesetz oder einzelnen seiner Bestimmungen vom Richter die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen, vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihnen vorgehen, i n Widerspruch stehen". D a m i t ist, um es in einem kurzen Schlagwort zu kennzeichnen, das Prinzip der tatbestandsmäßigen Subsumtion ausgesprochen: es gibt verfassungsgesetzliche Bestimmungen, unter deren tatbestandsmäßige Regelung der zur Prozeßentscheidung stehende F a l l subsumiert werden kann. Diese verfassungsgesetzliche Regelung geht der einfachen reichsgesetzlichen gleichen Tatbestandes vor. N u r diese Subsumtion unter den Tatbestand des vorgehenden Gesetzes ermöglicht es dem Richter, dem einfachen Reichsgesetz (nicht die Gültigkeit abzuerkennen, sondern) die Anwendung zu versagen, genauer: statt unter dessen Tatbestände unter diejenigen des vorgehenden Gesetzes zu subsumieren und dadurch den Prozeß zu entscheiden. Das ist nicht 54
Zum Vergleich seien hier die entsprechenden Sätze der berühmten grundlegenden Entscheidung des Höchsten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten Marbury v. Madison (1 Cranch, 137) — Chief Justice Marshall — aus dem Jahre 1803 zitiert: „The powers of the legislature are defined and limited . . . It is a proposition too plain to be contested that either the constitution controls any legislative act repugnant to it, or that the legislature may alter the constitution by an ordinary act. Between this two alternatives there is no middle ground. The constitution in either a superior paramount law, unchangeable by ordinary means, or it is on a level with ordinary legislative acts, and, like other acts, is alterable when the legislature is pleased to alter it. If the former part of the alternative be true, then an legislative act contrary to the constitution is not law, if the latter part be true, written constitutions are absurd attempts on the part of the people to limit a power, in its own nature illimitable." Das Reichsgericht vermeidet solche verfassungsrechtlichen Erwägungen; es argumentiert, trotz der Kürze seiner Beweisführung, vorsichtiger und weniger prinzipiell und begnügt sich mit dem Satz: „denn die Vorschriften der Reichsverfassung können nur durch ein ordnungsmäßig zustande gekommenes verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetzt werden."
Das' Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
91
eigentlich eine Aberkennung der Gültigkeit, sondern eben nur eine Nichtanwendung, wie auch i n dem späteren Satze S. 322/23 richtig gesagt w i r d , daß der Richter genötigt sei, das Gesetz „außer Anwendung zu lassen". Die Bindung des Richters an das Gesetz steht nicht im Widerspruch m i t diesem richterlichen Prüfungsrecht; sie ist vielmehr dessen Grundlage und einzige Rechtfertigung. Zweiter Satz: Das (daß nämlich einem Reichsgesetze wegen vorgehenden Verfassungsgesetzes die „ G ü l t i g k e i t aberkannt werden kann") „ist der Fall, wenn ein Gesetz einem i n der Reichsverfassung aufgestellten Rechtssatz widerspricht und bei seinem Erlasse die durch A r t . 76 RVerf. für eine Verfassungsänderung vorgeschriebenen Erfordernisse nicht vorgelegen haben." (Die Fortsetzung lautet: „ D e n n die Vorschriften der Reichs Verfassung können nur durch ein ordnungsmäßig zustandegekommenes verfassungsänderndes Gesetz außer K r a f t gesetzt werden.") Dieser Satz enthält zwei verschiedene Teile, welche durch „ u n d " miteinander verbunden oder genauer: nebeneinandergestellt sind. Der erste Teil wiederholt das Prinzip der tatbestandsmäßigen Subsumtion unter die vorgehende Norm, wobei nicht ausdrücklich zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden w i r d ; der zweite Teil zeigt, daß ein Prüfungsrecht nur gegenüber einfachen Gesetzen i n Anspruch genommen w i r d . Daraus folgt: soweit es sich u m ein einfaches Reichsgesetz handelt, gibt es nach dieser Begründung: 1. Keine richterliche Prüfung eines einfachen Reichsgesetzes auf seine Übereinstimmung m i t den allgemeinen Prinzipien der Verfassung (zum Unterschied von der einzelnen subsumierbaren verfassungsgesetzlichen Bestimmung); keine allgemeine, d. h. von einem bestimmten verfassungsgesetzlichen Tatbestand absehende Prüfung hinsichtlich des Geistes der Verfassung; auch keine Prüfung hinsichtlich der Einhaltung der Prinzipien, welche den rechtsstaatlichen Bestandteil der Reichs Verfassung bilden (Grundrechte und Gewaltenunterscheidung). Vielmehr hält sich die Begründung des reichsgerichtlichen Urteiles vorsichtig, um nicht zu sagen formalistisch, an die verfassungsgesetzliche, rechtssatzmäßige Normierung, an deren H a n d eine Konfrontierung m i t der einfachen gesetzlichen Normierung möglich ist. Die i n der Entscheidung vom 4. November 1925 vorgenommene Prüfung des Aufwertungsgesetzes stützt sich daher ganz auf den Wortlaut des A r t . 153 RVerf. Die Frage der Umgehung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen (darüber Carl Bilfinger,
92
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
A r c h ö f f R . N . F . 11, 1926 S. 163 f.) dürfte meistens das formgerechte Zustandekommen eines Gesetzes betreffen und daher nicht i n diesen Zusammenhang gehören. 2. Keine richterliche Prüfung eines einfachen Reichsgesetzes auf seine Ubereinstimmung m i t allgemeinen Rechtsprinzipien: Treu und Glauben, richtiges Recht, gute Sitten, Yernünftigkeit (reasonableness, expediency) u n d ähnliche Begriffe, deren die Praxis des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten sich besonders bei der Kontrolle der Trust- u n d der sozialen Gesetzgebung bedient h a t 5 5 . Hier t r i t t am deutlichsten hervor, i n welcher großen Entfernung das vom Reichsgericht i n Anspruch genommene richterliche Prüfungsrecht gegenüber der amerikanischen Praxis bleibt u n d wie bedeutungsvoll die Grenze ist, die sich aus dem Prinzip der tatbestandsmäßigen Subsumierbarkeit ergibt. I n der Entsch.RG 118, 326/27 ( = JW 1928 S. 102 ff.) ist ausdrücklich gesagt, daß § 826 BGB („gute Sitten") nur für Privatrechtsverhältnisse bestimmt ist u n d keine Anwendung auf das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen dem Gesetzgeber und dem der Staatsgewalt unterworfenen Staatsbürger findet. Der Reichsgerichtspräsident D r . Simons stellt, anscheinend durchaus billigend, fest, „daß die Senate es abgelehnt haben, eine verfassungsmäßig zustandegekommene Norm unter dem Gesichtspunkte des richtigen Rechtes zu kritisieren und sich damit über den souveränen Gesetzgeber zu stellen" 5 6 . 3. Anscheinend auch keine richterliche Prüfung einer i n der Form eines einfachen Gesetzes erlassenen Anordnung oder Maßnahme, auf ihre Ubereinstimmung m i t den Merkmalen des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffes. Der Mißbrauch der Gesetzesform für etwas anderes als eine rechtssatzmäßige Normierung — Einzelbefehle, Dispense, Begnadigungen, Durchbrechungen usw. — k a n n leicht die Unabhängigkeit der Justiz gefährden und nach den obigen Ausführungen ein (defensives) richterliches Prüfungsrecht zur Wahrung der eigenen verfassungsmäßigen Stellung rechtfertigen (Selbstschutz der Gerichte als Hüter der unabhängigen Justiz). Hiervon spricht dieser Satz der Beweisführung aber nicht. Die wichtige Unterscheidung geht 55
Vgl. Lambert a.a.O. S. 53 und die dortigen Zitate. DJZ. 1924 Sp. 243. Der Richterverein hatte das Urteil des 5. ZS. v. 28. Nov. 1923 (über den Grundsatz der Aufwertung nach Billigkeit und Treu und Glauben von Fall zu Fall, RG 107, 78) dazu benutzt, um zu fordern, daß der Grundsatz von Treu und Glauben auch gegenüber der Aufwertungsverordnung selbst angewandt werde. 50
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
93
infolge der Vermengung von Verfassung und verfassungsgesetzlicher Einzelbestimmung, Verfassungswidrigkeit und Verfassungsgesetzwidrigkeit ganz verloren. Es wäre denkbar, daß auf dem Wege über A r t . 109 RVerf. („Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich") den schlimmsten Mißbräuchen und Ausnahmegesetzen die Gültigkeit abgesprochen werden könnte. D a n n müßte aber zu der Auslegung dieser verfassungsgesetzlichen Bestimmung Stellung genommen werden: enthält sie eine Einschränkung der Gesetzgebungsbefugnis (das w i r d man i n einem bürgerlichen Rechtsstaate heute k a u m noch verneinen können) und wann liegt eine sachlich ungerechtfertigte willkürliche Ungleichheit vor? Diese insbesondere von G. Leibholz i n seinem bekannten Buch über die Gleichheit vor dem Gesetze, Berlin 1925 und A r c h ö f f R . N. F. 12, 1 ff. entwickelte Problematik der Gleichheit vor dem Gesetz würde dazu führen, daß doch wieder allgemeine Prinzipien des Verfassungsrechtes und auch des Rechts überhaupt als Grundlage des richterlichen Prüfungsrechtes dienten. Die Beweisführung der Entscheidung vom 4. November 1925 hält sich aber streng an die einfache tatbestandsmäßige Subsumtion und spricht sich daher i n keiner Weise über eine weitergehende Prüfungsbefugnis aus. Sie äußert sich auch nicht über das dem Selbstschutz der unabhängigen Justiz dienende Prüfungsrecht der Gerichte. Der zweite T e i l jenes zweiten Satzes enthält eine weitere wesentliche Einschränkung, nämlich: 4. Keine richterliche Prüfung sog. verfassungsändernder, cLh. i m Verfahren des A r t . 76 RVerf. zustandegekommener Reichsgesetze. Vor einem Reichsgesetz, welches die Form dieses A r t . 76 wahrt, hört nach dieser Begründung jede weitere Prüfungsmöglichkeit auf. Die verfassungsrechtlich sehr wichtige Frage nach den Grenzen der Revisions- oder Änderungsbefugnis w i r d nicht einmal erhoben. Ob das Reichsgericht annimmt, A r t . 76 schaffe einen absoluten, allmächtigen Souverän u n d einen Träger der verfassunggebenden Gewalt (ein rechtsstaatlich k a u m denkbares Ergebnis), oder ob es hier nur von den Grenzen der richterlichen Prüfungsbefugnis sprechen w i l l , ist aus der Begründung nicht zu ersehen. D a m i t entfällt auch die Frage, ob es unzulässige Verfassungsdurchbrechungen gibt, die auch durch A r t . 76 nicht rechtmäßig werden können und i n welchem Umfange dieser A r t i k e l gewohnheitsrechtlich „apokryphe Souveränitätsakte" ermöglicht 5 7 . 67 Darüber Verfassungslehre S. 208; vortrefflich die Formulierung bei Carl Bilfinger, ArchöffR. N. F. 12, 174; vgl. auch dessen Reichssparkommissar,
94
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
D r i t t e r Satz: „ D a die Reichs Verfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze den Gerichten entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen, anerkannt werden»" Die Beweisführung dieses Satzes wurde bereits oben kritisiert und auf ihre Schlüssigkeit geprüft. Hier handelt es sich darum, wie weit aus diesem Satz eine nähere Bestimmung des Umfanges zu entnehmen ist, für welchen das Reichsgericht ein richterliches Prüfungsrecht i n Anspruch nimmt. Dabei ergibt sich vor allem, daß A r t . 76 RVerf. als absolute Schranke des richterlichen Prüfungsrechtes aufgefaßt wird. Das Reichsgericht ist weit davon entfernt, sich gegenüber den Instanzen des A r t . 76 auf fundamentale Verfassungsprinzipien, sei es auch die Unabhängigkeit der Justiz zu berufen. Es genügt eine in der Form des A r t . 76 zustande gekommene Anordnung, um allen Erwägungen des Reichsgerichtes über Verfassungsmäßigkeit ein Ende zu machen. A u f diesem Wege könnte also ein vom Reichsgericht als ungültig behandeltes einfaches Gesetz wiederholt werden und müßte dann als gültig behandelt werden; dem Reichsgerichte könnte für ein bestimmtes einfaches Gesetz die Ausübung des Prüfungsrechtes untersagt werden, ja, wenn es sich hier w i r k l i c h u m den absoluten und allmächtigen Souverän handelt, könnten auch ibereits ergangene Urteile einfach kassiert werden. Von besonderem Interesse wäre hier die Frage, ob nach dieser Begründung ein verfassungsänderndes Gesetz nach A r t . 76 notwendig ist, um ohne anderweitige Regelung den Gerichten ihr Prüfungsrecht einfach zu nehmen (das w i r d man wohl bejahen müssen), und dann die weitere Frage, ob bei gleichzeitiger Einrichtung einer anderen, zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen berufenen Stelle den Gerichten ihr Prüfungsrecht durch einfaches Gesetz genommen werden kann. Auch diese letzte Frage ist w o h l zu verneinen. Denn wenn das richterliche Prüfungsrecht eine verfassungsmäßige Einrichtung des heutigen deutschen Verfassungsrechtes ist, w i r d man annehmen müssen, daß es zu seiner Beseitigung eines verfassungsändernden Gesetzes auch dann Berlin 1928, S. 18; ferner der 4. Strafsenat in dem Urt. v. 9. März 1928 (DJZ. 1928 Sp. 1019/1020): „Im übrigen ist das Gesetz zum Schutze der Republik mit der für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheit beschlossen worden; darin liegt nach staatlichem Gewohnheitsrecht eine zulässige, stillschweigende Änderung der Verfassung selbst."
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
bedarf, wenn gleichzeitig ein anderer „Gerichtshof" zur Entscheidung von Zweifeln oder Auslegungsfragen eingesetzt w i r d 5 8 . Betrachtet man das vom Reichsgericht i n Anspruch genommene richterliche Prüfungsrecht unter praktisch-politischen Gesichtspunkten, so ist dieser unbedingte Respekt vor A r t . 76 RVerf. von besonderer Bedeutung. Dadurch w i r d es nämlich unwahrscheinlich, daß das Reichsgericht i m Ernstfall als politischer Konkurrent dem Reichstage seine Gesetzgebungsbefugnis aus der H a n d nimmt. Gegenüber einem solchen Konkurrenten würde eine politische und daher vor allem auf ihre Machtstellung bedachte Körperschaft wie ein heutiges Parlament genügend M i t t e l zur Verfügung haben: Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes, Einschränkung der Zulässigkeit des Rechtsweges, Beeinflussung der Richterernennung, Veranlassung eines Richterschubs, und i m äußersten Falle würde sich i n einer vor allem doch auf ihre politische Machtstellung bedachten Körperschaft vielleicht auch eine Zweidrittelmehrheit finden, um sich eines ernsthaften politischen Rivalen zu entledigen. Es ist aber nicht notwendig, solche Eventualitäten auszumalen. Denn die Möglichkeiten einer richterlichen Praxis, wichtige Reichsgesetze als ungültig zu behandeln, ist nicht sehr groß. Der Fall, daß ein einfaches Reichsgesetz offenkundig einer klaren, zweifelsfreien, verfassungsgesetzlichen Bestimmung widerspricht, ist, wie schon erwähnt, nicht wahrscheinlich, und i m Zweifels falle gilt die allgemeine Vermutung, die für die Gültigkeit von staatlichen Hoheitsakten spricht, erst recht für die Gesetze. Bisher (Sommer 1928) hat das Reichsgericht keinem Reichsgesetz die Gültigkeit aberkannt. Solange die Ausübung des Prüfungsrechtes zu dem Ergebnisse kommt, daß die geprüften Reichsgesetze gültig sind, hat der Reichstag kein besonderes politisches Interesse an einer politischen Behandlung des Prüfungsrechts. Erst wenn einmal einem politisch wichtigen Reichsgesetz die Anwendung versagt würde und alle Gerichte sich der Auffassung des Höchsten Gerichtshofes anschließen, könnte man beurteilen, welche praktisch-politische A u s w i r k u n g dieses Prüfungsrecht haben kann und wie weit hier, bei einem ernsthaften Gegensatz, die Gerichte gegenüber dem Reichsgesetzgeber ein „Gegengewicht" bedeuten. 58
Ebenso im Ergebnis: Hof acker, Gerichtssaal 1927 S. 213, R. Grau a.a.O. S. 287; Bredt, ZStaatsW. 82 (1927), 437; anders Löwenthal, DJZ 1927 Sp. 1234 ff. (unter Verkennung der materiell gesetzgeberischen Funktion eines über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheidenden „Gerichtshofes"). Es ist dodi zweifellos eine Verfassungsänderung, wenn eine Art zweiter Kammer eingeführt wird!
96
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
Die Gefahr einer auf das Gebiet politischer Entscheidungen expandierenden Rechtsprechung liegt weniger i m richterlichen Prüfungsrecht als i n einer unzulässigen Ausweitung einzelner tatbestandsmäßiger Begriffe verfassungsgesetzlicher Einzelbestimmungen des zweiten Hauptteiles der Weimarer Verfassung, z. B. des Begriffes der Enteignung i n A r t . 153 RVerf. 5 9 , wodurch dem Prinzip der tatbestandsmäßigen Subsumtion der Boden entzogen w i r d ; und ferner i n einer grenzenlosen Zulassung von Schadensersatzklagen nach A r t . 131 RVerf., § 839 BGB, wodurch jede staatliche Tätigkeit, selbst Gesetzgebung und Bestimmung der Richtlinien der Politik, mißbräuchlicherweise einer richterlichen Kontrolle unterworfen werden k a n n 6 0 . Diese Möglichkeiten zu erörtern, würde den Rahmen der vorliegenden Abhandlung überschreiten. Es genügt, hier festzustellen, daß es nicht dem Sinne solcher verfassungsgesetzlicher Bestimmungen entspricht, die Gerichte zu Aufsichtsinstanzen gegenüber der Legislative und der Regierung und zu allgemeinen Hütern der Verfassung zu machen. 69 Die Auslegung des Art. 153 RVerf. leidet daran, daß man den Schutz gegen einen Mißbrauch der Gesetzgebungsbefugnis durch eine Ausdehnung des Begriffes der Enteignung zu erreichen sucht, während richtigerweise der wichtigste Schutz in einem richtig verstandenen Gesetzesbegriff und infolgedessen in der richtigen Auslegung der Wendung „nur auf Grund eines Gesetzes" gefunden werden muß. Daß der im übrigen besonders wertvolle und interessante Aufsatz von Martin Wolff in der Festgabe für Kahl 1923 diesen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt nicht behandelt, hat zu der allgemeinen Verkennung wesentlich beigetragen. Uber die Praxis des Art. 153 RVerf. vgl. A. Hensel in seinem Aufsatz: „Grundrechte der Rechtsprechung" in dieser Festschrift für das Reichsgericht; über das allgemein verfassungstheoretische Problem: Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 152 f.; über die Zersetzung und Trübung des Enteignungsbegriffes Wittmayer, Art. Enteignung, Handwörterbuch der Staatswissenschaften 3, 740; endlich A. Rieß, LZ. 1928 S. 218 f. 60 Nach der Entsch. des 3. ZS. v. 27. Sept. 1927 (RG. 118, 110) genügt die Behauptung einer Amtspflichtverletzung nach Art. 131 RVerf., um die Zulässigkeit des Rechtsweges zu begründen; in der Entscheidung desselben Senates v. 4. Nov. 1927 (RG. 118, 326/327) ist aber die Möglichkeit eines Mißbrauches und einer Umgehung von Art. 131 RVerf. anerkannt und wird es als „zweifelhaft" bezeichnet, „ob der Richter auf dem Umwege über Art. 131 RVerf. in einem Schadensprozesse wie dem vorliegenden (auf Grund der Behauptung, der Erlaß des Aufwertungsgesetzes und des Anleiheablösungsgesetzes enthalte Amtshandlungen des Reichskanzlers und der Reichsminister, in denen Amtspflicht Verletzungen nach Art. 131 lägen) zu einer Nachprüfung der Notwendigkeit und Vermeidbarkeit der beanstandeten, im wesentlichen auf dem Ermessensgebiete liegenden Verwaltungsakte befugt ist". Leider wird dann die Entscheidung, unter Umgehung dieses verfassungsrechtlichen Problems, zivilistisch damit begründet, daß keine dem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt sei!
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
97
5. Die Frage nach der Möglichkeit eines gerichtlichen Verfassungsschutzes steht, systematisch betrachtet, nicht nur in den Zusammenhängen der Verfassungslehre, sondern auch der allgemeinen Staatslehre. Uber die Justiz als eine staatliche Gewalt hat Montesquieu den merkwürdigen, oft interpretierten Satz ausgesprochen, dieser pouvoir sei „en quelque fagon rauZ"61. Rudolf Smend legt den Ausspruch i m Sinne seiner Integrationslehre dahin aus, daß dieser Teil des staatlichen Gewaltensystems „ n i c h t dem Integrations-, sondern dem Rechtswert" diene. Natürlich muß jede staatliche Tätigkeit integrierend wirken, auch die Justiz „integriert", aber die Verfassung befreit sie nach Smend ausdrücklich von dieser Aufgabe, indem sie sie von der Staatsleitung unabhängig stellt; so dient die Justiz der Integration nicht der staatlichen, sondern einer rechtlichen Gemeinschaft 6 2 . N u n ist es allerdings für die Verfassung eines bürgerlichen Rechtsstaates charakteristisch, die Justiz i n einer solchen Weise zu einem wesentlichen selbständigen Restandteil einer staatlichen Verfassung zu machen; gerade hier zeigt sich der Gegensatz des bürgerlichen Rechtsstaates zu anderen Verfassungen, wie der eines proletarischen Sowjet- oder eines faschistischen Staates 63 , obwohl i n jedem Staate, sobald normale u n d berechenbare Zustände herrschen, die Unabhängigkeit der Richter ohne Rücksicht auf die Staatsform sozusagen aus der Natur der Sache sich von selbst ergibt und keineswegs die Errungenschaft der Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates ist. Daraus folgt aber nur, was übrigens bei Smend k l a r erkannt ist, daß die Justiz ihre eigene Sphäre hat, die besonders i n einem bürgerlichen Rechtsstaat unbedingt respektiert werden muß, solange überhaupt die Verfassung, welche diese A r t staatlicher Existenz konstituiert, respektiert w i r d . Dagegen wäre es ein Mißverständnis, daraufhin den 61 Esprit des lois XI, 6, über die historische Auslegung dieses Satzes: Erich Kaufmann, Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1903 S.33; Carl Schmitt, Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 109. Der Satz ist zu gleicher Zeit, in einer wohl nicht bedeutungslosen Duplizität, von R. Smend a.a.O. S. 99 und Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 76 Anm. 185, 196 wieder zum Anknüpfungspunkte verfassungstheoretischer Erörterungen gemacht worden. 62 Smend a.a.O. S. 99 f. 63 Bei dem Moskauer Schachty-Prozeß (Juni 1928) zeigte sich dieses rechtsstaatliche Gefühl auch in den bürgerlichen Zeitungen, die es sonst für fortschrittlich halten, „nicht die Tat, sondern den Täter zu bestrafen". 7
Carl Schmitt
98
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
ganzen Staat der Justiz zu unterwerfen und schließlich das Ideal eines Rechtsstaates darin zu sehen, daß ein Gerichtshof nach den Plädoyers von „Parteien" über die Richtlinien der Politik und den Inhalt der Gesetze entscheidet. Gerade der bürgerliche Rechtsstaat kann nur bei einer strengen und bewußten Abgrenzung des spezifischen Gebietes der Justiz bestehen. Solange ein Staat politische Einheit ist und nicht nur ein Kompromiß inner- oder gar außenpolitischer Faktoren, w i r d die Verfassung Staatsverfassung und nicht nur Gerichtsverfassung sein. Eine hemmungslose Expansion der Justiz würde nicht etwa den Staat i n Gerichtsbarkeit, sondern umgekehrt die Gerichte i n politische Instanzen verwandeln. Es würde nicht etwa die Politik juridifiziert, sondern die Justiz politisiert. Verfassungsjustiz wäre dann ein Widerspruch i n sich. Auch Triepel (Staatsrechtslehrertag 1928) sagt: „Das Wesen der Verfassung steht mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit bis zu einem gewissen Grade i n Widerspruch." Das Problem läßt sich aber nicht nur unter dem Gesichtspunkte behandeln, daß man nach der allgemeinen Stellung der Justiz im Staate, sondern auch i n der Weise, daß umgekehrt der Staat selbst i n seiner konkreten Eigenart betrachtet wird. Alle Staatstheorien und politischen Konstruktionen, soweit sie ein lebendiger Ausdruck jener ständig sich wandelnden, schicksalvollen Größe „Staat" sind, lassen sich nämlich nach dem Gebiet einteilen, auf welchem sie die Kernsubstanz des staatlichen Lebens finden. Es gibt eine Staatsauffassung, für welche die Staatsgewalt wesentlich Gerichtsbarkeit (jurisdictio) ist; das war die mittelalterliche D e f i n i t i o n 6 4 und ist heute noch die Ausdrucksweise des Corpus Juris Canonici der römisch-katholischen Kirche 6 5 , wobei zu beachten ist, daß die potestas dieser Kirche selbst nicht dürch die Vorstellung von einem Richter, sondern durch das B i l d vom H i r t e n und der Herde bestimmt ist. Man konnte den Staat mit Jurisdiktion gleichsetzen, solange man an inhaltliche, absolute Normen glaubte, deren Findung und Handhabung allein eine absolute Gerichtlichkeit ermöglicht. Der moderne europäische Staat, der mit der Renaissance beginnt und heute aufhört, modern zu sein, der „absolute" Staat des 17. und 18. Jahrhunderts, ist wesentlich ein Staat der Exekutive, auf Beamtentum und M i l i t ä r gestützt; seine ratio, 64 Vgl. die Bemerkung von Smend a.a.O. S. 99 über den mittelalterlichen und den angelsächsischen ,.Jurisdiktionsstaat". 65 Z.B. Can. 196 (potestas jurisdictionis seu regiminis), 218 (Romanus Pontifex als Inhaber der supremae plena potestas jurisdictionis) usw.
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
99
die ratio status, liegt nicht i n Normen, sondern i n seiner konkreten politischen Existenz 6 6 . Das liberale Bürgertum hat i m Namen des Rechtsstaates gegen diesen absoluten Staat gekämpft. Das war i n concreto ein K a m p f gegen die Exekutive; er endete i m 19. Jahrhundert m i t der Unterwerfung der Exekutive unter das Gesetz. Nunmehr verlegt sich der Kern des staatlichen Wesens i n die Legislative. Der Staat w i r d ein Gesetzesstaat (was leicht m i t Rechtsstaat verwechselt w i r d , obwohl es etwas ganz anderes ist, wenn man den Gesetzesbegriff formalisiert). Der heutige parlamentarisch-demokratische Staat hat seinen Schwerpunkt i n der Gesetzgebung. Natürlich wäre eine Staat, der nur Rechtsprechung, oder nur Exekutive, oder nur Gesetzgebung wäre, undenkbar; i n der W i r k l i c h k e i t des politischen Lebens kommt es immer zu einer Mischung und insofern ist jeder Staat ein status mixtus* 7. Aber trotz aller unvermeidlichen Verbindungen, Balancierungen und Mischungen ist der Schwerpunkt des jeweiligen, konkreten, staatlichen Daseins erkennbar immer auf einem bestimmten Gebiete — Gerichtsbarkeit, Exekutive oder Gesetzgebung — zu lokalisieren. Eine Staatslehre, die den Namen verdient, w i r d sich dieses einfachen Sachverhalts und der Besonderheit des heutigen Staates bewußt werden müssen 68 . Der heutige europäische Staat m i t seinen sozialen Gegensätzen und Interessenkämpfen, insbesondere der Industriestaat mit seiner „sozialen Gleichgewichtsstruktur'* 6 9 von Bürgertum und Arbeiterschaft, läßt sich nicht i n Jurisdiktion auflösen, ohne daß er selber aufgelöst wird. Es ist gewiß notwendig, die Verfassung zu schützen und gegenüber dem Miß86
F. Meineckes „Idee der Staatsraison" (1924) bedürfte meiner Ansicht nach einer Ergänzung, die diesem allgemeinen staatstheoretischen Gesichtspunkt Rechnung trägt, und zwar um so mehr, als Meineckes Buch selbst in der Sphäre der Normativität verbleibt. 67 Uber die Lehre vom status mixtus: Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 202 f. Die Integrationslehre von Rudolf Smend trifft in Wahrheit nur den modernen, parlamentarisch-demokratischen Staat, der seinen Schwerpunkt in der Legislative hat, vgl. oben Anm. 11. 68 Der oben erwähnte Ausspruch von Richard Thoma, wonach es zu den „artbestimmenden Tendenzen" des heutigen Staates gehört, daß die Gesetzgebung die „Dezision" trifft, ist aus diesem systematischen Zusammenhange heraus besonders beachtenswert und zutreffend. Aus einer Übertreibung dieser Erkenntnis erkläre ich Thomas Satz in dem Artikel „Staat" (Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. V I I S. 747): „Es ist das Charakteristikum der Rechtsordnung (?) des »modernen Staates', daß die ungeschriebene Grundnorm ihres (!) Verfassungsrechtes den Auftrag und die Ermächtigung zur Gesetzgebung potentiell schrankenlos erteilt." 69 Otto Kirchheimer, ZPolit. 17 (1928), 596. 7*
Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung (1929)
brauch der Gesetzesform die Grenzen der Gesetzgebungsbefugnis zu wahren. N u r darf man den besonderen, infolge der Zulässigkeit des Rechtsweges eintretenden Schutz besonderer verfassungsgesetzlich geschützter Interessen nicht m i t dem Schutze der Verfassung selbst verwechseln, und vor allem ist der untrennbare Zusammenhang von richterlicher Unabhängigkeit und inhaltlich-normativer Bindung immer i m Auge zu behalten. So nützlich i n einem gewissen Betätigungsraum eine mit Gesetzeskraft entscheidende Auslegungsinstanz sein mag, eine allgemeine Verfassungsjustiz läßt sich auf diese Weise nicht erreichen. Der relative Wert u n d die praktische Notwendigkeit solcher Bemühungen u m die einheitliche Auffassung und den Schutz der verfassungsgesetzlich besonders geschützten Interessen soll nicht verkannt werden. Aber es scheint m i r bedenklich, gegen den Mißbrauch der Gesetzgebungsform einen Mißbrauch der Justizförmigkeit zu organisieren. Bei einem solchen Versuch hätte, nach einem Wort Guizots 7 0 — eines der reinsten und typischen Vertreter bürgerlichrechtsstaatlichen Denkens — „die Justiz alles zu verlieren und die Politik nichts zu gewinnen".
Der Aufsatz ist abgeschlossen im August 1928 und in „Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der Juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929)" Bd. 1, S. 154 bis 178 (Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig), 1929 veröffentlicht. Das Thema des Hüters der Verfassung habe ich dann in einem Aufsatz AöR Bd. 16 NF Heft 2 (März 1929) S. 161 bis 237 weiter behandelt. In meinem Buch „Der Hüter der Verfassung" 1931 ist ein Kapitel: „Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart" hinzugekommen, mit Ausführungen über Pluralismus, Polykratie und Föderalismus und über die Wendung zum totalen Staat. Die These vom Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung ist zum ersten Male in dem genannten Aufsatz des AöR, März 1929, entwickelt. Die Formel vom Reichspräsidenten als dem „Hüter der Verfassung" ist dadurch zum verfassungsrechtlichen Stichwort des Präsidialsystems geworden.
I. Meine Stellungnahme zum Problem des Hüters der Verfassung ist in der Situation der Jahre 1929 bis 1931 in Berlin entstanden, und zwar in unmittelbarem Kontakt mit hervorragenden Sachkennern, insbesondere mit dem Referenten des für Verfassungsfragen federführenden Reichsministeriums des Innern, Staatssekretär Zweigert. Johannes Popitz hat beim Er70
Des conspirations et de la justice politique, Brüssel 1846, S. 101.
Das' Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
101
scheinen des Buches am 17. April 1931 in der Berliner Tageszeitung Germania einen Aufsatz veröffentlicht, der sowohl wegen seines Verfassers wie auch wegen seines Inhaltes ein verfassungsgeschichtliches Dokument ist und hier im Wortlaut abgedruckt wird: Wer ist Hüter der Verfassung? Professor
Von Dr. Johannes Popitz
Der Hüter der Verfassung: die Wortfolge klingt ernst und gewichtig: sie scheint alle zu mahnen, die in dem verfassungsmäßig geordneten Staat ihren Staat sehen und die staatsbürgerliche Pflicht fühlen, ihn vor Gefährdung zu wahren. Aber, wie soll das geschehen? Soll jeder mit mißtrauischer Entschlossenheit einher schreiten, wie Verina, bereit bis zum äußersten, wenn ihm die Verfassung angetastet erscheint, um vielleicht in jeder Fortentwicklung verdammenswerten Verfassungsbruch zu wittern? Ist die Verfassung in guter Hut, wenn Männer, die sich in ihren Anschauungen über sie für „rechtgläubig" halten, zur Abwehr zusammentreten, um in Gefahr zu geraten, die anderen Volksgenossen als Feinde anzusehen und so, statt den Staat zu wahren, sein Wesen als den Ausdruck der politischen Einheit eines Volkes zu erschüttern? Gewiß, die ultima ratio eines Volkes bleibt der Widerstand wachsamer Staatsbürger gegen diejenigen, die die Schranken der Verfassung durchbrechen. Aber diese ultima ratio kann Bürgerkrieg bedeuten, bedeutet immer ungeregelte Urteilsbildung, ob die Voraussetzung dafür vorliegt, sich zum Schützer auf zuwerfen, bedeutet Abhängigkeit von Irrtümern und eigennützigen Kräften. So entsteht die Frage, ob nicht die Verfassung selbst für ihren Schutz sorgen kann, ob es nicht einen Hüter der Verfassung im institutionellen Sinne gibt, dessen Funktion gerade darin liegt, dieses allgemeine und gelegentliche Widerstandsrecht der Staatsbürger zu ersetzen, es, soweit als möglich, überflüssig zu machen. Das nun ist die Frage, die sich Carl Schmitt vorlegt: wer hat in Deutschland die verfassungsrechtliche Funktion eines Hüters der Verfassung? Sie kann nicht beantwortet werden, ohne eine Vorfrage aufzuwerfen. Gegen wen ist in der politischen Situation unseres Staates die Verfassung zu schützen, von wem droht die Gefahr, daß die Verfassung nicht respektiert und ein verfassungsmäßig geschütztes Interesse verletzt wird? Die Gefahr kann aus dem Volk selbst entstehen. Das war zu allen Zeiten so, und keine denkbare Verfassungsform kann es ändern; wir wissen heute, daß jene Anschauung, die in dem verfassungsmäßig geregelten Kampf um die Mehrheitsbildung eine automatisch funktionierende Bremse gegen Umsturz sah, eine immanente „List" dieser Institution zubilligt, die versagen kann. Aber neuer Mittel, gegen den Umsturz die Verfassung zu hüten, bedarf es nicht: das Mittel liegt, genau so, wie zu der Zeit, da Cicero nach schönen Reden schließlich auch mit der Tat gegen Catilina zum pater patriae wurde, in den „Maßnahmendie zu ersinnen Sache einer klugen Regierung ist, und die für solche Fälle zuzulassen für jede noch so rechtsstaatlich orientierte Verfassung unvermeidlich ist: Art. 48 RV. gibt dem Reichspräsidenten die erforderlichen Befugnisse. Aber ist der Umsturz die einzige Gefahr, die
102
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
droht? Die Geschichte lehrt uns, daß der Verfassungsfreund eine weitere Gefahr da witterte, wo die Verfassung selbst Machtbefugnisse verliehen hat. Es ist die Gefahr, daß Regierung und Exekutive ihre Rechte mißbrauchen, daß der Doge sich zum Herzog macht, daß die Rechte des Volkes „mit Füßen getreten" werden. Als Gegenmittel entstand der Gesetzesvorbehalt, die Bindung wichtigster Staatsakte an die Form des Gesetzes, und damit an die Mitwirkung des Parlaments, ferner nicht nur die Unterwerfung der Richter unter die Norm, sondern auch die Bindung der Verwaltung an Gesetzmäßigkeit; schließlich das meist überschätzte Institut der Ministeranklage. Doch längst hat sich ein Wandel vollzogen. Die Gefahr wird in höherem Maße an der Stelle vorausgesetzt, die nach ihrer historischen Entstehung Schutz bringen sollte: beim Parlament, vom Gesetz her, von der Mehrheit, die es zustande kommen läßt. Die Besorgnis, die sich gegen den Gesetzgeber richtet, spiegelt sich gerade in der Weimarer Verfassung besonders mannigfaltig wider. Ein wesentlicher Teil ihres Inhalts dient der Aufgabe, „gewisse Angelegenheiten und Interessen, die sonst Sache der einfachen Gesetzgebung waren, vor diesem Gesetzgeber, d. h. vor wechselnden Parlamentsmehrheiten zu schützen'. Daß das, sei es nun in voller Erkenntnis bereits feststellbarer politischer Erscheinungen oder aus einem ahnenden Vorgefühl über die kommende Entwicklung, mit nur allzu vieler Berechtigung geschehen ist, lehrt uns der Einblick in die politische Situation, in der wir uns nach zwölf Jahren Verfassungsleben befinden, eine Situation, die Carl Schmitt vor uns ausbreitet in leidenschaftsloser, aber schonungsloser Analyse. Was ist bei uns aus der Gesetzgebung geworden, die nach überlieferter Auffassung über das Wesen der „wahren" Demokratie ihre Allgemeingültigkeit daraus ableitet, daß im Parlament, in dem jeder einzelne Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes ist, die Mehrheit entscheidet und die überstimmte Minderheit sich nur über ihren wahren Willen geirrt hat? Carl Schmitt deckt im Anschluß an frühere Darlegungen auf, wie bei uns staatliche Willensbildung erfolgt. Er zeigt die Ausdehnung der Gesetzgebung auf die weitaus meisten Gebiete, die früher, als der „Gesellschaft" angehörig, dem Staate verschlossen waren, den Übergang vom Verwaltungsstaat zum Wohlfahrtsstaat, ja zum Versorgungsstaat, den Ersatz des Anteilsystems, bei dem der Staat nur einen Anteil des Volkseinkommens begehrt. durch das Kontrollsystem, bei dem der Staat die Volkswirtschaft maßgebend mitbestimmt. So stehen Parlament und politische Parteien im Besitz der Gesetzgebungsbefugnisse über die Totalität der Lebensverhältnisse nicht mehr als Vertretung der „Gesellschaft" dem Staat gegenüber, sondern sind Träger der Selbstorganisation der Gesellschaft geworden. In den Parteien, die das Parlament bilden, spiegelt sich jener Pluralismus wider, der die Macht sozialer Größen über die staatliche Willensbildung bezeichnet. Nicht die Sphäre der öffentlichen Meinung, in der sie für ihre Ideen werben, ist das Kampffeld der Parteien, sondern die Parteien sind „teils selbst feste, durchorganisierte Gebilde, teils stehen sie in einem durchorganisierten sozialen Komplex mit einflußreichen Bürokratien, einem stehenden Heer bezahlter Funktionäre und einem ganzen System von Hilfs- und Stützorganisationen, in welchem eine geistig, sozial und wirtschaftlich zusammengehal-
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
103
tene Klientel gebunden ist". Die Gegenwirkung des Volkes gegen den Parteistaat durch das Gericht der Wahl ist stumpf geworden. Es gibt insoweit eine demokratische Wahl überhaupt nicht mehr, als die sozial gebundenen Mitglieder fester Parteiorganisationen und deren verbündete soziale Machtgruppen lediglich „zu einem Appell der stehenden Parteiheere" für die im Dunkel geheimer Beratungen unkontrollierbarer Komitees zustandegekommenen Parteilisten aufgerufen werden. Nur der „Flugsand" zwischen den festen Organisationen kann noch zwar auch nicht Repräsentanten „wählen", aber ein Stüde Plebiszit ausüben. So entsteht ein Parteistaat mit einem der alten liberalen Anschauung widersprechenden Parteibegriff und, da die Zahl der Parteien eindeutiges Übergewicht einer Gruppe unmöglich macht, so wird er zum labilen Koalitions-Parteien-Staat, in dem der Inhalt der Gesetze von unberechenbaren Kompromissen abhängig ist, der zur Verteilung der Objekte der Gesetzgebung und der Machtstellen im Staat unter den Koalitionsparteien führt. Diesem System unterliegen auch solche Parteien, die noch mit ihrer Weltanschauung dem Staate als einer Idee willen dienen wollen, auch sie könnend nicht beiseite stehen „und befinden sich am Ende in der Lage jenes Hundes aus der Fabel, der mit den besten Vorsätzen den Braten seines Herrn bewacht, aber dann, als er andere Hunde darüber herfallen sieht, sich schließlich auch an dem Mahle beteiligt". So ist das Parlament nicht imstande, eine einheitliche Gesamtleistung auf dem gewaltig angeschwollenen Aufgabengebiet des modernen Wirtschaftsstaates zu gewährleisten. Hinzu tritt, daß diese pluralistischen Kräfte nicht einem organisatorisch geschlossenen Staat gegenübertreten, sondern den Zustand nutzen, den C. Schmitt in Übernahme eines von mir gewählten Ausdrucks als Polykratie bezeichnet, nämlich das Vorhandensein jener Vielheit autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft, die mangelhaft verbunden nebeneinanderstehen und hinter einem starken Wall gesetzlichen und auch verfassungsgesetzlichen Schutzes rechtsstaatlich gesichert sind. Diese Polykratie bilden die Länder, die Gemeinden, die Sozialversicherungsträger und mit eigener Hausmacht ausgestattete öffentliche Unternehmungen und Anstalten, wie Reichsbahn, Reichspost und Reichsbank. Abhilfen und Gegenbewegungen, die einer Neutralisierung oder Entpolitisierung dienen wollen, unterliegen der Gefahr, entweder den pluralistischen Kräften ungewollt Vorschub zu leisten oder zu einer weiteren Zersetzung der Staatseinheit beizutragen. Ein dunkles Bild des modernen Staates, das ein Vertrauen auf ein autonomisch wirksames Regulativ zur Wahrung der verfassungsmäßig geschützten Interessen nicht aufkommen läßt! So muß die Frage entscheidend werden, wer schützt die Verfassung gegen die Gesetzgebung, die solchen Kräften ausgeliefert ist? Hier setzt nun die für die Wissenschaft des Staatsrechts bedeutende Leistung C. Schmitts ein in der tiefgreifenden Untersuchung, ob ein justizmäßiger Schutz der Verfassung möglich ist. Die Vorschriften der Verfassung sind Normen, die gegenüber einfachen Gesetzen stärkere Kraft haben; es erscheint also als ein Schutz, wenn eine unabhängige Instanz entscheidet, ob Gesetze der Verfassung entsprechen. Es geschieht das dauernd, indem die Gerichte aller Art bei einem von den Prozeßparteien vor sie gebrachten Tatbestand prüfen, ob zwischen dem Gesetz,
104
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
das den Tatbestand betrifft, und einer Verfassungsbestimmung eine Kollision besteht und daher jenes Gesetz als verfassungswidrig unanwendbar ist. Aber dieses allgemeine richterliche Prüfungsrecht, das, wie C. Schmitt es bezeichnet, diffus, d. h. von Fall zu Fall, von jedem Richter ausgeübt wird, ist nichts anderes als der Ausfluß der Bindung des Richters an das Gesetz und, wenn Normen miteinander in Widerspruch stehen, an die stärkere von ihnen. Darüber hinaus geht die Funktion der Justiz erst dann, rveiin ein Gericht unmittelbar für einen Verfassungsstreit zuständig ist, wie Art. 19 RV es vorsieht. Hier geht sein Urteil nicht bloß darauf, daß das Gesetz im konkreten Fall unanwendbar ist, sondern daß es als solches ungültig ist. Aber es wäre falsch, in dieser Betrauung eines Gerichts zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten eine fest gegründete, ausbaufähige Institution zum Schutz der Verfassung zu sehen. Denn, von Fällen offensichtlichen Widerspruchs zwischen Verfassungsgesetz und einfachem Gesetz abgesehen, wird dem Gericht etwas mit seinem Wesen Unvereinbares zugemutet, wenn es sich, ledig der dem Richteramt immanenten Bindung an eine Norm, gleichsam an die Stelle des Verfassungsgesetzgebers setzen und Zweifel und Meinungsverschiedenheiten hochpolitischen Inhalts als ein unpolitisches Gremium autoritativ lösen soll. Zudem setzt ein Verfassungsstreit Betreiber des Verfahrens voraus, und die Gefahr besteht, daß mit der Ausdehnung der Zuständigkeit des Staatsgerichts die pluralistischen, die Einheit des Staates zersetzenden Kräfte gleichsam legalisiert werden, indem ihnen Parteifähigkeit und Aktivlegitimation zur Verfolgung ihrer Interessen an der Auslegung der Verfassung zugebilligt werden. So muß die Verfassungsgerichtsbarkeit auf einen engen Raum beschränkt bleiben. Wer aber ist Hüter der Verfassung in diesem gefahrdrohenden Zustand? Wir gedachten schon der Befugnisse des Reichspräsidenten gegenüber Umstur zbewegungen. Die Entwicklung unseres staatlichen Lebens hat ihn darüber hinaus zum Träger der Macht, gesetzvertretende Verordnungen zu erlassen, gemacht, er tritt also auf, wo die Gesetzgebungsmaschine versagt, und C. Schmitt zeigt, daß gerade im Wirtschaftsstaat, in dem wir leben, auch finanz- und wirtschaftsrechtliche Normensetzung, ja die Feststellung des Etats zu seinen Befugnissen gehören kann. So wahrt er die Kontinuität und Permanenz der staatlichen Einheit. In ihm setzt sich auch bei einem Versagen des Parlaments noch immer die Aufgabe des Staates durch, durch seinen Organismus, wie Gneist es einmal ausdrückt, des Gegensatzes der Interessen und ihrer Unfreiheit Herr zu werden. Sein Beamtenernennungsrecht ist ein (freilich in Ländern und Gemeinden völlig versagender) Schutz gegen parteipolitische Methoden der Stellenbesetzung. Der Reichspräsident ist der Hüter der Verfassung, und dieses Ergebnis steht voll im Einklang mit dem demokratischen Prinzip, auf dem die Weimarer Verfassung beruht. Das Volk wählt ihn, wie es das Parlament wählt, seine politischen Befugnisse gegenüber den gesetzgebenden Instanzen (Auflösung, Herbeiführung eines Volksentscheids) sind in der Sache ein „Appell an das Volk". Ein Einwand gegen dieses Ergebnis bleibt freilich: wie, wenn ein Reichspräsident denkbar wäre, der sich vom parteipolitischen Betriebe nicht zu lösen verstände oder in ihn hineingezogen würde? Zwei Reichspräsidenten haben sich ah wahre Hüter der Verfassung erwiesen. So ist die Hoffnung
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
105
begründet, daß der Institution, wie sie die Weimarer Verfassung in dem plebiszitären Reichspräsidenten vorsieht und die auf eine unparteiliche Objektivität und Neutralität ausgeht, jene „List der Idee" in stärkstem Maße innewohnt. Es ist eine Mahnung für die schweren Tage der Entscheidung über die Wahl eines dritten Reichspräsidenten, wenn C. Schmitt sein Buch schließt mit dem Hinweis auf den Versuch der Reichsverfassung, der Autorität des Reichspräsidenten die Möglichkeiten zu geben, sich unmittelbar mit dem politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden und eben dadurch als Hüter und Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit und Ganzheit des deutschen Volkes zu handeln. „Darauf, daß dieser Versuch gelingt, gründen sich Bestand und Dauer des heutigen deutschen Staates". Es ist nur ein Ausschnitt aus der Gedankenwelt des Buches, den ich hier geben konnte. Hier ist audi nicht der Ort, auf Zweifel, Ergänzungen, die sich aufdrängen, Meinungsverschiedenheiten hinzuweisen. Das Faktum, daß ein Staatsrechtler hier de Statu imperii Germanici aus sorgenvoller Erkenntnis spricht, sollte — einem Wunsche der Schriftleitung folgend — einem größeren Leserkreis aufgezeigt werden. Überschritt der Staatsrechtler seine Zuständigkeit, wenn er uns unmittelbar in das politische Getriebe hineinführt? Nein, er erfüllt seine Auf gäbe, wenn er es, wie hier, unter alleiniger Anwendung der Methoden seiner Wissenschaft tut. Den Einwand, daß Staatsrecht sich von jeder Wechselwirkung mit Staatspolitik fernzuhalten hätte, wird der nicht erheben können, der Triepels wundervolle Rektoratsrede über Staatsrecht und Politik in sich aufgenommen hat. Der Politiker freilich sollte sich nicht auf die leider traditionelle Geringschätzung des Berufs der Wissenschaft zurückziehen, wenn ihm eine Bilanz vorgehalten wird, deren Posten zugleich seine Sündenregister und die Verlustliste der Idee vom Staate darstellen. IL Durch das Bonner Grundgesetz von 1949 wurde ein Verfassungsgericht mit weitgehenden Befugnissen bewußt zum Hüter der Verfassung erhoben. Die Befugnisse beziehen sich nicht nur auf die Möglichkeit, Gesetze für verfassungswidrig und damit für nichtig zu erklären; dieses Gericht ist auch zu eminent politischen Akten wie Illegalitäts-Erklärungen (Art. 18, 21 GG) befugt. Die Gutachten-Zuständigkeit ist beseitigt (BGes. v. 21.7.1956). Im Parlamentarischen Rat hat der Abgeordnete Dr. Süsterhenn in der zweiten Sitzung vom 8. September 1948 (Stenographischer Bericht S.25) erklärt: Der von uns geforderte Verfassungsgerichtshof soll auch das Recht haben zu prüfen, ob ein Gesetz seinem Inhalt nach dem Geist und den naturrechtlichen, menschenrechtlichen Grundlagen der Verfassung entspricht, wie dies z. B. beim Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten der Fall ist, welcher über den Willen des Gesetzgebers hinaus zum Hüter der Verfassung, zum Wahrer des Naturrechts und zum verkörperten Gewissen der Volksgesamtheit geworden ist. Wir haben keine Angst vor der von dem mit zwei ,.t" geschriebenen Namensvetter des Herrn Kollegen Carlo
106
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
Schmid an die Wand gemalten Gefahr einer sogenannten justizförmigen Politik. Das Thema „justizförmige Politik" soll hier nicht behandelt werden. Wohl aber seien einige verfassungs-strukturelle Auswirkungen der Institution eines solchen Hüters der Verfassung angedeutet. 1. Im Verhältnis zu der politisch verantwortlichen R e g i e r u n g erheben sich die vielerörterten Fragen der Nachprüfung von Regierungsakten (actes de gouvernement) und der immanenten Grenzen der Justiziabilität. Sie sind im Zusammenhang mit der Verfassungsklage über die sogenannte Europäische Verteidigungsgemeinschaft in den Jahren 1952 bis 1954 eingehend diskutiert worden (vgl. unten Bern. 2 S. 137). Aus dem neueren Schrifttum seien die Abhandlungen von Hans Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte, 1951, und Helmut Rumpf, Regierungsakte im Rechtsstaat (Ludwig Röhrscheid Verlag, Bonn 1955) hervorgehoben. Maxima non curat praetor. 2. Im Verhältnis zur L e g i s l a t i v e bedeutet es eine strukturelle Veränderung des Gesetzesstaates, wenn zwischen dem normalen oder einfachen Gesetzgeber und dem verfassungsändernden Gesetzgeber unterschieden wird und diese Unterscheidung sich in größerem Umfang auf materielles Recht bezieht; vgl. dazu unten S. 293 f.. Ein Gericht als Hüter der Verfassung erhält vor allem dadurch eine überragende legislative Funktion, daß es die dilatorischen Formelkompromisse der Verfassung entscheidet. Indem es auch Gesetze, die vielleicht jahrelang vollzogen worden sind, mit Wirkung ex tunc für nichtig erklärt, entzieht es der für jedes Gemeinwesen wesentlichen Vermutung der Gültigkeit von Gesetzen den Boden und stellt eine der wichtigsten Prämien auf den legalen Machtbesitz in Frage, vgl. S. 288 f., 348/50. Die darin enthaltene Desavouierung aller an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen erstreckt sich auch auf die Regierung, insbesondere das Justizministerium, auf den Rechtsausschuß des Parlaments und alle Stellen, welche die Veröffentlichung des vernichteten Gesetzes bewirkt haben. Das legt dann die Frage nahe, ob es nicht sinnvoller wäre, einen solchen Hüter der Verfassung vor der Veröffentlichung von Gesetzen um seine Meinung zu fragen, wofür das Registrierungsrecht der französischen Gerichtshöfe des 17. und 18. Jahrhunderts ein lehrreiches rechtsgeschichtliches Analogon bietet. Das käme der Befriedungsfunktion eines Hüters dei Verfassung sehr zu gute. Leider scheint der bloße Gedanke daran bereits abgeschnitten zu sein, weil das Urteil des BVerfG. vom 7. März 1953 erklärt, daß bei Normenkontrolle nur das E r g e b n i s des Handelns des Gesetzgebers geprüft werde. In Leitsatz 3 dieses Urteils (2,144) heißt es: „Es ist rechtlich unmöglich, eine verfassungsrechtliche Zweifelsfrage, die sich bei dem Prozeß der Willensbildung im Bundestag erhoben hat, im Gewände eines Normenstreites zwischen Mehrheit und Minderheit oder Fraktionen vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen." Immerhin ist hier nur von einem Normenstreit zwischen Mehrheit und Minderheit oder Fraktionen die Rede. Auch konnte nach dem Beschluß des Plenums vom 8. Dezember 1952 (2,92) ein G u t a c h t e n bereits dann erbeten werden, wenn die Voraussetzungen für den Antrag im Streit- oder Normenkontrollverfahren noch nicht gegeben waren und konnten — weil das Gutachten dann in der Regel ein weiteres Ver-
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
107
fahren vor den Senaten in der gleichen Frage zwar nicht unzulässig aber tatsächlich überflüssig machen würde — dem Gutachten eine Befriedungsfunktion im Verfassungsleben zukommen. Es ist also nicht so, als entspräche dem strengen Grundsatz der Nicht-Einmischung in ein schwebendes gerichtliches Verfahren auf der andern Seite ein ebenso strenger Grundsatz der Nicht-Einmischung in ein schwebendes Gesetzgebungsverfahren. Jedes Bundesgesetz steht unter dem Vorbehalt einer ex-tunc-Nichtigkeitserklärung, und der scheinbar lapidare Satz: Die Bundesgesetzei werden vom Bundestag beschlossen, bedarf, um vollständig und exakt zu sein, eines entsprechenden Zusatzes. Es läßt sich auch bei giößter Rücksichtnahme nicht vermeiden, daß alle diejenigen Stellen und Personen durch die spätere Nichtigkeitserklärung korrigiert werden müssen, die am Prozeß der gesetzgeberischen Willensbildung beteiligt waren und dabei die Verfassungsmäßigkeit des später für ex tunc verfassungswidrig erklärten Gesetzes stillschweigend oder gar ausdrücklich bejaht hatten. Das gilt namentlich dann, wenn es sich um die Rechts-Referenten eines Ministeriums, insbesondere natürlich des Justizministeriums, handelt. Es ist dies nicht etwa dieselbe Art von Desavouierung, die sich sonst im Rechtsleben häufig ergibt, z. B. wenn im Instanzenzug eines Prozesses juristische Ansichten der Vorinstanz von der höheren Instanz für unrichtig erklärt werden, und noch weniger ist es die Enttäuschung eines juristischen Gutachters, der mit seiner Auffassung nicht durchgedrungen ist. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines im Gesetzblatt verkündeten Gesetzes ist . das Fundament jeder gesetzlichen Ordnung. Diese Vermutung und die sofortige Vollziehbarkeit des Gesetzes, also sein Anspruch auf Gehorsam und die obeissance prealable, gehören zu den Prämien auf dem legalen Machtbesitz, ohne die kein Gemeinwesen bestehen kann; siehe unten S. 288 f. Daraus ergibt sidi eine spezifische Verantwortlichkeit, die durch die Möglichkeit der Normenkontrolle nicht vermindert, sondern gesteigert wird. Der besondere Vertrauensschutz, dessen sich nicht-anfechtbare Entscheidungen nach § 79 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 erfreuen, müßte eigentlich, nach dem Argument a minori ad majus, in entsprechend höherem Grade einem mit Wirkung ex tunc für nichtig erklärtem Gesetz zukommen. Was einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde recht ist, müßte doch für den Gesetzgeber mindestens billig sein, und für den Gesetzunterworfenen, der Rechtsverluste erleidet, liegt dann die Konstruktion eines enteignungsähnlichen Eingriffes sehr nahe (vgl. dazu die Bemerkung 2 unten S. 121). Die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit durch eine am Prozeß der Willensbildung des Gesetzgebers beteiligte Stelle oder Person enthält ein echtes Risiko, dem man nicht dadurch entgehen kann, daß man diese Bejahung der Verfassungsmäßigkeit als eine bloße Meinung hinstellt. Angesichts der hohen Verantwortlichkeit, die jeder trägt, der zuständigerweise an der Willensbildung des Gesetzgebers mitwirkt, ist es keine Lösung des Problems, wenn eine in öffentlich-rechtlicher Zuständigkeit vorgenommene Stellungnahme zu einer freibleibenden Ansicht umgedeutet wird.
108
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
3. Im Verhältnis zur V e r w a l t u n g ist die Entwicklung des Rechtsstaates zum Sozialstaat und der damit verbundene Übergang vom Gesetzesstaat zum Verwaltungsstaat zu beachten. Mit dem Einbruch der Maßnahme in das Gesetz ergibt sich der neue Typus des Maßnahme-Gesetzes, dessen Nachprüfung andere Handhaben erfordert als die Nachprüfung reiner Rechtsgesetze: vgl. dazu Bemerkung 3 unten S. 347/48. Die Vollziehung und Vollstreckung von Entscheidungen und Anordnungen des Hüters der Verfassung wirft ebenfalls eine Reihe neuer Fragen auf; vgl. den Beschluß vom 4. März 1953 (2,139 ff.). Über die allgemeine Tendenz zur VerfassungsAutomatik, d. h. zur Beseitigung der Zwischenschaltung des einfachen Gesetzes und damit zur Verfassungsunmittelbarkeit von Justiz und Exekutive vgl. Bemerkung 4 unten S. 262 und S. 454 f.). 4. Im Verhältnis zur J u s t i z erhebt sich die Frage, ob ein verfassungsunmittelbares Organ, das im höchsten Grade sui generis ist, überhaupt noch in den Rahmen dessen fällt, was im überkommenen, auf der Lehre von der Gewaltenteilung beruhenden Sinne bisher Justiz genannt wurde. Diese Frage läßt sich nicht mit dem Hinweis beantworten, daß schließlich jeder Richter, auch der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in die Lage kommt, über die bloße Gesetzesanwendung hinaus rechtsschöpferisch zu werden. Denn dieser Richter ist kein verfassungsunmittelbares Organ, vor dessen Forum das Gesetz und der Gesetzgeber als solche gezogen und zur Rede gestellt werden. Ebensowenig wäre es schlüssig zu sagen, jeder Richter, der bei einer Normenkollision das eine Gesetz anwendet und das andere nicht anwendet, übe dadurch Normenkontrolle aus. In eine solche Lage kommt nicht nur das Gericht, sondern jeder Anwalt und jeder Gesetzesunterworfene, der mit einer größeren Zahl von Gesetzen zu tun hat, und sich in Normenkollisionen zurechtfinden muß. Der prozeßentscheidende Richter, der sich in einer solchen Normenkollision für die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes entscheidet, wird dadurch nicht zum unmittelbaren Verfassungsorgan. Es ist ein Unterschied, ob ein Richter in der Verlegenheit oder Zwangslage des Zusammenstoßes mehrerer Normen einen Weg sucht, um zu einer Sach-Entscheidung zu gelangen, oder ob eine Normenkontrolle stattfindet, bei der eine ad hoc eingerichtete, der Autorität des Gesetzgebers überlegene Autorität, über Normen als solche zu Gericht sitzt. Ebenso ist ein Unterschied zwischen incidenter oder gar obiter sich ergebenden Stellungnahmen zur Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes im einzelnen Prozeß und — auf der anderen Seite — institutionellen Nichtigkeitserklärungen mit Wirkung ex tunc , die jure exclusivo, undj ausdrücklich als solche ex cathedra ergehen. Für das Verhältnis zur Justiz ist der oben abgedruckte Aufsatz über das Reidisgericht als Hüter der Verfassung besonders zu beachten. Das richterliche Prüfungsrecht war damals noch nicht bei einem Verfassungsgericht zentralisiert und monopolisiert. Art. 100 GG enthält eine scharfe und bewußte Zentralisierung. Unter der Weimarer Verfassung hatte man in dieser Hinsicht noch große Bedenken, wofür namentlich die Bemerkungen von Hugo Preuss sowie die Anmerkungen 8, 21 und 35 aufschlußreiche Beispiele liefern (oben im Text S. 72 und 78).
Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929)
109
5. Es bedürfte einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Untersuchung der Frage, wie weit die Mittel und Methoden des justizförmigen Prozesses ihren Gegenstand verändern. Heute ist selbst Vertretern der Naturwissenschaft bewußt, daß ihre Beöbachtungsmethode und das Beobachtungsmittel den beobachteten Gegenstand nicht unverändert lassen. Um wieviel mehr gilt das für einen förmlichen gerichtlichen Prozeß; vgl. Bemerkung 5 unten S. 350 und Bemerkung 5 unten S. 450 über den Prozeß als Mittel des politischen Kampfes. Es handels sich bei diesen Bemerkungen (1 bis 5) nur um die Andeutung eines verfassungs-strukturellen Zusammenhanges. Andere politischpraktische Fragen, z. B. die Problematik der Richterwahl (vgl. Joseph Kaiser Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin, Duncker & Humblot, 1956, S. 303, und H. Holtkotten im Bonner Kommentar zu Art. 95, S. 31 ff.) lassen wir hier beiseite; desgleichen die Autonomie der Magistratur nach Titel IX Art. 83/84 der Französischen Verfassung von 1946; ebenso die neuerdings vielerörterten Fragen der Einheit der gesamten Rechtsprechung (gegenüber ihrer fachlichen Spezialisierung), sowie das Problem der „Justiz als dritter Gewalt". Es sei nur noch daran erinnert, daß kein Hüter der Verfassung in einem auf Massen-Daseinsvorsorge beruhenden Gemeinwesen dem bereits erwähnten Keynesschen Trilemma (oben S. 28) entgehen kann.
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929) D u r c h die Praxis der Zivilgerichte hat A r t . 153 RVerf. i n den letzten Jahren eine außerordentliche Erweiterung erfahren. Diese Verfassungsbestimmung ist heute auch für das bürgerliche Recht zu einer der meistgenannten gesetzlichen Bestimmungen geworden. Es ist beachtenswert, daß der wissenschaftliche Anstoß zu dieser Entwicklung nicht etwa vom öffentlichen Recht ausging, sondern von dem Aufsatz eines Zivilrechtslehrers, der berühmten Abhandlung von M a r t i n W o l f f , Reichs Verfassung und Eigentum (Festgabe für W . Kahl, Berlin 1923). Der Wortlaut des A r t . 153 RVerf. hält sich in der Hauptsache ganz an die Formeln und Begriffe, die sich i n der rechtsstaatlichen E n t w i c k l u n g des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten: Gewährleistung des Privateigentums; Zulassung einer Enteignung nur aus Gründen des Allgemeinwohls und nur auf gesetzlicher Grundlage; Entschädigung und Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges für die Entschädigung. Es besteht auch kein Anhaltspunkt dafür, daß i n der Weimarer Nationalversammlung beabsichtigt gewesen wäre, diesen typischen Rechtsschutz noch über das i m liberalen 19. Jahrhundert übliche Maß auszudehnen. Eher sollten Einschränkungen aus sozialen (wenn nicht sozialistischen) Gesichtspunkten ermöglicht werden: Inhalt und Schranken des Eigentums ergeben sich aus den Gesetzen; statt voller Entschädigung ist angemessene Entschädigung ausreichend; i m Wege eines einfachen Reichsgesetzes kann eine entschädigungslose Enteignung zulässig und der Rechtsweg beseitigt werden. A u c h die Formel des letzten Absatzes „Eigentum verpflichtet" deutet jedenfalls nicht auf die Absicht einer Erweiterung. U m so auffälliger, daß die gerichtliche Praxis seit einigen Jahren den Eigentumschutz des A r t . 153 gegenüber dem Recht des 19. Jahrhunderts so weit ausgedehnt hat, daß ein völlig neues Rechtsinstitut entstanden zu sein scheint. Der Begriff des geschützten Eigentums umfaßt jetzt „alle subjektiven Privatrechte einschließlich der Forderungsrechte" (RG. 109, 319); der Schutz besteht auch gegenüber Rechtsentziehungen und Einschränkungen durch den Gesetzgeber und
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
111
ist nicht auf den Schutz gegen Verwaltungsakte beschränkt (RG. 102, 165 = JW. 1924, 52; 103, 200; 109, 318), und gleichzeitig ist der Begriff der Enteignung selbst erweitert worden. Daß dieser Begriff heute vielen „Trübungen" und Unklarheiten unterliegt, ist schon öfters festgestellt worden 1 . I n der Praxis des RG. bedeutet die bekannte Entscheidung des 5. ZivSen. vom 13. Dezember 1924 über die Entziehung einer Kohlenrente durch das AnhaltBergG. (RG. 109, 311) wohl die erste Etappe i n der Erweiterung. Hier w i r d (unter Hinweis auf RG. 102, 165; 103, 200) ein E i n g r i f f des Gesetzgebers als Enteignung behandelt; Entziehung irgendeines subjektiven Rechts durch den Gesetzgeber kann Enteignung sein; aber es w i r d doch noch daran festgehalten (um die Enteignung von der Besteuerung zu unterscheiden), daß eine Überführung des entzogenen Gegenstandes i n das Vermögen des durch die Entziehung Begünstigten erforderlich ist. Eine weitere Etappe bildet das U r t e i l des 6. ZivSen. vom 11. März 1927, in welchem die Eintragung eines Grundstücks in eine Denkmalsschutzliste als Enteignung i m Sinne des A r t . 153 betrachtet w i r d (RG. 116, 268 = JW. 1927, 1582). A u c h hier beruft sich das RG. wieder auf frühere Entscheidungen (RG. 105, 253; 107, 269 = JW. 1924, 1964; 108, 253; 111, 226 = JW. 1925, 2227; 112, 191 = JW. 1926, 887). Doch ist dieser Hinweis nicht ganz schlüssig. Zwar spricht schon RG. 105, 253 von bloßer „Beeinträchtigung" des Eigentums durch Zwangseinquartierung und nennt das schon „Enteignung", ohne nach der Uberführung zu fragen. Aber es handelt sich doch bei den Vorentscheidungen hauptsächlich um Eingriffe wie Wohnungsbeschlagnahmen u. dgl., bei denen eine gewisse gegenständliche Uberführung aus einem Vermögen in ein anderes gewahrt bleibt, während bei jener Eintragung in eine Denkmalsschutzliste der Begriff der Enteignung derartig grenzenlos w i r d , daß jede Beschränkung des Eigentumsinhalts auf Grund eines allgemeinen Gesetzes, sobald sie das konkrete Eigentum erfaßt, als Enteignung erscheinen muß. D a m i t entfällt eine der letzten Unterscheidungen, an denen bisher noch festgehalten wurde. Es ist daher kein Wunder, daß diese Entscheidung 1
Wittmayer, Art, Enteignung im Handwörterbuch der Staatswissenschaften I I I , S. 730 f.; W. Scheicher, Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung: Fischers Z. f. Verwaltungsrecht 60 (1927), 137 f.; Krückmann: LZ. 1926, Sp. 315 ff.; Zeiler ebenda, Sp.875 ff.; Alfons Rieß, Enteignungstypen in der Rspr. des RG. nach der Weimarer Verfassung, ebenda 1928, Sp. 217 f.; A. Hensel, Grundrechte und Rechtsprechung, Reichsgerichtsfestschrift (vom Verf. mir freundlicherweise in den Korrekturbogen überlassen).
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
in die Beratungen des Städtebaugesetzes u n d wahrscheinlich auch i n viele andere rechtspolitische Erwägungen „ w i e ein Blitz eingeschlagen" hat 2 . Das Begriffsmerkmal der Überführung des enteigneten Rechts i n das Vermögen eines anderen verliert an praktischer Brauchbarkeit, wenn es unter Verzicht auf alle Gegenständlichkeit genügt, daß das Recht des Eigentümers, m i t seiner Sache nach § 903 BGB. nach Belieben zu verfahren, „zugunsten eines D r i t t e n beeinträchtigt" wird. So war es möglich, unter Benutzung der genannten Entscheidungen des RG., insbesondere der über Entschädigungspflicht für wohnungszwangswirtschaftliche Eingriffe i n die Grundstücksnutzung (RG. 102, 165; 105, 251 usw.), den Begriff der Enteignung i m Sinne des A r t . 153 durch eine so undeutliche Vorstellung wie die des „enteignungsähnlichen Eingriffs" noch mehr zu erweitern und den Schutz des A r t . 153, vor allem die Entschädigungspflicht, auf alle derartigen Eingriffe auszudehnen 3 . Hier w i r d jede Verletzung „wohlerworbener Rechte" zu einer Enteignung. Selbst jede Sachbeschädigung durch Hoheitsakt, jeder wirtschaftliche Schaden und Nachteil kann ohne Mühe als eine entschädigungspflichtige Verletzung konstruiert werden. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie ein Begriffsmerkmal des alten Enteignungsbegriffs nach dem anderen entfällt, ganz unsystematisch von F a l l zu Fall, aber immer i n der Richtung einer Ausdehnung des Eigentumsschutzes. Nachdem man einmal den Begriff der Enteignung in den der Rechtsentziehung oder Rechtseinschränkung aufgelöst hatte, konnte leicht auch jede Interessen Verletzung Enteignung sein; nachdem das Merkmal der Überführung des enteigneten Gegenstandes aus dem Vermögen des Enteigneten i n das eines Begünstigten entfallen war, blieb nur noch „der E i n g r i f f " übrig, bei dem sich leicht ein irgendwie Begünstigter findet, wenn es nicht mehr auf die präzise Gegenständlichkeit des enteigneten Objekts ankommt; da endlich jeder Gesetzgebungsakt eine Enteignung i m Sinne des A r t . 153 sein konnte, entstanden auch gegenüber einem Gesetz, das Rechts- und Vermögensnachteile mit sich brachte, sofort Entschädigungsansprüche aus Enteignung nach A r t . 153. Die drei genannten Begriffserweiterungen (Erweiterung des Eigentumsbegriffs, Wegfall des Merkmals der gegenständlichen Überführung u n d Ausdehnung auf die Gesetzgebung) führen, miteinander kombiniert, zu einem erstaunlichen Er2 3
A. Rieß a.a.O., Sp. 228. A. Rieß, a.a.O., Sp. 227 f.
D i e Auflösung des Enteignungsbegriffs
(1929)
113
gebnis, denn es gibt k a u m ein Gesetz, das nicht irgendwie i n Rechte und Interessen eingreift. Es ist j a bekanntlich geradezu als die Definition des Gesetzes bezeichnet worden, daß es „ i n Freiheit und Privateigentum eingreift" 4 . Was soll also aus der Gesetzgebung werden, wenn jedes Gesetz, da es nun einmal zu seinem Wesen gehört, in Freiheit und Eigentum einzugreifen, m i t H i l f e eines derartig erweiterten Enteignungsbegriffs zu einer Enteignung, und das heißt nach A r t . 153 zu einem entschädigungspflichtigen A k t gemacht wird? Wenn dem Richter, der eine solche Entscheidung politisch gar nicht verantworten könnte, zugemutet w i r d , die Aufwertungsgesetze des Reichs als ungültig zu behandeln, w e i l die A u f w e r t u n g eine „Enteignung" sei, und nach A r t . 153 auch jede R ü c k w i r k u n g zur „Enteignung" w i r d 5 ? Die Landesgesetzgebung würde dann überhaupt unmöglich werden; für einfache Reichsgesetze ergäbe sich die Notwendigkeit, formelmäßig allen Gesetzen die Bestimmung hinzuzufügen, daß keine Entschädigung geleistet w i r d 6 . Die Folgen dieser Auflösung des Enteignungsbegriffs zeigen sich bereits i n Entschädigungsforderungen, die man früher für unmöglich und phantastisch gehalten hätte. I n einer gutachtlichen Äußerung, die i n den „Deutschen Hotelnachrichten" (offizielles Organ des Reichs Verbandes der deutschen Hotels) vom 24. März 1928 veröffentlicht ist, w i r d behauptet, es sei eine Enteignung oder wenigstens ein „enteignungsähnlicher E i n g r i f f " i m Sinne des A r t . 153 RVerf., wenn in § 1 Abs. 4 des Entwurfs zum Schankstättengesetz bestimmt ist, daß, solange i n einer Gemeinde mehr als eine Schankstätte m i t Ausschank geistiger Getränke auf je 400 Einwohner entfällt, die Erlaubnis auch für bestehende Schankstätten m i t Ausschank geistiger Getränke nur ausnahmsweise erteilt werde. Die Enteignung soll darin liegen, daß diese Norm i n ihrer praktischen A u s w i r k u n g die Vernichtung günstiger Geschäftschancen für einen erheblichen Teil aller Schankstättenbetriebe bedeutet. Das w i r d als E i n g r i f f in das Geschäftsver4
Denn es ist die Eigenschaft jedes Gesetzes im materiellen Sinn, daß es der persönlichen Freiheit im allgemeinen, dem Eigentum im besonderen, Schranken zieht: Anschütz, Artikel Gesetz in Stengel-Fleischmanns Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. II, S. 215. Nach Anschütz gab es „damals 1848 wie heute nur einen materiellen Gesetzesbegriff, den . . . der die Freiheit- und Eigentumformel umschreiben will und umschreibt". 6 Krückmann a.a.O., Sp. 316/317. 6 Nach RG. 102, 166 ist eine deutliche Erklärung des gesetzgeberischen Willens notwendig, wenn eine Enteignung auf Grund eines Reichsgesetzes ohne eine angemessene Entschädigung erfolgen soll. 8
Carl Schmitt
114
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
mögen, also i n ein geldwertig subjektives Recht aufgefaßt; auch das Erwerbsgeschäft sei j a ein solches subjektives Recht nach A r t . 153; das Gesetz selbst soll ein enieignungsähnlicher E i n g r i f f sein. Solche Übertreibungen erklären sich nur daraus, daß die verschiedenen, i n einzelnen RGEntsch. verstreuten Erweiterungen der einzelnen Begriffsmerkmale des Enteignungsbegriffs aus dem Zusammenhang des einzelnen Falls gelöst, systematisiert und verabsolutiert und dann miteinander kombiniert werden. Nach allen Regeln der Logik muß das zu einer grenzenlosen Auflösung führen, denn drei Beseitigungen, also negative Größen, ergeben, miteinander multipliziert, ein verdreifachtes Negativum, bei dem so gut wie nichts übrig bleibt. Demgegenüber sei daran erinnert, daß das RG. keineswegs den Grundsatz aufgestellt hat, daß bei allen Verletzungen von Privatinteressen oder auch -rechten durch die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte eine allgemeine Entschädigungspflicht bestände. I n der Entscheidung RG. 108, 256 w i r d das ausdrücklich abgelehnt. Es ist deshalb auch unrichtig, dem A r t . 153 den Sinn zu unterlegen, daß er die Grundlage einer allgemeinen Entschädigungspflicht für staatliche Eingriffe geworden sei und damit die Rolle des § 75 der Einleitung zum P r A L R . übernommen habe, und zwar unter Beseitigung der Schranken, die für diesen § 75 bisher unangefochten galt, daß nämlich gegenüber Eingriffen der Gesetzgebung kein Entschädigungsanspruch besteht. Die Versuche, allgemein gegenüber jedem enteignungsähnlichen E i n g r i f f der Gesetzgebung eine Entschädigungspflicht zu konstruieren, können sich also nicht auf die bisherigen A^orentscheidungen des RG. stützen. Aber es ist erklärlich, daß sie immer von neuem gemacht werden, denn das Interesse an solchen Entschädigungsansprüchen ist groß und die bisherige gerichtliche Praxis k a m dem Entschädigungsinteresse sehr weit entgegen, bewegte sich also ebenfalls in der Richtung einer Ausdehnung der Entschädigungsansprüche. So kommt es zu dem logischen Zirkel: jeder Eingriff, für den eine Entschädigung verlangt w i r d , soll eine Enteignung i m Sinne des A r t . 153 sein, weil nach A r t . 153 Enteignungen grundsätzlich entschädigungspflichtig sind. D u r c h diese Tendenz zur Ausdehnung der Entschädigungsansprüche hat sich die F u n k t i o n des A r t . 153 gewandelt oder wenigstens erweitert. Aus einem Schutzmittel des Privateigentums gegen Entziehung i m Wege der Enteignung durch Verwaltungsakt (d.h. durch einen A k t der Gesetzesanwendung) ist ein Schutzmittel gegen die Gesetzgebung selber geworden. So sehr man ein solches Schutz-
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
115
bedürfnis anerkennen mag, so w i r d man doch eine Grenze dieser Tendenz finden müssen, wenn nicht einfach der Richter zum Gesetzgeber werden soll, der auf G r u n d vieldeutiger und zahllosen Meinungsverschiedenheiten ausgesetzter Verfassungsbestimmungen und auf G r u n d irgendeiner der vielen, zum großen Teil überhaupt nicht justiziablen „Normen" des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung Gesetze für verfassungswidrig erklärt 7 und Entschädigungsansprüche gegen den Staat verleiht. Die bisherige Praxis der Erweiterung des Enteignungsbegriffs dürfte jedenfalls ihre äußerste Grenze erreicht haben 8 . Die Ausdehnung u n d Auflösung des Enteignungsbegriffes noch weiter zu treiben, ist m. E. unmöglich. Die Auslegung des A r t . 153 muß folgende äußerste Grenze beachten: 1. Für den Enteignungsbegriff kann nicht auf das Merkmal einer gegenständlichen Überführung des bestimmten entzogenen Rechtes aus dem Vermögen des Enteigneten i n das Vermögen des Begünstigten 7
Über die engen Grenzen des richterlichen Prüfungsrechts, die sich aus der bekannten Entsch. vom 4. November 1925 RG. 111, 320 ergeben: Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (in der Reichsgerichtsfestschrift zum 1. Oktober 1929) (im Text oben S.63f.). 8 Sie leidet an einer Reihe von Widersprüchen, von denen folgende hervorgehoben seien: 1. Die RVerf. will den Schutz des Eigentums nidit über den Normalstand von 1919 ausdehnen. Ausdrücklich wird das RG. 112, 192 bestätigt. „Da nach den Tendenzen der RVerf. nicht anzunehmen ist, daß sie dem von einer Enteignung Betroffenen mehr Rechte hat geben wollen als sie ihm in solchem Falle nach dem im größeren Teile Deutschlands bis dahin geltenden Rechte zustanden.4' Trotzdem ist die ganze oben dargestellte Praxis der Gerichte nichts als eine immer größere Ausdehnung dieses Sdiutzes: Schutz vor Gesetzgeber; Schutz aller denkbaren Rechte; Auflösung des Enteignungsbegriffs. 2. Einerseits wird das Merkmal der gegenständlichen Überführung fallen gelassen (vgl. RG. 116, 268), und eine bloße Beeinträchtigung und eine irgendwie konstruierte Begünstigung für ausreichend erachtet; andererseits wird doch wieder daran festgehalten, daß eine Überführung zum Begriff der Enteignung gehört, um . sie wenigstens von einer Besteuerung zu unterscheiden (vgl. RG. 109, 318). 3. Nicht jede Verletzung von privaten Interessen, die durch Ausübung eines Hoheitsrechtes erfolgt, begründet eine Entschädigungspflicht; „ein solcher Rechtssatz besteht nicht" (RG. 108, 256 = JW. 1924, 540). Trotzdem sind die in der gleichen Entsch. RG. 108, 256 zit. Beispiele, die beweisen sollen, daß die Entschädigungspflicht bei staatlichem Eingreifen einer besonderen gesetzlichen Anerkennung bedarf (KriegsleistungsG. vom 13. Juni 1873, RayonG. vom 21. Dezember 1871, ViehSeuchG. vom 26. Juni 1909), Beispiele von Eingriffen, die man an der Hand der früher genannten Entsch. des RG. unter Benutzung des erweiterten Enteignungsbegriffs leicht als Enteignungen i. S. des Art. 153 und daher auch ohne besondere gesetzliche Anordnung entschädigungspflichtig hinstellen kann. 8*
116
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
verzichtet werden. Es genügt nicht, eine Bereicherung irgendwelcher A r t oder ein z. B. durch Ausschluß der Konkurrenz oder dergleichen auf der Seite des „Begünstigten" eintretender wirtschaftlicher Vorteil, ebensowenig wie ein wirtschaftlicher Nachteil, tatsächliche und rechtliche Unmöglichkeit zur Weiterführung des Betriebes oder dergleichen auf der Seite des „Enteigneten" genügt, um von einer Enteignung zu sprechen. Dieses Begriffsmerkmal der gegenständlichen Überführung ist eigentlich weder i n der Rechtsprechung der Gerichte noch i m wissenschaftlichen Schrifttum aufgegeben worden. Es hat nur den Anschein, als ob es unter dem Eindruck einer grenzenlosen Begriffserweiterung dem allgemeinen Bewußtsein allmählich entschwände. 2. Es ist daran festzuhalten, daß der Schutz des Privateigentums durch A r t . 153 grundsätzlich durch die Rechtslage des Jahres 1919 bestimmt ist 9 . Es ist daher nicht zulässig, i n der vorerwähnten Weise den Wegfall verschiedener Merkmale miteinander zu kombinieren und einem außerordentlich erweiterten Enteignungsbegriff auch noch die Gesetzgebung von Reich und Ländern zu unterwerfen. Der Schutz gegen den Gesetzgeber richtet sich nicht gegen generelle Bestimmungen, sondern nur gegen Mißbrauch der Gesetzgebungsform zu konkreten Enteignungsakten. Der Schutz nach A r t . 153 besteht nicht darin, daß der Enteignungsbegriff erst ins Grenzenlose erweitert und dann gegen das Gesetz ausgespielt w i r d , sondern darin, daß eine Enteignung nur auf gesetzlicher Grundlage stattfinden darf, d h . die Enteignung muß ein A k t der Gesetzanwendung sein, während der Gesetzgeber nur das von den zuständigen Verwaltungsbehörden anzuwendende generelle Enteignungsgesetz geben darf, i n welchem Voraussetzung u n d Verfahren der Enteignung allgemein geregelt sind. Die Formel „ a u f G r u n d eines Gesetzes" ist für das deutsche Verfassungsrecht der technische Ausdruck für das, was i m angelsächsischen Verfassungsrecht als „due process of /arc?" bezeichnet wird. Diese Formel g i l t wie für jeden Rechtsstaat 10 , auch für das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung. Nicht i n der Ausdehnung des Enteignungsbegriffes auf A k t e der Gesetzgebung, sondern in der 9 Krückmann a.a.O., Sp. 319, betont mit Recht (wie Anschütz), daß der Begriff der Enteignung in Art. 153 vorausgesetzt ist, und zwar nach dem Stande des Inkrafttretens der Weimarer Verfassung. Leider sieht er aber nur das zivilistische, nicht das verfassungsrechtliche Problem und geht in der Unterwerfung des Gesetzgebers unter den Richter noch weiter als das Reichsgericht. 10 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 152.
Die Auflösung, des Enteignungsbegriffs (1929)
117
Unterscheidung von Enteignungsgesetz (als genereller Norm) und Enteignung, d.h. Anwendung des Enteignungsgesetzes auf den einzelnen F a l l liegt der Schutz gegen den Gesetzgeber. A r t . 153 w i l l den Gesetzgeber nicht über das vor der Weimarer Verfassung selbstverständliche Maß hinaus beschränken. 3. Es ist notwendig, bei der Auslegung des A r t . 153 RVerf. vor allem die staats- und verfassungsrechtliche Seite der Angelegenheit zu beachten. Jene Verfassungsbestimmung hat nicht den Sinn, m i t Hilfe eines erweiterten Enteignungsbegriffs den Gesetzgeber der Kontrolle des Zivilrichters zu unterstellen und aus dem Schutz des Eigentums ein Hindernis der Gesetzgebung zu machen. Es liegt vielleicht nahe, folgende Analogie zu konstruieren: wie i m Polizeistaat des 18. Jahrhunderts durch die gerichtliche Praxis mit H i l f e der Lehre vom Fiskus i n weitem Maße eine allgemeine Entschädigungspflicht des Staates gegen staatliche Hoheitsakte durchgesetzt wurde, so könnte heute m i t H i l f e des A r t . 153 eine Korrektur des heutigen Gesetzgebungsstaates vorgenommen werden u n d der Staat zu einer entschädigungspflichtigen Gesetzgebung gezwungen werden. Eine solche Analogie würde aber den Gerichten eine ganz unabsehbare politische Aufgabe zuweisen und ihnen die Entscheidung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Fragen zumuten, deren Lösung nach unserem Verfassungsrecht Sache des Gesetzgebers ist. Man darf bei allen Fragen, welche die Auslegung und Anwendung von Verfassungsbestimmungen betreffen, niemals vergessen, welche widersprechenden Möglichkeiten i n den Bestimmungen des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung liegen. Es wäre politisch und verfassungsrechtlich gleich kurzsichtig, die auf solche unsicheren „Normen" gestützte politische Machterweiterung des Richters gegenüber dem Gesetzgeber als einen T r i u m p h des Rechtsstaates zu feiern. Sie ist i n Wahrheit ein gefährliches Geschenk. Denn es ist ein unumstößliches verfassungsrechtliches A x i o m , daß der Richter nur solange unabhängig ist, als er an Gesetze gebunden ist (und zwar an Gesetze, die justiziabel sind, d. h. wirkliche inhaltliche Bindungen ermöglichen). Ohne Gesetzesgebundenheit gibt es auf die Dauer keine richterliche Unabhängigkeit. Das eine ist das Korrelat des anderen. Wenn diese verfassungsrechtliche Stellung des Richters verkannt und die allgemeine verfassungsrechtliche Seite der vorerwähnten Fragen nicht beachtet w i r d , so macht man den Richter mit H i l f e des in sich selbst sehr heterogenen zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung zum Gesetzgeber, und zwar zu einem „unabhängigen", d. h. politisch unverantwortlichen Gesetz-
118
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
geber. D a n n muß es zu K o n f l i k t e n zwischen den politisch verantwortwortlichen Stellen und der unabhängigen Justiz kommen, u n d dann wäre es möglich, daß sich auch, hier wieder der Satz bewahrheitet, den man i n Deutschland nicht oft genug wiederholen kann: daß bei solchen K o n f l i k t e n zwischen P o l i t i k u n d Justiz die Politik nichts zu gewinnen und die Justiz alles zu verlieren hat.
Der Aufsatz erschien 1929 in der Juristischen Wochenschrift Band 58, Heft 8, S. 495 bis 498. Er stellt den Beginn einer Entwicklung fest, die für Inhalt und Struktur des Eigentums und seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistung entscheidend geworden ist. Vom dem — an sich durchaus berechtigten — Bestreben geleitet, Entschädigungsansprüche zu begründen, die das Rechtsgefühl forderte, haben die deutschen Gerichte den Begriff der Enteignung (Art. 153 der Weimarer Verfassung, Art. 14 des Bonner Grundgesetzes) immer weiter ausgedehnt. Diese Tendenz hat folgerichtig zu dem Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 10. Juni 1952 (Band 6, S. 270, 278: JZ 52, 622 mit Anm. von E. Forsthoff) geführt: der Ansprudi auf Entschädigung wegen Enteignung geht in einem allgemeinen Anspruch auf Entschädigung wegen eines ungleichen Einzeleingriffs unter. Aus der Eigentumsgarantie ist eine allgemeine Vermögensgarantie geworden, die sich in Entschädigungs-, Aufopferungs- und Lastenausgleichs-Ansprüchen auswirkt. Wir haben drei systematische Darstellungen des Problems der Enteignung, die sich in verschiedenen Disziplinen bewegen, von denen aber jede in ihrer Art meisterhaft ist: eine verfassungsrechtliche von Werner Weber (in dem Handbuch Die Grundrechte, herausgegeben von Fr. Neumann, Nipperdey und Scheuner); eine verwaltungsrechtliche von Ernst Forsthoff (in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 6. Aufl. S. 177 ff.), und eine wirtschaftsverwaltungsrechtliche von E. R. Huber (Wirtschaftsverwaltungsrecht I I S. 19 ff.). Die Entwicklung setzt mit dem berühmten Aufsatz ein, den Martin Wolff 1923 in der Berliner Festgabe für Wilhelm Kahl veröffentlicht hat. Ausgangspunkt und Kern der ganzen Auflösung ist die Ausdehnung der Eigentumsgarantie zu einer Garantie jedes Vermögensrechts. Die weiteren Begriffsmerkmale der Enteignung — bestimmtes Unternehmen, Übereignung, Verwaltungsakt auf Grund eines Gesetzes, Entschädigung — mußten dann von selbst entfallen. Die Enteignung wird ausschließlich negativ bestimmt: als Wegnahme, Entziehung, Eingriff, Reditsverlust. Diese Begriffsbildung leuditete gerade bürgerlich-reditsstaatlich denkenden Juristen ein, weil sie die Verfassungsgarantie auf alle privaten Rechte und schließlich sogar auf öffentlichrechtliclie Ansprüche auszudehnen schien. Für eine solche Verallgemeinerung und Ausdehnung schien ihnen die Zerstörung des sogenannten klassischen Enteignungsbegriffes kein zu hoher Preis. In Wirklichkeit bedeutete die gleichzeitige Ausdehnung und Auflösung den Übergang von der Substanz zur reinen Funktion. Die in sich folgerichtige Entwicklung führt deshalb nicht nur zur Auflösung des Enteignungs-
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
119
begriffes, sondern auch zur Auflösung des Eigentumsbegriffes selbst, der dadurch funktionalisiert und entsubstanziiert wurde. Der Aufsatz von 1929 hat zum erstenmal auf die Gefahr hingewiesen, die in der Auflösung des sogenannten klassischen Enteignungsbegriffes liegt. Er ist auch in den letzten Jahren noch öfters genannt worden. Rolf Stödter zitiert ihn an der Spitze seines großen Aufsatzes im Jhg. 1953 DÖV. Günter Dürig hat in einem sehr bedeutenden Aufsatz (JZ 15. Januar 1954) der ganzen Entwicklung ein „Zurück zum klassischen Enteignungsbegriff!" entgegengerufen. Aber audi Dürig sagt, daß es keine Rückkehr zu einem auf Sachen beschränkten Enteignungsbegriff und keine Rückkehr in die Zeit vor Martin Wolff gibt. Auch er will unter der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie die Garantie aller subjektiven Vermögensrechte verstehen. Auch ich weiß, daß die Zeiten sich geändert haben und bin mir des allgemeinen Trend, der von der Substanz zur Funktion geht, wohl bewußt. Trotzdem halte ich es für notwendig, die Besonderheit des verfassungsrechtlichen Enteignungsproblems rechtsbegrifflich, entschädigungsrechtlich und rechtsgeschichtlich zu präzisieren. 1. Recktsbegrifflieh sind Eigentum und Enteignung in jeder Rechts- und Wirtschaftsordnung einander zugeordnet und strukturell korrespondierende Begriffe, vorausgesetzt, daß die Enteignung ein Rechtsinstitut und nicht irgendeine Entziehung, irgendein Eingriff oder Rechtsverlust sein soll. Eine bürgerlich-rechtsstaatliche Eigentumsorclnung hat infolgedessen nicht nur einen andern Eigentums- sondern auch einen andern Enteignungsbegriff wie eine sozialistische oder eine feudale Eigentumsordnung. So wenig Eigentum in verschiedenen Zeiten und Wirtschaftsordnungen einfach gleich Eigentum ist, so wenig ist Enteignung gleich Enteignung. Ein solcher Irrtum wird nur dadurch möglich, daß man die Enteignung rein negativ als Entziehung, Wegnahme, Eingriff usw. bestimmt, und das spezifische Rechtsinstitut der Enteignung in dieser abstrakten Negativität untergehen läßt. Das mag der Denkweise von Berufsrevolutionären entsprechen, aber nicht der von Juristen. Heute dürfte in Deutschland wenigstens soviel Unterscheidung zum allgemeinen Bewußtsein gekommen sein, daß wenigstens Konfiskation, Verwirkung, Sozialisierung, soziale Umschichtung und die Enteignung als Rechtsinstitut nicht mehr miteinander vermischt werden. Der Aufsatz von Werner Weber. Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsreeht (NJW 1950 S. 401) darf hierfür als ein klassisches Dokument gelten. Uber diese ersten Unterscheidungen hinaus muß der spezifische Zusammenhang von Eigentum und Enteignung erkannt werden, und aus dieser Erkenntnis heraus sind neue, der gegenwärtigen Verfassungslage des sozialen Rechtsstaats gemäße, echte Rechtsinstitute zu entwickeln. Es geht hier um folgende verfassungsrechtliche Einsicht: jede Verfassung, die Eigentum anerkennt und garantiert, muß mit dieser Anerkennung und Garantie den Vorbehalt einer möglichen Ausnahme im Einzelfall verbinden. Sie muß zu diesem Zweck ein ihr spezifisches Rechtsinstitut der Enteignung oder auch auch mehrere solcher Rechts institute entwickeln. Die Offenhaltung der bloßen Negation des Garantierten ist noch kein Rechtsinstitut. Auch die allgemeine Anordnung einer Entschädigung, einer Abfindung oder eines Ausgleichs genügt nicht für ein solchcs Rechtsinstitut. Nicht einmal ein
120
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
Junktim (Art. 14, 15 GG) reicht dafür aus. Das mit einer echten Verfassungsgarantie implizierte Rechtsinstitut der Enteignung hat erst dann Gestalt gewonnen, wenn ein spezifisches Verfahren mit spezifischen Instanzen geschaffen ist, ein due process of law, der dafür bürgt, daß jede Negation des Eigentums im Einzelfalle nach Verfahren und Auswirkung gleichzeitig eine grundsätzliche doppelte Anerkennung enthält, nämlich die Anerkennung sowohl des weggenommenen Einzeleigentums, wie der gesamten Eigentumsordnung, auf der es beruhte und in deren Rahmen die Enteignung vor sich geht. Die Verbindung von Verneinung und Bejahung des Eigentums und ihre Gestaltung zu einem Rechtsinstitut ist der Kern des Enteignungsproblems. Die Verbindung und Verschmelzung einer Entziehung mit gleichzeitiger Anerkennung ist die rechtliche Gestaltungsaufgabe, vor der ein Gesetzgeber steht, der ein Enteignungsgesetz erlassen will. Die im 19. Jahrhundert entwickelte Art der Enteignung verdient das Prädikat klassisch, weil sie der inneren Dialektik von Negation und Anerkennung in vorbildlicher Weise Herr geworden ist. Ulrich Scheuner (Reinhardt-Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 85) spricht geringschätzig von dem klassischen Enteignungsbegriff als einer „Legende". Demgegenüber möchte ich den guten Sinn dieser Bezeichnung hervorheben. Ich kenne kein Enteignungsverfahren, das Negation unci Anerkennung des Eigentums durch die Regelung der Enteignung als eines rechtlichen Vorganges so vorbildlich zum Ausdruck bringt, wie das Preußische Enteignungsgesetz vom 11. Juni 1874. Es scheint mir im Grundsatz wie im Ansatz unrichtig zu sein, mit Günter Dürig bei einer Restituierung des klassischen Enteignungsbegriffes „allein den Rechtsverlust als das wesentliche Kennzeichen der Enteignung" anzusehen. Es gibt Rechtsverluste aller Art und gibt Entschädigungen, Abfindungen, Wiedergutmachungen aller Art. Aber der Ausgangspunkt für eine Erkenntnis des Rechtsinstituts der Enteignung bleibt die Verbindung von Verneinung und Bejahung, von Entziehung und positiver Anerkennung. Ein Jurist, der sich dieser inneren Logik des. Rechtsbegriffs der Enteignung entziehen will und die dialektische Anstrengung solcher Begriffe scheut, beschleunigt die allgemeine Funktionalisierung. Von einem Hüter des Eigentums sollte man dann nicht mehr sprechen, denn die Auflösung des Enteignungsbegriffes ist von der Auflösung des Eigentumsbegriffes nicht zu trennen. 2. Entschädigungsrechtlich folgt aus der begriffsnotwendigen Verbindung von Anerkennung und Entziehung des Eigentums, daß die sogenannte Entschädigung bei der Enteignung nicht irgendein beliebiger Entschädigungsanspruch ist. Die Entschädigung ist kein die Grenze der Enteignung konstituierendes Moment; darin hat Ulrich Scheuner recht. Aber wenn er sie als eine bloße Folge der Enteignung bezeichnet, muß ich ihm widersprechen. Sie ist auch keine Abfindung, kein allgemeiner Ausgleich, sei es Lastenoder Opferausgleich. Wer hier die Vorstellung einer allgemeinen Lastengleichheit verwendet, setzt die Enteignung mit steuerlicher Belastung gleich und rechtfertigt dadurch die Zerstörung des Eigentums im Wege der Besteuerung. Die Verwendung des Wortes „Opfer" könnte an sich einen richtigen Gesichtspunkt zur Geltung bringen. Aber inzwischen ist ja auch das
Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
121
Wort Opfer funktionalisiert worden. Opfer wird dann schließlich alles, wofür man eine Entschädigung verlangen kann. Das war eigentlich nicht der ursprüngliche Sinn und das Wesen des Opfers. Die Anerkennung des Eigentums muß in der besonderen Gestaltung der Entschädigung zum Ausdruck kommen. In den Verfassungen des 19. Jahrhunderts war das in der Weise verwirklicht, daß für die Entschädigung gewisse Eigenschaften verlangt wurden: vorgängige und volle, adäquate und effektive Entschädigung, vollgültiger Wertersatz mit Substitutionscharakter. Solange der Gedanke einer Verbindung der Entziehung mit gleichzeitiger Anerkennung des Eigentums noch lebendig war, galt infolgedessen die Enteignungsentschädigung als eine wertbeständige Forderung, die einer Geldentwertung nicht unterlag. Das Reichsgericht hat diesen Gedanken während der Inflation nach dem ersten Weltkrieg festgehalten. Aber auch das ist in der allgemeinen Auflösung des Enteignungsbegriffs verlorengegangen. In der unterschiedslosen Gleichsetzung jedes Vermögensrechts mit jedem andern Vermögensrecht war schließlich nicht mehr einzusehen, warum ein Grundstückseigentümer, dem sein Recht entzogen worden war, besser gestellt sein sollte, als irgendein anderer Forderungsberechtigter. Bezeichnenderweise werden nach dem Entwurf des Kriegsfolgenschlußgesetzes (Drucksache des deutschen Bundestages 1953, Nr. 1659, S. 7 und 53) im § 10 Abs. 1 Nr. 2 Ansprüche auf Zahlung einer Enteignungsentschädigung nur in Höhe von 10°/o des Nennbetrages erfüllt. In dem Zirkel der Auflösungen ist Enteignung jede Art von Schäden, für die man eine Entschädigung erhalten soll, und Entschädigung alles, was eine derartig aufgefaßte „Enteignung" voraussetzt. Die schuldlos rechtswidrigen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Vermögenssphäre von Zivilpersonen sind durch den Beschluß des Großen Zivilsenats von 9. und 10. Juni 1952 (BGHZ 6, 270 ff.) als „enteignungsgleiche" Eingriffe bezeichnet worden. Daß hier ein Einbruch in das überkommene Begriffssystem liegt, ist in dem ausgezeichneten Grundriß des Verwaltungsrechts von Hans J. Wolff (Verwaltungsrecht I, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung München und Berlin 1956, § 67 S. 293) mit Recht hervorgehoben worden. Die Widerspruchsfülle und der Mangel an Folgerichtigkeit, der hier obwaltet, bekunden sich dann darin, daß auf der andern Seite die Einziehung täterfremden Eigentums im Straf- und Yerwaltungsrecht keine Enteignung sein soll; dazu Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts 6. Auflage, S. 282, Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 39 ff. Ferner sollen, trotz aller sonstigen Ausdehnung der Eigentumsgarantie auf sämtliche Vermögensrechte, Eingriffe durch Auferlegung von Geldleistungspflichten keine Enteignungen sein; so die Entscheidungsgründe des Urteils des BVerfG vom 20. Juli 1954, Bd. 4 S. 17, wo die Verfassungsbeschwerde gegen das Investitionshilfegesetz vom 7. Januar 1952, BGBl. 1 S. 7, zurückgewiesen wird. Auch eine „Liquiditäts-Enteignung" wird nicht als Enteignung anerkannt. Der von Georg Strickrodt eingeführte Begriff der „Liquiditäts-Enteignung" enthält neue Gesichtspunkte, die eine Überprüfung des aus dem 19. Jahrhundert übernommenen Satzes nahelegen, daß Geld-Enteignungen begrifflich unmöglich seien. Die dreijährige Geschichte des Investitionshilfegesetzes vom 7. Januar 1952 wirft ein grelles
122
D i e Auflösung des Enteignungsbegriffs
(1929)
Licht auf die Probleme der modernen Eigentumsgarantie. Beim Vollzug dieses Investitionshilfegesetzes, das den Betrag der Hilfe gesetzlich auf 1 Milliarde DM beschränkte, sind mehr als 100 Millionen DM über den gesetzlichen Betrag hinaus eingezogen worden. Die naheliegende juristische Frage, wie diese Überschreitung rechtlich zu beurteilen ist, hat aber kaum Interesse gefunden. Man hat auch nicht daran gedacht, das merkwürdige Plus zurückzuzahlen. Im Parlament ging ein Versuch, die Angelegenheit zur Sprache zu bringen, in allgemeiner Heiterkeit unter (Sitzungsbericht der 65. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 28. Januar 1955, S. 3358 ff.). 3. Rechtsgeschichtlich ist zu beachten, daß jede Ausgestaltung der Entziehung des Eigentums zu einem Rechtsinstitut sinnvollerweise zu einer Differenzierung verschiedener Gegenstände des Eigentums kommt. Die Widerstandskraft verschiedener Rechte und Gegenstände gegenüber der Entziehung ist der Natur der Sache nach verschieden. Das ist ein allgemeines Thema für sidi. Es genügt, hier daran zu erinnern, daß die Enteignung kirchlichen Vermögens einer Reihe von Sonderregelungen unterliegt. Diese verschiedene „Widerstandskraft gegen eine Inanspruchnahme für öffentliche Zwecke" (Werner Weber) hat dazu geführt, daß die Enteignung von Grundeigentum und von beweglichen Sachen im französischen Recht in zwei verschiedenen Rechtsinstituten der expropiation und der requisition ausgestaltet worden ist. Beim Grundeigentum ergeben sich spezifische Besonderheiten durch seine Raumhaftigkeit, Unbeweglichkeit, Sichtbarkeit und Öffentlichkeit. Der sog. klassische Enteignungsbegriff betrifft nur das Grundeigentum. Das bereits erwähnte preußische Enteignungsgesetz vom 11. Juni 1874, dessen vorbildliche Rechtsstaatlichkeit allgemein anerkannt ist, liefert hierfür ein anschauliches Beispiel. Doch gilt das auch für alle anderen deutschen Enteignungsgesetze des 19. Jahrhunderts. Die rechtsgeschichtliche Erklärung — etwa die Herkunft dieser Enteignungsgesetze aus dem Eisenbahnrecht — ist den meisten Juristen, die sich mit dem Problem der Enteignung zu beschäftigen haben, viel zu wenig zum Bewußtsein gekommen. In einer hervorragenden Abhandlung aus dem Jahre 1940 (Deutsche Reditswissenschaft Bd. 5 S. 137) hat Sava Klickovic schon in der Überschrift den entscheidenden Punkt getroffen: „Die Enteignung, ein dem Grundeigentum und der Bodenbeschaffung zugeordnetes Rechtsinstitut". Die weitere Entwicklung zu der heutigen Problematik von Bau- und Bodenrecht, Städteplanung und Raumordnung zeigt, daß die rechtstypenbildende Widerstandskraft des Grundeigentums nicht in der allgemeinen Begriffsverwischung untergehen darf. Auch im Sozialstaat muß es zu Differenzierungen der Widerstandskraft des Eigentums kommen, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des Eigentums dort nicht leerlaufend werden soll. I n seinem vorhin genannten Aufsatz „Zurück zum klassischen Enteignungsbegriff" will Günter Dürig bei der Restituierung des klassischen Enteignungsbegriffs von der Besonderheit des enteigneten Gegenstandes absehen. Ein ärgeres Mißverständnis des klassischen Enteignungsbegriffs kann ich mir nicht denken. Der Zusammenhang mit dem Grundeigentum bestimmt die Struktur des klassischen Enteignungsbegriffes. Es ist juristisch unmöglich, von diesem Zusammenhang zu abstrahieren und dann noch von klassischem Enteignungsbegriff zu sprechen. Heute wäre es Aufgabe des Gesetz-
D i e Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929)
123
gebers, seinen Respekt vor den verschiedenen Arten des Eigentums durch die Ausbildung spezifischer Enteignungsinstitute zu bewähren. Denn auch im Sozialstaat wird es verschiedene Grade der Widerstandskraft gegenüber öffentlichrechtlicher Inanspruchnahme geben, solange ein besonderes Wohnund Heimstättenrecht, besondere Sicherungen der Familie und ihrer taumhaften Hegung, anerkannt sind. Auch hier bleibt die Unterscheidung von Sacheigentum und Forderungsrechten sinnvoll. Versagt der Gesetzgeber vor dieser sozialstaatlichen Aufgabe, so muß eine mit Generalklauseln und allgemeinen Begriffen wie Zumutbarkeit sidi behelfende Rechtswissenschaft die schwierige Aufgabe der Weiterentwicklung des Eigentumsrechts übernehmen. Doch sehe ich nicht, wie ein judge made lam in einem modernen, auf Massen-Daseinsvorsorge angelegten, industrialisierten Gemeinwesen diesei Aufgabe gewachsen sein könnte. Dadurch, daß man die Verfassungsgarantie des klassischen Enteignungsbegriffs auf alle Vermögensrechte ausdehnte, wurde der Anschein erweckt, als wäre jetzt die starke, spezifische Widerstandskraft des Grundeigentums auf alle Vermögensrechte ausgedehnt. Vielleicht hat mancher das für einen großen Fortschritt gehalten und an eine Verbesserung der Eigentumsgarantie geglaubt. In Wirklichkeit wurde eben dadurch jede spezifische Widerstandskraft zerstört und eine allgemeine Funktionalisierung beschleunigt, die sämtliches Eigentum dem Schicksal des Geldes unterwarf, ohne daß auch nur die kleinste Verfassungsgarantie gegen Geldentwertung und Inflation geschaffen oder ein Hüter der Währung als der wahre Hüter des Eigentums eingeführt wurde. Entscheidend bleibt die Erkenntnis, daß keine „Entschädigung" ausreicht, um die Zerstörungen auszugleichen, die mit der Auflösung des Eigentums in ein allgemeines Vermögensrecht verbunden sind. Denn was hier zerstört wird, ist nicht nur Grundeigentum und Vermögen, sondern der Gedanke eines raumhaften Zusammenhanges von Haus und Wohnung und Familie, der Verbindung von Eigentum und Erbe, die mit der alten verfassungsrechtlichen Garantie noch gemeint war, und die „Konkretisierung als Hinwendung zum Typus in Recht und Rechtswissenschaft", wie Karl Engisch es in seiner bedeutenden Abhandlung „Über die Idee der Konkretisierung" (Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1953, 1. Abhandlung S. 237 ff.) genannt hat. Die größere Widerstandskraft des Grundeigentums, von der man früher sprechen konnte, verwandelt sich mit der totalen Mobilisierung und Funktionalisierung in das Gegenteil. Das Grundeigentum, das in seiner. Raumhaftigkeit, öffentlichen Sichtbarkeit und Unbeweglichkeit früher eine besondere Sicherung fand, wird eben dadurch jetzt nur um so schutzloser als jedes andere Vermögensredit, das schneller abtrennbar und verschiebbar ist und sich im Wettlauf mit steuerlichen und sozialen Zugriffen schneller in Sicherheit bringen kann. Etwas anderes ist es, wenn man die restlose Funktionalisierung und Entsubstanziierung als eine unwiderstehliche Entwicklung und einen Fortschritt bejaht. Aber dann sollte man in den Verfassungen nicht länger die Formeln wiederholen, mit denen im 19. Jahrhundert das Eigentum durch ein echtes Rechtsinstitut der Enteignung garantiert worden ist.
Ratifikation völkerrechtlicher Verträge und innerstaatliche Auswirkungen der Wahrnehmung auswärtiger Gewalt (1929) Das deutsch-polnische Abkommen vom 31. Oktober 1929 enthält einen Verzicht des Deutschen Reiches auf Forderungen, „sei es des Staates, sei es seiner Staatsangehörigen". Dieser weitgefafite Wortlaut läßt die Deutung zu, als verzichte das Deutsche Reich nicht nur auf eigene, sondern auch auf fremde Forderungen, nämlich die i h m selbst nicht zustehenden Forderungen deutscher Staatsangehörigen. Der Vertrag enthielte dann eine Verfügung über Rechte Dritter, einen Verzicht auf fremde Forderungen, und es bedarf keines großen A u f wandes, um die rechtlichen Schwierigkeiten eines derartigen Verzichtes darzutun, wenn man zwischen dem Staat und seinen Staatsangehörigen unterscheidet. Eine solche Unterscheidung entspricht der herrschenden Lehre. Ich stelle mich hier auf den Boden der in Theorie und Praxis immer noch anerkannten Auffassung, wie sie von Triepel in klassischer Darlegung auseinandergesetzt ist (Völkerrecht und Ländesrecht 1899, ferner Recueil des Cours de FAcademie de droit international 1923 I, S. 104). Weitergehende Konstruktionen, die das den Angehörigen eines Staates zustehende Vermögen als „Nationalvermögen" zusammenfassen und den Zentralorganen des Staates eine „allgemeine völkerrechtliche Verfügungsorganschaft" über dieses Vermögen der einzelnen Staatsangehörigen zusprechen (Bernhard Meier, Der Staatsangehörige und seine Rechte, insbesondere seine Vermögensrechte im System des Völkerrechts, Jena 1927, S. 70, 106) bleiben hier außer Betracht. Auf der anderen Seite braucht ebensowenig auf die Versuche eingegangen zu werden, dem einzelnen Individuum eine völkerrechtliche Stellung und selbständige (d.h. von seinem Staate unabhängige) völkerrechtliche Ansprüche zu geben. Gemäß der herrschenden Lehre ist also davon auszugehen, daß der Anspruch des Liquidationsgeschädigten gegen den liquidierenden Staat kein völkerrechtlicher Anspruch ist, daß ebensowenig ein völkerrechtlicher Anspruch des interessierten Einzelnen auf Beibehaltung der ihm vorteilhaften völkerrechtlichen Einrichtungen, z. B. der gemischten Schiedsgerichte besteht usw. 1. Den Verzicht auf die dem Deutschen Reiche zustehenden allgemeinen oder durch besonderen Vertrag begründeten völkerrechtlichen Ansprüche und Möglichkeiten, die sich auf die privaten Forderungen der deutschen Staatsangehörigen gegenüber Polen beziehen, also vor
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
allem das allgemeine völkerrechtliche Schutzrecht (jus protectionis), das sich daraus ergibt, daß jeder Staat berechtigt ist, seine A n gehörigen und deren Interessen gegenüber einem anderen Staate zu schützen: und m i t den verschiedenartigen völkerrechtlich zulässigen Mitteln (diplomatische Vorstellungen, schiedsgerichtliches oder gerichtliches Vorgehen, Retorsionen und Repressalien) auf den anderen Staat einzuwirken; ferner die völkerrechtliche Vereinbarung, daß spezielle auf früheren Vereinbarungen beruhende Einrichtungen und Verfahren, welche dem Schutz der privaten Interessen dienen sollten, aufgehoben werden; 2. eventuell die Übernahme der Verpflichtung, den Verzicht der privaten Forderungsberechtigten herbeizuführen, wobei es der Auslegung des völkerrechtlichen Vertrages vorbehalten bleiben muß, wieweit diese Verpflichtung gehen soll: ob sie das Deutsche Reich nur zu normalen Bemühungen und Einwirkungen auf die privaten Gläubiger verpflichtet oder aber i h m auch die Pflicht auferlegt, nötigenfalls mit Verfassungsänderungen das vereinbarte Ergebnis — das Erlöschen der privaten Forderungen — herbeizuführen. I m Falle 1 verzichtet das Deutsche Reich auf die Ausübung seines Schutzrechtes für bestimmte Fälle; i m übrigen bleiben die privaten Forderungen der Staatsangehörigen selbst und ihre prozessuale Geltendmachung nach Maßgabe der innerstaatlichen gesetzlichen Möglichkeiten unberührt. I m Falle 2 verpflichtet sich das Deutsche Reich zu innerstaatlichen A k t e n der Verwaltung und Gesetzgebung, eventuell der verfassungsändernden Gesetzgebung. Wenn es selbstverständlich ist, daß das Deutsche Reich nicht durch völkerrechtlichen Vertrag auf die i h m selbst nicht zustehenden privaten Forderungen seiner Staatsangehörigen verzichten kann, der völkerrechtliche Vorgang also die private Forderung nicht unmittelbar t r i f f t , so ist es auf der anderen Seite ebenso selbstverständlich, daß die privaten Forderungen der Staatsangehörigen den völkerrechtlichen Vorgang nicht berühren und keine rechtliche Möglichkeit besteht, aus solchen privaten Ansprüchen die völkerrechtliche Ungültigkeit eines zwischenstaatlichen Vertrages abzuleiten. Selbst wenn es i m Falle 2 (Verpflichtung des Staates zu innerstaatlichen Akten, u m den Verzicht herbeizuführen) dem Staate infolge innerstaatlicher rechtlicher Hemmungen unmöglich sein sollte, das vertragsmäßig versprochene Ergebnis (Erlöschen der Forderungen) herbeizuführen, so würde das die
126
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
völkerrechtliche Bindung, wenn sie einmal zustande gekommen ist, nicht aufheben. Es ist ein allgemein anerkannter Satz des Völkerrechts, daß kein Staat sich unter Berufung auf innerstaatliche Schwierigkeiten der E r f ü l l u n g völkerrechtlicher Verpflichtungen entziehen kann. „ W e n n es einen unbestrittenen Satz des internationalen Rechts gibt, so ist es dieser" (Triepel, Völkerrecht u n d Landesrecht, S. 303). M i t dieser scharfen Unterscheidung völkerrechtlicher Bindung und innerstaatlicher Rechtslage hängt es zusammen, daß die völkerrechtliche R a t i f i k a t i o n eines Vertrages nicht von selbst die innerstaatliche Rechtslage schafft, welche die Durchführung des völkerrechtlichen Vertrages innerstaatlich ermöglicht. Andrerseits ist es natürlich, daß jede Regierung ein Interesse daran hat, solche Schwierigkeiten, wie sie aus innerstaatlichen Hemmungen entstehen können, zu vermeiden. Infolgedessen liegt es nahe, wenn die gesetzgebende Körperschaft an dem völkerrechtlichen Vorgang der Ratifikation beteiligt ist und ihre Zustimmung zu dem völkerrechtlichen Vertrage geben muß (Art i k e l 45 Abs. 3 RV.), die beiden Seiten des Vorganges miteinander zu kombinieren u n d die (völkerrechtlich wirkende) Zustimmung m i t dem (innerstaatliche Wirkungen herbeiführenden) Gesetzgebungsakt zu verbinden, wie das der heutigen Übung der deutschen Staatspraxis entspricht, nach welcher die völkerrechtlichen Verträge, denen der Reichstag zugestimmt hat, gleichzeitig als Gesetze beschlossen u n d m i t der Gesetzgebungsformel i m Reichsgesetzblatt verkündet werden. Trotzdem bleibt die Zustimmung des Reichstags (ebenso wie i m Falle des A r t i k e l 45 Abs. 2 das Gesetz) von dem innerstaatlichen Gesetz zu unterscheiden. Es genügt daher für die völkerrechtliche Bindung die i n einfacher Mehrheit gegebene Zustimmung des Reichstags, ohne Rücksicht darauf, ob eventuell (was i m Augenblick der Zustimmung vielleicht noch gar nicht übersehen werden u n d nur m i t H i l f e kombinierender Phantasie als Eventualität ausgedacht werden kann) möglicherweise bei der späteren Durchführung einmal verfassungsgesetzliche Hemmungen auftreten können. In einer nidit weiter begründeten, kurzen Bemerkung des Kommentars von Poetzsch-Heffter, 3. Aufl., S. 222, ist dieser einfache Sachverhalt übersehen. Einige Zeilen später betont derselbe Kommentar mit Recht, daß die Zustimmung nach Art. 45 Abs. 3 kein Gesetzesbeschluß ist und infolgedessen auch weder dem Einspruch des Reichsrates noch einem Volksentscheid unterliegt, wenn sie nicht formell in die Gesetzesform gekleidet wird. Für Art. 45 Abs. 2 (Kriegserklärung und Friedensschluß durch Gesetz) ist sogar allgemein anerkannnt, daß hier ein einfaches Gesetz genügt, um
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
innerstaatliche verfassungsgesetzliche Hemmungen zu beseitigen (vgl. Anschütz, Kommentar 10. Aufl., S. 234). Es ist eine selbstverständliche, verfassungsrechtliche Pflicht aller staatlichen Instanzen und Behörden, beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge u n d selbst schon i m Stadium der Vorverhandlungen, sich über die innerstaatliche, verfassungsrechtliche Ausführbarkeit der Abmachungen k l a r zu werden. Hierbei kommt es aber nicht darauf an, alle möglichen Schwierigkeiten auszudenken und daraufhin die Zustimmung nach A r t i k e l 45 Abs. 2 schon beim Vertragsschluß m i t einem verfassungsändernden Gesetz zu verbinden, sondern es k a n n sich nur darum handeln, darüber klar zu werden, auf welche verfassungsgesetzliche Hemmungen die innerstaatliche Durchführung des Vertrages unmittelbar stoßen könnte. A u c h hier ist rechtlichen Konstruktionen u n d — angesichts der unabsehbaren Vieldeutigkeit des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung — auch weitgehenden Interpretationen ein weites Feld eröffnet, so daß schließlich gegen jeden wichtigen völkerrechtlichen Vertrag verfassungsgesetzliche Bedenken möglich sind. I m vorliegenden Falle dürften auch bei weitester Interpretation vernünftigerweise nur aus den A r t i keln 112 Abs. 2, 105 und 153 der Reichsverfassung verfassungsgesetzliche Einwendungen entnommen werden können. II Artikel
112 A b s . 2 d e r
Reichsverfassung
1. Der allgemeine Schutzanspruch des A r t . 112 Abs. 2 der Reichsverfassung. A l l e Reichsangehörigen haben innerhalb und außerhalb des Reichsgebietes dem Auslande gegenüber Anspruch auf den Schutz des Reiches. Was man auch immer unter diesem Anspruch auf Schutz verstehen mag, es ist sicher, daß er immer nur nach Maßgabe der bestehenden völkerrechtlichen Verträge und nach Maßgabe der jeweiligen politischen Lage, über deren Ausnutzungsmöglichkeiten die zuständigen Instanzen des Reiches und nicht die privaten Interessenten entscheiden, bestehen kann. Es gibt auch, wie Pohl (in dem Aufsatz über A r t . 112 Abs. 2 der Reichsverfassung i n dem Sammelwerk „Grundrechte und Gruiidp fliehten der Reichs Verfassung", herausgegeben von H . C. Nipperdey, Band 1, S. 257) m i t Recht betont „keinen wirklichen Anspruch", die einzelnen Organe des Reiches trotz ihres Widerstrebens zur Wahrung des Schutzes anzuhalten. Viel-
128
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
mehr gilt, nach wie vor, der die Praxis aller Staaten beherrschende Satz, der i n der völkerrechtlichen Literatur vielfach i n der Formulierung des berühmten Zirkulars von Lord Palmerston (von Lord Salisbury 1880 wiederholt) zitiert w i r d : die Regierung greife außenpolitisch ein, wenn sie es für gut halte, es bleibe aber durchaus Sache ihres diskretionären Ermessens, ob englische Staatsangehörige vor finanziellen Verlusten geschützt werden können oder nicht. A r t . 112 Abs. 2 ist i n dieser Hinsicht nichts Neues und soll es auch nicht sein. Er wiederholt w ö r t l i c h den A r t . 5 Abs. 6 der Reichsverfassung von 1871, und es wäre ein k a u m ernst zu nehmender Standpunkt, wenn das Deutsche Reich von 1919 sich gegenüber seinen Staatsbürgern zu außenpolitischen Aktionen und eventuell zu finanziellen Entschädigungen bindend verpflichten wollte, für die selbst das reiche und mächtige Deutsche Reich von 1871 oder das englische Weltreich seine Ermessensfreiheit vorsichtig wahrt. Der allgemeine Grundsatz, daß es Ermessenssache der Regierung ist, von völkerrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, gilt nicht nur für diplomatische Demarchen und mehr oder weniger formlose Aktionen, sondern auch für die rechtlichen Möglichkeiten, die sich aus der Völkerbundsatzung oder schiedsgerichtlichen Verträgen und anderen vertraglichen Vereinbarungen ergeben. Dadurch, daß zwischenstaatliche A n gelegenheiten justizförmig gestaltet werden und der Staat die Möglichkeit hat, ein internationales Gericht anzurufen, kann sich das innerstaatliche Rechtsverhältnis des einzelnen Staatsangehörigen gegenüber seinem Staat nicht ändern; A r t . 112 Abs. 2 k a n n dadurch nicht aus einem ganz allgemeinen Schutzanspruch zu einem A n spruch auf Bestimmung der Richtlinien einer Außenpolitik gemacht werden, welche ohne Rücksicht auf die politischen Interessen des Ganzen und auf die fortwährend wechselnde außenpolitische Konstellation nur private Interessenpolitik einzelner Staatsangehöriger wäre. Auch die weiteste Auslegung des A r t . 112 Abs. 2 k a n n nicht dahin führen, daß aus dem Anspruch auf Schutz ein Anspruch auf Beibehaltung aller, den privaten Interessen Einzelner vorteilhaften und auf Unterlassung der ihnen nachteiligen Vereinbarungen entstände. Es ist eine andere Frage, ob durch den Verzicht auf außenpolitischen Schutz oder durch Änderung i h m vorteilhafter Verträge der Staatsangehörige vielleicht einen Rechts- oder Billigkeitsanspruch auf Entschädigung erhalten soll. Allgemein ist hier zu sagen, daß i n solchen Fällen aus Billigkeitsrücksichten Entschädigungen zuerkannt
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
werden sollen. Aber selbst wenn man versucht, hier einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zu konstruieren und den § 75 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht anzuwenden, wonach derjenige, der seine privaten Sonderinteressen zum Wohle des Ganzen zu opfern gezwungen ist, Anspruch auf Entschädigung hat, müßte man doch mit Pohl (a.a.O. S. 261) zugeben, daß das für das Gebiet der auswärtigen Verwaltung nur „unter Festsetzung etlicher Vorbehalte und unter Festsetzung einer Höchstgrenze der Entschädigungssumme möglich ist". Außerdem ist zu beachten, daß diese Frage der Entschädigung auf keinen F a l l etwas m i t der ganz anders gearteten Frage zu schaffen hat, ob völkerrechtliche Verträge, welche die Interessen einzelner Staatsangehöriger benachteiligen, nur auf Grund eines verfassungsändernden Reichsgesetzes geschlossen werden dürfen. Es ist nicht zulässig, den A r t . 112 Abs. 2 zu benutzen, u m daraus erst ein Recht auf Wahrung der privaten Interessen, dann aus der Verletzung dieses Rechts einen Anspruch auf Entschädigung und schließlich auf ein verfassungsänderndes Gesetz zu folgern, wenn der Geschädigte nicht vorher angemessen entschädigt wird. Das würde nichts anderes bedeuten, als daß man das Deutsche Reich verpflichtet, den privaten Interessenten ihre Zustimmung zur Außenpolitik des Reichs m i t Geldentschädigungen abzukaufen. 2. Besondere Schutzansprüche der privaten Interessenten können nicht i n der Weise konstruiert werden, daß man Rechte und Vorteile, die sich aus irgendeiner besonderen völkerrechtlichen Vereinbarung ergeben, m i t dem allgemeinen Schutzanspruch des A r t . 112 Abs. 2 i n Verbindung bringt unid diese Verfassungsbestimmung zu einer A r t Blankogarantie aller den jeweiligen Interessenten vorteilhaften Verträge macht, mit der W i r k u n g , daß es eines verfassungsändernden Gesetzes bedürfte, um solche Verträge abzuändern. Es ist mißverständlich und irreführend, zu sagen, derartige besondere Schutzansprüche seien eine Spezialisierung oder Konkretisierung eines allgemeinen Schutzanspruchs. M i t gleichem Recht könnte man sagen, jede gesetzliche Einschränkung der persönlichen Freiheit des einzelnen sei eine Spezialisierung und Konkretisierung des in A r t . 114 der Reichs Verfassung gegebenen allgemeinen Anspruches auf persönliche Freiheit, und infolgedessen sei jedes, weitere Beschränkungen der persönlichen Freiheit herbeiführende Gesetz verfassungsändernd. Noch viel weniger darf man das Wort „Schutz" i m zweiten H a u p t teil der Weimarer Verfassung zu solchen Konstruktionen mißbrauchen. Die Verfassung gewährleistet Schutz der Arbeitskraft 9
Carl Schmitt
130
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
(Art. 157), Schutz der geistigen Arbeit und des Rechtes der Urheber, der Erfinder und der Künstler (Art. 158), Schutz des selbständigen Mittelstandes i n Landwirtschaft, Gewerbe und Handel (Art. 164), Schutz der Mutterschaft (Art. 161), Schutz der Jugend (Art. 122) usw., und man braucht sich nur einmal das mit H i l f e jenes Begriffes der Spezialisierung u n d Konkretisierung eröffnete Anwendungsgebiet des A r t . 76 der Reichs Verfassung auszudenken, um zu erkennen, daß nicht jeder „Schutzanspruch" den Einwand der Verfassungsänderung begründen kann und daß es insbesondere unzulässig ist, m i t H i l f e der allgemeinen Schutzbestimmung des A r t . 112 Abs. 2 verfassungsgesetzlich garantierte „besondere" Schutzansprüche zu konstruieren.
III Artikel
105 d e r
Reichsverfassung
Die verfassungsrechtlichen Bedenken, welche der innerstaatlichen Durchführung des deutsch-polnischen Abkommens vom 31. Oktober aus A r t . 105 entgegentreten können, betreffen vor allem die Beseitigung der deutsch-polnischen gemischten Schiedsgerichte, also völkerrechtlich vereinbarte Rechtsschutzeinrichtungen. Insofern diese Gerichte für die Ansprüche einzelner Staatsangehöriger gegen einen Staat zuständig sind, sind sie Sondergerichte. Nach der i n Theorie und Praxis durchaus herrschenden Auffassung kann die Organisation wie die Zuständigkeit von Gerichten jederzeit durch einfaches Gesetz geändert werden, solange nicht ein Ausnahmegericht i m Sinne des A r t . 105 eingerichtet w i r d . Der gesetzliche Richter i m Sinne des A r t . 105 ist der nach dem jeweiligen Stand der Gesetzgebung zuständige Richter. Die Entscheidungen des Reichsgerichts sind in dieser Hinsicht sehr klar und eindeutig (vgl. insbesondere den Beschluß der Vereinigten Zivilsenate vom 22. Februar 1924 RGZ. S. 320 f., S.324); erst die ordentliche Gesetzgebung besagt, wer gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 105 ist, und in der gesetzlichen Anordnung kann infolgedessen kein Verstoß gegen Art. 105 der Reichsverfassung liegen. Selbst für rechtshängige Streitsachen stützt das Reichsgericht die Unzulässigkeit einer Änderung der sachlichen Zuständigkeit nicht etwa auf Art. 105 RV., sondern auf § 263 Nr. 2 ZPO., also auf ein einfaches Gesetz, so RGZ. 103, S. 102/103; ferner DJZ. 1930 Sp. 167 bis 169 (über die Zulässigkeit von Sperrgesetzen). E i n Recht des einzelnen Staatsangehörigen auf Beibehaltung bestimmter Sondergerichte besteht weder innerstaatlich noch völkerrechtlich. Eine Sperre oder ein dauerndes Verbot des sonst gegebenen
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
131
ordentlichen Rechtsweges ist i n dem „Verzicht" vom 31. Oktober nicht enthalten. Wenn infolge der Durchführung des Verzichtes die private Forderung selbst entfällt, kann man natürlich nicht den A r t . 105 heranziehen, um die materielle Forderung zu retten. Noch weniger läßt sich aus A r t . 105 ein Recht des deutschen Staatsangehörigen ableiten, gegen die ausländische Gesetzgebung geschützt zu werden, falls diese für ihren Bereich den gesetzlichen Richter entziehen sollte. Wenn infolge jenes Verzichts die gemischten Schiedsgerichte entfallen und die materiellen Forderungen trotzdem bestehen bleiben, sind nach Maßgabe der allgemeinen justizgesetzlichen Regelung die deutschen oder polnischen Gerichte zuständig. I n dem Wegfall einer Sondergerichtsbarkeit liegt niemals ein Verstoß gegen A r t . 105.
IV A r t i k e l 153 d e r
Reichsverfassung
Der Verzicht auf die Forderungen deutscher Staatsangehöriger könnte bedeuten, daß Deutschland sich verpflichtet, durch einen innerstaatlichen A k t diese Forderungen auf sich zu übertragen und dann gegenüber der polnischen Republik darauf zu verzichten. Soweit der Ubergang der Forderungen auf das Reich i m Wege eines Vertrages m i t den privaten Gläubigern, etwa durch K a u f oder andere freiwillige Verträge, zustande kommt, ist die Durchführung der völkerrechtlichen Verpflichtung hier ohne verfassungsrechtliches Interesse. Erst gegenüber einer zwangsweisen Ubereignung, d. h. einer Enteignung, kommen Bedenken aus A r t . 153 in Betracht. Wenn die privaten Gläubiger für ihre Forderungen vom Deutschen Reich volle Entschädigung verlangen, so bedeutet das nur, daß sie ein Recht darauf beanspruchen, daß ihnen ihre Forderungen zu einem von ihnen f ü r richtig gehaltenen Preis abgekauft werden und daß von den Zwangsmöglichkeiten des A r t . 153 der Reichs Verfassung kein Gebrauch gemacht werde. Es ist aber der Sinn des A r t . 153, Enteignungen nicht nur zu beschränken, sondern auch (im verfassungsgesetzlichen Rahmen) zu ermöglichen, und es wäre sinnwidrig, zu behaupten, A r t . 153 erlaube Enteignungen nur dann, wenn der Enteignete damit einverstanden ist. Das ist an sich ganz selbstverständlich, muß aber trotzdem angesichts der Mißverständnisse, die bei der Enteignung von Geldforderungen leicht eintreten können, doch noch besonders ausgesprochen werden. 9*
132
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
A r t . 153 stellt zwei verfassungsgesetzliche Einschränkungen der Enteignungsmöglichkeit auf: die Enteignung muß erstens zum Wohl der Allgemeinheit und zweitens auf gesetzlicher Grundlage erfolgen. 1. Die Einschränkung, welche darin liegt, daß eine Enteignung nur „ z u m W o h l der Allgemeinheit" vorgenommen werden kann, ist „unendlich oft erörtert worden" (Martin W o l f f , Reichs Verfassung und Eigentum, i n der Festgabe für K a h l 1923, S. 14). Das erkennbare Ergebnis dieser Erörterung, das namentlich von O. Mayer und H. Triepel bestimmt ist, liegt darin, daß der zu enteignende Gegenstand für die Durchführung eines bestimmten öffentlichen Unternehmens unentbehrlich sein muß. Das „Unternehmen" braucht nicht ein bestimmtes Stück öffentlicher Verwaltung zu sein, noch viel weniger ein Unternehmen i m technischen Sinne (Eisenbahnen, Kanalisation usw.), sodern es genügt ein gemeinnütziges Vorhaben i m objektiven Sinne. Nach Triepel u n d M a r t i n W o l f f k a n n das z. B. eine Agrarreform sein oder ein außenpolitisches Unternehmen, wie ein Krieg. Die Beendigung oder Liquidierung eines Krieges oder eine zwischenstaatliche Befriedungsaktion ist daher zweifellos ein Unternehmen i m Sinne des A r t . 153 und seines Begriffes „Allgemeinwohl". Die Enteignungen, welche das Reichsgesetz über Enteignungen und Entschädigungen aus Anlaß des Friedensvertrags vom 31. August 1919 (Reichsgesetzbl. S. 1527) vorsieht, sind i m typischen Sinne Enteignung für ein außenpolitisches Unternehmen. D u r c h diesen anerkannten Begriff des Unternehmens ist für die Enteignungsmöglichkeit ein sehr weiter Spielraum gegeben. Die anerkannte Grenze — bei welcher das W o h l der Allgemeinheit nicht mehr anzunehmen ist — liegt darin, daß erstens eine „Vermögensvernichtung aus Haß oder Neid" (M. W o l f f a.a.O. S. 15) unzulässig ist, weil die Rechtsentziehung als Selbstzweck kein Unternehmen wäre — ein Fall, der angesichts des deutsch-polnischen Abkommens und des Yioung-Plans nicht weiter erörtert zu werden braucht —, und zweitens die bloß fiskalische Bereicherung nicht als Unternehmen gelten kann. Wenn aber Forderungen enteignet werden, die gegenüber einem bestimmten fremden Staat bestehen und die Enteignung der Durchführung von Abkommen dienen soll, die zum Zweck einer außenpolitischen Befriedung und der Liquidierung des Krieges mit dem anderen Staate abgeschlossen worden sind, so fällt, wenn man überhaupt den anerkannten Begriff des Unternehmens annimmt, dies nicht unter den Gesichtspunkt fiskalischer Bereicherung, sondern der Durchführung eines außenpolitischen Unternehmens.
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
Nach der durchaus herrschenden Auslegung des A r t . 153 können auch Geldforderungen enteignet werden. Die Eigenart der Geldforderungen bringt nun eine Reihe von Besonderheiten m i t sich, die sich leicht zu verschiedenartigen Trugschlüssen benutzen lassen. Denn wenn eine Enteignung normalerweise gegen Entschädigung erfolgen soll, Entschädigung aber gewöhnlich Geldentschädigung ist, so t r i t t bei der Enteignung von Geldforderungen die merkwürdige Lage ein, daß Geld weggenommen und doch wieder Geld als Entschädigung gegeben wird. Es ist daher leicht zu sagen, daß die Enteignung sinnlos sei und weiter nichts bedeute, als daß der Staat sich um die Differenz zwischen der vollen Höhe der enteigneten Forderung und der gezahlten Entschädigung bereichere. M i t H i l f e einer solchen Argumentation wäre die Verfassungsbestimmung, welche eine angemessene (also nicht volle) Entschädigung vorsieht, und erst recht die Verfassungsbestimmung, welche sogar für die angemessene Entschädigung einen Ausschluß durch Reichsgesetz zuläßt, für Geldforderungen aufgehoben. Denn eine Bereicherung liegt in jedem Falle vor, i n dem keine volle Entschädigung gezahlt wird. Selbst bei der Wegnahme von Sachen könnte man i n allen Fällen, in denen es sich um die Durchführung eines staatlichen Unternehmens handelt, bei nicht voller Entschädigung immer von einer fiskalischen Bereicherung sprechen u n d daraus den Schluß ziehen, daß alle derartigen Enteignungen verfassungswidrig seien. Man hätte auf diese Weise eine klare und eindeutige Verfassungsbestimmung beseitigt u n d die von der Verfassung zugelassenen Einschränkungen des Entschädigungsanspruches einfach außer K r a f t gesetzt. Schon durch ein solches, den Bestimmungen des Art. 153 Abs. 2 offenbar widersprechendes Ergebnis ist die Unrichtigkeit des auf der Eigenart von Geldforderungen begründeten Gedankenganges erwiesen. D i e Frage ist nicht die: liegt eine Bereicherung vor oder nicht, sondern: liegt ein Unternehmen vor und dient die Enteignung diesem Unternehmen oder nicht. Ist das letztere der Fall, so kann nicht mehr darauf zurückgegriffen werden, daß die Enteignung eine Bereicherung des Staates mit sich bringt. Denn das ist bei jeder Nichtvollentschädigung der Fall, und die Verfassung läßt eben ausdrücklich eine solche Nichtvollentschädigung, sogar, wenn ein Reichsgesetz es bestimmt, eine volle Nichtentschädigung zu. Man würde die Bestimmung des A r t . 153 Abs. 2 i n ihr Gegenteil verkehren, wenn man sagen wollte, eine Enteignung diene nur dann dem Wohle der A l l -
134
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
gemeinheit, wenn sie den privaten Interessen i n voller Entschädigung gerecht wird. A r t . 153 w i l l das Allgemeinwohl den privaten Interessen überordnen und nicht etwa von ihnen abhängig machen. A m besten läßt sich die i n der Formel „ W o h l der Allgemeinheit" enthaltene Grenze der Enteignungsmöglichkeit damit umschreiben, daß man sagt: die Enteignung darf nicht Selbstzweck sein, der enteignete Gegenstand darf nicht seiner selbst w i l l e n weggenommen werden, sondern soll der Durchführung eines über die Enteignung selbst hinausgehenden, öffentlichen Interesses dienen. Das ist in typischer Weise der Fall, wenn eine Forderung an einen bestimmten Staat enteignet w i r d , nicht u m sie für sich zu behalten, sondern um durch den Verzicht auf die Forderung die Durchführung einer bestimmten außenpolitischen A k t i o n zu ermöglichen und einen bestimmten außenpolitischen Zweck zu erreichen. 2. Was das zweite Erfordernis einer verfassungsmäßigen Enteignung, die „gesetzliche Grundlage", angeht, so ist die i n der Praxis und auch noch i n der Theorie herrschende Meinung außerordentlich weitherzig u n d läßt jede Enteignungsmaßnahme zu, sofern sie nuu in der Form eines einfachen Reichsgesdtzes erfolgt. Vgl. statt vieler: RGZ. 116, S. 271/272; Anschütz, Kommentar &616; zur Kritik: Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 152/153. Es braucht hier nicht auf die Kontroverse zu dieser Formel „ a u f gesetzlicher Grundlage" eingegangen werden. Nach der herrschenden Auffassung ist aus der Wendung „gesetzliche Grundlage" jedenfalls keine Schranke der einfachen Gesetzgebungsbefugnis zu entnehmen. F ü r diese Auffassung ist es daher auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung, daß das Reichsgesetz über Enteignungen und Entschädigungen aus Anlaß des Friedensvertrages vom 31. August 1919 bereits die gesetzliche Grundlage für die hier i n Frage stehenden Enteignungen enthält. Der deutsch-polnische Vertrag vom 31. Oktober 1929 steht mit dem Friedensvertrag ebenfalls i n so engem Zusammenhang, daß man von einer Ergänzung sprechen kann, weil er m i t dem Young-Plan-Vertrag verbunden ist und dieser Vertrag einen der wesentlichsten Punkte des Versailler Vertrages ergänzend regelt, nämlich die Reparations Verpflichtung. Es ist deshalb durchaus zulässig, die hier in Frage stehenden Enteignungen als solche anzusehen, die „aus Anlaß des Friedensvertrages" vorgenommen werden, und zwar um so mehr, als es sich vor allem u m Forderungen handelt, die erst durch den Friedensvertrag begründet worden sind. Wenn man jedoch nicht i n dem Reichsgesetz vom 31. August 1919 selbst
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
die gesetzliche Grundlage der hier i n Frage stehenden Enteignungen sehen w i l l , müßte man angesichts des Umstandes, daß weder der Friedensvertrag selbst, der jene Forderungen begründet, noch das Reichsgesetz vom 31. August 1919 den Charakter eines Verfassungsgesetzes hat, eine Erweiterung oder Ausdehnung des Gesetzes vom 31. August 1919 im- Wege der einfachen Reichsgesetzgebung für ebenso zulässig halten, wie jenes Gesetz vom 31. August 1919 selbst. I n der gleichen Weise könnten die Zweifel über die Anwendungsmöglichkeit dieses Gesetzes durch eine authentische Interpretation im Wege eines einfachen Reichsgesetzes beseitigt werden. Soviel ich sehe, ist noch nicht behauptet worden, daß das Reichsgesetz vom 31. August 1919 verfassungswidrig sei. Die Versuche, den I I . H a u p t t e i l der Weimarer Verfassung i n umfassender Weise zu benutzen, um das normale Gesetzgebungsrecht des Reichstags systematisch einzuschränken, beginnen erst m i t dem Jahre 1924. V Unter dem Eindruck des hier i n Frage stehenden verfassungsrechtlichen Problems möchte ich m i r einen allgemeinen verfassungsrechtlichen Hinweis erlauben, der trotz seines grundsätzlichen Charakters von unmittelbar positivrechtlicher Bedeutung ist. Es ist, wie oben gezeigt, ein Trugschluß, die Eigenart der Geldforderungen zu benutzen, u m gegen den Sinn u n d Wortlaut des A r t . 153 Abs. 2 ein Recht auf volle Entschädigung zu konstruieren. Noch eine zweite A r t von Trugschluß ist möglich, die sich i n gleicher Weise auf die Eigenart der GeldfoTderungen stützt. M a n k a n n nämlich aus den verschiedensten Rechtsgebieten heraus private Entschädigungsansprüche konstruieren, insbesondere gegenüber staatlichen A k t e n m i t H i l f e des A r t . 131 der Reichsverfassung (§ 839 BGB.). Solche Ansprüche sind dann Geldforderungen. Sie stehen i m Hintergrunde jeder ihnen- und außenpolitischen Entscheidung, lassen sich m i t H i l f e des vorgenannten Gedankenganges zu A r t . 153 in Beziehung bringen u n d werden dann die Grundlage für die Behauptung, das Zustimmungsrecht des Reichstags zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 45 Abs. 3) sei an die Form des A r t . 76 gebunden, wenn nicht gleichzeitig eine volle Entschädigung der privaten Interessen erfolge, d.h. wenn die privaten Interessen nicht durch staatliche Zuwendungen bewogen werden, der außenpolitischen A k t i o n oder dem völkerrechtlichen Vertrage ihre Zustimmung zu geben.
136
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
Ich habe mehrfach, zuletzt i n der Juristischen Wochenschrift vom 11. 8. 1929 (oben S. 36) auf die erstaunliche organisatorische Veränderung der Reichsverfassung hingewiesen, welche als Folge der Überspannungen von A r t . 109, 153, 105 und anderen Bestimmungen des I I . Hauptteils der Reichsverfassung eintreten kann. Das Gesetzgebungsrecht des Reichstags nach A r t . 68 Abs. 2 der Reichsverfassung w i r d eingeschränkt, und für fast jedes wichtige Gesetz kann verlangt werden, daß es nach A r t . 76 zustande komme. Der vorliegende F a l l zeigt nun, daß solche grenzenlosen Interpretationen der Reichsverfassung auch die außenpolitischen Zuständigkeiten der politisch verantwortlichen Stellen einschränken und privaten Interessenten die Möglichkeit geben, durch die Geltendmachung des verfassungsändernden Charakters die Reichsregierung zu zwingen, ihre Zustimmung und ihren Verzicht auf die Einrede der Verfassungsänderung zu erkaufen. Demgegenüber möchte ich daran erinnern, daß die Grundrechtsgewährleistungen des I I . Hauptteils der Reichs Verfassung nicht den Sinn haben, das normale organisatorische System des I. Hauptteils i n sein Gegenteil zu verwandeln, und daß es ein Mißbrauch des Wortes und Begriffes „Rechtsstaat" ist, wenn man p r i vaten Interessen eine derartige hochpolitische Bedeutung gibt. Es handelt sich hier nicht u m die politische Billigung oder Mißbilligung des deutsch-polnischen Abkommens und des Young-Plans. A u c h wenn man diese Vereinbarungen für politisch falsch und schädlich hält hat man nicht das Recht zu maßlosen Interpretationen der Grundrechtsgewährleistungen der Verfassung. Es wäre ein Verstoß gegen alle Regeln der Verfassungsmoral, die Unklarheiten und Vieldeutigkeiten des buntgemischten I I . Teiles der Verfassung zu benutzen, um eine für falsch gehaltene außenpolitische Entscheidung des Reiches zu verhindern und das Einzelinteresse für außenpolitische Entscheidungen maßgebend sein zu lassen. So unklar und vieldeutig die Bestimmungen des I I . Hauptteils der Verfassung auch sein mögen, sie haben jedenfalls nicht den Sinn, daß den privaten Interessenten ihre Zustimmung zu außen- und innenpolitischen Entscheidungen des Deutschen Reiches mit Geld abgekauft werden soll.
Es handelt sich um ein verfassungsrechtliches Gutachten, das ich am 3. Februar 1930 der Reichsregierung zu dem deutsch-polnischen Abkommen vom 31. Oktober 1925 erstattet habe. Es ist damals gleichzeitig mit einem Gutachten von Prof. Gerhard Anschütz (betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
Abkommen zur Regelung von Fragen des Teiles X des Vertrages von Versailles) von der Reichsregierung gedruckt worden. 1. Art. 45 Abs. 3 der Weimarer Verfassung bestimmte: Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstages. Die Argumentation des Gutachtens beruht auf der einfachen Unterscheidung, daß ein Gesetz als Akt der gesetzgebenden Gewalt etwas anderes ist als ein Gesetz, das als Form der Zustimmung des Parlaments zu Akten der auswärtigen Gewalt und des treaty making pomer ergeht. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß solche Zustimmungsgesetze, die ein Stück der Ausübung auswärtiger Gewalt sind, in der Form eines verfassungsändernden Gesetzes ergehen müssen, wenn der innerstaatliche Vollzug einer völkerrechtlichen Verpflichtung zu Abweichungen vom materiellen Verfassungsrecht führt. Dabei ist also nicht an Verfassungsverfahrensrecht oder organisatorische Verfassungsgesetze gedacht, sondern eben an materielles Verfassungsrecht. Die außerordentliche Ausdehnung materiellen Verfassungsrechts auf Kosten des einfachen, normalen Gesetzesrechts ist eine der wichtigsten und merkwürdigsten, zugleich aber in seiner verfassungsstrukturellen Auswirkung am wenigsten zum Bewußtsein gekommenen Erscheinungen der letzten Jahrzehnte; vgl. unten S. 218 f., 293 f., 307 f. Heute erscheint es vielen als ein zwingendes Argument, daß die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt nicht dazu benutzt werden darf, um Verfassungsgesetze zu ändern oder zu brechen. Aber dieses scheinbar plausible Argument beruht auf der Verwirrung, die entstehen muß, sobald materielles Recht als höheres Recht anderem materiellem Recht als einer niedrigeren Art von Recht entgegengestellt wird. Selbstverständlich ist es richtig zu sagen: die Verfassung kann nicht wollen, daß sie auf dem Weg über die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt geändert wird. Aber es ist ebenso richtig zu sagen: Wenn die Verfassung die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt regelt, so unterscheidet sie, im Zuge einer echten und alten Gewaltenteilung, diese Zuständigkeit von der Gesetzgebungszuständigkeit. Sie will nicht eine Minderheit ermächtigen, die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt zu hemmen, ebensowenig, wie sie den völkerrechtlichen, auswärtigen Vertragspartner in die Unsicherheit innerstaatlicher Verfassungsstreitigkeiten hineinziehen will (vgl. hierüber zur schweizerischen Praxis P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, 1947, S. 64). Indem eine Verfassung die Form des Gesetzes für den Zustimmungsakt des Parlaments zur Wahrnehmung auswärtiger Gewalt anordnet, hat sie eine reine Zuständigkeitsregelung für die Ausübung des treaty making pomer getroffen, aber keine Änderung des materiellen Gesetzgebungsrechts. Eine solche Änderung würde nur eine neue Zuständigkeit für das treaty making power bedeuten, nämlich das Vetorecht einer innerstaatlichen Minderheit für die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt. 2. Die Unterscheidung gilt an sich auch für die Auslegung des Art. 59 Abs. 2 GG. Das wurde im sogenannten Wehrstreit der Jahre 1953/54 aktuell, bei den Zustimmungsgesetzen zum Bonner und Pariser Vertrag über die europäische Verteidigungsgemeinschaft vom 26. und 27. Mai 1952. Ein Drittel
138
Innerstaatliche Auswirkung' auswärtiger Gewalt (1929)
der Mitglieder des Bundestages hatte am 11. Mai 1953 beim Bundesverfassungsgericht beantragt, die Zustimmungsgesetze zum Bonner und Pariser Vertrag wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für nichtig zu erklären. Es handelte sich dabei um ein Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG. Die Bedeutung des Art. 59 Abs. 2 GG — als einer selbständigen Zuständigkeitsnorm für die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt — wurde von der Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit meistens nicht scharf unterschieden. Zu einem justizförmigen Austrag der Angelegenheit ist es nicht gekommen. Durch ein verfassungsänderndes Ergänzungsgesetz vom 26. März 1954 (BGBl. I S. 54) wurde erstens in Art. 79 Abs. 1 GG ein Satz 2 eingefügt, der die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer „Klarstellung" schaffen sollte und zweitens in einem Art. 142 a verfügt: Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Mächten und Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatz» und Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952 nicht entgegen. Daraufhin hat der Bundespräsident die Zustimmungsgesetze zum Bonner und Pariser Vertrag ausgefertigt und verkündet und die Ratifikationsurkunden in Bonn und Paris hinterlegt. Das praktisdi-politische Interesse an der Angelegenheit entfiel, als Ende August 1954 Frankreich die Ratifizierung der Verträge ablehnte. Aber die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung dieses sogenannten Wehrstreites und des Verfahrens seiner Erledigung bleibt bestehen. Die Gültigkeit des verfassungsändernden Gesetzes vom 26. März 1954 ist heftig umstritten. In einem Aufsatz des AöR (Bd. 79, Heft 4, 1954) kommt Horst Ehmke zu dem Schluß: „Art. 142 a des Bonner GG enthält so offensichtliche Verletzungen der Verfassung, daß er nicht einmal die Vermutung der Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen kann." Hier wird also sogar einem verfassungsändernden Gesetz die Vermutung der Legalität abgesprochen und eine fundamentale Prämie auf dem legalen Machtbesitz (vgl. unten S. 288 f., 348) in Frage gestellt. Daß gegen ein verfassungsänderndes Gesetz der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit erhoben wird, ist ein in der Verfassungsgeschichte sehr seltener, beinah präzedenzloser Fall; vgl. dazu den Bericht in der Revue du Droit Publique, Bd. 71, 1955, S. 660. Allerdings ist Präzedenzlosigkeit heutzutage noch keine Widerlegung; wir leben ja, wie Arnold Gehlen sagt, in einem geschichtlichen Augenblick absoluter Vorganglosigkeit. 3. In der verfassungsrechtlichen Erörterung dieses sog. Wehrstreites trat aber noch eine andere verfassungsgeschiditliche Wendung zutage, die hier besonders hervorgehoben werden muß, weil sie einen Strukturwandel des Staates als einer in sich geschlossenen politischen Einheit erkennen läßt. Der Wandel betrifft die scharfe Trennung von Innen und Außen, die für die bisherige nationalstaatliche Demokratie, insbesondere auch die Weimarer Verfassung wesentlich war. Auf ihr beruhte der klassische Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht und die Lehre von dem Erfordernis einer be-
Innerstaatliche A u s w i r k u n g auswärtiger Gewalt (1929)
sonderen Transformation völkerrechtlicher Verpflichtungen in innerstaatliches Recht. Der Wandel hat in Art. 24 GG seinen Ausdruck gefunden: Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. In den zahlreichen Gutachten zum EVG-Vertrag ist Art. 24 ausführlich behandelt worden. Für den Zusammenhang unserer Darlegung kommt es darauf an, wieweit die selbständige Zuständigkeitsregelung des Art. 59 von Art. 24 her grundgesetzlich präzisiert und konkretisiert wird. In einem der wichtigsten und bedeutendsten Gutachten zu dieser Frage „Wehrbeitrag und Grundgesetz" von Prof. Ernst Forsthoff vom 28. Oktober 1952 ist geltend gemacht, daß Art. 24 GG keine Kompetenznorm ist. Auch Karl-Heinz Klein, „Die Übertragung von Hoheitsrechten", 1952, S. 57, verneint diesen Charakter des Art. 24 als einer Kompetenznorm. Ich habe mich in dieser Frage nicht zu entscheiden und stelle nur fest, daß die Heranziehung des Art. 24 meistens jenen Strukturwandel erkennen läßt und der Staat nicht mehr selbstverständlich als eine in sich geschlossene politische Einheit aufgefaßt wird. Wie weit dieser Wandel und seine Tragweite allen Autoren zum Bewußtsein gekommen ist, wäre natürlich eine andere Frage. In anderen demokratischen Ländern Europas ist dieses nationalstaatlichdemokratische Bewußtsein noch stark. Der Staatsrat des Königreichs Belgien ist in einem Gutachten zu einem Gesetzentwurf über die Pariser Verträge zu dem Ergebnis gekommen, daß der Vertrag der Verfassung widerspricht, weil er die Ausübung wesentlicher Rechte, die nationalen Machtträgern wie dem König und den gesetzgebenden Kammern zustehen, übernationalen Machtträgern überträgt, und daß ein solches Ergebnis nicht ohne vorherige Änderung der Verfassung erreicht werden kann. Auch in Frankreich ist das nationaldemokratische Bewußtsein eines nach Außen in sich geschlossenen, einheitlichen und unteilbaren Staates noch sehr stark. Aber auch hier darf ein kennzeichnendes Symptom nicht übersehen werden. Es findet sich in dem Aufsatz von Georges Scelle, „De la pretendue inconstitutionnalite interne des traites (ä propos du Traite sur la communaute europeenne de defense), Revue du droit public", 1952, S. 1012 f. Scelle kommt zu dem Schluß, daß die Organe, die das treaty making pomer innehaben (Staatschef, Minister, Parlament, das Volk im Wege des Referendum) befugt sind, Verträgen zuzustimmen, die von den bisherigen Gesetzen, sogar von Verfassungsgesetzen, abweichen. Scelle bleibt damit in der Linie seiner schon im Precis de Droit des gens (Bd. I 1932, Bd. I I 1934) vertretenen Lehre vom Vorrang des internationalen gegenüber dem nationalen Recht; vgl. dazu meinen Bericht „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff", Verlag Duncker & Humblot, München 1938, S. 11—21.
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931)
I Hugo Preuß hat in seinen Verfassungsentwürfen das Verhältnis von Staatsorganisation und Grundrechten dadurch bestimmt, daß er die grundrechtlichen Garantien der Freiheit ganz in den organisatorischen Teil hineinnahm und auf einen besonderen Grundrechtsteil verzichtete. Bei dieser Lösung konnte das schwierige Problem des Verhältnisses von erstem (organisatorischem) und zweitem (Grundrechts-) Teil der Verfassung nicht, oder wenigstens nicht in seiner heutigen Schärfe entstehen. Trotz aller Bedenken und Widerstände ist es Preuß nicht gelungen, die i m Lauf der weiteren Entstehungsgeschichte schnell einsetzende Einführung immer neuer Grundrechte und „Verankerungen" abzuwehren und die Heterogenität, Inkohärenz und Pleonexie des vorliegenden Grundrechtsteiles zu verhindern, der es sich, wie der Abgeordnete Koch (Protokolle S. 505) ironisch sagte, anscheinend zur Aufgabe macht, „alle menschlichen und göttlichen Dinge erschöpfend zu regeln". Die rechtswissenschaftliche Behandlung dieses Grundrechts teils steht infolgedessen vor neuen, sehr aktuellen, aber auch sehr komplizierten A u f gaben, die m i t den Formeln und Kategorien des Vorkriegsstaatsrechts nicht einmal zu fassen, geschweige denn zu lösen sind. Die überlieferte Behandlung der typischen Grund- und Freiheitsrechte endete schließlich in einem Dilemma, das bequem und schlagend ist, das w i r aber angesichts der heutigen Rechtslage als eine Sackgasse erkennen: die GruiidrechtsaufStellungen der Verfassung sind entweder „bloßes Programm" und eben deshalb positivrechtlich bedeutungslos, gutgemeinte Proklamationen, politische Aphorismen, fromme Wünsche, Monologe des Verfassungsgesetzgebers oder wie die zahlreichen mehr oder weniger bagatellisierenden Namen lauten. Oder die Grundrechte stehen unter dem „Vorbehalt des Gesetzes" und werden durch einfache Gesetze positiviert; sie sind dann nur Umschreibungen des allgemeinen Grundrechts auf Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, richten sich nicht an den Gesetzgeber, sondern an
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
141
die gesetzanwendenden Behörden i n Verwaltung und Justiz, berühren den Vorrang des (einfachen) Gesetzes i n keiner Weise und sind infolgedessen, weil es nur auf diese positiven Gesetze ankommt, nach dem bekannten Ausdruck von Richard Thoma „leerlaufend". Der positive Jurist hatte es grundsätzlich nur m i t den einfachen Gesetzen zu tun, die den Vorbehalt des Gesetzes ausfüllen, z. B. den Bestimmungen der Strafprozeßordnung über Verhaftung, nicht aber m i t dem Grund- und Freiheitsrecht, der Gewährleistung der persönlichen Freiheit selbst. Als einfache Gesetze konnten diese Positivierungen durch ein späteres einfaches Gesetz völlig verändert werden. Letzter Schutz der Grund- und Freiheitsrechte war das Gesetz, und zwar das einfache Gesetz, d. h. die unter M i t w i r k u n g der Volksvertretung zustande gekommene Normierung. I n dem Kommentar von G. Anschütz zur preußischen Verfassungsurkunde von 1850 (1912) ist das grundsätzlich u n d an allen entscheidenden Punkten, besonders bei den wichtigsten Grundrechten Freiheit (Art. 5, S. 144) und Eigentum (Art. 9, S. 161), in schlagenden Formulierungen zum Ausdruck gekommen. Natürlich enthielten die früheren Verfassungen auch Einzelbestimmungen, die nicht durch ein einfaches Gesetz geändert oder gar beseitigt werden konnten. Aber für die fundamentalen Grundrechtsgewährleistungen wie persönliche Freiheit und Eigentum ergab sich immer wieder jene einfache Alternative, die zur Bedeutungslosigkeit auf der einen, Leerlauf auf der andern Seite führte. Das Schicksal, i n diesem Dilemma aufgerieben zu werden, ist zunächst scheinbar unverändert auch auf die Grundrechte der geltenden Reichsverfassung von 1919 übertragen worden. Für die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 109) hat die von Anschütz geführte „alte Lehre" unverändert an dem bisherigen Satze festgehalten, daß diese Gleichheit keinerlei Bindungen für den Gesetzgeber bedeute, nicht einmal einen Anhaltsp u n k t für den rechtsstaatlichen Begriff des Gesetzes als einer generellen Regelung gebe, also nicht einmal Ausnahmegesetze im engsten und gröbsten Sinne des Wortes verbiete. Zu den Garantien der persönlichen Freiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Freiheit der Meinungsäußerung bemerkt R. Thoma: „ V o n den Art. 114, 115 und 118 ist j a allerdings zu sagen, daß sie ohnehin nicht viel ausrichten" (Nipperdey, Grundrechtskommentar I. S. 33). I n dem von Nipperdey herausgegebenen Kommentarwerk zu den Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen sind die A r t . 114 und 115 in der Weise kommentiert, daß in der Hauptsache die (den Vor-
142
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
behalt des einfachen Gesetzes ausfüllenden) zahlreichen Gesetze des Straf-, Strafprozeß-, Polizei-, Finanzrechts und anderer Rechtsgebiete behandelt sind (I, S. 316, 367), ein praktisches und verdienstvolles Unternehmen, bei welchem nur die spezifisch verfassungsrechtliche Seite der Grundrechtsgarantie oft ganz zurücktritt. D i e geltende Reichsverfassung enthält aber, unter der Uberschrift „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen", außer den typischen Freiheitsverbürgungen noch so viele andersgeartete Sätze und Bestimmungen, daß die Grundrechte i m überlieferten Sinne einen quantitativ geringen Teil dieses Grundrechtsteiles der Verfassung ausmachen. So sind einzelgesetzliche Bestimmungen, die man normalerweise i n einfachen Gesetzen findet und die sich i n ihrer rechtslogischen Struktur i n keiner Weise von den zahllosen andern, für eine unmittebare Anwendung in Justiz und Verwaltung bestimmten gesetzlichen Normierungen anderer Rechtsgebiete unterscheiden, unter den „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" aufgeführt, z. B. A r t . 123, Abs. 2 (die Vereins- und versammlungsgesetzliche Bestimmung, daß Versammlungen unter freiem H i m m e l durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden können); A r t . 124, Abs. 2 (der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jedem Verein gemäß den Vorschriften des bürgerlichen Rechts frei; er darf einem Verein nicht aus dem Grunde versagt werden, daß er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt; also die Aufhebung eines einfachen Gesetzes § 61 Abs. 2 und § 43 Abs. 3 BGB. durch Verfassungsgesetz); A r t . 129, Abs. 3 S. 1 (gegen jedes dienstliche Straferkenntnis muß ein Beschwerdeweg eröffnet sein) usw. Von derartigen Bestimmungen sagt Otto Lenel (Uber die Reichsverfassung 1919, S. 28) m i t Recht, daß es Bestimmungen sind, „die an sich ebensogut i n irgendeinem Spezialgesetz stehen könnten; sie entbehren des grundrechtlichen Charakters". H. Preuß klagt darüber, daß durch „plötzliches Herausgreifen von Spezialbestimmungen" so viele Dinge i n den zweiten H a u p t t e i l der Reichs Verfassung hineinkamen, daß „die Konsequenzen ziemlich unübersehbar" sind (Prot. S. 504). Eine besonders wichtige, i m Sommer 1919 allerdings noch nicht bewußte oder vorausgesehene Konsequenz scheint darin zu liegen, daß ein „paradoxes" Ergebnis eintritt: diese „plötzlich herausgegriffenen Spezialbestimmungen" erhalten die ganze K r a f t verfassungsgesetzlicher Normen, sind durch keinerlei Vorbehalte eines einfachen Gesetzes eingeschränkt, nur nach A r t . 76 abänderbar und, nach dem
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
143
bekannten, wohl allgemein übernommenen Ausdruck von R. Thoma, voll „verfassungsgesetzeskräftig"; sie sind demnach m i t der stärksten Sicherung umgeben und zur höchsten Bedeutung gesteigert, die das positivistische Staatsrecht kennt. Die fundamentalen und zentralen Freiheits- und Menschenrechte dagegen werden i n dem eben erwähnten Dilemma zwischen Programm und positivem Gesetz teils zur Bedeutungslosigkeit, teils zum Leerlauf herabgemindert. Das Recht des Beamten auf Einsicht i n seine Personalakten (Art. 129, Abs. 3, Satz 3) soll kräftiger, sicherer und heiliger sein als alle Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung, der freien Meinungsäußerung usw. Das ist meiner Ansicht nach nicht nur ein paradoxes, sondern auch ein ganz unmögliches Ergebnis. Zwischen den Grundrechten überlieferter, d. h. bürgerlich-rechtsstaatlicher A r t und den verfassungsgesetzlichen Selbstbestimmungen liegen aiber noch andere A r t e n verfassungsrechtlicher Sicherungen. Von ihnen interessieren hier die institutionellen und die Institutsgarantien. Diese der Vorkriegsjurisprudenz unbekannten oder jedenfalls nicht geläufigen Arten verfassungsrechtlicher Gewährleistungen sind allmählich erkannt und anerkannt worden. Hier soll zunächst eine Übersicht über die institutionellen Garantien i m vorliegenden verfassungsrechtlichen Schrifttum gegeben werden. I c h habe den Begriff der institutionellen Garantien i n meiner Verfassungslehre (1928, S. 117) aufgestellt, ohne jedoch die wesentlich öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen institutioneller A r t von den privatrechtlichen Institiutsgarantien deutlich genug zu trennen. Inzwischen hat sich eine Reihe von Autoren den Gesichtspunkten angeschlossen, die zur Annahme solcher besonders gearteten Garantien führen und i n das verwirrende Vielerlei des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung einige Ordnung und Unterscheidungsmöglichkeit hineinbringen. A m meisten dürfte A r t . 127 RV. als institutionelle Garantie anerkannt sein; vgl. namentlich die Kommentare: G. Anschütz (10. Aufl., 3. Bearbeitung, S. 510); Giese (8. Aufl., S. 271: Gewährleistung der dezentralisierten Selbstverwaltung durch kommunale Selbstverwaltungskörper; A r t . 127 stellt „die Institution der kommunalen Selbstverwaltung dergestalt unter die reichs verfassungsmäßige Garantie, daß eine Aufhebung dieser Einrichtung dem einfachen Reichsgesetzgeber sowie dem Landesgesetzgeber unmöglich gemacht ist"); Poetzsch-Heffter (3. Aufl., S. 431, wo allerdings nur von einem Schutz gegen eigenmächtige Eingriffe der staatlichen Behörden die
144
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
Rede ist, womit aber wohl auch das unantastbare M i n i m u m der Institution Selbstverwaltung anerkannt sein dürfte). R. Thoma spricht (Nipperdey, I S. 21, 38) davon, daß die gesetzlichen Beschränkungen der Selbstverwaltung nicht so weit gehen dürfen, das Institut der Selbstverwaltung zu vernichten; es müsse trotz aller gesetzlichen Beschränkungen „etwas übrigbleiben, das man — d. h. der Reichspräsident oder evtl. ein Gerichtshof — noch ernsthaft als Selbstverwaltung gelten lassen kann". Fr. Glum, ArchöffR. 17 (1929, S. 385), sagt, A r t . 127 habe „den historischen Bestand der Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeinde verbände i n allen deutschen Staaten, den die Revolution vorgefunden hatte, sichern wollen"; dazu gehöre: Selbstbestimmung hinsichtlich der Berufung der Organe, ein Kreis eigener Angelegenheiten, Grenzen der Staatsaufsicht. Nach K . Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderungen 1931, S. 289 ff., ist eine Durchbrechung oder Überschreitung institutioneller Garantien durch Verfassungsgesetz unmöglich, wohl aber die „existenzielle" Aufhebung der Institution selbst, die aber gerade durch die institutionelle Garantie verhindert werden soll. G. Lassar erklärt in seinem Rechtsgutachten für den preußischen Landkreistag (Hoheitsfunktionen und Dienstverhältnis preußischer Kommunalangestellter, 1931, S. 43) Maßnahmen der einfachen Gesetzgebung u n d Verwaltung, welche „das Wesen des Instituts" berühren, für unzulässig. A. Hensel (Grundrechte und politische Weltanschauung, 1931, S. 20) spricht ebenfalls von der „institutionellen Sicherung der Selbstverwaltung in A r t . 127". E. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat; eine Untersuchung über die Bedeutung der institutionellen Garantien in den A r t . 127 und 137 der Weimarer Verfassung (Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Heft 3, Tübingen 1931, S. 100 ff.) sagt: „Gegenstand der in A r t . 127 RV. enthaltenen Garantie ist also — darüber lassen Wortlaut und Entstehungsgeschichte keinen Zweifel — die kommunale Selbstverwaltung als besonderer Verwaltungstypus. Selbstverwaltung ist nur denkbar als Tätigkeit eines von der Staatsorganisation distanzierten Verwaltiungssubjekts . . . mit einer verständigen Auslegung der Verfassung würde es nicht vereinbar sein, wenn die kommunale Selbstverwaltung dadurch ausgehöhlt würde, daß Aufgaben der örtlichen Verwaltung i m weitesten Umfang Staatsbehörden übertragen würden." A u c h da, wo der Ausdruck institutionelle Garantie fehlt, findet man in der Sache das gleiche Ergebnis. So heißt es in der Entschei-
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
dung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich vom 10./11. Dezember 1929 (RGZ. 126, Anhang S.22): „ A r t . 127 RV. bedeutet kein bloßes Programm ohne rechtlichen Gehalt. Er setzt vielmehr bindend fest, daß den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung zusteht. Die Landesgesetzgebung darf daher dieses Recht nicht aufheben und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten nicht den Staatsbehörden übertragen. Sie darf die Selbstverwaltung auch nicht derart einschränken, daß sie innerlich ausgehöhlt wird, die Gelegenheit zu kraftvoller Selbstbetätigung verliert und nur noch ein Scheindasein führen kann." Stier-Somlo hat i n seinem Aufsatz Reichsstaatsgerichtshof u n d das Grundrecht der Selbstverwaltung, ArchöffR. 19 (1930, S. 255), gegen diese Entscheidung Einwendungen erhoben, die sich namentlich auf die Frage beziehen, ob die einzelne Gemeinde ein subjektives öffentliches Recht auf Schutz gegen zwangsweise Eingemeindung hat. Er bejaht ein solches Recht, aber nicht absolut, sondern nur grundsätzlich und behält sich Ausnahmen vor. I n der Sache kommt auch er, trotz seiner sonstigen Polemik gegen den Begriff der institutionellen Garantie (Nipperdey I, S. 170, Anim. 24), dennoch dem Gedanken einer solchen Garantie sehr nahe, und es ist berechtigt, wenn F. Nadolski (Die Unterscheidung und Einteilung der Grundrechte i n der neuesten staatsrechtlichen Literatur, Jenenser Diss. 1931, S. 51, Anm.) auf eine andere Äußerung Stier-Somlos (Handwörterbuch der Rechtswissenschaft I I , 1927, S. 508) hinweist, wo gesagt w i r d , daß es neben den individualistischen und den sozialen Grundrechten noch eine Reihe von Verfassungsgesetzen gibt, die dem Schutz einer Einrichtung dienen, und daß der Begriff der Grundrechte ins Grenzenlose und ins Unbestimmte ausgeweitet würde, wenn man aus allen diesen Sätzen „Grundrechte" ableiten wollte. Daß die Lehre von der institutionellen Garantie aber auch dort, wo sie ex professo angenommen w i r d , auf Schwierigkeiten und Hemmungen stößt, ist i n den Anmerkungen des Kommentars von Anschütz zu A r t . 127 erkennbar. Wegen der außerordentlichen Bedeutung, die den Ausführungen und der Stellungnahme dieses führenden deutschen Kommentars zukommt, soll die Anmerkung hier einer kurzen, näheren Betrachtung unterzogen werden. Anschütz geht davon aus, daß die Selbstverwaltung und die Staatsaufsicht an die Schranken des Gesetzes gebunden sind und „insoweit", weil A r t . 127 nur den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung spezialisiere, ein „leerlaufender" Grundrechtsartikel vorliege, der 10
Carl Schmilt
146
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
k r a f t des allgemeinen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ohnehin schon gelte. D a n n fährt er fort: „Es läßt sich aber nicht leugnen, daß A r t . 127 hierüber hinaus noch eine andere, weiter reichende Bedeutung hat. Er bindet nicht nur die Verwaltung an das Gesetz, sondern auch den Gesetzgeber selbst." Angesichts der bei Anschütz (namentlich i n seinem Kommentar zu A r t . 109) festzustellenden Zurückhaltung gegenüber Ansichten, welche die überlieferte Lehre vom uneingeschränkten Vorbehalt des einfachen Gesetzes und von der Allmacht des Gesetzgebers einschränken, ist dieser Satz von besonderem Interesse. Die Bindung des Gesetzgebers, die A r t . 127 herbeiführt, besteht darin, daß der Gesetzgeber die „Einrichtung der Selbstverwaltung als solche ' beschränken, aber „nicht beseitigen' darf. Das ist typisch eine institutionelle Garantie. Doch sucht Anschütz diese seine Anerkennung gleich wieder, wenn ich so sagen darf, leerlaufend zu machen, und zwar m i t einer dreifachen Begründung: erstens habe der Gesetzgeber sowohl bezüglich der Organisation wie auch des gegenständlichen Wirkungskreises sowie der Gestaltung der Staatsaufsicht „ v ö l l i g freie H a n d " ; zweitens sei die Grenze zwischen den die Selbstverwaltung beschränkenden und den sie beseitigenden Gesetzen schwer zu finden; u n d endlich heißt es drittens, daß „ k e i n deutscher Gesetzgeber daran denkt, noch jemals daran denken w i r d , die Selbstverwaltung als solche aufzuheben", womit dann die Bindung des Gesetzgebers praktisch bedeutungslos werde. Die drei Gegenargumente, die Anschütz hier gegen seine eigene Anerkennung einer Bindung des Gesetzgebers vorbringt, sind sehr verschiedener Natur und untereinander nicht widerspruchslos. Das erste Argument arbeitet m i t dem Gedanken, daß der Gesetzgeber hinsichtlich Organisation und Wirkungskreis der Gemeinden „ v ö l l i g freie H a n d " habe, ein Argument, das dem Ausgangspunkt von der „nicht zu leugnenden Bindung" des Gesetzgebers offen widerspricht. Denn entweder ist der Gesetzgeber gebunden und hat dann nicht mehr „ v ö l l i g freie Hand", oder er hat völlig freie Hand, dann kann man nicht mehr von einer Bindung sprechen. Es liegt i m Sinne der institutionellen Garantie der Selbstverwaltung, daß gewisse typische Merkmale, wie sie sich i n der geschichtlichen E n t w i c k l u n g als charakteristisch und wesentlich herausgebildet haben, durch diese A r t von Garantie vor einer Beseitigung durch den einfachen Gesetzgeber geschützt werden sollen. Infolgedessen hat der Gesetzgeber weder hinsichtlich der Organisation noch hinsichtlich des gegen-
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
147
ständlichen Wirkungskreises der Gemeinden, noch endlich hinsichtlich der Gestaltung der Staatsaufsicht völlig freie Hand, wenn die Gewährleistung überhaupt noch einen I n h a l t haben soll. Es ist keine Frage, daß die Übertragung der Leitung aller kommunalen Geschäfte an einen staatlichen Podestä unserm Begriff von Selbstverwaltung widerspricht; daß die Beseitigung des Rechts der Gemeinden, ihr eigenes Vermögen unter staatlicher Aufsicht (nicht Leitung) zu verwalten, für unsere Auffassung die Substanz der Selbstverwaltung angreift, daß ein Gesetz, welches alle Gemeinden m i t unter 10 000 oder gar 100 000 Einwohnern ohne weiteres der nächsten Großstadt eingemeindet, unseren überlieferten Begriff von Gemeinde und damit auch die gemeindliche Selbstverwaltung zerstören würde. Es lassen sich manche solcher extremen Fälle denken, i n denen man feststellen kann, daß das, was man bisher unter Selbstverwaltung verstand (der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich spricht i n seiner oben erwähnten Entscheidung vom 10. Dezember 1929 sogar von „kraftvoller Selbstverwaltung"), durch solche Gesetze nicht nur eingeschränkt, sondern aufgehoben und beseitigt ist. Wenn A r t . 127 überhaupt eine verfassungsmäßige Garantie enthält, so hat der Gesetzgeber hierfür keineswegs völlig freie Hand. A n dem zweiten Argument ist besonders bemerkenswert, daß es ein bei den verschiedensten Fragen des neueren Verfassungsrechts häufig und i n typischer Weise auftretendes Scheinargument verwendet, das wegen seiner immer wiederkehrenden Promptheit" einen besonderen Namen verdient. I c h möchte es, bis zu einer besseren Bezeichnung, den „Grenzenlosigkeitsschluß" nennen; denn hier w i r d von der Schwierigkeit der Abgrenzung auf das Nichtvorhandensein einer Grenze geschlossen, ein logisch höchst merkwürdiger, aber anscheinend suggestiver Schluß. Er spielt bei der Auslegung des A r t . 76 eine große Rolle: w e i l es schwierig ist, die Grenzen der Verfassungsänderungsbefugnis kasuistisch anzugeben, soll diese Befugnis überhaupt keine Grenzen haben. Das Interesse, das gesetzanwendende Stellen, u n d zwar um so stärker je subalterner, an einer prompten und auf der Stelle vorzunehmenden Subsumtion haben, ist begreiflich und berechtigt; aber ein verfassungsrechtliches Argument ist es nicht, und das öffentliche wie das private Recht kennt zahlreiche Fälle schwieriger Abgrenzungen, bei denen niemand auf jenen Grenzenlosigkeitsschluß verfallen würde. Es ist z. B. namentlich i n kritischen Zeiten und Situationen außerordentlich schwer, eindeutig und zweifelsfrei zu bestimmen, ob eine polizeiliche Maßnahme oder 10*
148
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
gar eine Anordnung des Reichspräsidenten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit w i r k l i c h nötig ist, u n d was nun auf G r u n d dieser Ermächtigung genau zulässig ist oder nicht. Aber wer kommt auf den Gedanken, daraus zu folgern, daß die Befugnis der Polizei oder des Reichspräsidenten infolgedessen überhaupt keine Grenze habe? Was insbesondere den Begriff der kommunalen Selbstverwaltung angeht, so sind unsere Rechtsbegriffe vielleicht doch nicht so verwirrt, daß man heute bei gutem W i l l e n u n d einiger Sachkenntnis nicht unterscheiden könnte, wann der extreme F a l l eingetreten u n d statt einer bloßen Einschränkung eine Beseitigung der kommunalen Selbstverwaltung b e w i r k t ist. W i l l man aber m i t jenem Grenzenlosigkeitsschkiß sagen, daß es eine Methode unauffälliger Aushöhlung u n d Entleerung einer Institution gibt, gegen welche keine institutionelle Garantie schützen kann, so k a n n das, je nach der A r t und Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft, zutreffen und ist schlimm genug; aber für die rechts wissenschaftliche Auslegung einer Verfassungsbestimmung kein Gesichtspunkt und als logischer Schluß geradezu erstaunlich: daraus, daß es bei planmäßig bösem W i l l e n möglich ist, eine verfassungsgesetzliche Garantie zu umgehen und zu unterminieren, soll folgen, daß eine verfassungsgesetzliche Garantie nicht besteht oder wenigstens praktisch bedeutungslos ist! M i t dieser Logik würde man zahllose Bestimmungen des Privatrechts, Straf rechts, Steuerrechts usw. als bedeutungslos hinstellen können. Gerade ein positivistisch gerichteter Jurist muß diesen Schluß aufs schärfste ablehnen. Dadurch w i r d auch der Widerspruch dieses zweiten gegenüber dem dritten und letzten Argument Anschütz' um so deutlicher. Während das zweite Argument einen nicht wohlgesinnten, jedenfalls die Selbstverwaltung nicht respektierenden Gesetzgeber voraussetzt, w i r d hier gesagt, daß kein deutscher Gesetzgeber daran denke, noch jemals daran denken werde, die Selbstverwaltung als solche aufzulösen. Ist das letztlich w i r k l i c h der Fall, so k a n n man die Entscheidung darüber, ob eine bloße Beschränkung oder aber eine Beseitigung der Selbstverwaltung vorliegt, getrost der Loyalität der defutschen Gesetzgeber überlassen. Aber die institutionelle Garantie des A r t . 127 w i r d dadurch nicht praktisch bedeutungslos, sondern für den Gesetzgeber, der sich l o y a l an sie zu halten gewillt ist, eine überaus bedeutungsvolle Hemmung und Bindung: O b allerdings w i r k l i c h „ k e i n deutscher Gesetzgeber jemals daran denken w i r d " , die Institution der Selbstverwaltung anzutasten, ob man w i r k l i c h i n dieser Hinsicht, trotz der
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
149
Verwirrung der heutigen innerpolitischen Situation, zu allen den zahlreichen denkbaren Reichs- und Landesparlamentsmehrheiten das zuversichtliche Vertrauen haben darf, zu welchem Anschütz sich hier bekennt, soll hier nicht entschieden werden und als Frage offen bleiben. II Eine institutionelle Garantie setzt selbstverständlich eine Institution voraus, d. h. formierte u n d organisierte und daher umgrenzbare und unterscheidbare Einrichtungen öffentlich-rechtlichen Charakters. I n dem eben erörterten F a l l der institutionellen Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung durch A r t . 127 sind außerdem selbständige Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts als Träger der Institution vorhanden, wodurch die Institution als solche leichter unterscheidbar und bestimmbar w i r d . Daraus erklärt es sich wohl, daß der Gesichtspunkt der institutionellen Garantie für diesen A r t i k e l am schnellsten Anerkennung gefunden hat. Doch gehört es keineswegs zu den Erfordernissen einer institutionellen Garantie, daß ein öffentlich-rechtliches Rechtssubjekt besteht; es gibt institutionelle Garantien ohne ein solches Rechtssubjekt, wie die gleich zu erörternde Garantie des deutschen Berufsbeamtentunis als einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung m i t besonderen Grundzügen u n d einer i n der deutschen staatsrechtlichen E n t w i c k l u n g herausgebildeten, typischen Organisation. Eine weitere, wiederum andersgeartete Frage ist es, wie weit eine Garantie von subjektiven Rechten — sei es des Trägers der Institution selbst, sei es individueller Rechte einzelner Beteiligter — zu einer institutionellen Garantie gehört. A u c h diese Frage kann durch die verfassungsgesetzliche Regelung verschieden beantwortet werden. Es ist eine besonders i n der Erörterung des A r t . 129 Abs. 1 S. 3 häufig auftretende, aber unrichtige Denkweise, institutionelle Garantie oder subjektives Recht alternativ einander entgegenzustellen. Beides k a n n miteinander verbunden sein, doch muß für die Auslegung i m Auge behalten werden, daß die Gewährung subjektiver Rechte der Gewährleistung der Institution untergeordnet ist und ihr zu dienen hat, daß also der institutionelle Gesichtspunkt und nicht das individualistisch-egoistische Interesse des subjektiv Berechtigten entscheidet. Neben A r t . 127 dürften hauptsächlich Art. 129 (Berufsbeamtentum) und A r t . 142 (wissenschaftliche Lehrfreiheit) diejenigen Verfassungsbestimmungen sein, für welche der Gedanke einer institutionellen
150
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
Garantie sich am meisten durchgesetzt hat. Daneben sind folgende institutionelle Garantien i m Schrifttum anerkannt: A r t . 102 ff. (Unabhängigkeit der Richter) von Anschütz (vgl. seine Anmerkung zu A r t . 142, S. 572), G r a f zu Dohna (Art. 105, bei Nipperdey I, S. 111); wenn K . Loewenstein a.a.O. S. 289 Anm. 3 i n A r t . 105 (Verbot der Ausnahmegerichte) ein echtes Grundrecht erblicken w i l l , so widerspricht das keineswegs der Annahme einer institutionellen Garantie für A r t . 102—104. Ferner der i m Zusammenhang mit anderen Garantien noch zu behandelnde A r t . 137 (Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts), bei dem die selbständige Rechtssubjektivität dieser Körperschaften die Annahme einer institutionellen Garantie erleichtert (vgl. K. Loewenstein a.a.O. S. 289 und besonders E. Forsthoff a.a.O. S. 112 f.). D i e Garantie des A r t . 149. Abs. 3 (theologische Fakultäten), ist unten bei der Stafcus-quo-Garantie unter 3 erörtert. Was die institutionelle Garantie des deutschen Berufsbeamtentums (Art. 128, 129, 130) angeht, so hat die Entscheidung des Reichsfinanzhofs vom 25. März 1931 (Reichssteuerblatt 1931, Nr. 11, Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Bd. 28, S. 208) die Unverletzlichkeitserklärung der wohlerworbenen Rechte der Beamten (Art. 129, Abs. 1, Satz 3) i m Sinne einer institutionellen Garantie ausgelegt, nachdem bereits die Vorentscheidung vom 5. Januar 1931 (Reichssteuerblatt Nr. 5) den gleichen Standpunkt eingenommen hatte, ohne das Wort „institutionelle Garantie" zu gebrauchen. I m Schrifttum ist diese Auslegung der beamtenrechtlichen Verfassungsbestimmung von folgenden Autoren anerkannt: F. Giese, Kommentar S. 275 und Das Berufsbeamtentum 2. Aufl., 1930, S. 25 („Die Beamtengrundrechte gewähren nicht nur den einzelnen deutschen Beamten subjektive Grundrechte, sondern begründen zugleich und vor allem eine verfassungsmäßige Verankerung des deutschen Berufsbeamtentums als staatsrechtlicher Einrichtung des Deutschen Reiches, der Länder und der öffentlichen Körperschaften"); G. Lassar, a.a.O., S. 42 („Diese Bestimmungen enthalten eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums"); H. Gerber, Vom Begriff und Wesen des Berufsbeamtentums, ArchöffR. 18 (1930), S. 74, Anm. 100 (Anerkennung einer verfassungsmäßigen Begründung des Beamtentums, für welche er sich auf Giese beruft, die man wohl i m Sinne einer institutionellen Garantie deuten muß); W . Schröder, Die wohlerworbenen Rechte der Beamten (Art. 129 RV.) i n ihrer politischen und juristischen Bedeutung, Berlin 1930, sowie der Aufsatz: Was verstanden Beamtenschaft und Nationalversammlung 1919 unter
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
161
wohlerworbenen Rechten der Beamten? Beamten- Jahrbuch 1931, H e f t 8, S. 424 („Die einzelnen Beamtenrechte erscheinen nicht mehr als die wesentlichen, sondern die Erhaltung der Institution des Berufsbeamtentums als solche w i r d stärker betont. Dies entspricht zweifellos auch dem Sinn der Verhandlungen vom 18. März 1919 i n Weimar"); E. Friesenhahn, Gehaltskürzung u n d wohlerworbene Beamtenrechte, Hamburg. Wirtschaftsdienst 1930, S. 1145 ( „ A r t . 129 ist, wie die Entstehungsgeschichte ergibt, ein typischer F a l l einer solchen institutionellen Garantie: Sinn und Zweck der Einfügung des A r t . 129, insbesondere auch seines Satzes 3 des ersten Absatzes war, die I n stitution des Berufsbeamtentums auch fiir das neue Deutsche Reich verfassungsgesetzlich festzulegen"); K . Loewenstein a.a.O., S. 289. A r t . 142 (Garantie der wissenschaftlichen Lehrfreiheit) kann nur auf dem Wege über eine institutionelle Garantie zu dem „ G r u n d recht der deutschen Universität" werden, wie es von R. Smend genannt worden ist. Denn i m Wortlaut des A r t . 142 ist von Hochschulen nicht die Rede; die einzige Bestimmung der Reichsverfassung, die das W o r t Hochschule nennt, ist interessanterweise die Garantie der theologischen Fakultäten an den Hochschulen i n A r t . 149 Abs. 3. Aber sowohl K. Rothenbücher wie R. Smend sind i n ihren Referaten für die deutsche Staatsrechtslehrer-Tagung 1927 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H e f t 4, bes. S. 37 u. 71) zu dem Ergebnis gekommen, daß eine der richterlichen Unabhängigkeit ähnliche Unabhängigkeit des beamteten Hochschullehrers durch A r t . 142 gewährleistet wird. Dieses Ergebnis ist auch i n der darauffolgenden Diskussion und sonst anerkannt. F ü r den institutionellen Charakter ist besonders die Äußerung G. Holsteins (Hochschule und Staat 1928, S. 6) beachtenswert, der hier ein „Stück Organisationsrecht" feststellt und die Hochschule für eine i n der Autonomie des geistigen Lebens begründete „Organisationsgemeinschaft" erklärt. Er sieht i n der Gewährleistung der Lehrfreiheit die „Sicherung derjenigen Organisationsformen, die jenes eigengesetzliche Leben umgrenzen und zur Entfaltung bringen". Stier-Somlo, ArchöffR. 15, 1928, S. 385 ff., stimmt i h m nachdrücklichst zu. Anschütz, Kommentar S. 572, bezeichnet den Gesichtspunkt der institutionellen Garantie als richtig; A r t . 142 soll nach i h m „die Lehrfreiheit nicht n u r als subjektives Recht des einzelnen, sondern auch — u n d vor allem — als Einrichtung gewährleisten und schützen". R. Smend sagt a.a.O., S. 64, 71, die Freiheit der Wissenschaft, insbesondere als akademische Freiheit,
152
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
habe „institutionellen Charakter"; dieses Grundrecht bedeute „vor allem die angemessene Rechtsstellung einer großen öffentlichen Institution". Was ihren I n h a l t und Umfang angeht, so w i r d er von Anschütz folgendermaßen umschrieben: amtliche Selbständigkeit; Entbindung von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber Anweisungen des Vorsitzenden, welche die Lehrmeinungen betreffen; Freiheit der amtlichen Tätigkeit von jeder Bindung durch die Dienstgewalt hinsichtlich der zu vertreten den Lehrmeinung. Der Schutz gegen Versetzungen i m Interesse des Dienstes, den bisher nur einfache Gesetze gewährten (z. B. § 96 des Preußischen Gesetzes betreffend die Dienstvergehen der nicht richterlichen Beamten vom 21. Juli 1852), sowie auch die bestehende wissenschaftliche Selbstverwaltung der Hochschulen w i r d man, wenigstens i n ihren Grundzügen, ebenfalls unter diese institutionelle Garantie bringen müssen. Es handelt sich dabei um die wissenschaftliche Lehrfreiheit nach A r t . 142, nicht, wie G. Holstein (Stiftungsvermögen und Selbstverwaltungsrecht der Universität Greifswald, 1925, S. 38) zu konstruieren sucht, u m eine Ausdehnung der i n A r t . 127 gewährleisteten Institution der Selbstverwaltung; denn A r t . 127 spricht nur von kommunaler Selbstverwaltung; nur diese ist eine Institution, während „Selbstverwaltung" i m allgemeinen u n d i n abstracto w o h l ein Prinzip, aber keine Institution ist. I m Interesse klarer Begriffsbildung ist der Unterschied w o h l zu beachten. D i e besonders eingehende Monographie über A r t . 142, die Kieler Dissertation von Walter A. E. Schmidt (Abhandlungen zur Reichs Verfassung, herausgegeben von Walter Jellinek, H e f t 3, 1929) leidet darunter, daß ihr der Begriff der institutionellen Garantie unbekannt geblieben ist; doch scheint ihr S. 141 etwas Ähnliches vorzuschweben, wenn sie die Garantie des A r t . 149 (Erhaltung der theologischen Fakultäten) als „Organisationsnorm" bezeichnet und sich gegen eine i m Plenum der Nationalversammlung (Sten. Ber. S. 2166 A) vorgebrachte Äußerung des Abgeordneten M u m m wendet, der annahm, hier seien Zahl und Gepräge der bestehenden theologischen Fakultäten garantiert. K. Loewenstein zählt a.a.O. S. 289 noch weitere institutionelle Garantien auf: A r t . 119 (Ehe); 139 (Sontagsruhe); 153 (Eigentum); 154 (Erbrecht); 161 (Versicherungswesen); 125 (Wahlgeheimnis). Davon aber sind Ehe, Eigentum und Erbrecht keine öffentlich-rechtlichen Institutionen, sondern Rechtsinstitute des Privatrechts, so daß es sich i n den betreffenden A r t i k e l n nicht u m eine institutionelle, sondern um eine Institutsgarantie handelt. Die Sonntagsruhe (Art. 139) ist als Konnex der institutionellen Garantie der Religionsgesellschaften ge-
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
163
dacht; A r t . 161 ist ein Gesetzgebungsprogramm, und es ist eine Frage, die hier nur aufgeworfen sein soll, wie weit überhaupt die Ausführung eines in der Verfassung ausgesprochenen Gesetzgebungsprogramms die i n Ausführung des Programms ergehenden einfachen Gesetze vor einer Abänderung durch spätere einfache Gesetze schützt. Das Wahlgeheimnis ist ein Konnex zum demokratischen Wahlrecht des A r t . 22, keine Einrichtung i m Sinne einer Organisation oder A n stalt des öffentlichen Rechts. Wenn Loewenstein außerdem noch, wie er sagt, „bisher nicht genügend beachtete Verfassungsrechtssätze institutionellen Charakters" i m ersten H a u p t t e i l der Verfassung findet — A r t . 2 (Reichsgebiet); A r t . 3 (Reichsflagge); A r t . 17 (freistaatliche Verfassung); A r t . 1 (Republik); A r t . 20 (Abgeordnete des Deutschen Volkes) — und schließlich „ i n einem weiter gefaßten Sinn des Institutionsbegriff es" auch die verfassungsrechtlichen Fundamentalbegriffe wie Volksabstimmung, Reichsvolk, Reichsregierung, Reichspräsident (S. 290) aufzählt, so w i r d schließlich alles und jedes, jede Norm und jeder Begriff, jedes Verfassungswort zur Institution und zur institutionellen Garantie. D u r c h solche Ausdehnungen und A u f lösungen w i r d der klare und brauchbare Begriff gefährdet u n d die eigenartige Sonderung, wie E. Forsthoff sich einmal ausdrückt, „Distanzierung" gegenüber der politischen Willensbildung, die im ersten H a u p t t e i l der Verfassung organisiert ist, verwischt. Abgesehen davon liegt der I r r t u m Loewensteins darin, daß er i n allen Fällen, i n denen sich die konservierende u n d fixierende W i r k u n g der Verfassungsregelung zeigt, gleich eine institutionelle Garantie für gegeben hält, während es gerade darauf ankommt, unter den verschiedenen Arten von Schutz, Sicherung, Festlegung, Gewährleistung oder Unverletzlichkeitserklärung nach A r t und Gegenstand der Sicherung besser zu unterscheiden. III Man kann die normierende W i r k u n g jeder beliebigen gesetzlichen Regelung als eine Garantie bezeichnen und etwa sagen, § 835 BGB. enthalte eine reiehsgesetzeskräftige Garantie des Rechts auf W i l d schadenersatz, § 271 HGB. gewährleiste (natürlich wieder „reichsgesetzeskräftig") ein Anfechtungsrecht des Aktionärs, §211 StrGB. „verankere" (ebenso) die Todesstrafe usw. usw. Dadurch verliert das Wort Garantie jeden spezifischen Sinn, und das Problem der verfassungsrechtlichen Garantien w i r d verfehlt. Von einer Verfassungsgarantie kann man richtigerweise nur sprechen, wenn die Verfassung
154
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
sich m i t der Garantie, die sie gibt, identifiziert und eine Verletzung der Garantie ohne weiteres eine Verletzung „der Verfassung selbst" bedeutet, wenn ein A n g r i f f auf das gewährleistete O b j e k t ein A n ' g r i f f auf die Verfassung selbst ist. So konnte man von den Verfassungen des 19. Jahrhunderts sagen, daß sie die Grundrechte des bürgerlichen Rechtsstaates, persönliche Freiheit u n d Privateigentum gewährleisten wollten, freilich unter dem Vorbehalt des einfachen Gesetzes, wodurch die Gewährleistung sozusagen mediatisiert und dem Gesetzgeber anheimgestellt wurde; denn eine Verletzung dieser Grundrechte war nur dann eine Verfassungswidrigkeit, wenn sie nicht auf G r u n d eines Gesetzes vorgenommen wurde. Dagegen enthält die Bestimmung der Staatsform mit den Grundentscheidungen über die A r t der politischen Existenz Festlegungen, m i t denen die Verfassung sich selbst identifiziert, so daß ein gegen sie gerichteter A n g r i f f ein hochverräterischer A n g r i f f auf die Verfassung selbst ist. Eine zweite A r t der Garantie liegt dann vor, wenn die erschwerte Abänderbarkeit verfassungsgesetzlicher Bestimmungen benutzt w i r d , um bestimmte Interessen oder Rechte, die man aus irgendwelchen Gründen für schützenswert hält, m i t H i l f e der erschwerten Abänderbarkeit eines Verfassungsgesetzes vor dem einfachen Gesetzgeber in Sicherheit zu bringen und seinem Zugriff zu entziehen. Das ist zum Unterschied von der Verfassungsigarantie eine verfassungsgesetzliche Garantie. Sie ist formal i n dem Sinne, daß sie keinen sachlichen Zusammenhang mit den Grundentscheidungen der Verfassung selbst zu haben braucht und, wie es für diesen Begriff des Formalen charakteristisch ist, einen rein politischen Sinn hat. So kann, wenn Sinn und Begriff einer demokratischen Verfassung verlorengehen, z. B. eine Alkoholgegnerbewegung, sobald sie zufällig die erforderlichen verfassungsändernden Mehrheiten i n der H a n d hat, ein Alkoholverbot zum Verfassungsgesetz erheben, dadurch die Alkoholfrage zum Polit i k u m machen u n d die gesteigerte K r a f t des Verfassungsgesetzes benutzen, u m i h r Verbot auch dann noch dem Volke aufzuzwingen, wenn sie selbst nicht einmal mehr die einfache Mehrheit zu einfachen Gesetzen hat, sofern nur der Gegner keine verfassungsändernde Mehrheit erreicht, während umgekehrt natürlich eine entgegengesetzte, alkoholfreundliche Richtung eine Situation i n gleicher Weise ausnutzen kann, um ein Verbot der Prohibition zu oktroyieren; die Impfgegner, die Gegner der Todesstrafe usw. usw. können auf gleiche Weise merkwürdige „Verankerungen" bewerkstelligen. Die verfassungsgesetzliche Garantie ist jedenfalls ausschließlich wegen
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
155
ihrer erschwerten Abänderbarkeit, also nur i m H i n b l i c k auf den Schutz gegen den Gesetzgeber, d. h. gegen die Parlamentsmehrheit, i m spezifischen Sinne eine Garantie zu nennen. I m übrigen enthält die verfassungsgesetzliche Normierung eine Sicherung, wie jede gesetzliche Regelung, deren festlegende und interessenschützende W i r kung noch nicht ohne weiteres als Garantie bezeichnet werden darf. Der Begriff der institutionellen Garantie setzt eine echte Garantie voraus, und zwar für unser geltendes Verfassungsrecht eine verfassungsgesetzliche Garantie. Außerdem aber, natürlich, einen bestimmt gearteten Gegenstand dieser Garantie, nämlich eine Institution, weil man sonst nicht von „institutioneller Garantie" sprechen kann. Diese A r t von Garantie bezieht sich immer auf etwas Gegenwärtiges, formiert und organisiert Bestehendes u n d Vorhandenes. Insofern liegt i n i h r auch eine Garantie eines bestehenden Zustandes und einer vorhandenen Rechtslage und enthält sie immer Elemente der Garantie eines Status quo. Daneben gibt es aber auch noch reine Status-quo-Garantien, die i m H i n b l i c k auf einen bestimmten Stichtag, etwa den Tag des Inkrafttretens der Reichs Verfassung, eine bestimmte Sach- oder Rechtslage festlegen wollen. Beispiele einer solchen reinen Status-quo-Garantie finden sich hauptsächlich in Übergangsbestimmungen, wo sie den Charakter von Sperrgesetzen haben. So sagt A r t . 173: „Bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes gemäß A r t . 138 bleiben die bisherigen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften bestehen." Oder A r t . 174: „Bis zum Erlaß des i n A r t . 146, Abs. 2, vorgesehenen Reichsgesetzes bleibt es bei der bestehenden Rechtslage." Wo sich sonst eine Status-quo-Garantie findet, handelt es sich meistens um konnexe oder komplementäre Garantien, die zu institutionellen Garantien hinzutreten. Das ist namentlich bei A r t . 138 der Fall. A r t . 138, Abs. 2, ist als eine Status-quo-Garantie des Kirchengutes gedacht und steht i m Zusammenhang und Anschluß m i t der Bestimmung des Abs. 1, der eine Ablösung der Staatsleistungen, also eine Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche vorsieht. Die Rechtsgrundlage, auf welcher die Ablösung gemäß Abs. 1 stattfinden soll, w i r d durch Abs. 2 garantiert. Das bedeutet der meines Ermessens richtige Satz von E. R. Huber (Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte i n der Weimarer Verfassung, 1927, S. 97): A r t . 138, Abs. 1, „bereitet vor, einen status quo festzulegen, dessen Garantie in A r t . 138 I I vorweggenommen ist". Die Gewährleistung des Eigentums und anderer Rechte der Religionsgesellschaften und religiöser
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
Vereine am sogenannten Kirchengut enthält etwas anderes als die institutsgarantierende Gewährleistung des Eigentums i n A r t . 153. Das Eigentum der Religionsgesellschaften ist kein besonderes Privatrechtsinstitut, auch nicht eine Modifikation des allgemeinen Rechtsinstituts „Privateigentum", so wenig wie Staatseigentum, fiskalisches Eigentum oder Gemeindeeigentum durch die verfassungsgesetzliche Privilegierung, die sie i n A r t . 153, Abs. 2, Satz 4, erhalten haben, eine besondere A r t von Rechtsinstitut geworden sind. Noch weniger handelt es sich hier u m eine neue Institution, vielmehr setzen solche Privilegierungen Institutionen voraus und sind nur i m Zusammenhang m i t ihnen verständlich. D i e Garantie des Kirchengutes in A r t . 138, Abs. 2, bedeutet demnach 1. eine i m Anschluß an die Auseinandersetzungsbestimmung des Abs. 1 zu verstehende Garantie eines Status quo, 2. eine i m Zusammenhang und Rahmen der institutionellen Garantie des A r t . 137 zu verstehende, zu dieser hinzutretende u n d sie ergänzende Garantie der Institution „Religionsgesellschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts". Das Kirchengut als „eigene Angelegenheit" der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft hat in dieser Hinsicht eine gewisse Analogie m i t dem eigenen Gemeindevermögen der kommunalen Selbstverwaltungskörper, welches durch die institutionelle Garantie des A r t . 127 in Verbindung m i t A r t . 153, Abs. 2, S. 4, garantiert werden soll. Hier werden die Grundlinien eines Aufbaues verfassungsgesetzlicher Garantien besonders deutlich erkennbar, weil mehrere einander stützende und ergänzende Arten solcher Garantien zusammentreffen. Ausgangspunkt u n d Grundlage bleibt für diese ganze Materie die institutionelle Garantie der Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts in Art. 137. I n Abs. 5 Satz 1 desselben Artikels ist gleichzeitig eine Status-quo-Garantie ausgesprochen: „Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher (vor dem 14. August 1919) waren." Dieser Satz gewährleistet das Weiterbestehen von bestehenden Körperschaften des öffentlichen Rechts i n ihrem bisherigen Status, der auch nicht i n der Ubergangszeit durch eine (etwa nach A r t . 137; Abs. 1 oder Abs. 3 erforderliche) Trennung bisher bestehender Verbindungen m i t der staatlichen Organisation beseitigt werden darf. A r t . 173 enthält eine weitere konnexe Status-quo-Garantie als Übergangsbestimmung für die „bisherigen" Staatsleistungen. Die Gewährleistung des Kirchenguts i n A r t . 138 Abs. 2 setzt ebenfalls die institutionelle Garantie voraus und dient ihrer Ergänzung; sie setzt
F r e i h e i t s r e t e u n d institutionelle Garantien (1931)
157
ferner das Bestehenbleiben der bisherigen Religionsgesellschaften öffentlichen Rechtes voraus. A r t . 138 Abs. 1 spricht von einer A b lösung der Staatsleistungen u n d ist scheinbar eine Trennungsbestimmiung. Aber dadurch, daß das Reichsgesetz, welches die Grundsätze für die Ablösung A r t . 138 Abs. 1 aufstellen muß, nicht zustande kommt und vorläufig auf unabsehbare Zeit zurückgestellt zu sein scheint, ist ein Bedeutungswandel, sogar eine gänzliche Umkehrung des ursprünglichen Sinnes eingetreten, die E. R. Huber (a.a.O. S. 106) unter Zustimmung von O. Koellreutter (ArchöffR. 15, 1928, S. 26) feststellt: „ D e n Ländern ist es verboten, an ihre bisherigen finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Kirchen zu rühren, solange dieses Reichsgesetz nicht besteht . . . I m Ergebnis macht daher der A r t . 138 Abs. 1 den deutschen Ländern zur Pflicht, ihre finanziellen Beziehungen zu den Kirchen aufrechtzuerhalten. 4 ' A r t . 138 Abs. 2 erhält dadurch eine selbständige Bedeutung als Garantie des jeweiligen Kirchengutes, unabhängig von der Ablösung, und es entsteht eine Garantie des jeweiligen Status quo. Man kann nicht sagen, daß es der Weimarer Verfassung gelungen ist, des schwierigen Problems Herr zu werden, das sie sich stellte, als sie die „Ausgliederung" der Kirche aus dem Staat m i t einem System institutioneller u n d Status-quo-Garantien zu verbinden trachtete. Wenn E. Forsthoff sagt, daß „durch den A r t . 137 eine Garantie geschaffen wurde, von deren Ausmaß nicht einmal seine Urheber eine klare Vorstellung hatten", so gilt das w o h l auch für die Wirkungen der andern, die Religionsgesellschaften betreffenden Gewährleistungen. Aber für die verfassungsrechtliche Erkenntnis eines solchen Garantiesystems enthalten die Beziehungen von A r t . 137, 138 u n d 173 doch ein besonders aufschlußreiches Beispiel. Die Unterscheidung und gleichzeitige Verbindung von institutioneller und Status-quo-Garantie läßt sich auch an A r t . 149 Abs. 3 gut verdeutlichen. Danach „bleiben die theologischen Fakultäten an den Hochschulen erhalten". Man k a n n das i m Sinne einer Status-quoGarantie auffassen u n d dahin verstehen, daß alle am 14. August 1919 bestehenden theologischen Fakultäten i n ihrer genauen Zahl der Lehrkräfte, womöglich sogar i n ihrem finanziellen Etat, ferner i n der Verteilung der Einzeldisziplinen innerhalb der Fakultät usw. festgehalten werden sollen. Eine derartige Erstarrung auf den Stichtag des 14. August 1919 würde w o h l niemand für vernünftig halten. Das entgegengesetzte Extrem läge darin, nur ganz allgemein die Institution „theologische Fakultäten an den deutschen Hochschulen"
158
F r e i h e i t s r e t e u n d institutionelle Garantien (1931)
gewährleistet zu sehen. D a n n wäre weiter nichts garantiert, als daß es überhaupt Anstalten und Einrichtungen geben muß, die den Namen „theologische Fakultäten an den Hochschulen" verdienen, gleichgültig, wie groß ihre Zahl, die Zahl ihrer Lehrkräfte usw. wäre. Zwischen diesen beiden Extremen, d. h. einer extremen Statusquo-Garantie und einer institutionellen Minimalgarantie, dürfte sich die richtige Auslegung bewegen. Denn Begriff und W o r t „theologische Fakultäten an den deutschen Hochschulen" können nicht abstrakt konstruiert werden, sondern sind nur i n der konkreten geschichtlichen Situation des deutschen 19. und 20. Jahrhunderts verständlich. Infolgedessen fällt unter diese Garantie alles, was man als typisch und charakteristisch für die Institution ansehen muß: dahin gehört meines Ermessens z. B. die akademische Lehrfreiheit, wenn auch natürlich i m Rahmen dogmatischer Bindung der betreffenden Konfession, das wissenschaftliche Selbstverwaltungsrecht für interne Angelegenheiten der Fakultät, Promotionsrecht, aber auch die zur Selbständigkeit eines akademischen Lehrers an deutschen Hochschulen gehörende Unabhängigkeit des persönlichen Status, woraus sich eine grundsätzliche I n k o m p a t i b i l i t ä t zwischen Fakultätsmitgliedschaft und Zugehörigkeit zu einem religiösen Orden ergibt, usw. Was die Stellungnahme zu dieser Frage i m bisherigen Schrifttum angeht, so nimmt Walter Lande (Die Schule i n der Reichsverfassung, 1929, S. 93) an, daß A r t . 149 Abs. 3 zunächst natürlich die Möglichkeit theologischer Fakultäten an einer Hochschule überhaupt verfassungsrechtlich verbürge, daß aiber außerdem die einzelnen am 14. August 1919 vorhandenen theologischen Fakultäten gegen Beseitigung durch einfaches Reichsgesetz oder durch landesrechtliche Maßnähmen geschützt seien, es sei denn, daß die ganze Hochschule aufgehoben w i r d 1 . D a n n fährt er fort: „Einschränkung des Umfanges und der Ausgestaltung der Fakultät ist dadurch nicht gehindert, solange das Verbleibende noch als vollständige »theologische Fakultät 1 i m überlieferten Sinne des Wortes angesprochen werden kann. Unter dem gleichen Vorbehalt sind äußere oder innere Umformungen zulässig, da nicht die Ausgestaltung, sondern nur der Bestand verfas1 Lande zählt (S. 93 Anm. 267) als am 14. August 1919 bestehende evangelisch-theologische Fakultäten auf: Berlin, Bonn, Breslau, Erlangen, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg, Jena, Kiel, Königsberg, Leipzig, Marburg, Münster, Rostock, Tübingen; katholisch-theologische Fakultäten: Bonn, Breslau, Freiburg, München, Münster, Tübingen, Würzburg. Akademien wie Braunsberg erwähnt er nicht. Meiner Ansicht nach fallen sie ebenfalls unter die Garantie des Art. 149 Abs. 3.
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
169
sungsrechtlich gesichert ist." Diese Worte enthalten eine sehr anschauliche Umschreibung des Begriffes einer institutionellen Garantie, zumal Lande die theologischen Fakultäten als „grundsätzlich reine Staatseinrichtungen" (S. 93/94) bezeichnet. A u c h i n der «bereits erwähnten Formulierung von Walter A . E. Schmidt, a.a.O. S. 141, daß A r t . 149 Abs. 3 eine „Organisationsnorm" enthalte, liegt eine A n erkennung der Gesichtspunkte einer institutionellen Garantie. Ohne den engsten Zusammenhang und Rahmen einer institutionellen Garantie wäre jede verfassungsrechtliche Garantie vermögensrechtlicher Ansprüche oder gar eines vermögensrechtlichen Status quo ein, wenigstens i n einer demokratischen Republik, aufreizendes Privileg. Unter diesem Gesichtspunkt ist die eigenartige Garantie eines Status quo, welche die i n zahlreichen Gutachten und i m Schrifttum herrschende Auslegung des A r t . 129, Abs. 1, Satz 3 (Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte der Beamten) einzuführen sucht, besonders interessant. Sie erklärt nämlich die jeweilig erreichte günstigste Höhe der vermögensrechtlichen Ansprüche und besoldungsgesetzlichen Bezüge eines Beamten für verfassungsgesetzlich garantiert. Das ist nicht nur die Garantie des Status quo eines bestimmten Stichtages (wie man sich z. B. denken könnte, daß den am 14. August 1919 i m A m t befindlichen Beamten durch eine Übergangsbestimmung die damalige Höhe ihrer Bezüge garantiert worden sei); es ist auch nicht die Garantie des Status quo eines andern, erkennbar zu fixierenden Stichtags; es ist die Garantie des jeweils günstigsten Status quo der Bezüge jedes einzelnen Beamten. Diese Auffassung begnügt sich also nicht damit, daß m i t der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums den Beamten ein standesgemäßer Unterhalt und eine angemessene Versorgung garantiert ist. Sie führt vielmehr eine ziffernmäßige Garantie des bisher erreichten besoldungsgesetzlichen Standards ein. I m K e r n ihrer Argumentation steckt eine originelle Variation jenes oben erwähnten „Grenzenlosigkeitsschlusses"; w e i l die Ansprüche auf „standesgemäßen Unterhalt" und „angemessene Versorgung", deren Garantie i n der Unverletzlichkeitserklärung der wohlerworbenen Rechte enthalten ist, inhaltlich nicht fest bestimmt und i n schwierigen Situationen nicht einfach taxenmäßig abzulesen sind, deshalb soll überhaupt keine Herabsetzung der Bezüge durch den einfachen Gesetzgeber erfolgen dürfen! Das Ergebnis ist: die Bezüge dürfen (und sollen wohl auch) i n günstigen Zeiten heraufgesetzt werden, dürfen dann aber i n ungünstigen und schwierigen Zeiten nicht wieder herabgesetzt werden. I c h habe mich
160
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
m i t dieser Auffassung i n einem Vortrag über die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung (Notverordnung und öffentliche Verwaltung, herausgegeben von der Verwaltungsakademie Berlin, 1931. S. 10 ff.) sowie i n einem Aufsatz über Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzung, DJZ., 1931, Sp. 917 f., auseinandergesetzt (im vorliegenden Text unten S. 174 f. u n d S. 235 f.). I m Zusammenhang der vorliegenden Ausführungen interessiert die Kontroverse als ein Beispiel, u m innerhalb der verschiedenen verfassungsgesetzlichen Ga-> rantien besser zu unterscheiden und u m zu erkennen, daß es verfassungsgesetzliche Privilegierungen individualistischer Rechte i n einer demokratischen Verfassung nicht geben, vielmehr jede verfassungsgesetzliche Gewährleistung von subjektiven Rechten Einzelner nur i m Rahmen und i n den Grenzen einer institutionellen Garantie gedacht werden kann. IV Unter den Institutsgarantien, die i m verfassungsrechtlichen Schriftt u m anerkannt sind, ist neben der Gewährleistung des Erbrechts in Art. 154, die durch Gustav Böhmer (Nipperdey I I I , S. 250 f.) eine besonders eingehende Behandlung gefunden hat, vor allem die Garantie des Eigentums als Rechtsinstitut i n A r t . 153 RV. sowohl wegen ihres Inhaltes, wie auch wegen der allgemeinen, widerspruchslosen Anerkennung von größtem wissenschaftlichen Interesse. I n dem an Zweifeln u n d Meinungsverschiedenheiten überreichen A r t . 153 scheint wenigstens dieses einmütig festzustehen, daß der A r t i k e l eine Institutsgarantie enthält. Als erster dürfte M a r t i n W o l f f i n dem Aufsatz Reichs Verfassung und Eigentum (Berliner Festgabe für W. Kahl, 1923, S. 5) diese Institutsgarantie erkannt und hervorgehoben haben; H . Triepel ist i h m jgleich m i t der ganzen Autorität seiner Stimme nachdrücklich beigetreten, indem er i n seinem Rechtsgutachten über Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien 1924 (S. 25) erklärt: „Das Eigentum ist unverletzlich. M i t diesem lapidaren Satze ist gesagt, daß die Verfassung sowohl das Privateigentum als Rechtsinstitut, wie die »bestehenden u n d neu entstehenden konkreten Privatrechte jedes einzelnen Rechtssubjekts' unter ihren Schutz stellen und vor Eingriffen der Staatsgewalt sichern wollte." Die Kommentare sprechen sich i n gleichem Sinne aus: Anschütz (S. 608/609), Giese (S. 315) und Poetzsch-Heffter (S.482); ferner z.B. Scheicher, ArchöffR. 18 (1930), S. 344, und bei Nipperdey I I I , S. 207.
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
161
W. H o f acker, Die Auslegung der Grundrechte, 1931, S. 24, w i l l überhaupt nur die Institutsgarantie gelten lassen. Trotz dieser allgemeinen Anerkennung bleiben aber mehrere Fragen offen. Soll das Rechtsinstitut „Eigentum" ein individualistisches Herrschaftsbelieben oder ein „sozialgebundenes" Eigentum zum Inhalt haben? Sollen w i r i n eine Wiederholung des alten Streites zwischen Romanisten und Germanisten eintreten, der i n der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuches (§ 903) eine solche Rolle gespielt hat? Es ist vielleicht richtig, zu sagen, daß die „soziale Gebundenheit" m i t dem Rechtsinstitut des Eigentums selbst nichts zu t u n habe, w e i l die soziale Eigentumsauffassung sich eben gegen das Eigentum richte (so Otto Kirchheimer, Die Grenzen der Enteignung, 1930, S. 38). Aber der Streit um die Definition hat hier den praktischen Sinn, das Maß des Schutzes gegen den Gesetzgeber zu bestimmen. Daß es sich hierbei nicht etwa nur um bloß theoretische Kontroversen handelt, zeigt sich schon darin, daß Walter Jellineks bekannte „Schutzwürdigkeitstheorie" i n der Enteignungskonstruktion von einer dem Eigentum institutsmäßig „innewohnenden Schwäche" und Sozialgebundenheit ausgeht (Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 413, Gutachten für den Deutschen Städtetag, S. 12, und für den Deutschen Juristentag 1931). Ferner ist zu fragen, ob m i t dem Rechtsinstitut Eigentum — mag es nun individualistisch oder sozialgebunden, romanistisch oder germanistisch gemeint sein — ein bestimmter Umfang, vielleicht sogar der bisherige Umfang der eigentumsfähigen Güter garantiert sein soll. Ist es, m i t andern Worten, eine Verletzung der Institutsgarantie, wenn bestimmte Sachen oder Rechte vom Privateigentum ausgeschlossen werden, besonders wenn das i n einem größeren, das bisherige Wirtschaftssystem aufhebenden Umfang geschieht? K a n n ohne Verletzung des Rechtsinstituts „Eigentum" das Privateigentum an unbeweglichen Sachen oder an Produktionsmitteln abgeschafft werden? Dieser Auffassung scheint ein argumentum e contrario aus A r t . 155 und A r t . 156 entgegenzustehen. Aber das Rechtsinstitut „Eigentum" besteht auch dann als Institut unangetastet, wenn nur noch bewegliche Sachen eigentumsfähig sind oder wenn, wie K. Renner (Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, Tübingen 1929, S. 178) vom marxistischen Standp u n k t aus vorschlägt, nur noch „das Gros der genußbestimmten Konsumgüter, zu dem die Fahrhabe der Behausung, wohl auch die Behausung selbst" als zulässige Gegenstände des i m Sinne des bisherigen Rechtsinstituts sonst unverändert bleibenden Eigentums und 11 Carl Schmitt
162
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
freien Herrschaftsbeliebens übrigbleiben. Ist das der Fall, so hat O. Kirchhedmer (a.a.O., S. 36) recht, wenn er meint, die Bedeutung der Institutsgarantie des Privateigentums sei als solche äußerst gering; sie könnte auch vom extremsten Kommunismus akzeptiert werden. Neben diesen offenbleibenden Fragen scheint mir folgender Stand des Lehrmeinungen die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der heute herrschenden Behandlung des A r t . 153 zu beweisen: Es ist herrschende Lehre, daß alle privaten — nach Scheicher, ArchöffR. 18, S. 368, sogar ohne Unterschied der privat- und öffentlich-rechtlichen Sphäre überhaupt alle — Vermögensrechte unter den Eigentumsbegriff des A r t . 153 fallen. „ D e r ganze A r t . 153, sagt Triepel (a.a.O., S. 16), folglich auch sein zweiter Absatz, w i l l die privaten Vermögensrechte i n ihrer Gesamtheit unter den Schutz der Verfassung stellen." E r begründet seine Auffassung damit, daß Eigentum und Enteignung auch i n den älteren Verfassungen, die der Reichsverfassung zum Vorbild gedient haben, immer i n diesem Sinne verstanden sind. I n der Tat umfaßt die traditionelle Gewährleistung von Freiheit und Eigentum, liberty und property , die ganze private Vermögenssphäre des Einzelnen, wobei jedoch der „Vorbehalt des (einfachen) Gesetzes" offen bleibt. Die verfassungsmäßige Eigentumsgarantie erstreckt sich, wie das Schweizerische Bundesgericht (Entscheidungen 35, I, 571) sagt, „ ä tous les droits prives capables de former le patrimoine de l'individu". Von den verschiedenen schweizerischen Verfassungen sprechen daher manche nicht nur von „dem Eigentum", sondern vom „Eigentum jeder A r t " , „allem Eigentum", „Eigentum und Privatrechten", „Eigentum und Rechtsamen", „Privatrechten", sogar von „wohlerworbenen Rechten", um dieselbe Garantie zum Ausdruck zu bringen (vgl. E. Ruck, Das Eigentum i m schweizerischen Verwaltungsrecht, Basler Festgabe für P. Speiser, 1926, S. 23/24). Zu dem gleichen Ergebnis, daß mit dem „Eigentum" die gesamte private Vermögenssphäre des Einzelnen gewährleistet w i r d , führt aber auch die seit 1924 außerordentlich weit getriebene Auflösung des Enteignungsbegriffes i n A r t . 153 Abs. 2. Denn sobald jeder staatliche Eingriff i n die Vermögenssphäre als Enteignung, und zwar als grundsätzlich entschädigungspflichtige Enteignung angesehen wird, dehnt sich — w e i l die Enteignung jetzt als eine Negation des Eigentums erscheint — vom Enteignungsbegriff her der Eigentumsbegriff i n gleicher Weise aus. W i r d dann, w e i l das Interesse sich nur auf den Entschädigungsanspruch richtet, die Garantie des Eigentums nur zu einer Garantie des wirtschaftlichen Vermögens-
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
163
wertes, so ist die ganze Vermögenssphäre des Einzelnen Eigentum. Wieweit derartige Ausdehnungen berechtigt sind, ist eine Frage für sich. Jedenfalls hat ein so erweiterter Eigentumsbegriff nichts mehr mit einem Rechtsinstitut „Eigentum" zu tun. Das Rechtsinstitut Eigentum ist i n § 903 BGB. deutlich genug als Sacheigentum umschrieben «und steht als Rechtsinstitut i m Gegensatz zu anderen vermögensrechtlichen Instituten. Es w i r d überhaupt nur durch diesen Gegensatz ein individualisierbares Rechtsinstitut. Die „gesamte Vermögenssphäre" oder auch nur die „Gesamtheit aller Vermögensrechte" ist kein Rechtsinstitut; ihre Gewährleistung ist vielleicht denkbar, möglich und beabsichtigt, aber keine Institutsgarantie. O b sich aus andern Argumentationen eine Garantie der gesamten Vermögenssphäre i m A r t . 153 finden läßt, ist, wie gesagt, eine Frage, die offen bleiben soll; aus der Institutsgarantie k a n n sie sich nicht ergeben. M a r t i n W o l f f hat es (a.a.O. S. 6) für zweifelhaft erklärt, aber doch schließlich abgelehnt, daß die Institutsgarantie des A r t . 153 alle T y p e n von Rechtsinstituten des privaten Vermögensrechts (an die Schelchersche Ausdehnung auf das öffentlich-rechtliche Vermögensrecht konnte er noch nicht denken) umfasse. „ D a ß auch jedes einzelne der heute vorhandenen Vermögensrechtsinstitute, vor allem jeder Typus begrenzter Sachenrechte (etwa das Erbbaurecht, die Rentenschuld) erhalten bleibe, kann nicht Sinn der Verfassungsnorm sein". Die Institutsgarantie des A r t . 153 Abs. 1 bleibt also streng auf den Sacheigentumsbegriff des bürgerlichen Rechts beschränkt. A u f der anderen Seite aber w i r d der Enteignungsbegriff bis zur A u f lösung ausgeweitet. Die Enteignung war ein bestimmtes, umgrenzbares Rechtsinstitut und ist es noch; nur in dieser klar erkennbaren Begrenzung k a n n sie als eine „Bestätigung und Spezifikation" der Eigentumsgarantie aufgefaßt werden (so z. B. Schweizer Bundesgericht 37, I, 521). Verwandelt man die Enteignung in einen „Einzeleingriff i n die vermögensrechtliche Sphäre", so hört sie auf, ein Rechtsinstitut zu sein. M a r t i n W o l f f hält für den Enteignungsbegriff an bestimmten Merkmalen, insbesondere dem der „Überführung" fest, wodurch der Charakter eines Rechtsinstituts erhalten bleibt; Paul Krückmann hat durch Unterscheidungen von Enteignung, Einziehung. Konfiskation, Änderung der Rechtseinrichtung, Kontrahierungszwang, R ü c k w i r k u n g des Gesetzes wenigstens einen spezifischen Enteignungsbegriff zu halten gesucht (Enteignung, Einziehung usw., 1930). Bei den Schriftstellern und in den Gerichtsentscheidungen aber, die den völlig aufgelösten Enteignungsbegriff verwenden, kann Ii
164
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
nicht mehr davon die Rede sein, daß die Enteignung des A r t . 153 Abs. 2 ein Rechtsinstitut ist. Sie w i r d als der „verfassungsmäßige Enteignungsbegriff" (so Poetzsch-Heffter, DJZ., Sp. 1103) dem i m Landesrecht weiterlebenden Rechtsinstitut „Enteignung" entgegengestellt. Gleichzeitig w i r d jedoch allgemein daran festgehalten, daß Art. 153 eine Institutsgarantie des Eigentums aufstelle. Während A n schütz i n seinem Kommentar zu A r t . 9 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850 (S. 155) nicht das Eigentum, wohl aber um so präziser die Enteignung als Rechtsinstitut bezeichnete und ausdrücklich betonte, der Enteignungsbegriff dieses preußischen Verfassungsartikels beziehe sich „ n u r auf das Rechtsinstitut der Enteignung", ist es heute beinahe umgekehrt: die Enteignung w i r d aus einem Rechtsinstitut zu einem vermögensschädigenden Einzeleingriff des Staates, der Gesetzgebung oder der Verwaltung; das Eigentum aber soll als Rechtsinstitut garantiert bleiben. Freilich soll außerdem und neben der Institutsgarantie des Eigentums A r t . 153 Abs. 1 gleichzeitig ©ine wesentlich andersgeartete, aber m i t ein und demselben Verfassungswort ausgesprochene Garantie enthalten, die alle denkbaren privaten Vermögensrechte schützt. Die heute herrschende Auslegung des A r t . 153 führt also zu dem Ergebnis, daß das Wort „Eigent u m " i n A r t . 153 eine mehrfache Bedeutung hat, indem es einmal das Rechtsinstitut Eigentum bedeutet, das der Gesetzgeber nicht beseitigen darf, zweitens alle privaten Vermögensrechte, hinsichtlich deren er durch die Enteignungsbestimmungen des Abs. 2 gebunden ist. Die Garantie eines Rechtsinstitüts richtet sich i m Allgemeinen vor allem gegen den Gesetzgeber und schränkt dessen Befugnisse ein; denn eine solche Garantie ist gleichzeitig die Garantie eines inhaltlich bestimmten Normenkomplexes. D a r u m ist es besonders treffend, daß Anschütz (Kommentar S. 608) die in A r t . 153, Abs. 1, enthaltene Beschränkung des Gesetzgebers gerade aus der Institutsgarantie ableitet und betont, daß „ k e i n Gesetz, auch ein einfaches Reichsgesetz nicht, das Eigentum als solches und allgemein als Rechtsinstitut abschaffen kann". Wenn dann aber gleichzeitig die Enteignung i m Sinne des A r t . 153 Abs. 2 den Charakter eines individualisierbaren Rechtsinstitutes verliert und nur noch den allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck bringt, daß für Sonderbelastungen, durch welche einem Einzelnen besondere Opfer zugemutet werden, Schadloshaltung gewährt w i r d (so Furier, Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates, Verwaltüngsarchiv Bd. 33, 1928, S. 399/400; Anschütz, Kommentar S. 611/612), oder wenn es sich nach Walter
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
Jellinek nur um den Grad der Schutz Würdigkeit eines verletzten Rechtes handelt, so t r i t t an die Stelle einer Institutsgarantie ein allgemeines Gerechtigkeitsprinzip. Dadurch fließen die verschiedenen Gewährleistungen zusammen. E. Ruck sagt z. B. (a.a.O. S. 27), eine Verletzung der Eigentumsgarantie verletze meistens gleichzeitig das verfassungsmäßige Recht auf Rechtsgleichheit und sei „ i n der Regel auch eine rechtsungleiche Behandlung". Das unvermeidliche „ u n d umgekehrt" liegt nahe. Ä h n l i c h wie die von Triepel und Leibholz geführte „neue Lehre" den Gleichheitssatz des A r t . 109 i n ein allgemeines Gerechtigkeitsprinzip verwandelt, w i r d hier A r t . 153 ausgedehnt, und beide bedeuten schließlich nur noch: Sonderbehandlung, sachlich nicht begründete Ungleichheiten, Ungerechtigkeit und W i l l k ü r sind auch dem Gesetzgeber verboten. Entscheidet nun statt des Gesetzgebers der Richter darüber, ob eine Ungerechtigkeit vorliegt oder nicht, so bedeutet das, auf seine letzte staatsrechtliche Formel gebracht: Der Staat, der bis jetzt ein Gesetzgebungsstaat war und w o h l auch von der Weimarer Verfassung als solcher gedacht und gewollt ist, verwandelt sich i n einen Justizstaat 2. Das ist eine fundamentale Wandlung des Staates wie der Verfassung i m Ganzen. I n dem eben erwähnten Kommentar zur preußischen Verfassung von 1850 stellt Anschütz zu der Eigentumsgarantie dieser Verfassung den lapidaren, von i h m selbst gesperrten Satz auf: „Für den Gesetzgeber ist das Eigentum nicht unverletzlich" (S. 161). I n § 903 BGB. heißt es, der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte D r i t t e r entgegenstehen, m i t der Sache nach Belieben verfahren. Damals war der Gesetzgebungsstaat mit der „Omnipotenz des Gesetzes" noch selbstverständlich. Die Verwirrung der heutigen Situation beruht im Grunde darauf, daß man dieses Prinzip zugunsten einiger Ansätze zum Justizstaat aufgegeben hat, ohne imstande zu sein, das ebenso klare und einfache Prinzip des Justizstaates konsequent durchzuführen. Für das Thema der vorliegenden Untersuchung genügt es festzustellen, daß der Gedanke der Rechtsinstitutsgarantie w o h l allgemein 2 „Justizstaat" ist hier im Sinne einer allgemeinen Staats- und Verfassungslehre gebraucht, hat also nicht den speziellen Gegensatz von ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten im Auge, der in der Situation des 19. Jahrhunderts in Deutschland bestimmend war, sondern bezeichnet einen Staat, dessen letzte politische Entscheidungen einer unabhängigen, d. h. politisch nicht verantwortlichen richterlichen Behörde unterworfen sind, mag der Richter eine ..ordentliche" bürgerliche, Verwaltungs- oder sogenannte Staatsgerichtsbarkeit ausüben.
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
aufgenommen ist, aber noch weiterer Unterscheidungen bedarf, sonst hätte man nicht die Eigentumsgarantie des A r t . 153 Abs. 1 als Rechtsinstitutsgarantie auffassen und gleichzeitig i n Abs. 2 das Rechtsinstitut der Enteignung fallen lassen können. Der Grund, aus dem der Gedanke der Institutsgarantie etwas Einleuchtendes hat und ohne weiteres angenommen wurde, dürfte d a r i n liegen, daß man i n jeder Garantie der überlieferten Grundrechte, auch wenn nicht Rechtsinstitute i m präzisen Sinne garantiert sind, doch eine Garantie der überlieferten typischen Art und Weise einer Normierung finden kann. So ist m i t der Gewährleistung der persönlichen Freiheit natürlich kein Rechtsinstitut gewährleistet, denn die Freiheit ist kein Institut; trotzdem aber ist der A r t i k e l weder als bloßes Programm bedeutungslos noch infolge des Gesetzes Vorbehaltes leerlaufend. Er w i r d , m i t den Kategorien einer rechtsstaatlichen Verfassungslehre betrachtet, keineswegs i n diesem für die Vorkriegsjurisprudenz unvermeidlichen Dilemma zerrieben. Er hat vielmehr den Sinn, das traditionelle typische und übliche Maß der Eingriffe i n die Freiheit zu garantieren. Wie weit der Gesetzgeber durch die strafprozessuale Normierung der Festnahme, Haussuchung, Postbeschlagnahme usw. in die verfassungsmäßig gewährleisteten Grundrechte eingreifen darf, ist i m einzelnen stark modifizierbar; aber solange ein gewisses bürgerlich-rechtsstaatliches Bewußtsein noch vorhanden ist, kann man doch erkennen, wann der Gesetzgeber das i h m durch den Gesetzesvorbehalt konzedierte M a x i m u m überschritten hat. Wenn eine Spezialbestimmung wie die Vorführung eines Verhafteten spätestens am darauffolgenden Tage (vgl. A r t . 114, Abs. 2) als verfassungsgesetzliche Normierung eingeführt w i r d , so ist das nur ein Ausdruck dafür, daß der Vorbehalt des Gesetzes gegenüber Freiheitsrechten nicht grenzenlos sein soll. Es würde dem Sinn einer grundrechtlichen Freiheitsverbürgung widersprechen, wenn der Gesetzgeber nach seinem Belieben Eingriffe etwa dem Ermessen irgendwelcher Behörden anheimgeben könnte. Insofern liegt i n den Freiheitsgarantien der Reichs Verfassung die von der Institutsgarantie zu unterscheidende Garantie eines überlieferten typischen Maßes gesetzlicher Normierung. N u r in gewisser Hinsicht ist diese Bindung des Gesetzgebers einer privatrechtlichen Institutsgarantie ähnlich. Denn die überlieferte Regelung der Festnahme und Verhaftung, Haussuchung oder Brief beschlagnahme begründet keine Rechtsinstitute, wie es Ehe, Eigentum und Erbrecht sind.
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
167
V D i e klassischen Grundrechte des bürgerlichen Rechtsstaats sind Freiheitsrechte: persönliche Freiheit, Privateigentum als freies Herrschaftsbelieben, Freiheit der Wohnung, Freiheit der Meinungsäußerung, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Die Freiheit ist kein Rechtsinstitut, keine Einrichtung und keine Anstalt; sie kann noch weniger "eine organisierte u n d formierte Institution des öffentlichen Rechtes sein. I h r Inhalt ist nicht von Staats wegen normiert; sie besteht nicht „nach Maßgabe der Gesetze"; sie kann auch nicht, wenn sie nicht eine betrügerische Redensart werden soll, unter einem Vorbehalt stehen, dessen Ausfüllung i m Ermessen eines andern liegt, sei er nun Gesetzgeber, Regierung, Polizei, Richter, Priester, A r z t , Lehrer, Erzieher, Fürsorgebeamter oder was immer. Eine Freiheit, deren Maß und Inhalt ein anderer bestimmt, ist vielleicht eine höhere, edlere, wahrere, wohlverstandene A r t von Freiheit, aber nicht das, was man i n einem bürgerlichen Rechtsstaat darunter verstehen muß. Den liberalen Vorkämpfern der Freiheit sind jene veredelnden Prädikate immer verdächtig gewesen. Es ist auch kein Zufall, daß es in Goethes Egmont gerade der Herzog von A l b a ist, der dem Freiheitskampf der Niederländer das Prinzip der Gesetzmäßigkeit entgegenhält: „Freiheit? E i n schönes Wort, wenn's recht verstanden. Was wollen Sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit? Recht zu tun! U n d daran w i r d Sie der König nicht hindern." Was Freiheit ist, kann nämlich in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein soll. Sonst ist es nach allen menschlichen Erfahrungen m i t der Freiheit schnell zu Ende. Diese Freiheit, und namentlich die Freiheit des einzelnen Individuums, ist leider fortwährend bedroht und bedarf daher des Schutzes und der Sicherung. Daraus entsteht ein Umbau von rechtlichen Normierungen und staatlichen Einrichtungen zum Schutz der Freiheit, der ebenfalls als Freiheitsgarantie bezeichnet werden kann. Das Grundrecht der Freiheit, d. h. der staatsfreien Sphäre, w i r d m i t Rechtsinstituten, typischen Normierungen und sogar mit staatlichen Institutionen umgeben, deren Garantie etwas anderes bedeutet als die Garantie der Freiheit selbst. Ich habe i n dem Aufsatz über Inhalt und Bedeutung der Grundrechte (Handb. des Deutschen Staatsrechts, I I § 101, unten S. 210) von konnexen und komplementären Instituten und Garantien gesprochen und damit einen Ausdruck übernommen, den K. Renner in seinem eben erwähnten Buch über die Rechtsinstitute des Privat-
168
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
rechts geprägt hat, und auf dessen große Bedeutung ich durch die Hinweise von Herrn D r . Fr. Neumann und O. Kirchheimer (in meinem verfassungstheoretischen Seminar der Handels-Hochschule Berlin, Sommer 1931) aufmerksam geworden 'bin. Doch hat der Beg r i f f der konnexen und komplementären Garantien i n der verfassungsrechtlichen Lehre von den Freiheitsgarantien nicht den genau gleichen Sinn und die gleiche F u n k t i o n wie der Begriff der Konnexund Komplementärinstitute bei Renner, dem es darauf ankommt, daß derartige Institute das Hauptinstitut verdrängen und seine soziale F u n k t i o n übernehmen. Nach Renner ist z. B. die soziale Funktion des Privateigentums i n der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verdrängt und durch Koniiexinstitute übernommen, indem etwa der Mieter eines Hauses die Detention hat, der vermietende Eigentümer die Detention einem Fremden überläßt und nur noch den Rechtsanspruch auf T r i b u t behält (S. 97), bei der Pacht der Pächter die produktorische Funktion des Eigentümers wahrnimmt, während der verpachtende Eigentümer sich den vom Pächter realisierten Mehrwert aneignet usw. Dabei ist für das Thema der vorliegenden Untersuchung beachtenswert, daß sich auch bei Renner die Unterscheidung von wesentlich privatrechtlichen Instituten und Institutionen als öffentlich-rechtlichen Einrichtungen andeutet, obgleich sie nicht durchgeführt ist und gelegentlich (S. 179) auch von Rechtsinstituten des öffentlichen Rechts gesprochen wird. Doch ist das eine terminologische Frage, wie selbstverständlich auch die hier aufgestellte Trennung der institutionellen von der Institutsgarantie nur dem Zwecke dient, das Problem der verfassungsrechtlichen Garantie zu klären. Bei Renner hat der Begriff der konnexen und komplementären Institute den Sinn, die konkrete geschichtliche Entwicklung von einem Wirtschaftssystem zu einem anderen aufzuweisen. Dagegen handelt es sich für die vorliegende verfassungsrechtliche Untersuchung u m die andere Frage, welche Arten der verfassungsrechtlichen Garantien eines Grundrechtes vorkommen und in welchen Stufen sich E n t w i c k l u n g und Ausbau solcher Garantien vollziehen. Dieses Problem erhebt sich für die typisch grundrechtlichen Freiheitsrechte einer bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung ganz unvermeidlich, weil deren Freiheiten allgemeine, gleiche Freiheitsrechte, also nicht Institutionen oder Anstalten sind und i m schärfsten Gegensatz zu dem mittelalterlichen Begriff der Freiheiten und Libertäten i m Sinne von Exemtionen, Immunitäten und Privilegien stehen
F r e i h e i t s r e t e u n d institutionelle Garantien (1931)
169
wollen, bei denen eine „Freiheit" institutionellen Charakter haben konnte. Der bürgerliche Rechtsstaat w i l l , wenigstens i n seiner liberaldemokratischen Gestalt, wie ihn die Weimarer Verfassung organisiert, gerade das Gegenteil eines solchen Privilegienstaates sein. Richard Thoma hat, insofern m i t vollem Recht, die Definition der modernen Demokratie darin gefunden, daß sie nicht Privilegienstaat ist (Erinnerungsgabe für M a x Weber, Bd. I I , S. 39). Solange nun das Vertrauen auf den Gesetzgeber und den Gesetzgebungsstaat besteht, kann man sich mit der allgemeinen Garantie der Freiheit selbst begnügen und das weitere dem Vorbehalt des (einfachen) Gesetzes überlassen; sobald dieses Vertrauen aufhört, erscheinen neue Garantien, die nicht unmittelbar die Freiheit selbst, sondern Schutznormen und -einrichtungeti zur Verteidigung und Umhegumg der Freiheit gewährleisten sollen. Diese werden dann, solange kein klares Bewußtsein der verfassungstheoretischen Probleme vorliegt, unsystematisch verankert und werden schließlich kräftiger und heiliger als die fundamentalen Freiheitsrechte selbst, wie das oben (unter 1) bei der Darlegung des heutigen Problemstandes gezeigt wurde. Insbesondere ergeben sich typische Normierungen, Institute und Institutionen, die ihrerseits wieder verfassungsgesetzlich gesichert werden können. Hier scheint eine besondere, in der Geschichte oft zu beobachtende A r t von E n t w i c k l u n g am Werk zu sein. Sie läßt sich am besten an der E n t w i c k l u n g einer — gegenüber der Garantie der allgemeinen Freiheit der Meinungsäußerung speziellen — Garantie der Pressefreiheit anschaulich machen. Die einzelnen Stadien dieses Prozesses sind i n einer demnächst erscheinenden Dissertation der Handels-Hochschule Berlin von G. Scheidemann dargelegt. Es ist dabei charakteristisch, daß die Freiheit der Meinungsäußerung, ein politisch besonders wichtiges Freiheitsrecht des bürgerlichen Rechtsstaates, mit der Garantie der „Freiheit" eines bestimmten technischen Mittels der Meinungsäußerung, der Druckerpresse, verbunden wird. Dadurch kann die unbedingte Freiheit der Meinungsäußerung zu einer unbedingten Freiheit der Presse werden, was an sich keineswegs dasselbe ist. Art. 122 der französischen Verfassung vom 24. Juni 1793 spricht bereits von einer „liberte indefinie de la presse", immerhin ungewöhnlich, weil man schon 1789 bei andern Freiheitsrechten irgendeinen Vorbehalt des Gesetzes nicht vergaß. I n der Restaurationszeit nach 1815 hat sich dann sehr schnell eine Reihe von Einrichtungen und Spezialfreiheiten herausgebildet, die speziell der durch die
170
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
Presse erfolgenden freien Meinungsäußerung zugute kommen sollten und i m Endergebnis dazu führten, daß die Druckerpresse ein p r i v i legiertes Gewerbe wurde. Die Privilegierung zeigt sich besonders darin, daß alle Äußerungen der Presse, auch wenn sie nicht Meinungsäußerungen waren, also z. B. Mitteilungen tatsächlichen Inhalts, wie politische u n d andere Nachrichten, Börsenkurse, Geldkurse usw.. sowie Anzeigen (der Informations- und der Inseratenteil) an den Vergünstigungen der Pressefreiheit teilhaben; daß der Gesetzesvorbehalt hier enger ist als sonst, weil die Pressefreiheit als „polizeifest" (Anschütz) gilt und die allgemeinen polizeilichen Befugnisse, die sonst als gesetzmäßige Befugnisse andere Freiheitsrechte einschränken, gegenüber der Pressefreiheit nicht wirksam werden sollten; daß das Pressegewerbe i n besonderer Weise gegen Kautions- u n d Konzessionszwang, sogar gegen Besteuerung und Abgabenerhebung sichergestellt wird. A r t . I V der Frankfurter Grundrechtserklärung von 1848 enthält eine ziemlich vollständig aufzählende Beschreibung dieser von der allgemeinen Freiheit der Meinungsäußerung institutsähnlich sich absondernden Pressefreiheit: „ D i e Pressefreiheit darf unter keinen Umständen und i n keiner Weise durch vorbeugende Maßregeln, namentlich Zensur, Konzessionen, Sicherheitsbestellungen, Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien oder des Buchhandels, Postverbote und andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werden." Heute ist das Reichspressegesetz vom 7. M a i 1874 die Rechtsgrundlage der Pressefreiheit. Aber es ist anscheinend unbestrittene Auffassung, die namentlich auch von dem führenden Autor auf diesem Gebiet, K. Häntzschel (Kommentar zum Reichspressegesetz 1927, S. 17) ausgesprochen w i r d , daß diese pressegesetzlichen Garantien der Pressefreiheit nicht verfassungsgesetzeskräftig sind. Es können „der Presse durch spätere einfache Reichsgesetze auch weitere Sonderbeschränkungen auferlegt werden, als sie durch das gegenwärtige Gesetz vorgeschrieben oder zugelassen sind. D u r c h spätere Reichsgesetze können sogar die Organe und Behörden der Staatsverwaltung zum Erlaß die Presse beschränkender Anordnungen allgemein ermächtigt werden (RGSt. 55, 80), obwohl dies dem Grundgedanken einer Pressefreiheit und des Reichspressegesetzes widerspricht." Die Pressefreiheit ist m i t andern Worten heute nur ein reichsgesetzeskräftiges Grundrecht, weil man vergessen hat oder es nicht für notwendig hielt, ihr die Sicherungen zu geben, die zahlreiche andere Interessen erhielten. Aber die Ansicht Häntzschels, daß der Grundgedanke einer
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
171
Pressefreiheit dadurch verletzt w i r d , t r i f f t durchaus zu. Wäre A r t . I V der Frankfurter Grundrechte geltendes Verfassungsrecht geworden, so stände die Pressefreiheit als eine institutsähnliche konnexe Sicherung dem allgemeinen Grundrecht der freien Meinungsäußerung selbständig gegenüber, wie sie ihr nach geltendem Presserecht, wenn auch nur reichsgesetzeskräftig, noch heute gegenübersteht. Es entspricht dem Geist einer liberalen rechtsstaatlichen Verfassung, institutionelle Garantien nur als Konnex- und Komplementärgarantien zu einer allgemeinen Freiheit gelten zu lassen. Für diese Auffassung wäre z. B. die institutionelle Garantie der Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts i n A r t . 137 nur eine Komplementärgarantie zur allgemeinen Glaubens- und Gewissensfreiheit und sollte die i n A r t . 135 gewährleistete „ungestörte Religionsausübung" unter Terfassungsgesetzlichen Schutz stellen. Dieses Beispiel zeigt aber gleichzeitig, daß die institutionellen Garantien sich verselbständigen u n d einem eigenen Entwicklungsgesetz folgen, durch welches jene Institutionen gegenüber dem Staate und den staatlichen Organisationen immer selbständiger, immer besser „gesichert" werden um schließlich i n „vertragsgesicherten" Körperschaften des öffentlichen Rechts „einen neuen T y p " hervorzubringen (vgl. U l r i c h Stutz. Konkordat und Codex, Preußische Akademie der Wissenschaften Phil. hist. Klasse 1930, X X X I I , S. 14). Analog wäre es theoretisch denkbar, daß eine verfassungsrechtliche „Anerkennung" von Arbeitgeber» und Arbeitnehmerorganisationen a wie sie, von der Vereinigungsfreiheit des A r t . 159 ausgehend, A r t . 165 Abs. 1 ausspricht, zu einer institutionellen Garantie weiter ausgebaut würde und schließlich ein Monopol der bestehenden Verbände und Gewerkschaften auch verfassungsgesetzlich fundierte. Das alles braucht keineswegs planmäßig berechnet zu sein, sondern entspricht der D i a l e k t i k einer häufig eintretenden Entwicklung. Der Weg von der allgemeinen Freiheit zum Privilegium ist oft sehr kurz; er geht über die speziellen Garantien und Sicherungen der Freiheit.
In der Festschrift „Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25jährigen Bestehen der Handels-Hochschule Berlin", Verlag Reimar Hobbing in Berlin, 1931 erschienen. Dieser Aufsatz enthält die Weiterentwicklung der Lehre von der institutionellen Garantie, die in der Verfassungslehre (1928) S. 170 zuerst aufgestellt und 1932 i n dem unten abgedruckten Aufsatz S. 181—231 systematisch zusammengefaßt wurde. Eine größere Monographie über ,Jn-
172
Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931)
stitutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien" hat Friedrich Klein im 49. Heft der Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht Breslau 1934 veröffentlicht. Die Lehre von den institutionellen Garantien hat sich schon unter der Weimarer Verfassung durchgesetzt. F. Klein zählt (a.a.O. S. 328) als solche auf: Unabhängigkeit der Rechtspflege, kommunale Selbstverwaltung, Berufsbeamtentum, Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, akademische Lehr- und Lernfreiheit, staatliche Schulaufsicht und Schulen, theologische Fakultäten an den Hochschulen und Sozialversicherung. Eine verfassungsrechtliche Monographie über den Begriff der Institution fehlt noch. Das bekannte Buch von Renard, „L'institution", biegt den originellen und echt juristischen Ansatz, der in der Lehre von Maurice Hauriou enthalten ist, in neothomistisch-theologische Reflexionen um. Von Ernst Forsthoff liegt eine Abhandlung über die Institution im Manuskript vor. Roman Schnur hat eine Untersuchung des Themas in Aussicht gestellt. Über Santi Romano vgl. Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 24; über neuere italienische Literatur: Vincenzo Zangara, La rappresentanza istituzionale, 2. Aufl., Padua, Cedam, 1952. Man kann audi das Wesen der Verfassung selbst in institutionellen Garantien erblicken. Das würde der Lehre vom konkreten Ordnungsdenken entsprechen und ware geeignet, sowohl normativistische Funktionalisierungen wie auch dezisionistische Vereinfachungen zu überwinden. Von den drei Arten des rechts wissenschaftlichen Denkens — Normativismus, Dezisionismus und Institutionalismus — ist der Institutionalismus in der Form des konkreten Ordnungsdenkens dem verfassungsrechtlichen Denken jedenfalls in höherem Grade adäquat als der Normativismus mit seinem hybriden Begriff einer Normen-Hierarchie und einer abstrakten Normenkontrolle. Lorenz von Stein versteht unter verfassungsmäßigen Grundrediten nicht persönliche Freiheitsrechte, sondern institutionelle Garantien, wie sie z. B. das Schulund Bildungswesen tragen. Dazu bemerkt Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Bd. I, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1957, S. 262) mit Recht: „Noch bevor eine formelle Verfassungsurkunde diese Grundeinrichtungen (allgemeine Schulpflicht, staatlich geordnetes Prüfungswesen, Freiheit von Forschung und Lehre) und Grundsätze des öffentlichen Bildungswesens festlegte und sicherte, erhob die preußische Schul- und Universitätsreform der Ära Humboldt—Altenstein (1809—1840) sie zu Grundelementen der materiellen Staatsverfassung, d. h. der politischen Grundordnung, in der der Staat und die Nation ihr Dasein und Sosein finden." In der Soziologie ist ein sogenannter Institutionalismus sehr verbreitet. Doch ist weder er für die Rechtswissenschaft ergiebig geworden, noch die Rechtswissenschaft für ihn. Interessante Formulierungen harren noch ihrer juristischen Gestaltung; ich nenne als Beispiel Helmut Schelskys Prägung von einer „Institutionalisierung der Dauerreflexion' 4. Audi die Definition des Totalitarismus durch Brzezinski (American Political Science Review, Bd. L, Heft 3, p. 754) wäre hier zu nennen; für ihn ist Totalitarismus seinem Wesen nach nichts anderes als ein institutionalisierter revolutionärer Eifer, an institutionalized revolutionary zeal. In der Soziologie der deutschen Nachkriegszeit haben Arnold Gehlen und Helmut Schelsky eine entschei-
Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931)
173
dende Wendung zum Institutionalismus vollzogen. Sie sprechen aber lieber von Integration und lassen die juristische Arbeit außer acht, die in der Lehre von den institutionellen Garantien und den drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens vorliegt. Im Bonner Grundgesetz von 1949 ist die Lehre von den institutionellen Garantien rezipiert; vgl. die Hinweise und Bemerkungen zu dem folgenden Aufsatz S. 179/80 und den Kommentar von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. I, 1957, S. 83—90. Doch wäre darauf zu aditen. daß die Unterscheidung von öffentlichrechtlich-institutioneller und privatrechtlicher Instituts-Garantie sich nicht in der allgemeinen Verdeutschung „EinrichtungsGarantie" auflöst, wofür die Auflösung der Eigentumsgarantie (oben S. 122/23) ein warnendes Analogon liefert. Audi verdient der Gedanke der Komplementär- und Konnex-Garantien mehr Beachtung, als er bisher gefunden hat.
Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzungen (1931) Die staats- und verfassungsrechtliche Frage, ob eine Herabminderung der beamtenbesoldungsgesetzlichen Bezüge durch einfaches Gesetz (oder durch gesetz vertretende Verordnung) vorgenommen werden darf, hat durch die Verordnungen des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930 und 5. Juni 1931 ein neues aktuelles Interesse und durch das U r t e i l des Reichsfinanzhofs vom 25. März 1931 eine neue Wendung erhalten 1 . Bisher stand man, trotz der vorsichtigen Zurückhaltung des RG. 2 , stark unter dem Eindruck -des Urt. des Danziger Obergerichts vom 25. September 1928 und der zahlreichen Gutachten und Aufsätze, die zu dem Ergebnis kamen, daß die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Beamtenrechte (Art. 129 Abs. I S. 3 RVerf. und der gleichlautende A r t . 92 der Danziger Verf.) eine durch einfaches Gesetz erfolgende Herabminderung der Bezüge verbiete u n d den ziffernmäßigen Standard der besoldungsgesetzlichen Regelung gewährleiste 3 . Der Reichsfinanzhof dagegen hält eine durch gesetzvertretende V. des Reichspräsidenten vorgenommene Gehaltskürzung für zulässig und nicht für eine Verletzung wohlerworbener Beamten rechte. Er beruft sich vor allem darauf, daß A r t . 129 Rechte der Beamtenschaft in ihrer Gesamtheit garantiere und bezieht sich dabei auf Begriff und Formel der „institutionellen Garantie", die i n meiner Verfassungs1
Veröffentlicht im RSteuerBl. Nr. 11. Der dazugehörige (im Urteil bestätigte) Vorbescheid vom 25. Januar 1931 ist RStBl. Nr. 5 veröffentlicht. Kritische Besprechung des Urteils von Dr. Wintrich, in „Der Beamtenbund", Beilage zu Nr. 35 vom 12. Mai 1931, und von dem früheren Präsidenten des Reichsfinanzhofes Wirkl. Geh. Rat Jahn, RVerwBl. 25 vom 20. Juni 1931. 2 Namentlich in der Inflationszeit und gegenüber der Frage der Aufwertung hat das RG. dem Gesetzgeber die Entsch. überlassen, vgl. RGZ. 109, 121, 127/8; 120, 395; JW. 1927 S. 2193 Nr. 8. 8 Das Danziger Urteil ist mit den Gutachten (Triepel, Damme, Loening, Lobe, Litten, Brand, Poetzsch-Heffter, Mügel) vom Beamtenbund der Freien Stadt Danzig veröffentlicht worden. Aus dem umfangreichen weiteren Schrifttum seien als Vertreter dieser Auffassung genannt: Brand bei Nipperdey, Grundrechte und Grundpflichten II, S.230, und H.Daniels, HdbDStR. Bd. II, S. 46. Das Gutachten von Geh. Hofrat Prof. Dr. K. Beyerle, München, das nach Wintrich dem RFH. vorlag, war mir nicht zugänglich.
Wohlerworbene Beamtenrechte u n d Gehaltskürzungen (1931)
175
lehre (S. 172) zuerst aufgestellt und von W . Schräder und E. Friesenhahn auf das besondere Problem der Gehaltskürzung angewandt sind 4 . Danach ist das eigentliche Schutzobjekt der verfassungsrechtlichen Sicherung die Institution des deutschen Berufsbeamtentums als solche, wie sie sich mit typischen Grundzügen (öffentlich-rechtlicher Charakter, grundsätzlich lebenslängliche Anstellung, Standesdisziplin, hierarchischer Aufbau, standesgemäßer Unterhalt, gesetzliche Normierung der Bezüge, Angehörigenversorgung usw.) herausgebildet hat. Subjektive vermögensrechtliche Ansprüche des einzelnen Beamten können unter die Unverletzlichkeitserklärung fallen, aber nicht als individualistischer Selbstzweck (das wäre eine erstaunliche Privilegierung und höchstens als Ubergangsbestimmung für den Status quo vom 14. August 1919 begreiflich), sondern i m Rahmen der institutionellen Garantie 5 . Die hier interessierende Frage, welche vermögensrechtlichen Ansprüche des einzelnen Beamten unverletzliche wohlerworbene Rechte sind, beantwortet sich nach der Lehre von der institutionellen Garantie dahin, daß w o h l der Anspruch auf standesgemäßen Unterhalt und der inhaltlich variable Anspruch auf die jeweiligen besoldungsgesetzlichen Bezüge, nicht aber der Anspruch auf Unterlassung ungünstiger Änderungen des Besoldungsgesetzes wohlerworbenes Recht ist. Der Streitpunkt ist demnach keineswegs, ob subjektive vermögensrechtliche Ansprüche des einzelnen Beamten verfassungsrechtlich geschützt sind. Das bejaht die Lehre von der institutionellen Garantie durchaus. Sie liefert sogar (die m. E. einzige stichhaltige Rechtfertigung und Begründung für den verfassungsrechtlich gesicherten A n 4 Wilh. Schröder, Die wohlerworbenen Rechte der Beamten (Art. 129 RVerf.) in ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung, Berlin 1930; Friesenhahn, Gehaltskürzung und wohlerworbene Beamtenrechte, Wirtschaftsdienst, Hamburg, Heft 27 vom 4. Juli 1930; dazu mein Vortrag in der Verwaltungsakademie Berlin vom 20. Januar 1931, in: NotV. und öffentl. Verwaltung, 1931 S. 26. Im staatsrechtlichen Schrifttum ist die institutionelle Garantie des deutschen Berufsbeamtentums (wenn auch mit verschiedener Schlußfolgerung für Umfang und Inhalt der wohlerworbenen Rechte) anerkannt von F. Giese, Komm. 8. Aufl. S. 275 und Das Berufsbeamtentum, 2. Aufl. 1930 S. 15; Gerber, AöR. XVIII, (1930) S.74; Lassar, Hoheitsfunktion und Dienstverhältnis preuß. Kommunalangestellter, Gutachten für den preußischen Landkreistag, 1931, S. 42. 6 Durch die Lehre von der institutionellen Garantie wird auch erkennbar, daß es verfassungswidrig ist, auch ohne Verletzung eines einzigen subjektiven Rechts eines einzigen Beamten, durch systematisdie Nichtbesetzung der etatmäßigen Stellen und konsequente Ersetzung der Berufsbeamten durch Privatangestellte das Berufsbeamtentum zu beseitigen.
Wohlerworbene Beamtenrechte n d
Gehaltskürzungen (1931)
spruch auf standesgemäßen Unterhalt und auf eine berechenbare, generell normierte (also nicht etwa in das Ermessen eines Vorgesetzten gestellte oder von F a l l zu F a l l festzustellende) Höhe der Bezüge. Eine andere Frage ist es aber, ob darüber hinaus auch die Höhe der besoldungsgesetzlichen Regelung unverletzlich ist. Wäre das der Fall, so hätte der Beamte außer dem Anspruch auf die der jeweiligen besoldungsgesetzlichen Regelung entsprechenden Bezüge, auch noch ein Recht darauf, daß diese nicht zu seinem Nachteil geändert werden. Er hätte ein wohlerworbenes Recht auf die jeweils günstigste besoldungsgesetzliche Normierung. Statt der Garantie eines Minimums (standesgemäßer Unterhalt) und eines nach Maßgabe der Gesetze bestehenden Anspruchs ergäbe sich die Garantie eines Maximums; die Beamtengehälter könnten und sollten wohl auch (nach Lage der Finanzen) erhöht, dann aber trotz veränderter Lage nicht wieder (a-ußer i m Wege einer Verfassungsänderung) herabgesetzt werden. Das wäre ein ungewöhnlicher, angesichts der heutigen Wirtschaftsund Kassenlage doppelt auffälliger Anspruch. U m dem bedenklichen Ergebnis zu entgehen, bietet sich als einfacher Ausweg der besoldungsgesetzliche Änderungsvorbehalt 6 , durch welchen der Besoldungsgesetzgeber sich Änderungen, also auch Herabminderungen, die durch einfaches Gesetz vorgenommen werden, offenhält. A u c h von überzeugten Anhängern des Berufsbeamtentums w i r d dieser Vorbehalt als ohne weiteres zulässig angesehen 7 , obwohl dadurch die Unverletzlichkeit der vermögensrechtlichen Ansprüche „leerlaufend" werden kann. Eine einfache Formel, deren Beifügung i m Belieben und i n der H a n d des Gesetzgebers liegt, würde genügen, um Gehaltskürzungen zu ermöglichen, die für die Reichsbeamten z. B. bis auf den ersten besoldungsgesetzlichen Vorbehalt i n § 34 des BesGes. vom 30. A p r i l 1920, demnach hinter die Papiermarkbezüge dieses Gesetzes zurückgingen. Es ist durchaus konsequent, daß das Danziger Obergericht und andere Vertreter der Lehre von der Garantie der vorteilhaftesten besoldungsgesetzlichen Regelung auch den besoldungsgesetzlichen Änderungsvorbehält für verfassungswidrig erklären 8 . 6
Z. B. § 39 des Reichsbesoldungsges. vom 16. Dezember 1927, RGBl. I, 355. So Jellinek, Voss. Zeitung vom 31. Oktober 1930, Verwaltungsrecht 3. Aufl. S. 210; Solch, JW. 1931 S. 1658; Bach, Reich und Länder, IV, S.245; anscheinend auch Bühler, RVerwBl. 1930 S. 780; vor allem auch, und zwar ohne jede Einschränkung, Jahn a.a.O., S. 482. 8 Z.B. Brand a.a.O., S. 232; Eickel, Beamtenjahrbuch 1929 S.61; Daniels a.a.O., S. 46. 7
Wohlerworbene Beamtenrechte u n d Gehaltskürzungen (1931)
177
Jedenfalls ist dieser Ausweg alles andere als unbedenklich; er beseitigt die vermögensrechtlichen Garantien i n weitestem Maße, vernichtet jede Möglichkeit einer richterlichen Nachprüfung und ist in seinem Endergebnis ausgesprochen beamtenfeindlich. Die Meinung, daß die jeweils günstigste besoldungsgesetzliche Regelung ein wohlerworbenes Recht der Beamten sei, k a n n sich weder auf die Entstehungsgeschichte, noch auf den Begriff der wohlerworbenen Rechte, noch auf Zweck u n d Ziel des A r t . 129 berufen. I n der Entstehungsgeschichte t r i t t der Gedanke einer bloßen Übergangsbestimmung, d . h . Sicherung der damals, 1918/19, i m Dienst befindlichen Beamten hervor 9 . A u c h ist von Sicherung der vermögensrechtlichen Ansprüche i m allgemeinen/ Gehaltsansprüchen usw. die Rede, doch w i r d nicht gesagt, daß eine Garantie gegen besoldungsrechtliche Herabsetzung der Bezüge gegeben werde. Vielmehr liegt eine besonders klare, gegenteilige Erklärung vor, die freilich bisher i m Schrifttum nicht erwähnt i s t 1 0 . Erst allmählich entwickelt sich die Vorstellung, daß die Garantie der wohlerworbenen Rechte m i t der Höhe der besoldungsgesetzlichen Regelung zusammenhänge 11 . 9
I n Art. 129 Abs. 4 (wohlerworbene Rechte der Berufssoldaten) ist der Übergangscharakter noch deutlich erkennbar. Jellinek, Verwaltungsrecht S. 211 sagt, die Garantie der wohlerworbenen Rechte sollte „das damals im Dienst befindliche Beamtentum vor Abbaugelüsten radikaler Kreise schützen; an die zukünftigen Beamten dachte man weniger." Vgl. auch RGZ. 120, 393; Art. 129 „schützte die Rechte der Beamten zunächst nur, soweit sie bereits bei Inkrafttreten der RVerf. erworben waren". Ferner 104, 60; 109, 121. 10 Diese wichtige Äußerung findet sich im Bericht des 17. Aussch. der verfassunggebenden preuß. Landesvers, vom 16. April 1920, Nr. 2172 S. 86 und sei, weil sie unbekannt blieb, hier zitiert: „Zur allgemeinen Frage der wohlerworbenen Rechte legte ein Ausschußmitglied (Dd.) dar, er habe an den Verhandlungen über die RVerf. teilgenommen und könne nur folgendes sagen: Nach der Revolution habe sich der Beamtenschaft eine ungeheure Erregung bemächtigt, weil sie befürchtet habe, daß ihre Existenz gefährdet sei. Deshalb sei in die RVerf. die Bestimmung aufgenommen worden, daß die wohlerworbenen Rechte der Beamten nicht angetastet werden sollten. Damit hätte eigentlich nichts anderes ausgesprochen werden sollen, als was im großen und ganzen schon geltendes Recht gewesen sei. Es habe nur ein Schutz dagegen gegeben werden sollen, daß das geltende Recht abgeschafft würde, aber nicht in dem Sinne, daß der Beamte ein lebenslänglidies Recht auf die Bezüge habe, die er unter den gegebenen öffentlich-rechtlichen Voraussetzungen gehabt habe, sondern nur in dem Sinne, daß, wenn jemand pensionsbereditigt angestellt worden sei, er nicht ohne weiteres seiner Stelle verlustig gehen sollte." 11 Auf dem (keineswegs gangbaren) Weg über den Satz, daß alle subjektiven Rechte wohlerworbene Rechte seien (vgl. zuerst Stier-Somlo, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 1919 S. 117). Der besoldungsgesetzliche Änderungsvorbehalt in § 34 des ReichsbesGes. von 1920 zeigt bereits, daß man 12 Carl Sdimitt
Wohlerworbene Beamtenrechte u n d Gehaltskürzungen (1931)
Nach der auf Georg Meyer zurückgehenden, 1919 durchaus herrschenden Lehre ist es kein Begriffsmerkmal des wohlerworbenen Rechts, daß es durch einfaches Gesetz nicht beseitigt werden darf; nach der Ausdrucks- u n d Yorstellungsweise der Entstehungszeit des A r t . 129 k a n n also ein wohlerworbenes Recht trotz Abänderbarkeit durch den einfachen Gesetzgeber seinen Charakter als wohlerworbenes Recht behalten 1 2 . Daß seit 1870 i m allgemeinen nur Gehaltserhöhungen u n d keine Gehaltskürzungen vorgekommen sind, beweist nichts für den Inhalt der Garantie der wohlerworbenen Rechte. Es ist ein höchst auffälliger Sprung von der Garantie eines nach Maßgabe der besoldiungsgesetzlichen Normierung bestehenden vermögensrechtlichen Anspruchs zu der ganz anders gearteten Garantie der besoldungsgesetzlichen Bezugshöhe selbst. Bisher fehlt es für diesen Sprung an jeder Rechtfertigung und Erklärung. Daß der Anspruch auf standesgemäßen Unterhalt keine automatische oder starre Größe ist, ist eine Eigenschaft, die er w o h l m i t den meisten Ansprüchen auf Unterhalt und m i t zahlreichen anderen Ansprüchen teilt, begründet es aber noch nicht, das einmal erreichte Niveau unter allen Umständen festzuhalten 1 3 . Es ist weder logisch noch praktisch zulässig, zu sagen, eine Herabsetzung dürfe nicht erfolgen, w e i l sonst möglicherweise willkürliche Herabsetzungen vorgenommen werden könnten; denn daraus, daß w i l l k ü r l i c h e und mißbräuchliche Gehaltskürzungen möglich sind, folgt doch nicht, daß es überhaupt keine Gehaltskürzungen mehr geben darf. K a n n schließlich nicht vielmehr eine andere, ebenso bedenkliche A r t von Mißbrauch und W i l l k ü r darin liegen, daß ein i n günstigen Zeiten erreichter Standard ohne Rücksicht auf die veränderte Lage von Staat, Volk, Wirtschaft und Finanz festgehalten werden soll? I m Kern der Konstruktion einer ziffernmäßigen Garantie der gesetzlichen Bezüge steckt entweder eine unklare Nachwirkung der Ubergangsgarantie vom Sommer 1919, oder eine privatrechtliche und privatwirtschaftliche Auffassung, die dem öffentlich-rechtlichen sich gegen die Ausdehnung der wohlerworbenen Rechte zu sdiützen suchte und mit ihr rechnete. Dann folgt anläßlich des preuß. Altersgrenzengesetzes vom 15. Dezember 1920 (vgl. Triepel, DJZ. 1922 S.336) und des Entwurfes eines Pensionskürzungsgesetzes eine deutliche Wendung zur Ausdehnung, insbesondere im Gutachten des ReidisJustizministeriums (i. V. Joel) vom 3. Mai 1921, dem der Reichsjustizminister Radbruch mit Schreiben vom 6. November 1921 beigetreten ist, RTDrucks. Nr. 3127. 12 Vgl. auch Jahn a.a.O., S. 483; „Damals konnten noch wohlerworbene Rechte durch einfaches Gesetz entzogen werden."
Wohlerworbene Beamtenrechte u n d Gehaltskürzungen (1931)
179
Charakter unseres Berufsbeamtentums durchaus widerspricht und i h m seine rechtliche, politische und moralische Grundlage entzieht. Die Sicherungen der Beamtenstellung, welche die Reichsverf. dem Berufsbeamtentum (gewährt und die i n der allgemeinen Unsicherheit des heutigen wirtschaftlichen Lebens eine große Besonderheit darstellen, können nicht zu individualistischen Vorteilen gemacht und aus dem Gesamtzusammenhang der öffentlich-rechtlichen Institution des Berufsbeamtentums herausgenommen werden. Wer hier Gesichtspunkte der Enteignung privater Vermögensrechte, oder Analogien mit privat vertraglich wohlerworbenen Rechten geltend macht, begeht denselben Fehler, wie derjenige, der für die Beamten zwar Unkündbarkeit ihrer Stellung und alle anderen Vorteile, gleichzeitig aber ein Streikrecht beansprucht, das nur auf Grund eines privaten Arbeitsvertragsverhältnisses denkbar ist. M i t vollem Recht hat der Reichsfinanzhof i n seinem U r t e i l vom 25. März 1931 auf den institutionellen Gesamtzusammenhang hingewiesen, indem er sagt, daß Rechte und Pflichten der Beamten zusammenhängen. Es gibt nicht ein einziges subjektives Beamtenrecht, das außerhalb der spezifischen Institution des deutschen Berufsbeamtentums stände, u n d gerade vom Standp u n k t der Beamteninteressen aus scheint es m i r nicht weitblickend zu sein, die unveränderte Weiterführung der i n Zeiten der Prosperität erreichten Gehaltshöhe als wohlerworbenes Recht zu fordern. Staat und Beamtentum sind zu eng miteinander verbunden, als daß man die finanzielle Lage des einen von dem vermögenstechtlichen Standard des anderen auf die Dauer trennen könnte.
Der Aufsatz ist in der Deutschen Juristenzeitung vom 15. Juli 1931 Sp. 917—921 erschienen. Er hat eine geradezu erbitterte Polemik entfesselt, weil er die Behauptung einer ziffernmäßigen Garantie widerlegte und damit die Zulässigkeit von Gehaltskürzungen anerkannte. Die Vertreter der Beamtenorganisationen sahen darin einen Verrat am Beamtentum. Zahlreiche Aufsätze und Gutachten suchten den Schein einer entgegengesetzten herrschenden Meinung zu bewirken. Rechtswissenschaftliche Zustimmung in der damaligen Zeitschriftenöffentlichkeit fand die These von der institutionellen (zum Unterschied von der ziffernmäßigen) Garantie ausdrücklich nur bei W. Schröder und E. Friesenhahn, die in Anm. 1 des Aufsatzes zitiert sind. 1. Trotzdem hat sich der Gedanke der institutionellen Garantie des deutschen Berufsbeamtentums durchgesetzt. Er ist in Art. 33 Abs. 5 des Bonner Grundgesetzes übergegangen, wo es heißt: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamten12»
Wohlerworbene Beamtenrechte u n d Gehaltskürzungen (1931)
turns zu regeln." Daß damit eine institutionelle Garantie, wie sie bereits aus der Weimarer Verfassung entwickelt wurde, gemeint ist, erkennen die Kommentare an: Bonner Kommentar zu Art. 33 S. 6 (Dennewitz und Jess), /.Mangoldt/Klein, S. 83f. Besondere Erwähnung verdient hier die Darlegung von Arnold Röttgen, „Abgeordnete und Minister als Statusinhaber" (in „Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Redit", Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, Isar-Verlag München, 1955, S. 199). Eine wissenschaftlich überragende Einsicht in den verfassungsrechtlichen Sinn der institutionellen Garantie des deutschen Berufsbeamtentums bewährt sich in der Begründung des Beschlusses des BGH vom 20. Mai 1954; dazu die Sammlung der Aufsätze von Bachof, Baring, Fischbach, Forsthoff, Giese, Giesges, Helfritz, Ernst Kern, Koellreutter, H.Krüger, Kühn, Reinhardt, Schack, Hans Schneider und G. Stumpf in dem Sonderheft „Die Wissenschaft zum Spruch von Karlsruhe", Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes, Köln 1954. 2. Die Verfassungsbeschwerde, die zu dem Beamtenurteil des BVerfG vom 17. Dezember 1953 (Entscheidungen Bd. 3, S. 58 ff.) geführt hat, litt in ihrer Argumentation darunter, daß sie sich nicht entschieden genug von jedem Gedanken einer ziffernmäßigen Garantie absetzte. Status und Institutionen erhalten ihren Sinn durch eine Kontinuität, die von ziffernmäßigen Garantien völlig absehen muß und eben dadurch weder automatisch vernichtbar noch automatisch wiederherstellbar ist. Im übrigen gilt für die Kontinuität von Institutionen, daß sie nicht einfach restaurierbar sind, wenn die Kette einmal zerrissen ist. Hier bestehen einige Analogien zu den Versuchen monarchischer Restaurationen, von denen bisher keine gelungen ist (Verfassungslehre S. 288). 3. Das Beamtentum der kontinental-europäischen Staaten ist spezifisch staatliches Beamtentum; es ist durch seinen geschichtlichen Ursprung an den klassischen Staatsbegriff gebunden und war in manchen Fällen und Situationen sogar der Staatsträger. Angesichts der Auflockerung des Staates als< einer in sich geschlossenen politischen Einheit — nach innen durch Pluralisierung, nach außen durch Integrierung, vgl. Bern. 3 zum Staatsbegriff unten S. 385 — erhebt sich die Frage, wie weit eine Kontinuität des bisher staatlichen Beamtentums mit dem neuen Beamtentum überstaatlicher Räume und supranationaler Organisationen möglich ist; dazu Ernst Kern, Die Rechtsstellung des europäischen Beamten (in den Berichten über die Auswahl und Ausbildung sowie über die Rechtsstellung von Bediensteten bei europäischen Organisationen Verlag C. H. Beck, München und Berlin 1955 S. 49 ff.). Kern nimmt an, daß bei der Entwicklung des Dienstredits europäischer Bediensteter keine Veranlassung gegeben ist, auf die europäische Rechtsdogmatik zu verzichten, die auf schlüssigen Erwägungen aufbaue.
Grundrechte und Grundpflichten (1932)1 I. Formale
Bestimmungen
und Einteilungen.
— 1. Als Grundrechte
i m formalen Sinne können alle i n der Verfassungsurkunde Rechte
oder
Verbürgungen
bezeichnet
werden.
In
engeren formalen Sinne wären nur die i m zweiten 1
genannten einem
noch
Hauptteil
der
Literatur. Affolter, Die individuellen Rechte nach der bundesgerichtlichen Praxis, 2. Aufl. 1915; G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 3. Bearb. 1929, S. 445 ff.; Ders., Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Bd. I 1912 S. 91 ff.; R. Bernheimer, Der Begriff und die Subjekte der verfassungsmäßigen Rechte nach der Praxis des Bundesgerichts, 1930; G. Beyersdorff, Die Staatstheorien in der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, Kieler Diss. 1928; J. V. Bredt, Der Geist der deutschen Reichsverfassung, 1924 S. 241 ff., 263 f.; O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914 S. 61 ff.; Ders., Zur Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte, Festg. f. Fleiner, 1927 S. 26 ff.; Ders., Kommentar zur Reichsverfassung, 3. Aufl. 1929 S. 118 ff.; A. Buschke, Die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1930, E. Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, Hamburg 1929; E. Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart, 1913; F. Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928 S. 177 ff.; A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924 S. 287 ff.; H. Gerber, Gesetz und Verfassung, Ztsdir. f. Ostrecht, 3. Jahrg. S. 6 ff.; Ders., Die weltanschaulichen Grundlagen des Staates, 1930; F. Giese, Die Grundrechte, 1905; Ders., Die Verfassung des Deutschen Reiches, Kommentar, 8. Aufl. 1931 S. 241 ff.; W. Hasbach, Die moderne Demokratie, 2. Aufl. 1921 S. 238 ff.; J. Hashagen, Zur Entstehungsgeschichte der nordamerikanischen Erklärungen der Menschenrechte, Ztsdir. f. d. ges. StW. 1924 S. 461 ff.; J. Hatschek, Einleitung in das öffentliche Recht, 1926 S. 53 ff.; Hatschek-Kurtzig, Deutsches und preußisches Staatsrecht, 2. Aufl. 1930, Bd. I S. 211 ff.; K. Haentzschel, Die Verfassungsschranken der Diktaturgewalt, ZöffR., Bd. V (1926) S. 205 ff.; A. Hensel, Art. 150 der Weimarer Verfassung und seine Auswirkung im preußischen Recht, ArchöffR. N.F. Bd. 14, H. 3 1928; Ders., Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Gleichheit vor dem Gesetz, Vierteljahrsschr. f. Steuer- und Finanzrecht, 4. Jahrg. H. 3 1930; Ders., Grundredite und Rechtsprechung, Reichsgerichts-Praxis Bd. I S. 1 ff., 1929; Ders., Grundrechte und politische Weltanschauung, 1931; W. Ho facker, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, 1926; Ders., Der Einzelne und die Gesamtheit, 1930; Ders., Die Auslegung der Grundrechte, 1931; Ders., Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg, 1931; G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen deutscher Staatsrechtswissenschaft, ArchöffR. N.F. 11 (1927) S. I f f . ; Ders., Elternrecht, Reichsverfassung und
182
Grundrechte, u n d Grundpflichten (1932)
Verfassungsurkunde unter der Überschrift
„Grundrechte"
genannten
Rechte oder Verbürgungen darunter zu verstehen. F ü r Grundpflichten würde Entsprechendes gelten. Das K r i t e r i u m wäre hier ausschließlich die Aufnahme i n den geschriebenen Text der Verfassungsurkunde; es hätte alle Vorteile u n d Bequemlichkeiten, allerdings auch alle Unzulänglichkeiten eines derartig formalen Kennzeichens. Eine solche konsequent formale Auffassung setzt Grundrecht = verfassungsmäßiges Recht; verfassungsmäßiges Recht = in der Verfassung enthaltenes Recht; Verfassung = Verfassungsurkunde. Hierbei wäre von der gesteigerten Geltungskraft der Verfassungverbürgungen abzusehen. Ohne Schulverwaltungssystem, ArchöffR. N.F. 12 (1927) S. 187 ff., G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2 1905; Ders., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919; Ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1921 S. 409 ff.; W. Jellinek, Verwaltungsredit, 3. Aufl. 1931 S. 189 f.; J. Junck, Das Reichsgericht und die Grundrechte der Reichs Verfassung, DJZ 1929 Sp. 1254 ff.; E. Kaufmann, Gleichheit vor dem Gesetz, Veröff. d. Vereinigung Dt. StL., H.3 S.2ff.; R.v. Keller, Freiheiten der Person und des Eigentums als verfassungsrechtlidie Garantie, Münchner Diss. 1930; H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925 S. 154 ff.; Ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923 S. 255, 438 ff.; O. Kirchheimer, Weimar — und was dann? 1930 S. 25 ff.; Fr. Klövekorn, Die Entstehung der Erkl. der Menschen- u. Bürgerrechte, Hist. Studien, H. 90, Berlin 1911; Kormann, Grundzüge eines allgemeinen Teils des öffentlichen Rechts, HirthsAnn. 1911, S. 913 ff.; K. Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung 1931; Lolimann, Die Grund- oder Freiheitsrechte der Ausländer, Diss. Kiel 1913; O. Meißner, Das Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, 1923 S. 219 ff.; Gg. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919 S. 953 ff.; Mirkine-Guetzevitch und Aulard, Les declarations des droits de l'homme, Paris 1929; F. Nadolski, Die Unterscheidung und Einteilung der Grundrechte in der neuesten deutschen staatsrechtlichen Literatur, Diss. Jena 1931; H. Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Veröff. d. Vereinigung Dt. StL., H. 3 (1927) S. 25 ff. F. Neumann Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung, in „Die Arbeit" 1930 S. 569 ff.; H. C. Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, Kommentar zum zweiten Teil der Verfassung. In Gemeinschaft mit G. Anschütz u. a. herausgegeben, Bd. I—III, Berlin 1929 ff. (zit.: Nipperdey I, II, I I I ) ; Oeschey, Die Freiheitsrechte nach deutschem R.- u. L.-Staatsrecht, Bl. f. d. adm. Praxis 66, S. 63 ff., 81 ff.; H. Planitz, Zur Ideengeschichte der Grundrechte, Nipperdey Bd. I I I S. 597 ff.; Ders., Politische Freiheitsrechte, Kölner Rektoratsrede 1929; F. Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl. 1928 S. 392 ff.; K. Renner, Die Menschenrechte, ihre geschichtliche Rolle und ihre zukünftige Geltung, Ztschr. f. soziales Recht Bd. I (1928) S. 225 ff.; L. Richter, Das subjektive öffentliche Recht, ArchöffR. N.F. 8 S. 1 ff.; H. Rommen, Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1931; K. Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, Veröff. d. Vereinigung Dt. StL., H. 4 (1928) S. 6 ff.; Rousseau, Protection des minorites et reconnaissance internationale des droits de l'homme, Revue du droit public T. 47 S. 405 ff.; G. A. Salander, Vom Werden der Menschenrechte, 1926; B. Schickhardt, Die Erklärung
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
Rücksicht auf diese gesteigerte Geltungskraft bezeichnet Richard Thoma2 als Grundrechte auch solche Rechte, welche in der Yerfassungsurkunde nur mit der Kraft eines einfachen Gesetzes verbürgt sind; die bloße „Erwähnung im Grundgesetz gibt ihnen die höhere Würde". Die Praxis der bayerischen Verfassungsbeschwerde (§ 93 Bayer. Verf.-Urk.) bedient sich eines formalen Kennzeichens insofern, als die Verfassungsbeschwerde nur, wegen Verletzung solcher Rechte erhoben werden kann, die unmittelbar in der Verfassung, d.h. hier: in der Verfassungsurkunde enthalten sind. Im bayerischen monarchischen Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts war der Begriff der „konstitutionellen Rechte" sehr umstritten, doch hat er durch zahlreiche Einschränkungen (nur Rechte von Einzelnen und Gemeinden; keine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Erkenntnisse, auch nicht gegen Landtagsbeschlüsse) eine gewisse praktische Klärung erfahren, besonders nachdem er aufgehört hatte, einen Ersatz für die noch fehlende Verwaltungsrechtspflege zu vermitteln 3 . Für das geltende bayeder Menschen- und Bürgerrechte von 1789—1791 in der Debatte der Nationalversammlung, Berlin 1931; R. Schmidt, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1923 S. 194 ff.; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928 S. 157 ff.; Ders., Zehn Jahre Reichsverfassung, JW. 1929 S. 2313 ff.; Ders., Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung in „Notverordnung und öffentl. Verwaltung", Berlin 1931; Ders., Besprechung des Kommentarwerkes von Nipperdey Bd. I, JW. 1931 S. 1675; W. Schröder, Die wohlerworbenen Rechte der Beamten in ihrer politischen und juristischen Bedeutung, 1930; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928 S. 158 ff.; Ders., Das Recht der freien Meinungsäußerung, Veröff. d. Vereinigung Dt. StL., H. 4 (1928) S. 44 ff.; Ders., Die Verfassung des Deutsdien Reidies, eingeleitet, Berlin 1929; F. Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, Bd. I 1924 S. 430 ff.; Ders., Politische Freiheit, insbesondere in der Demokratie, Kölner Rektoratsrede 1926; Ders., Art. „Freiheitsrechte", HWRechtsW. Bd. I I 1927 S. 506 ff.; Ders., Art. „Grundrechte", ebenda Bd. I I I 1928 S. 50 ff.; Art. „Grundpflichten", ebenda S. 45 ff.; Ders., Das Grundrecht der Selbstverwaltung, ArchöffR. N.F. 17 S. I f f . ; Ders., Der Reichsstaatsgerichtshof und das Grundrecht der Selbstverwaltung ArchöffR. 19 (1930) S. 255 ff. Ders., Gleichheit vor dem Gesetz, Nipperdey Bd. I S. 158 ff.; R. Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, Festg. f. d. preuß. OVG. 1925 S. 183 ff.; Ders., Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, Nipperdey Bd. I S. 1; H. Triepel, Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung, SdimollersJ. 43 S. 469 ff., 1919; E. Vögelin, Der Sinn der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, ZöffR. Bd. 8 S. 82, 1928; E. Wolgast, Die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen im Lichte des Theorems „Gemeinschaft und Gesellschaft", Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie Bd. 5 S. 45 ff. 2 Nipperdey I S. 19. Thoma nennt diese Art Grundrechte solche im materiellen Sinne, was wohl nur dadurch erklärlich ist, daß geschichtliche Gründe, auf die er sich hierbei beruft, gewiß keinen formalen Charakter begründen können. 8 Über das allgemeine Problem die auch heute noch lehreiche Darstellung von M. v. Seydel, Bayr. Staatsrecht (2. Aufl. 1896) I S. 363 f. Hier wird auch deutlich, daß die Frage, wann „die Verfassung selbst" verletzt ist, sich nicht durch einen formalen Hinweis auf die Verfassungsurkunde beantworten läßt.
184
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
rische Verfassungsrecht ist besonders zu beachten, daß die Verfassungsbeschwerde nicht auf die Reichsverfassung gestützt werden kann, sondern nur auf die bayerische Verfassungsurkunde, die allerdings manche Sätze der Reichsverfassung übernimmt und dadurch, wenigstens nach der Praxis des bayerischen Staatsgerichtshofs, eine Verfassungsbeschwerde ermöglicht 4. Es handelt sich praktisch um Beschwerden wegen Verletzung folgender Gewährleistungen: Freiheit der Person, Eigentum, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissensfreiheit, Zulassung zu öffentlichen Ämtern, Abgeordnetenprivilegien, Beamtenrechte5. Eine allgemeine begriffliche Klärung des Begriffs der verfassungsmäßigen Rechte wie auch der Frage, wann und warum durch die Verletzung eines der genannten Rechte „die Verfassung selbst" verletzt ist, fehlt. Das Schweizer Bundesgericht hat auf Grund des Art. 113 Ziff. 3 der Schweizerischen Bundesverfassung für die Verfassungsbeschwerde alle in der Bundesverfassung und in den Kantonsverfassungen genannten subjektiven öffentlichen Rechte als „verfassungsmäßige Rechte" angesehen; außerdem nimmt es eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte an, wenn objektive Verfassungsnormen wie Zuständigkeitsregelungen, Bestimmungen über Öffentlichkeit von Verhandlungen usw. verletzt und dadurch „rechtliche Interessen des Rekurrenten geschädigt" sind6. Es ist aber zu beachten, daß hierbei einerseits im allgemeinen nur Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, andererseits aber auch in einfachen Gesetzen gewährte „besonders wichtige Individualrechte" als verfassungsmäßige Rechte angesehen werden, womit das formale Kennzeichen „Urkunde" aufgegeben ist. I n einem Beschluß der Vereinigten Zivilsenate des Reichsgerichts vom 22. Februar 1924 (RGZ. 107 S.320, 322) wird angenommen, daß Art. 105 RV. (gesetzlicher Richter) kein Grundrecht des einzelnen Staatsbürgers enthalte, weil ihm mangels Aufnahme in den zweiten Hauptteil die „subjektive Betonung" fehle. In der deutschen Staatsrechtslehre ist durchwegs anerkannt, daß es Grundrechte auch außerhalb des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung gibt, ebenso wie umgekehrt manche im zweiten Hauptteil enthaltenen Bestimmungen keinerlei Grundrechte gewähren 7. Die formale Betrachtungsweise, die sich an die Überschrift hält, dürfte in allen schwierigen Fällen versagen. Daß in dem ersten Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 (RGBl. I S. 943) ein solcher „formeller" Grundrechtsbegriff verwandt wurde, ist für das Problem bedeutungslos. In jenem Beschluß der Vereinigten Zivilsenate hat cjie Bezugnahme auf die Überschrift nur die praktische Bedeutung, die Frage, ob eine subjektive Beziehung, d. h. ein subjektives Recht, vorliegt, negativ zu entscheiden; sie will nicht eine Begriffsbestimmung der Grundrechte im allgemeinen geben. 4 Lammers-Simons, Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, Erg.,Bd. I I I , 1931 S. 144 f. Vgl. Hensel, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, I I S.321, Anm. 19. 5 Lammers-Simons a.a.O. S. 145. 6 F. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923 S. 274, 445; Burckhardt, Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, 3. Aufl. 1931 S. 779; R. Bernheimer S. 123. 7 Anschütz, Kommentar S.445; Thoma bei Nipperdey I S. 1 f.
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
Das auf den geschriebenen Text der Yerfassungsurkunde bezugnehmende Kriterium versagt in jeder Hinsicht; denn einerseits enthält der Text der Verfassung in schwer unterscheidbarer Weise auch anderes als Grundrechte, andererseits werden Grundrechte angenommen, die nicht im manifesten Text ausgesprochen sind, z. B. das Recht auf Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 8 . Es ist sogar allgemein anerkannt, daß derartige Rechte beständen, auch wenn sie nicht in den geschriebenen Text der Verfassung aufgenommen wären. Die französische Staatsrechtslehre nimmt die unveränderte Weitergeltung der Freiheits- und Menschenrechte von 1789 an, obwohl die gegenwärtigen Verfassungsgesetze von 1875 sie nicht aussprechen und nicht darauf Bezug nehmen; die Praxis des Schweizerischen Bundesgerichts läßt (wie oben Anm. 2 erwähnt) eine Verfassungsbeschwerde bei „besonders wichtigen Individualrechten" zu, auch wenn sie nicht in der Verfassungsurkunde genannt sind. 2. E i n anderes formales K r i t e r i u m liegt i n der verstärkten Verbürgung oder Sicherung »der Grundrechte 9 . Es ergibt sich gewöhnlich auf dem Umweg über die Gleichstellung von Grundrechten und verfassungsmäßigen Rechten, wenn Verfassung = Verfassungsgesetz; Verfassungsgesetz = Gesetz m i t gesteigerter Geltungskraft oder erschwerter Abänderbarkeit gesetzt wird. D a n n sind Grundrechte unabänderliche, oder wenigstens nur erschwert, d. h. nur i m Wege des verfassungsändernden Gesetzes abänderbare Rechte. Hierbei ist es eine weitere Frage, worauf die i n der erschwerten Abänderbarkeit enthaltene, verstärkte Sicherung beruht: auf der erschwerten Abänderbarkeit des Gesetzes, aus dem das Recht abgeleitet w i r d , oder auf anderen Rechtsgrundlagen, etwa einem nicht beliebig kündbaren Vertrag. a) Grundrechte i m höchsten Sinne wären nach dieser Auffassung unbedingt unabänderliche, unaufhebbare und unantastbare Rechte. Sie wären heilig i m Sinne von sakrosankt. Es wären unbedingt und schlechthin geschützte und gesicherte Rechte, wie z. B. i n einer Monarchie die Unverletzlichkeit der Person des Königs. Der heute in Deutschand maßgebenden Auffassung sind solche Rechte unbekannt. Wenn gelegentlich von den Grundrechten als einem „ H e i l i g t u m des deutschen Volkes" gesprochen worden ist 1 0 , so sind damit nur rela8
Thoma, Nipperdey I S. 7, 15 f. Ich halte dieses Kriterium für ein formales gegenüber den unten zu entwickelnden sachlichen Bestimmungen. Formal kann hier nur bedeuten: ohne Rücksicht auf den Inhalt oder auf den Zusammenhäng mit der Gesamtstruktur der Verfassung oder des Staates. Thoma spricht von der Unterscheidung der Grundrechte nach ihrer gesteigerten Geltungskraft als einem materiellen Kennzeichen (a.a.O. S. 19). 10 RGZ. 102 S. 165; Thoma, Nipperdey I S. 9, vor allem S. 47, wo aus 9
186
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
live, unter mancherlei Vorbehalt stehende, manchmal auch leere „ H e i l i g t ü m e r " gemeint. Gegenüber einer i m Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung zustande kommenden Anordnung gibt es nach der i n der deutschen Staatslehre herrschenden Auffassung keine Berufung auf irgend etwas Heiliges (vgl. unten I I 2 b). b) Grundrechte wären ferner — und das k o m m t vor allein praktisch i n Betracht — zwar nicht unabänderliche aber wenigstens mit erhöhter K r a f t verbürgte Rechte. Ihre „gesteigerte Geltung" bestände darin, daß sie erschwert auf hebbar oder abänderbar sind; die Erschwerung besteht darin, daß es zu der Änderung eines verfassungsändernden Gesetzes bedarf. Diese Rechte sind hinter dem „Schutzwall des A r t . 76 R V . " geborgen. M i t der w o h l allgemein übernommenen Bezeichnung Richard Thomas k a n n man sie als verfassungskräftige, genauer verfassungsgesetzeskräftige Grundrechte bezeichnen 11 . Dazu gehören für eine formale Betrachtung auch die Rechte aus A r t . 36, 37, 38, 39, 40, 40 a, die ebenfalls von A r t . 76 umhegt sind. c) Grundrechte i m Sinne stärkerer Verbürgung sind ferner alle Rechte, die n u r m i t Zustimmung des Berechtigten aufgehoben oder verändert werden dürfen; also Reservatrechte i m engeren Sinne. Die geltende Reichs Verfassung kennt sie nicht mehr, dafür aber kennt das heutige deutsche Staatsrecht Sonderrechte sowie vertragsgesicherte Rechte der Länder u n d Kirchen; vgl. unten I I I 4, S. 213. d) Grundrechte i m Sinne stärkerer Verbürgung sind i n einer speziellen Hinsicht auch diejenigen Grundrechte, die, i m Gegensatz zu den i n A r t . 48 Abs. 2 aufgezählten sieben Grundrechten (Art. 114, 115, 117, 118, 123, 124, 153), nicht durch den Reichspräsidenten oder die Landesregierung bei erheblicher Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i m Reiche vorübergehend ganz oder zum Teil außer K r a f t gesetzt werden dürfen. Alle weiteren Einteilungen sind, genauer betrachtet, nicht formaler Art. Insbesondere ist R. Thomas Unterscheidung von reichsgesetzesder Heiligkeit ein Schluß auf die Unantastbarkeit auch gegenüber verfassungsändernden Gesetzen gezogen ist. Vgl. unten Anm. 53. 11 Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt S. 191/192 zählt als Beispiele auf: Art. 17 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2, 22, 30, 41 Abs. 1, 73 Abs. 2 und 3, 99 Abs. 1, 105 S. 1 und 2, 109, 110 Abs. 2, 112 Abs. 3, 113 (m. E. kein „Recht"), 116, 118 Abs. 2, 126, 128 Abs. 2, 129 Abs. 1 S. 3 und 4 und einiges in den folgenden Absätzen, 130 Abs. 2, 131, 135, 136, größter Teil von 137, 138 Abs. 2, 142 S. 1, 149 Abs. 2, 159.
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
187
k r ä f t i g e n 1 2 und bloß gesetzeskräftigen Grundrechten keine aus der Natur u n d Eigenart der Grundrechte, sondern aus der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern abgeleitete Unterscheidung und deshalb nicht spezifisch grundrechtlicher Natur. Das zeigt sich darin, daß ohne Rücksicht auf den Wortlaut der Grundrechtsverbürgung ein solches Recht (infolge des A r t . 13 Abs. 1 RV.) reichsgesetzesk r ä f t i g w i r d , sobald die Materie durch einfaches Reichsgesetz geregelt w i r d ; z. B. sind Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art. 123 und 124) durch das Reichs Vereinsgesetz reichsgesetzeskräftige Grundrechte geworden, was sie nach dem Wortlaut von A r t . 123 und 124 nicht sind, und die Preßfreiheit ist reichsgesetzeskräftig, aber als solche verfassungsrechtlich überhaupt nicht geschützt (vgl. unten Anm. 77). Das gleiche gilt für die von Anschütz (Kommentar S. 457) sogenannten „polizeifesten Grundrechte", deren Polizeifestigkeit A n schütz durch die Erwägung gewinnt, daß die Polizei Landessache ist. Demgegenüber ist zu beachten, daß sowohl ein einfaches Reichsgesetz, z. B. das Reichspreßgesetz, diese „Festigkeit" begründet, andererseits aber auch ein einfaches Reichsgesetz die Landespolizei zu Eingriffen ermächtigen kann; außerdem sind nach A r t . 48 Abs. 2 und 4 Außerkraftsetzungen möglich, die den Landespolizeibehörden auch gegenüber reichsgesetzeskräftigen Grundrechten (z.B. A r t . 117 123 Abs. 2, 153) freie Bahn geben. Die Polizeifestigkeit ist kein formaler Grundrechts-, sondern ein nur historisch zu erklärender, auf den Gesetzesumfang u n d -inhalt bezüglicher Begriff. R. Thomas Unterscheidung von „polizeibegrenzenden" Grundrechten (Art. 111. 112, 117, 123, 124, 151, 159) bezieht sich gleichfalls auf Inhalt und Umfang des den Gesetzes vorbehält ausfüllenden Gesetzes u n d enthält kein spezifisches K r i t e r i u m i m Sinne erschwerter Abänderbarkeit. Thoma selbst hat es, m i t Recht, wiederholt als „lächerlich" bezeichnet 1 3 , jedes durch einfache Reichsgesetzgebung verliehene Recht ein Grundrecht zu nennen. Daraus folgt aber, daß eine nur aus der allgemeinen bundesstaatsrechtlichen W i r k u n g der Reichsgesetzeskraft gegenüber der Landesgesetzgebung folgende „gesteigerte" Geltung 12 Der ausdrückliche Vorbehalt eines Reichsgesetzes findet sich in folgenden Artikeln der Reichs Verfassung: Art. 111, 112 Abs. 1, 117, 123 Abs. 2, 124 Abs. 2 S. 1 (mittelbar), 151 Abs. 3, 153 Abs. 2 S. 2 und 3; ferner Freizügigkeitsgesetz, Reichsgewerbeordnung und Reichspreßgesetz. 18
Grundrechte u n d Polizeigewalt S. 190; Nipperdey I S. 20.
188
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
nicht i n diesen Zusammenhang der Begriffsbestimmungen und beg r i f f s wesentlichen Einteilungen der Grundrechte gehört. Einteilungen, welche die verschiedenartige W i r k u n g von Grundrechtsverbürgungen gegenüber besonderen Gewaltverhältnissen (Beamte, Schüler, Reichswehrangehörige, Gefangene, der Erziehungsgewalt Unterworfene usw.) betreffen, enthalten keine formgebenden Kennzeichen. Sie beziehen sich nämlich auf Einschränkungen oder Ausdehnungen innerhalb der Sphäre der Gesetzesanwendung und daher des (im Wege der Auslegung zu bestimmenden) Gesetzes-Inhaltes. Der Gesichtspunkt der verstärkten Verbürgung als eines formalen Kennzeichens dagegen erhebt den Schutz vor der Abänderung durch einfaches Gesetz zum entscheidenden Merkmal. Endlich bedeutet auch die unten (V4) zu behandelnde Einteilung der Bindungen des Gesetzgebers (spezielle Einzelanweisungen, grundsätzliche (Richtlinien, Zielsetzungen) keine formale Unterscheidung. Denn die formale Betrachtungsweise kennt hier nur Bindung oder Nichtbindung, oder, wie die aus der Vorkriegszeit überlieferte Alternative lautet: positives Gesetz oder Programm. I n diesem automatischen Entweder-Oder ist alles bloßes „Programm" (d. h. rechtlich bedeutungslos), was nicht positiv ist, und umgekehrt. D a m i t entfällt jede Möglichkeit sachlicher Einteilung und k a n n man der eigenartigen Unklarheit und Pleonexie des zweiten Hauptteils der Verfassung nicht Herr werden. Anmerkungsweise sei folgendes über den praktischen Wert der formalen Bestimmungen gesagt: Sie haben auf den ersten Blick den Vorzug allerselbstverständlichster Einfachheit und Handlichkeit, doch beruht das nur darauf, daß sie nichts als leere, tautologische Wiederholungen sind. Das praktisch allein interessierende Problem liegt darin, Anhaltspunkte für die sachliche Beurteilung und Auslegung der zahlreichen verschiedenartigen Sätze des zweiten Hauptteils zu gewinnen, die weder in ihrem Inhalt, noch in ihrer rechtssystematischen Besonderheit klar und eindeutig sind. Infolgedessen werden die unten (V 3) erörterten Vermutungen ausschlaggebend, z.B. die Vermutung der Aktualität und Positivität; die Vermutung des subjektiven Rechts usw. Sobald die formalen Begriffsbestimmungen und Unterscheidungen als Anhaltspunkt für Vermutungen irgendwelcher Art benutzt werden, laufen in Wahrheit andere, sachliche Elemente unter, die als Handhabe dienen. Dann treten die mannigfachen logischen Vertauschungen und Unbestimmtheiten ein (Umkehrschlüsse, falsche Schlüsse aus bloßer Negation, falsche dicta de omni wie „alle Deutschen", Verkennung der Abhängigkeit der von der Verfassung gebrauchten Worte wie Eigentum, Enteignung usw.), deren kritische Beleuchtung das große Verdienst W. Hofackers 14 ist. Solange 14
Zusammenfassende Aufzählung in „Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg", 1931, S. 12.
Grundrechte u n d G r u n d p l i c h t e n (1932)
189
die Bestimmungen aber rein formal bleiben, sind sie praktisch wertlose Tautologien. I I . Das Verhältnis der Grundrechte zum organisatorischen Teil der Verfassung (des I I . zum I. «Hauptteil der Reichs Verfassung). — 1. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Teile k a n n sich nur dann erheben, wenn irgendeine sachliche Bestimmung der Verschiedenheit beider Verfassungsteile anerkannt ist. Hierbei ist es gleichgültig, ob Überschneidungen und redaktionelle Verlagerungen vorkommen, etwa das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 105) oder das politische Wahlrecht (Art. 22) unter die Grundrechte gehören, oder umgekehrt einige Bestimmungen des zweiten Hauptteils keine Grundrechte oder überhaupt Andersartiges enthalten 1 5 . Eine rein formale Auffassung allerdings kann hier so wenig wie sonst unterscheiden, weil für sie Norm = Norm, erschwert abänderbare Norm = erschwert abänderbare Norm, Recht = Recht, erschwert abänderbares Recht = erschwert abänderbares Recht ist. Die sachliche Verschiedenheit der beiden Verfassungsteile kann nicht darin gefunden werden, daß die Grundrechte subjektive öffentliche Rechte, die organisatorischen Bestimmungen nur objektives Recht sind. A u c h die Grundrechtsbestimmungen sind objektives Recht, und die zum objektiven Recht hinzukommende subjektive „Beziehung", „Bedeutung" oder „Betonung" muß eine spezifische, über den einfachen Rechtscharakter hinausgehende Bedeutung haben. Sonst wäre ein Grundrecht nichts als ein beliebiges Recht, das aus einem erschwert abänderbaren Gesetz abgeleitet ist und die Begriffsbestimmung würde ins „rein Formale" zurückgleiten. Dann wäre z. B. das Recht des kandidierenden Beamten auf Urlaub (Art. 39), des Abgeordneten auf freie Eisenbahnfahrt (Art. 40) oder das Recht des Beamten auf Einsicht i n seine Personalakten (Art. 129 Abs. 3 S. 3) der Prototyp deutscher Grundrechte 1 6 . Daraus folgt, daß eine Be15
Anschütz, Kommentar S. 449 f.; Giese, Kommentar S. 244. Die formalistische Antwort ist auch hier sehr einfach: Recht = Recht, Grundrecht = Grundrecht. In augenfälliger Weise ist die Eigenart dieser formalistischen Methode bei der Garantie der wohlerworbenen Beamtenrechte (Art. 129 Abs. 1 S. 3) zutage getreten; hier wird mit der gleichen Unfähigkeit zu spezifischen Unterscheidungen einfach erklärt: jedes Recht ist ein erworbenes Recht, jedes erworbene Recht ist ein wohlerworbenes Recht, also ist jedes subjektive Recht jedes Beamten ein wohlerworbenes Recht, also darf der Gesetzgeber die Beamtengehälter nur erhöhen, nicht herabsetzen. Vgl. Anschütz, Anm. 3 zu Art. 129; Poetzseh-Heffter, Anm. 4 b 16
190
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
Ziehung zur Person des Berechtigten hergestellt werden muß, die zu der Frage führt, wein Grundrechte überhaupt zustehen können und ob die Verfassung verschiedene A r t e n von Grundrechten kennt. Eine sachlich bestimmte Definition der Grundrechte muß davon ausgehen, daß ein unmittelbarer, konkreter u n d begriffswesentlicher Zusammenhang von Grundrechten und Verfassung bestehen muß. Sonst w i r d der Ausdruck Grundrechte zu einer irreführenden Redensart. Grundrechte sind also nur solche Rechte, welche zur Grundlage des Staates selbst gehörein und welche deshalb i n der Verfassung als solche anerkannt sind. Es ist nicht so, als könnte man ohne Rücksicht auf die Gesamtstruktur eines Gemeinwesens beliebige Rechte zu Grundrechten machen u n d beliebige Interessen als Heiligtümer und Unantastbarkeiten verankern. Vielmehr hat jede konkrete A r t Staat ihre ganz spezifischen Grundrechte. Die „Fundamentalrechte" z. B. einer feudalen oder ständischen Monarchie sind nicht nur inhaltlich, sondern auch i n ihrer rechtslogischen Struktur anders geartet als die Freiheitsrechte eines liberalen Rechtsstaates, diese wieder anders als mittelalterliche Immunitäten, Exemtionen, Privilegien. Freiheiten und Libertäten 1 7 , u n d wiederum anders als die Grundrechte des werktätigen u n d ausgebeuteten Volkes i n einem sozialistischen Klassenstaat. Insbesondere dürfte es einleuchten, daß ein liberal-demokratischer Rechtsstaat, der Wert darauf legt, wesentlich nicht Privilegienstaat zu sein 1 8 , keine Privilegien und Sonderrechte, sei es einzelner Menschen, sei es von Korporationen oder Organisationen als Grundrechte anerkennen kann, ohne sich selbst i n einen Privilegienstaat zu verwandeln. E i n Staatswesen, i n welchem es nur Rechte einzelner Individuen als Grundrechte geben darf, hat eine andere Verfassung als ein stato corporativo m i t Grundrechten ständischer oder anderer Verbände; ein Staat, der auf dem unmittelbaren, gleichen u n d geheimen Wahlrecht der einzelnen Staatsbürger beruhen w i l l , k a n n nicht autonome soziale Kollektivitäten und Körperschaften, durch welche das I n d i v i d u u m allgemein oder für gewisse Rechtsbeziehungen dem Staate gegenüber mediatisiert w i r d , zu Träzu Art. 129; Giese, Anm. 3 zu Art. 129; Brand bei Nipperdey I I S. 231; ferner unten Anm. 64 und 84. 17 Auf einer irreführenden Gleichsetzung mittelalterlicher Freiheiten mit „der" Freiheit von 1789 beruht die These von R. v. Keller, Freiheiten der Person und des Eigentums im Mittelalter als verfassungsrechtliche Garantie, Münchener Diss. 1930. 18 R. Thoma, Erinnerungsgabe für Max Weber II, S. 44 ff., und Hdb. Bd. 1 S. 191.
G r u n d r e t e u n d G r u n d p f l i t e n (1932)
191
gern der politischen Willensbildung machen. D a m i t erledigt sich meines Erachtens das Programm einer Wirtschaftsverfassung, wie es A r t . 165 Abs. 2 ff. aufstellt, wenn man d a r i n ein staatliches Verfassungssystem verankert finden w i l l 1 9 . 2. Es besteht demnach einerseits ein sachlicher Zusammenhang, andererseits eine sachliche Verschiedenheit von Grundrechtsteil und organisatorischem Verfassungsteil. A u f die allgemeine Frage nach dem Verhältnis der beiden Verfassungsteile können drei Antworten gegeben werden: a) Erste Möglichkeit: Der Grundrechtsteil ist der maßgebende und richtunggebende T e i l für den Staat überhaupt u n d infolgedessen der gesamten staatlichen Organisation grundsätzlich übergeordnet b) Zweite Möglichkeit: Der organisatorische Teil enthält die eigentliche Verfassung, der Grundrechtsteil stellt Einschränkungen und Sicherungen gegenüber dem organisatorischen T e i l auf, steht aber grundsätzlich unter dem Vorbehalt des gemäß den organisatorischen Bestimmungen zustande gekommenen staatlichen Willens. Hier ist der Grundrechtsteil dem organisatorischen T e i l grundsätzlich untergeordnet. c) D r i t t e Möglichkeit: Der Grundrechts teil soll bestimmte Rechte, Interessen oder Sachgebiete aus der staatlichen Organisation eximieren. Das würde bedeuten, daß diese Rechte, Interessen oder Sachgebiete neben dem Staate ständen; hier würde keine Uber- oder Unterordnung vorliegen, sondern die eximierten Größen wären dem Staat grundsätzlich nebengeordnet ad a) Daß i n den Grundrechten eine für die gesamte staatliche Ordnung und jeden einzelnen Betätigungszweig maßgebende Gesamtentscheidung enthalten ist, deren Sicherung und Ausführung der Staat (government) zu dienen hat, entspricht logisch der natürlichen Unterordnung des Organisatorischen unter einen Zweck, dem es dient, und geschichtlich den Vorstellungen sowohl des mittelalterlichen 19
Darüber Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung S. 97 Anm. und die dort zitierte Literatur zu der Frage, ob Art. 165 Abs. 2 f. eine neben der Staatsverfassung einhergehende Wirtschaftsverfassung enthält. Die Unterscheidung einer Sozial- oder Gesellschaftsverfassung (im Gegensatz zur Staatsverfassung) ist nur eine Evasion vor dem eigentlichen Problem. Daß das Programm des Art. 165 Abs. 2 f. bisher nicht ausgeführt wurde, liegt nicht nur an parteipolitischen und ähnlichen Hemmungen, sondern an der sachlichen Unmöglidikeit, im Rahmen einer demokratischen Republik eine Wirtschaftsverfassung, die mehr ist als ein verschleierndes Wort, effektiv durchzuführen.
192
Grundrechte u n d G r u n d p f l i t e n (1932)
„Rechtsbewahrstaates" 20 wie auch der amerikanischen Rechtserklärungen des 18. Jahrhunderts und den Menschen- und Bürgerrechten von 1789 21 . Es liegt außerdem i m Gedanken des bürgerlichen Rechtsstaates überhaupt. Dieser Staat hat den Zweck und die Aufgabe, bestimmt geartete Grundrechte nicht zu gewähren, sondern nur zu gewährleisten, zu sichern und zu wahren. Seine Grundrechte sind daher notwendigerweise vor- u n d überstaatliche Rechte: „droits anterieurs et superieurs aux lois positives" 2 2 ; sie machen die „Verfassung" einer freien Gesellschaft aus, soweit man Prinzipien als Verfassung bezeichnen kann. Der Staat ist der Hüter dieser freien Gesellschaft u n d der gesellschaftlichen Freiheit, deren einziges Ordnungsprinzip eben die Freiheit ist. Die zwei Verfassungsteile entsprechen dann der Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft; die Grundrechte sind, wie Gneist es ausdrückt, „die Generalpostulate der Gesellschaft" an den Staat 2 3 . Daraus ergibt sich folgerichtig, daß vom Staat unabhängige Gerichte die Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung -unter dem Gesichtspunkt dieser Grundrechte prüfen, und der Staat i n diesem besonderen Sinne ein Justizstaat i s t 2 4 . Der 20
Diese Bezeichnung Fritz Kerns (Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, Leipzig 1914 I S. 143) läßt die Eigenart eines Staatsgebildes, das nur als Wahrer und Hüter eines unabhängig von ihm vorhandenen Rechts gedacht wird, prägnant hervortreten. 21 Art. 2 der Erklärung: „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme." 22 Preambule der französischen Verfassung vom 4. November 1848, I I I . 23 Gesetz und Budget, Berlin 1879, S. 7. 24 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung S. 13/14. Gegenüber den in Deutschland immer noch sehr starken Residuen des Vorkriegspositivismus sei bemerkt, daß es keineswegs „Metaphysik" oder „Metajurisprudenz" oder „Philosophie" oder „Naturrecht" oder „Soziologie" oder dergleichen ist, von vor- oder überstaatlichen Rechten zu sprechen, wenn man das Prinzip einer freien, den Staat als ihre Schutzorganisation aus sich herausstellenden Gesellschaft anerkennt; für den konsequenten Liberalismus angelsächsischer Denkart z.B. ist es umgekehrt „Staatsmetaphysik" und „Staatsbeamtenphilosophie", nur vom Staat gewährte und zu seiner Verfügung stehende Rechte anzunehmen. „Daß gegen die öffentliche Gewalt in Bund und Staat keine Klage bestehen sollte auf Grund der feierlich von den Verfassungen oder den Präjudizien der Gerichte verbürgten Freiheits- und Gleichheitsgrundsätze, würde dem englischen und amerikanischen Denken als der reine Widersinn erscheinen", Joseph Redlich, 5. Deutscher Juristentag in der Tschechoslowakei, Prag 1931 S. 21; vgl. z.B. auch F. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 275. Die in meinem verfassungstheoretischen Seminar Sommer 1931 von O. Kirchheimer formulierte allgemeine These, daß überhaupt nur ein Justizstaat (zum Unterschied von Gesetzgebungsstaat und Exekutivstaat) Grundrechte haben könne, soll hier wenigstens erwähnt werden.
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
Grundsatz der Gewaltenunterscheidung hat den gleichen Sinn: die staatliche Organisation so zu gestalten, daß die Grundrechte gewahrt bleiben; jeder anders oganisierte, d . h . jeder die materielle Verschiedenheit der Gewalten nicht unterscheidende Staat würde die gesellschaftliche Freiheit gefährden oder vernichten. Das Prinzip der Gewaltenunterscheidung dient also gleichfalls der Sicherung der Grundrechte und ist ihnen untergeordnet als ein bloß organisatorisches Prinzip25. Der heutige deutsche Staat läßt sich n u n freilich nicht als Hüter und Wächter der Sätze des zweiten Hauptteils definieren 2 6 u n d ist alles andere als ein Justizstaat i n dem vorgenannten amerikanischen Sinne. A u c h A r t . 131 RV. (privatrechtliche H a f t u n g der Körperschaft für Amtsmißbrauch des Beamten) soll i h n nicht dazu machen; man darf aus dieser Bestimmung das allgemeine Prinzip einer den Staat i m Interesse der Gesellschaft u n d ihrer Grundrechte kontrollierenden Justiz ebensowenig herauslesen 27 , wie aus den beiden anderen Rechtswegartikeln A r t . 129 Abs. 1 u n d 153 Abs. 2. Trotzdem ist es eine auch praktisch bedeutungsvolle Frage, ob der zweite H a u p t t e i l eine Gesamtentscheidung enthält, die, wenn auch i n Gestalt eines sachlichen Kompromisses, als solche für die Gesamtrichtung des gemäß dem ersten Verfassungsteil izu bildenden staatlichen Willens u n d für alle Gebiete staatlicher Willensbetätigung zu beachten ist, die den Sach25
Die Aufeinanderfolge ist umgekehrt, wie Thoma, Nipperdey I S. 15 f. sie konstruiert, wenn er ein „aus der Gewaltenteilung entspringendes allgemeines Freiheitsrecht" annimmt. I n Wirklichkeit entspringt die Gewaltenunterscheidung dem Gedanken, die Freiheit zu sichern. So jetzt auch sehr treffend Nadolski a.a.O. S. 39. 26 Immerhin ist in Art. 120 RV. das Erziehungsrecht der Eltern als „natürliches Recht" bezeichnet, über dessen Betätigung „die staatliche Gemeinschaft wacht". 27 Daher halte ich auch R.Thomas Äußerung, Nipperdey I S.28: „Dieses Prinzip ist eine der tragenden Säulen des Gebäudes des deutschen Rechtsstaats" für übertrieben. Es handelt sich in Art. 131 um eine der mancherlei „Verankerungen" in der Hauptsache bereits geltender gesetzlicher Bestimmungen, die in nicht höherem Grade fundamental genannt werden dürfen, wie zahlreiche andere, und die, wenn sie wirklich in den Mittelpunkt gerückt würden, nur die im Text genannte Wirkung hätten, daß das Deutsche Reich ein Justizstaat amerikanischen Stils würde. Das hat Thoma offenbar nicht gemeint. Auch das Reichsgericht (RGZ. 118 S. 326/327; 130 S. 332) erkennt die Möglichkeit eines Mißbrauchs und einer Umgehung des Art. 131 an und lehnt beides ab. Vgl. im übrigen auch Radioff, Das Problem der Haftung für Amtspflichtverletzung, JW. 1929 S. 1776 und besonders auch W. Hofackers Kritik in der Schrift „Die Verkehrssicherungspflicht", 1929 u. a. a. St. — Vgl. Handbuch I I S. 622. 13
Carl Schmitt
194
Grundrechte u n d Grundpflichten (1932)
inhalt angibt, i n dem man loyalerweise einen „Boden der Verfassung" finden und aus der man bei gutem W i l l e n ihren Geist erschließen kann. D a ß der zweite H a u p t t e i l als „Niederschlag der gegenwärtigen deutschen Rechtskultur und zugleich i n mehrfacher Hinsicht als ein Programm künftiger Rechtsentwicklung angesehen werden kann", ist eine oft zitierte Redewendung des Abgeordneten Düringer, des Berichterstatters des Verfassungsausschusses 28 . Nach R. Smend soll der Grundrechtsteil die sachlichen Integrationsfaktoren angeben und ein inhaltliches „Sinnsystem" der vom ganzen deutschen Volke anerkannten Kulturwerte bedeuten, denen alle staatliche Betätigung in Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Justiz unterworfen ist. „ I n der Kompromißlinie dieses Programms findet sich das deutsche Volk i n der Weimarer Verfassung zusammen — i n der Durchführung dieses Programms soll der Staat der Weimarer Verfassung dauernd seinen Inhalt finden, sich verwirklichen" 2 9 . Wenn der zweite H a u p t t e i l allerdings keine andere Einheit i n sich trägt, als diejenige, die Richard Thoma i h m zugestehen w i l l , nämlich das „einigende Band" einer allgemeinen, nicht a des deutschen Volkseinkommens i n irgendeiner Form von der öffentlichen Hand kontrolliert werden. Staatliche Macht bedeutet also heute i n einem ganz anderen Sinne als früher gleichzeitig eine Macht über einen großen Teil des Volks-
Machtpositionen des modernen Staates (1933)
einkommens und der Volkswirtschaft selbst. Das bedeutet schon an sich eine starke Machtposition, bewirkt aber außerdem i n einer wiederum unaufhaltsamen Progression fortwährend neue Machtpositionen. Denn daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines großen, auf längere Dauer berechneten Planes, selbst wenn dieser Plan die Wiederherstellung eines planlos funktionierenden Wirtschaftssystems zum Ziele hat. Sowohl die Aufstellung wie die Durchführung des wirtschaftlichen Planes erfordert wesentlich politische Macht. Ich bin durchaus der Ansicht von Hans Freyer, daß nicht die Planenden herrschen, sondern umgekehrt, die Herrschenden planen 2 . Ich glaube also, daß die politische Macht und Herrschaft das Primäre und die unentbehrliche Voraussetzung für einen effektiven Wirtschaftsgesamtplan ist, und nicht umgekehrt der Plan eine Herrschaft begründet. Das schließt aber nicht aus, sondern schließt i m Gegenteil in sich, daß i n der Folge Wirkung eines solchen Planes unvermeidlich neue Machtpositionen entstehen.
Erschienen i m Märzheft 1933 der von W i l h e l m Stapel u n d A l b r e d i t Erich Günther herausgegebenen Zeitschrift „Deutsches Volkstum* 4 . Das wissenschaftliche Interesse des Aufsatzes ist darauf gerichtet, die neue Situation zu sehen, u m das w i r k l i c h e Verhältnis von Konsens u n d Macht u n d Macht u n d Konsens zu erkennen u n d einen Ansatz für richtige Fragestellungen und neue Kategorien verfassungstheoretischer Betrachtung zu finden. Die beiden Fragen, die sich dabei als besonders brauchbar u n d aufschlußreich erwiesen, waren erstens die Frage des Zugangs zum Machthaber u n d zweitens die Frage der Nachfolge i n die Macht. Von diesen beiden Fragen ist die erste unten S. 430—39 behandelt. 1 Hans Frey er, Herrschaft u n d Planung, Hamburg, Hanseatische Verlags anstalt 1933.
Allgemeines
Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941) Die folgenden Darlegungen sollen einen für fast vierhundert Jahre Maß und Richtung bestimmenden Wendepunkt der europäischen Geschichte i n das rechte Licht stellen, nämlich den Beginn des Zeitalters der Staatlichkeit. I n diesem Zeitalter, das vom 16. bis 20. Jahrhundert reicht, ist der Staat der alles beherrschende Ordnungsbeigriff der politischen Einheit. Mancherlei Faktoren verschiedener A r t haben zur E n t w i c k l u n g und Ausprägung des Staates beigetragen, und viele Vorläufer, Übergänge und Entwicklungsgrade sind, wie überall so auch hier, aufweisbar. Aber der durch menschliche T a t und Entschluß bewirkte Wendepunkt läßt sich trotzdem in aller Schärfe erkennen. Ich möchte den entscheidenden Ansatz i n die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts legen. Das ist eine für das damalige Deutschland ziemlich traurige und wenig tatenreiche Zeit. U m so bedeutungsvoller wurden ihre Entscheidungswirkung und ihr Wendepunktcharakter für die europäische und die gesamte Weltgeschichte. I m 16. Jahrhundert beginnt der K a m p f um die Neuordnung deT neu entdeckten Erde. Es bilden sich die großen Fronten des Weltkatholizismus und Weltprotestantismus. Von Frankreich, Holland u n d England her werden die ersten erfolgreichen Vorstöße gegen das Seeherrschaftsmonopol der katholischen Westmächte Spanien u n d Portugal unternommen. Aus den konfessionellen Bürgerkriegen entsteht i n Frankreich der Gedanke der souveränen politischen Entscheidung, die alle theologisch-kirchlichen Gegensätze neutralisiert und das Leben säkularisiert, auch wenn die Kirche Staatskirche wird. I n dieser Lage haben die Begriffe Staat u n d Souveränität i n Frankreich ihre erste maßgebende juristische Ausprägung gefunden. D a m i t t r i t t die spezifische Organisationsform „souveräner Staat" in das Bewußtsein der europäischen Völker. Sie macht für die Vorstellungsweise der nächsten Jahrhunderte den Staat zur einzigen normalen Erscheinungsform der politischen Einheit überhaupt. Das alte deutsche Reich m i t seiner Gemengelage feudaler, ständischer u n d kirchlicher Verfassungselemente w i r d dadurch ins Mittelalter abgedrängt;
376 Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
es kann, da es ein Reich und kein Staat ist, „nicht mehr begriffen werden". Das Völkerrecht verwandelt sich in ein zwischenstaatliches Recht; die bewaffnete Auseinandersetzung w i r d aus Fehden oder Privatkriegen zum Staatenkrieg. Wie sehr dieser Begriff Staat die alles beherrschende Ordnungsvorstellung Europas geworden ist, zeigt sich schließlich darin, daß er i m 19. Jahrhundert zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff, zu der politischen Ordnungsvorstellung der Weltgeschichte überhaupt gemacht werden konnte. Noch heute hört man statt von der griechischen Polis oder von der römischen Republik vom „antiken Staat" der Griechen und Römer, statt vom Reich vom „deutschen Staat des Mittelalters" und gar von den Staaten der Araber, Türken oder Chinesen sprechen. Eine durchaus zeitgebundene, geschichtlich bedingte, konkrete und spezifische Organisationsform der politischen Einheit verliert auf diese Weise ihren geschichtlichen O r t und ihren typischen I n h a l t ; sie w i r d i n irreführender Abstraktheit auf gänzlich verschiedene Zeiten und Völker übertragen u n d i n völlig andersartige Gebilde und Organisationen hinednprojiziert. Diese Erhebung des Staatsbegriffes zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten u n d Völker w i r d wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen. Sie kommt aber auch heute noch vor, und deshalb sei hier der konkret-geschichtliche und spezifische Charakter des Staatsbegriffes als einer an das 16. bis 20. Jahrhundert europäischer Geschichte gebundenen, politischen Ordnungsvorstellung von Anfang an außer Zweifel gestellt. Das Land, das zuerst i m „Staat" und i n der „Souveränität" die Rettung aus den Religionskriegen und die Lösung seiner innerpolitischen Schwierigkeit fand, war Frankreich. Jean Bodin: ein französischer Jurist typischer A r t , Vertreter der legistischen Tradition seines Landes, hat bekanntlich die erste Definition der Souveränität gegeben. Sein Buch, das 1576 erschien, heißt „ S i x livres de la Republique", die lateinische Ausgabe sagt: res publica. Bezeichnenderweise w i r d also das W o r t „Staat" i m T i t e l selbst noch nicht gebraucht. Aber gegenüber der Wirrnis der aus dem Mittelalter überkommenen feudalständischen Rechtsüberzeugungen t r i t t die Notwendigkeit der souveränen, staatlichen Entscheidung innerhalb einer politischen Einheit so einfach und k l a r hervor, daß m i t dieser j u ristisch-dezisionistischen Klärung eine unwiderstehliche W i r k u n g auf die übrigen europäischen Länder verbunden war. Das gelehrte und materialreiche Buch des Juristen Bodin ist ein wesentliches Erzeugnis
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
dieser Wendezeit. Sein Verfasser hat auf vielen Gebieten einen bedeutenden Namen, sowohl als Jurist, wie als „politicien" sedner Zeit, auf ökonomischem Gebiet als Begründer der sogenannten Quantitätstheorie i n der Geldlehre, auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet durch viele originelle Beobachtungen, und endlich ist er, mit seinem „Heptaplomeres", ein erstaunlich kühner Bahnbrecher des modernen Toleranzgedankens. Das 1576 erschienene Buch selbst ist nicht mit anderen noch so bedeutsamen rechts wissenschaftlichen oder geschichtlichen Schriften zu vergleichen. Seine umfangreichen gelehrten Ausführungen sind freilich vergessen; aber die sofortige und nachhaltige W i r k u n g seines Souveränitätsbegriffes war i n ganz Europa außerordentlich. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Gedanke der den Konfliktsfall entscheidenden Souveränität überall, besonders auch in Deutschland, allgemein einleuchtete, ist noch fast hundert Jahre später in Pufendorffs berühmter Abhandlung de Statu Imperii Germanici (1667) mit unverminderter Schlagkraft zu erkennen. I m Souveränitätsbegriff Bodins ist eine juristische Begriffsbildung auf eine ungewöhnliche Weise m i t einer politischen Wirklichkeit zusammengetroffen. N u r deshalb konnte der juristische Begriff in solchem Maße einer neuen OrdnungsVorstellung zum Siege verhelfen. Daß es sich dabei gerade um eine juristische Begriffsbildung handelt, entspricht der eigentümlichen innerpolitischen E n t w i c k l u n g und Geistesprägung des französischen Volkes. Indem die Könige von Frankreich, beraten und vorwärtsgetrieben von ihren Legisten, den ersten größeren modernen Staat schufen und sich als Souveräne dieses Staates durchsetzten, machten sie Frankreich für lange Zeit zum Prototyp und zum klassischen Beispiel dessen, was man damals unter dem vollkommenen Bild einer souveränen Macht verstand. Frankreich bestimmte als europäische Macht das innere Maß und die Dimensionen des neuen Ordnungsbegriffes. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß das Wort „Staat" schon durch Macchiavelli i n das politische Vokabularium der europäischen Völker eingeführt worden ist. Auch haben die vielfältigen Bedeutungen des Wortes Status und bei der deutschen Wortbildung sicher auch Anklänge raumhafter Vorstellungen wie Stadt und Stätte mitgespielt. Aber die Überwindung der feudal-ständischen Rechtsanschauungen durch eine eindeutige, höchste, souveräne Entscheidung und damit der neue europäische Maß- und Ordnungsbegriff „Staat"
378 Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
gehören zu der politischen Situation, die in der Souveränitätslehre des französischen Juristen Bodinus ihren existentiell adäquaten Ausdruck fand. Nicht die Kleinwelt 'italienischer Stadttyrannen der Renaissance, weder die Castruccio Castracanis noch die Cesare Borgias vermochten einen neuen europäischen Maß- und Ordnungsbegriff durchzusetzen. U n d die späteren deutschen Klein- und Mittelstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts wurden bereits im Gefolge des von Frankreich durchgesetzten Souveränitätsbegriffes als bloße Gewichtsteine i n das große Spiel der europäischen Gleichgewichtspolitik hineingeworfen. Der Souveränitätsbegriff hat schon bei Bodinus selbst nicht etwa nur innerpolitische Bedeutung für das von Bürgerkriegen zerrissene Frankreich. Obwohl die gesamteuropäischen Auswirkungen der neuen OrdnungsVorstellung erst im 17. und 18. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangen, behandelt doch auch bereits Bodin in einem wissenschaftlich leider wenig beachteten, aber höchst aufschlußreichen Kapitel seines Buches (I, Cap. 9: D u Prince tributaire ou feudataire, et s'il est Souverain) die außenpolitische Lage Europas unter dem Gesichtspunkt seines Souveränitätsbegriffes. Er w i r f t einen prüfenden Blick auf ganz Europa, um an H a n d der neugefundenen Ordnungsvorstellungen Souveränität und Staat i n das Durcheinander der europäischen feudalen Bindungen Ordnung zu bringen. So kann er schon einige Länder Europas aufzählen, die er für souveräne Staaten hält: außer Frankreich sind es England, Schottland, Dänemark, die einzelnen Schweizer Kantone, das Reich des Knez von Moskau, Polen. A u f italienischem Boden gibt es für i h n nur einen souveränen Staat: Venedig. I n Deutschland sind weder der Kaiser noch die Fürsten noch die Reichsstädte souverän. Hier w i r d schon fast hundert Jahre vor der eben erwähnten Schrift Pufendorffs deutlich sichtbar, daß das mittelalterliche deutsche Reich der Sprengkraft des neuen Ordnungsbegrdffes „souveräner Staat" zum Opfer fallen mußte. M i t dem neuen Ordnungsbegriff Staat beginnt allmählich die Beseitigung der feudalen und ständischen Gemengelage des Mittelalters. Der Staat stellt eine territorial geschlossene Einheit her. Der Rechtsgedanke der staatlichen Souveränität ist der erste entscheidende Schritt auf dem weiteren Wege, der in den folgenden Jahrhunderten zu der räumlich geschlossenen, gegen andere Staaten mathematisch scharf abgegrenzten, in sich zentralisierten und durch-
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
rationalisierten Einheit Staat geführt hat. Die spezifischen Organisationsmittel der einheitlichen Staatsgewalt sind bekanntlich: staatliche Armee, staatliche Finanz und staatliche Polizei. Das Recht verwandelt sich immer mehr i n ein staatliches, von der staatlichen Justiz gehandhabtes Gesetz u n d findet seine sachgemäße Erscheinungsform i n staatlichen Gesetzeskodifikationen. Mittelalterliche Korporationen und Institutionen, feudale, ständische oder kirchliche Verbände verlieren Sinn und Bedeutung. Die Kirche insbesondere w i r d entweder ein M i t t e l zur Aufrechterhaltung öffentlicher Ruhe, Sicherheit und O r d n u n g als ein M i t t e l staatlicher Polizei und Volkserziehung, oder zur bloßen Privatsache des frommen Individuums. Soweit sie noch Machtansprüche erhebt, entwickelt sich die immer schärfere Trennung von äußerlich vorgeschriebenem, staatskirchlichem K u l t u n d innerer Gläubigkeit. Selbst die römische Kirche der Gegenreformation weiß für ihre Ansprüche i n der neuen, vom souveränen Staat her bestimmten Situation nur den Begriff der potestas indirect a aufzustellen, wie i h n der Theologe der Gegenreformation, Bellarmin, als vieldeutigen, alle Nebentüren offenhaltenden Ausweg gefunden hat. F ü r einige Jahrhunderte ist der Zwang zur Staatlichkeit unwiderstehlich. Auch das deutsche V o l k mußte durch den Engpaß der staatlichen Souveränität hindurchgehen, ehe es einem neuen Deutschen Reich möglich wurde, für Deutschland die Führung in Europa zurückzugewinnen. Diese E n t w i c k l u n g zur staatlichen Souveränität ist als geschichtliche Gesamterscheinung bekannt. Sie läßt sich von vielen Seiten her betrachten u n d durch viele Daten periodisieren. Sie setzt i n dem hier von uns ins Auge gefaßten Zeitabschnitt, der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts, m i t den ersten, freilich entscheidenden Anfängen ein und vollendet sich erst ein und zwei Jahrhunderte später. Insbesondere w i r d die E n t w i c k l u n g zur territorialen, m i t scharfen Lineargrenzen gegen den Nachbarstaat abgeschlossenen Staatlichkeit erst durch die Französische Revolution von 1789 restlos zu Ende geführt. Vorher, besonders noch i m 16. und 17. Jahrhundert, ist der neue, spezifisch staatliche Begriff der Grenze noch undeutlich und sind die Grenzen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich oder zwischen England u n d Schottland vorläufig noch mehr als „border", als Kampfzonen und nicht als moderne Demarkationslinien anzusehen. Trotzdem beginnt schon mit dem Souveränitätsbegriff das, worauf es ankommt: der souveräne Staat ist nicht nur der neue, die mittelalterliche Reichs- und Gemeinschaftsordnungen
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
beseitigende Ordnungsbegriff i m allgemeinen, er ist vor allem auch der neue ffaumordnungsbegriff, und zwar ist er nicht irgendeine neue, vorangehende Ordnungsvorstellungen ablösende Ordnung. Das Wesentliche ist vielmehr, daß er die neuen Raumordnungsvorstellungen i n dem geschichtlichen Augenblick bestimmt, in dem eine große und bisher beispiellose planetarische Raumrevolution ihre ersten weltpolitischen und völkerrechtlichen Auswirkungen zeigte. Die Veränderung des planetarischen Erd- und Weltbildes, die durch die Umseglung der Erde und durch die Entdeckung eines neuen Erdteiles eintrat, begann alle bisherigen Verhältnisse zu verwandeln. A l l e geistigen Strömugen dieser Zeit tragen zur Raumrevolution bei: Renaissance, Reformation, Humanismus und Barock. Die großen mathematischen, mechanistischen und physikalischen Entdeckungen und die Veränderungen i m astronomischen und kosmologischen W e l t h i l d setzen sich erst i m 17. Jahrhundert durch. Aber die europäische Menschheit macht sich schon jetzt im 16. Jahrhundert daran, die politischen Folgerungen daraus zu ziehen, daß sich eine neue Welt eröffnet hat und daß neue Grundlagen der Weltordnung gelegt werden müssen. Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Vorkämpfer der Rauiiirevolution, Giordano Bruno und Galilei, werden jetzt auch politisch verfolgt und fallen der Zensur und der Inquisition zum Opfer, während Kopernikus wenige Jahrzehnte vorher m i t seiner Entdeckung noch unangefochten blieb. Aber für ihn war auch, zum Unterschied von Giordano Bruno, die Welt noch begrenzt und keineswegs unendlich. Jetzt dagegen, mit der Entstehung des neuen plaiietarischeii Erdbildes, öffnet sich der unbegrenzte, unbegrenzbare, unendliche Weltenraum. I n dieser Raumrevolution liegt die „Modernität" des 16. Jahrhunderts. Sie liegt nicht i n den Renaissanceanklängen an individualistische Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts, die den Wirtschaftshistoriker und Professor der Sorbonne Henri Hauser veranlaßt haben, das 16. Jahrhundert sogar als eine prefiguration des 20. Jahrhunderts hinzustellen, obwohl es in anderer Hinsicht noch tief im Mittelalter steckt. Der französische Staat findet die ersten, auch begrifflich klaren Ansätze zu der inneren Form, die ihn für lange Zeit zur führenden Macht des europäischen Kontinents gemacht hat. Er w i r d für lange Zeit der Staat schlechthin. Die Formeln seiner Staatlichkeit werden Rechtsbegriffe in diesem Bereich menschlichen Bewußtseins; seine Sprache w i r d die Sprache des diplomatischen und Völkerrecht-
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
liehen Verkehrs der europäischen Völker. Die Lehre von den natürlichen Grenzen kann mit großem Erfolg als Ordnungsnorm Europas aufgestellt werden. D a m i t liefert er aber auch einen wichtigen Maßbegriff der neuen Raumordnungsvorstellung. Das vom französischen Staat her gewonnene Maß ist groß und sogar großartig im Verhältnis zu der grauenhaften Enge und Kleinräumigkeit der Staaten italienischer Stadttyrannen und Condottieri. Aber es ist doch bescheiden und eng, gemessen an der unendlichen Weite des i n diesem Jahrhundert sich eröffnenden neuen, planetarischen Weltbildes. Denn dieser Begriff des souveränen Staates war, unter den Gesichtspunkten einer Raumordnung gesehen, eine land- und erdgebundene Vorstellung. Er war ein kontinentalstaatlicher Begriff. Er stellte nur eine der vielen Auswirkungen der großen Raumrevolution dieses und des folgenden Jahrhunderts dar. Er erfaßte vor allem nicht die andere, weitaus größere Seite, er traf und betraf nicht das Meer. Hier, von der Meeresseite her, erscheint das Gegenteil der spezifisch staatlichen, geschlossenen und begrenzten Raumvorstellung. Hier w i r d das freie, d. h. das von einer staatlichen Raumordnung freie, nicht von staatlichen Grenzen durchzogene Meer die maßgebende Raum Vorstellung der W e l t p o l i t i k und des Völkerrechts. Auch die Entwicklung zur Meeresfreiheit braucht, bis sie zur praktischen wie zur begrifflichen Klarheit und zu eindeutigen Formeln gelangt ist, noch mehrere Generationen Zeit. Sie w i r d in -ihrem heutigen Sinne erst i m 18. Jahrhundert handgreiflich. Die genauere Bestimmung der Linie, an der die Küstenzone aufhört und das freie Meer beginnt, entwickelt sich erst i m 18. Jahrhundert. Eigentlich ist es erst Pufendorff, dem es (1672) zum wissenschaftlichen Bewußtsein kommt, daß die Weltozeane doch etwas anderes sind als die europäischen Meeresbecken, an die die bisherige Jurisprudenz meistens dachte, wenn sie das Problem des Meeres mit H i l f e römisch-rechtlicher Formeln erörtert. Erst m i t Bynkershoek (1703) siegt die schon früher gelegentlich geltend gemachte Vorstellung, daß die staatliche Souveränität des Uferstaates sich so weit ins Meer hinein erstreckt, wie die Waffen tragen (ubi f i n i t u r vis armorum). Und erst mit einer Schrift von Galiani aus dem Jahre 1782 steht die berühmte Drei-SeemeilenGrenze des Küstenmeeres fest. Der K a m p f u m die Weltozeane setzt mit großer K r a f t bereits in dem hier i n Betracht kommenden Zeitabschnitt, in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein, als der K a m p f Frankreichs, Hollands und Eng-
382 Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
lands gegen die Monopolansprüche der spanischen und portugiesischen Seeherrschaft begann. So kommt es zu einer nach L a n d und Meer ganz entgegengesetzten, zwischen Geschlossenheit u n d Offenheit polaren E n t w i c k l u n g der Raumordnungsbegriffe. Das feste Land w i r d Staatsgebiet, das Meer bleibt frei, d. h. staatsfrei, nicht Staatsgebiet. Es bildet sich der erstaunliche Dualismus des europäischen Völkerrechts der letzten Jahrhunderte. Die übliche, unterschiedslose Bezeichnung „Völkerrecht" ist falsch und irreführend, da hier in W i r k l i c h k e i t zwei zusammenhanglose Völkerrechte nebeneinander gelten. Eine europazentrische Weltordnung entsteht, aber sie bricht sofort nach L a n d und Meer auseinander. Das L a n d ist aufgeteilt in territorial geschlossene Staatsgebiete souveräner Staaten, das Meer dagegen bleibt staatsfrei. Was bedeutet das i n einem zwischenstaatlichen Völkerrecht, dessen alles beherrschender Ordnungsbegriff der Staat ist? Es kennt keine Grenzen und w i r d ein einziger, ohne Rücksicht auf geographische Lage und Nachbarschaft einheitlicher Raum, der sowohl für den friedlichen Handel wie gleichzeitig aber auch für die Kriegführung aller Staaten unterschiedslos „ f r e i " sein soll. Zwei derartig verschiedenen Raumvorstellungen von L a n d und Meer müssen zwei völlig verschiedene Völkerrechtsordnugen entsprechen, ein Völkerrecht des Meeres und ein ganz anderes des Landes. Jedes hat einen eigenen, von dem des andern völlig verschiedenen Kriegs- und Feindbegriff. Zu Lande w i r d der Staat zum einzigen normalen Subjekt des Völkerrechts, daher zum einzigen Träger der Ordnung, des Fortschritts und der Humanisierung. Der Landkrieg insbesondere w i r d dadurch verrechtlicht, daß er zu einem Staatenkrieg, d. h. zur bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den staatlichen Armeen der Kriegführenden wird. A l l e Rationalisierung, Rationierung i m Sinne der Parzellierung und Vermeidung der Totalität des Krieges liegt für den Landkrieg darin, daß er i n immer schärferer Zuspitzung zu einem zwischen-staatlichen, von staatlich organisierten Armeen geführten, die Zivilbevölkerung und das Privateigentum verschonenden, reinen Staatenkrieg wird. Der Seekrieg dieser Völkerrechtsordnung dagegen ist kein Kombattantenkrieg, sondern beruht auf einem totalen Feindbegriff, der sowohl jeden feindlichen Staatsangehörigen, wie auch jeden, der m i t dem Feinde Handel treibt und die Wirtschaft des Feindes stärkt, als Feind behandelt: für diesen Krieg w i r d unbeirrt daran festgehalten, daß das Privateigentum des Feindes Gegenstand des Seebeuterechts
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941) bleibt,
daß
mit
dem
völkerrechtlich
anerkannten,
spezifisch
see-
k r i e g s r e c h t l i c h e n M i t t e l der B l o c k a d e unterschiedslos d i e gesamte Bev ö l k e r u n g des b l o c k i e r t e n Gebietes g e t r o f f e n u n d m i t H i l f e des a n deren,
ebenfalls
völkerrechtlich
seekriegsrechtlichen
Mittels,
Privateigentum erfaßt werden
des
anerkannten,
ebenfalls
Prisenrechts,
sogar
spezifisch
das
neutrale
kann.
Z w e i d e r a r t i g verschiedene K r i e g s - u n d F e i n d b e g r i f f e
lassen sich
nicht auf einen gemeinsamen Begriff bringen. U n d die Verschiedenheit der Kriegsbegriffe g i b t a u c h dem zwischen d e n K r i e g e n liegend e n F r i e d e n v o n selbst einen v e r s c h i e d e n e n I n h a l t . So ist es n i c h t z u v i e l gesagt, w e n n
wir
hier
feststellen,
daß hinter den
üblichen
F o r m e l n u n d R e d e w e n d u n g e n v o n „ d e m " V ö l k e r r e c h t z w e i t o t a l verschiedene
Völkerrechtsordnungen,
gegengesetzter R e c h t s b e g r i f f e
zwei
unvereinbare
Welten
ent-
stehen.
Es handelt sich u m den ersten T e i l eines Vortrages, den ich auf der Historiker-Tagung i n Nürnberg am 8. Februar 1941 gehalten habe. Der Vortrag ist unter dem T i t e l „Staatliche Souveränität u n d freies Meer — Uber den Gegensatz von L a n d u n d See i m Völkerrecht der Neuzeit" i n der Sammlung der Vorträge dieser Tagung „Das Reich u n d Europa" bei Koehler & Amelang i n Leipzig 1941 erschienen; vgl. die Besprechung von C a r l B r i n k m a n n i n der Historischen Zeitschrift, Bd. 167, S. 361/362. Der Teil des Vortrages, der den Gegensatz von Land u n d Meer behandelt, ist i n meinem Buch „Der Nomos der Erde", Greven-Verlag Köln, 1950, S. 143 ff. weiterentwickelt. Serge M a i w a l d hat die These zur Grundlage einer umfangreichen Arbeit gemacht und die Verschiedenheit der Begriffe Staat, Gesellschaft u n d Eigentum in der atlantischen u n d i n der kontinentalen Rechtsordnung systematisch herausgearbeitet. Seine umfangreiche Arbeit ist Fragment geblieben, doch sind einzelne Stücke daraus i n der damals von M a i w a l d herausgegebenen Zeitschrift „Universitas" i n den Jahren 1950 bis 1952 veröffentlicht worden, insbesondere drei Aufsätze unter dem T i t e l „Zwischen Freiheit u n d D i k t a t u r — Das atlantische System i m permanenten Ausnahmezustand". 1. Der hier abgedruckte erste T e i l soll zum Bewußtsein bringen, daß „Staat" kein für alle Völker und Zeiten gültiger Allgemeinbegriff, sondern ein geschichtlicher, an eine bestimmte Epoche gebundener, konkreter Begriff ist u n d daß es ein Fehler, u m nicht zu sagen eine Fälschung war, durch die Verwendung des Wortes „Staat" typische Vorstellungen der staatlichen Epoche i n andere Zeiten und Situationen hineinzuprojizieren. I m 19. Jahrhundert hatte m a n sich daran gewöhnt, m i t größter Selbstverständlichkeit vom „Staat" der Athener und der Römer, vom „Staat" des Mittelalters u n d der Azteken zu sprechen. Das w a r eine schlimmere Fehlerquelle, als wenn man vom Bienen- oder Ameisenstaat spricht, denn bei diesen Tier„staaten" handelt es sich nicht um geschichtliche Begriffe.
384 Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941) Sowohl den Historikern wie den Juristen des 19. Jahrhunderts w a r die Verallgemeinerung und Verabsolutierung des Staatsbegriffes zu einer stillschweigenden Selbstverständlichkeit geworden. Wer heute die Kontroversen etwa zwischen Rudolph Sohm und Georg von Below liest, k a n n über ihre Verwendung des Wortes „Staat" nur staunen. Bei einem so großen Juristen und Historiker wie Rudolph Sohm ist seine berühmte Lehre von der Unmöglichkeit des Kirchenrechts ganz unverständlich, wenn man nicht stets i m Auge behält, daß er Recht und staatliches Gesetz stillschweigend identifiziert. D i e Abneigung gegen eine wissenschaftliche K l ä r u n g w a r infolgedessen allgemein. Erst das Buch von Otto Brunner „ L a n d u n d Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands i m Mittelalter" (verlegt bei Rudolf M. Rohrer i n Baden bei Wien, Brünn/ Leipzig/Prag, 1. Auflage 1939) hat m i t einigem Erfolg den A n f a n g einer Klärung bewirkt. I n M a x Webers Soziologie hat das W o r t einen geschichtlich-konkreten Sinn; Staat ist für M a x Weber eine spezifische Leistung und ein Bestandteil des occidentalen Rationalismus und darf schon deshalb nicht m i t Herrschaftsorganisationen anderer K u l t u r e n u n d Epochen gleich benannt werden. A n der H a n d des Stichwortes „Staat" i n dem vorzüglichen Sachregister der von Johannes Winckelmanfi besorgten 4. Auflage von Staat u n d Gesellschaft (1955) S. 1018/19 läßt sich der Wortgebrauch M a x Webers gut feststellen. Er zeigt jedenfalls schon eine starke Tendenz zum geschichtlichepochalen, nicht beliebig übertragbaren Sinn des Wortes. A u c h gegenüber Prägungen w i e Patrimonialstaat, Feudalstaat u n d Ständestaat bleibt er von den retrospektiven Suggestionen frei, die m i t einem v e r a l l gemeinernden Gebrauch des Wortes Staat verbunden sind. Bei dem Ausdruck „mittelalterlicher Staat" haben Juristen schon früh die Begriffsverwischung empfunden, so Hermann Heller i n seiner Staatslehre 1934 u n d Ernst Forsthoff i n seiner Verfassungsgeschichte 1941. Einen entscheidenden Fortschritt brachte die Arbeit von Ernst Kern „Moderner Staat u n d Staatsbegriff" (Rechts- u n d staatswissenschaftlicher Verlag, H a m b u r g 1949), der i n einer glänzenden Auseinandersetzung sowohl der Übertragung auf andere historische Ordnungsgebilde wie und insbesondere auch der retrospektiven Staatsbetrachtung des Positivismus entgegentrat u n d die Forderung einer „quellenverbundenen Begriffssprache" erhob. Leider war ihm unser oben abgedruckter Aufsatz nicht bekannt. 2. Die Frage war jahrelang das Thema lebhafter Meinungsverschiedenheiten zwischen Johannes Popitz und mir. Noch seine letzte wissenschaftlich-theoretische Ausarbeitung, ein Manuskript von 35 Seiten Maschinenschrift, betraf die Auseinandersetzung m i t meiner These von der Epoche-Gebundenheit des Begriffes Staat. Popitz hielt daran fest, daß Staat ein allgemeingültiger Begriff bleiben müsse. Er fürchtete, m i t dem W o r t u n d dem Begriff auch eine wesentliche Substanz preiszugeben u n d das, was von einem Reich der objektiven Vernunft noch übriggeblieben war, der Partei auszuliefern. Ich verstehe diese Sorge und teile sie durchaus. Aber m i r scheint, daß man darüber die Wirklichkeit unserer Situation nicht vergessen darf. Sowohl die liberale westliche Demokratie, wie der marxistische Kommunismus, wie auch die damaligen Formationen des Hitler-Regimes suchten den Staat zu einem In-
Staat als konkreter, an geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)
386
strument oder einer Waffe zu entwerten. Mindestens ebenso unwiderstehlich wie zur Zeit Tocquevilles die Demokratie, ja, noch weit unwiderstehlicher, breitet sich heute das Verwaltungssystem der Massen-Daseinsvorsorge i n den industrialisierten Ländern aus. A r t . 4 der T r u m a n - D o k t r i n vom 20. Januar 1949 hat die Unterscheidung von industriell entwickelten u n d industriell nichtentwickelten Gebieten gemacht. D a r i n konnte Alexandre Kojeve den neuen Nomos der Erde erblicken. Angesichts einer solchen Wirklichkeit müssen w i r uns vor einem übergeschichtlichen Idealismus hüten u n d dürfen den Staat nicht zu einer ideologischen Angelegenheit machen. Etwas anderes ist es, wenn w i r , i n voller Erkenntnis dieser Situation, die freiwilligen u n d unfreiwilligen Beschleuniger auf dem Wege i n den A b grund restloser Funktionalisierung aufzuhalten u n d die Institutionen zu wahren suchen, die noch Träger einer geschichtlichen Substanz u n d Kont i n u i t ä t sein können. Das ist der Sinn der Lehre von den institutionellen Garantien (oben S. 140 f., 174 f.). Ähnlich wie ein legitimer Fürst des 16. und 17. Jahrhunderts die Ausnahmesituationen des konfessionellen Bürgerkrieges nur m i t H i l f e überkommener u n d bestehender Einrichtungen überwinden und i m „Staat" ein Reich der objektiven Vernunft errichten konnte, ist heute an überkommene Institutionen anzuknüpfen. Dabei ist es wichtig zu wissen, daß solche Institutionen nicht restituierbar sind, wenn die Kette der T r a d i t i o n einmal zerrissen ist (oben S. 180). 3. D i e i n sich geschlossene politische Einheit des klassischen Staates w a r für die bisherigen Begriffe von Verfassung und Gesetz eine selbstverständliche Prämisse. Auch die Weimarer Verfassung setzte eine solche geschlossene Einheit auf der Grundlage einer nationalstaatlichen Demokratie voraus. I n zwischen öffnet sich die bisher geschlossene Einheit, von Innen durch Pluralisierung, von Außen durch Integrierung. D a m i t wandeln sich nicht n u r Staat u n d Gesellschaft, sondern auch Verfassung u n d Gesetz. Sie werden, von Innen her gesehen, zu Kompromissen der Sozialpartner. Das materialu n d ideenreiche Buch von Joseph H. Kaiser (Duncker & H u m b l o t Berlin, 1956) trägt den bezeichnenden T i t e l „ D i e Repräsentation organisierter Interessen". Es gehört zur Klugheit dieses Buches, daß es seine Fragestellungen nicht bis zum K e r n des Verfassungs- und des Gesetzesbegriffes weitertreibt, wie das z. B. Georges Burdeau, von der Rechtsfakultät Paris, i n Bd. V I seines „ T r a i t e de science politique" i m gleichen Jahre 1956 getan hat. I n dem verwickelten System organisierter Interessen findet jeder starke Gruppenegoismus sein Lobby und seine Lobbysten. I n welchem W i n k e l dieses verwickelten L a b y r i n t h s die objektive Vernunft ein A s y l finden könnte, ist noch die Frage. Wer diese Frage kennt u n d versteht, w i r d sich nicht so schnell an einer L i q u i d i e r u n g der Reste des überkommenen Staates beteiligen. Auch ist zu bedenken, daß heute nicht mehr der Staat, sondern eine Partei der Träger des Totalitarismus ist; vgl. die Bemerkung 2 oben S. 366.
25 Carl Schmitt
Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44) 1. Die geschichtliche Tatsache einer europäischen Rechtswissenschaft Von einer europäischen Rechtswissenschaft zu sprechen, erscheint heute vielleicht gerade einem Juristen unzulässig und unwissenschaftlich. Nicht nur wegen der politischen Zerrissenheit Europas, das sich i n zwei Weltkriegen selbst zerfleischt hat, sondern auch aus einem formalen und scheinbar sogar spezifisch juristischen Grunde. Für den Positivismus, der seit hundert Jahren i n der Theorie und Praxis unseres Rechtslebens herrscht, ist Gegenstand der Rechtswissenschaft nur die positiv geltende Norm, und das ist für ihn nur das jeweilige staatliche Gesetz oder die von einem sich durchsetzenden W i l l e n gesetzte, mit Zwangsmitteln ausgestattete, durchgesetzte Norm. Formaler Geltungsgrund des positiven Rechts sind hier immer nur Setzungen, hinter denen ein staatlicher W i l l e zur Setzung steht, der sich eben durchsetzen w i l l . Für die rein staatsbezogenen Begriffe eines solchen Gesetzespositivismus gibt es infolgedessen nur deutsches, französisches, spanisches, schweizerisches und weiteres einzelstaatliches Recht, während es, mangels eines europäischen Gesamtstaates und eines europäischen Gesetzes willens, kein europäisches Recht und demnach auch keine europäische Rechtswissenschaft geben kann, höchstens rechts vergleichende und rechtsgeschichtliche Untersuchungen als hilfswissenschaftliche Arbeiten ohne positive Bedeutung. D a m i t wäre unser Thema in einem formalen Sinne bereits erledigt. Selbst i m sogenannten Internationalen Privatrecht, das nach Savigny (1849) noch ganz auf einer europäischen Rechtsgemeinschaft, auf der „anerkannten Gemeinschaft der verschiedenen Nationen" beruhte, ist für die Betrachtungsweise des heutigen Gesetzespositivismus der Geltungswille des einzelstaatlichen Gesetzes alleiniger Geltungsgrund geworden. Wenn der nationale Richter für die Entscheidung eines international gelagerten Falles fremdes Recht heranzieht, so ist das zur Anwendung gelangende Internationale Privatrecht zwar „seinem Gegenstand nach internationales, der Quelle oder
Die Lage der europäischen Rechtsissenschaft (1943/44)
387
dem Geltungsgrunde nach aber rein staatliches Recht" 1 . I m internationalen Privatrecht machten sich infolgedessen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Schwierigkeiten geltend, insbesondere i n wachsendem Maße durch den Vorbehalt des nationalen „ordre public". Sie stellten die umfassende, i n einem internationalen Privatrecht liegende europäische Rechtsgemeinschaft i n Frage und verwandelten sie in eine Summe prekärer Übereinstimmungen nationaler, staatlicher Kollisionsnormen 2 . Unter dem Gesichtspunkt des formalen Geltungsgrundes gibt es für den staatsbezogenen Positivismus nicht einmal mehr ein europäisches Völkerrecht. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das, was man „Völkerrecht" nannte, mit „europäischem Völkerrecht", sogar m i t einem „jus publicum Europaeum" identisch. Für die Betrachtungsweise des staatsbezogenen Positivismus dagegen zerfallen Völkerrecht und innerstaatliches Recht dualistisch (bzw. pluralistisch) nach innen und nach außen in zwei absolut getrennte und isolierte Rechtsquellen, innerstaatliches Gesetz auf der einen, zwischenstaatliche Vereinbarung auf der anderen Seite. Dem Positivismus des innerstaatlichen Gesetzes entspricht der Positivismus des zwischenstaatlichen Vertrages. Die Trennung von innen und Außen, von innerstaatlichem und zwischenstaatlichem Recht ist so absolut, daß — wie Heinrich Triepel i n seinem Buche „Völkerrecht u n d Landesrecht" (1899) folgerichtig lehrt — zwischen Innen und Außen volle und reine Beziehungslosigkeit besteht, so daß, formal gesehen, nicht einmal ein Konflikt zwischen den beiden Rechtskreisen möglich ist. 1
Zu dieser Formulierung des griechischen Juristen Fragistas s. meinen Aufsatz „Uber die zwei großen Dualismen des heutigen Rechtssystems (Wie verhält sich die Unterscheidung von Völkerrecht u n d staatlichem Recht zu der innerstaatlichen Unterscheidung von öffentlichem u n d privatem Recht?)" in den Melanges Georgios Streit, Athen, 1940. 2 Den besten geschichtlichen Uberblick über die Grundzüge der Entwickl u n g des Internationalen Privatrechts i m 19. Jahrhundert gewinnt m a n an der H a n d von Donnedieu de Vabres: von 1804—1840 Tendenz, das eigene Recht zur Anwendung zu bringen; 1840—1874 Personalstatut u n d vermehrte Berücksichtigung des Parteiwillens; 1874—1904 weitere Ausdehnung des Personalstatuts (aber an die Staatszugehörigkeit u n d nicht mehr an das D o m i z i l angeknüpft), u n d gleichzeitig wachsende Bedeutung des Vorbehalts des ordre public. Dabei ist zu beachten, daß eine A u t o r i t ä t wie Westlake den Ubergang vom D o m i z i l zur „ p o l i t i c a l n a t i o n a l i t y " als eine der größten Veränderungen bezeichnet, die seit dem 12. Jahrhundert eingetreten sind. Zum 20. Jahrhundert gehören bisher vor allem, neben der Ausdehnung des Vorbehalts des ordre public, das „logische Spiegelkabinett der Rückverweisungen" und die „Sackgasse der Qualifikationstheorie".
2*
388
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
Man spricht allerdings von einer „Transformation" der völkerrechtlichen Verpflichtung i n innerstaatliches Recht. Aber alle solche Transformationen, Umschaltungen, Inkorporationen, Geltungserstrekkungen oder wie man es nennen w i l l , sind dann i n W i r k l i c h k e i t nur innerstaatliche Scheinbrücken über dem Abgrund, der Innen und Außen voneinander trennt. Die von Heinrich Triepel i n dem eben genannten Buch des Jahres 1899 entwickelte dualistische Lehre der Beziehungslosigkeit zwischen Innen und Außen ist durchaus herrschend geworden. Für unser Thema „Europäische Rechtswissenschaft" bedeutet sie eine glatte Verneinung seines juristischen Vorhandenseins selbst i n völkerrechtlicher Hinsicht. Dfenn entweder befaßt sich der Jurist m i t dem innerstaatlichen Recht eines Landes, dann ist sein staatsbezogener Blick ausschließlich nach innen gerichtet und kann unmöglich den Abgrund überwinden, der Innen und Außen dualistisch trennt; oder er hat es m i t dem Völkerrecht, genauer: mit den Normen des Rechts zwischenstaatlicher Beziehungen zu tun, dann sind es immer wieder nur einzelne Staaten, deren W i l l e durch gegenseitige Verträge, Vereinbarungen oder Gewohnheiten die Normen des positiven zwischenstaatlichen Rechts schafft. Niemals kommt es zu einer konkreten Ordnung. Daß es gerade europäische Staaten sind, die sich durch Verträge und Vereinbarungen zueinander i n Rechtsbeziehungen setzen, ist positivistisch gesehen bloßer Zufall. Die Verträge und Vereinbarungen eines europäischen Staates m i t anderen europäischen Staaten haben für den Positivisten in formaler Hinsicht nichts juristisch Spezifisches gegenüber den Verträgen und Vereinbarungen mit nichteuropäischen Staaten. Nachdem der europäische Geist vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ein spezifisch europäisches Völkerrecht entwickelt hatte, wurde jetzt, u m die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, das Völkerrecht i n zahllose und unterschiedslose zwischenstaatliche Beziehungen von fünfzig bis sechzig Staaten der ganzen Erde, d. h. i n eine raumlose Allgemeinheit aufgelöst. E i n solcher Vertrags- oder Gesetzespositivismus ist natürlich bestenfalls so viel u n d schlechten falls so wenig wert, wie die zwischenstaatlichen Verträge und die innerstaatlichen Gesetze, an die er sich anhängt. I m übrigen bedeutet er rechtswissenschaftlich nicht mehr als eine normativistische Fiktion, deren Wert, wie überhaupt der Wert des ganzen, für das 19. Jahrhundert kennzeichnenden weltanschaulichen Positivismus, relativ und zeitgebunden ist. Er läßt die
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
inhaltlich-sachliche Bedeutung des Rechts, d. h. den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Sinn der konkreten Ordnungen u n d I n stitutionen, absichtlich außer acht und kann schon aus diesem Grunde nicht beanspruchen, ein Monopol der juristischen Denkweise zu besitzen und das letzte Wort zu unserem Thema zu sprechen. Gerade eine rechtswissenschaftliche Deutung und Systematisierung muß auf den sachlichen Gehalt der Normen und auf den spezifischen Sinn der Institutionen achten. Sachlich betrachtet ergibt sich aber ein ganz anderes Bild als bei jener formal-positivistischen Auseinanderreißung von Innen und Außen. Nach ihrem Sinn und Inhalt stimmen wesentliche Begriffe und Institutionen der europäischen Völker i n auffälliger Weise überein. Hier gibt es eine sehr starke Gemeinschaft europäischen Rechts, die als solche bis vor kurzem auch eine unmittelbar politische Bedeutung hatte. I m Zusammenleben der Völker, im praktischen Völkerrecht, galt während des ganzen letzten Jahrhunderts die Anpassung an einen bestimmten, typisch europäischen Standard des Rechts i n K o d i f i k a tion, Gesetzgebung und Justiz als die unumgängliche Voraussetzung für die Aufnahme i n die Völkerrechtsgemeinschaft. Als zivilisiert galt ein Staat erst dann, wenn er sich dem gemeinsamen Rechts- und Justizstandard Europas angepaßt hatte. N u r unter dieser Voraussetzung sind i m 19. Jahrhundert nichteuropäische Staaten als M i t glieder der Völkerrechtsgemeinschaft anerkannt worden. Die Lehre von der völkerrechtlichen Anerkennung hatte dadurch eine inhaltliche Bedeutung; sie konnte damals von Lorimer m i t Recht als die Grundlage des Völkerrechts bezeichnet werden. Das war i m Jahre 1884, zur Zeit Bismarcks, des „letzten Staatsmannes des europäischen Völkerrechts". Inzwischen hat sich das Rechtsinstitut der völkerrechtlichen Anerkennung i n einem völlig nihilistischen Opportunismus zu einem freibleibenden, rein faktischen u n d taktischen Verhalten verflüchtigt 3 . Noch auf der Konferenz von Lausanne, 1922/23, 8
Vgl. dazu den Schluß der A b h a n d l u n g von Peter Stierlin, Die Rechtsstellung der nichtanerkannten Regierung i m Völkerrecht (Zürcher Studien zum Internationalen Recht, herausgegeben von H. Fritzsche u n d D . Schindler, Nr. 3, Zürich 1940), S. 200, über die Bedeutung der mexikanischen sog. Estrada-Doktrin. Die Formulierung Lorimers „ l a doctrine de reconnaissance fondement de droit international" findet sich i n der Revue de D r o i t International et de Legislation Comparee, Band X V I (1884), S. 333 f. D i e Bezeichnung Bismarcks als des „letzten Staatsmannes des europäischen Völkerrechts" stammt von Julius Goebel, The Struggle for the F a l k l a n d Islands, Yale University Press, 1927, S. 192; dieses Buch ist weit über sein spezielles,
390
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
haben die europäischen Mächte gegenüber der T ü r k e i i n der Frage der Abschaffung der sogenannten Kapitulationen wenigstens grundsätzlich daran festgehalten, daß ein Staat, um als voll souverän anerkannt zu werden, dem Standard des i n Europa entwickelten Rechts und seiner Justiz entsprechen müsse 4 . Eine am 12. Januar 1926 i n Pek i n g zusammengetretene Kommission zur Untersuchung der Exterritorialität i n China forderte i n ihren Vorschlägen für die Rechtssicherheit i n Ghina i m Grunde nur die volle Europäisierung der chinesischen Gesetzgebung u n d Justiz 5 . Die Maßstäbe, nach denen beurteilt wird, ob ein politisches Gebilde wirklich „Staat" oder „staatsreif" ist, sind eben aus der Normalvorstellung eines europäischen Staates abgeleitet 6 . Was unter dem Gesichtspunkt eines positivistisch aufgefaßten „formalen Geltungsgrundes" als eine juristisch uninteressante, zufällige Übereinstimmung oder Parallelität der gesetzlichen Bestimmungen erscheint, w i r d für eine sachlich-inhaltliche, rechts wissenschaftliche Betrachtung zu einer echten europäischen Gemeinschaft, deren gemeinsames Recht Züge eines echten common law trägt und auch durch die großen Verschiedenheiten der germanischen, angelsächsischen, lateinischen und sonstiger Rechtskreise nicht aufgehoben ist. Hierfür gibt es i n jeder einzelnen Rechtsdisziplin, i m Bürgerlichen Recht, i m Handelsrecht, i m Straf- und Prozeßrecht, i m Steuer- und Wirtschaftsrecht zahlreiche Beispiele, die jedem Kenner dieser Disziplinen geläufig sind. Die gegenseitige Übereinstimmung u n d Bei m T i t e l genanntes Thema hinaus Völkerrechts von Bedeutung.
für
die Geschichte
des
europäischen
4 So entstand neben der Aufhebung der „ K a p i t u l a t i o n e n " i n A r t i k e l 28 des Lausanner Vertrages vom 24. J u l i 1923 eine von den türkischen Delegierten unterzeichnete „ D e k l a r a t i o n über die V e r w a l t u n g der Justiz", die zwar von der Nationalversammlung i n A n k a r a nicht ratifiziert wurde, aber doch dazu führte, daß die T ü r k e i eine K o d i f i k a t i o n des Bürgerlichen Rechts übernahm, die genau dem V o r b i l d des Schweizer Bürgerlichen Rechts vom 10. Dezember 1907 entsprach. Weitere gesetzgeberische Reformen des bürgerlichen Rechts folgten ebenfalls dem Schweizer Vorbild, während das Strafgesetzbuch von 1926 fast wörtlich dem italienischen Strafgesetzbuch entspricht. D i e türkische K o d i f i k a t i o n des Strafprozesses hielt sich an deutsche u n d italienische Regelungen, die des Zivilprozesses an das V o r b i l d des Schweizer Kantons Neuchätel. 5
Roy Hidemichi Akagi, Japans Foreign Relations, Tokyo, 1936, S. 403. Das zeigte sich noch i n den Anforderungen für die „Staatsreife", w i e sie bei der A u f n a h m e von I r a k i n den Genfer V ö l k e r b u n d formuliert worden sind; vgl. A . v. Verdross, Völkerrecht, 1937, S. 65 Anmerkung. 6
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
einflussung erstreckt sich sowohl auf wichtige einzelne Normen und Rechtsinstitute, wie auch auf die systematische Struktur des Ganzen. Das Recht der einzelnen europäischen Staaten, wie es sich heute darstellt, ist i n einem fortwährenden innereuropäischen Prozeß solcher Begegnungen und gegenseitigen Beeinflussungen entwickelt worden. W i r dürfen, ohne uns einer Übertreibung schuldig zu machen, sogar den Satz wagen, daß die ganze Rechtsgeschichte und Rechtsentwicklung der europäischen Völker seit tausend Jahren eine Geschichte von gegenseitigen Rezeptionen ist, wobei w i r unter „Rezeption" nicht eine gedanken- u n d phantasielose Übernahme, sondern einen wechselseitigen, oft m i t starken Widerständen verbundenen Vorgang der Inkorporation, der Anpassung und Fortbildung verstehen, der auch auf das rezipierte Recht zurückzuwirken vermag, und dessen Bewertung im Einzelfalle eine Frage für sich darstellt. Solche Rezeptionen sind etwas Natürliches und gehören zum Wachstum des Lebens. Es verhält sich m i t ihnen wie m i t den Entlehnungen von Formen und Motiven in der Kunst, i n Musik und Malerei, und auch hier gilt der Satz eines großen deutschen Meisters der Musik des 17. Jahrhunderts: „ E n t lehnen ist eine erlaubte Sache, man muß nur das Entlehnte mit Zinsen erstatten." Das aber dürften alle europäischen Nationen auf ihre Weise getan haben. 2. Die Wissenschaft des Römischen Rechts als Trägerin europäischer Rechtswissenschaft A n erster Stelle steht hier selbstverständlich das große, Jahrhunderte umfassende Begegnungs-Ereignis der Rechtsgeschichte, die ..Rezeption des Römischen Rechts", die hier wenigstens mit einigen kurzen Worten erwähnt werden muß. Sie bestimmt viele Epochen der Rechtsentwicklung aller europäischen Völker, nicht nur derjenigen, die eine Rezeption bei sich durchgeführt haben, sondern — auf dem Wege über die Rechtswissenschaft — auch solcher Länder, die sich ihrer, wie England u n d die skandinavischen Länder, mit Erfolg erwehrt haben und deren gemeines Landrecht von ihr unberührt geblieben ist. Die europäische Bedeutung der Wiedergeburt des römischen Rechts i m Mittelalter und der Einfluß der Wissenschaft vom römischen Recht i n den verschiedenen Ländern u n d Epochen sind i n keiner Weise identisch m i t der Frage des „positiven Geltens" von Sätzen u n d Begriffen, die man i m Corpus Juris Justiniani gefunden hatte. Auch das Problem der politischen oder sozialen Verwertungen
392
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
solcher Sätze u n d Begriffe zum Nutzen oder zum Schaden bestimmter politischer Machthaber oder sozialer Schichten betrifft Fragen, in deren L a b y r i n t h w i r hier nicht eintreten. W o h l aber ist es möglich, hier einige Bemerkungen über die europäische Bedeutung der Wissenschaft des Römischen Rechts zu machen, vielleicht gerade weil uns die Angst um die praktische und positive Geltung des Pandektenrechts glücklicherweise nicht mehr belastet und uns auch die Sorge u m das sozusagen unterirdische Weitergelten römischen Rechts in den Kodifikationen des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu verwirren braucht. I n Wirklichkeit ist die Geschichte der europäischen Rechtswissenschaft durch fünf Jahrhunderte hindurch eine Geschichte der Wissenschaft des Römischen Rechts gewesen. Das ist das erstaunliche Faktum. Was an den Rechtsschulen, den Universitäten und den juristischen Fakultäten seit ihrer Gründung i m 12., 13. und 14. Jahrhundert als „Recht" doziert wurde, war, neben dem kanonischen Recht, vor allem römisches Recht. U n d es wurde in lateinischer Sprache doziert, i n der Sprache des römischen Rechts, die über ein halbes Jahrtausend lang die rechtlichen Begriffe sämtlicher europäischer Sprachen beeinflußt und geprägt hat. Die Wissenschaft vom römischen Recht, i n ihren verschiedenen rechtsgeschichtlichen Erscheinungsformen, bei Glossatoren, Kommentatoren, Romanisten und Pandektisten, galt als die eigentliche, wenn nicht die einzige Form der Rechtswissenschaft, und ein großer Kenner, Rudolf Sohm, stellt ausdrücklich fest, daß es sich bei der Rezeption des römischen Rechts i n Deutschland überhaupt nicht u m die Rezeption eines Rechts, sondern nur um die Rezeption einer Rechtswissenschaft gehandelt habe. W i r können hier nicht die zahlreichen geschichtlichen Fragen auch nur aufzählen, die sich für alle einzelnen europäischen Völker und für alle einzelnen Epochen der Geschichte des Römischen Rechts und seiner Wissenschaft erheben. Das Gesamtfaktum ist überwältigend, nicht nur für die Geschichte der europäischen Rechtswissenschaft, sondern auch für die Geschichte alles dessen, was man europäische Wissenschaft und europäischen Geist nennen kann. Ebenso alt wie die europäische Geschichte der Wissenschaft des Römischen Rechts selbst ist auch der Streit für und gegen diese Wissenschaft, der geistige K a m p f um ihre Bewertung, ihren Nutzen oder Schaden für die autochthone, regionale oder nationale Rechtsentwicklung. I n allen Ländern, auch bei romanischen Völkern, hat dieser Streit seine besondere Geschichte und seine oft überraschenden Fron-
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44) t e n 7 . G e r a d e i n d e n J a h r e n nach 1933 ist er i n D e u t s c h l a n d m i t g r ö ß t e r Intensität unter allen Gesichtspunkten geführt
worden.
Auch
hier
w u r d e der S t r e i t z u m V a t e r n e u e r E r k e n n t n i s s e u n d E i n s i c h t e n 8 . D a b e i ist v o r a l l e m z u m B e w u ß t s e i n g e k o m m e n , w i e sehr es, angesichts e i n e r u n e n d l i c h i n h a l t r e i c h e n u n d w e c h s e l v o l l e n rechtsgeschichtlichen E n t w i c k l u n g von dreitausend Jahren, näherer Unterscheidung bedarf, w e n n v o n „ d e m " r ö m i s c h e n Recht gesprochen w i r d . I m L a u f e der D i s k u s s i o n h a t sich z. B . d i e E r k e n n t n i s durchgesetzt, d a ß gerade das a l t e
römische Recht
ein
allgemein großartiges
D e n k m a l u r a l t e n u n d u r g e s u n d e n B a u e r n t u m s ist. A u f v i e l e E i n r i c h t u n g e n dieses a l t e n r ö m i s c h e n Rechts, insbesondere des F a m i l i e n - u n d Erbrechts,
ist
durch
die A r b e i t e n
von
Bonfante,
Siber,
Wlassak,
W e s t r u p u n d W i e a c k e r e i n neues L i c h t g e f a l l e n 9 . Jede neue geistige S t r ö m u n g e u r o p ä i s c h e n Geistes h a t z u neuen, u n e r w a r t e t e n A s p e k t e n der A u f f a s s u n g
v o m r ö m i s c h e n Recht g e f ü h r t . S e i t der
mittelalter-
l i c h e n G o t i k u n d d e m H u m a n i s m u s der Renaissance h a t sich h i e r m i t j e d e r n e u e n Epoche e i n u n e r s c h ö p f l i c h e r R e i c h t u m a n n e u e n V e r w e r t b a r k e i t e n bis a u f d e n h e u t i g e n T a g i m m e r v o n n e u e m b e w ä h r t . N o c h 7 Das Buch des Romanisten der Juristischen F a k u l t ä t i n Madrid, Ursicino Alvarez Suarez, „Horizonte actual del Derecho Romano", M a d r i d 1944, eine Enzyklopädie der gesamten Romanistik, enthält hierfür eine große Fülle geschichtlichen Materials. Auch über die umfangreiche L i t e r a t u r zur „Krisis des römischen Rechts" unterrichtet dieses bedeutende Werk. Ich erwähne außer den i n den folgenden Anmerkungen genannten Veröffentlichungen hier noch besonders die Schriften von zwei jungen Romanisten, denen ich für intensive Gespräche u n d fruchtbare Belehrungen auch persönlich verpflichtet b i n : Valentin-Al. Georgescu, Remarques sur la crise des etudes du D r o i t Romain (abgedruckt i n der Sammlung seiner juristisch-philologischen Schriften, Etudes de Philologie j u r i d i q u e et de D r o i t Romain BucarestParis, 1940, page 403), u n d A l v a r o d'Ors Perez-Peix, Presupuestos criticos para el estudio del Derecho Romano, i n „Theses et Studia Philologica Salamanticensia", Salamanca, 1943. 8 H i e r f ü r ist der große Vortrag, den Paul Koschaker 1937 über „Krise des Römischen Rechts u n d die romanistische Rechtswissenschaft" gehalten hat, ein Dokument von rechtsgeschichtlicher Bedeutung. D i e Besprechung, die eine A u t o r i t ä t der deutschen Rechtsgeschichte, Freiherr Claudius von Schwerin, darüber veröffentlicht hat (in der Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft", Band 4, 1939, S. 182 f.) läßt die Bedeutung von Koschakers Vortrag noch stärker hervortreten. Meine Ansicht zu Franz Beyerles kritischer Bemerkung i n der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102 (1942), S. 210, Anm. 3, ergibt sich aus den folgenden Ausführungen des Textes.
• Vgl. die Nachweise bei Franz Wieacker, Entwicklungsstufen des römischen Eigentums i n der Sammlung: Das Neue B i l d der Antike, Band I I (Leipzig, 1942), S. 178; ferner Hausgemeinschaft u n d Erbeinsetzung (1940); Käser, Römisches Recht als Gemeinschaftsordnung (1939).
394
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
in diesen Tagen erleben w i r davon ein eindrucksvolles Beispiel. Die deutsche Pandektenwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts hatte ein kunstvolles System errichtet und das subjektive Recht zum Angelp u n k t ihrer Konstruktionen gemacht; heute kann mit einer einfachen und doch überraschenden Wendung i m Gegenteil gerade die Systemfreiheit des klassischen römischen Rechts und die Praxis der (vom Prätor gewährten) Aktionen als der große Vorzug des römischen Rechts gepriesen und als ein für moderne arbeits- und wirtschaftsrechtliche Bildungen höchst aktuelles Paradigma herausgestellt werden 1 0 . Ein Meister wie Paul Kosdiaker hatte noch 1939 einen wichtigen G r u n d für die Krisis der romanistischen Rechtswissenschaft darin gefunden, daß das Pandektenrecht mit dem Inkrafttreten des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches seit 1900 seine praktische Geltung verloren hat. Das war noch zu sehr aus der Lage einer gegen den Setzungs-Positivismus sich verteidigenden Universitätswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts gesehen. Dagegen ist mit Recht geltend gemacht worden, daß durch den entsprechenden Vorgang bei Inkrafttreten des österreichischen Allgemeinen Gesetzbuches von 1811 keineswegs eine solche Krisis eingetreten ist 1 1 . Vielmehr erscheint die gegenwärtige „Krisis des römischen Rechts" nicht als etwas spezifisch Romanistisches, sondern als ein Teil der allgemeinen Krisis des Rechts und der Rechtswissenschaft überhaupt. Kurz, man w i r d an die ironievolle Altersweisheit eines oft zitierten Ausspruches von Goethe erinnert, der i m Gespräch m i t Eckermann das römische Recht mit einer untertauchenden Ente verglichen hat, die sich wohl öfters i m Wasser verbirgt, aber doch auch immer wieder lebendig hervortritt. Das oben 10 A l v a r o d'Ors Perez-Peix, Presupuestos Criticos Derecho Romano, Salamanca, 1943, S. 21 f.
para el Estudio
del
11 D a r a u f weist Schönbauer h i n : Zur „Krise des römischen Rechts" i n der Festschrift für Koschaker, I I , S. 386/387 (auch als Sonderdruck erschienen), Weimar 1939. Schon Savigny hat i n seiner Schrift „ V o m Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung u n d Rechtswissenschaft" (1814) gesagt, es sei nicht daran zu zweifeln, daß dasselbe historisch begründete Rechtsstudium, welches vor ihrer (nämlich der Gesetzbücher, wie: österreichisches Gesetzbuch, Preußisches Landrecht u n d Code Civil) E i n f ü h r u n g notwendig war, auch durch sie nicht i m geringsten entbehrlich geworden ist, u n d daß insbesondere gar nichts geleistet w i r d , wenn man glaubt, sich u m i h r e t w i l l e n n u n m i t einer oberflächlichen Darstellung des bisherigen Rechts behelfen zu können. „ D e n n die Gesetzbücher selbst sind auf theoretischem Wege entstanden u n d nur auf diesem können sie m i t Sicherheit geprüft, gereinigt u n d vervollkommnet werden." J. J. Bachofen hat i n seiner Antrittsvorlesung von 1841 den gleichen Gedanken ausgesprochen.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
genannte Werk des spanischen Romanisten Ursicino Alvarez Suarez enthält auch hierfür schöne und gut dokumentierte Beispiele 12 . A n diesem großen Vorgang, der mit der Bezeichnung „Rezeption des römischen Rechts" angedeutet w i r d , sind alle europäischen Nationen beteiligt, wenigstens auf dem Wege über die juristischen Fakultäten und die Rechtswissenschaft; auch diejenigen, bei denen es, wie i n England, infolge des Bestehens von Schulen des gemeinen Landesrechts, infolge des Widerstandes berufsständischer Interessen oder aus anderen Gründen, nicht zu einer allgemeinen Rezeption römisch-rechtlicher Normen und Einrichtungen gekommen ist. Gerade die Rechtsgeschichte Englands enthält viele Beispiele für die große W i r k u n g , die von der europageschichtlichen Tatsache ausgeht, daß die Wissenschaft des Rechts jahrhundertelang Wissenschaft des römischen Rechts gewesen ist. I n England bestanden zwar Schulen des nationalen Rechts, die es verhinderten, daß das römische Recht das gemeine Recht des Landes verdrängte, aber als Billigkeitsrecht und auf anderen Wegen w i r k t e das Römische Recht ein, und noch i m 17. Jahrhundert wurde z. B. gerade für den Bereich des Meeres die Anwendung des jus gentium, das hieß damals praktisch des römischen Rechts, vertreten. Es genügt, an den Einfluß des Humanismus (und an die große Reihe berühmter Namen zu erinnern, die allein der von Heinrich V I I I . gegründete Lehrstuhl des zivilen Rechts in O x f o r d aufzuweisen hat. Unter den Begründern des modernen, d. h. des von der Theologie sich absetzenden zwischenstaatlichen Völkerrechts stehen zwei Professoren dieses Oxforder Lehrstuhls i n erster Reihe, Albericus Gentiiis und Richard Zouch 13 . Aus solchen rechtsgeschichtlichen Zusammenhängen erkläre ich mir auch die Überlegenheit der englischen Prisenrichter in der napoleonischen Zeit, insbesondere den sicheren Instinkt, den 12
E i n italienischer Altmeister der Wissenschaft des römischen Rechts, Prof. Salvatore Riccobono, von der Kgl. Universität Rom, hat am 6. Dezember 1942 i n der A u l a der Berliner Universität seine Uberzeugung von der ewigen Gültigkeit der römisch-rechtlichen Begriffsbildung i n lateinischer Sprache dargelegt. Er betonte dabei noch besonders seine Überzeugung, daß er nicht etwa das alte oder das klassische, sondern das Recht des Corpus Juris Justin i a n i meine u n d verteidigte den mos italicus der Glossatoren gegen den
mos gallicus der Humanisten.
13 Zu einer näheren Beschäftigung m i t dem großen Juristen Richard Zouch, der eines der prächtigsten Beispiele für die praktische Verwertbarkeit römisch-rechtlicher Wissenschaft darstellt, b i n ich durch die lebhaften H i n weise des Budapester Völkerrechtslehrers Ladislaus von Gajzago veranlaßt worden, der 1942 ein großes Werk über die Entstehung des modernen Völkerrechts i n ungarischer Sprache veröffentlicht hat.
596
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
„nervenstarken M u t " und die großartige Geste, mit der Sir W i l l i a m Scott, später Lord Stowell, i n einer der berühmtesten Gerichtsentscheidungen der ganzen Rechtsgeschichte (Fall Maria, 1799) mit einem berühmt gewordenen Satz erklären konnte, daß ein englischer Prisenrichter nicht nationales, sondern überall gültiges und anerkanntes Völkerrecht anwende und daß ein in London gesprochenes prisengerichtliches Urteil nicht anders laute, als wenn es in Stockholm ergangen wäre 1 4 . Jedenfalls haben — auch für das Gemeinrecht der Länder, die römisches Recht nicht in ihr Landrecht rezipiert haben — in ganz Europa, unter Titeln und Bezeichnungen wie „Naturrecht", „Vernunftrecht", „ j u s gentium" und „Allgemeine Rechtslehre", zahllose einflußreiche Autoren i n jahrhundertelanger Arbeit Denk formen des römischen Rechts i n die Rechtswissenschaft aller Länder hineingetragen und auf diese Weise ein Inventar fester Begriffe geschaffen, das i n sämtliche Sprachen Europas übersetzt worden ist. Durch die Arbeit der Juristen aller europäischen Völker ist das römische Recht zu einem gemeinsamen Vokabularium, zur Sprache rechts wissenschaftlicher Gemeinschaft, zu einem anerkannten Modell juristischer Gedankenarbeit und dadurch zu einem geistigen und gedanklichen Common L a w Europas geworden, ohne das nicht einmal theoretisch eine Verständigung unter den Juristen der verschiedenen Nationen möglich wäre 1 5 . Das kulturelle Gebäude, das der europäische Geist sich hier errichtet hat, steht auf dieser gemeinsamen, durch eine gemeinsame europäische Rechtswissenschaft geschaffenen Basis. Seine fundamentale Bedeutung ist nicht geringer als die der kunst- und literaturgeschichtlichen Werke, die meistens allein genannt werden, wenn von europäischem Geist die Rede ist. Der unendlich mannigfaltige und folgenreiche, bis auf den heutigen Tag in alle Gebiete des kulturellen Lebens hineinwirkende Vorgang der sogenannten Rezeption des römischen Rechts würde uns schon für sich allein er14 Vom „nervenstarken M u t " (nervous courage) spricht Francis Piggott i n seiner Erörterung der großen geschichtlichen Bedeutung dieses Urteils aus dem Jahre 1799, Transactions of the Grotius Society vol. I I I . (1918), S. 101. 15 „ M i t dem römischen Recht als Teil der privatrechtlichen B i l d u n g erhält der Jurist gleichzeitig die Einführung i n die gemeinsamen Grundlagen des europäischen Zivilrechts. I n der ganzen Welt werden eben heute die Begriffe des römischen Rechts als eine A r t begrifflicher Gemeinsprache der Völker vorausgesetzt." So Jos. Partsch, „ V o m Beruf des Römischen Rechts i n der heutigen Universität", Bonn 1920—1922.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
mächtigen, auch heute noch von einer europäischen Rechtswissenschaft zu sprechen. Andere Beispiele einer folgenreichen, die europäischen Völker umfassenden Rezeption kann ich hier nur m i t einem Wort erwähnen. So entstand m i t den konstitutionellen Ideen und Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts ein ganzes System von Begriffen und Institutionen, das sich infolge der Revolutionen von 1830 und 1848 auf alle europäischen Staaten und schließlich auf die ganze Erde ausgedehnt hat. Hierbei entwickelte sich ein typisches Schema geschriebener Verfassungen. Aber auch neue Disziplinen der Rechtswissenschaft, z. B. eine Allgemeine Staatslehre und ein neues Verwaltungsrecht, wurden i n bestimmter Weise begrifflich geprägt. Das verwaltungsrechtliche System Otto Mayers z. B., das selber wiederum stark vom französischen Verwaltungsrecht beeinflußt war, konnte i n Italien durch V. E. Orlando rezipiert werden, weil es ganz in diesem konstitutionellen System stand. I n engem, gleichzeitigem Zusammenhang sowohl m i t der Entwicklung der Pandektistik wie mit der Rezeption des Konstitutionalismus stehen dann zahlreiche Übereinstimmungen und gegenseitige Beeinflussungen, die sich auf die Kodifikationen des Zivilrechts, des Straf rechts und des Prozeßrechts, des Strafverfahrens und des Zivilprozesses beziehen. Über die vielen staatlichen Grenzen hinweg ist es hier zu einer Gemeinsamkeit der Denkweise gekommen, die jeden wissenschaftlich gebildeten Juristen eines europäischen Staates i n den Stand setzt, sich in der Rechtswelt eines anderen Staates zurechtzufinden. Die gemeinsame Entwicklung geht auch in modernen Bildungen weiter. Das neue Wirtschafts- und Arbeitsrecht dringt i n irgendeiner Form bei allen Völkern durch, u n d nirgendwo kann sich ein europäisches V o l k der hier sich manifestierenden Gemeinsamkeit eines europäischen Rechts und einer europäischen Rechtswissenschaft entziehen. 3. D i e Krisis der gesetzesstaatlichen Legalität E r s t e s S t a d i u m , 19. J a h r h u n d e r t : einer Unterscheidung von Gesetzgeber
Die Möglichkeit Gesetz und
Trotzdem befindet sich die europäische Rechtswissenschaft i n einer schwierigen u n d kritischen Lage. Ich möchte hier weder über das naheliegende Thema der Auswirkungen des Weltkrieges sprechen, noch i n die leeren Formeln positivistischer Fiktionen ausweichen,
398
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
sondern mich an das, wenn ich so sagen darf, innere und immanente rechtswissenschaftliche Problem halten. Was heute als schwere Krisis der Rechtswissenschaft und des Rechtes selbst offenkundig w i r d , hat, wie jede große wissenschaftliche Erscheinung, tiefere Ursachen und ist nicht erst i n diesem Augenblick entstanden. Auch hier gilt das Wort des Dichters: Wer hub es an? Wer brachte den Fluch? Von heut' ist's nicht, und nicht von gestern, U n d die zuerst das Maß verloren, unsere Väter, Wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie. Die Krisis der europäischen Rechtswissenschaft beginnt vor hundert Jahren mit dem Sieg des gesetzlichen Positivismus. Der revolutionäre Ausbruch des Jahres 1848 bezeichnet auch hier die große Wegscheide. Unsere Väter und Großväter warfen ein überlebtes Naturrecht beiseite und sahen i n dem Ubergang zu dem, was sie „Positivismus" nannten, einen großen Fortschritt von der Illusion zur Wirklichkeit. Schon die historische Schule hatte mit etwas schiefen Fronten gegen das alte Natur recht gekämpft. Aber ihre gleich noch zu erörternde Lehre von den wissenschaftlichen Quellen des Rechts, vom Gewohnheitsrecht und vom Völkerrecht, ließ den reinen, staatlichen Gesetzespositivismus nicht aufkommen. Die eigentliche Wendung trat mit dem Jahre 1848 ein. Sie fand ihr geflügeltes Wort in dem Satz Windscheids aus seiner Greifswalder Universitätsrede des Jahres 1854: „ D e r Traum des Naturrechts ist ausgeträumt 1 6 ." Vermutlich glaubte der Romanist und Pandektist Windscheid m i t diesem Satz sehr realistisch und wohl auch sehr positivistisch zu sein, obwohl er, gerade als Romanist und Pandektist, eines reinen, d. h. staatsbezogenen Setzungspositivismus kaum fähig war und die eigentliche Gefahr gar nicht begriff. Denn der Stil der damaligen Gesetz18 Die Stelle k l i n g t i m Zusammenhang nicht so apodiktisch-positivistisch wie der zum geflügelten W o r t gewordene isolierte Satz. Sie lautet: „Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der T r a u m des Naturrechts ist ausgeträumt, und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den H i m m e l nicht gestürmt." Dem W o r t vom „ T r a u m des Naturrechts 4 * hat Walter Schönfeld (in dem T i t e l eines Aufsatzes des Archivs für die zivilistische Praxis 1932, Neue Folge 15, S. 1 ff.) die Formulierung „ D e r T r a u m des positiven Rechts" entgegengesetzt. Sdiönfelds Aufsatz ist von rechtsgeschichtlicher Bedeutung. Aber der Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts w a r eigentl i d i niemals ein Traum, sondern nur ein erst optimistisch-illusionistischer, schließlich nur noch qualvoller „ W i l l e zur W i r k l i c h k e i t " .
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
gebung ließ die heute aktuelle Problematik noch kaum erkennen. Deshalb war Windscheid auch noch nicht imstande, die eigentlich kritische Frage, das Verhältnis von Rechtswissenschaft und moderner Gesetzgebungsmethode, m i t der beunruhigenden Klarheit zu sehen, mit der sie unserm Bewußtsein seit dem ersten Weltkrieg deutlich geworden ist. Doch ist bereits i n der Mitte des 19. Jahrhunderts ein erstes scharfes Signal der kritischen Lage ertönt. E i n Vortrag, der 1847 in Berlin gehalten wurde und 1848 i m Druck erschien, sprach schon i n seinem T i t e l der Jurisprudenz den Charakter und Wert einer Wissenschaft ab: „Uber die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft". Die Signalwirkung eines solchen Titels war um so stärker, als der Verfasser selbst ein angesehener Jurist war, der damalige Staatsanwalt von Kirchmann, der sich später hauptsächlich philosophischen A r beiten widmete. Seine A r t zu argumentieren besteht, trotz mancher Hinweise auf die Überlegenheit der Naturwissenschaft, keineswegs in der naiven Übertragung der Methoden des naturwissenschaftlichen Positivismus auf die Rechtswissenschaft, eine Übertragung, an der andere, spätere Thesen von der „Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft" leiden 1 7 und die manche Juristen des 19. Jahrhunderts veranlaßt hat, die Rechtswissenschaft als „Wissenschaft" preiszugeben, um sie wenigstens als „ K u n s t " oder „Technik" zu retten. Zahlreiche Widerlegungsversuche und heftige Diskussionen knüpfen immer von neuem an jenen merkwürdigen Vortrag Kirchmanns an und zeigen, daß die Unruhe, die er vor hundert Jahren hervorgerufen hat, noch immer anhält. Noch im Jahre 1938 ist in Deutschland eine neue Ausgabe seines Vortrages veranstaltet worden, deren Einleitung die unverminderte A k t u a l i t ä t der Darlegung Kirchmanns hervorhebt 1 8 . W o r i n besteht nach diesem Vortrag die Wertlosigkeit der Jurisprudens als Wissenschaft? Die entscheidende A n t w o r t liegt i n dem Satz: „ D r e i berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." Diese A n t w o r t ist mit einer zuspitzenden Veränderung: „ E i n Federstrich des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden M a k u l a t u r " ein geflügeltes Wort geworden. 17
A m radikalsten das Buch von Anders Lundstedt (Uppsala), „ D i e U n wissenschaftlichkeit der Reditswissenschaft", Berlin-Grunewald, 1932, der i m übrigen die Haltlosigkeit des reinen Normativismus richtig sieht (S. 182). 18 D i e Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Eine Rede des Staatsanwalts Julius Hermann v. Kirchmann aus dem Jahre 1847, herausgegeben und eingeleitet von Gottfried Neefie, Stuttgart-Berlin, 1938.
400
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
Noch härter und gröber k l i n g t ein anderer, i m gleichen Zusammenhang stehender Satz: „Das positive Gesetz macht den Juristen zum W u r m i m faulen Holz." Niemals, meint Herr von Kirchmann, werde die Wissenschaft das Gesetz einholen. Der Kernpunkt unserer k r i t i schen Lage w i r d dadurch sofort sichtbar. I n der Tat: Was bleibt von einer Wissenschaft übrig, deren Sinn und Zweck nichts anderes ist als die kommentierende und interpretierende Begleitung fortwährend wechselnder, positiver Anordnungen von staatlichen Stellen, die ihrerseits doch w o h l selber am besten wissen und sagen können, was i h r eigentlicher W i l l e und was der Sinn und Zweck ihrer Anordnungen ist? Das Verhältnis des gesetzten und geschriebenen Rechts zu seiner Bearbeitung durch die Rechtswissenschaft ist an sich ein uraltes Problem. Bekanntlich waren die Urheber der großen Kodifikationen i m allgemeinen keine großen Freunde einer wissenschaftlichen Kommentierung ihrer Werke, die ihnen k l a r und eindeutig genug vorkamen. Eine hinzutretende Interpretation durch eine selbständige Wissenschaft flößte ihnen eher Mißtrauen und Abneigung ein. Sowohl das Corpus Juris Justinians wie auch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 sind bekannte Beispiele dafür, daß die sogenannten Kodifikatoren sich die interpretierende Klärung ihres Werkes durch Rechtsgelehrte mit mehr oder weniger höflichen Worten verbitten. Aber darin liegt nur das erste, noch sehr harmlose Stadium unseres Problems. Das Corpus juris und das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 sind beides Werke, die, wenn ich so sagen darf, i n sich selbst von Rechtswissenschaft strotzen, wenn audi in sehr verschiedener Weise, das „Corpus" Justinians mehr i n der A r t einer fallrechtlichen Sammlung von Aussprüchen großer Juristen, das preußisch-staatliche „Landrecht" mehr wie eine systematische Enzyklopädie mit Definitionen und Einteilungen i m Stil der naturrechtlichen Systeme des 18. Jahrhunderts und mit der Tendenz zu einer allgemeinverständlichen Sprache. I n beiden Fällen aber war der „Gesetzgeber" zum Rechtswissenschaftler geworden, und der Streit zwischen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft löste sich auf i n die Rivalität zweier Brüder, die das gleiche Ziel mit sehr ähnlichen Mitteln anstreben. Auch das Beispiel der großen französischen Kodifikationen aus der Zeit Napoleons I. und ihrer zahlreichen Rezeptionen i n den verschiedensten Ländern, ferner das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 und viele andere bekannte Gesetzbücher zeigen, daß eine bedeutende Rechtswissenschaft des geschriebenen Gesetzes möglich ist.
Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44)
401
Die europäischen Juristen des 19. Jahrhunderts konnten sich i n dieser Hinsicht auch noch ziemlich sicher fühlen, denn die Methode und das Tempo der Gesetzgebung, die Vorbereitung und Entstehung der Gesetze blieben auch nach 1848, während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, i n enger Verbindung m i t der Rechtswissenschaft. Das gilt besonders für die größeren Gesetzeswerke des Bürgerlichen und des Handelsrechts, aber auch für Strafrecht u n d Prozeß. Der deutschen Kodifikation des bürgerlichen Rechts, dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896, hat man den V o r w u r f gemacht, allzu „wissenschaftlich" und pandektistisch zu sein. Man hat i h m i n seiner Anlage den Charakter eines wirklichen Gesetzbuches abgesprochen, weil es in Wirklichkeit ein bloßes Lehrbuch und „Schul-System" wäre 1 9 . Die Kodifikation des Schweizerischen Bürgerlichen Rechts von 1907 findet i m allgemeinen eine günstigere Beurteilung, aber auch sie ist das Werk eines hervorragenden Rechtsgelehrten und Professors der Rechtswissenschaft, Eugen Huber. Die Kommentierung der großen Gesetzeswerke wurde i m 19. Jahrhundert noch durchaus von der Rechtswissenschaft »geführt. Das Entscheidende war: die Federstriche des Gesetzgebers, die ein solches Schrifttum in Makulatur verwandelten und ein zum gleichen Schicksal prädestiniertes neues Schrifttum ins Dasein riefen, erfolgten nicht als etwas Alltägliches. I m Gegenteil, es zeigte sich, daß der Spielraum, der einer rechtswissenschaftlichen Interpretation und Systematisierung gegenüber dem positiven Gesetz zur Verfügung steht, außerordentlich weit sein kann, so daß der Positivismus des jeweiligen staatlichen Gesetzes weder eine selbständige richterliche Praxis, noch eine selbständige Rechtswissenschaft auszuschließen brauchte. Das Gesetz selbst, der i m authentischen Wortlaut i n der amtlichen Gesetzessammlung veröffentlichte, maßgebende Text, erschien als eine i n sich geschlossene, unpersönliche, objektive Größe, zum Unterschied von den bloßen Materialien und Motiven des Gesetzes, i n denen sich die persönlichen Meinungen der an der Gesetzgebung beteiligten Menschen i n einer oft widerspruchsvollen Weise äußerten. So k a m es zu einer scharfen Unterscheidung des objektiven Willens des Gesetzes von dem subjektiven W i l l e n der vielen Gesetzes Verfasser oder der Gesetzgeber. W i l l e des Gesetzes und W i l l e des Gesetzgebers (im Sinne des Urhebers des Gesetzes) konnten zueinander i n Gegensatz gebracht werden. 19 So Franz Beyerle i n einem (unten, A n m e r k u n g 37, nochmals zu erwähnenden) wichtigen Aufsatz „Schuldenken u n d Gesetzeskunst", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102 (1942), S. 213.
26 Carl Schmitt
402
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
Die Unterscheidung von objektivem Gesetz und subjektiver Meinung der Urheber des Gesetzes wurde praktisch von größter politischer Bedeutung i n solchen Ländern, i n denen die gesetzgebende Körperschaft, das Parlament, i n mehrere verschiedenartige Parteien zerspalten war. Hier wurde der Gesetzgeber, d. h. die gesetzgebende Körperschaft, zu einer Größe von problematischer Einheit. Das Gesetz wurde zum Mehrheitsbeschluß einer i n sich gespaltenen, gesetzgebenden Körperschaft; dieser Beschluß aber w a r i n allen wichtigen Fällen ein schwieriger, oft i n sich selbst unklarer Kompromiß der i n sich heterogenen Parteikoalitionen, die dem Gesetz die wechselnden parlamentarischen Mehrheiten verschafften. Das ist die typische Situation des Gesetzgebers i n einem pluralistischen Parteienstaat. I m Deutschen Reich w a r sie seit Bismarcks Entlassung 1890, eigentlich schon seit 1878, fortwährend gegeben, weil der Deutsche Reichstag seit dem Ende der nationalliberalen Mehrheit keine Mehrheitspartei mehr kannte. Die Mehrheit bildete sich, auf dem Wege des Kompromisses, von F a l l zu F a l l und von Gesetz zu Gesetz, oft aus ganz entgegengesetzten Motiven. I n Frankreich haben Demokraten diesen Zustand m i t juristischer Bewußtheit kritisiert 2 0 . I n anderen europäischen Ländern trat eine ähnliche Problematik zutage, die i n Staaten m i t nationalen und völkischen Parteien, wie in Österreich-Ungarn, zu offenen Obstruktionskrisen führte. Hier mußte das Gesetz in aller Schärfe zu einer einheitlichen, von seiner Entstehung losgelösten, objektiven Größe isoliert und verselbständigt werden, wenn es nicht in seinem einheitlichen „ W i l l e n " von den inneren Gegensätzen der gesetzgebenden Körperschaft zerstört werden sollte. Das Gesetz als unpersönliche, objektive, gegenüber seinen „Motiven" verselbständigte und isolierbare Größe w i r d zu einer Brücke über dem Abgrund innerpolitischer Zerrissenheit. I n der objektiven, von allen parteipolitischen Widersprüchen gereinigten Norm verkörpert sich sozusagen die objektive Vernunft der politischen Einheit. Die Rechtswissenschaft aber wird, neben der richterlichen Praxis, zu einem wichtigen, unentbehrlichen Träger und Sprecher dieser objektiven Vernunft, dieser i n sich folgerichtigen Einheit des Gesetzeswillens, der dem in sich gespaltenen Wallen der vielen, an der Gesetzgebung beteiligten Faktoren selbständig entgegentritt 2 1 . 20 M a x i m e Leroy, L a Loi, Essay sur la theorie de l'autorite dans la democratic, Paris 1908, besonders S. 324. 21 D i e rechts wissenschaftliche Erörterung dieser D i s t i n k t i o n von Gesetz und Gesetzes Verfasser beginnt für die Neuzeit m i t einigen Lehrsätzen
Die Lage der europäischen Rechts Wissenschaft (1943/44)
403
I n einer solchen Lage erhält ein Satz, der sonst vielleicht paradox oder spitzfindig klingt, eine ganz konkrete, praktische Bedeutung: Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber. Große Juristen haben ihn zitiert, sogar i n der auffallenden Steigerung: Das Gesetz ist stets klüger als der Gesetzgeber 22 . E i n solcher Satz bringt, wenn auch vielleicht auf eine nicht ganz höfliche Weise, eine Selbstbindung des Gesetzgebers zum Ausdruck und begründet dadurch die Möglichkeit einer Rechtswissenschaft, die sich zwar positivistisch dem jeweils geltenden Gesetz unterwirft, gleichzeitig aber doch i m Namen desselben objektivierten und von seinen subjektiven Motiven isolierten Gesetzes zu sprechen weiß. Die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzgeber — i n dem oben entwickelten Sinne des Gegensatzes von objekiivem Gesetzes w i l l e n u n d subjektiven Beweggründen der an der Gesetzgebung beteiligten Menschen — gewährte der Rechtswissenschaft einen bedeutenden Spielraum für ihre Kommentierung und Interpretierung. Sie gab den Juristen gegenüber einem immer problematischer werdenden Gesetzgeber, nämlich gegenüber einer in sich zerrissenen gesetzgebenden Körperschaft, eine neue, eigene Autorität und eine fast legislatorische Würde. Die Rechtswissenschaft repräsentierte die Einheit des Rechtswillens gegenüber der Vielheit egoistischer C. G. Wächters aus dem Jahre 1835. D i e wenige Jahre später erschienene Abhandlung von Robert M o h l „Über die Benutzung der ständischen Verhandlungen zur Auslegung von Gesetzen" (Archiv des Criminalrechts 1843, auch i n der 1860 erschienenen Sammlung von Mohls Aufsätzen „Staatsrecht, Völkerrecht, P o l i t i k " abgedruckt) enthält bereits ein vollständiges Repertor i u i n der Argumente u n d Gesichtspunkte. Der u m 1900 einsetzenden u m fangreichen Literatur zu dem Thema „Gesetz u n d Richter", dem ganzen Methodenstreit u n d der von den P r a k t i k e r n des Z i v i l - oder Straf rechts geführten „Freirechtsbewegung" fehlte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Sinn für verfassungsrechtliche Zusammenhänge; hier zeigte sich die Verengerung eines zivilistischen Gesetzespositivismus i n der ganzen gefährlichen Ahnungslosigkeit ihrer Isolierung der positiven Norm. 22 Rudolf Sohm sagt i n seinem Aufsatz: „ D i e deutsche Rechtsentwicklung u n d die Kodifikationsfrage" i n Grünhuts Zeitschrift für das Privat- u n d öffentliche Recht der Gegenwart, 1874, Band I , S. 277: „Es k o m m t hinzu, daß das Gesetzbuch stets besser, weiser, klarer, inhaltreicher ist als die Gedanken seines Gesetzgebers, und sei er der vortrefflichste. Das ist die Bedeutung der Rechtswissenschaft, daß sie das Gesetz nicht bloß wiedergibt, sondern bereichert, entfaltet. Auch unser Bürgerliches Gesetzbuch, von der Gesamtkraft der deutschen Wissenschaft veredelt und vergeistigt, w i r d noch u m ein bedeutendes besser, treffender u n d gedankenreicher als der Verstand derjenigen, welche es erzeugen." Eccius sagt i n seiner Einleitung zu den letzten Auflagen von Förster-Eccius: „Das Gesetz ist stets klüger als sein Verfasser." K a r l Binding, „ D i e Nonnen u n d ihre Übertretung' 4 , I (2. Auflage), 1890, S. 203, Anmerkung 6 meint, daß „das Gesetz oft klüger als der Gesetzgeber" sei. 26*
404
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
Parteien und Fraktionen. Sobald sie freilich die schmale Brücke dieses Positivismus der isolierten und gesetzten Norm verließ, geriet sie entweder in die naturalistischen Zweckbetrachtungen Iherings oder, wie die Straf rechts Wissenschaft Franz von Liszts, in einen soziologischen Positivismus hinein, wodurch i h r Wesen als Rechtswissenschaft von einer anderen Seite her wiederum gefährdet war.
4. D i e Krisis der gesetzesstaatlichen Legalität Zweites
Stadium 20. J a h r h u n d e r t : motorisierte Gesetzgeber
Der
Die für die Rechtswissenschaft i n mancher Hinsicht günstige Lage des 19. Jahrhunderts hat sich seit dem ersten Weltkrieg geändert. Seit 1914 haben alle großen geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen i n allen europäischen Ländern dazu beigetragen, daß das Verfahren der Gesetzgebung immer schneller und summarischer, der Weg des Zustandekommens einer gesetzlichen Regelung immer kürzer, der Anteil der Rechtswissenschaft immer kleiner wurde. Krieg und Nachkrieg, Mobilmachung und Demobilmachung, Revolution und D i k t a t u r , Inflation und Deflation haben, trotz aller sonstigen Verschiedenheiten, i n allen europäischen Ländern zu dem gleichen Ergebnis geführt, daß das Verfahren der Gesetzgebung immer mehr vereinfacht und immer mehr beschleunigt wurde. Es ergingen immer neue und immer weitere Ermächtigungen, durch welche die gesetzgebenden Körperschaften die Befugnis übertrugen, Dekrete und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Das „ D e k r e t " , die „Verordnung", verdrängte das Gesetz. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ermächtigungspraxis waren überall vorhanden und lagen auch nahe. Denn schließlich sind die gesetzgebenden Körperschaften durch die Verfassung dazu berufen, selber Gesetze zu machen und nicht dazu, andere Stellen zur Gesetzgebung zu ermächtigen; sie sollen, wie schon Locke, der rechtsphilosophische Begründer des modernen Verfassungsrechts, gesagt hat, „Gesetze, aber nicht Gesetzgeber machen". A u f dem Deutschen Juristentag 1921 stellte der Berliner Staatsrechtslehrer Heinrich Triepel fest, daß das „Unglück" der Verdrängung des Gesetzes durch die Verordnung i n Deutschland gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges m i t dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 begonnen habe. Das ist in der Tat ein für die Wandlung des Wesens des Gesetzes bedeutungsvolles Datum. Bei dieser Gelegenheit las
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
Triepel aus einem Brief, den i h m sein großer Lehrer, K a r l Binding, kurz vor seinem Tode geschrieben hatte, folgende Stelle vor: „ D i e nächste große Aufgabe ist die Bekämpfung der Verordnung i n ihrer Anmaßung gegen das Gesetz." Viele Juristen, die auf ruhigeren Teilgebieten des Rechtslebens arbeiteten, glaubten sich außer Gefahr und beruhigten sich mit Sätzen wie: „öffentliches Recht vergeht, Privatrecht besteht", ohne zu beachten, daß der Grundbegriff ihres bisherigen Positivismus, der Gesetzesbegriff selbst, i n Frage stand. K a r l Binding dagegen, als echter Jurist nicht nur des Straf-, sondern auch des Verfassungsrechts, w i t terte mit sicherem Instinkt sowohl die Strukturveränderung des Gesetzesbegriffs wie auch die tödliche Gefahr für den ganzen bisherigen Normativismus. Doch die Entwicklung ging i n allen Ländern schnell über alle Hemmungen hinweg, und zwar gerade auf wirtschafts-, finanz- und steuerrechtlichem Gebiet, d. h. auf dem Heimatboden des formellen und konstitutionellen Gesetzesbegriffs. I n Deutschland ist gleich die erste, unmittelbar nach dem Ende der Inflation erlassene Steuernotverordnung vom 7. Dezember 1923 (RGBl. I, Seite 1177) nicht einmal auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes, sondern nach A r t i k e l 48 der Weimarer Verfassung, d. h. als Diktaturmaßnahme des Reichspräsidenten ergangen, weil ein Ermächtigungsgesetz nicht rechtzeitig zustande kam. Das schien damals, Ende 1923, eine nur vorübergehende, kleine Störung zu sein. Denn die beiden folgenden, nach der Stabilisierung der Währung erlassenen Steuernotverordnungen konnten sich auf ein förmliches Ermächtigungsgesetz (vom 8. Dezember 1923) berufen. A u f der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Jena 1924 war die überwältigende Mehrheit für die bereits im Gang befindliche Strukturveränderung des Gesetzgebungsverfahrens völlig blind. Die Finanzreform von 1925, das Werk des Staatssekretärs Johannes Popitz, ist sogar noch auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung zustandegekommen. Aber schon wenige Jahre später w a r in Deutschland auch die Methode der Ermächtigungsgesetze hoffnungslos überholt, u n d seit dem Juli 1930 wurden auch finanz- und wirtschaftsrechtliche Anordnungen allgemein auf Grund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung, d.h. als D i k t a t u r maßnahmen des Reichspräsidenten erlassen 23 . 25 Siehe den „Vergleichenden Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigungen (Legislative Delegationen)" i n den Melanges Edouard Lambert, L y o n 1938 „L'6volution recente du Probleme des delegations legislatives". Johannes Popitz selbst hat zu der ver-
406
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
I m Vergleich, zu Deutschland -schien damals das siegreiche Frankreich, die dritte Republik, ein sicherer Hort konstitutioneller Verfassungsmäßigkeit zu sein. Aber auch hier setzten sich die legislativen Delegationen durch. I n dem klassischen Land der legistischen Tradition, in der Heimat großer VerfassungsJuristen wie Esmein, Hauriou und Duguit, waren die verfassungsrechtlichen Besorgnisse natürlich besonders lebhaft. Aber auch hier entstanden, wie in anderen Ländern, kunstvolle Unterscheidungen von vereinfachter Gesetzgebung und zulässiger Delegation, m i t denen das konstitutionalistische Gewissen beschwichtigt und wenigstens einige Hemmungen und Abgrenzungen eingeschaltet werden sollten. Alles vergebens. I n Frankreich wie i n anderen Ländern, bei Kriegführenden und Neutralen, bei Siegern und Besiegten, in parlamentarisch regierten Staaten wie i n sogenannten D i k t a t u r e n war der Zwang, die gesetzlichen Bestimmungen den schnell sich ändernden Verhältnissen anzupassen, allzu stark und unwiderstehlich. Der W a r n r u f des Lord Chief Justice von England, des Lord Hewart, gegen den „New Despotism" (1928) hat nichts an der Sache geändert. Noch Mitte M a i 1944 ist im englischen Parlament die beunruhigende Frage der „Executive Powers" erörtert worden, ohne daß zu den Argumenten und Gesichtspunkten der früheren Erörterung dieser Frage in Deutschland, Frankreich oder anderen europäischen Ländern auch nur ein einziger neuer Gesichtspunkt sichtbar geworden wäre. Was H . von Kirchmann vor beinahe hundert Jahren vorausgesagt hatte, daß die Wissenschaft das positive Gesetz niemals werde „einholen" können, traf ein, und zwar noch weit über jede Erwartung hinaus. Die Gesetzgebungsmaschine steigerte i h r Tempo i n ungeahntem Ausmaße, und die positivistisch-rechtswissenschaftliche Kommentierung und Interpretierung vermochte ihr k a u m zu folgen. A n die Stelle des von Professoren der Rechtswissenschaft fassungsrechtlichen Seite der Frage m i t folgenden Sätzen Stellung genommen: „ M a n w i r d auch bei schärfster, staatsrechtlicher P r ü f u n g zu der Erkenntnis kommen müssen, daß eben der Grad der Ausnutzbarkeit von A r t i k e l 48 lediglich abhängt von dem Grad der Not, u n d wenn die N o t so groß ist, daß unbedingt etwas geschehen muß, damit der Staat nicht finanziell zusammenbricht, so w i r d man auch nicht davor zurückschrecken können, A r t i k e l 48 selbst zur Auferlegung von Steuern anzuwenden. Daraus ergibt sich aber gleidizeitig, daß selbstverständlich die allergrößte Behutsamkeit am Platze ist u n d daß n u r i n so schweren Zeiten, w i e sie hoffentlich auf immer hinter uns liegen, ein derartiges Vorgehen zu rechtfertigen ist" (in dem Aufsatz „ D i e staatsrechtlichen Grundlagen des öffentlichen Finanzwesens", Sonderdruck aus „Recht u n d Staat i m Neuen Deutschland", herausgegeben von Bernhard Harms 1929).
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
gechriebenen, wissenschaftlichen und systematischen Kommentars war schon lange vor der vollen Entfesselung der Dekrete i n wachsendem Umfang der von Praktikern oder Referenten der Ministerien verfaßte praktische Kommentar getreten, wobei auch hier zahlreiche Praktiker und Referenten ihre ausgezeichnete rechtswissenschaftliche Bildung keineswegs verleugneten. Man hat von der Verordnung gesagt, sie sei das „motorisierte Gesetz". Soll nun die Wissenschaft dieser Entwicklung nacheilen und sich ebenfalls zu „motorisieren" suchen? Jeder wissenschaftlich denkende Jurist w i r d die innere Unmöglichkeit eines solchen Mitlaufens empfinden. Aber m i t der Motorisierung des Gesetzes zur bloßen Verordnung war der Höhepunkt der Vereinfachungen und Beschleunigungen noch nicht einmal erreicht. Neue Beschleunigungen ergaben sich aus der Marktordnung und der staatlichen Lenkung der W i r t schaft mit ihren zahlreichen übertragbaren Ermächtigungen u n d Unterermächtigungen an verschiedenartige wirtschaftslenkende Stellen, Verbände und Beauftragte. So ist denn gerade in diesem Bereich i n Deutschland neben den Begriff der „Verordnung" noch der der „ A n ordnung" getreten. Die Anordnung ist „die elastischste Form der Gesetzgebung" und übertrifft die Verordnung hinsichtlich der Schnelligkeit des Zustandekommens und der Einfachheit der Bekanntgabe. Wie die Verordnung ein „motorisiertes Gesetz", so konnte die A n ordnung eine „motorisierte Verordnung" genannt werden 2 4 . Hier hört der Spielraum einer selbständigen, rein gesetzespositivistischen Rechtswissenschaft von selber auf. Das Gesetz verwandelt sich i n ein M i t t e l der Planung 2 5 , der Verwaltungsakt i n einen Lenkungsakt. Bei einer von der zuständigen Stelle erlassenen, nicht öffentlich bekanntgegebenen, sondern oft nur den unmittelbar Betroffenen mitgeteilten, ohne weiteres abänderbaren u n d ganz an die schnell wechselnde Lage der Dinge sich anpassenden Anordnung ist es nicht mehr möglich, 24
Das geschieht i n einem überaus wichtigen Aufsatz von Ministerialrat Rieger „Rückblick u n d Ausblick auf die F o r m der wirtschaftlichen Gesetzgebung" i m Ministerialblatt des R W M vom 28. 1. 1941, S. 18; dazu Werner Weber i n der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102, S. 116 f.; K u r t E m i g i n der „Deutschen Rechtswissenschaft" 7. Band (1942), S. 220 f., u n d W . Gäthgens „ D i e rechtlichen Grundlagen der Waren-Bewirtschaftung", i n „Probleme der gelenkten Wirtschaft", herausgegeben von der Wirtschafts-Hochschule Berlin, 1942, S. 52: „ D i e Anordnung als die elastischste F o r m der Gesetzgebung." u „Das Gesetz als M i t t e l der Planung" behandelt die Berliner H a b i l i t a tionsschrift von Georg Daskalakis aus A t h e n (1938).
408
Die Lage der europäischen RetsWissenschaft (1943/44)
zwischen die Anordnung und den Anordnungsgeber, zwischen die Maßnahme und denjenigen, der die Maßnahme t r i f f t , zwischen Lenkungsakt und Lenkungsstelle eine selbständige dritte Größe einzuschalten, wie das i m 19. Jahrhundert zwischen Setzung und Setzer, Gesetz und Gesetzgeber immer noch möglich gewesen war. Es kann einen guten Sinn haben, zu sagen, daß das Gesetz klüger ist als der Gesetzgeber; es ist aber etwas ganz anderes, zu behaupten, daß eine nach Lage der Sache ergangene Lenkungsmaßnahme klüger sei als die anordnende, über die Lage der Sache am besten informierte Lenkungsstelle.
5. Savigny als Paradigma der ersten Abstandnahme von der gesetzesstaatlichen Legalität So ist zweifellos eine kritische Situation der Rechtswissenschaft aus der Entwicklung der Rechtsetzungsmethoden entstanden. Die Rechtswissenschaft kann sich nicht mit den motorisierten Verordnungs- und Anordnungsmethoden i n einen Wettlauf einlassen, bei dem sie allerdings den A t e m verlieren müßte. Sie hat sich vielmehr darauf zu besinnen, daß sie zum letzten A s y l des Rechtes selbst geworden ist. Sie muß sich auf ihre eigentliche Aufgabe besinnen und die i n dem Übermaß der gesetzlichen Setzungen verlorengehende Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts selbst zu wahren suchen. Dazu bedarf es nicht atemloser Eile, sondern i m Gegenteil innerer Sammlung, ruhigster Beobachtung u n d gründlichster Forschung. A n einem großen Beispiel läßt sich erkennen, was die Selbstbesinnung auf die eigene Aufgabe und Würde zu leisten vermag. Ich meine das Beispiel Savignys und seine bekannte Schrift aus dem Jahre 1814 „ V o m Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft". Diese Schrift, zu der als Fortsetzung auch der wesentliche, an großen Gedanken überreiche Aufsatz „Stimmen für und wider neue Gesetzbücher" aus dem Jahre 1816 gehört 2 6 , betrifft gerade unser Thema. Die Schrift ist nicht i n ihren zeitgebundenen Thesen, wohl aber in ihrer Grundhaltung heute aktueller als zur Zeit ihrer Entstehung. I n einem tieferen Sinn ist sie auch aktueller und, 26 Der Aufsatz enthält eine Auseinandersetzung m i t weiteren Aufsätzen Thibauts, ferner m i t Feuerbach, B. W. Pfeiffer u n d anderen; er ist i n der „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft", Band 3 Heft 1 (1816) veröffentlicht u n d der zweiten Auflage der Schrift „ V o m Beruf unserer Zeit" (1828) als Beilage angefügt.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
richtig verstanden, positiver als der Vortrag Kirchmanns mit seiner positivistischen, um nicht gleich zu sagen nihilistischen Abwertung der Jurisprudenz als Wissenschaft. Wenn w i r von Europa sprechen, ist es zweckmäßig, konkrete Namen zu nennen und eine Liste der großen Europäer aufzustellen, damit der Begriff einen bestimmten Inhalt bekommt und nicht bloß ein vieldeutiges Programm bleibt. Ich glaube, wenige Namen verdienen mit besserem Recht i n eine Liste der großen Europäer aufgenommen zu werden als der Name Friedrich Carls von Savigny. Dieser Sohn einer Familie des reichsdeutschen Adels i n Lothringen kam, wie Goethe und wie der Reichsfreiherr vom Stein, aus dem alten Reich. Er war Jurist und Historiker von europäischer W i r k u n g und europäischem Ansehen, Erneuerer der Wissenschaft des römischen Rechts und zugleich ein Verkünder der Lehre vom Volksgeist als dem Schöpfer des Rechts und der Sprache. Er war der Führer einer, in ihrem Sinn und Ursprung keineswegs nur römisch-rechtlichen historischen Schule, und zugleich der Begründer des modernen internationalen Privatrechts 2 7 , ein Gelehrter von umfassendem Wissen und zugleich ein vornehmer Herr und ein Mann von Welt. Es ist für uns kein Zufall, daß es gerade Savigny war, der durch seine Schrift vom Jahre 1814 „ V o m Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" den ersten Ansatz zu einer A n t w o r t der Rechtswissenschaft nicht nur für die damalige Zeit, sondern noch mehr, vorwegnehmend, auch für die verschärfte Problematik der heutigen Lage gegeben hat. Der Streit um die Bewertung Savignys ist seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe gekommen. Die Nachrufe, die seinem Tode (1862) folgten, waren noch ganz von dem unmittelbaren Eindruck der großen Persönlichkeit bestimmt. „Seinesgleichen werden w i r nicht wieder sehn", schrieb Rudorff damals, und selbst Ehering blieb in seinem arg journalistischen Nachruf noch sehr respektvoll. Solange die Pandektenwissenschaft ihren alten Platz wahrte, galt der große Name als sakrosankt. Das änderte sich i m neuen Jahrhundert. „Was ist uns Savigny?" hat ein Vertreter der damaligen Freirechtsbewegung vor 30 Jahren gefragt, und die Antworten scheinen immer negativer zu werden 2 8 . Die Siege freilich, die einige Germanisten in Weiterführung 27
M a x Gutzwiller, Der Einfluß Savignys auf die Entwicklung des Internationalen Privatrechts, Freiburg (Schweiz) 1923. 28 Hans Thieme, Der junge Savigny, i n der Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft", Band 7 (1942), S. 53 f. Auch i n dem noch nicht veröffentlichten
410
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
ihres alten Streites mit den Romanisten über Savigny feierten, waren nur posthume Angelegenheiten des 19. Jahrhunderts und versetzten die von Savigny selbst mitbegründete germanistische Rechtswissenschaft in ein merkwürdiges Bündnis mit heterogenen und wenig germanistischen Freirechtlern und Soziologen. Doch hält auch in den letzten Jahren die negative Bewertung an. Immer mehr vermißte man an Savigny und seiner Lehre den Aktivismus der Tat und stieß man sich an seiner allzu passiven A r t der reinen Kontemplation. Gerade m i t seiner Schrift aus dem Jahre 1814 hat Savigny für eine weitverbreitete Auffassung praktisch j a weiter nichts getan, als daß er die Kodifikation des deutschen Bürgerlichen Rechts um fast ein Jahrhundert aufhielt, wobei er aber diese Kodifikation schließlich doch nicht verhindern konnte. Demnach hätte er i n der rechtsgeschichtlichen E n t w i c k l u n g einfach auf der falschen Seite gestanden; seine „historische" Tendenz hätte nur einen lebensfremden, antiquarischen und reaktionären Sinn, weil sie der zur staatsgesetzlichen Kodifikation drängenden geschichtlichen Entwicklung hemmend in den Weg trat. I m Ganzen gesehen hätte er mit seinem zunächst unbestreitbaren Erfolg nur einen kurzfristigen Sieg davongetragen, nämlich den Sieg eines Professors der Rechtswissenschaft über die Gesetzesreferenten der hohen Ministerialbürokratie. Das aber ist ein Sieg, der einem Gesetzespositivisten nur Mißtrauen einflößen und i h m nur als ein sehr bedenklicher Pyrrhussieg erscheinen kann. Diese, wie gesagt, weit verbreitete Auffassung ist aus der Perspektive des späteren 19. Jahrhunderts entstandeil, das nur noch ein«* gesetzespositivistische Rechtswissenschaft gelten ließ und i n dieser handwerksmäßigen Verengung den Fortschritt des Rechts mit der steigenden Promptheit der Gesetzgebungsmaschine verwechselte. Dazweiten T e i l der Arbeit von Hans Schneider über den preußischen Staatsrat (vgl. den veröffentlichten Aufsatz Hans Schneiders über die Entstehung des Preußischen Staatsrats 1806—1817 i n der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102, 1942, S. 480), der zum ersten Male Savignys M i t w i r k u n g bei der Gesetzgebungsarbeit des preußischen Staatsrats auf G r u n d archivalischer Quellen darstellt, erscheint der große Jurist fast wie ein passiver Spiegel, i n dem sich die Gegensätze, die er m i t vorsichtigem Pro u n d Contra bis zur Entscheidungslosigkeit balanciert, einfach reflektieren. Uber Savignys Mißerfolg als Gesetzgeber vgl. weiter unten i m Text. (Zusatz 1957: D i e vollständige Arbeit von Hans Schneider ist unter dem T i t e l „ D e r Preußische Staatsrat 1817—1918, E i n Beitrag zur Verfassungsu n d Rechtsgeschichte Preußens" 1952 i n der C. H . Beck'schen Verlagsbuchhandlung i n München u n d Berlin als Buch erschienen.)
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
nials ahnte man noch nichts von der verfassungsrechtlichen Problematik der Begriffe Gesetz und Gesetzgeber, Legalität und Legitimität. Man sprach vom „Gesetz" als der schönsten Sache der Welt und bemerkte immer nur negativ, daß Savigny den Beruf der Zeit für die Gesetzgebung verneinte. Man achtete nicht darauf, daß seine Abhandlung eine existentielle Besinnung der Rechtswissenschaft auf sich selbst, daß sie ein großer A u f r u f zur Rechtswissenschaft als der Hüterin des nicht nur gesetzten Rechts war, während seine K r i t i k der gesetzesstaatiichen Kodifikationen nur den Sinn hatte, den Beruf zur Rechtswissenschaft klarzustellen, die Würde eines Rechtsstandes zu retten und eine ganz bestimmte Gefahr zu beschwören. Einen durchaus existentiellen Sinn hatte vor allem Savignys Lehre von den Quellen des Rechts, durch die er dem Wort und dem B i l d von der Quelle eine neue, starke Bedeutung gegeben hat. Man versteht Savigny selbst und seine spezifischen Begriffe von „Historisch" wie von „Positiv" nur, wenn man sein Wort und sein B i l d von der Quelle i n einer für den Existenzkampf der Rechtswissenschaft wesentlichen Besonderheit ernst nimmt. Das Recht als konkrete Ordnung läßt sich nicht von seiner Geschichte loslösen. Das wahre Recht w i r d nicht gesetzt, sondern entsteht i n einer absichtlosen Entwicklung. Was wahres Recht ist, bestimmt sich demnach heute in der konkreten geschichtlichen Existenzform des Juristentums, i n welchem das Wachstum zum Bewußtsein kommt. Der rechts wissenschaftliche Begriff des Positiven ist bei Savigny an eine von Juristen gehütete, besondere A r t von Rechtsquelle gebunden, i n der das Recht i n spezifischer Weise seinen Ursprung als etwas Gegebenes, nicht Gesetztes hat. Der spätere Positivismus kennt überhaupt keinen Ursprung und keine Heimat mehr. Er kannte nur entweder Ursachen oder hypothetisch gesetzte Grundnormen. Er w i l l das Gegenteil eines absichtlosen Rechts; und seine letzte Absicht ist Beherrschung u n d Berechenbarkeit 2 9 . Ein W o r t wie „Quelle" ist für einen solchen Positivismus höchstens eine unverbindliche Metapher für einen irgendwie gesetzten Geltungsgrund. I m übrigen muß es i h m sinnlos, wenn nicht komisch erscheinen, von einer „Quelle" zu sprechen. F ü r Savigny dagegen und seine historisch-positive Auffassung vom Recht ist die Quelle i m vollen Sinn der echten H e r k u n f t und der echten 29 Das spricht der oft zitierte Satz Auguste Comte's, des Begründers des Positivismus als Religion u n d Weltanschauung, i n seinem typischen Schluß m i t fast naivem Legismus aus: voir pour savoir; savoir pour prevoir;
prevoir
pour regier!
412
Die Lage der europäischen RetsWissenschaft (1943/44)
Heimat w i r k l i c h eine Quelle. Sie ist weder eine Zisterne für eine vor wissenschaftliche K a d i Justiz, noch eine Kanalisationsanlage für räum- und rechtlose Planungen 3 0 . Ich möchte einen Augenblick bei Savignys Lehre von den Quellen des Rechts verweilen, weil alles darauf ankommt, den richtigen Abstand zum Legalitäts-Monopol des Gesetzesstaates zu gewinnen. Der große Gelehrte kennt selbstverständlich die Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen, in denen der Ausdruck „Rechtsquelle" gebraucht w i r d und hat das in seinem „System des heutigen Römischen Rechts" 3 1 ausführlich dargelegt. Es gibt für ihn Rechtsquellen i m Sinne von Rechtsinstituten und gültigen Regeln und Rechtsquellen im Sinne der reinen geschichtlichen „Quellen der Rechtswissenschaft". Das k l i n g t heute wie eine T r i v i a l i t ä t ; aber mit gelassener Selbstverständlichkeit fügt er hinzu, daß „beide Bedeutungen i n den allermeisten Fällen in der Tat zusammentreffen". Er bemerkt, daß die meisten Schriftsteller, ohne diese genauere Unterscheidung, von den erhaltenen Büchern — vom Corpus Juris und von den deutschen Pcechtsbiichern des 13. und 14. Jahrhunderts — als von „Rechtsquellen" sprechen; aber mit derselben Ruhe fährt er fort: „Diese Schriftsteller sind deshalb nicht zu tadeln." Die Rechtswissenschaft ist eben selbst die eigentliche Rechtsquelle. Das Gesetz ist ihr nur Stoff, den sie womöglich gestaltet und veredelt; die wissenschaftliche Form, die sie allein zu geben vermag, sucht eine dem Gesetzesstoff innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden und erzeugt dadurch „ein organisches Leben, das bildend auf den Stoff selbst z u r ü c k w i r k t " . Savigny kennt den Wert eines guten Gesetzes, aber er weiß erstens, daß das Gesetz nur eine von mehreren Erscheinungsformen des Rechtes konkreter Ordnungen ist, und zweitens, daß Wesen und Wert des Gesetzes in seiner Stabilität und Dauer liegen, oder, wie Johannes Popitz es einmal m i t einer gewissen eleganten Skepsis formuliert hat: i n seiner „relativen Ewigkeit". N u r dann hat die Selbstbindung des Gesetzgebers und mit ihr die Unabhängigkeit des gesetzgebundenen Richters einen 30 Die Formulierung „ r ä u m - u n d rechtlose Planung" orientiert sich an der bedeutenden u n d fruchtbaren Lehre von Francisco Javier Conde, dessen politische Theorie die drei Bestimmungen des Begriffes der politischen Realität, nämlich Plan, Raum und Recht aufgestellt u n d an den großen geschichtlichen Formen der griechischen Polis. des I m p e r i u m Romanum, der Civitas Christiana u n d des modernen Staates entwickelt hat (in „Teoria v Systema de las Formas Politicas", M a d r i d 1944). 31 Band I (1840), zweites und drittes Kapitel, S. 13 ff.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
Halt. Die Erfahrungen der französischen Revolution hatten gezeigt, welcher Setzungs-Orgien ein entfesselter Pouvoir legislatif fähig ist, und die Behandlung der Professoren des Rechts durch Napoleon war ein Symptom für den Zusammenhang aller dieser Fragen mit der Lage der Rechtswissenschaft. Ebensowenig aber konnte damals für Deutschland ein von der Rechtspraxis durch Präjudizien getragenes Fallrecht, ein case law, in Betracht kommen. So war es die Rechtswissenschaft, die durch diese Lehre von den historischen Quellen zu einer spezifischen Autorität, zu einer autonomen Trägerin der Rechtsentwicklung und zur Seele eines deutschen Juristenstands erhoben werden sollte. Die E n t w i c k l u n g war dabei als ein ruhiges Wachstum gedacht, das durch die fortwährende Bezugnahme auf solche Quellen seine Kontinnität bewahrte und vor W i l l k ü r geschützt blieb, während auf der anderen Seite der unerschöpfliche Reichtum der historischen Quellen und die Fülle ihrer aktuellen Verwertbarkeiten die Möglichkeit zu allen notwendigen Änderungen und Erneuerungen des Rechts in sich enthielt 3 2 . Unter dem Aspekt, der sich m i t diesem Hochziel Savignys eröffnet, stellt sich die Lage der europäischen Rechtswissenschaft i m großen folgendermaßen dar: England ist das Beispiel für die Herrschaft eines Reehtsstandes von Praktikern; hier findet ein ständisches Gebilde die Quelle des Rechts i n den von diesem Rechtsstfa/id selbst gesetzten, getragenen und gewahrten „Präzedenzfällen". D a r i n hat der Jurist eines solchen Landes die ihm wesensgemäße Grundlage 82 Eine herrliche Stelle i n Savignys A b h a n d l u n g lautet: „Ich w i l l noch das höhere Ziel hinzufügen, dessen Möglichkeit auf demselben Wege (nämlich i n dem wissenschaftlichen Charakter des deutschen Juristenstandes) liegt. 1st einmal Rechtswissenschaft auf die hier beschriebene Weise Gemeingut der Juristen geworden, so haben w i r i n dem Stand der Juristen wiederum ein Subjekt für lebendiges Gewohnheitsrecht, also für wahren Fortschritt, gewonnen; von diesem Gewohnheitsrecht w a r unser Gerichtsgebrauch ein kümmerliches Surrogat, am kümmerlichsten der Gerichtsgebrauch der Juristenfakultäten. Der historische Stoff des Rechts, der uns jetzt überall hemmt, w i r d dann von uns durchdrungen sein und uns bereichern. W i r werden dann ein eigenes nationales Recht haben, u n d eine mächtig wirksame Sprache w i r d i h m nicht fehlen. Das Römische Recht können w i r dann der Geschichte übergeben, u n d w i r werden nicht bloß eine schwache Nachahmung römischer Bildung, sondern eine eigene u n d neue B i l d u n g haben. W i r werden etwas Höheres erreicht haben als bloß sichere u n d schnelle Rechtspflege: Der Zustand klarer, anschaulicher Besonnenheit, welcher dem Recht jugendlicher Völker eigen zu sein pflegt, w i r d sich m i t der hohen wissenschaftlichen Ausbildung verzweigen."
414
Die Lage der europäischen Redits Wissenschaft (1943/44)
seiner beruflich-ständischen Existenz als Rechtswahrer. Diese „Regel und Herrschaft des Rechts", diese „rule of l a w " , ist eine geschlossene Ordnung und bedeutet als solche die Herrschaft eines nicht-staatlichen Berufsstandes; sie ist weder Normativismus noch etwa das, was später auf dem Kontinent m i t der Zusammensetzung „Rechtsstaat" bezeichnet wurde. Es handelt sich wesentlich gerade u m ein ständisches, d. h. nicht-staatliches Gebilde, das i n der Society fundiert ist und i n diesem Sinne, gesellschaftlich, beruflich und i n seiner spezifischen Rechtsquelle eben einen „Stand" und nicht einen „Staat" bildet. Der geschichtliche Gegenbegriff zu diesem Rechtsstand ist der kontinentale Gesetzesstaat. Frankreich, das Land der Legisten, lieferte das Beispiel einer positivistischen Vergesetzlichung des Rechts zur staatlichen Kodifikation. Die typische Rechtsquelle ist hier das staatliche Gesetz. Staat und Gesetz gehören in spezifischer Weise zusammen. Der zentralisierte Gesetzesstaat schließt einen i h m gegenüber selbständigen Rechtsstand aus, während es einen „Gesetzesstand" natürlich überhaupt nicht geben k a n n 3 3 , t m Gesetzesstaat w i r d der Richter zu einem staatlichen, das staatliche Gesetz anwendenden Beamten, dem eine nicht-staatliche, i n der bürgerlichen Gesellschaft wurzelnde, „freie" Advokatur gegenübersteht. In Deutschland aber ist durch Savigny der erstaunliche Versuch gemacht worden, der Rechtswissenschaft die Bedeutung der eigentlichen Rechtswahrerin zu verleihen. Den englischen Praktikern einer reich gewordenen Society und den französischen Legisten eines zentralisierten Gesetzesstaates t r i t t mit Savigny das wissenschaftliche Rechtswahrertum eines europäischen Reiches entgegen. N u r in diesem existentiellen Sinne — nicht als eine von Historikern getragene Geschichtswissenschaft, aber auch nicht als ein Positivismus irgendwie „gesetzter" Maßnahmen — ist Savignys Idee der „Quelle" zu begreifen, und nur daraus ergibt sich das, was er selbst (nicht die den späteren positivistischen Begriffswandlungen folgende sogenannte historische Schule) unter den Worten „historisch" und „positiv" " Gesetz u n d Staat sind die rechtsgeschichtlich sich entsprechenden Begriffe. Es gibt deshalb nur einen Rechts stand u n d nur einen Gesetzes staat. „Rechtsstaat" ist eine deutsche Prägung des 19. Jahrhunderts u n d liegt kurz vor 1848, also i n dem kritischen P u n k t der Aufspaltung des unproblematischen Rechts i n Legalität u n d Legitimität, hinter den w i r von heute nur künstlich zurückgehen können. Die deutsche Sprache hat öfters juristisch versagt. Auch das W o r t „Gesetzgeber" ist nicht glücklich, w e i l es die klärende Differenzierung von „Setzen" und „Geben" kombiniert u n d verwischt.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
verstanden h a t 3 4 . Dieser typisch deutsche Versuch, eine nicht „setzende", sondern die E n t w i c k l u n g zum Bewußtsein bringende Rechtswissenschaft zur Trägerin und H ü t e r i n des Rechts und zum Kern eines echten Rechtsstandes zu erheben, ist i m 19. Jahrhundert und am 19. Jahrhundert gescheitert. Das vermindert seine europäische Bedeutung nicht und hebt seine A k t u a l i t ä t nicht auf. W i r müssen, um Mißdeutungen abzuwehren, ausdrücklich betonen, daß hier nicht etwa ein „Zurück zu Savigny" proklamiert werden soll. Savignys A u f r u f zur Rechtswissenschaft aus dem Jahre 1814 ist für uns nur ein paradigmatisches Ereignis, an das w i r uns erinnern, um die heutige Lage der europäischen Rechtswissenschaft richtig zu verstehen. W i r wissen, daß es keine Restauration vergangener Situationen gibt. Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr. Der Begriff des Historischen selbst unterliegt Wandlungen und Umdeutungen und seine Realisierungen auf den verschiedenen Gebieten des geistigen Lebens nehmen sehr verschiedene Gestalt an. Während der staatliche Gesetzespositivismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert i n Deutschland jede Erörterung sachlicher Probleme als „unjuristisch" ablehnte und sich dadurch aller geistigen Macht beraubte, konnte auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft eine von Gustav von Schmoller geführte historische Schule die deutsche Rechts- und Staatsauffassung in bedeutendster Weise beeinflussen. Aber auch abgesehen von dieser inneren Wandelbarkeit, die zur Idee und zum Begriff des Geschichtlichen selbst gehört, sind w i r inzwischen durch so viele kritische Situationen hindurchgegangen, daß heute unser Wissen von den historischen Quellen unendlich weiter und tiefer ist als zur Zeit Savignys. Die in der Geschichte des römischen Rechts selbst fließenden Quellen haben sich unendlich erweitert. Der Horizont hat sich nicht nur äußerlich ausgedehnt, son84 Ich möchte Savignys eigene Kennzeichnung seiner „strengen historischen Methode der Rechtswissenschaft" hier i m Wortlaut wiederholen, w e i l sie leider i n Vergessenheit geraten zu sein scheint: „ D e r Charakter derselben (nämlich dieser historischen Methode der Rechtswissensdiaft) besteht nicht, wie einige meiner Gegner unbegreiflicherweise gesagt haben, i n ausschließender Anpreisung des Römischen Rechts, auch nicht darin, daß sie die unbedingte Beibehaltung irgend eines gegebenen Stoffes verlangte, was sie vielmehr gerade verhüten w i l l . I h r Bestreben geht vielmehr dahin, jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so ein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist und auch nodi der Geschichte angehört".
416
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
d e m auch m i t einem neuen Sinn für anthropologische und mythologische Probleme unendlich vertieft. Der wahre Erbe Savignys im 19. Jahrhundert war weder Puchta noch Ihering, sondern Johann Jacob Bachofen. Freilich ließ er die Aktualitäten des positivistischen Zeitalters links liegen und ging er seinen Weg i n die fruchtbare Tiefe und Stille mythologischer Forschung 3 5 . Es geht heute also nicht um reaktionäre Zurückschraubungen, sondern um die Eroberung eines ungeheuren Reichtums an neuen Erkenntnissen, der rechtswissenschaftlich für die Gegenwart fruchtbar werden kann und dessen w i r uns, gestaltend, bemächtigen müssen. I m H i n b l i c k auf diese Aufgabe dürfen w i r den toten Positivisnius des 19. Jahrhunderts seine Toten begraben lassen. W o r i n liegt das Geheimnis der außerordentlichen W i r k u n g , die sowohl in Deutschland wie in ganz Europa von Savignys A u f r u f für die Rechtswissenschaft ausgegangen ist? Aus welchen tieferen Quellen entsprang die K r a f t zu einem solchen, noch heute anhaltenden Appell? Ich möchte, um Mißverständnisse nach Möglichkeit fernzuhalten, nochmals betonen, daß die Schrift aus dem Jahre 1814 nach ihrem gedanklichen Inhalt und ihrer Argumentation keineswegs i n einer abstrakt-absoluten Weise zwingend oder überwältigend ist. Trotz aller Schönheit der Sprache und des Stils bemerkt der aufmerksame Leser Widersprüche auffälligster A r t . Savigny verkündet die Lehre von einem absichtslos wachsenden, schöpferischen Volksgeist, und doch ist er der Begründer einer i m engen Sinne des Wortes nur historischen Schule geworden, eines „Naturrechts des historisch Gewordenen" (Max Weber), einer Richtung, die schließlich zu einer archäologischen, philologischen und papyrologischen Gelehrsamkeit führte, die als ein einziger großer Anachronismus erschien und deren Kontakt mit dem fortwährend wachsenden, lebendigen Volksgeist nur sehr mittelbar genannt werden konnte. Man darf dafür nicht allein die geistige Enge von Savignys Nachfolgern wie Puchta verantwortlich machen. D e r Fehler lag schon i m Ansatz und i n dem gefährlichen Wort „Positivismus". Die Parallele von Recht und Sprache, die bei Savigny als entscheidendes Argument auftritt, hätte i n Deutschland zur Germanistik führen müssen, die Savigny übrigens nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern auf das Nachdrücklichste mit aufgerufen 85 Bachofens wunderbare Selbstdarstellung der Jahre 1840—1854 ist durch Savignys mehrfache Aufforderungen veranlaßt. Bachofens Freundschaft m i t Ihering währte nur kurze Zeit (1846—1851) u n d blieb für Ihering unfruchtbar.
417
Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44)
h a t 3 6 . M i t der Forderung einer R ü c k k e h r zu den reinen u n d k r i t i s c h g e p r ü f t e n Q u e l l e n des r ö m i s c h e n R e c h t s u n d z u i h r e r
lateinischen
Sprache schien die Lehre v o m Volksgeist i n D e u t s c h l a n d
unverein-
b a r . D a s alles s i n d n a h e l i e g e n d e E i n w ä n d e , d i e o f t u n d i n
vielen
K r i t i k e n vorgebracht w o r d e n sind. Heute erklären die bedeutendsten Rechtshistoriker der Gegenwart, Romanisten wie Germanisten,
daß
S a v i g n y u n d seine h i s t o r i s c h e S c h u l e b e i d e „ i m G r u n d e u n h i s t o r i s c h " waren, u n d zwar sowohl i n ihrer Methode u n d Quellenkritik wie in ihrer
Zielsetzung87.
A l l e diese z a h l r e i c h e n , n a h e l i e g e n d e n W i d e r s p r ü c h e , d i e s i c h b e i der
Lektüre
sollen hier
von weder
Savignys geleugnet
Abhandlung
heute
noch verharmlost
jedem werden.
aufdrängen, Man
kann
gewiß n i c h t behaupten, d a ß der überwältigende I n h a l t der Beweisführung den überwältigenden Erfolg
Savignys verständlich
mache.
I c h finde das G e h e i m n i s seiner g r o ß e n ä u ß e r e n u n d i n n e r e n W i r k u n g i n etwas ganz anderem. Sein A u f r u f
w a r d i e erste b e w u ß t e D i s t a n -
z i e r u n g z u r W e l t d e r Setzungen. Seine B e d e u t u n g l i e g t n i c h t i n e i n e r A r g u m e n t a t i o n , sondern i n d e r geistigen Situation, d i e seinem H a u p t a r g u m e n t , seiner L e h r e v o n d e r a b s i c h t l o s e n E n t s t e h u n g des R e c h t s , 86 „Das wichtigste ist u n d bleibt nämlich die Geschichte der uns ange* hörenden Rechte, des Römischen u n d des Canonischen Rechts, wobei jedoch zu bedenken ist, daß das Germanische Recht wissenschaftlich keineswegs auf das i n Deutschland geltende zu beschränken ist, sondern vielmehr alle germanischen Stämme u m f a ß t / 4 So i n dem Aufsatz: „ F ü r u n d wider neue Gesetzbücher" (1816). I m übrigen gelten bekanntlich Friedrich Eichhorn u n d Jacob G r i m m m i t Savigny als die Begründer der „historischen Schule"; vgl. die typische Darstellung bei Claudius von Schwerin, Grundzüge der Deutschen Rechtsgeschichte, 1934, S. 255. 87 So Koschaker i n seinem oben (Anmerkung 8) genannten Vortrag u n d Freiherr Claudius v. Schwerin i n seiner ebenda zitierten Besprechung des Vortrages von Koschaker. Von besonderem Interesse ist hier das scharfe U r t e i l von Franz Beyerle i n seinem oben (Anmerkung 19) zitierten Aufsatz „Schuldenken u n d Gesetzeskunst" (in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102, 1942, Seite 209 f.), der Savigny dafür verantwortlich macht, daß der deutsche Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts die Sprache des Volkes verloren hat u n d eine Schulsprache spricht. Beyerle beachtet aber nicht, daß ein modernes Staatsgesetz kein „Spiegel" i m mittelalterlichen Sinne sein kann. Savigny selbst w a r zweifellos ein Meister der deutschen Sprache. Das Problem der Sprache u n d der Wissenschaftlichkeit des modernen Gesetzgebers (für Verordnungen u n d Reglements erlaubt Beyerle, S. 210, ausdrücklich Wissenschaftlichkeit u n d eine Fachsprache) scheint m i r auch durch Beyerles Aufsatz noch nicht gelöst. Doch halte ich seine sprachkritische Bemerkung zu dem W o r t „Gesetzbuch" für treffend, w e i l der Begriff „Gesetz" wesentlich dem „Staat" zugeordnet ist (S. 216, A n m e r k u n g ; vgl. oben, A n m e r k u n g 33).
2
Carl Schmitt
418
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
erst die geschichtliche Größe gibt, weil sie die Rechtswissenschaft zum Gegenpol des bloß faktischen Setzüngsrechtes macht, ohne das Recht i n die Bürgerkriegsparolen des Naturrechts zu werfen. D a r u m halten w i r es auch nicht für eine Widerlegung, wenn immer wieder auf den bekannten Mißerfolg hingewiesen w i r d , der Savigny nach 1840 betroffen hat. Der Mißerfolg, j a ein wahrer Absturz trat ein, als er den Boden, auf dem er groß und berühmt geworden war, verließ und die Ebene scheinbar größerer Wirkungsmöglichkeiten betrat. E r glaubte die wohlgemeinten Vorschläge seines Königs Friedrich W i l h e l m I V . nicht ablehnen zu dürfen und wurde 1842 Minister für Gesetzesrevision, i m Oktober 1847 außerdem Präsident des preußischen Staatsrats und des Staatsministeriumsi Die liberalen Feinde Savignys haben sich an seinem Mißerfolg m i t Hohn und Spott geradezu geweidet. I h r T r i u m p h wäre wohl noch lärmender gewesen, wenn sie das ganze Material über die Einzelheiten dieser gesetzgebenden Tätigkeit des Mannes gekannt hätten, dessen bisherige Überlegenheit gerade darin bestanden hatte, seinem Zeitalter den Beruf zur Gesetzgebung abzusprechen und es auf die Rechtswissenschaft zu verweisen. W i r wissen heute, daß Savigny, unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution von 1848, m i t großer Eile eine Vereinfachung und Beschleunigung der Gesetzgebung betrieben hat, u n d zwar auf Kosten der Mitwirkungsbefugnisse eben des Staatsrates, dessen Präsident er w a r 3 8 . I n der Tat eine unglückliche Rolle! Aber man darf sie nicht nur biographisch sehen. Savigny wurde durch das Wohlwollen seines Königs i n derselben Weise geschichtlich zu einer Unglücksfigur, wie es der große Philosoph Schelling geworden ist, der 1841 von München nach Berlin berufen wurde. M i t der Berliner Vorlesung Schellings vom Winter 1841/42 — deren epochale Bedeutung als Untergangssymptom Sören Kierkegaard, Jacob Burckhardt, Friedrich Engels, Bruno Bauer, Michael Bakunin und w o h l auch M a x Stirner sofort erkannten — beginnt die geistige Katastrophe einer Generation, j a eines ganzen Zeitalters deutscher idealistischer Philosophie und 88
Hans Schneider macht i n seiner (oben, A n m e r k u n g 28) erwähnten Abhandlung über den preußischen Staatsrat zu der Verordnung v o m 6. Januar 1848 betr. die Vereinfachung der Beratungen des preußischen Staatsrates folgende Bemerkung: „ K e i n anderes Gesetz von Bedeutung hat Savigny m i t weniger A u f w a n d an A r b e i t u n d Zeit ganz aus eigener I n i t i a t i v e geschaffen." Uber Savignys Tätigkeit als Justizminister: Stölzels Darstellung i n „Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung u n d Rechtsverfassung", Band 2, Berlin 1888, S. 535 ff.
Die Lage der europäischen Rechtsissenschaft (1943/44)
419
Theologie. Es ist keine zufällige Parallele, daß die Katastrophe einer Generation u n d eines Zeitalters deutscher Rechtswissenschaft i n analoger Weise m i t der Gesetzgebungstätigkeit Savignys begann, dessen „System des heutigen Römischen Rechts" der junge Lorenz Stein u m dieselbe Zeit i n den deutschen Jahrbüchern m i t der ganzen Unbarmherzigkeit der neuen Generation zerriß 3 9 . Es handelt sich also hier, vor 1848, nicht u m das Einzelschicksal eines Mannes und u m einen sozusagen privaten Selbstwiderspruch, i n den er hineingeriet, sondern u m eine geistesgeschichtliche Gesamt-Katastrophe, i n der das Schicksal eines großen deutschen Juristen m i t dem eines großen deutschen Philosophen zusammentrifft. Es war ein Augenblick des Zusammenbruchs alter und des Aufbruchs neuer Kräfte, der dem revolutionären Ausbruch des Jahres 1848 unmittelbar voranging. Dagegen gehört jener A u f r u f zur Rechtswissenschaft aus dem Jahre 1814 i n einen wesentlich andern geistesgeschichtlichen Moment. I m übrigen wollen w i r als Juristen nicht vergessen, daß Savigny m i t dem 1849 erschienenen achten Band seines „System des heutigen Römischen Rechts", d. h. m i t der Begründung des modernen Internationalen Privatrechts, wieder zu sich selbst und zu seiner europäischen Größe zurückgefunden hat. Er hat damit eine Leistung erbracht, die als ein Werk ungebrochener rechtsschöpferischer K r a f t jede Gesetzeskodifikation der folgenden Zeit bei weitem überragt. Die folgenden Generationen gesetzespositivistischer Juristen des 19. und 20. Jahrhunderts konnten Savignys A u f r u f zur Rechtswissenschaft überhaupt nicht, nicht einmal als ein historisches Phänomen richtig verstehen. Sie waren nicht mehr i n der Lage, sich von der Welt der bloßen Setzungen zu distanzieren; ja, sie waren nicht einm a l i n der Lage, wahre Erfahrungen zu machen. I n dem Sicherheitsgefühl ihres Positivismus ahnten sie nicht einmal die Möglichkeit der existentiellen Krisen, die sich durch die Aufspaltung des Rechts i n Legalität u n d Legitimität bekundeten. Erst als das „Gesetz", das sie i n kritiklosen Verallgemeinerungen für den festen Boden des positiven Rechts gehalten hatten, plötzlich i n eine rapide Bewegung geriet und i h r Dogma „Gesetz ist Gesetz" ebenso problematisch wurde wie i h r Satz „ M a r k ist M a r k " , wurden sie unruhig. Aber ihre 39
Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft u n d Kunst (Fortsetzung der Hallischen Jahrbücher) 1841, Nr. 92 (S. 365 f.): „ D e r Begriff des Staates fordert nämlich ein Recht, das i h m eigen ist." „Das ganze System des Pandektenrechts beruht auf einer von der unserigen ganz verschiedenen A u f fassung der Hauptbegriffe des Privatrechts." 2
420
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
positivistischen Methoden schlossen die echte Selbstbesinnung aus. Daß Savignys Name immer noch pietätvoll weitergenannt, sein Leben immer noch liebevoll erforscht und seine Leistung immer noch respektvoll gepriesen wurde, hatte mancherlei Gründe. Doch das Wesentliche konnte einem setzungspositivistischen Zeitalter nicht mehr zum Bewußtsein kommen, und das Wesentliche ist, daß hier ein Repräsentant europäischen Geistes, i n einem großartigen Moment und mit genialem Blick, i n der Vergesetzlichung die Gefahr der Mechanisierung und Technisierung des Rechts erkannt hatte, zwanzig Jahre bevor diese Gefahr «durch den ersten Diagnostiker der Gesamtkrisis Europas, den großen französischen Historiker Alexis de Tocqueville, i n seinem Buch „ D e la democratic en Amerique" (1835) festgestellt wurde, hundert Jahre bevor sie i n einer schweren Krisis allgemein zum Bewußtsein k a m und berühmte Autoren wie M a x Weber und Oswald Spengler die schlimme Erkenntnis verbreiteten. Savigny argumentiert i n der Weise, daß er von der Kindheit, der Jugend und dem Alter der Völker spricht. Er sieht es als Zeichen der Jugendlichkeit eines Volkes an, daß die Wissenschaft das Rechtsleben führt und die Quellen hütet. Er stellt diese Rechtswissenschaft ganz auf sich selbst, sowohl gegen Theologie und Philosophie wie gegen das bloße Handwerk der Gesetzeskunde. Das ist der Sinn seiner „historischen" Richtung und seines Zurückgehens auf das römische Recht und die reinen Quellen. D a m i t hat er, weit über den zeitgebundenen Inhalt seiner Argumentation hinaus, und ebenso weit über den Mißerfolg seiner eigenen gesetzgeberischen Bemühungen hinaus, die geschichtliche Lage der europäischen Rechtswissenschaft i n ihrem Kern richtig erkannt.
6. Die Rechtswissenschaft als letztes Asyl des Rechtsbewußtseins Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft ist nämlich, wenn w i r sie i n ihren großen, die Jahrhunderte umfassenden Horizonten sehen, immer durch zwei Gegensätze bestimmt gewesen, den der Rechtswissenschaft zur Theologie, Metaphysik und Philosophie auf der einen u n d zu einer bloß technischen Normenkunde auf der anderen Seite. I m K a m p f mit der Theologie und i n Absetzung von den theologischen Fakultäten hat sich die europäische Rechtslehre seit dem 12. Jahrhundert als selbständige Rechtswissenschaft entwickelt.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
Gegen diese Seite verteidigt Savigny die Rechtswissenschaft, indem er die i m philosophischen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts säkularisierte Theologie, wie auch das System der Philosophie Hegels als eine Gefahr für die innere Autonomie der Rechtswissenschaft erkennt. Zugleich aber hat er auf der anderen Seite den Positivismus der bloßen Setzung von Setzungen, -der bloßen Sollensregel, als einen wissenschaftsfeindlichen Faktor bekämpft und die Gefahr des Gesetzespositivismus der napoleonischen Kodifikationen erkannt. Beiden hält er den „Positivismus der historischen Quelle" entgegen, u m die Rechtswissenschaft sowohl vor bloßer Philosophie wie auch vor „bloßem H a n d w e r k " zu retten. I n der Selbstauslieferung an Theologie und Philosophie würde die Rechtswissenschaft aufhören, i n spezifischer Weise eine eigene, autonome Wissenschaft zu sein; sie würde i n anderen Fakultäten aufgehen und das Ergebnis eines halben Jahrtausends preisgeben. Sie wäre dann nicht mehr „positiv" i n einem geschichtlichen, ihre Eigenart bestimmenden Sinn dieses vieldeutigen, auch von Savigny gern gebrauchten Wortes. I n der Unterwerfung unter die bloße Legalität eines nur gesetzten Sollens würde sie ihre Würde als Wissenschaft überhaupt verlieren und zu dem nicht einmal mehr besonders nützlichen Instrument eines technischen Prothesen-Betriebes herabsinken, der die Erde als tabula rasa einer räum- und rechtlosen Planung behandelt. D a n n würde die Rechtswissenschaft nicht nur keine „ F a k u l t ä t " mehr bilden, sie hätte überhaupt ihren akademischen Charakter verloren. Sie würde nicht mehr an eine Universität gehören, vorausgesetzt, daß diese Institution den Sinn bewahrt, der ihr als einer konkreten Ordnung europäischen Geisteslebens geschichtlich zukommt. Die europäische Rechtswissenschaft ist das erstgeborene K i n d des modernen europäischen Geistes, des neuzeitlichen „occidentalen Rationalismus". Erst später sind die modernen Naturwissenschaften ihr gefolgt. Die ersten Bahnbrecher dieses Rationalismus waren die Legisten, große Revolutionäre, die denn auch das Schicksal der echten Revolutionäre erfahren haben. I m 12. und 13. Jahrhundert ist i n einer Wiedergeburt des römischen Rechts i n den Städten Nord- und Mittelitaliens die „Glosse" zum Corpus juris entstanden, i n chaotischen Zeiten, die keineswegs dem Sekuritätsideal des 19. Jahrhunderts entsprachen, die aber gerade dadurch den Menschen die Unentbehrlichkeit einer aus wissenschaftlichen Quellen sich nährenden Rechtswissenschaft zum Bewußtsein brachten. I n heftigen Kämpfen m i t Kirche und Theologie hat sich die Rechtswissenschaft während des
422
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
13. u n d 14. Jahrhunderts als „ F a k u l t ä t " durchgesetzt und i n den tumultuarischen Zuständen einer sich auflösenden Feudalzeit gehalten. Das 16. Jahrhundert, das die Blüte einer humanistischen Rechtswissenschaft erlebte, war zugleich eine Zeit blutiger konfessioneller Bürgerkriege. Große Juristen dieser Epoche wurden die Opfer eines intoleranten Fanatismus, wobei jede Seite ihre Märtyrer des Rechts aufzuweisen hatte, wie John Story auf der Seite des alten, Donellus und Albericus Gentiiis auf der Seite des neuen Glaubens. Ein typischer Jurist dieser Zeit, der Schöpfer des modernen Staatsrechts und des Begriffs der Souveränität, Jean Bodin, ist während der konfessionellen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts, i n der Bartholomäusnacht von 1572, dem Tod durch Mörderhand nur durch ein Wunder entgangen. Niemand darf sagen, daß der geistige Mut, der zur Rechtswissenschaft wie zu jeder anderen Wissenschaft gehört, der Rechtswissenschaft i n dieser Schreckenszeit konfessioneller Bürgerkriege gefehlt habe. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Lage der europäischen Rechtswissenschaft durch die Aufspaltung des Rechts i n Legalität und Legitimität bestimmt. Die Gefahr, die heute dem rechts wissenschaftlichen Geist Europas droht, kommt nicht mehr aus der Theologie und nur noch gelegentlich aus einer philosophischen Metaphysik, sondern aus einem entfesselten Technizismus, der sich des staatlichen Gesetzes als seines Werkzeuges bedient. Jetzt hat sich die Rechtswissenschaft nach einer anderen Seite h i n zu behaupten. Der wissenschaftliche Jurist ist kein Theologe und kein Philosoph, er ist aber auch keine bloße F u n k t i o n eines irgendwie „gesetzten" Sollens und seiner Setzung von Setzungen. W i r haben uns also gegen eine subalterne Instrumentalisierung zu wehren, wie w i r uns i n anderen Zeiten gegen die Abhängigkeit von der Theologie gewehrt haben. Nach beiden Seiten h i n bleiben w i r Wissenschaft und Jurisprudenz. Das ist die W i r k l i c h k e i t unserer geistigen Existenz, die w i r uns nicht von außen d u r c h methodologische, psychologische oder allgemein philosophische Kategorien zerreden lassen. Denn w i r erfüllen eine A u f gabe, die keine andere Form oder Methode menschlicher Betätigung uns abnehmen kann. W i r können uns die wechselnden Machthaber und Regime nicht nach unserem Geschmack aussuchen, aber w i r wahren i n der wechselnden Situation die Grundlage eines rationalen Mensch-Seins, das der Prinzipien des Rechts nicht entbehren kann. Zu diesen Prinzipien gehört eine auch i m K a m p f nicht entfallende, auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person; Sinn
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
1943/44)
f ü r L o g i k u n d Folgerichtigkeit der Begriffe u n d Institutionen; Sinn f ü r Reziprozität u n d f ü r das M i n i m u m eines geordneten Verfahrens, einen due process of law, ohne den es k e i n Recht g i b t 4 0 . D a r i n , daß w i r diesen unzerstörbaren K e r n allen Rechts gegenüber allen zersetzenden Setzungen wahren, liegt die W ü r d e , die i n unsere H a n d gegeben ist, heute i n Europa mehr als zu irgendeiner anderen Zeit u n d i n irgendeinem anderen T e i l der Erde. D e r von P r a k t i k e r n eines Rechtsstandes getragene Traditionalismus englischer A r t w a r großen neuen Problemen geistig nicht mehr gewachsen. D i e Vergesetzlichung des Rechts i m französischen S t i l u n d seine V e r w a n d l u n g i n staatliche Legalität u n d i n einen F u n k tionsmodus der staatlichen Justiz u n d V e r w a l t u n g enthielt die Gefahr der Erstarrung oder, für Deutschland als das a m stärksten i n d u s t r i a l i sierte Land, die Gefahr der Mechanisierung, Technisierung u n d Termitisierung; i h r Schicksal ereilte sie i n den steigenden Motorisierungen der Gesetzgebungsmaschine. Das W o r t von der todbringenden Gesetzlichkeit, von der „legalite q u i tue", spricht die Gefahren dieser Zersetzung des Rechts i n dem Netz immer neu „gesetzter" Sollens Vorschriften aus. So b l e i b t uns w i r k l i c h n u r der A u f r u f zur Rechtswissenschaft als der letzten H ü t e r i n der absichtlosen Entstehung u n d E n t w i c k l u n g des Rechts. Damals, 1814, als Savigny seine Stimme erhob, standen die Juristen des europäischen Kontinents noch ganz unter der faszinierenden W i r kung, die von dem V o r b i l d der napoleonischen Kodifikation, vor allem von dem Code C i v i l ausging. I n d e m Glanz dieses Ruhmes k a m die Lage der damaligen französischen Rechtswissenschaft, insbesondere die traurige Rolle der Lehrer u n d Professoren des Rechts, den meisten gar nicht z u m Bewußtsein 4 1 . D i e von den napoleonischen Kodifikationen ausgehende Hypnose w a r noch stärker als der m i l i tärische u n d politische E r f o l g des neuen Cäsar u n d hat seinen m i l i 40
D i e Formel due process of law, die i n der Praxis der Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika eine zentrale Bedeutung erhalten hat, ist europäischen Ursprungs (Hermann von Mangoldt, Rechtsstaatsgedanke u n d Regierungsform i n den Vereinigten Staaten von Amerika; Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Verfassungsrechts, Essen 1938, S. 13). Sie ist, i n unserer Sprechweise ausgedrückt, eine institutionelle Garantie, keine status-quo-Garantie; denn seit dem Hurtado-Fall (1884) steht i n der Praxis des Supreme Court fest, daß „due process of l a w " ein M i n i m u m an Form u n d Verfahren, nicht einfach traditionalistisch das alte Verfahren des Common law bedeutet; vgL Commons, the legal foundations of Capitalism, New York 1924, S. 33; Rodney L. Mott. Due Process of L a w , Indianapolis 1926, S. 246.
4 2 4 D i e
Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
tärischen und politischen Zusammenbruch überdauert. Frankreich w a r das L a n d der Legisten und der modernsten Gesetzeskodifikationen. Für Frankreich wurde der angebliche oder wirkliche Ausspruch des französischen Rechtslehrers Bugnet typisch, der damals schon — zwei Generationen vor unsern deutschen Positivisten — seinen Hörern die billige Weisheit verkündete, daß es für ihn kein bürgerliches Recht, sondern nur ein bürgerliches Gesetzbuch gebe 42 . Die Rechtsentwicklung Frankreichs, m i t ihrer positivistischen Verwandlung des Rechts i n die gesetzesstaatliche Legalität, stand für die damals herrschende Meinung an der Spitze des Fortschrittes der Zivilisation und der Menschheit. So k a m denn auch i n Frankreich die Aufspaltung des Rechts i n Legalität und Legitimität zuerst zum Bewußtsein 4 3 . Wenige, unter ihnen Tocqueville, dessen Namen ich schon nannte, haben damals erkannt, daß dieser gerühmte Fortschritt der Zivilisation i n W i r k l i c h k e i t nichts als eine fortschreitende Zentralisierung war, daß der scheinbare Fortschritt des Rechts aber nichts anderes als einen i m Dienste dieser Zentralisierung stehenden, fortschreitenden Gerüstbau immer neuer Prothesen eines Rechtsbetriebes bedeutete, der i m Grunde nur die Revolution i n Permanenz hielt u n d nur noch die Revolution als eine der Legalität überlegene, legitime K r a f t gelten ließ. E i n französischer Jurist von europäischem Rang, Maurice Hauriou, hat diesen Zusammenhang i m Jahre 1916, während des ersten Weltkrieges als vollgültiger Kronzeuge bestätigt 4 4 . Savignys Weitblick und seine außerordentliche Bedeutung für die europäische Rechtswissenschaft w i r d dadurch noch besser erkennbar. Der auf41
Vgl. die Darstellung der „Ecole de Texegese en droit c i v i l " von Julien Bonnecase, 2. Auflage, Paris 1924. 42 Zitiert bei J. Bonnecase, A n m e r k u n g S. 29 u n d 128. 48 Bei Lamennais ist sie schon 1829 m i t größter Deutlichkeit u n d vollem Bewußtsein ihrer Tragweite ausgesprochen. 44 H a u r i o u sagt w ö r t l i c h : „ O r , l a Revolution de 1789, ce n'est pas autre chose que l'avenement absolu de la l o i ecrite et la destruction systematique des institutions coutumieres. I I en est resulte u n etat perpetuellement revolutionnaire, parce que l a mobilite de l a l o i ecrite n'etant plus equilibree par l a stabilite de certaines institutions coutumieres, les forces de diangement se sont trouvees plus puissantes que les forces de stabilite. E n France, la vie sociale et politique, absolument videe d e s t i t u t i o n s , n'a p u se mainten i r provisoirement, avec bien des soubresauts, que grace au niveau eleve de la moralite generale" (Principes de droit public, Paris 1916, Seite X I ) . W e n n der große französische Jurist demgegenüber damals, 1916, ein A b hilfsmittel i n der Unterscheidung von einfachen u n d Verfassungsgesetzen zu finden hoffte, so haben i h n die europäischen Verfassungserfahrungen seit 1919 auf eine traurige Weise desavouiert.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44)
schreckende Stoß des Jahres 1848 hatte, wenigstens für einen Augenblick, vielen die Augen geöffnet. Es ist kein Zufall, daß das schlimme Wort von der todbringenden Vergesetzlichung des Rechts, von der „legalite qui tue", das Wort von der tödlichen Legalität, an der die Regierungen u n d die Völker sterben, gerade i n Frankreich, i m Lande der Legisten, u n d gerade vor dem herannahenden Ausbruch des Jahres 1848 entstanden ist. Freilich ist nach dem enthüllenden Stoß von 1848 sofort eine positivistische Reaktion und Resignation eingetreten, und die Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts glitt noch weiter auf der Bahn dieser A r t von Fortschritt bis zur jeweiligen Legalität des jeweiligen status quo der jeweiligen Maßnahmen. Das t r i f f t nicht nur für Frankreich zu, wo die Aufspaltung von Legalität und Legitimität zuerst erschien. Man w i r d i n allen europäischen Ländern, selbst i n England, wofür ich nur die Namen Jeremias Bentham und John Austin zitiere, viele Beispiele u n d Parallelen zu jenem Ausspruch des französischen Zivilrechtslehrers finden, der sich vom Recht abwendet, um i n die securite des bürgerlichen Gesetzbuchs und des positivistischen Normativismus zu flüchten. Für Deutschland haben w i r ein derbes Beispiel naivsten Gesetzespositivismus an dem Buch von K a r l Bergbohm „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" aus dem Jahre 1892. Aber gerade i n Deutschland gab es auch noch die starken geistigen Reserven, durch deren K r a f t der Name Savignys zu einem Symbol werden konnte. Den Ursprung dieses Symbols dürfen w i r nicht vergessen, und seine künftige A k t u a l i t ä t wollen w i r nicht preisgeben. Vor über hundert Jahren, als Savigny seine Abhandlung schrieb und veröffentlichte, war die Gefahr eines leeren, legalitären Technizismus noch nicht entfernt so groß wie heute i m Zeitalter des motorisierten Gesetzes und der motorisierten Dekrete. U m so größer und bewunderungswürdiger ist die geistige K r a f t , die nötig war, u m die Gefahr damals schon zu erkennen und Abstand zu nehmen von dem beginnenden Zeitalter, das m i t der Aufspaltung des Rechts i n Legalität und Legitimität einsetzte und mit der restlosen Verwandlung der historischen i n die revolutionäre Legitimität endete 45 . N u r unter 45 „Revolutionäre, die es nicht verstehen, die illegalen K a m p f formen m i t allen (von Lenin selbst unterstrichen) legalen zu verbinden, sind äußerst schlechte Revolutionäre". So Lenin i n der Schrift „ D e r Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" (deutsch 1920, S. 74). D a z u die philosophische Darlegung von Georg Lukacs aus dem Jahre 1920 über Legalität
426
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
diesem großen Aspekt w i r d das Ärcanum des Aufrufs von 1814 erkennbar. Wer es begreift, w i r d unsere Beschwörung der Namen Savigny und Baohofen verstehen und nicht mißdeuten. I n einer Zeit, i n der die Legalität zu einer vergifteten Waffe geworden ist, die eine Partei der andern i n den Rücken stößt, w i r d die Rechtswissenschaft zum letzten A s y l des Rechtsbewußtseins. I n einer solchen Zeit der äußersten Erprobung ist sie auch vor der Gefahr der Historisierung geschützt, der sie i n einem Jahrhundert der Sekurität verfallen muß. Auch i m Terror der Vernichtungsmittel, die eine moderne Naturwissenschaft jedem Machthaber an die H a n d gibt, w i r d eine restlos auf sich selbst zurückgeworfene Rechtswissenschaft die geheimnisvolle K r y p t a zu finden wissen, i n der die Keime ihres Geistes vor jedem Verfolger geschützt sind. Dieses Vertrauen, u n d nicht etwa ein Programm für Ausgrabungen u n d Editionen schöpfen w i r aus Savignys A u f r u f , der für uns zum Dokument der ersten Abstandnahme geworden ist. Die europäische Rechtswissenschaft braucht nicht m i t den Mythen vom Gesetz und Gesetzgeber eines gemeinsamen Todes zu sterben. Besinnen w i r uns wieder auf unsere Leidensgeschichte, denn unsere K r a f t wurzelt i n unserm Leid vertrauen. So w i r d der Genius uns nicht verlassen, u n d es w i r d sich zeigen, daß selbst die Sprachverwirrung besser sein kann als die babylonische Einheit.
Der Vortrag über „ D i e Lage der europäischen Rechtswissenschaft" ist i n den Jahren 1943/1944 auf Einladung der juristischen Fakultäten an folgenden Universitäten gehalten worden: 16. Februar 1943 Bukarest (in deutscher Sprache) 11. November 1943 Budapest (in deutscher Sprache) 11. M a i 1944 M a d r i d (in spanischer Sprache) 16. M a i 1944 Coimbra (in französischer Sprache) 1. Dezember 1944 Leipzig; außerdem am 7. J u n i 1944 vor dem Colegio de los Abogados i n Barcelona i n spanischer Sprache. Er ist i n ungarischer Sprache i n der Zeitschrift Gazdasagi Jog 1944, V, veröffentlicht. I m Boletim der juristischen F a k u l t ä t der Universität Coimbra hat Prof. Luis Cabral de Moncada darüber berichtet, i n einem seiner berühmten Glosarios Eugenio d'Ors, Madrid, M a i 1944. Als selbständige Schrift erschien der Vortrag 1950 i m Internationalen u n d Illegalität, abgedruckt i n „Geschichte u n d Klassenbewußtsein, Studien über marxistische D i a l e k t i k " , Berlin 1923, S. 261—275, ein Aufsatz, der wichtiger u n d aktueller ist. als die große Masse der seit 1920 erschienenen Schrift zur Rechtsphilosophie u n d zum Naturrecht, w e i l er die Frage richtig unter die Begriffe „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " gestellt hat.
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t (1943/44) Universitäts-Verlag Tübingen m i t dem Vermerk: „Dieser Vortrag, der vor mehreren der hervorragendsten juristischen Fakultäten Europas gehalten wurde, sollte i n einer Festschrift zum 60. Geburtstag von Johannes Popitz am 2. Dezember 1944 erscheinen. Er w i r d hier aus besonderen Gründen von der Festschrift getrennt für sich veröffentlicht. Auch i n dieser F o r m bleibt er der Erinnerung an Johannes Popitz gewidmet." Einzelne Stücke hat Serge M a i w a l d i n der von i h m herausgegebenen Zeitschrift Universitas, Tübingen 1950 veröffentlicht. 1. Der systematische Zusamenhang der verfassungsrechtlichen Probleme dieses Vortrages — gesetzesstaatliche Legalität, motorisierter Gesetzgeber, Anordnungen u n d Maßnahmen, Legalität u n d Legitimität — m i t den Fragen u n d A n t w o r t e n der übrigen Aufsätze unserer Sammlung liegt auf der Hand. Die Einwendungen, die Johannes Popitz, m i t dem der Vortrag eingehend besprochen wurde, hauptsächlich erhob, betrafen das Verhältnis von Rechtswissenschaft u n d Philosophie. Popitz w a r der Meinung, daß Begriffe wie Person, Reziprozität u n d zahlreiche andere rein philosophischen Ursprungs seien u n d daß die Rechtswissenschaft ohne den Rückgriff auf die Philosophie nicht auskomme. Der Einfluß der griechischen Philosophie auf die römische Jurisprudenz w a r f ü r i h n das große Beispiel*. Ich fand i m Gegenteil, daß eine aus der Sackgasse der Allgemeinbegriffe befreite Rechtswissenschaft jeder Philosophie überlegen wäre. F ü r mich waren Sokrates, Piaton u n d Aristoteles p r i m ä r Rechtslehrer u n d nicht das, was m a n heutzutage Philosophen nennt, wobei ich natürlich unter Rechtslehrer u n d Rechtswissenschaft nicht etwa einen, i m Zuge des heutigen arbeitsteiligen Lehr- u n d Examensbetriebes sein Fach versehenden Dozenten verstehe. Rechtsphilosophie ist für mich nicht ein aus einem vorhandenen philosophischen System auf juristische Fragen appliziertes V o k a b u l a r i u m , sondern die Entwicklung konkreter Begriffe aus der Immanenz einer konkreten Rechts- u n d Gesellschaftsordnung. 2. Dieser Streit u m das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Philosophie endete fast immer i n einem Gespräch über das Verhältnis von Savigny u n d Hegel. E i n deutscher Jurist, der sich seiner geschichtlichen Situation bewußt w i r d , k a n n dieser Frage nicht entgehen, sobald er seine Situation zwischen Theologie u n d Technik w a h r n i m m t u n d i m Laufe seines Lebens erfährt, daß die deutsche Sprache nicht, w i e die französische, eine Sprache von Juristen * Popitz schätzte besonders die A b h a n d l u n g Summum jus, summa i n j u r i a von Johannes Stroux, für dessen Berufung an die Berliner Universität er sich eingesetzt hat. Nach Stroux hat aber weniger die eigentliche Philosophie als vielmehr die G r a m m a t i k u n d Rhetorik der Griechen die römische Jurisprudenz beeinflußt. Ich begnüge mich hier damit, meine Auffassung k u r z anzudeuten, indem ich einen Satz des spanischen Romanisten u n d Herausgebers von Ciceros de legibus (Madrid, 1953) zitiere: daß Ciceros Übersetzung des griechischen Wortes Nomos m i t dem lateinischen W o r t lex eine der schwersten Belastungen unserer occidentalen Begriffs- u n d Sprachkultur bedeutet (De la Guerra y de la Paz, Ediciones Rialp, M a d r i d 1954 p. 160); vgl. Bemerkung 1 zu Nomos, unten S. 502. Die Sackgasse, von der oben die Rede ist, liegt für das A l t e Testament u n d seine Theologie i n einem nach-exilischen, für die Jurisprudenz i n einem nach-sophistischen NomosBegriff.
428
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s c h a f t
(1943/44)
u n d Moralisten ist, sondern teils aus der Lutherischen Bibelübersetzung, also aus der Theologie stammt, teils, wie schon Leibniz feststellte, eine vortreffliche Handwerker- u n d Technikersprache ist. D i e beiden Figuren aber, i n denen sich das strittige Verhältnis inkarnierte, Hegel u n d Savigny, sind beide stark i n politische Simplifikationen hineingeraten, die aus Savigny einfach einen Reaktionär u n d aus Hegel einen Vorläufer von M a r x , Lenin u n d Stalin gemacht haben. Dabei spielt der Philosoph Hegel, was seine heutige A k t u a l i t ä t angeht, zweifellos die vorteilhaftere Rolle. V o n dem Juristen Savigny schrieb m i r Ernst Forsthoff, dessen U r t e i l m i r wegen seiner Schrift „Recht u n d Sprache", 1941, besonders wichtig ist: „ W i r ermessen w o h l k a u m noch die Tragik, i n der sich konservative Geister wie Savigny u n d Ranke — siehe alle seine Beiträge zur Historisch-politischen Zeitschrift — damals befanden, als sie dem Aufbruch des nationalen Bürgertums verzweifelt den Begriff des Volksgeistes entgegenhielten." Eugenio d'Ors aber fand Savigny nicht etwa nur reaktionär, sondern, was viel schlimmer ist, einfach altmodisch u n d begriff nicht, was ich eigentlich an i h m fände. 3. Das große Thema des tieferen Verhältnisses von Savigny u n d Hegel hätte ich nur m i t einer eingehenden, weit über den Streit der Fakultäten hinausgehenden, umfangreichen Arbeit beantworten können. Daß ich eine solche Arbeit nicht vorlegen kann, gehört zu den großen Versäumnissen meines Lebens. Schon meiner Dissertation „Uber Schuld u n d Schuldarten" von 1910 hatte K a r l B i n d i n g m i t vollem Recht entgegengehalten, daß i h r die Auseinandersetzung m i t dem Hegelianischen Strafrecht fehlt. I n den folgenden Jahrzehnten b i n ich den bedeutenden hegelianischen Rechtsphilosophen meiner Zeit, Julius Binder u n d K a r l Larenz, eine Erwiderung auf ihre Argumente schuldig geblieben. A n dieser Stelle k a n n ich das große Versäumnis nicht nachholen. Aber ich möchte wenigstens die Andeutung einer A n t w o r t versuchen. D i e scharfe Gegnerschaft, die die beiden berühmten Berliner Professoren trennt, ist bekannt. F ü r Savigny w a r es leicht, i n olympischer Überlegenheit eine Polemik zu verschmähen. Hegel dagegen hat an der berühmten Stelle seiner Rechtsphilosophie §211 scharf geschossen u n d von seiner erbitterten Polemik gegen H e r r n von Haller, Rechtsphilosophie § 258, A n hang, w i r d Savigny mitgetroffen. I n dem Aufsatz über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, 1802/1803, scheint Hegel alles Wissenschaftliche der Rechtswissenschaft für die Philosophie i n Anspruch zu nehmen u n d die subalterne Technik u n d den Formalismus den Juristen u n d ihrer F a k u l t ä t zu überlassen. Savigny dagegen wurzelte so sicher i n seinem Stand als Jurist, daß i h n solche Schüsse aus der anderen F a k u l t ä t nicht berührten. W i r aber fragen hier, wie gesagt, nicht nach dem Streit der Fakultäten, sondern nach einer tieferen Beziehung, die durch den Gegensatz von Reaktionär u n d Revolutionär u n d die Versdiiedenheit der Klassenlage nicht erschöpft ist, vielmehr i m Licht der Frage „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " erkannt werden muß. D i e tiefere Beziehung liegt darin, daß beide, Savigny w i e Hegel, den geschichtlichen Sinn hatten, jenen sechsten Sinn, wie Nietzsche i h n voller W u t genannt hat, weil er die Deutschen auf dem Wege zum offenen Atheis-
Die Lage der europäischen R e t s i s s e n s a f t (1943/44) mus aufhält. Beider geistige H a l t u n g w a r epimetheisch, aber der epimetheische Geist Hegels vermochte a u d i die prometheische Richtung seiner Gegenwart zu erkennen, anzuerkennen u n d zu begreifen. Beide waren echte Aufhalter, Katechonten i m konkreten Sinne des Wortes, Aufhalter der freiwilligen u n d der unfreiwilligen Besehleuniger auf dem Wege zur restlosen Funktionalisierung. Es fragt sich höchstens, wer von beiden der stärkere Katechon war. Das hängt davon ab, ob man die freiwilligen oder die u n f r e i w i l l i g e n Beschleuniger für die gefährlicheren hält. Unter dem Gesichtspunkt dieser Fragestellung könnte es sein, daß Nietzsches W u t anfall gegen Hegel an die richtige Adresse ging, w e i l Savigny nur die freiwilligen Beschleuniger sah u n d von den unfreiwilligen mühelos vereinnahmt werden konnte. 4. M a n darf sich hier d u r d i die große Hegel-Nahme, die Georg Lukäcs ins Werk setzt, nicht davon ablenken lassen, daß Hegels Philosophie ein System von Vermittlungen ist. Es verbindet H e r k u n f t u n d Zukunft, wie Joachim Ritter i n seinem Vortrag „Hegel u n d die französische Revolution" (Westdeutscher Verlag K ö l n u n d Opladen, 1957) sehr gut gezeigt hat. Allerdings stand Hegel auf der Seite der französischen Revolution, als er Savignys Ablehnung der modernen Gesetzesstaatlichkeit bekämpfte. Hegels Staat w a r ein Gesetzesstaat u n d sein Juristentum kein eigener Stand mehr, sondern staatliches Beamtentum. Aber schon 1830, als die Legalität aufhörte, eine Erscheinungsform der Legitimität zu sein u n d Legalität u n d Legitimität i n Frankreich scharfe Antithesen wurden (unten S. 449), w a r ein neues Moment eingetreten. M i t Hegeischen Kategorien läßt sich das sehr gut begreifen. Der Gegensatz zu Savigny u n d zu seiner Ablehnung des gesetzesstaatlichen Rationalismus trat dadurch i n eine v ö l l i g andere D i a l e k t i k , u n d nichts berechtigt uns, aus Hegel einen absoluten Beschleuniger zu machen, dessen Negation nur noch Bewegung, u n d dessen Bewegung nur noch Negation ist, also totale Nichts-als-Bewegung, die man sich schließlich n u r noch als einen Veitstanz permanenter Säuberungen u n d Kriminalisierungen vorstellen kann. Wenn Hegel betont, daß Verfassungen nicht gemacht werden können (Rechtsphilosophie § 273), so w i l l er dabei nicht etwa Berufsrevolutionäre m i t Diamat-Schulung ausnehmen u n d privilegieren. Ich sage nicht, daß Savigny ein großer Philosoph u n d Hegel ein großer Jurist i m Sinne der Arbeitsteilung unserer heutigen Fakultäten gewesen wäre. W o r a n m i r liegt, ist nur die Andeutung, daß die beiden Gegner sich für mich i n der Kategorie des Katechon treffen. Es ist riskant, das heute auszusprechen. Vor allem ist es gefährlich, heutzutage eine nicht-marktkonforme Hegel-Interpretation zu versuchen u n d zwischen Savigny u n d Hegel etwas Gemeinsames zu finden. Auch weiß ich, daß meine skizzenhafte u n d fragmentarische Andeutung i n keiner Weise genügt, u m mein obengenanntes Versäumnis nachzuholen. Ich wollte nur auf die Frage, w o r i n nach meiner Auffassung die tiefere Verbindung der beiden großen Rechtsdenker besteht, wenigstens m i t diesem kurzen Hinweis geantwortet haben.
Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem (1947) I . Das allgemeine Problem des Zugangs zum Machthaber Je mehr sich die politische Macht an einer einzigen Stelle und i n der H a n d einer einzigen Person konzentriert, um so mehr w i r d der Zugang zu dieser Stelle und dieser Person das wichtigste politische, organisatorische und verfassungsrechtliche Problem. Der K a m p f u m den Zugang zum absoluten Monarchen, u m seine Beratung u n d I n formierung, u m den Immediat-Vortrag u n d dergleichen ist der eigentliche I n h a l t der Verfassungsgeschichte des Absolutismus. A n diesem K a m p f haben sich nicht nur Minister und Kabinettsräte, hohe Würdenträger u n d Adjutanten, sondern auch Beichtväter, Kammerdiener und Mätressen beteiligt. Die Denkschriften des Freiherrn vom Stein über die Neuorganisation des preußischen Staates nach 1807 betreffen vor allem das alleinige Recht der Minister auf Vortrag beim König und richten sich gegen die Kabinettsräte. Hardenberg (1810—1820) hat als „Staatskanzler" durchgesetzt, daß die Minister nur über den Staatskanzler Zugang zum König hatten. Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" sind voll von Bemerkungen zu diesem Problem, u n d das Entlassungsgesuch Bismarcks vom März 1890 ist nicht m i t außen- oder innenpolitischen Argumenten inhaltlicher A r t , sondern nur m i t dem scheinbar rein formalen H i n weis auf die Kabinettsorder von 1852 begründet, die den preußischen Ministerpräsidenten zwischen den König und seine übrigen Minister einschaltet u n d diesen das Recht des Immediat Vortrages beschränkt, während der junge Kaiser und König W i l h e l m I I . das Recht i n Anspruch nahm, sich beraten und Vortrag halten zu lassen, von wem er wollte. D i e Geschichte jedes „persönlichen Regimes" bietet viele Beispiele ähnlicher A r t i n allen Ländern. I c h erwähne sie nur, um an die Tragweite u n d zugleich die Schwierigkeit der Frage des Zugangs zum Machthaber zu erinnern.
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfasSungsrechtl. Problem (1947) 4SI
I I . D i e organisatorischen Auswirkungen der Machtkonzentration im Hitler-Regime D u r c h die aufs Äußerste getriebene Vereinigung aller Macht i n der H a n d Hitlers war auch die Frage des Zugangs zu i h m zum wichtigsten innenpolitischen Problem des Deutschen Reichs erhoben. Eine solche Konzentration aller Macht bei einem einzigen menschlichen I n d i v i d u u m , das einen modernen Industriestaat von 70 Millionen Menschen bis i n die Einzelheiten hinein zu regieren und einen modernen totalen Krieg bis i n Einzelbefehle hinein persönlich zu führen beanspruchte, übersteigt alle bekannten Beispiele eines „persönlichen Regime" i m allgemeinen und insbesondere diejenigen aus den letzten hundert Jahren europäischer Geschichte, die Napoleon I I I . und W i l h e l m I I . als berühmteste Beispiele nennt. Dementsprechend übersteigt auch die Bedeutung der nächsten Umgebung Hitlers die analogen Erscheinungen der genannten anderen Fälle. Die Chauffeure Hitlers wurden hohe Würdenträger des Regime; sie erhielten Gruppenführer-, d. h. Generalsrang, ein Rang, der den Leibkutschern Napoleons I I I . oder den Chauffeuren Wilhelms I I . nicht verliehen worden ist. E i n Gauleiter, der sich Zugang zu H i t l e r verschaffen konnte, w a r politisch bedeutungsvoller als ein Reichsminister, der seinen Staatschef jahrelang nicht zu sehen bekam. A l l e Vorstellungen einer geregelten und berechenbaren ZuständigkeitsVerteilung hören hier auf. Trotzdem ergab sich die Notwendigkeit gewisser büromäßiger Formen und einer gewissen Ordnung des Geschäftsbetriebes für die große Masse der zu erledigenden Sachen. Die persönliche Machtstellung Hitlers schloß einen ungeheuerlichen Anspruch auf Allmacht, aber auch den Anspruch auf A l l wissenheit i n sich. Die Allmacht war tatsächlich i n weitem Umfang vorhanden und i n hohem Grade effektiv. Die Allwissenheit dagegen war rein fiktiv. Die erste praktische Frage war deshalb, wer dem allmächtigen Führer das Material zubrachte, auf G r u n d dessen er seine Willensentschlüsse faßte und seine Entscheidungen traf, u n d wer aus der Menge der einlaufenden Eingänge die Auswahl traf und bestimmte, was überhaupt vorgelegt und was nicht vorgelegt wurde. Die zweite Frage betraf den andern Teil der Erledigung von A n gelegenheiten, die Weitergabe der Befehle und Entscheidungen an die ausführenden Stellen, eine Frage, die hier besonders wichtig ist, weil es für den sogenannten Führerbefehl keine k l a r bestimmten Formen gab und die Anordnungen oft sehr k n a p p und abrupt waren.
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfasungsrechtl. Problem (1947)
Die Transformation eines vom Machthaber i n dieser Weise erlassenen Befehls i n eine sachgemäße, durch einen modernen Behördenapparat vollziehbare Fassung ist nicht nur eine Angelegenheit der sprachlichen Stilisierung. Sie ist besonders bei den i m Gesetzblatt zu veröffentlichenden Normierungen m i t Gesetzeskraft auch von sachlichem Einfluß auf die A r t und Weise des effektiven Vollzugs. Je höher n u n Hitler stieg und m i t i h m jeder, der zu i h m Zugang hatte oder m i t i h m i n persönlicher Berührung stand, u m so mehr sanken die Reichsminister, die nicht zu diesen Privilegierten gehörten, zu bloßen Verwaltungsbeamten herab. Das Reichskabinett ist seit 1937 nicht mehr zusammengetreten. Zwischen der Spitze der politischen Macht u n d den absinkenden bisherigen höchsten Stellen entstand ein leerer Raum, der durch neue „überministerielle" Gebilde ausgefüllt werden mußte, u n d zwar durch solche, die dem äußerst persönlichen Charakter dieser A r t von Machtfülle und Machtausübung gemäß waren. Das konnten praktisch keine Behörden i m Sinne einer rational und sachlich durchdachten Kompetenz, sondern nur höchstpersönliche Stäbe sein, gleichgültig unter welcher Benennung sie geführt wurden. Als übliche u n d i n gewissem Sinne typische Benennung bildete sich „ K a n z l e i " heraus. Doch war z. B. auch das Oberkommando der Wehrmacht nur eine Kanzlei i n diesem Sinne. D i e wichtigsten Kanzleien entsprachen den drei „Säulen" des Regimes: Partei, Wehrmacht, Staat. Die „Kanzlei des Führers" u n d die „Präsidialkanzlei" waren durchaus nicht bedeutungslos. Aber die Parteikanzlei, das O K W und die Reichskanzlei waren die drei Verbindungsglieder der persönlichen Machtspitze m i t drei durchorganisierten, riesigen „Maschinen" oder Befehlsmechanismen, u n d dadurch drei große Transformatoren z u dieser Spitze h i n und von ihr weg. Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei — i m folgenden m i t R M C h d R K abgekürzt — beherrschte den Verbindungspunkt vom Staat zum alleinigen Träger der Macht u n d von diesem zum Staat. Darauf beruhte seine außergewöhnliche Stellung. Die Benennung „Reichsminister" ist dabei nur i n zweiter Linie von Interesse. Der Chef der Parteikanzlei, M a r t i n Bormann, war, soviel ich weiß, nicht Reichsminister, sondern nur „einem Reichsminister gleichgestellt". Er w a r natürlich eifrig bestrebt, es w i r k l i c h zu werden und hat das vielleicht auch, erreicht; jedenfalls war sein sachlicher und politischer Einfluß deshalb u m nichts geringer als der eines Reichsministers i m vollen Sinne. Ebenso ist es eine zweitrangige Angelegenheit für sich, warum
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtl. Problem (1947) 433
der Chef der Präsidialkanzlei nur „Staatsminister" war. A u d i die offiziellen oder offiziösen Erklärungen, die dafür gegeben wurden (der m i t anderen „Staaten" i n Verbindung stehende Tätigkeitsbereich), sind nebensächlich. Der als „Staat" bezeichnete Verwaltungsapparat stand nach den Grundsätzen des Hitler-Regime hinter der Partei zurück. Aber dieser staatliche Behördenapparat war immer noch die eigentliche Exekutive, die einen wirksamen Vollzug garantierte und für die Durchführung der enormen Verwaltungsaufgaben des Krieges praktisch wichtiger war als die Partei. Das hat sich auf allen wichtigen Gebieten, z. B. auf dem der Ernährungswirtschaft, gezeigt. Die staatliche Tradition aller deutschen Länder enthielt immer noch weit mehr Ordnungsund E x e k u t i v k r a f t als der anmaßende A p p a r a t der Partei. Das staatliche und kommunale Beamtentum hat trotz seiner Degradierung und Mißhandlung durch die Partei den zivilen Sektor des Krieges gehalten. Der R M C h d R K stellte also für die spezifisch staatlichen Aufgaben die Verbindung zu der persönlichen Machtspitze dar. I n der Staatsbezogenheit liegt der Schwerpunkt seiner Bedeutung. Auch seine Stellung i m Reichsverteidigungsrat und seine stark hervortretende M i t w i r k u n g bei der vereinfachten Gesetzgebung enthalten dadurch ihren Inhalt. M a n hatte auch den Eindruck, daß er bewußt, soweit es möglich war, die frühere staatliche Tradition gegen die Zerstörung durch die Partei zu retten suchte. Wenigstens wurde z. B. seine Leitung der „Deutschen Verwaltungsakademie" meistens so gedeutet, zumal er m i t deren Studienleitung den Verwaltungsrechtslehrer Prof. D r . Hans Peters betraute, der Landtagsabgeordneter der Zentrumspartei gewesen u n d nicht Parteigenosse war (er steht heute i m öffentlichen Leben Deutschlands an hervorragender Stelle). Der R M C h d R K war auch Mitherausgeber mehrerer öffentlich-rechtlicher Zeitschriften, in denen gelegentlich Aufsätze von einigem Niveau erschienen sind. Aber es gehörte zu dem inneren Widerspruch zwischen den Regierungsmethoden Hitlers und den Traditionen eines Beamtenstaates, daß alle Bemühungen um die Rettung dieser Traditionen das, was sie vor der zerstörenden Macht Hitlers retten wollten, ihr gleichzeitig i n die H a n d gaben und ihr gefügig machten. Ich denke hier nicht an persönliche Empfindungen des Reichsministers oder seelische Konflikte, worüber m i r kein U r t e i l zusteht, sondern an den inneren Widerspruch der Situation. 28 Carl Schmitt
434 Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtl. Problem (1947)
I I I . Ansätze zu formalen Ausprägungen Infolge ihrer Staatsbezogenheit enthielt die überministerielle Stellung des R M C h d R K einen gewissen, durch das Funktionieren von Behörden eintretenden Zwang zu Formen und Normierungen und dam i t auch zu einer gewissen Legalität der Methoden, wobei das Wort „Legalität" durchaus i m französischen und deutschen Sinne gemeint ist und nicht einfach ins Englische übernommen werden kann. Die Legalität ist ein Funktionsmodus jeder staatlichen Bürokratie. Deshalb trat die Notwendigkeit einer gewissen, wenigstens äußerlichen Legalität gerade an dieser Stelle i n das Hitler-Regime ein, an dem Verbindungspunkt m i t der großen Befehlsapparatur „Staat", u n d nicht i n der Parteikanzlei und auch nicht i m O K W . A m stärksten w a r dieser Zwang zu gewissen Formen bei der Bekanntmachung von Gesetzen und Verordnungen m i t Gesetzeskraft, die i m Reichsgesetzblatt verkündet wurden. Das Reichsgesetzblatt w i r d dadurch für einen i m Staatsrecht erfahrenen Juristen zu einer Fundgrube für aufschlußreiche Beobachtungen. Allerdings gehörten gerade Geheimbefehle und sogar Geheimgesetze zu einem derartig äußerst persönlichen System. Ich habe kein Geheimgesetz u n d keinen Geheimbefehl gesehen u n d nur davon erzählen hören. Doch war m i r als Staatsrechtslehrer die prinzipielle Bedeutung der Angelegenheit klar, die sogar ein Schlüssel zu den eigentlichen Arcana des Hitler-Systems ist. Ich weiß auch nicht, ob und wieweit diese Angelegenheit durch die bisherigen Prozesse nach der tatsächlichen wie nach der juristisch-systematischen Seite hin geklärt ist. Das staatsrechtliche Problem ist i n einigen, zum Teil interessanten Aufsätzen behandelt worden. Der wichtigste unter ihnen ist ein etwa 1942/43 erschienener Aufsatz von Prof. Otto Koellreutter (München) i m „Verwaltungsarchiv" 1 . Der Aufsatz ist nicht ohne Mut. Wenn ich mich recht erinnere, war der R M C h d R K M i t herausgeber des „Verwaltungsarchivs" und stand m i t Prof. Koellreutter i n Verbindung. O b er auch der Veröffentlichung dieses A u f satzes nahestand, weiß ich nicht. Ebensowenig weiß ich etwas darüber, ob er von seiner Behörde her m i t Geheimgesetzen oder Geheimbefehlen befaßt worden ist. 1 Gemeint ist der Aufsatz Koellreutters über Recht u n d Richter i n England u n d Deutschland, Verwaltungsarchiv 47. Bd. Berlin 1942, insbesondere die Stelle S. 231 über das Erfordernis einer öffentlichen Verkündung aller Rechtsnormen (gegen das „Verfassungsrecht i m Panzerschrank'*).
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtl. Problem (1947; 435
Bei den i m Reichsgesetzblatt veröffentlichten Anordnungen haben sich zwei erkennbare Entwicklungen ausgeprägt, die beide den R M C h d R K besonders hervortreten lassen: 1. D i e Mitzeichnung von Anordnungen Hitlers. Die ministerielle Gegenzeichnung von Anordnungen des Staatshauptes hat i n einem höchstpersönlichen System natürlich einen anderen Sinn als i n einer konstitutionellen Verfassung. Man sprach daher nicht mehr von „Gegenzeichnung", sondern von einer „Mitzeichnung" der Anordnungen Hitlers durch die Reichsminister (oder Staatssekretäre) u n d konstruierte diese Mitzeichnung als Übernahme der Verantwortung (für Vorbereitung, authentische Bekanntgabe und korrekte Durchführung) ausschließlich gegenüber H i t l e r selbst. Die Mitzeichnung wurde äußerlich wie die Gegenzeichnung bei den Veröffentlichungen i m Reichsgesetzblatt beibehalten. Es traten aber i m Laufe der Entwicklung interessante Besonderheiten auf. Nicht nur, daß gelegentlich der Name Hitlers allein, ohne Mitzeichnung, unter einer Bekanntgabe stand, sondern auch i n anderer Hinsicht. Wenn man an der H a n d des Reichsgesetzblattes die Mitzeichnungen von 1933 bis 1945 beobachtet u n d eine Statistik der mitzeichnenden Minister und Staatssekretäre aufstellt, so wird, vermute ich, der Name des R M C h d R K m i t wachsender Machtkonzentration hervortreten, während die Namen cler übrigen Reichsminister zurücktreten. D a ich das Reichsgesetzblatt nicht zur H a n d habe, kann ich diese Vermutung hier nicht verifizieren. Besonders interessant wäre die Frage der Mitzeichnung bei außergewöhnlichen Anordnungen und Beschlüssen, z. B. bei der Verkühdung des Reichstagsbeschlusses vom 26. A p r i l 1942, der das Recht Hitlers anerkennt, gegenüber wohlerworbenen Rechten von Beamten von den bestehenden Gesetzen abzuweichen; oder bei der eigenmächtigen Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 (durch Reichstagsbeschluß 1937 u n d 1939 verlängert) am 10. M a i 1943 durch H i t l e r selbst 2 . 2. Die Herausbildung eines neuen spezifischen Begriffes „FührerErlaß". I n dem Ehirch- und Nebeneinander der verschiedenen Verfahren der Rechtsetzung (Reichsgesetz i m Sinne eines Reichstagsbeschlusses; Reichsgesetz als sog. Regierungsgesetz auf G r u n d des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933; mehrere Arten von Verordnungen m i t Gesetzeskraft) entwickelte sich, seit 1938/39 erkennbar, 2
Es handelt sich u m den Erlaß des Führers über die Regierungsgesetzgebung v o m 10. 5. 1943 RGBl. I S. 295, dazu Gerhard Wacke, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (1944) S. 273—303. 28»
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfasungsrechtl. Problem (1947)
ein besonderer Begriff „Führer-Erlaß" für die grundlegend wichtige, organisatorische oder sonstige Anordnung. Das Wort „ E r l a ß " wurde bisher (und vielfach auch noch weiter) für Anordnungen i n der Verwaltung oder auf militärischem Gebiete (Ordensverleihungen usw.) gebraucht. Daneben aber setzte sich ein spezifischer Begriff von „ E r l a ß " durch, als ein Ausdruck für die alles, vor allem auch alle anderen Formen der Rechtsetzung überragende Macht Hitlers. Das ließe sich an der H a n d der letzten Jahrgänge des Reichsgesetzblattes vermutlich belegen. Der Führer-Erlaß i n diesem besonderen Sinne ist also eine Anordnung von höchster Geltungskraft auch gegenüber anderen gesetzlichen Bestimmungen. Natürlich hatte nach der offiziellen These jeder „Führer-Befehl" eine alles überragende Kraft. Doch enthielt der „Führer-Erlaß" bereits einen deutlichen Ansatz zur formalen Unterscheidung. D a r u m ist es von Interesse, daß solche Führer-Erlasse, wenn sie i m Reichsgesetzblatt bekannt gegeben wurden, vom R M C h d R K mitgezeichnet wurden. Einzelne Beispiele kann ich aus dem Gedächtnis nicht angeben. Ich erinnere mich nur des Ansatzes zu dieser Entwicklung. Sie war ein Symptom für die sich allmählich ausprägende Stellung des R M C h d R K .
I V . Abnormität und Unberechenbarkeit aller Entwicklungen innerhalb des Hitler-Regime Bei der Feststellung aller solcher Ansätze zu neuen Einrichtungen oder Formen ist zu beachten, daß H i t l e r jede Festlegung durch Formen oder gar Einrichtungen aufs tiefste gehaßt hat und daß ein Stirnrunzeln genügt hätte, u m alle die genannten Ansätze wieder zu beseitigen. Der absichtliche Subjektivismus und damit die fundamentale Abnormität seines Regime ist w i r k l i c h beispiellos und unvergleichlich. Wenn das H a u p t der Römischen Kirche, der Papst, nach dem Dogma dieser Kirche unfehlbar ist, so ist seine Unfehlbarkeit doch gleichzeitig auf das Klarste beschränkt, und zwar auf allgemeine Feststellungen, und ihre Ausübung ist an die deutlichsten, weithin sichtbaren Formen (ex cathedra) gebunden. H i t l e r dagegen erließ generelle und Einzelanordnungen aller A r t ; er konnte Gesetze erlassen, wie es i h m beliebte, u n d konnte das öffentlich oder geheim, mündlich oder schriftlich, unter vier Augen oder bei irgendeiner i h m passenden Gelegenheit, so daß die Berufung auf einen „Führerbefehl" i m Grunde von niemand kontrolliert werden konnte. Der Papst, als das unfehlbare H a u p t der Römischen Kirche, ernennt seinen Nach-
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfasungsrechtl. Problem (1947)
folger nicht selbst; er kann, nach der über tausendjährigen Praxis und der Lehre von Kanonisten, nur den Modus der Bestimmung des Nachfolgers allgemein regeln. H i t l e r dagegen ernannte am 1. September 1939 seinen Nachfolger selbst, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt, und ich fürdite, daß nur sehr wenige Menschen i n Deutschland sich über diesen exorbitanten Vorgang staatsund verfassungsrechtliche Gedanken gemacht haben. A u f der anderen Seite stehen dann wiederum sonderbare Besorgnisse um formale Legalisierungen, wie die mehrfachen Verlängerungen des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 (1937, 1939) mit dem staatsrechtlich völlig absurden Schluß einer Verlängerung durch eigenen Machtsprach des Ermächtigten am 10. M a i 1943. Die Reichskanzlei war sozusagen ein T r e f f p u n k t solcher Abnormitäten und ein Schnittpunkt aller inneren Widersprüche. Daraus ergibt sich ihre singuläre Stellung i m allgemeinen und die Besonderheit ihres „überministeriellen" Charakters innerhalb des Regimes. Daraus ergibt sich auch, daß diese „überministerielle" Stellung kein wirklicher Ansatz zu der Stellung war, die ein Ministerpräsident oder ein Staatskanzler (wie Hardenberg) i n irgendeinem anderen Regime hatte, sondern nur ein Zwischenglied zwischen einem i n absolute Höhen emporsteigenden Staatshaupt und einer Reihe absinkender, zu bloßen Verwaltungszentralen degradierter Ressortchefs, die den Namen Reichsminister und auch die persönliche Dienststellung von Reichsministern i m bisherigen Sinne beibehielten. I n dieser eigentümlichen Zwischenposition war der R M C h d R K tief i n die fundamentale Abnormität des ganzen Systems verwickelt, das keine bindenden Formen und Einrichtungen kannte, sondern alles, was es tat oder erklärte, nur „freibleibend" tat und erklärte. D a r u m ist die fundamentale Unvereinbarkeit von Führer-Allmacht und staatlicher Legalisierungsordnung i n 4er Stellung des R M C h d R K wohl am deutlichsten zutage getreten.
D i e hier abgedruckten Darlegungen sind eine wörtliche Wiedergabe aus der schriftlichen A n t w o r t , die ich am 29. A p r i l 1947 i m Gefängnis i n N ü r n berg H e r r n D r . Robert Kempner überreicht habe. Die Frage, die m i r gestellt worden war, lautete: Die Stellung des Reichsministers u n d Chefs der Reichskanzlei. Die Gedanken dieses Aufsatzes sind i n meinem „Gespräch über die Macht u n d den Zugang zum Machthaber" weiter ausgeführt (Verlag Günther Neske, Pfullingen, Württemberg, 1954). Das Gespräch wurde vom Frankfurter Sender am 22. J u n i 1954 übertragen. Aus dem Gespräch sei hier als Bemerkung 1 eine Stelle zitiert, die i n der Wochen-
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfasungsrechtl. Problem (1947) zeitung „ D i e Zeit", 9. Jahrgang Nr. 30, Hamburg, den 29. J u l i 1954, unter der Überschrift „ I m V o r r a u m der Macht" als Vorabdruck erschienen ist. 1. Der K a m p f u m den Korridor, u m den Zugang zur Machtspitze, ist ein besonders intensiver Machtkampf, durch den sich die innere D i a l e k t i k von menschlicher Macht u n d Ohnmacht vollzieht. Diesen Sachverhalt müssen w i r ohne Rhetorik u n d Sentimentalität, aber auch ohne Zynismus oder Nihilismus zunächst einmal i n seiner Wirklichkeit vor Augen sehen. Deshalb möchte ich das Problem noch durch zwei Beispiele veranschaulichen. Das erste Beispiel ist ein verfassungsgeschichtliches D o k u m e n t : das Entlassungsgesuch Bismarcks v o m März 1890. Es ist i m dritten Band von Bismarcks „Gedanken u n d Erinnerungen" mitgeteilt u n d ausführlich behandelt. Es ist i n allem, i n seiner Anlage, seiner Gedankenführung u n d seinem Tonfall, i n dem was es ausspricht wie i n dem was es verschweigt, das wohldurchdachte Werk eines großen Meisters der Staatskunst. Es war Bismarcks letzte Amtshandlung u n d wurde m i t voller Überlegung als ein Dokument für die Nachwelt entworfen u n d stilisiert. Der alte, erfahrene Reichskanzler, der Schöpfer des Reiches, setzt sich m i t dem unerfahrenen Erben, dem jungen K ö n i g u n d Kaiser W i l h e l m I I . auseinander. Zwischen beiden bestanden viele sachliche Gegensätze u n d Meinungsverschiedenheiten i n Fragen der Innen- wie der Außenpolitik. Aber der Kern des Entlassungsgesuchs, der springende Punkt, ist etwas rein Formales: der Streit u m die Frage, wie der Kanzler sich informieren darf u n d wie der K ö n i g u n d Kaiser sich informieren soll. Bismarck beansprucht hier volle Freiheit darin, m i t wem er sich unterhält u n d wen er als Gast bei sich i m Hause empfängt. Dem K ö n i g u n d Kaiser aber spricht er das Recht ab, den Vortrag eines Ministers anzuhören, wenn Bismarck, der Ministerpräsident, nicht dabei anwesend ist. So w i r d das Problem des unmittelbaren Vortrags beim K ö n i g zum K e r n p u n k t des Bismarckschen Entlassungsgesuchs. M i t i h m beginnt die Tragödie des Zweiten Reiches. Das Problem des Vortrags beim K ö n i g ist das Kernproblem jeder Monarchie überhaupt, w e i l es das Problem des Zugangs zur Spitze ist. Auch der Freiherr vom Stein hat sich i m K a m p f gegen die geheimen Kabinettsräte erschöpft. A n dem alten u n d ewigen Problem des Zugangs zur Spitze mußte selbst ein Bismarck scheitern. Das zweite Beispiel entnehmen w i r Schillers dramatischem Gedicht D o n Carlos. Hier bewährt ein großer D r a m a t i k e r seinen Blick für das Wesen der Macht. D i e H a n d l u n g des Dramas bewegt sich u m die Frage: Wer hat unmittelbaren Zugang zum König, zu dem absoluten Monarchen P h i l i p p II.? Wer den unmittelbaren Zugang zum K ö n i g hat, n i m m t teil an seiner Macht. Bisher hielten der Beichtvater Domingo u n d der General Herzog von A l b a den Vorraum der Macht besetzt u n d den Zugang zum K ö n i g blockiert. Jetzt erscheint ein dritter, der Marquis Posa, u n d die beiden andern erkennen sofort die Gefahr. A m Schluß des dritten Aufzugs erreicht das D r a m a den Höhepunkt seiner Spannung, i n dem letzten Satz dieses Aktes, als der K ö n i g befiehlt: der Ritter — das ist der Marquis Posa — w i r d k ü n f t i g unangemeldet vorgelassen! Das w i r k t als großer dramatischer Effekt, nicht n u r auf den Zuschauer, sondern auch auf alle handelnden Personen des Dramas selbst. „Das ist w i r k l i c h viel", sagt D o n Carlos, als er es erfährt, „viel, wahrlich v i e l " ; und der Beichtvater Domingo sagt bebend zu dem
Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtl. Problem (1947) 439 Herzog von A l b a : „Unsere Zeiten sind vorbei." Nach diesem Höhepunkt setzt die plötzliche Wendung ins Tragische ein, die Peripetie des großartigen Dramas. D a f ü r , daß es i h m gelungen war, den unmittelbaren Zugang zum Machthaber zu finden, t r i f f t den unglücklichen Marquis Posa der tödliche Schuß. Was er seinerseits — hätte er seine Stellung beim K ö n i g behaupten können — m i t dem Beichtvater u n d dem General angefangen hätte, wissen w i r nicht. 2. Unter den Autoren der Political Science u n d Political Theory ist es, soweit ich unterrichtet bin, vor allem D a v i d B. Truman, der das Problem des Zugangs zur Macht erkannt u n d eingehend behandelt hat. Sein Buch „The Governmental Process", m i t dem Untertitel „ P o l i t i c a l Interests and Political Opinion", das ich nach der 3. Ausgabe, New York, A l f r e d A. Knopf, 1955, benutze, ist zuerst A p r i l 1951 erschienen. Es beschreibt zahlreiche Erscheinungsformen des Zugangs zu entscheidenden Punkten — access to key decision points — i n Exekutive, Legislative u n d Justiz, L o b b y t u m u n d Einflußnahme aller A r t , insbesondere auch der Umgebung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von A m e r i k a (S. 406 ff.) u n d gibt ein lebendiges u n d anschauliches Bild. Aber es ist begreiflich u n d versteht sich sogar beinahe von selbst, daß ein amerikanischer A u t o r der Jahre 1951/55 das Problem i n einem milderen Lichte erblickt w i e unsere Darlegung aus dem A p r i l 1947. Auch liegt dem amerikanischen professor of government die dialektische Steigerung u n d der Umschlag von menschlicher Macht u n d Ohnmacht fern, während gerade diese D i a l e k t i k der eigentliche Motor unseres Gesprächs über die Macht u n d den Zugang zum Machthaber ist. A u f D a v i d B. T r u m a n u n d seine Lehre vom access hat m i c h George Schwab, Columbia University, New York, aufmerksam gemacht; er hat das „Gespräch über die Macht u n d den Zugang zum Machthaber" ins Englische übersetzt.
Das Problem der Legalität (1950) Der i m Jahre 1932 verstorbene Oratorianer-Pater Laberthonniere hat ein umfangreiches Lebenswerk hinterlassen, das von seinem Freunde Louis Canet herausgegeben wird. Bisher sind von 1933 bis 1948 sechs stattliche Bände erschienen. Dazu ist vor einiger Zeit eine weitere Veröffentlichung hinzugetreten, die unser besonderes Interesse verdient, nämlich eine K r i t i k des Begriffes der Souveränität des Gesetzes1. P. Laberthonniere wendet sich gegen weitverbreitete moraltheologische, philosophische und juristische Vorstellungen von der Erhabenheit des Gesetzes, die auf einen berühmten Ausspruch des A r i stoteles zurückgehen u n d darin gipfeln, daß „nicht Menschen, sondern Gesetze" herrschen sollen. Dem stellt der gelehrte Oratorianer die harte Behauptung entgegen, daß hinter jedem irdischen Gesetz unmittelbar Menschen stehen, die sich des Gesetzes als eines Mittels ihrer Macht bedienen. P. Laberthonniere geht i n seiner K r i t i k sehr weit. „ L a maxime: c'est la loi, ne differe en rien au fond de la maxime: c'est la guerre Diese Verbindung von Gesetz und Krieg ist i n der Tat überraschend und k l i n g t sehr radikal. Die Erkenntnis, die i h r zugrunde liegt, k a n n nur als die bittere Frucht von Erfahrungen des Bürgerkrieges verstanden werden. Uns soll die Formulierung des Oratorianers hier zum Anlaß werden, uns auf einige geschichtliche, moralische, juristische und soziologische Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zu besinnen. I W a r u m ist das deutsche Beamtentum H i t l e r gefolgt? M i t dieser Frage sollen weder neue Schuldfragen aufgewühlt, noch neue Entschuldigungen konstruiert werden. W i r sprechen von dem allgemeinen, sachlichen Problem der Legalität, das ein höchst modernes und keineswegs nur das deutsche Beamtentum betreffendes Problem ist. Es geht 1
Oeuvres de Laberthonniere, publiees par les soins de Louis Canet. Sicut ministrator. C r i t i q u e de la notion de souverainete de» la loi. Introduction et Notes de Marie-Madeleine d'Hendecourt, Paris, L i b r a i r i e philosophique J . V r i n , 6, Place de la Sorbonne, 1947.
Das Problem, der Legalität (1950)
441
hier nicht um individuelle Einzelfälle, sondern um die soziologische Gesamtsituation eines großen Personenkreises. Innerhalb dieses viele Hunderttausende von Menschen umfassenden Kreises wiederum handelt es sich i m besonderen um die führende und anordnende Schicht, nämlich die aus dem höheren Beamtentum hervorgegangene Ministerialbürokratie. Viele höhere und niedere Beamte haben schon vor 1933 mit H i t l e r und seiner Bewegung sympathisiert, namentlich seit dem großen Wahlerfolg i m September 1930. Die Gründe des Sympathisierens waren verschiedenartiger u n d mannigfaltiger Natur. Sie lagen zum Teil i n den nationalen Parolen, die Hitler ausgab, zum anderen Teil i n Standes- und Klasseninteressen. Das deutsche Beamtentum i m allgemeinen und die höheren und höchsten Beamten i m besonderen befürchteten von H i t l e r keine Gefährdung ihrer sozialen und ökonomischen Gesamtexistenz. Diese Gesamtexistenz aber hatte vor 1933 eine doppelte Grundlage: den überlieferten deutschen Beamtenstaat mit seinen wohlerworbenen Rechten der Beamten und eine einflußreiche hohe Ministerialbürokratie. Beides — wohlerworbene Beamtenrechte und die Machtstellung der hohen Ministerialbürokratie — hatte in den letzten Jahren der Weimarer Verfassung einen erstaunlichen Höhepunkt erreicht. Die Weimarer Verfassung hatte die wohlerworbenen Rechte der Beamten ausdrücklich gewährleistet. Die hohe M i nisterialbürokratie war durch die Verordnungspraxis des Artikels 48 zum Gesetzgeber geworden. Die Verordnung hatte das Gesetz verdrängt. Die Rechtsetzung war durch Vereinfachungen und'Beschleunigungen „motorisiert". Jede Motorisierung des gesetzgeberischen Verfahrens aber bedeutet eine Machtsteigerung für die Büros, in denen die Verordnungen entstehen. Die meisten Beamten befürchteten von Hitler keine Gefahr, weder für ihre wohlerworbenen Rechte noch für die Machtstellung des deutschen Beamtentums i m ganzen. Viele glaubten seinen wiederholten Versicherungen u n d hielten i h n sogar für den Retter der Grundsätze des hergebrachten deutschen Berufsbeamtentums. A l l e fürchteten den offenen Bürgerkrieg und sahen in Hitlers Legalitätsbeteuerungen einen Schutz vor dem Bürgerkrieg. Von der Gefährdung, die ein totalitäres Parteisystem für den traditionellen deutschen Beamtenstaat bedeuten mußte, ahnten damals nur sehr wenige etwas. H i t l e r tat auch alles, um diese Ahnungslosigkeit zu erhalten. Diesem Zweck dienten seine Lobsprüche auf das deutsche Beamtentum in seinem Buch „Mein K a m p f " , das Programm einer Wiederherstellung des
442
Das Problem der Legalität (1950)
deutschen Berufsbeamtentums und die Organisierung eines NS-Beamtenbundes. Entscheidend aber waren die feierlichen Legalitätserklärungen, besonders der berühmte Legalitäts-Eid i m ScheringerProzeß 1930. Das Legalitäts-Problem erwies sich schon damals als der Schlüssel zum staatlichen Machtproblem i n Deutschland. I n dem Beg r i f f der Legalität findet man deshalb die eigentliche A n t w o r t auf unsere Frage, w a r u m das deutsche Beamtentum H i t l e r gefolgt ist. Denn die Machtergreifung Hitlers war in den Augen des deutschen Beamtentums nicht illegal. Das war sie auch nicht für die große Mehrheit des deutschen Volkes und ebensowenig für die ausländischen Regierungen, die ihre diplomatischen Beziehungen fortsetzten, ohne eine neue völkerrechtliche Anerkennung für erforderlich zu halten, wie das i m Falle der Illegalität notwendig gewesen wäre. Es gab audi keine deutsche Gegenregierung gegen Hitler. Eine solche ist weder auf deutschem Boden noch als Emigrantenregierung zustande gekommen. Das sogenannte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 beseitigte alle Bedenken und w i r k t e sich als eine große General- und Pauschal-Legalisierung aus, und zwar sowohl nach rückwärts, für die Vorgänge des Februar und März 1933, wie auch für alle künftigen Aktionen. Die faktische und pauschale LegalisierungsWirkung dieses Ermächtigungsgesetzes war deshalb so umfassend, weil H i t l e r und seine Gefolgschaft durch ein verfassungsänderndes Gesetz vom Parlament i m effektiven Besitz der Macht bestätigt war. Jetzt war jeder legale Weg einer Rückgängigmachung der Machtergreifung verbaut. Jetzt blieb nur noch die schwache Hoffnung übrig, daß der Reichspräsident Hindenburg vielleicht doch noch imstande sein könnte, H i t l e r zu entlassen und einen anderen Reichskanzler zu ernennen. Aber wenn die Furcht vor einem Bürgerkrieg ein so starker Antrieb für die Unterwerfung unter H i t l e r gewesen war, so konnte die Hoffnung auf eine Entlassung Hitlers durch Hindenburg nicht viel bedeuten, weil jeder wußte, daß der Versuch einer Beseitigung Hitlers einen noch weit gefährlicheren Bürgerkrieg entfesseln würde. I n dem U r t e i l des Nürnberger Internationalen Militär-Tribunals vom 1. Oktober 1947 ist festgestellt: „1934 war die ganze Macht i n Hitlers Händen." Dieser Satz ist für unser Problem von größter Tragweite. D a m i t nämlich war Hitlers Macht für jede positivistische Legalitätsvorstellung noch weit mehr als nur selber legal, sie war auch die Quelle aller positiv-rechtlichen Legalität. Das deutsche Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 verbarg sein parteitotalitäres G i f t , insbesondere den allgemeinen parteipolitischen
Das Problem der Legalität (1950)
443
Vorbehalt des § 71, unter ausführlichen Normierungen und Sicherungen der Rechtsstellung des deutschen Beamten, wie sie den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums entsprachen. Seit Ende August 1939 entfielen darum infolge des Krieges die letzten Reste einer moralischen Widerstandskraft des deutschen Beamtentums. Erstens wegen der selbstverständlichen Berufung auf die Notwendigkeiten eines totalen Krieges, u n d zweitens, w e i l die Konzentrierung aller staatlichen Macht i n der H a n d Hitlers jetzt ihren äußersten Grad erreichte. Gesetzgebung, Verwaltung u n d Justiz funktionierten m i t neuen Vereinfachungen und Beschleunigungen immer hemmungsloser als Befehlsapparate. I n den letzten Kriegsjahren entstand i m Bereich der ErnährungsWirtschaft ein neuer Begriff, die „Anordnung", deren Wesensmerkmal darin liegt, daß, wenn die Verordnung ein motorisiertes Gesetz darstellt, die Anordnung eine motorisierte Verordnung ist. Die allgemeine Motorisierung ist kennzeichnend für den reinen Funktionalismus dieser Apparatur. Merkwürdigerweise zeigte sich i m Jahre 1942 bei H i t l e r selbst plötzlich wieder eine A n w a n d l u n g des Bedürfnisses nach einer Legitimierung, und zwar nicht nur i m Sinne seiner eigenen, positivistisch-absoluten Legalität, sondern auch einer A r t von demokratischer Legitimität. Das dokumentierte sich damals i n zwei sonderbaren Erklärungen. Eine Reichstagserklärung vom 26. A p r i l 1942 (RGBl. I S. 247) erkannte ausdrücklich an, daß H i t l e r i n Kriegszeiten das Recht habe, i n wohlerworbene Beamtenrechte einzugreifen (als ob es i n einem solchen totalen Krieg und einem solchen System keine anderen rechtlichen Anliegen gegeben hätte als die Beamtenrechte). Eine Erklärung Hitlers selbst vom 10. M a i 1943 verlängerte das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Beide Erklärungen sind i n der Konfusion ihrer Selbstwidersprüche einfadi unglaublich. Sie beweisen aber eben dadurch um so deutlicher, daß H i t l e r selbst schließlich noch mehr Interesse an einer gewissen Legitimierung hatte als ein nach den Begriffen positivistischen Rechts funktionierender Apparat, der i h m als dem Inhaber der Staatsgewalt und der einzigen Quelle aller Legalität gehorchte. II Unsere Betrachtung stößt immer wieder auf den Begriff der Legalität als den K e r n des Problems. Hier liegt der Schlüssel zu einer Erkenntnis des Hitler-Regimes, wenigstens soweit es sich u m die spezifisch staatliche Seite seiner Macht handelt. Darüber hinaus handelt
444
Das Problem der Legalität (1950)
es sich um eine wichtige Frage der modernen Entwicklung überhaupt. W i r sprechen hier nicht von der Rechtmäßigkeit oder Widerrechtlichkeit zahlloser Einzelbefehle, sondern von dem Problem des Funktionierens eines Regimes i m ganzen. Das ist ein höchst aktuelles soziologisches Problem, das wohl verdient, in aller Sachlichkeit behandelt zu werden. Eine ganz außerordentliche Schwierigkeit müssen w i r uns dabei zum Bewußtsein bringen. Sie liegt darin, daß das Wort „Legalität" in einem modernen, durchorganisierten Staatswesen eine besondere, ganz spezifische Bedeutung erhält. N u r unter diesem Gesichtspunkt ist die Geschichte des deutschen Beamtentums seit 1918 zu verstehen. Die Legalität, von der hier die Rede ist, bedeutet keine bloß äußerliche, rein formale, rein juristische Begleiterscheinung. Sie betrifft auch nicht die Frage nach Recht und Gerechtigkeit i n einer inhaltlichen Bedeutung. Sie ist auch von Legitimität i n einem konservativen oder revolutionären Sinn zu unterscheiden. N u n können die Worte „legal" und „Legalität" an sich alles bedeuten, was irgendwie dem Worte „ l e x " entspricht, und dieses W o r t lex hat zu verschiedenen Zeiten und i n verschiedenen Ländern, i n verschiedenen Verfassungen und bei verschiedenen Organisations formen der Rechtsetzung und Rechtsprechung einen ganz verschiedenen Inhalt. W i r müssen also versuchen, die schon fast babylonische Sprachverwirrung, die hier herrscht, einigermaßen zu überwinden. I n einem modernen, d. h. industrialisierten, durchorganisierten, arbeitsteiligen und hochspezialisierten System bedeutet Legalität eine bestimmte Methode des Arbeitens u n d Funktionierens von Behörden. Die A r t der Geschäftserledigung, die Routine und Gewohnheiten der Ämter, das einigermaßen berechenbare Funktionieren, die Sorge um die Erhaltung dieser A r t Existenz und das Bedürfnis nach einer „Deckung" gegenüber einer Verantwortung fordernden Instanz: alles das gehört zu dem Komplex einer bürokratisch-funktionalistisch aufgefaßten Legalität. Wenn ein Soziologe wie M a x Weber sagt: „ D i e Bürokratie ist unser Schicksal", so müssen w i r hinzufügen: Die Legalität ist der Funktionsmodus dieser Bürokratie. I n Ländern, in denen die staatliche Bürokratie nicht oder noch nicht das Monopol der Erledigung öffentlicher Aufgaben hat, w i r d man die Verwandlung des Rechts i n einen Funktionsmodus arbeitender Behörden kaum begreifen und den Sinnwandel des Wortes „legal" vielleicht überhaupt nicht verstehen. Es würde schwer werden, einem
Das Problem der Legalität (1950)
445
Engländer oder Amerikaner ohne soziologische Schulung unseren Gedankengang klarzumachen. I m angelsächsischen Sprachgebrauch bedeutet das W o r t „legal" soviel wie „rechtlich" oder „juristisch". Hier sind zwar Antithesen von rechtlidi und moralisch, rechtlich und politisch möglich und üblich, aber die scharfe Antithese von rechtlich und legal, die unserer Betrachtung zugrunde liegt, ist i m Englischen nicht ausdrückbar. I n Frankreich dagegen, der Heimat des staatlichen Gesetzesrechts und der großen staatlichen Kodifikationen, hat der staatliche Behördenapparat seit 1799 ein halbes Dutzend Regime-Wechsel überdauert. D o r t sind infolgedessen die schärfsten Formulierungen einer rein formalistisch-funktionalen Legalität als Gegensatz gegen das sübstanzhafte Recht und die geschichtliche Legitimität entstanden. Lamennais hatte schon i m Jahre 1829 die Antithese von Legalität und Legitimität m i t aller Präzision ausgesprochen. Schon vor der Revolution von 1848 wurde das bekannte W o r t geprägt: Die Legalität tötet, la legalite tue. Dieser Satz konnte i n Frankreich und i m Französischen sofort zum geflügelten W o r t werden. Ins Englische kann man i h n k a u m übersetzen, was sich aber nur daraus erklärt, daß die Engländer i m 19. Jahrhundert von den Schußlinien des europäischen Bürgerkrieges weiter entfernt waren als die Franzosen. Unmittelbar nach 1848 hat der damalige Präsident Louis Napoleon Proklamationen erlassen, i n denen er dazu aufforderte, „die Legalität zu verlassen, u m wieder zu einem Recht zu gelangen" (de sortir de la legalite, pour rentrer dans le droit). Seit etwa 1900 spricht die Opposition in Frankreich von einem „pays legal", dem gegenüber sie ein „pays reel " vertrete. Frankreich ist das Land der Legisten. Es hat eine starke staatlich zentralistische Tradition, aber auch eine bedeutende freie Advokatur und ein Juristentum, das sich nicht nur als Teil der staatlichen Justizverwaltung fühlt. So erklärt es sich, daß die Trennung von Recht und Legalität i n Frankreich zuerst und am schärfsten empfunden und am prägnantesten formuliert worden ist. Auch die Sätze des P. Laberthonniere, von denen w i r ausgingen, konnten m i t solcher Schärfe wohl nur i n Frankreich entstehen. I n Deutschland dagegen ist die Antithese erst viel später zum kritischen Bewußtsein gekommen, nachdem sie ihre massivsten Auswirkungen gefunden hatte. Der deutsche Staat war seit Jahrhunderten ein Be&mtenstaat. Aber bis zum Zusammenbruch des November 1918 war der rein staatliche Funktionalismus trotz des herrschenden Gesetzespositivismus durch den dichten Schleier einer doppelten Tradition verhüllt, nämlich
446
Das Problem der Legalität (1950)
durch die monarchisch-dynastische Legitimität und die föderalistische Dezentralisierung. I m November 1918 entfiel die dynastische Legitimität. Die ökonomisch-industrielle Entwicklung führte zu einer steigenden Zentralisierung. Schließlich blieb nur die staatliche Legalität als einzige Rechtsgrundlage des staatlichen Funktionierens. Die Legal i t ä t wurde, wie M a x Weber sagte, zur einzigen Erscheinungsform der Legitimität. III Den Deutschen ist nachgesagt worden, daß sie ein „rührend legalitätsbedürftiges V o l k " sind. Man hat ihnen auch oft vorgehalten, daß sie keines rechten Widerstandes gegen die Obrigkeit fähig wären. Sie haben w o h l eine besondere Fähigkeit bewiesen, Unterwerfung unter die jeweilige Obrigkeit m i t einem innerlichen Freiheitsgefühl zu verbinden. O b man dafür Luther oder K a n t oder wen immer verantwortlich machen soll, brauchen w i r hier nicht zu untersuchen. I m übrigen w i r d man nicht daran zweifeln können, daß die Deutschen i n besonders hohem Maße ein Beamtenvolk sind, m i t einer weitverbreiteten Staatsbeamtengesinnung. Dazu kommt ein starker Sinn für eine technisierte Disziplin, für Spezialisierung u n d Zuständigkeitsabgrenzung u n d für das Ideal eines reibungslosen Funktionierens. A l l d e m mag so sein. Aber die Verwandlung des Rechts i n die Legalität als einen bloßen Funktionsmodus der Arbeit staatlicher Behörden und das entsprechende Verhältnis der Menschen, die auf solche Behörden angewiesen sind, ist längst kein spezifisch deutsches Problem mehr. Überall herrscht der juristische Positivismus, und das bedeutet die Anerkennung des Satzes, daß das Recht von dem gesetzt w i r d , der sich eben faktisch durchsetzt. Juristischer Positivismus heißt nichts anderes als Verwandlung des Rechts i n eine Setzung von Setzungen. Das ist zugleich die Anerkennung der „normativen K r a f t des Faktischen", einer interessanten A r t von K r a f t , die nicht nur i n Deutschland u n d nicht erst seit 1933 entdeckt worden ist. Noch i n diesen Tagen, Anfang Dezember 1949, hat der englische Delegierte bei der U N O m i t Bezug auf die Anerkennung der neuen kommunistischen Regierung Chinas erklärt, eine völkerrechtliche Anerkennung habe sich nur auf die faktische Wirklichkeit zu stützen. Die Rechtmäßigkeit der Entstehung ist kein Merkmal der Staatsgewalt. Das hat das Deutsche Reichsgericht nach dem Zusammenbruch des November 1918 m i t Bezug auf die damaligen Arbeiter- und Soldatenräte gesagt. Aber das ist ein Gemeinplatz, ein Topos der juristischen Lehrbücher und
Das Problem der Legalität (1950)
447
Kommentare. E i n Staatsapparat, der effektiv funktioniert, ist eben dadurch Träger der Staatsgewalt u n d Quelle allen positiven Rechts. Diese Verwandlung des Rechts i n Legalität ist eine Konsequenz des Positivismus. Sie ist unvermeidlich, sobald ein politisches Gemeinwesen sich von der Kirche entfernt. Soziologisch ist sie ein T e i l der Entwicklung des industriell-technischen Zeitalters. Philosophiegeschichtlich gehört sie zu der Verwandlung des Substanz-Denkens in Funktions-Denken, eine Verwandlung, die uns bis vor kurzem als großartiger, wissenschaftlicher und kultureller Fortschritt angepriesen worden ist. Das furchtbare Bild, das sich durch eine restlose Funktionalisierung der Menschheit ergibt, ist noch i n diesen Tagen i n der Tübinger Zeitschrift „Universitas" von ihrem Herausgeber, Serge Maiwald, auf eine eindrucksvolle Weise gezeigt worden. Aber schon vor über 30 Jahren hatte ein großer deutscher Soziologe, M a x Weber, die Diagnose und m i t i h r auch die Prognose richtig gestellt. Seinen Satz über die Bürokratie als das Schicksal haben w i r vorhin zitiert. Als weiteres Beispiel einer seiner großartigen Prognosen zitieren w i r aus seinem nachgelassenen W e r k „Wirtschaft und Gesellschaft" (1921 S. 511/512) noch die Stelle: „ W i e immer aber sich unter diesen Einflüssen das Recht und die Rechtspraxis gestalten mögen, unter allen Umständen ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparates sein unvermeidliches Schicksal. Dieses Schicksal k a n n durch die aus allgemeinen Gründen vielfach zunehmende Fügsamkeit i n das einmal bestehende Recht zwar verschleiert, nicht aber w i r k l i c h von i h m abgewendet werden." Diese Sätze M a x Webers sind zwar nicht leicht verständlich, aber sie sind trotzdem kein Orakel, sondern eine soziologische Prognose. Der Verwandlung des Rechts i n die Legalität folgte unmittelbar die Verwandlung der Legalität i n eine Waffe des Bürgerkrieges. Auch das w a r keine deutsche Erfindung. Lenin hat sie m i t vollem Bewußtsein und aller Schärfe verkündet. Seine Schrift aus dem Jahre 1920: „ D e r Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus", ist hierfür ein so entscheidendes Dokument, daß jede Erörterung des Legalitätsproblems ohne Kenntnis dieser Schrift anachronistisch w i r k t . Lenin sagt: „Revolutionäre, die es nicht verstehen, die illegalen K a m p f formen m i t allen (von Lenin selbst unterstrichen) legalen zu verbinden, sind äußerst schlechte Revolutionäre".
448
Das Problem der Legalität (1950)
D a s ist es. B e r ü h m t e P h i l o s o p h e n u n d S c h r i f t s t e l l e r des L e n i n i s m u s u n d S t a l i n i s m u s h a b e n diese T h e s e n L e n i n s z u m G e g e n s t a n d Exegesen gemacht, m i t
dem Ergebnis, daß alle Legalität zu
ihrer einem
t a k t i s c h e n W e r k z e u g w i r d , w ä h r e n d es f ü r sie n u r noch eine einzige Art
von
geschichtlicher
Legitimität
gibt,
die
der
kommunistischen
R e v o l u t i o n . D i e s e L e g i t i m i t ä t r e c h t f e r t i g t f ü r sie j e d e M a ß n a h m e u n d jeden legalen u n d illegalen Mit
Terror.
dieser F e s t s t e l l u n g s i n d w i r
z u unserem A u s g a n g s p u n k t
r ü c k g e k e h r t , z u d e m S a t z des P. L a b e r t h o n n i e r e , „Gesetz
ist
Gesetz"
im
Grunde
dasselbe
daß die
bedeutet
wie
zu-
Maxime
„Krieg
ist
K r i e g " . D a s w i r d n o c h d e u t l i c h e r , w e n n w i r sagen: „ B ü r g e r k r i e g i s t B ü r g e r k r i e g " . M i t g r o ß e r T r a u r i g k e i t e r i n n e r t uns P. L a b e r t h o n n i e r e a n die l a n g e R e i h e d e r R e v o l u t i o n s t r i b u n a l e , A u s n a h m e g e r i c h t e , Sondergerichte,
Volksgerichte,
Kammern
und
Instanzen,
die i m
Laufe
d e r Geschichte t ä t i g g e w o r d e n s i n d u n d i n d e r e n H a n d das Gesetz e i n W e r k z e u g der V e r f o l g u n g u n d d e r Rache w a r , u n d m i t E r s c h ü t t e r u n g v e r n e h m e n w i r d a n n seinen e r s t a u n l i c h e n
tiefster
Ausspruch:
I c h vergleiche n i c h t d i e O p f e r , ich vergleiche n u r d i e R i c h t e r .
Der Aufsatz ist i n der Zeitschrift „ D i e neue O r d n u n g " (Herausgeber: Albertus-Magnus-Akademie i n Walberberg), 4. Jahrgang H e f t 3, 1950, S. 270 bis 275, erschienen. M i t Ausnahme der Stellen über P. Laberthonniere am A n f a n g u n d am Schluß ist er i n allem Wesentlichen die wörtliche Wiedergabe einer schriftlichen A n t w o r t , die ich am 13. M a i 1947 i m Zeugenhaus i n Nürnberg H e r r n D r . Robert W. Kempner überreicht habe. D i e m i r gestellte Frage lautete: W a r u m sind die Staatssekretäre H i t l e r gefolgt? Ich habe die Frage nicht auf individuelle Einzelfälle bezogen, sondern auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich die aus der höheren Beamtenlaufbahn hervorgegangene deutsche Ministerialbürokratie, einen wesentlichen Träger des Präsidialsystems u n d typischen Exponenten der maßgebenden Schicht des deutschen Beamtentums, das sich 1933 ohne nennenswerten Widerstand i n den Dienst Hitlers gestellt hatte. F ü r diese Ministerialbürokratie des Präsidialsystems war die Legalität noch nicht der bloße Gegensatz zur Legitimität, sondern noch eine Erscheinungsform der Legitimität. Über den Gesetzesbegriff i n der konstitutionellen Monarchie Deutschlands: ErnsiWolfgang Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt von den A n fängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus; Schriften zum öffentlichen Recht, Heft 1, Duncker & H u m b l o t , Berlin 1957. Überblick über die Geschichte des Verhältnisses von Legalität u n d Legitimität: 1. I m Bereidi der römischen Kirche gibt es keinen Unterschied von Legalität u n d Legitimität. I m Codex Juris Canonici k o m m t das Wort
Das Problem der Legalität (1950)
449
legitimus sehr oft, legalis dagegen nur an vier Stellen vor: c. 33, 1059, 1080, 1543, u n d zwar immer m i t Bezug auf das weltliche (civile) Recht. Ob darin bereits eine gewisse A b w e r t u n g gefunden werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen. I m Bereich der Kirche selbst ist kein Raum für die Unterscheidung von Legalität u n d Legitimität. Das Problem ist, wie Prof. Hans Barion m i r schreibt, dem kirchlichen Denken fremd. D a n k der göttlichen Leitung ist die legale Hierarchie immer auch die legitime. I n der verfassungsgeschichtlichen E n t w i c k l u n g des kontinental-europäischen Staates ist die antithetische Aufspaltung von Legalität u n d Legitimität zum Schicksal dieses Staates geworden. D i e Aufspaltung beginnt m i t dem sog. Legitimitätsprinzip der monarchischen Restauration von 1814/15. Die dynastisch-monarchische L e g i t i m i t ä t galt bis i n das 20. Jahrhundert hinein als die Legitimität schlechthin. Daß sich inzwischen, namentlich seit den D o k t r i n e n des amerikanischen Präsidenten W . Wilson, auch ein demokratisches Legitimitätsprinzip entwickelt hat, ist vielfach heute noch nicht bekannt. I n den Büchern von E. Ferrero über L e g i t i m i t ä t u n d A u t o r i tät ist nur das alte historische Legitimitätsprinzip gemeint. M a x Webers Lehre von den drei A r t e n der Legitimität — charismatisch, t r a d i t i o n a l u n d rational — hat sich nur langsam herumgesprochen. Noch i n dem Aufsatz von W i l l i b a l d Pöchl, Das Legitimitätsproblem u n d das kanonische Recht, Zeitschrift für öffentliches Recht. X V I I I , 1938, bekundet sich die volle Ahnungslosigkeit. 2. D i e Aufspaltung v o n Legalität u n d L e g i t i m i t ä t hat ihren Ursprung i n dem monarchischen Frankreich der Restaurationszeit nach 1815. Hier wurde der Gegensatz zwischen der historischen Legitimität einer restaurierten Dynastie u n d der Legalität der weitergeltenden napoleonischen Codes frappant. Als ersten A u t o r für die bewußte Antithese habe ich Lamennais genannt, bei dem ich mehrere Äußerungen aus den Jahren 1829 bis 1831 gefunden hatte (S. 445). Doch bedarf die Wortgeschichte noch einer näheren Untersuchung. Nicolaus Sombart macht mich darauf aufmerksam, daß i n der Histoire philosophique du genre h u m a i n von Fabre d'Olivet (1. A u f lage 1822, 2. Auflage 1824, Bd. I I S. 394 ff.) die „distinction entre ce q u i est legitime et ce q u i est legal" als Uberschrift vorkommt. D i e Liberalen wollen die konstitutionelle Monarchie als eine legale, die Royalisten wollen sie als eine legitime Herrschaftsform. Die Monarchie von Louis Philippe (1830 bis 1848) ist bewußt legal. 3. F ü r den revolutionären Fortschritt w a r die Legalität ein Ausdruck der Rationalität u n d eine geschichtlich höhere F o r m als die Legitimität. Jules Michelet feiert das Gesetz i n panegyrischen Schriften als den Ausdruck der Zivilisation gegenüber der (russischen) Barbarei, als Ü b e r w i n d u n g des Zeitalters der Vaterherrschaft, der paternite, besonders i n der Schrift „Pologne et Russie", Paris 1852, wo D o n a u u n d Weichsel als die Grenzen der Z i v i l i sation bezeichnet werden. Das Gesetz, das ist die Regierung des Menschen durch sich selbst; la loi, le gouvernement de Thomme par lui-meme. Plus de peresl Doch w a r dieser Enthusiasmus schon problematisch geworden, wie die i n unserm Aufsatz zitierten Äußerungen Napoleon I I I . zeigen. F ü r eine geschichtliche Beurteilung des Verhältnisses von Hegel u n d Savigny ist diese erste Krisis der Legalität sehr wichtig; vgl. oben S. 429. 29 Carl Schmitt
450
Das Problem, der Legalität (1950)
4. I n diese Krisis stößt die kommunistische revolutionäre Bewegung seit dem Kommunistischen Manifest von 1847/48 m i t voller Wucht u n d vollem gesdiiditsphilosophischem Bewußtsein hinein. Nach dem Kommunistischen Manifest ist das Gesetz des bürgerlichen Klassenstaates der Feind des Proletariats. D i e ebenso folgerichtige wie folgenreiche Nutzanwendung ziehen Lenin u n d T r o t z k i 1917. Die Frage Legalität oder Illegalität w i r d zu einem bloßen Moment i n den strategischen u n d taktischen Maßnahmen des kommunistischen Bürgerkrieges. I n unserm Aufsatz über die Lage der europäischen Rechtswissenschaft oben S. 425/6 ist auf das K a p i t e l „Legalität u n d I l l e g a l i t ä t " von Georg Lukäcs i n Geschichte u n d Klassenbewußtsein (1922 S. 261) hingewiesen. I n meinem Buch D i e D i k t a t u r (1. Auflage 1921) ist der geistesgeschichtliche Zusammenhang i m V o r w o r t aufgewiesen. D i e Legalität w i r d zur vergifteten Waffe, die man dem politischen Gegner i n den Rücken stößt. I n Bert Brechts Roman schließlich befiehlt der GangsterFührer seinen Leuten: D i e Arbeit muß legal sein. Hier endet die Legalität als Gangsterparole. Als eine Botschaft der G ö t t i n der Vernunft hatte sie begonnen. 5. H i t l e r hat sich der Legalität als seiner stärksten Waffe bedient. Die beiden Verlängerungenn des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 i n den Jahren 1937 u n d 1939 u n d vor allem die höchst sonderbare, fristgerechte Selbstverlängerung vom 10. M a i 1943 erklären sich nur daraus, daß i h m die f ü r i h n schicksalhafte Rolle der Legalität stets bewußt geblieben ist. M a n denkt, wenn man m i t Bezug auf H i t l e r von Legalität spricht, meistens nur an seine Ernennung zum Reichskanzler u n d an das sogenannte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Interessanter u n d vielleicht noch entscheidender w a r seine Benutzung der Legalität als Waffe i n den Wochen vor dem 30. Januar 1933, als es i h m darauf ankam, den Reichspräsidenten Hindenburg dahin zu bringen, daß dieser trotz allen Widerstrebens u n d sogar Widerwillens H i t l e r zum Reichskanzler ernannte. Damals warnte der Führer der Zentrumspartei, Prälat Prof. D r . Kaas, i n einem offenen Brief die Reichsregierung vor „ I l l e g a l i t ä t " u n d verstand darunter nicht etwa die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, sondern eher das Gegenteil; vgl. Bern. 5 oben S. 350. Hitlers stärkstes Mittel, auf Hindenburg einzuwirken, bestand damals darin, m i t neuen Prozessen vor dem Staatsgerichtshof zu drohen. Die Reichsregierung hatte i m Oktober 1932 den Prozeß Preußen/Reich vor dem Staatsgerichtshof zwar m i t Bezug auf Abs. 2 des A r t . 48 (vorläufige Absetzung der preußischen Minister u n d Einsetzung von Reichskommissaren i n Preußen als Diktaturmaßnahme) gewonnen, m i t Bezug auf Abs. 1 (Reichsexekution u n d Vertretung Preußens i m Reichsrat) jedoch verloren. Das i n sich gespaltene U r t e i l eröffnete die Möglichkeit immer neuer, unabsehbarer Prozesse vor dem Staatsgerichtshof. F ü r einen M a n n w i e Hindenburg war der Gedanke, i n das Geschrei u n d die Schikanen taktisch u n d propagandistisch aufgezogener Prozesse hineingezerrt zu werden, unerträglich. M i t der Frage Recht oder Unrecht? hatte das i n der Sache wenig zu tun. D i e D r o h u n g m i t politischen Prozessen k a n n immer ein wirksames Pressionsmittel sein, namentlich dann, wenn dem Bedrohten die Welt derartiger Prozesse wesensfremd ist.
Das Problem der Legalität (1950)
451
6. Heute sagt man nicht mehr gern legal, dafür aber u m so häufiger legitim. I n der verfassungstheoretischen und soziologischen Diskussion der letzten Jahre ist das Problem der Legitimität lebhaft erörtert worden, vor allem i n der Kontroverse zwischen Johannes Winckelmann (Legitimität und Legalität i n Max Webers Herrschaftssoziologie, 1952, ferner Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 112. Bd. 1956, S. 164 ff. „Die verfassungsrechtliche Unterscheidung von Legitimität und Legalität") und Arnold Gehlen. Winckelmann hält an der Lehre Max Webers von den drei Erscheinungsformen der Legitimität — charismatisch, traditional und rational — fest und meint, daß sie auch i m industrieller Sozialstaat ihre Gültigkeit bewähre, trotz der „strukturbedingten Risiken der Massendemokratie". Freilich ist er dadurch gezwungen, Wert-Rationalität und Zweck-Rationalität auf das schärfste zu trennen und an der Wert-Rationalität festzuhalten, um die Legalität als die rationale Erscheinungsform der Legitimität zu retten. A r n o l d Gehlen dagegen findet (in seiner Besprechung des Winckelmannschen Buches, Deutsches Verwaltungsblatt vom 1. September 1955, 70. Jahrgang Heft 17 S. 577), daß Max Webers Legitimitätslehre i m Sozialstaat der industriellen Massen-Daseinsvorsorge überholt ist und meine Schrift Legalität u n d Legitimität (oben S. 263 f.) nur die Situation des Jahres 1932 t r i f f t . Gehlen weist darauf hin, daß die laufende Erhöhung des Lebensstandards i m Glauben der Massen zu einem Rechtsanspruch geworden ist u n d sagt: „Es scheint vielmehr so, als ob eine Herrschaft kraft unbestimmt befristeter Erwartungen ihrer sozialeudaimonistischen Erfolge als legitim gelten kann, vorausgesetzt, daß sie sich selbst dabei minimalisiert, die Freiheitsräume ausspart und die allgemeine Reizbarkeit gegen ein zu kompaktes Inerscheinungtreten des Staates berücksichtigt." Den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Sidierheit sieht Gehlen sehr deutlich. Zu dem was Bertrand de Jouvenel eine societe hedonienne nennt, zitiert er dessen Äußerung, daß der Schrecken vor dem, was Hobbes den Kriegszustand nennt, immer stärker w i r d und „dann siegt das Bedürfnis nach Sicherheit über die Freiheitsliebe" (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1957, S. 155). Winckelmann hat i n einer seiner Erwiderungen (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1956, S. 383 ff.) den Gegensatz von Wert- und Zweckrationalität nochmals betont. Das ist gedanklich zweifellos richtig. Aber angesichts der modernen Aufspaltungen des modernen Gesetzesbegriffs und der Anerkennung des wirtschaftlichen „Maßnahmegesetzes" (S. 347), angesichts auch von Max Webers eigenem Pessimismus, der den Übergang zur bloßen Zweck-Rationalität für schicksalsmäßig und unabwendbar hielt, w i r d die Trennung von Wert und Zweck zu einem verzweifelten Postulat.
Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug (1952) Vorbemerkung Das folgende Rechtsgutachten beschränkt sich auf die Beantwortung der Frage, ob durch A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen Eigentum unmittelbar entzogen worden ist. Diese Beschränkung läßt das Problem des unmittelbaren Verfassungs Vollzuges i n aller Deutlichkeit erkennen. Die vielen schwierigen Fragen, zu denen A r t . 41 Anlaß gibt, sind in zahlreichen Schriftsätzen und Gutachten behandelt worden. Für das folgende Gutachten k a m es nicht auf eine Auseinandersetzung m i t allen Gesichtspunkten, Argumenten und Gegenargumenten an, sondern auf die K l ä r u n g eines verhältnismäßig neuen Problems, das sich besonders für die Verfassungen des sozialen Rechtsstaates erhebt. Es handelt sich u m die verfassungsrechtliche Frage eines rechtlich geordneten Verfahrens zur Durchführung einer Sozialisierung. Das ist nicht weniger als das Problem der Vereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozialisierung. Der Gesichtspunkt eines rechtlich geordneten Verfassungsvollzugs, der für die folgenden Darlegungen entscheidend ist, soll das Problem aus dem Streit der Unwerturteile und aus der Atmosphäre gegenseitiger Diskriminierung herausführen und die Sachlichkeit ermöglichen, die zur Durchführung großer Planungen gehört. A r t . 41 der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 lautet: „ M i t Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. i n Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze) die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen, 2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen i n Ziffer 1 genannten Betriebe, deren Sitz nicht i n Hessen liegt. Das Nähere bestimmt das Gesetz. Wer Eigentümer eines danach i n Gemeineigentum überführten Betriebes oder m i t seiner Leitung betraut ist, hat i h n als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von Ausführungsgesetzen weiterzuführen."
453
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
I. Das rechtsstaatliche Problem des Verfassungsvollzugs Die Verfassung des Landes Hessen w i l l eine rechtsstaatliche Verfassung sein. Sie gewährleistet Gleichheit, Freiheit und unbedingte Gesetzmäßigkeit jedes Zwanges (Art. 2 Abs. 2) i n derselben Weise wie andere rechtsstaatliche Verfassungen (Art. 1—25; A r t . 45). Sie erklärt aber außerdem ihren W i l l e n zur Sozialisierung (Art. 39—41). I n der Verbindung von Rechtsstaat und Sozialisierung liegt eine Grundentscheidung der Hessischen Verfassung. Rechtsstaat und Sozialisierung schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber aus ihrer Verbindung entstehen neue verfassungsrechtliche Fragen, die dem Recht des rein bürgerlichen Verfassungsstaates u n d der aus i h m überkommenen Rechtslehre k a u m bekannt und jedenfalls nicht geläufig waren. 1. S o z i a l i s i e r u n g u n d r e c h t s s t a a t l i c h Verfassungsvollzug
geordneter
Die schwierigste neue Frage entsteht aus dem Verhältnis von Verfassung und Verfassungsvollzug. Die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates kannte i m allgemeinen nur Freiheitsrechte als sog. negativen Status, Freiheit und Eigentum und den Vorbehalt des einfachen Gesetzes. Die für einen Rechtsstaat wesentliche Ordnung eines rechtlich geregelten Verfahrens für Eingriffe i n diese Grundrechte w a r durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gesichert. Die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug, Legislative und Exekutive, betraf hier ein einfaches zweigliedriges Verhältnis von Gesetz und Gesetzesvollzug. Eine sozialstaatliche Verfassung wie die des Landes Hessen dagegen muß neue Einrichtungen, Zuständigkeiten und Verfahren vorsehen. Sie sichert nicht nur den sogenannten negativen Status der Freiheit, sondern gewährt auch Ansprüche auf positive Leistungen des Staates. Sie erklärt ihren W i l l e n zur Sozialisierung, ein Wille, der die Schaffung neuer Einrichtungen, Zuständigkeiten und Verfahren notwendig macht. Für eine solche sozialstaatliche Verfassung erhebt sich infolgedessen ein neues Problem, das des Verfassungsvollzuges, das der bürgerliche Verfassungsstaat i n dieser Form und diesem Umfang nicht kannte. Neben die Frage des Verhältnisses von Gesetz und Gesetzesvollzug t r i t t jetzt die Frage nach dem Verhältnis von Verfassung und Verfassungsvollzug. Die einfache zweigliedrige, rechtsstaatliche Unterscheidung von Legislative und Exekutive, Gesetz und Gesetzes Vollzug,
454
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
reicht nicht mehr aus. Es ist nicht mehr m i t zwei, sondern m i t drei Größen zu rechnen: Verfassung, Gesetz und Gesetzesvollzug (Exekutive). Verfassungsvollzug ist normalerweise Gesetzes Vollzug. Zwischen die Verfassung u n d ihren Vollzug w i r d das Gesetz eingeschaltet. Dabei erheben sich wiederum neue Fragen: wie weit w i l l die Verfassung selbst die Zwischenschaltung des Gesetzes ausschließen und einen unmittelbaren Vollzug anordnen? 2. D e r
verfassungsrechtliche
Sinn
des A r t .
41 H V .
Es gibt geschichtliche Beispiele dafür, daß durch unmittelbaren revolutionären Vollzug einer neuen Verfassung bestimmte Arten von Rechten sofort und ohne Verfahren beseitigt worden sind. So wurden i m August 1789 alle feudalen Formen des Eigentums m i t sofortiger W i r k u n g abgeschafft. I n anderen Fällen wurde das Vermögen bestimmter Personen (der Mitglieder der früher regierenden Familien) mit sofortiger W i r k u n g konfisziert. I n anderen Verfassungen w i r d das Privateigentum an G r u n d und Boden oder an allen Produktionsmitteln m i t sofortiger W i r k u n g beseitigt. I n allen derartigen Fällen w i r d die Rechtsfrage dadurch beantwortet, daß zunächst einmal die bisherigen Eigentümer und Berechtigten außerhalb des Rechts und der Verfassung gestellt, d. h. entrechtet werden, wodurch herrenloses Eigentum entsteht, das einem sofortigen Zugriff offensteht. Aber auch hier bleibt trotzdem die Frage des Vollzuges als eine selbständige Frage offen. Der sofortige Vollzug, d. h. der unmittelbare Zugriff, geschieht dann entweder durch revolutionäre Gewalt, indem sich die neuen Eigentümer und Besitzer z.B. einfach des Bodens bemächtigen, das L a n d neu verteilen und die Fabriken besetzen. Oder der überkommene staatliche Vollzugsapparat bleibt bestehen und nimmt den Zugriff nach irgendeinem nicht gesetzlich geregelten Verfahren vor. Endlich kann die neue Staatsgewalt auch einen völlig neuen Vollzugsapparat schaffen, womit aber die Unmittelbarkeit und Sofortigkeit des Vollzugs bereits wieder eingeschränkt ist. Die Verfassung des Landes Hessen w i l l keines von alledem. Sie versieht zwar i n A r t . 39 (Gefahr des Mißbrauchs wirtschaftlicher Freiheit, insbesondere zu monopolistischer Machtballung und zu politischer Macht) ein nach A r t . 39 näher zu bestimmendes Vermögen mit einem Makel und läßt die Sozialisierung des A r t . 39 als Folge dieses Makels erscheinen. I n A r t . 41 aber findet sich — entgegen einer ver-
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
455
breiteten Meinung — kein W o r t von einem solchen Makel, jedenfalls nicht i m Sinne einer Diskriminierung. A r t . 41 ist i n dieser Hinsicht aus sich selbst auszulegen. Sonst hätte er nicht gesondert einer Volksabstimmung unterbreitet werden können u n d auch nicht unterbreitet werden dürfen. A r t . 41 hängt natürlich m i t A r t . 40 zusammen. Aber in A r t . 41 ist auch Vermögen genannt, dem einen Makel nach A r t . 39 zu erteilen, einfach unwahr sein würde, z. B. Straßenbahnen u n d kleinere Betriebe. I n dem Ja der Volksabstimmung lag kein Ausdruck dieses Makels, sondern der sachliche W i l l e zur Sozialisierung. Es wäre auch geradezu widersinnig, die m i t einem solchen M a k e l versehenen Eigentümer des A r t . 41 für die Zwischenzeit zu Treuhändern zu machen, wie das nach A r t . 41 Abs. 3 der F a l l ist, und ihnen auf diese Weise die Vertrauenserklärung zu geben, die auf jeden F a l l i n der Übertragung einer Treuhänderschaft enthalten ist. Das sind entscheidende Gründe, u m die Sozialisierung des A r t . 41 nicht als VerWirkung oder als Strafe, sondern als sachliche Planung anzusehen. Davon soll hier ausgegangen werden. Wenn angesichts der verbreiteten Auffassung, A r t . 41 sei ein Unterfall des i n A r t . 39 ausgesprochenen Makels, noch ausführlichere Argumentationen notwendig sein sollten, müßten diese einer besonderen Darlegung vorbehalten bleiben. Die Verfassung des Landes Hessen gewährleistet also den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit jedes Eingriffs (Art. 2 Abs. 2), ohne die bisherigen Eigentümer der nach A r t . 41 zu sozialisierenden Betriebe und Unternehmen außerhalb des Rechts zu stellen. Sie w i l l weder einem revolutionären Zugriff den Weg freigeben, noch die bisherige Behörden- und Beamtenorganisation zerschlagen, noch deren Bindung an das Gesetz beseitigen, u m eine völlig neue Exekutive an ihre Stelle zu setzen. Sie übernimmt sowohl die frühere Behördenorganisation, wie auch die rechtsstaatliche Trennung von Legislative und Exekutive, von Gesetzgebung u n d Gesetzesvollzug, eine Trennung, die den Vollzug i n einem rechtlich geordneten Verfahren gewährleistet und ermöglicht. Weit davon entfernt an unmittelbaren Verfassungsvollzug zu denken, erklärt sie vielmehr die Menschenrechte ihres ersten Hauptteils, A r t . 1—25, darunter auch den Grundsatz der unbedingten Gesetzmäßigkeit jedes Eingriffs (Art. 2 Abs. 2), für unabänderlich und den Gesetzgeber, den Richter u n d die Verwaltung unmittelbar bindend (Art. 26). Indem die Verfassung des Landes Hessen sich für eine Verbindung von Rechtsstaat und Sozialisierung entscheidet, w i r d der Vollzug
456
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
ihrer Sozialisierungsbestimmungen Sache eines gesetzlich zu ordnenden Verfahrens. Wie zu einem rechtsstaatlichen Zivilrecht die Zivilprozeßordnung, zum Straf recht die Strafprozeßordnung, zum Abgabenrecht eine Abgabenordnung gehört, so gehört zum Vollzug einer rechtsstaatlichen Verfassung, die eine Sozialisierung anordnet, ein Sozialisierungsgesetz, vor allem m i t einer Sozialisierungsordnung. Das rechtlich geordnete Verfahren ist für eine rechtsstaatliche Verfassung keine äußerliche Zutat, die auch wegbleiben könnte, sondern Kern und Sinn des Rechts- und Verfassungsstaates selbst. I n der Grundentscheidung für den Rechtsstaat liegt zugleich die Entscheidung für ein gesetzlich geordnetes Verfahren des VerfassungsVollzugs. Das ist der Sinnzusammenhang, i n dem die Sozialisierungsbestimmungen des A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen stehen. Daraus ergeben sich die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte, unter denen A r t . 41 auszulegen ist, wenn seine Vollziehbarkeit i n Frage steht. 3. V o l l z i e h b a r k e i t
von
Verfassungsbestimmungen
Die Frage der Vollziehbarkeit von Verfassungsbestimmungen steht i m Zusammenhang der allgemeinen rechtsstaatlichen Frage des Verfassungsvollzugs. Sie ist zum ersten Male i n dem bekannten Aufsatz des von G. Anschütz und R. Thoma herausgegebenen Handbuches des Deutschen Staatsrechts (Bd. I I , S. 572 ff., i n unserer Sammlung S. 217 f.) eingehend behandelt worden. Diese Abhandlung erschien i m Jahre 1932, so daß ihre Erkenntnisse zunächst durch die Ereignisse der folgenden zwölf Jahre überrollt wurden. M i t der Rückkehr zu rechtsstaatlichen Grundsätzen ist die Frage der Vollziehbarkeit von Gesetzen und Verfassungssätzen von neuem praktisch geworden. Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen hat den Gesichtspunkt der Vollziehbarkeit einer Verfassungsbestimmung seiner Entscheidung vom 27. M a i 1949 über die Schulgeld- und Lernmittel-Freiheit nach A r t . 59 zugrundegelegt (Staatsanzeiger für das L a n d Hessen, 1949, S. 348/349). Er hat für diese von der Verfassung angeordnete Freiheit die unmittelbare Vollziehbarkeit bejaht, nachdem der Hessische Verwaltungsgerichtshof sie i n seinem U r t e i l vom 7. Januar 1949 (Staatsanzeiger 1949, Nr. 26, S. 251) verneint hatte. A u f diese Entscheidungen und das Beispiel des A r t . 59 w i r d noch zurückzukommen sein (S. 470f.). Bei der Frage der unmittelbaren Vollziehbarkeit ist vor allem auf den Vollzugs-Adressaten der rechtlichen Bestimmung zu achten, also darauf, an wen sich der staatliche Vollzugsbefehl für die zu voll-
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
457
ziehende Anordnung richtet. E i n Strafgesetz richtet sich für seinen Vollzug i n der Hauptsache an bestimmte Behörden, deren Verfahren durch eine Strafprozeßordnung rechtlich geordnet ist. Das gehört hier zur Vollziehbarkeit i m Sinne eines geordneten Verfahrens. E i n Steuergesetz rechnet m i t dem Vollzug durch organisierte Finanzbehörden usw. Die Ausdrucksweise des Strafgesetzes, des Steuergesetzes usw. ist infolgedessen schon durch die Voraussetzung eines geordneten Vollzuges mitbestimmt. Eine allgemeine Verfassungsanordnung, die lautet: „Schädlinge werden mit dem Tode bestraft" ist i n einem Rechtsstaat nicht nur unwahrscheinlich; sie ist auch nicht unmittelbar vollziehbar. Ein Steuergesetz, das lautet: „Jeder hat nach Maßgabe seiner w i r t schaftlichen Lage den Betrag zu zahlen, der i m Hinblick auf die geldlichen Bedürfnisse des Landes als gerecht erscheint" ist i n einem rechtsstaatlich geordneten Gemeinwesen keine unmittelbare Grundlage für eine Steuerveranlagung und ebenfalls unvollziehbar. Allerdings können allgemeine Grundsätze i m Laufe der Zeit durch die Praxis der Gerichte oder die Gewohnheiten des Vollzugs positiviert, cl. h. vollziehbar gemacht werden. Das ist aber kein unmittelbarer Verfassungsvollzug i m eigentlichen Sinne des Wortes. I£s ist vor allem kein sofortiger Vollzug. Der E i n g r i f f in die verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte k a n n nicht dem freien Ermessen der Exekutive überlassen werden. Solche allgemeinen Sätze sind unter dem Gesichtspunkt der Vollziehbarkeit noch nicht die gesetzliche Ermächtigung, die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen für ein Vorgehen der Exekutive u n d für einen E i n g r i f f notwendig ist. Das rechtsstaatliche Gesetz muß bestimmte Eigenschaften der Begrenzung, Meßbarkeit, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des gesetzlich ermächtigten Eingriffs aufweisen, um i n einem rechtsstaatlichen Sinne durch zuständige Behörden i n einem rechtlich geordneten Verfahren vollziehbar zu sein. Sonst hat die feierliche Garantie der Gesetzmäßigkeit jedes Eingriffs, die i n Art. 2 Abs. 2 und A r t . 26 ausgesprochen ist, keinen großen praktischen Wert. I n der rechtsstaatlichen Unterscheidung der Gewalten und in der mit ihr bezweckten rechtlichen Ordnung des Verfahrens liegt demnach der Gesichtspunkt, unter dem die Frage der unmittelbaren Vollziehbarkeit rechtlich zu beantworten ist. Rein technisch gesehen ist alles Mögliche vollziehbar, auch sofort vollziehbar, selbst ganz ungenaue und unvollständige Anordnungen, Generalklauseln und unbestimmte Begriffe, ebenso wie andererseits ein ganz willkürlicher Einzelbefehl. Aber die rechtliche Vollziehbarkeit stellt ein ganz anderes Problem
458
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
dar. Für einen Rechts- u n d Verfassungsstaat bleibt es wesentlich, daß eine begrenzte und berechenbare Norm die Vollzugsgewalt ermächtigt und daß ein Mindestmaß von rechtlich geordnetem Verfahren den Vollzug des Eingriffes bestimmt und rechtlicher Nachprüfung zugänglich macht. 4. B e s e i t i g u n g d e r r e c h t s s t a a t l i c h e n Gewaltenteilung in der Ostzone; neue Betonung ihrer Bedeutung im Westen I n der Bindung der Exekutive an ein Gesetz i m rechtsstaatlichen Sinne liegt der Sinn der Unterscheidung von Gesetz als Rechtsnorm und Verwaltungsakt als Vollzug des Gesetzes. Die Unterscheidung ist i n den Verfassungen der Ostzone absichtlich u n d m i t vollem Bewußtsein der praktischen Tragweite für das Vollzugsproblem beseitigt worden. Vgl. E r w i n Jacobi i n „Rechtsprobleme i n Staat u n d Kirche", Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen, 1952, S. 145 ff. (Zur Scheidung von privatem u n d öffentlichem Recht i n der Deutschen Demokratischen Republik): „ H i e r (in der Deutschen Demokratischen Republik) ist die Trennung von Justiz und Verwaltung, überhaupt die Gewaltenteilung des bürgerlichen Rechtsstaates aufgegeben u n d der Grundsatz der einheitlichen, i n der H a n d des werktätigen Volkes liegenden Staatsgewalt proklamiert. . . . Der Rechtsschutz des Bürgers fällt i n erster L i n i e den Volksvertretungen zu, wenn ihnen gegenüber auch kein Rechtsschutzanspruch i m Sinne eines Rechts auf Bescheid gegeben zu sein braucht . . . Auch die Grundunterscheidung des Rechts i n privates und öffentliches Recht w i r d i n Frage gestellt . . . Es bleibt dann auf dem Gebiete der V e r w a l t u n g meistens der Rechtsschutz durch die aktive V e r w a l t u n g u n d auf dem Gesamtgebiet des Rechts die Überwachung durch die Volksvertretungen u n d die Volkskontrolle."
I n den westlichen Demokratien dagegen beherrscht die Unterscheidung von Legislative und Exekutive auch heute noch das ganze Rechts- und Verfassungssystem. So «hat O V G Hamburg i n einer Entscheidung vom 1. November 1950 betont, daß die Ermächtigung zum Erlaß eines Rechtssatzes nicht die Ermächtigung zu einem unmittelbaren Vollzugseingriff enthält, auch wenn Rechtsetzungsorgan und Vollzugsorgan identisch sind, wie i n dem zur Entscheidung stehenden Falle die Hamburgische Landesregierung und der Hamburgische Senat. Nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Gewaltenteilung bedeutet die Ermächtigung zu einer Rechts Verordnung (z. B. zu einer beamtengesetzlichen Regelung) für die ermächtigte Stelle nicht die Ermächtigung zu unmittelbaren Vollzugs Verfügungen (z. B. zur unmittelbaren Entlassung eines Beamten).
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
469
Das U r t e i l ist i m Deutschen Verwaltungsblatt, 66. Jahrg., H e f t 2 vom 15. Januar 1951, S. 48 ff. m i t einer längeren A n m e r k u n g des Senatspräsidenten C. H. Ule veröffentlicht. Einen ähnlichen F a l l (keine Zulässigkeit einer Beamtenentlassung unmittelbar ex lege) behandelt das (nicht veröffentlichte) Gutachten zu § 16 des Bundesgesetzes über die Selbstverw a l t u n g vom 22. Februar 1951 von Prof. D r . Werner Weber, Göttingen (Oktober 1951).
Dieses U r t e i l des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. November 1950 ist für das rechtsstaatliche Problem des Vollzugs überhaupt von grundlegender Bedeutung. Er stellt klar, daß die gesetzliche Regelung ein Mindestmaß von normierter Tatbestandsmäßigkeit enthalten muß; daß diese tatbestandsmäßige Normierung die Voraussetzung für den behördlichen E i n g r i f f ist und daß eine Ermächtigung zur gesetzlichen Regelung nicht als Generalklausel für Einzelakte der ermächtigten Verwaltung betrachtet werden darf. Die Zwischenschaltung einer rechtssatzmäßigen Regelung ist also ein rechtsstaatliches Erfordernis und als solches Erfordernis m i t dem Grundsatz der Unterscheidung von Legislative und Exekutive ohne weiteres gegeben. Gesetz und Verwaltungsakt sind grundsätzlich nicht vertauschbar. I n seiner Anmerkung (Deutsches Verwaltungsblatt a.a.O. S. 52) nennt Senatspräsident Ule dieses Hamburgische U r t e i l vom 1. November 1950 — neben der Entscheidung des Bayer. V G H vom 24. M a i 1950 (Verw.Rechtsspr. Nr. 65, D Ö V . 1950, S. 470 ff.) und dem U r t e i l des Bayer. V G H vom 17. November 1950 (Betriebsberater 1950, S. 869) — einen „Markstein auf dem Wege zur Wiederherstellung des Rechtsstaats". Seine grundlegende Bedeutung, sagt Ule, „liegt darin, daß die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsvorschriften von der ermächtigten Stelle nicht i n die Befugnis umgedeutet werden darf, sich selbst (oder untergeordnete Verwaltungsbehörden) ohne rechtssatzmäßige Bindung zu bestimmten (belastenden) Verwaltungsmaßnahmen zu ermächtigen". „ M i t dem Bekenntnis zum Rechtsstaat, heißt es weiter, m i t der Trennung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt und mit der Bindung der vollziehenden Gewalt an die Gesetze wären Gesetze, die ohne rechtssatzmäßige Bindung lediglich eine Ermächtigung an die vollziehende Gewalt enthalten, bestimmte den Einzelnen belastende Maßnahmen zu treffen, unvereinbar. Eingriffe in Freiheit und Eigentum zu treffen, ist dem Gesetzgeber vorbehalten und kann nicht vom Gesetzgeber dem Ermessen der Verwaltung überlassen werden. Wenn Gesetzgeber und Verwaltung zusammenfallen, kann dieses Zusammenfallen an dem Ergebnis nichts ändern." Teilung der Ge-
460
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
walten und Bindung der Verwaltung an den unverbrüchlichen Rechtssatz gehören zum Wesen des Rechtsstaates. Das ergibt sich sowohl aus A r t . 2 Abs. 2 und A r t . 26 der Verfassung des Landes Hessen, wie auch aus A r t . 20 Abs. 2 (besondere Organe) des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. 5. R e c h t s s t a a t l i c h e Bedeutung der Zwischenschaltung des Gesetzes in den V e r f a s s u n g sVollzug
Dieser entscheidende rechtsstaatliche Gesichtspunkt der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug gilt in noch weit höherem Maße für die Frage des Verfassungsvollzuges, wenigstens für den Vollzug einer Verfassung, zu deren Grundentscheidung auch die Entscheidung für den Rechts- und Verfassungsstaat gehört. F ü r eine solche Verfassung ist davon auszugehen, daß sie normalerweise, d. h. solange sie keine ausdrückliche Diskriminierung ausspricht, ihren Vollzug unter die Grundsätze des Rechtsstaates, d. h. vor allem der Unterscheidung von Legislative und Exekutive und der Bindung der Exekutive an eine gesetzliche Normierung stellt. Insbesondere bedeuten die zahlreichen Verweisungen an eine „nähere gesetzliche Regelung" die Anerkennung der normalen Einschaltung des Gesetzes in den Verfassungsvollzug. Die Ermächtigung des Gesetzgebers zur näheren gesetzlichen Regelung bedeutet infolgedessen keine Ermächtigung zu unmittelbaren Vollzugsmaßnahmen, die ohne die Zwischenschaltung einer reohtssatzmäßig normierten, tatbestandsmäßig begrenzbar und berechenbar formulierten, und in diesem Sinne rechtsstaatlich vollziehbaren Norm erfolgen dürften. Die Zwischenschaltung der gesetzlichen Regelung zwischen die Verfassung und ihren Vollzug durch die staatliche Exekutive ist vielmehr ein wesentliches und typisches M i t t e l des Rechtsstaates, um sein Hauptziel zu erreichen, nämlich die Exekutive gesetzlich zu binden und den Staatsunterworfenen vor der Übermacht des bloßen Verwaltungsstaates rechtlich zu schützen. Würde die Verfassung auf diese Zwischenschaltung des Gesetzes in größerem Umfange u n d i n wichtigen Fällen verzichten, so würde sie der staatlichen Exekutive Ermächtigungen zu unmittelbaren Eingriffen erteilen. Denn es ist i m allgemeinen — von den Fällen offener Diskriminierung abgesehen — nicht anzunehmen, daß eine rechtsstaatliche Verfassung einen rechtsleeren Raum für den unmittelbaren Zugriff, sei es der Behörden, sei es jedes einzelnen Interessenten er-
461
R e d i t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
öffnen w i l l . Unmittelbarer VerfassungsVollzug würde praktisch nur unmittelbare Machtsteigerung der staatlichen Exekutive und A u f lösung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedeuten. Der unmittelbare Verfassungs Vollzug würde nur das befördern, was eine rechtsstaatliche Verfassung gerade verhindern w i l l , nämlich die an sich schon bedrohliche Entwicklung vom Gesetzesstaat zum Verwaltungsstaat. Sie würde eine der fundamentalen Sicherungen des Rechtsstaates, die Unterscheidung von Legislative u n d Exekutive und die i n ihr liegende Ermöglichung eines rechtlich geordneten Verfahrens, zerstören u n d den wehrlosen Einzelnen einem täglich wachsenden Vollzugsapparat ohne den Schutz des Gesetzes ausliefern. 6. D e r
Wille
der
verfassunggebenden
Gewalt
Die Frage, ob das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt im allgemeinen, und das hessische V o l k des Jahres 1946 i m besonderen als der Verfassungsgeber des Jahres 1946 einen rechtlich grenzenlosen, an keine Norm und keine weitere Form gebundenen W i l l e n betätigen und anordnen konnte, was es wollte, braucht hier nicht erörtert werden. Die Entscheidung für den Rechts- und Verfassungsstaat gehört zu den Grundentscheidungen der Verfassung des Landes Hessen. Soweit der W i l l e zum unmittelbaren Verfassungs-Vollzug — sei es durch die Exekutive, sei es durch Jedermann — einen klaren und z weif eis freien Ausdruck gefunden hat, ist er selbstverständlich zu beachten. Dieser W i l l e zum unmittelbaren Verfassungsvollzug dürfte aber eine außerordentliche Ausnahme sein. Selbst für das Widerstandsrecht des A r t . 147, das als Jedermanns „Recht und Pflicht" bezeichnet w i r d , ist i n A r t . 149 H V eine gesetzliche Regelung der strafrechtlichen Folgen ausdrücklich vorbehalten. Jedenfalls ist für eine rechtsstaatliche Verfassung nicht zu vermuten, daß sie einer nicht gesetzmäßig gebundenen Verwaltung den Weg zu Eingriffen in verfassungsmäßig gewährleistete Grundrechte eröffnen w i l l .
I I . Wortlaut und Sinnzusammenhang des Art. 41 H V . 1. D i e i r r e f ü h r e n d e A l t e r n a t i v e Programm und geltendem
von bloßem Recht
A m Anfang des A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen stehen die Worte: „ M i t Inkrafttreten dieser Verfassung". Diese Worte be;-
462
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
sagen, daß den folgenden Bestimmungen dieses Verfassungsartikels unmittelbar m i t dem Inkrafttreten der Verfassung (1. Dezember 1946) rechtliche Geltung zukommen soll. Die frühere Alternative: bloßes Programm oder unmittelbar geltendes Recht? ist hier nicht am Platze. Aber diese Alternative war schon gegenüber der Weimarer Verfassung i n weitem Maße überholt. Es war schon damals allgemein bekannt u n d anerkannt, daß auch sogenannte Programmsätze und allgemeine Zielsetzungen der Verfassung keineswegs leere u n d unverbindliche Redewendungen oder bloße Empfehlungen sind, wie es der aus dem Staatsrecht der Bismarckschen Verfassung überkommene Positivismus behauptet hatte. Es war i n den letzten Jahren der Weimarer Verfassung allgemeine Uberzeugung geworden, daß die Verfassung dem Gesetzgeber auch durch allgemeine Grundsätze, Richtlinien und Zielsetzungen bindende Anweisungen geben kann und daß außerdem allgemeine Sätze i m Laufe der Zeit, wenn auch in verschiedenem Grade, durch die Rechtspraxis positiviert werden können. Die eingehende Erörterung dieser Frage findet sich i m Handbuch des Staatsrechts v o n Anschütz/Thoma, Bd. I I , 1932, S. 597 ff.; dort sind die verschiedenen A r t e n u n d Grade der Positivität, Geltungsvermutungen u n d Vollziehbarkeit von Verfassungsartikeln behandelt. M i t Bezug auf A r t . 41 H V haben sidi zu der Frage geäußert: Werner Weber N J W 1950, S. 404 (Art. 41 hat nur i n besonders apodiktischer F o r m eine Rechtsänderung zur N o r m gemacht, ohne die F o r m selbst auszuführen); W i l h e l m Grewe, Gedrucktes Gutachten zu A r t . 41 vom 21..März 1950, S. 35 (es gibt rechtsverbindliche Programmsätze, ermächtigende, aber auch unverbindliche Programmsätze); C a r l Heyland, Die Sozialisierungsbestimmungen der Verfassung des Landes Hessen als Reditsproblem 1951 S. 36/37.
Die Möglichkeit einer Positivierung durch die Rechtspraxis kann hier außer Betracht bleiben, weil sie für den unmittelbaren Vollzug des A r t . 41 nicht praktisch und jedenfalls bisher nicht zustande gekommen ist. Die Durchführung eines Verfassungssatzes i m Wege der gesetzlichen Regelung, also die Zwischenschaltung eines Gesetzes (wie oben unter I dargelegt) ist der i m Sinne des Rechtsstaates normale Verfassungs Vollzug, der die Teilung der Gewalten und das Erfordernis eines rechtlich geordneten Verfahrens wahrt. Wenn auf diese Weise solche Verfassungssätze, die ihrer Natur nach nur Generalklauseln sind, oder aber auch solche, die große Zielsetzungen und Planungen enthalten, durch eine nähere gesetzliche Regelung positiviert und durchgeführt werden, so bedeutet das nicht, daß der
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
463
durch Gesetz vollzogene Verfassungssatz vorher unverbindlich, bloße Empfehlung und nicht geltendes Recht, gewesen wäre. A u c h solche Verfassungssätze sind geltendes Recht, sogar unmittelbar geltendes Recht, denn sie gelten unmittelbar für den Gesetzgeber, der sofort mit dem Inkrafttreten der Verfassung zu einem sinn- und sachgemäßen Vollzug durch gesetzliche Regelung rechtlich verpflichtet ist. Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen sagt in seiner Entscheidung vom 27. M a i 1949 (Staatsanzeiger 1949, S. 349): „ D i e Hessische Verfassung wollte die Schwierigkeiten der Weimarer Verfassung (Schwierigkeiten der Auslegung, schließlich der Aushöhlung der Verfassungsgrundsätze) bewußt verhindern u n d Programmsätze nach Möglichkeit vermeiden."
Das t r i f f t zu. Es bedeutet aber vor allem eine Mahnung an den m i t der näheren gesetzlichen Regelung beauftragten Gesetzgeber, die i h m von der Verfassung erteilten Befehle zu erfüllen. Der Ausspruch des St G H kann nicht bedeuten, daß die normale Einschaltung des Gesetzgebers i n den Verfassungsvollzug beseitigt und statt dessen die Exekutive allgemein und unmittelbar zum Verfassungsvollzug ermächtigt und erst i n zweiter Linie zum normalen Gesetzesvollzug beauftragt werden soll. Die Mittelbarkeit des Verfassungsvollzuges, die i n der Zwischenschaltung einer gesetzlichen Regelung liegt, entspricht dem Grundsatz der Teilung der Gewalten, sichert den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und verhindert eine Machtsteigerung der Exekutive. Die Zwischenschaltung des Gesetzes hat den Sinn, den E i n g r i f f der Exekutive meßbar, berechenbar und infolgedessen auch gerichtlich nachprüfbar zu machen. Die Mittelbarkeit des Verfassungsvollzuges, die dadurch eintritt, ist nur die unvermeidliche Folge eines rechtlich geordneten Verfahrens. Verglichen m i t der Unmittelbarkeit einer direkten A k t i o n ist jedes geordnete Verfahren mittelbar und eine Hemmung des sofortigen Zugriffs. Offenbar spricht sich i n den Anfangsworten des A r t . 41 ein entschiedener W i l l e zu unmittelbarer Geltung aus. Es handelt sich u m das verfassungsrechtliche Problem der Sozialisierung, dessen Anpassung an die Erfordernisse eines rechtsstaatlichen Vollzugs viele neue und neuartige Fragen auf w i r f t . Eine Uberführung i n Gemeineigentum w a r schon i n A r t . 156 der Weimarer Verfassung vorgesehen; sie w a r aber i n der damals noch wirksamen Alternative von unverbindlichem Programm und unmittelbar geltendem Recht stecken geblieben. Deshalb machte sich nach 1945 der W i l l e zu einer wirklichen
464
R e t s s t a a t i e r Verfassungsollzug (1952)
Überführung i n Gemeineigentum u m so entschiedener geltend. Die Sozialisierungsbestimmungen der neuen Verfassung sollten nicht bloßes Progrmm, sondern unmittelbar geltendes Recht sein. So erklärt sich die Forderung einer „Sofort-Sozialisierung" (vgl. die Äußerung des Abgeordneten A l t w e i n i n der 4. Plenarsitzung, Protokoll DS I I I , S. 119). Dabei wurde aber nicht immer deutlich unterschieden, ob eine Sofort-Sozialisierung durch direkte revolutionäre A k t i o n , oder aber eine zwar sofort einsetzende, jedoch an die Erfordernisse eines rechtlich geordneten Verfahrens gebundene Sozialisierung gemeint war. Daß A r t . 41 unmittelbar geltendes Recht setzt, indem er dem Gesetzgeber einen bindenden, „apodiktischen" (Werner Weber) Befehl gibt, steht außer jeder Frage und jedem Zweifel. Es kommt nur darauf an, wie weit A r t . 41 darüber hinaus m i t unmittelbarer W i r k u n g einen direkten E i n g r i f f i n sonst gewährleistete Grundrechte selber bereits vorgenommen und ohne jedes weitere Verfahren selber bereits vollzogen hat. Es fragt sich, mit anderen Worten: was — von dem bindenden Befehl an den Gesetzgeber abgesehen — m i t dem I n k r a f t treten des Artikels 41 durch unmittelbar konkreten Verfassungsvollzug eigentlich i n K r a f t getreten ist. 2. D i e
Z w i s c h e n s c h a l t u n g eines Sozialisierungsg e s e t z e s i n A r t . 40 H V .
I n einer Reihe von deutschen Landesverfassungen, i n denen sich der W i l l e zur Sozialisierung geltend macht, heißt es, daß die Überführung in Gemeineigentum durch Gesetz erfolgen soll. Rhein-Pfalz A r t . 61 (der Staat hat durch Gesetz . . . i n Gemeineigentum zu überführen); Bremen A r t . 42 (durch Gesetz sind i n Gemeineigentum zu überführen); Baden A r t . 45 (sollen durch Gesetz i n Gemeineigentum überführt werden); Württemberg-Hohenzollern A r t . 98 (können durch Gesetz i n Gemeineigentum überführt werden). Die Verfassung des Freistaates Bayern A r t . 16 sagt: Die Überführung erfolgt auf gesetzlicher Grundlage.
Die Fassung „ d u r c h Gesetz" stand schon i n A r t . 156 der Weimarer Verfassung, wo es hieß: „Das Reich k a n n durch Gesetz . . . w i r t schaftliche Unternehmungen i n Gemeineigentum überführen." Aber gerade dieser so gefaßte Sozialisierungsartikel der Weimarer Verfassung war i n der Antithese von Programm und unmittelbar geltendem Recht stecken geblieben. I n den Anfangsworten des A r t . 41 H V (mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden i n Gemeineigentum überführt) äußert sich also der Wille, die Sozialisierung nicht hinauszu/-
Rechtsstaatlicher Verfassungs Vollzug (1952)
465
schieben, sondern unmittelbar selber schon zu beginnen. Die Verfassung w i l l selbst schon die Uberführung gewisser Betriebe und Unternehmen i n Gemeineigentum anordnen. Insofern k a n n man sagen, daß A r t . 41 selbst ein Sozialisierungsgesetz ist. Allerdings ist er noch nicht das Sozialisierungsgesetz i n dem Sinne, daß die neuen Rechtsträger, Organisationen und Zuständigkeiten, der genaue Umfang und das Maß, vor allem aber auch das neue Verfahren der Sozialisierung bereits erkennbar wären. Trotz der Anfangsworte des A r t . 41 Abs. 1 heißt es i n Abs. 2 desselben Artikels: „Das Nähere bestimmt das Gesetz". Auch der unmittelbar vorangehende, m i t A r t . 41 i n untrennbarem Sachzusammenhang stehende A r t . 40, — das ist die Grundlage für das, was die Verfassung unter Gemeineigentum versteht — verweist auf eine „nähere gesetzliche Bestimmung". A r t . 40 bezeichnet das Gemeineigentum als ein Eigentum des Volkes und schafft damit eine neue, der bisherigen Rechtsordnung noch nicht bekannte A r t von Eigentum, die weder Staats- noch Gemeineigentum, sondern etwas völlig neues Drittes sein soll. I n der Ostzone sind als Rechtsträger von Volkseigentum Anstalten des öffentlichen Rechts geschaffen worden. Solche Rechtsträger sind: Vereinigungen volkseigener Betriebe, Vereinigungen volkseigener Güter, Vereinigungen volkseigener Maschinenausleihstationen, Deutsche Handelszentralen, Handels-Organisationen, Vereinigungen volkseigener Erfassungs- u n d A u f kaufbetriebe usw. Sie sind Rechtsträger, aber nicht Rechtssubjekte des Volkseigentums. Subjekt des Volkseigentums soll das V o l k selbst bleiben, das seinen W i l l e n ohne Teilung der Gewalten durch Volksvertretung u n d aktive V e r w a l t u n g äußert. Vor der Errichtung dieser neuen Anstalten des öffentlichen Rechts w a r das Eigentum des Volkes i n das Grundbuch eingetragen worden, unter Löschung der früheren Eigentümer. E i n Beschwerdebeschluß des L G B e r l i n (Ost) vom 11. August 1949, mitgeteilt N J W 1950, S. 434, lehnt die Eintragung eines vom früheren Eigentümer beantragten Amtswiderspruches nach § 83 G B O ab m i t der Begründung, daß die Eintragung des Volkes als Eigentümer „ n u r deklaratorische Bedeutung" habe.
Aus A r t . 40 ergibt sich die Notwendigkeit, die neuen Rechtsträger, ihre Organisation, ihre Zuständigkeit u n d vor allem i h r geordnetes Verfahren überhaupt erst zu schaffen, ehe man von unmittelbar anwendbarem Recht sprechen kann. Solange A r t . 40 diese Notwendigkeit nicht erfüllt hat, steht seine Anwendbarkeit unter dem echten Vorbehalt eines noch zu erlassenden Gesetzes. Beide Sozialisierungsartikel der Hessischen Verfassung, A r t . 40 wie A r t . 41, enthalten demnach eine Verweisung an eine nähere gesetz30 Carl Schmitt
466
R e t s s t a a t l i d i e r Verfassungsollzug (1952)
liehe Regelung, d. h. die Zwischenschaltung weiterer, noch zu erlassender Sozialisierungsgesetze. Beide enthalten dadurch eine wesentliche Einschränkung ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit. I m Falle des A r t . 40 versteht sich das von selbst. Eine Überführung an völlig neue, der bisherigen Rechtsordnung unbekannte, von der Verfassung nur i n allgemeinen Richtlinien und Zielsetzungen bezeichnete Rechtsträger, ist mangels einer rechtlichen Form und eines geordneten Verfahrens unmittelbar einfach nicht möglich, ja, praktisch nicht einmal recht vorstellbar. Die i n A r t . 40 vorgesehene gesetzliche Bestimmung ist also offensichtlich mehr als ein bloßes Ausführungsgesetz, das nur noch technische Einzelheiten eines i m übrigen berechenbaren Vollzuges zu regeln hätte. Es ist ein Durehführungsgesetz i n dem Sinne des Wortes, daß es die Durchführung selber erst bewirkt und zu Ende führt. Es w i r d dem Gedanken der neuen Rechtsträger und damit dem Gemeineigentum selbst überhaupt erst Rechtsform und Gestalt, und somit auch dem A r t . 40 erst Vollziehbarkeit geben. Erst wenn diese nähere gesetzliche Regelung erfolgt ist, werden Staatsbürger und staatliche Behörden wissen, um welche Rechtsträger, Rechtsformen, Zuständigkeiten, Verfahren und Eingriffsmöglichkeiten es sich w i r k l i c h handelt u n d werden sie ihr Verhalten danach einrichten können. Hier, für A r t . 40, k a n n keine Rede davon sein, daß die reohtsstaatliche Zwischenschaltung eines Gesetzes i n den Verfassungsvollzug von der Verfassung verneint werden sollte. Trotzdem ist natürlich auch A r t . 40 mehr als ein unverbindliches Programm oder bloße Empfehlung. Die Richtlinien und Zielsetzungen dieses Artikels sind unmittelbar geltendes Recht für den zum Erlaß des Gesetzes verpflichteten Gesetzgeber. Dieser ist verpflichtet, das i n A r t . 40 gedachte Gemeineigentum zu schaffen. Er darf nicht etwa stattdessen z. B. staatliches oder kommunales Eigentum setzen. D u r c h die Ermächtigung zu einer gesetzlichen Regelung w i r d er auch nicht zu unmittelbaren Einzeleingriffen ermächtigt. F ü r die Exekutive, d . h . für die an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit gebundenen Stellen i n Rechtspflege u n d Verwaltung ist A r t . 40 mangels Erkennbarkeit und tatbestandsmäßiger Bestimmbarkeit nicht unmittelbar vollziehbar. Es hat wenig Sinn, darüber zu streiten, was hier nun die eigentliche Regelung ist, die Verfassungsbestimmung des A r t . 40, oder die nähere gesetzliche Regelung, die an die Zielsetzungen u n d Richtlinien des Art. 40 gebunden bleibt. Jedenfalls ermöglicht erst diese nähere ge-
Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug (1952)
467
setzliche Regelung Reohtsbeziehungen der neuen Rechtsträger zu den Staatsbürgern und zu anderen Stellen, Zusammenarbeit und Amtshilfe, Durchführung einer konkreten Sozialisierung, Eintragung i n Register und Grundbuch u n d die Teilnahme am Rechtsverkehr überhaupt. Insofern ist erst die nähere gesetzliche Bestimmung die eigentliche Sozialisierung. Aber es wäre, wie gesagt, ein Streit u m Worte, zu fragen, was hier „eigentlich" bedeutet. Solange die rechtsund verfassungsstaatliche Ordnung auf der Unterscheidung von Legislative und Exekutive beruht, ist die rechtliche Verschiedenheit hinsichtlich der Frage des unmittelbaren Vollzuges klar. E i n geordneter Behördenaiufbau und die Erfordernisse eines geordneten Verfahrens machen diesen Unterschied zwischen einer Bindung des Gesetzgebers und einer unmittelbaren Verfassungs Weisung an vollziehende Behörden ohne weiteres rechtsstaatlich notwendig. Die i n A r t . 40 vorgesehene nähere gesetzliche Bestimmung enthält demnach den echten Vorbehalt einer gesetzlichen Zwischenschaltung in den Verfassungsvollzug. Dieser Vorbehalt schließt die unmittelbare Vollziehbarkeit aus. 3. D i e
Verweisung
an
das
Gesetz
in
A r t . 41 A b s . 2
Es fragt sich jetzt, was die i n A r t . 41 Abs. 2 vorgesehene „nähere Bestimmung durch das Gesetz" bedeutet und wie sie sich zu dem echten Vorbehalt des A r t . 40 verhält. I n sprachlicher Hinsicht fällt auf, daß A r t 41 Abs. 2 sagt: „das Nähere bestimmt das Gesetz". Natürlich erhebt sich sofort die Frage: Welches Gesetz? Es ist von einem ganz bestimmten Gesetz die Rede und die Ausdrucksweise der Verfassung ist gerade i n dieser Hinsicht außerordentlich wichtig. Man findet i n den Verfassungen viele überkommene Wendungen für den Vorbehalt eines Gesetzes oder für die Verweisungen an die gesetzlichen Bestimmungen: durch Gesetz, auf G r u n d eines Gesetzes, nach Maßgabe der Gesetze usw. Es wäre übertrieben, kleinen sprachlichen Abweichungen i n jedem Falle eine große Bedeutung zuzuschreiben. Es ist aber unbestreitbar, daß es sich andererseits hierbei nicht immer nur u m sprachliche, sondern oft auch um grundlegende Abweichungen u n d u m wichtige Anhaltspunkte für den Sinn einer Verfassungsbestimmung handeln kann. Das zeigt schon der Gegensatz der Formel auf Grund eines Gesetzes gegenüber der Formel durch Gesetz. Hinter diesen beiden scheinbar sehr ähnlichen Formeln, deren Verschiedenheit lange unbeachtet ge3
468
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
blieben ist, stellt der Gegensatz von zwei völlig verschiedenen Vollzugsformen und -verfahren. Erst seit 1928 ist m i t dem Bewußtsein eines rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffes auch das Bewußtsein der Verschiedenheit der beiden Formeln durchgedrungen. D i e Formel auf Grund eines Gesetzes hat die typische Trennung von rechtsstaatlichem Gesetz und gesetzgebundenem Vollzug i m Auge. Durch Gesetz dagegen zielt auf einen unmittelbar vom Gesetzgeber vorgenommenen Einzelakt, zu dem er durch die Verfassung ermächtigt worden ist. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. M a i 1949 hat i n seinem A r t . 14 Abs. 3 die wesentliche Verschiedenheit zum Ausdruck gebracht. Es stellt die beiden Vollzugsformen nebeneinander und sagt: „Eine Enteignung darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen". W i r werden auf die Verschiedenheit der beiden Formeln noch zurückkommen. Jedenfalls ist es keine übertriebene Genauigkeit, wenn w i r an einer so entscheidenden Stelle auf die Worte der Verfassung genau achten. Entstehungsgeschichte, Materialien u n d ähnliche H i l f s m i t t e l haben bekanntlich gegenüber dem erkennbaren Wortlaut und Sinnzusammenhang einer durch Volksentscheid zustandegekommenen Verfassung geringere Bedeutung, als bei andern, i n normaler parlamentarischer Beratung zustandegekommenen gesetzlichen Bestimmungen. Der Hinweis auf das Gesetz (statt auf ein Gesetz oder die Gesetze oder dergleichen) findet sich gelegentlich auch i n anderen Verfassungen, z. B. A r t . 39 der Verfassung des Landes Baden: Nach Maßgabe des Gesetzes. Aber man darf sagen, daß die Verfassung des Landes Hessen sich durch eine besondere Häufigkeit gerade der Verweisung an das Gesetz auszeichnet. A n zahlreichen Stellen der Hessischen Verfassung finden sich natürlich auch die übrigen üblichen Hinweise auf ein Gesetz oder die Gesetze oder eine nähere gesetzliche Regelung. Aber an nicht weniger als 22 Stellen gebraucht die Verfassung des Landes Hessen die Wendung: „Das Nähere bestimmt das Gesetz" oder einen gleichbedeutenden Hinweis. Es handelt sich dabei u m folgende A r t i k e l : A r t . 23 (Einweisung eines K r a n k e n i n eine Anstalt); A r t . 25 (Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher T ä t i g k e i t u n d zu persönlichen Dienstleistungen); A r t . 34 (Recht auf U r l a u b ) ; A r t . 35 Abs. 3 (Ordnung des Gesundheitswesens); A r t . 37 (Betriebsvertretungen); A r t . 39 (Verbot monopolistischer Machtballungen — hier zweimaliger H i n w e i s auf das Gesetz, zweimal „auf G r u n d " gesetzlicher Bestimmungen); A r t . 4 1 (Überführung von B e r g w e r k e n
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
469
usw. i n Gemeineigentum); A r t . 42 (Entschädigung des seitherigen Inhabers, Verweisung auf A r t . 39 Abs. 4); A r t . 45 Abs. 4 (Anteil des Staates am Nachlaß); A r t . 49 (Kirchen innerhalb der Schranken des Gesetzes); A r t . 56 (Schulwesen, Mitbestimmungsrecht der Erziehungsberechtigten); A r t . 59 Abs. 1 Satz 3 (Erziehungsbeihilfe für sozial Schwächere); A r t . 75 (das W a h l gesetz); A r t . 76 (Sicherung der Möglichkeit, ein Mandat auszuüben); A r t . 98 (Reisekosten u n d Aufwandsentschädigung für Abgeordnete); A r t . 107 (Verordnungsrecht zur Ausführung eines Gesetzes); A r t . 115 (Ministeranklage durch den Landtag vor dem Staatsgerichtshof); A r t . 124 (Verfahren bei Volksbegehren u n d Volksentscheid); A r t . 130 (Bildung u n d Verfahren des Staatsgerichtshofs); A r t . 131 (Anrufung des Staatsgerichtshofs durch jedermann) ; A r t . 136 (Körperschaftshaftung für Amtspflichtverletzungen); A r t . 149 (Strafrechtliche Verfolgung bei Teilnahme an Revolutionen); A r t . 151 (Gesamtdeutsche Rechtseinheit, Antastung bei zwingendem Grund, über den das Gesetz entscheidet).
Gibt man sich die Mühe, auf die Besonderheit dieser 22 Verweisungen an das Gesetz zu achten, so zeigt sich, daß — abgesehen von Fällen wie A r t . 107 oder dem oben bereits erwähnten A r t . 149 — durchweg ein echtes Durchführungsgesetz gemeint ist, das positive Leistungen des Staates regelt oder eine organisatorische oder Verfahrensvollzugsregelung enthält. Es handelt sich u m Gesetze, die nicht nur zu Eingriffen i n den sogenannten negativen Freiheitsstatus ermächtigen, sondern neue positive Ansprüche an den Staat oder sogar neue Einrichtungen und Verfahren zur Durchführung neuer Zielsetzungen und großer Planungen schaffen sollen u n d dadurch den ordnungsgemäßen Vollzug der Verfassungsbestimmung überhaupt erst ermöglichen. Die von der Verfassung vorgesehenen Ansprüche, Leistungen oder Einrichtungen sollen unter Wahrung einer geordneten Zuständigkeit und eines geordneten Verfahrens i m Wege des Gesetzes durchgeführt werden. Neue Einrichtungen sollen durch ein Gesetz geschaffen werden, u m die Verfassung ordnungsmäßig vollziehbar zu machen. Das ist die für einen rechtsstaatlichen Verfassungs Vollzug typische Zwischenschaltung des Gesetzes. Der rechtsstaatliche Charakter einer sozialstaatlichen Verfassung zeigt sich darin, daß sie ihren Vollzug weder einer revolutionären Gewaltmaßnahme überläßt, noch auch unmittelbar, d. h. ohne nähere gesetzliche Regelung die bestehende staatliche Exekutive — die dadurch geradezu allmächtig würde — zum unmittelbaren Vollzug ermächtigt, sondern darin, daß sie den normalen gesetzesstaatlichen Vollzug einer Regelung durch ein Gesetz i m rechtsstaatlichen Sinne des Wortes w i l l . Das ist i n A r t . 2 Abs. 2 der Verfassung des Landes Hessen feierlich gewährleistet. Das Gesetz steht als ein selbständiger
470
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
Faktor rechtsstaatlicher Ordnung des Verfassungs Vollzugs zwischen der Verfassung und der Exekutive. Der Vollzug eines einfachen, normalen Gesetzes durch die zuständigen Vollzugsbehörden ist kein besonderes Problem. Dagegen w i r d das völlig neue Problem des Verfassungsvollzugs rechtsstaatlich normalerweise durch die Zwischenschaltung des Gesetzes gelöst. Das „Nähere", das der gesetzlichen Regelung vorbehalten w i r d , ist eben jene Berechenbarkeit, Tatbestandsmäßigkeit und Voraussehbarkeit der Eingriffe der Exekutive, die an das Gesetz, und nicht an allgemeine Zielsetzungen und Generalklauseln gebunden sein soll. Jede andere Lösung der Frage des Verfassungsvollzugs würde zur Auflösung des Gesetzesstaates und zum Verwaltungsstaat, d. h. zur Allmacht der Exekutive, nämlich der Ministerien und der Vollzugsbehörden führen. Das „Nähere" der vorbehaltenen gesetzlichen Regelung bewirkt jene Berechenbarkeit, Tatbestandsmäßigkeit und Voraussehbarkeit, ohne die es keine Bindung der Exekutive an das Gesetz gibt. Abgesehen von A r t . 41 selbst sind es hauptsächlich zwei von jenen 22 A r t i k e l n der Hessischen Verfassung, die für das neue Verfassungsvollzugsproblem und die Zwischenschaltung des Gesetzes besonders aufschlußreich sind: A r t . 39 und A r t . 59. 4. A r t . 39 u n d A r t . 59 H V . a l s G e g e n b e i s p i e l e des V o l l z u g s p r o b l e m s 1. I n Art. 39 (Mißbrauch wirtschaftlicher Freiheit) ist ebenfalls von der Überführung i n Gemeineigentum die Rede. Hier w i r d nicht weniger als viermal die gesetzliche Regelung i n den Verfassungsvollzug eingeschaltet, davon zweimal unter Verweisung auf gesetzliche Bestimmungen und zweimal, nämlich für die Entscheidung über die Voraussetzungen und über die Entschädigung, auf das Gesetz. Hier können nicht eher unmittelbare Eingriffe stattfinden, als bis die rechtmäßige Voraussetzung durch die vorbehaltenen Gesetze herbeigeführt ist. Das ist aus folgenden Gründen für die Auslegung des A r t . 41 von ausschlaggebender Bedeutung. Die Überführung i n Gemeineigentum nach A r t . 39 setzt ein Unrverturteil der Verfassung voraus. Diejenigen, die den Mißbrauch treiben, werden als Schädlinge betrachtet und sollen beseitigt werden. Die Träger bestimmter Machtballungen erscheinen als Hindernisse, wenn nicht sogar Feinde einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung. I n A r t . 41 dagegen ist, wie oben
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
471
schon gesagt, kein Unwerturteil ausgesprochen. Weder sollen die bisherigen Eigentümer der i n A r t . 41 genannten Betriebe und Unternehmungen als Volks- oder Klassenfeinde, noch sollen sie sonstwie als Schädlinge odeT Ausbeuter diskriminiert werden, noch w i r d i h r Eigentum als solches unter einen feindlichen Gesichtspunkt gestellt. I n aller Sachlichkeit w i l l die Verfassung des Landes Hessen die Überführung der i n A r t . 41 genannten Betriebe und Unternehmen i n Gemeineigentum vor sich gehen lassen. Wenn nun schon bei den diskriminierten, offensichtlich m i t einem U n Werturteil versehenen Machtballungen der unmittelbare Vollzug vcn der Zwischenschaltung eines Gesetzes abhängt, so muß i m Falle des A r t . 41, angesichts der Nichtdiskriminierung der bisherigen Eigentümer u n d ihres Eigentums, erst recht ein gesetzlich geordneter Vollzug gesichert sein, wenn dem rechtsstaatlichen Erfordernis, d. h. einem Mindestmaß rechtlich geordneten Verfahrens Genüge geschehen soll. I m andern Falle würden die bisherigen Eigentümer u n d i h r Eigentum außerhalb des Rechts und der Verfassung gestellt werden; sie würden unmittelbar, d. h. ohne den i n A r t . 2 Abs. 2 enthaltenen Schutz durch ein rechtsstaatliches Gesetz, Eingriffen der Exekutive freigegeben werden. 2. E i n anderes aufschlußreiches Beispiel für eine Verweisung an das Gesetz enthält Art. 59 H V . Es handelt sich zunächst um die Schulgeld- u n d Lernmittelfreiheit, also u m eine einfache Beseitigung bisheriger staatlicher u n d öffentlich-rechtlicher Ansprüche an den Einzelnen. Diese können, der Natur der Sache nach, durch einen Federstrich des Verfassungsgesetzgebers beseitigt werden. I n der oben bereits genannten Entscheidung des Staatsgerichtshofes für das Land Hessen vom 27. M a i 1949 (Staatsanzeiger 1949, S. 348/349) w i r d A r t . 59 Abs. 1 Satz 1 als unmittelbar geltendes Recht bezeichnet. „ D e r W o r t l a u t des A r t . 59 Abs. 1 Satz 1 u n d die darin gewählte F o r m sprechen dafür, daß es sich u m mehr als eine bloße Empfehlung an den Gesetzgeber handelt. D a auch hinsichtlich dieser Bestimmung keine Verweisung auf ein späteres Gesetz ausgesprochen ist, liegt i n i h r p r i m a facie nicht ein Programm, sondern u n m i t t e l b a r geltendes Recht."
Diese Begründung des Staatsgerichtshofes läßt die Bedeutung des Vorbehaltes näherer gesetzlicher Regelung, d. h. der Zwischenschaltung des Gesetzes, erkennen. Aber auch darüber hinaus macht sie A r t . 59 zu einem Gegenbeispiel für A r t . 41. Sie beruht nämlich auf einer Unterscheidung, die auch für eine richtige Auslegung des A r t . 41 wesentlich ist.
472
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
Der Staatsgerichtshof stellt fest, daß es sich bei der Schulgeldfreiheit u m mehr als eine bloße Empfehlung an den Gesetzgeber, nämlich um ein gerichtlich erkennbares und vollziehbares, also unmittelbar geltendes Recht handelt. Das ist angesichts der Einführung einer Befreiung von Lasten einleuchtend. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hatte i n einer Entscheidung vom 7. Januar 1949 (Staatsanzeiger 1949, Nr. 26, S. 251) der Bestimmung über die Schulgeldfreiheit die gerichtliche Erkennbarkeit und Vollziehbarkeit abgesprochen. Der Widerspruch der beiden gerichtlichen Erkenntnisse zeigt, wie schwierig es ist, ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Zusammenhänge mit abstrakten Erwägungen über Erkennbarkeit und Vollziehbarkeit zu arbeiten. Vielmehr muß der verfassungssystematische Zusammenhang beachtet werden, der den grundlegenden Unterschied zwischen einem befreienden A k t und einem E i n g r i f f sichtbar macht. Es handelt sich u m den Unterschied des Vollzuges auf der einen Seite einer von der Verfassung angeordneten Befreiung, i m Sinne einer Beseitigung öffentlich-rechtlicher Ansprüche und Belastungen, und auf der anderen Seite der Durchführung und Vollziehung entweder neuer Ansprüche auf positive Leistungen des Staates oder gar Schaffung völlig neuer Einrichtungen, Zuständigkeiten und Verfahren. Bei der Einführung von Ansprüchen auf positive Leistungen des Staates oder von neuen Einrichtungen ist die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Zwischenschaltung eines eigenen Durchführungsgesetzes — des Gesetzes — ohne Weiteres einleuchtend. I n demselben A r t . 59 Abs. 1 Satz 3 werden aber auch positive Leistungen des Staates, nämlich Erziehungsbeihilfen für sozial Schwächere, angeordnet. Hier ergibt sich, i m Gegensatz zu der Befreiung vom Unterrichtsgeld, sofort ein anderes Vollzugsproblem. Hier dürfte erst die gesetzliche Regelung die Vollziehbarkeit bewirken, wobei nicht einmal anzunehmen ist, daß für die Zwischenzeit zwischen dem Inkrafttreten der Verfassung u n d dem I n k r a f t treten des Vollzugsgesetzes ein Anspruch auf Erziehungsbeihilfe mit rückwirkender K r a f t bestanden hätte. 5. D e r s c h e i n b a r e W i d e r s p r u c h z w i s c h e n d e r A n o r d n u n g s o f o r t i g e n I n k r a f t t r e t e n s u n d der n i c h t s o f o r t i g e n D u r c h f ü h r u n g der S o z i a l i s i e r u n g i n A r t. 41 H V Sowohl A r t . 40 wie A r t . 41 verweisen auf „nähere" gesetzliche Regelungen zur Durchführung der Sozialisierung. Das noch zu regelnde
Reditsstaatlidier Verfassungs Vollzug (1952)
473
„Nähere" in A r t . 41 braucht nicht einfach dasselbe zu sein. Beides kann aber auch nicht völlig getrennt oder gar i n Gegensatz oder Widerspruch gebraucht werden. Die beiden näheren Regelungen hängen auf jeden F a l l zusammen, und es wäre offensichtlich verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber des A r t . 41 ganz andere Rechtsträger schaffen wollte als sie i n A r t . 40 vorgesehen und i n dem dort vorbehaltenen Gesetz vorgeschrieben sind. Das Gesetz, auf das A r t . 41 Abs. 2 verweist, ist demnach das eigentliche Sozialisierungsgesetz i m Sinne der Durchführung und Zuendeführung der i n A r t . 41 angeordneten Überführung. Abs. 3 des A r t . 41 spricht von dem Eigentümer eines danach i n Gemeineigentum überführten (bzw. zu überführenden) Betriebes. Dieses „danach" nimmt Bezug sowohl auf das i m unmittelbar vorangehenden Abs. 2 vorgesehene Gesetz wie auch auf die i n Abs. 1 angeordnete unmittelbare Überführung i n Gemeineigentum. Außerdem aber bezieht sich dieses „danach" von A r t . 41 Abs. 3 auf den ganzen Zusammenhang der vorangehenden Bestimmungen über die Überführung i n Gemeineigentum, also auch auf A r t . 40. D a r i n liegt eine Bezugnahme auf den echten Vorbehalt des A r t . 40, d. h. auf den neuen Rechtsträger und die noch zu regelnde Einrichtung, auf Zuständigkeiten u n d Verfahren. Das ist u m so klarer, $ls i n A r t . 41 Abs. 3 gesagt ist, die Eigentümer sollen den Betrieb als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von „Ausführungsgesetzen" weiterführen. Diese Ausführungsgesetze (das Wort i n der Mehrzahl) k ö n n e n ' n u r Ausführungsgesetze zu dem Gesetz (das Wort i n der Einzahl) sein, das sowohl i n A r t . 41 Abs. 2 wie i n A r t . 40 von der Verfassung vorbehalten ist. Das „Nähere", das sowohl nach A r t . 40 wie nach A r t . 41 einem folgenden Sozialisierungsgesetz zur Regelung vorbehalten ist, betrifft Schaffung, Einrichtung, Zuständigkeiten und Verfahren der neuen Rechtsträger des Gemeineigentums, das Verfahren für die Abgrenzung der zu sozialisierenden von den nicht zu sozialisierenden Betrieben und Betriebsteilen, Eigentumsübergang, Rechte D r i t t e r und Entschädigung der bisherigen Eigentümer und Berechtigten. Das ist — einzeln und i n seiner Summe — alles, was wesentlich ist, um einen so neuen Vorgang wie eine Sozialisierung durchführbar, gerichtlidi erkennbar und vollziehbar zu machen. Die Zwischenschaltung eines eigenen Sozialisierungsgesetzes ermöglicht erst das rechtsstaatlich geordnete Verfahren, ohne das ein derartig tiefer Eingriff i n das Eigentum eine bloße Maßnahme, aber kein Rechtsakt wäre.
474
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
Die Überführung i n Gemeineigentum ist durch A r t . 40 und 41 der Hessischen Verfassung weder ganz noch teilweise, weder allgemein noch für bestimmte Betriebe abgeschlossen. Sie ist weder für alle sozialisierbaren Betriebe i m allgemeinen noch für die i n A r t . 41 allgemein angedeuteten Betriebe zu Ende geführt. Wenn nun A r t . 41, trotz dieses offensichtlichen Vorbehaltes der endgültigen Durchführung und Vollziehung, eindeutig bestimmt, daß der Bergbau u n d die anderen dort genannten Betriebe und Unternehmen mit dem I n k r a f t treten der Verfassung i n Gemeineigentum überführt werden, so fragt es sich, wie sich dieses sofortige Inkrafttreten zu jener offensichtlichen Nichtzuendeführung verhält. Es w i r d sich zeigen, daß hier kein Widerspruch, sondern w i r k l i d i ein Rechtsakt sofortigen Beginnens vorliegt. Jedenfalls wäre es ein Trugschluß, daraus, daß i n A r t . 41 bereits ein Bereich sozialisierbarer Betriebe und Unternehmen allgemein herausgehoben ist, ohne weiteres zu folgern, daß wenigstens für diese bezeichneten Betriebe und Unternehmen das Verfahren der Sozialisierung i m Wesentlichen bereits durchgeführt und vollzogen wäre. Das ist offenbar nicht der Fall. Auch für die genannten Betriebe und Unternehmen ist die Sozialisierung i n keiner Weise bereits zu Ende geführt oder, mangels der noch erst zu schaffenden neuen Rechtsträger, sofort zu Ende führbar. W i e ist nun der scheinbare Widerspruch zwischen jener allgemeinen Nichtdurchführung und dieser ausdrücklichen Anordnung sofortigen Inkrafttretens zu klären? Die Auflösung und Klärung des scheinbaren Widerspruchs ist notwendig, wenn A r t . 41 eine überzeugende Auslegung finden soll. Es ist aber keine Auflösung oder Klärung, dem Hessischen Verfassungsgesetzgeber zu unterstellen, er habe, ohne jedes weitere Verfahren, mit einem Federstrich zunächst einmal das Eigentum an den bezeichneten Betrieben entziehen und alles Weitere der Zukunft überlassen wollen. Der rechtsstaatliche Grundsatz, daß derartig tiefe Eingriffe i n das sonst von derselben Verfassung gewährleistete Eigentum entweder auf G r u n d eines Gesetzes oder durch Gesetz, aber keinesfalls formlos, d. h. ohne jedes rechtsstaatlich geordnete Verfahren, vorgenommen werden können, sollte durch A r t . 41 nicht aufgehoben oder auch nur durchbrochen werden. Die Ausdrucksweise „werden i n Gemeineigentum überführt" bedeutet i n keinem Rechts- und Verfassungsstaat sofortige Wegnahme eines Rechts unter Beseitigung jedes geordneten Verfahrens. Selbst gegenüber dem Verbrecher hält der Rechtsstaat an einem verfahrensmäßig geordneten Vollzug der Verhängung und Vollstreckung der Strafe fest. Auch das Strafgesetzbuch
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
475
sagt: „ W e r eine fremde bewegliche Sache usw. wegnimmt, wird m i t Gefängnis bestraft". Auch hier ist i n apodiktischer Gegenwartsform die Strafe ausgesprochen. Aber auch hier w i r d niemand daran denken, das rechtsstaatlich geordnete Verfahren durch eine solche Fassung für beseitigt zu erklären und anzunehmen, es könne nun ohne weiteres jeder Polizeibeamte oder jeder Verletzte einen Dieb seiner Freiheit berauben oder eine Geldstrafe einkassieren. D i e Ausdrucksweise der Gegenwartsform „ w i r d bestraft", „ w i r d überführt", oder dergleichen bedeutet i n keinem Rechtsstaat der W e l t die Beseitigung oder Verneinung eines geordneten Verfahrens. Der scheinbare Widerspruch zwischen allgemeiner Nichtdurchführung und teilweiser Sofortdurchführung der Sozialisierung des A r t . 41 läßt sich also nicht dadurch lösen, daß eine sofortige Enteignung des Eigentums ohne jedes weitere Verfahren als W i l l e der Verfassung unterstellt wird. E i n Federstrich der Verfassung genügt nicht, u m das von der Verfassung selbst anerkannte Eigentum ohne Gesetz, d. h. gegen A r t . 2 Abs. 2 H V zu entziehen. Das wäre eine revolutionäre Gewaltmaßnahme, die eine Reihe von Eigentümern einfach außerhalb des Rechts und der Verfassung stellen würde. Es wäre ein Verstoß nicht nur gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz, daß Eingriffe nur auf G r u n d eines gesetzlich geordneten Verfahrens oder nur durch Gesetz vorgenommen werden dürfen. E i n solcher Verstoß gegen die feierlich verkündeten Grundlagen der Verfassung ist i m Falle des A r t . 41 u m so weniger anzunehmen, als — wie schon betont — die Eigentümer der dort genannten Betriebe i n keiner Weise als Klassenfeinde, Ausbeuter, Schädlinge oder dergleichen gekennzeichnet oder a u d i nur unterstellt sind. Hier sei nochmals wiederholt, daß nach der Verfassung des Landes Hessen die Sozialisierung des A r t . 41 in aller Sachlichkeit und Gerechtigkeit vor sich gehen soll. Die Zwischenschaltung des Gesetzes bei der Durchführung der Verfassung zeigt sich gerade an diesem Punkt als der letzte H a l t der Rechtsstaatlichkeit überhaupt, m i t dem der rechtsstaatliche Charakter der Verfassung selbst steht und fällt. I n A r t . 41 steht kein Wort von sofortiger Entziehung des Eigentums. Es ist dort nur gesagt, daß die bisherigen Eigentümer ihr Eigentum als „Treuhänder" weiter verwalten sollen. Das ist, wie gesagt, eher eine Vertrauenserklärung für diese Eigentümer als eine Diskriminierung. Niemand würde von dem diskriminierten Inhaber einer Sache, der sein Recht an der Sache v e r w i r k t hat, sagen, er habe die
476
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
Pflicht zu „treuhänderischer" Verwaltung der Sache, die i h m ohne Verfahren weggenommen wurde. Es ist ganz unmöglich, einen Ausbeuter oder irgendeinen sonstwie diskriminierten Inhaber einer Sache als ihren Treuhänder zu konstruieren. Wenn aber die bisherigen Eigentümer nicht von Verfassungs wegen diskriminiert sein sollen, dann sind sie eben i n vollem Maße Staatsbürger zu gleichem Recht und ein E i n g r i f f i n ihre Grundrechte kann nicht als unmittelbare Sofort-Maßnahme, sondern nur i n einem rechtlich geordneten Verfahren unter Respektierung des „due process of l a w " erfolgen. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Anordnung sofortigen Inkrafttretens und der nicht-sofortigen Durchführung der Sozialisierung i n A r t . 41 löst sich deshalb nicht durch die Unterstellung einer sofortigen Entrechtung einzelner Staatsbürger, sondern nur durch die Anerkennung der Sozialisierung als eines rechtlich geordneten Verfahrens. Das w i r d i n dem richtig erkannten Verhältnis von Enteignung und Sozialisierung noch deutlicher sichtbar werden. I I I . Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Sozialisierung und Enteignung 1. D i e S o z i a l i s i e r u n g a l s i n s t i t u t des h e u t i g e n
selbständiges RechtsVerfassungsrechts
Die Hessische Verfassung steht in der Reihe der neuen Verfassungen, welche die Sozialisierung als ein neues Rechtsinstitut einführen. Das neue Rechtsinstitut k n ü p f t vielfach noch an das überkommene Rechtsinstitut der Enteignung an. Doch dürfte sich die Erkenntnis Bahn gebrochen haben, daß Enteignung u n d Sozialisierung zwei verschiedene Rechtsinstitute darstellen, auch wenn sie häufig mit- und ineinander auftreten u n d die Enteignung als Rechtsinstitut ein M i t t e l der Sozialisierung wie auch anderer Planungen und Zielsetzungen bleibt, solange diese ihre eigene rechtliche Ordnung noch nicht vollständig ausgeprägt haben. Der Abgeordnete D r . K a r l Schmid hob i m Grundsatzausschuß des parlamentarischen Rates hervor, daß die Sozialisierung kein Sonderfall der Individual-Enteignung ist. Vgl. ferner Werner Weber „ Z u r Problematik von Enteignung u n d Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht" ( N J W 1950, S. 402); C a r l H e y l a n d „ D i e Sozialisierungsbestimmungen der Verfassung des Landes Hessen als Rechtsproblem" (1951, S. 15 ff.); Hans Peter Ipsen, „Enteignung u n d Sozialisierung" Referat auf der Göttinger Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer i n Göttingen, O k t o b e r 1951. Daß ein hervorragender Jurist u n d Rechtslehrer wie Friedrich Giese (Enteignung
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
477
u n d Sozialisierung 1950) daran festhält, die Sozialisierung als bloßen Unterfall der Enteignung zu behandeln, erklärt sich w o h l daraus, daß die Enteignung für den Juristen ein anerkanntes, rechtlich geordnetes Verfahren ist, während für die Sozialisierung die bereits vorhandenen Ansätze eines rechtlich geordneten Verfahrens vielfach verkannt werden, so daß hier die Gefahr formloser Eingriffe besteht, eine Gefahr, der das anerkannte Rechtsinstitut der Enteignung u n d des geordneten Enteignungsverfahrens i n weitem Maße vorbeugt.
Die Enteignung ist als Rechtsinstitut wesentlich vor allem ein rechtlich geordnetes Verfahren. Wenn die Sozialisierung ein Rechtsinstitut sein soll, muß sie ebenfalls ein rechtlich geordnetes Verfahren sein. Aus der bisherigen Entwicklung, i n der auch A r t . 41 der Hessischen Verfassung steht, lassen sich i n dieser Hinsicht bereits anerkannte Rechtsgrundsätze entnehmen. Die Überführung i n Gemeineigentum ist infolgedessen keine formlose Wegnahme oder Entziehung des Eigentums. Auch wenn es i m Rahmen eines SozialisierungsVerfahrens zur Wegnahme von Eigentum kommt, muß ein Mindestmaß des „due process of l a w " gewahrt, d. h. ein Mindestmaß von rechtlicher Form und rechtlichem Verfahren beachtet werden. Nach keiner rechtsstaatlichen Verfassung ist die Sozialisierungsabsicht oder der Sozialisierungswille für sich allein schon ein Rechtstitel für formlose Eingriffe i n anerkannte Rechte. Die enge Verbindung von Sozialisierung und Enteignung erklärt sich geschichtlich aus der Entwicklung seit 1789 u n d 1848. Es treten hier nicht weniger als vier verschiedene Bedeutungen des Wortes „Enteignung" zutage. Erstens ist das W o r t „Enteignung" eine politische und revolutionäre Kampf parole geblieben, die sich jeder rechtlichen Bindung u n d jedem Verfahren entzieht. Zweitens hat sich die Enteignung als ein Rechtsinstitut ausgeprägt, i n dem das Prinzip des „due process of l a w " , das rechtlich geordnete Verfahren, i n einer ganz besonders nachdrücklichen Weise zum Schutze des Eigentums ausgeformt worden ist. Drittens hat sich dieser ausgeformte Rechtsbegriff der Enteignung schon während der Weimarer Verfassung wieder aufgelöst und i n einen neuen Begriff verwandelt, nach welchem Enteignung jeder durch staatlichen A k t vorgenommene Einzeleingriff in Vermögensrechte des Einzelnen ist. Viertens haben sich für die Durchführung neuzeitlicher größerer Planungen und Zielsetzungen, wie Bodenreform, Siedlung, Städtebau, Autobahnen und Raumordnungen, besondere Formen und Rechts verfahren herausgebildet, die auch für die Frage des rechtsstaatlichen Vollzugs einer Sozialisierung beachtlich sind.
478
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
Diese vier Begriffe von Enteignung sind voneinander verschieden und oft sogar völlig entgegengesetzt. Aber sie bestehen bis auf den heutigen Tag nebeneinander u n d werden immer noch so häufig vermengt, daß ihre nochmalige Klarstellung für die Erkenntnis der Sozialisierung als eines rechtlich geordneten Verfahrens wesentlich, ist, obwohl das rechtswissenschaftliche Schrifttum die Klarstellung schon öfters vorgenommen hat (vgl. insbesondere den Aufsatz von Werner Weber, N J W 1950, S.401 und das Referat von H . P. Ipsen, Tagung der V D S t i n Göttingen, Oktober 1951). 2. D i e
vier
verschiedenen Enteignungsbegriffe und -methoden
1. Enteignung als Kampfmaßnahme. Die revolutionäre Vorstellung von der Enteignung spricht von einer Expropriation der Expropriateure, einer Enteignung der Enteigner u n d versteht darunter das Eigentum eines Klassenfeindes oder eines sonstigen Gegners i m Bürgerkrieg. Dieser zu enteignende Eigentümer w i r d als Ausbeuter und Verbrecher behandelt, der sein Eigentum v e r w i r k t und kein Recht mehr auf ein geordnetes Verfahren hat, w e i l er als Feind behandelt wird. Eigentümer u n d Eigentum sind hier diskriminiert. Die Wegnahme des Eigentums ist Konfiskation. A n einem rechtlich geordneten Verfahren besteht kein Interesse, w e i l es sich um eine revolutionäre K a m p f maßnahme handelt. 2. Enteignung als rechtsstaatlich geregeltes Verfahren. Der Rechtsund Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts hat einen völlig anderen, j a entgegengesetzten Begriff der Enteignung geschaffen, indem er das Rechtsinstitut der Enteignung entwickelte und zu dem sogenannten klassischen Begriff der Enteignung ausprägte. Die Enteignung ist hier ein besonders sorgfältig geordnetes Rechtsverfahren, das auf der Trennung von Legislative und Exekutive beruht und den Enteignungsakt als einen Verwaltungsakt auf G r u n d eines Gesetzes definiert. A u f dieser Grundlage einer typisch rechtsstaatlichen Trennung von Gesetz u n d Gesetzesvollzug w i r d es möglich, das Verfahren genau zu regeln: beginnend m i t der Verleihung des Enteignungsrechts durch Gesetz oder durch Beschluß der Regierung an ein bestimmtes öffentliches Unternehmen, m i t genauen Planfeststellungen, Anhörung des Eigentümers, Sicherung der Rechte Dritter, Sicherung des Geldwertes des enteigneten Objektes und Überführung auf den neuen Eigentümer.
R e t s s t a a t l i e r Verfassungs Vollzug (1952)
479
Was heute meistens als Entschädigung für eine Enteignung bezeichnet w i r d , ist bei dieser A r t von Enteignung i n Wirklichkeit weniger Entschädigung als der volle Gegenwert. Die Enteignung erscheint als zwangsweise, aber i n einem rechtlich geordneten Verfahren erfolgende Realisierung des Geldwertes einer Sache. Der bisherige Eigentümer und sein Eigentum an der zu enteignenden Sache werden i n keiner Weise diskriminiert. Es soll nur, wenn es für die Durchführung eines genau bezeichneten öffentlidien Unternehmens notwendig ist, ein anderer Eigentümer gleicher A r t , nämlich das öffentliche Unternehmen, an die Stelle des bisherigen Eigentümers treten. Das Verfahren w i r d i n besonderen Enteignungsgesetzen geregelt. Die Enteignung vollzieht sich i m konkreten F a l l auf Grund eines solchen Gesetzes. Das Ganze ist Ausdruck der Anerkennung sowohl des Eigentums als eines Rechtes, wie des zu enteignenden Eigentümers als des Inhabers eines ehrlichen Rechts. Die Enteignung auf G r u n d eines Gesetzes bedeutet, daß die rechtsstaatliche Trennung von Gesetz u n d Gesetzesvollzug die Grundlage eines derartig geordneten Verfahrens ist. Die genaue Bestimmung der Zuständigkeiten und des Verfahrens durch ein besonderes Enteignungsgesetz sichert die rechtsstaatliche Vollziehbarkeit, angefangen von der Verleihung des Enteignungsrechts bis zur Eintragung des neuen Eigentümers im Grundbuch. 3. Enteignung als Einzeleingriff. Neben dieser von allen Verfassungen beibehaltenen klassischen Enteignung hat sich i n der Weimarer Verfassung ein dritter, wiederum anders gearteter Begriff der Enteignung entwickelt, der weder m i t der Enteignung der revolutionären Gewaltmaßnahme noch mit der sogenannten klassischen Enteignung als besonders sorgfältiger Verfahrensregelung identisch ist. Diese Entwicklung führte zur Auflösung des klassischen Enteignungsbegriffes als eines Verwaltungsaktes und zu der Auffassung der Enteignung als eines Einzeleingriffs, der nicht nur auf G r u n d eines Gesetzes, sondern auch durch Gesetz, also unmittelbar durch einen A k t der Legislative vorgenommen werden kann. Auch diese A r t von Enteignung durch Gesetz enthält die Anerkennung des Eigentums als eines schutzwürdigen Rechtes. Die aufgelöste, die Enteignung als bloßen Einzeleingriff definierende Enteignungsvorstellung ist gerade daraus entstanden, daß man den Einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen, auch solchen durch Gesetz, schützen wollte, indem man den unmittelbaren E i n g r i f f durch Gesetz als Enteignung und dadurch, nach A r t . 153 der Weimarer Verfassung, als
480
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
entschädigungspflichtig konstruierte. Die grundlegende reichsgerichtliche Entscheidung (RGZ 128, S. 18 ff., vom 28. Februar 1930) betrifft die Baubeschränkungen des preußischen Fluchtliniengesetzes und bezeichnet sie als entschädigungspflichtige Enteignung nach A r t . 153 Abs. 2 Satz 2 der Weimarer Verfassung. Die reichsgerichtliche Praxis führte zu der V O vom 5. Juni 1931 (RGBl. I, Seite 279) i n der Fassung des Gesetzes vom 31. M a i 1939 (RGBl. I, S. 649), durch das die Entschädigungsfrage gesetzlich geregelt wurde. Allerdings erscheint die Entschädigung jetzt nicht mehr als die Gegenleistung des vollen Geldwertes der enteigneten Sache, sondern eher als eine A r t Aufopferungsanspruch dafür, daß der Enteignete gezwungen wurde, besondere Rechte u n d Interessen dem W o h l der Allgemeinheit aufzuopfern (§§ 74, 75 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht). Diese dritte A r t der Enteignung (Einzeleingriff m i t Entschädigungspflicht) hat sich bezeichnenderweise i m Zusammenhang m i t der Durchführung neuzeitlicher Städteplanungen durchgesetzt. Sie berührt dadurch die vierte A r t von Enteignungsverfahren, die nunmehr zu kennzeichnen ist. 4. Die Enteignung im Rahmen rechtlich geordneter Durchführung von Planungen und Zielsetzungen. Die Durchführung moderner Planungen u n d Zielsetzungen, wie Bodenreform, Siedlung, Autobahnen, Städtebau u n d Raumordnung, bedient sich der beiden Enteignungsmöglichkeiten, die soeben (unter 2. u n d 3.) gekennzeichnet wurden, zum T e i l auch vereinfachter Verfahren der Enteignung, wie sie das preußische Gesetz vom 29. Juli 1922 (GS. S . 2 U ) zuläßt, m i t der Möglichkeit vorläufiger Besitzeinweisungen nach Planfeststellung. Stets bleibt aber auch hier ein Mindestmaß von rechtlich geordnetem Verfahren gewahrt. Dasselbe gilt für den F a l l eines generellen Enteignungsrechts, wie es z. B. der Bundesbahn nach § 37 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 zusteht. Von entscheidender Bedeutung für den rechtlich geordneten Vollzug solcher Planungen ist der Eröffnungsakt, der das Verfahren i n der Form einer Umfangsbestimmung einleitet. Schon bei der Anlegung von Straßen u n d Plätzen i n Städten und ländlichen Ortschaften (Preußisches Gesetz vom 2. Juli 1875, GS. S. 561, letzte Fassung durch die V O vom 30. Januar 1939, RGBl. I, S. 106) treten m i t der Offenlegung des förmlich festgestellten Planes Beschränkungen des Grundeigentums u n d Eigentumsentziehungsrechte der Gemeinde i n K r a f t . Für Planungen und Unternehmen größeren Umfanges ist aber die
Rechtsstaatlicher Verfassungsollzug (1952)
481
Eröffnung des geordneten Verfahrens durch eine einleitende Umfangs- und Bereichsbestimmung typisch. Ihre rechtliche W i r k u n g k a n n verschieden sein: Bau- und andere Eigentumsbeschränkungen, Widerspruchsrechte bestimmter Behörden usw. Für den rechtsstaatlich geordneten Vollzug einer so großen Planung u n d Zielsetzung wie der Sozialisierung ganzer Industriezweige ist der Rechtsakt der förmlichen Eröffnung des konkreten SozialisierungsVerfahrens ebenfalls von entscheidender Bedeutung. D i e Umfangs- u n d Bereichsbestimmung k a n n dazu dienen, die Frage des unmittelbaren Verfassungsvollzugs i m Falle des A r t . 41 zu klären. 3. K e i n e
„Enteignung
durch
Verfassung"
Angesichts der Auflösung des klassischen Enteignungsbegriffes u n d der Zulässigkeit einer Enteignung „durch Gesetz" könnte es naheliegen, nunmehr auch eine Enteignung unmittelbar „durch Verfassung" f ü r zulässig u n d sogar selbstverständlich zu halten. Das wäre ein I r r t u m , der sowohl den Sinn der Gewaltenteilung als auch das Wesen der verfassunggebenden Gewalt verkennt. Wenn A r t . 14 G G bestimmt, daß eine Enteignung „ n u r durch Gesetz oder auf gesetzlicher Grundlage erfolgen" darf, so sichert er dadurch den typisch rechtsstaatlichen Vollzug durch Zwischenschaltung des Gesetzes. E r läßt allerdings a n Stelle der Enteignung durch Verw.altungsakt auch eine Enteignung durch, unmittelbaren Legislativakt zu. Das scheint eine Durchbrechung rechtsstaatlicher Grundsätze zu sein, w e i l die Funktionen des Gesetzes u n d des Verwaltungsaktes nicht „vertauschbar" sind (vgl. das Zitat aus Ernst Forsthoff, Verwaltungsrecht 2. Auflage 1951, S. 253, Anmerkung). Dieser Grundsatz der Nichtvertauschbarkeit gehört zur Trennung von Legislative und Exekutive, wie das auch i n den oben (S. 459 unserer Sammlung) zitierten Ausführungen von Senatspräsident Ule u n d Professor Werner Weber hervorgehoben ist. Aber auch die Enteignung durch. Gesetz w a h r t noch das rechtsstaatliche Erfordernis der Zwischenschaltung des Gesetzes i n den Verfassungsvollzug. Das staatliche Gesetz, durch das die Enteignung erfolgen kann, ist keine unmittelbare A k t i o n , sondern das Ergebnis eines durch Verfassung u n d Geschäftsordnung geregelten Verfahrens, i n welchem Umfang und Grenze der Enteignung, nötigenfalls auch die A r t des Vollzugs, nach allen Richtungen h i n beraten werden muß. E i n solches Gesetz enthält noch rechtsstaatliche Garantien eines ge3
Carl Schmitt
482
R e d i t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
ordneten Verfahrens u n d damit eines geordneten Vollzugs. Daraus, daß eine Enteignung durch Gesetz zulässig geworden und der Grundsatz der Nicht-Vertauschbarkeit von Gesetzesakt und Verwaltungsakt durchbrochen ist, folgt also noch nicht, daß nunmehr eine allgemeine Vertauschbarkeit Platz greifen und insbesondere eine Vertauschung von Verfassungsakt und Verwaltungsakt eingeführt werden soll. Es liegt i m Wesen der verfassunggebenden Gewalt, daß sie rechtliche Schranken setzt, aber nicht an Schranken gebunden ist. Sehen w i r von den sogenannten vorkonstitutionellen Verfassungsbindungen des Hessischen Verfassunggebers ab, so bleibt außerdem jedenfalls die innere Schranke, die d a r i n liegt, daß der W i l l e des Verfassunggebers auf eine rechtsstaatliche Ordnung gerichtet war. Die Frage ist also nicht, was der Träger der verfassunggebenden Gewalt möglicherweise ohne Form u n d ohne Verfahren unmittelbar alles t u n kann, wenn er w i l l , sondern was sich aus seinem W i l l e n zu einer rechtsstaatlichen Verfassung ergibt. Wenn er diesen W i l l e n i n einem besonderen F a l l durchbrechen u n d bestimmte Personen oder Angelegenheiten außerhalb der rechtsstaatlichen Verfassung stellen, d. h. sie einer unmittelbaren A k t i o n , sei es der Exekutive, sei es rechtlich nicht organisierter Massen ausliefern w i l l , so muß dieser W i l l e i n aller Deutlichkeit und klarer Begrenzung ausgesprochen werden. Solche Durchbrechungen sind denkbar u n d i n der Geschichte der Revolutionen auch vorgekommen. Aber gerade bei der Sozialisierung des Artikels 41 ist, wie immer von Neuem wiederholt werden muß, von keiner Diskriminierung der bisherigen Eigentümer die Rede, nicht einmal von dem Unwerturteil, das i n A r t . 39 (Mißbrauch wirtschaftlicher Freiheit) mitschwingt. Deshalb wäre es auch abwegig zu folgern, wenn eine Enteignung unmittelbar durch Gesetz zulässig ist, dann müsse u m so mehr eine Enteignung unmittelbar durch Verfassung zulässig sein. Die Enteignung durch Verfassung ist keine einfache Gradsteigerung der Enteignung durch Gesetz, sondern eher das Gegenteil. Die Enteignung durch Gesetz enthält eine Einschränkung der Exekutive, der sie die Befugnisse einer Enteignung nimmt. Dagegen enthält die Enteignung durch Verfassung eine tatsächliche Machtsteigerung der Exekutive, der i n Wirklichkeit der unmittelbare, gesetzlich nicht geregelte Vollzug dieser Enteignung zufällt, w e i l die Verfassung sich nicht selbst vollziehen kann. D i e Enteignung durch Gesetz bedeutet infolgedessen nur eine relative Einschränkung der Gewaltenteilung und des recht-
483
Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug (1952)
lieb geordneten Verfahrens; sie hält an den Gedanken der Zwischenschaltung eines Gesetzes zwischen Verfassung und Verfassungsvollzug fest. Eine Enteignung unmittelbar durch Verfassung dagegen wäre eine absolute Beseitigung der Garantien eines geordneten Verfahrens und nur als bewußte Ausnahmebestimmung möglich. Es ist nicht zulässig, aus der Einführung einer relativen Einschränkung den Schluß auf eine absolute Beseitigung rechtsstaatlicher Garantien zu ziehen, am wenigsten, wenn es sich u m eine Ausnahme von dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit staatlicher Eingriffe handelt, der i n A r t . 2 Abs. 2 und A r t . 26 so feierlich gewährleistet ist. 4. A r t . 41 A b s . 1 a l s f ö r m l i c h e E r ö f f n u n g Sozialisierungsverfahrens
eines
Eine rechts- und verfassungsstaatliche Sozialisierung ist eine Überführung i n Gemeineigentum, die weder einfache Konfiskation, noch Enteignung i m Sinne des klassischen Enteignungsverfahrens, noch Enteignung i m Sinne eines entschädigungspflichtigen Einzeleingriffes ist. Sie k a n n sich der beiden letztgenannten Formen der Enteignung bedienen. Sie bleibt aber als Ganzes, als Sozialisierung, dadurch gekennzeichnet, daß sie keine bloße Überführung von einem Eigentümer zu einem gleichgearteten anderen Eigentümer i m Sinne hat, sondern die Schaffung einer neuen A r t von Eigentum und von neuen W i r t schafts- und Unternehmensformen. Als rechts- und verfassungsstaatliche Sozialisierung bedarf sie eines besonders geregelten Verfahrens. Sie ist nicht schon deshalb durch unmittelbare Eingriffe vollziehbar, weil der W i l l e der Verfassung zweifellos auf eine Sozialisierung gerichtet ist. Vielmehr kommt es darauf an, diesen W i l l e n zur Sozialisierung m i t dem gleichzeitigen W i l l e n der Verfassung zu einer rechtsstaatlichen Ordnung i n Einklang zu bringen. Das Sozialisierungs^ gesetz, das i n A r t . 40 und 41 der Hessischen Verfassung vorgesehen und vorbehalten ist, muß ein solches Gesetz sein, das die neuen Rechtsträger, Organisationen, Zuständigkeiten, vor allem aber auch das Verfahren der Überführung regelt. Ohne ein geregeltes Überführungsverfahren kann nicht von einer rechts- oder verfassungsstaatlichen Sozialisierung gesprochen werden. E i n solches Sozialisierungs-Verfahrensgesetz würde für einen sozialen oder sozialistischen Rechtsstaat dem Mindestmaß von Erfordernissen entsprechen, dem für den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat das Enteignungsgesetz entspricht. I n analoger Weise, 31»
484
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
wie sich die klassische Ausprägung des EnteignungsVerfahrens allmählich herauskristallisiert hat, w i r d sich das rechts- u n d verfassungsstaatliche Sozialisierungsverfahren als Rechtsinstitut und geregeltes Verfahren ausprägen. D i e Eröffnung der Sozialisierung als eines rechtlich geordneten Verfahrens ist kein Gewaltakt, sondern der förmliche Beginn der Durchführung des Unternehmens der Sozialisierung. Jedes geordnete Rechtsverfahren beginnt m i t einem solchen förmlichen A k t . Wie das Enteignungsverfahren m i t der Verleihung des Enteignungsrechts an ein bestimmtes Unternehmen eröffnet w i r d , so w i r d das Sozialisierungsverfahren nach A r t . 41 durch unmittelbare Anordnung der Verfassung eröffnet. Nicht ein unmittelbarer Zugriff, sondern der förmliche Rechtsakt einer Umfangs- u n d Bereichsbestimmung, wie sie am A n fang der geordneten Durchführung aller modernen Planungen und Zielsetzungen steht, w i r d hier von der Verfassung selbst vorgenommen. Es wurde bereits oben auf die Analogie m i t der Durchführung von Bodenreform, Wohnsiedlung, Städtebau u n d Raumordnung hingewiesen. Die Sozialisierung steht i n der Reihe solcher neuzeitlicher Planungen u n d Zielsetzungen großen Stils. Infolgedessen muß auch an ihrem Beginn der förmliche A k t einer solchen Umfangs- u n d Bereichsbestimmung stehen. D a r i n liegt der verfassungsrechtliche Sinn des A r t . 41 u n d zugleich eine klare A n t w o r t auf die Frage: was denn eigentlich nach den Anfangsworten des A r t . 41 m i t Inkrafttreten der Verfassung unmittelbar i n K r a f t treten soll. 5. D i e T r e u h ä n d e r s t e l l u n g d e s b i s h e r i g e n E i g e n t ü m e r s ( A r t . 41 A b s . 3) Was die Treuhänderschaft des Eigentümers i m Zusammenhang m i t der Durchführung eines Sozialisierungsverfahrens eigentlich bedeutet, k a n n nicht durch die Unterstellung beantwortet werden, daß der Eigentümer sein Eigentum m i t Inkrafttreten der Verfassung einfach verliere. Ebensowenig k a n n das L a n d als neuer Eigentümer unterstellt werden, wovon i n A r t . 41 überhaupt nicht die Rede ist. D i e Frage der Rechtslage des bisherigen wie des neuen Eigentümers b e t r i f f t das typisch öffentlich-rechtliche Problem der Enteignung und der Sozialisierung als eines geordneten Verfahrens. Sie eignet sich infolgedessen auch nicht für zivilrechtliche Analogien etwa der A r t , daß der neue, noch nicht vorhandene Rechtsträger m i t dem nasciturus des § 1923 BGB verglichen w i r d oder das Land Hessen der
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
485
Vorerbe der neuen Rechtsträger sein soll, die dann als Nacherben (§§ 2100 ff. BGB) der erst noch zu schaffenden neuen Rechtsträger m i t einem nasciturus oder einem Nacherben überhaupt Sinn haben, dann wäre es j a schließlich noch einfacher, den § 1964 BGB heranzuziehen u n d zu behaupten, der hessische Landesfiskus sei mangels eines Rechtsträgers Erbe und Eigentümer geworden, wie deT Fiskus mangels eines gesetzlichen u n d testamentarischen Erben nach § 1964 B G B Erbe und Eigentümer w i r d . I n jedem F a l l wäre es ein sonderbarer Sprachgebrauch, den neuen Inhaber einer enteigneten Sache als Erben des Enteigneten u n d sein Recht als eine Erbschaft zu bezeichnen. Der Eigentümer eines nach A r t . 41 i n Gemeineigentum überführten bzw. zu überführenden Betriebes verliert m i t der förmlichen Eröffnung der Durchführung des Verfahrens sein Eigentum ebensowenig, wie der Eigentümer m i t der Verleihung des Enteignungsrechtes, oder wie der Eigentümer eines von einer Freiflächenausweisung oder einer sonstigen Bereichsbestimmung betroffenen Grundstückes sein Eigent u m verliert. Aber sein Eigentumsrecht erfährt eine Beschränkung, die sich daraus ergibt, daß der Zweck des Verfahrens nicht gefährdet werden darf. Bei Bebauungsplänen ergeben sich z. B. Baubeschränkungen, i n anderen Fällen genügen Kontroll- u n d Widerspruchsrechte zuständiger Behörden. Alles das ist nach A r t . 41 Abs. 4 „Ausführungsgesetzen" vorbehalten. Der wesentliche I n h a l t der Treuhänderstellung des Eigentümers ist also durch den Zweck des Sozialisierungsverfahrens bestimmt. Sein Eigentum w i r d m i t einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung belastet und Eigentumsbeschränkungen unterworfen, die eine rechtlich geordnete Durchführung sichern u n d eine Gefährdung oder Vereitelung des Sozialisierungszweckes verhindern sollen. A r t . 41 Abs. 3 verweist auf Ausführungsgesetze, deren Sinn u n d Aufgabe sich aus der richtigen Auslegung der Sozialisierungsbestimmungen der Verfassung ergibt. Ihre weitere Erörterung setzt die klare Beantwortung der Frage voraus, ob durch A r t . 41 m i t I n k r a f t treten der Verfassung eine unmittelbare Entziehung des bisherigen Eigentums erfolgt oder nicht erfolgt ist. Ergebnis Den Eigentümern der von A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen betroffenen Gegenstände ist i h r Eigentum durch A r t . 41 nicht
486
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
entzogen w o r d e n . D i e V e r f a s s u n g
des L a n d e s Hessen h ä l t
auch
in
A r t . 41 a n d e m rechtsstaatlichen G r u n d s a t z eines r e c h t l i c h g e o r d n e t e n V e r f a h r e n s f ü r d e n V e r f a s s u n g s v o l l z u g fest. A r t . 41 o r d n e t a n , d a ß die Durchführung
der S o z i a l i s i e r u n g f ü r
die i n diesem A r t i k e l
betrof-
f e n e n O b j e k t e sofort m i t I n k r a f t t r e t e n der V e r f a s s u n g b e g i n n t . D a s b e d e u t e t d e n f o r m a l e n R e c h t s a k t d e r E r ö f f n u n g eines S o z i a l i s i e r u n g s verfahrens
u n d hat
für
das S o z i a l i s i e r u n g s v e r f a h r e n
eine
entspre-
chende rechtliche B e d e u t u n g , w i e sie d e r V e r l e i h u n g des E n t e i g n u n g s rechts i m E n t e i g n u n g s v e r f a h r e n
oder d e r U m f a n g s -
und
Bereichs-
b e s t i m m u n g i n der D u r c h f ü h r u n g g r o ß e r U n t e r n e h m e n u n d P l a n u n g e n zukommt.
E i n auf Ersuchen der Buderusschen Eisenwerke erstattetes Gutachten zu der Frage: Ist den Eigentümern der von A r t . 41 der Verfassung des Landes Hessen Abs. 1 Nr. 1 betroffenen Gegenstände i h r Eigentum durch A r t . 41 m i t I n k r a f t t r e t e n der Verfassung entzogen worden? 1. Das Gutachten wurde i m März 1952 erstattet, als die Angelegenheit beim hessischen Staatsgeriditshof noch anhängig war. Der Staatsgerichtshof entschied am 6. J u n i 1952, daß die i n A r t . 41 angeordnete Überführung i n Gemeineigentum m i t dem I n k r a f t t r e t e n der Verfassung so weit b e w i r k t worden sei, daß den bisherigen Eigentümern das Eigentum entzogen wurde. Das U r t e i l ließ offen, wer m i t diesem I n k r a f t t r e t e n der hessischen Verfassung Rechtsinhaber der entzogenen Vermögensgegenstände geworden w a r : das L a n d Hessen als vorläufiger Durchgangserwerber oder die noch nicht bestehenden, i n A r t . 40 der hessischen Verfassung vorgesehenen neuen Rechtsträger i n einer A r t Schwebelage. D i e Eigentümer der betroffenen hessischen Unternehmen erhoben Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gegen die Vorenthaltung des Besitzes an ihren Vermögen durch das L a n d Hessen, gegen A r t . 41 der hessischen Verfassung u n d das dazu ergangene Ausführungsgesetz u n d gegen die Urteile des hessischen Staatsgerichtshofs. Es k a m aber nicht zu einer Entscheidung über diese Verfassungsbeschwerde. Vielmehr erging nach längeren Verhandlungen ein hessisches Abschlußgesetz vom 6. J u l i 1954 zum A r t . 41 der hessischen Verfassung (Gesetz- u n d Verordnungsblatt für das L a n d Hessen 1954 Nr. 23 S. 126). Dieses bestimmte das L a n d Hessen als Rechtsinhaber, der die von A r t . 41 erfaßten Vermögensgegenstände binnen eines Jahres auf selbständige Rechtsträger des Gemeineigentums durch Rechtsgeschäft zu übertragen hatte. A l s solche Rechtsträger sollten gelten: 1. juristische Personen des öffentlichen Rechts, 2. Gesellschaften des Privatrechts m i t eigener Rechtspersönlichkeit, wenn die öffentliche Hand, insbesondere das Land, mehr als die H ä l f t e der Gesellschaftsanteile bereits innehatte oder bei der Übertragung erwarb. Der U m f a n g der zu entschädigenden Gegenstände u n d die Höhe der Entschädigungen wurden durch Vereinbarung zwischen den Entschädigungsberechtigten u n d dem L a n d Hessen festgesetzt.
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
487
2. D e r Satz auf S. 454 — „So w u r d e n i m August 1789 alle feudalen F o r m e n des Eigentums m i t sofortiger W i r k u n g abgeschafft" — enthält eine starke Vereinfachung u n d ist i n dieser F o r m n u r eine fromme Revolutions-Legende. I n Wirklichkeit verlief die Sache so: I n der berühmten Nacht des 4. August 1789 w u r d e der Verzicht auf die feudalen Rechte feierlich proklamiert. Das Dekret der Konstituierenden Versammlung „le regime feodal est entierement detruit" erging am 11. August. D i e weitere Formulierung u n d Ausarbeitung dieses Prinzips wurde einem Ausschuß, dem Comite feodal, übertragen, das zahlreiche Vorschläge u n d E n t w ü r f e zur L i q u i d i e r u n g der feudalen Rechte u n d zahlreiche A n t w o r t e n auf die vielen offenen Fragen (z.B. verwandelt sich das Feudaleigentum einfach i n A l l o d i n der H a n d des momentanen Besitzers? Werden die Feudalrechte des Grundeigentümers einfach Grundrechte bürgerlichen Rechts? Was fällt ohne Entschädigung einfach weg? Was bleibt als bürgerliches Eigentum usw. usw.) zu behandeln hatte. I n zwischen k a m es auf dem Lande zu jahrelangen T u m u l t e n u n d Gewalttätigkeiten, worüber m a n i n dem Buch von M a r t i n Göhring, „ D i e Feudalität in Frankreich vor u n d i n der Revolution" (Historische Studien Nr. 247, 1934), insbesondere K a p i t e l 8, S. 237 ff., weiteres findet, als I l l u s t r a t i o n zu dem Problem des Verhältnisses von Rechtsstaat u n d Verfassungsautomatik. 3. Das eigentlich verfassungsrechtliche Thema des Gutachtens ist die Frage, wie weit i n einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat die Zwischenschaltung des Gesetzes beim Verfassungsvollzug entbehrt werden kann, ohne daß der parlamentarische Gesetzgebungsstaat seine S t r u k t u r verliert. Unmittelbarer, automatischer Verfassungs Vollzug ist ein Problem ersten Ranges. Das versteht sich von selbst, ist aber i n dieser Schärfe erst seit einigen Jahren zum Bewußtsein gekommen, w e i l der klassische Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts ein Gesetzgebungsstaat w a r u n d für die damalige rechtsstaatliche Auffassung die Ausschaltung des Gesetzgebers k a u m vorstellbar war. Exekutive u n d Justiz wurden auf Grund eines Gesetzes tätig. D a r i n l a g die eigentliche Verfassungsgarantie. Wenn Exekutive u n d Justiz auf G r u n d höherer als der gesetzlichen Normen unmittelbar t ä t i g werden, ist der Gesetzgeber u m eine Stufe degradiert. Das letzte W o r t i n einem solchen Gemeinwesen hat dann nicht mehr der Gesetzgeber, sondern der die Verfassung unmittelbar anwendende Richter oder Vollzugsbeamte oder vielleicht auch, i n unmittelbarer A k t i o n , der verfassungstreue Staatsbürger oder eine Organisation solcher unmittelbaren Verfassungsschützer. Es mag sein, daß m a n das auf solche Weise verwirklichte Recht für besser hält als das Gesetzesrecht. D a r a u f k o m m t es hier nicht an. Hier handelt es sich u m die verfassungstheoretische Erkenntnis, daß die S t r u k t u r des Gesetzgebungsstaates durch diese A r t Verfassungsunmittelbarkeit verändert w i r d u n d daß es notwendig ist, sich der Strukturveränderung bewußt zu werden. 4. Es läßt sich freilich nicht verkennen, daß das automatische Denken zeitgemäß ist u n d sich schnell verbreitet: Automatischer Verlust der Mandate bei Parteiverbot; automatische Gleichberechtigung von M a n n u n d F r a u ; automatisches Verbot friedensgefährlicher Vereinigungen nach A r t . 9 Abs. 2 G G ; automatische VerWirkung von Grundrechten i m Falle des Mißbrauchs (das U r t e i l des Verfassungsgerichts hat nach dem Kommentar von v. Man-
488
R e t s s t a a t l i e r Verfassungsollzug (1952)
goldt-Klein n u r deklaratorische Bedeutung); automatischer, am 8. M a i 1945 eingetretener Amts- u n d Rechtsverlust für alle damaligen deutschen Beamten usw. 5. A r t . 41 der hessischen Verfassung w a r als Instrument einer automatischen Industrienahme (unten S. 499) gedacht. D a r i n l i e g t seine allgemeine, über den Einzelfall einer hessischen Sozialisierung weit hinausgehende, grundsätzliche u n d symptomatische Bedeutung f ü r eine moderne Verfassungslehre. Über die „ C h i m ä r e " einer solchen, uno actu erfolgenden Veränderung der Wirtschaftsordnung vgl. Bern. 2 oben S. 346. D i e automatische Entziehung des Eigentums ohne gleichzeitige Übertragung auf einen anderen Eigentümer enthält ein lehrreiches Gegenbeispiel zu unsern Darlegungen u n d Thesen über das Rechtsinstitut der Enteignung als einer Verbindung von Entziehung u n d gleichzeitiger Anerkennung des Eigentums, oben S. 119—123.
Nehmen / Teilen / Weiden (1953) Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen Die wissenschaftliche Behandlung der Fragen des menschlichen Zusammenlebens ist i n juristische, wirtschaftswissenschaftliche, soziologische und viele andere Spezialisierungen aufgespalten. Die Notwendigkeit einer umfassenden, die Einheit des wirklichen Zusammenhanges erkennenden Betrachtung drängt sich auf. D a m i t ist das wissenschaftliche Problem gegeben, Grundkategorien von einleuchtender Einfachheit zu finden, die eine sichere, durch die verschiedenen Spezialwissenschaften hindurchgehende Fragestellung ermöglichen. Der Versuch, den w i r hier als Beitrag zu diesem Problem vorlegen, geht dahin, den ursprünglichen Sinn des Wortes Nomos zu erfassen und von dort her einige solcher einfachen, einleuchtenden und durchgängigen Grundkategorien zu finden. D i e andeutenden Beispiele ihrer Anwendung auf sozialwissenschaftliche Doktrinen u n d Systeme, die w i r i m folgenden skizzieren, sollen nur als kurze Hinweise für die Brauchbarkeit dienen. Die Durchgängigkeit soll die Schranken der Spezialisierungen überwinden helfen, ohne den Wert der fachlichen Leistungen zu verleugnen; sie ist also etwas anderes, als eine Unterwanderung m i t philosophischen Allgemeinheiten oder naturrechtlichen Generalklauseln. I n die Einzelheiten einer philologischen Erörterung des Wortes Nomos brauchen w i r nicht einzutreten. Die rein philologischen Sachverständigen beziehen, wie es natürlich ist, ihre Begriffe aus dem Spezialgebiet, auf dem das von ihnen erforschte W o r t jeweils als beheimatet gilt. Für das Wort Nomos gehen sie folglich i m allgemeinen davon aus, daß die Juristen u n d die ihnen folgenden Historiker dieses W o r t bisher meistens m i t Gesetz oder, zum Unterschied vom geschriebenen Gesetz, m i t Sitte oder Gewohnheit übersetzten. Es gibt eine ausgezeichnete philologische Untersuchung der Antithese von Nomos und Physis, die F e l i x Heinimann (Basel 1945) veröffentlicht hat. Sie geht i n der Übernahme moderner Fachabstraktionen so weit, daß sie den Nomos als „das bei einer Gruppe von Lebewesen Geltende" de-
490 finiert
Nehmen / Teilen / Weiden (1953) u n d i h n a u f diese W e i s e i n
die
n e u z e i t l i c h e K a t e g o r i e des
„ G e l t e n s " u n d i n e i n e n sehr s p e z i e l l e n N o r m a t i v i s m u s h i n e i n z i e h t . W i r s i n d b e r e i t , uns v o n d e n P h i l o l o g e n b e l e h r e n
z u lassen, a b e r
m ö c h t e n z u g l e i c h d e n u r s p r ü n g l i c h e n S i n n des Nomos des m e n s c h l i c h e n Z u s a m m e n l e b e n s P h i l o l o g e n e i n , uns
einmal
für
fruchtbar
für
machen u n d laden die
einen Augenblick
zu
folgen 1.
suchen d e n e i n f a c h s t e n A n s a t z , u m d u r c h a l l e f a c h l i c h e n rungen h i n d u r c h die S t r u k t u r
verschiedener
wir
Probleme Wir
Spezialisie-
Sozialordnungen
und
D o k t r i n e n z u erkennen u n d f ü r den K e r n ihrer E t h i k u n d ihres Geschichtsbildes d i e r i c h t i g e F r a g e s t e l l u n g z u f i n d e n . I D a s griechische S u b s t a n t i v u m Nomos V e r b u m Nemein.
k o m m t v o n d e m griechischen
Solche S u b s t a n t i v a s i n d nomina
actionis
und
be-
zeichnen e i n T u n als e i n e n V o r g a n g , dessen I n h a l t d u r c h das V e r b u m gegeben ist. Welches T u n u n d w e l c h e n V o r g a n g bezeichnet also das W o r t Nomos?
O f f e n b a r d i e H a n d l u n g u n d d e n V o r g a n g des
Nemein.
1 Die Darlegung der drei Grundbedeutungen des Nomos, die w i r hier vorlegen, ist gedanklich i n sich geschlossen u n d i n sich selbst verständlich. Sollte darüber hinaus ein Interesse daran bestehen, ihren Zusammenhang m i t meinem rechtswissenschaftlichen Gesamtwerk kennenzulernen, so darf ich auf mein Buch: Der Nomos der Erde (1950) verweisen. D o r t findet sich auch ein C o r o l l a r i u m über die Bedeutung des Wortes Nomos. Ich benutze diese Gelegenheit, u m eine ergänzende A n m e r k u n g anzufügen. Ich habe i n jenem C o r o l l a r i u m angenommen, daß der berühmte Vers 3 am A n f a n g der Odyssee lautet: Vieler Menschen Städte äatea sah er u n d erkannte ihren Nomos (oder, nach herrschender Lesart: Noos). Der Version m i t Nomos gebe ich den Vorzug vor der heute durchaus herrschenden u n d üblichen Version, die statt Nomos das W o r t Noos setzt. D i e Gründe u n d Gesichtspunkte, die mich bewogen haben, die Version Nomos vorzuziehen, habe ich i n dem genannten Corollarium dargelegt. V o n philologischer Seite ist m i r vor allem ein eindrucksvolles Argument entgegengehalten worden: daß das W o r t Nomos (mit Akzent auf der ersten Silbe) bei Homer sonst nicht vorkomme u n d die Version Nomos infolgedessen ein unwahrscheinlich einmaliges W o r t , ein sog. Xevofievov einführen würde. Ich gebe zu, daß eine Version, die eine solche Einmaligkeit m i t sich bringt, etwas Unbefriedigendes hat. Aber der F a l l liegt i n Wirklichkeit philologisch ganz anders. Selbst wenn das W o r t Nomos bei Homer sonst nicht vorkommt, so kommen doch m i t Nomos zusammengesetzte Eigennamen vor: Amphinomos; Ennomos; Eyrynomos; j a sogar (was wegen der farcea jenes Verses 3 der Odyssee besonders beziehungsvoll ist): Astynomos. A l l e diese Eigennamen sind räum- u n d ortsbestimmt; sie beziehen sich auf das konkrete Stück Land, das der Namensträger bei der Landnahme u n d Teilung erhalten hat. Eigennamen sind i n solchem Zusammenhang beweiskräftiger als andere Worte.
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
Nemein bedeutet erstens: Nehmen. Das deutsche W o r t Nehmen hat dieselbe Sprachwurzel wie das griechische W o r t Nemein. Wenn nun das H a u p t w o r t Nomos ein nomen actionis von Nemein ist, dann muß der erste Sinn von Nomos auf ein Nehmen gerichtet sein. Ebenso wie Logos das nomen actionis von Legein ist oder Tropos von Trepein, ebenso bezeichnet Nomos ein T u n und einen Vorgang, dessen I n h a l t i n einem Nemein besteht. U n d ebenso, wie die sprachliche Beziehung der griechischen Worte Legein — Logos i m Deutschen die Beziehung Sprechen — Sprache ergibt, ebenso führt die sprachliche Beziehung der griechischen Worte Nemein — Nomos i m Deutschen zu der Beziehung Nehmen — Nähme. Nomos heißt also auf deutsch erstens: die Nähme. Nemein bedeutet zweitens: Teilen. Das Substantivum Nomos bezeichnet demnach zweitens die Handlung und den Vorgang des Teilens und Verteilens, ein U r - T e i l und sein Ergebnis. Der erste Sinn des Nomos als eines Nehmens war i n der Rechtswissenschaft lange Zeit i n Vergessenheit geraten. Dagegen ist diese zweite Bedeutung des Nomos als eines ersten, grundlegenden Vorganges der Teilung und Verteilung, der divisio primaeva, bei keinem großen Lehrer des Rechts vergessen. I n dem Buche „Leviathan" des Thomas Hobbes (1651) lautet eine klassische Stelle (Teil I I , of Commonwealth, K a p i t e l 24, of the N u t r i t i o n and Procreation of a Commonwealth): „ D i e Ernährung eines Gemeinwesens besteht i n der Beschaffung u n d Verteilung alles dessen, was zum Leben notwendig ist; Recht u n d Eigentum ist eine Folge dieser Verteilung; das wußte m a n von alters her u n d nannte es Nomos, das heißt: Verteilung (distribution), u n d w i r nennen es Recht (law) u n d bezeichnen es als Gerechtigkeit (justice), daß jeder bei dieser Verteilung das Seine erhält."
Nomos ist also zweitens Recht i m Sinne des Anteiles, den jeder erhält, das suum cuique. Abstrakt gesprochen: Nomos ist Recht u n d Eigentum, d. h. der A n t e i l an den Lebensgütern. Konkret gesprochen ist Nomos z. B. das Huhn, das der unter einem guten König lebende Bauer sonntags i m Topfe hat; das Stück Erde, das er als sein Eigent u m bebaut; das Auto, das ein Arbeiter i n den Vereinigten Staaten von Amerika heute vor seiner T ü r stehen hat. Nemein bedeutet drittens: Weiden. Das ist die produktive Arbeit, die sich normalerweise auf der Grundlage des Eigentums betätigt. Die kommutative Gerechtigkeit des Kaufes und Tausches auf dem M a r k t setzt sowohl das durch eine erste Teilung, die divisio primaeva, entstandene Eigentum, wie auch eine Produktion voraus. Dieser dritte
492
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
Sinn des Nomos erhält seinen jeweiligen I n h a l t durch die A r t u n d Weise der Gütererzeugung und -Verarbeitung. Das Suchen der Weideplätze und das Weiden des Viehes, das Nomaden wie Abraham und Lot betrieben; die Ackerarbeit des Cincinnatus hinter seinem Pfluge; die handwerkliche Schuhmacherei des Hans Sachs i n seiner Werkstatt; die gewerbliche und industrielle Arbeit Friedrich W i l h e l m Krupps i n seinen Fabriken, alles das ist Nemein i m dritten Sinne unseres Wortes: Weiden, Wirtschaften, Nutzen, Produzieren 2 . II Jeder dieser drei Vorgänge — Nehmen, Teilen, Weiden — gehört zum vollständigen Wesen dessen, was bisher i n der Geschichte der Menschen als Rechts- und Gesellschaftsordnung erschienen ist. I n jedem Stadium menschlichen Zusammenlebens, i n jeder Wirtschaftsund Arbeitsordnung, i n jedem Abschnitt der Rechtsgeschichte wurde bisher i n irgendeiner Weise genommen, geteilt und produziert. Vor jede rechtliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung, vor jede Rechts-, Wirtschafts- oder Soziallehre stellt sich deshalb die einfache Frage: Wo und wie wird hier genommen? Wo und wie wird hier geteilt? Wo und wie wird hier produziert? Aber die Reihenfolge dieser Vorgänge ist das große Problem. Die Reihenfolge hat oft gewechselt, ebenso wie die Betonung und Bewertung, die praktisch und moralisch für das jeweilige Bewußtsein der Menschen dem Nehmen, dem Teilen oder dem Produzieren zukommt. Reihenfolge u n d Bewertung ändern sich m i t der Welt- und Geschichtslage i m ganzen, m i t den Methoden der Güter-Beschaffung und Güter-Verteilung und auch m i t dem Bild, das die Menschen sich von sich selbst, von ihrer Erde u n d von ihrer geschichtlichen Lage machen 3 . Bis zur industriellen Revolution des europäischen 18. Jahrhunderts beruhte die Ordnung u n d Reihenfolge eindeutig darauf, daß irgendein Nehmen als selbstverständliche Voraussetzung u n d Grundlage für 2
Das Verbum „ N u t z e n " (auf das mich Johannes Winckelmann aufmerksam gemacht hat) ist besonders treffend, w e i l es P r o d u k t i o n u n d Konsumtion i n sich enthält u n d die problematisch gewordene Antithese von P r o d u k t i o n u n d Konsum umgeht. Das ist zu beachten, auch wenn i m Folgenden der Einfachheit halber öfters n u r von Produzieren gesprochen w i r d . 8 Auch die Sanftmütigen, die nach der Bergpredigt die Erde besitzen werden (Matth. 5,5), kommen für diesen Besitz nicht ohne Landnahme u n d Landteilung aus; das W o r t f ü r ihre A r t von Besitz ist n ä m l i c h : kleronomesousin.
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
das weitere Teilen u n d Produzieren anerkannt war. D a m i t stand für Jahrtausende der menschlichen Geschichte und des menschlichen Bewußtseins die typische Reihenfolge fest. Das Land, der G r u n d und Boden, w a r die erste Voraussetzung aller weiteren Wirtschaft und allen weiteren Rechts. Noch i n der Rechtslehre von K a n t ist als rechtsphilosophische u n d naturrechtliche Wahrheit ausgesprochen, daß die erste Erwerbung einer Sache keine andere als die des Bodens sein kann 4 . Dieses Land, die Grundlage aller Produktivität, muß irgendeinmal durch die Rechtsvorgänger derjenigen genommen worden sein, die es heute besitzen. A m Anfang steht daher das „austeilende Gesetz des Mein u n d Dein eines jeden am Boden" (Kant), also der Nomos i n der Bedeutung der Nähme, konkret gesprochen: der Landnahme. Erst an sie schließt sich die Teilung u n d an sie die weitere Bewirtschaftung an. Die Geschichte der Völker m i t ihren Wanderungen, Kolonisierungen und Eroberungen ist eine Geschichte der Landnahme. Diese ist entweder eine Nähme freien, d . h . bisher herrenlosen Bodens, oder die Eroberung fremden, dem bisherigen Inhaber unter Rechtstiteln des außenpolitischen Krieges genommenen oder m i t Methoden innerpolitischer Ächtung, Entrechtung und VerWirkung neu verteilten Bodens. Immer ist die Landnahme der letzte Rechtstitel für alle weiteren Teilungen u n d Verteilungen und damit für alle weitere Produktion. Sie ist der radical title, nach der Ausdrucksweise von John Locke, der als ein Engländer des 17. Jahrhunderts hier w o h l noch an die Landnahme Englands durch W i l h e l m den Eroberer (1066) dachte. A l l e bekannten u n d berühmten Landnahmen der Geschichte, alle großen Eroberungen, wie sie i n Kriegen u n d Okkupationen, i n Kolonisierungen, Völkerwanderungen u n d Entdeckungen vor sich gegangen sind, bestätigen den fundamentalen Vorrang des Nehmens vor dem Teilen u n d dem Weiden. D i e biblische Erzählung der Landnahme Kanaans durch die Israeliten (Mos. 4, 34 und Josua 11, 23) bietet hierfür auch i n der Darstellung ein klassisches Beipiel. Begreiflicherweise w i r d — nachdem die Teilung einmal vollzogen ist — innerhalb der durch eine solche Landnahme entstandenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung das Teilen stärker betont als das ursprüngliche Nehmen. Das Teilen bleibt stärker i m Gedächtnis als das Nehmen. Dieses w a r zwar Voraussetzung des Teilens und des konkreten A n 4
Vgl. Der Nomos der Erde, 1950, Corollarium 1, S. 18.
494
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
teils, des Kleros. A l l e konkreten Ordnungen u n d Rechtsbeziehungen innerhalb des so genommenen Landes ergeben sich aber erst aus der Teilung, durch die den einzelnen Stämmen, Sippen oder Gruppen u n d auch den einzelnen Individuen ihr Mein u n d Dein zugewiesen worden ist. Auch w i r d begreiflicherweise bei dieser Denk- l i n d Betrachtungsweise fast immer nur an das Endergebnis der Teilung des genommenen Landes gedacht, d. h. a n das konkret erworbene Landlos (den Kleros), an den konkret erworbenen Anteil, nicht aber an den Vorgang u n d das Verfahren der Teilung als solcher. Der Teilungsvorgang selbst ist aber audi als solcher, d. h. i n seinen Maßstäben u n d Verfahren ein wichtiges Problem. Bevor das durch Eroberung, Entdeckung, Enteignung oder sonstwie Genommene geteilt werden kann, muß es gezählt und gewogen werden, gemäß der uralten Reihenfolge: Gezählt / Gewogen / Geteilt. Die geheimnisvolle Schrift an der Wand, die i m 5. K a p i t e l des Buches Daniel erscheint und das oft zitierte Mene-Tekel-Upharsin schreibt, enthält nichts anderes, als die Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden Landnahme u n d Teilung des Landes (der Chaldäer) durch die Meder u n d Perser. Selbst wenn die Zählung und Bewertung des Genommenen beendet ist, w i r f t das Verfahren der Teilung wiederum neue, weitere Fragen auf. I n allen Zeiten entschied hier, d. h. i m U r sprung u n d auf der eigentlichen Grundlage der Rechts- und W i r t schaftsordnung, das Los, also ein Gottesurteil wie der Krieg und die Eroberung selbst. Piaton hat i n den Nomoi (V748) das klassische Modell entworfen. Aber noch ein Aufklärer wie Thomas Hobbes konnte für Fälle wie die erste Teilung behaupten, daß der Entscheidung durch das Los hier naturrechtlicher Charakter zukomme (De Cive Cap. I V § 15)5. * Auch neuzeitliche Gesetze überlassen gelegentlich die Entscheidung dem Los, aber natürlich nicht i m Sinne eines Ordals, sondern entweder als Ausweg aus einer sonst ausweglosen Situation, oder auch als gewollte oder unbewußte F o r m des Lotteriespiels, oder aus anderen Gründen, über welche nachzudenken ein rechts- u n d sozialwissenschaftliches Problem f ü r sich wäre. Als bloßer Ausweg w i r d die Entscheidung durch das Los z.B. i n wahlrechtlichen Bestimmungen benutzt, wenn sich die Stimmen — wie das i m Zeitalter der k n a p p e n M e h r h e i t e n häufig v o r k o m m t — genau die Waage halten. H i e r w i r d man nicht vom „ Z u f a l l " des Loses sprechen dürfen, w e i l eine gemeinsame demokratische Homogenität vorausgesetzt ist, die eine Zustimmung zu jedem Ergebnis des demokratischen Integrationsprozesses zur Basis hat. Dagegen hat die E i n f ü h r u n g der Bestimmung durch das Los i n dem Bundesgesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft v o m 7. Januar 1952 (Bundesgesetzblatt I S. 7) §32 mehr Lotteriecharakter; i m Verfahren über die Zuteilung der Wertpapiere entscheidet hier das Los.
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
III Einer der stärksten Eindrücke, vielleicht sogar der entscheidende Eindruck, den der russische Berufsrevolutionär Lenin als Emigrant während seines Aufenthaltes i n England erhalten hat, stammt nicht aus einer ökonomischen Analyse der Produktionsverhältnisse, sondern aus einer Formulierung des weltpolitischen Programms, das der englische Imperialist Joseph Chamberlain damals, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, verkündete. Lenin hat Reden Joseph Chamberlains gehört, u n d Lenins Schrift über den Imperialismus läßt den tiefen Eindruck noch, erkennen. Der Imperialismus, sagte Joseph Chamberlain, ist die Lösung der sozialen Frage. Das bedeutete damals ein Programm kolonialer E x pansion. D a m i t war der Vorrang des Nehmens vor dem Teilen u n d Weiden ausgesprochen und zwar so, wie es dem Geschichtsbild der bisherigen P o l i t i k seit Jahrtausenden entsprach. Gerade das war i n den Augen des Russen Lenin das geschichtliche Todesurteil über den Imperialismus i m allgemeinen und über den englischen Imperialismus i m besonderen. Denn dieser angelsächsische Imperialismus war für Lenin nur Raub und Beute, u n d schon das Wort Beute genügt für eine moralische Verdammung. Daß dem Teilen und Produzieren die imperialistische Expansion, also die Nähme und insbesondere die Landnahme vorausgehen sollte, war eine Reihenfolge, die einem Sozialisten wie Lenin schon i n sich selbst mittelalterlich, u m nicht zu sagen atavistisch, reaktionär, fortschrittsfeindlich u n d schließlich unmenschlich vorkommen mußte. Lenins moralischer Entrüstung wurde es nicht schwer, i n dem Arsenal der progressistischen sowohl wie der marxistischen Geschichtsphilosophie zahlreiche vernichtende Argumente gegen einen derartig reaktionären Feind zu finden, der anderen Menschen etwas nehmen wollte, während Lenins eigenes Bestreben doch nur dahin ging, Produktivkräfte zu entfesseln u n d die Erde zu elektrifizieren. Hier ist der Punkt, an dem sich der Sozialismus m i t der klassischen Nationalökonomie und ihrem Liberalismus t r i f f t . Denn auch der gesellschaftswissenschaftliche und geschieh tsphilosophische Kern des Liberalismus betrifft die Reihenfolge von Produzieren und Verteilen. Fortschritt und wirtschaftliche Freiheit bestehen darin, daß die ProHans P. Ipsen, Rechtsfragen der Investitionshilfe (Archiv des öffentlichen Rechts, Band 78, 1953, S. 330), sieht darin wohl mit Recht eine verfassungswidrige Regelung der Entschädigungsfrage.
496
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
duktionskräfte frei werden und daß dadurch von selbst eine solche Steigerung der Produktion u n d der Masse der Konsumgüter eintritt, daß das Nehmen aufhört und sogar das Teilen kein selbständiges Problem mehr bedeutet. Der Fortschritt der Technik führt offensichtlich zu einer unabsehbaren Steigerung der Produktion. Wenn aber genug und sogar mehr als genug vorhanden ist, dann erscheint es als Atavismus u n d Rückfall i n das p r i m i t i v e Beuterecht einer MangelEpoche, i m Nehmen die erste, fundamentale Voraussetzung der w i r t schaftlichen und sozialen Ordnung zu erblicken. Der Lebensstandard w i r d immer höher, das Teilen w i r d immer leichter, immer ungefährlicher, u n d das Nehmen ist dann schließlich nicht nur unmoralisch, sondern auch i n einem ökonomischen Sinne irrational und geradezu sinnwidrig. Der Liberalismus ist eine Lehre von der Freiheit, der Freiheit w i r t schaftlicher Produktion, der Marktfreiheit u n d vor allem auch der Königin aller wirtschaftlichen Freiheit, der Konsumfreiheit. Auch der Liberalismus löst die soziale Frage m i t dem Hinweis auf die Steigerung der Produktion u n d des Konsums, beides Steigerungen, die sich aus der wirtschaftlichen Freiheit u n d den ökonomischen Gesetzen schließlich von selbst ergeben sollen. Der Sozialismus dagegen stellt die Soziale Frage als solche und w i l l sie als solche beantworten. Was ist also die Soziale Frage? I n welcher Reihenfolge der drei Grundkategorien des Nomos bewegt sie sich? Ist sie i n ihrem Kern eine Frage des Nehmens, eine Frage des Teilens oder des Produzierens? Sie ist i n ihrem Kern eine Frage der richtigen Teilung und Verteilung, und der Sozialismus ist dementsprechend vor allem eine Lehre vom Neu-Verteilen. Nicht erst der radikale Sozialismus oder der Kommunismus, sondern schon der Begriff des Sozialen, den alle politischen Parteien der heutigen Demokratie i n Europa irgendwie, wenigstens als A d j e k t i v , übernommen haben, n i m m t auf eine Teilung und Neuverteilung Bezug. Gegenwärtig erleben w i r i n Deutschland eine lebhafte Diskussion nicht nur über die soziale Marktwirtschaft, sondern auch über die verfassungsrechtliche Frage, was der soziale Bundesstaat und der soziale Rechtsstaat, den das Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik (Art i k e l 20 und 28) konstituieren w i l l , eigentlich bedeutet 6 . Auch i n j u r i 6
Das Schrifttum bei Christian Friedrich Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaates i m Bonner Grundgesetz (Recht u n d Staat Nr. 173), Tübingen 1953, u n d bei Günter D ü r i g , Verfassung u n d V e r w a l t u n g i m Wohlfahrtsstaat, Juristenzeitung Nr. 7/8 (15. A p r i l ) 1953, S. 196. Menger w i l l allerdings
Nehmen / Teilen / W e i d e n (1953)
497
stischen Versuchen einer Definition dieses vieldeutigen Wortes sozial erscheinen die Vorstellungen von Teilung und Neu-Verteilung doch immer wieder bestimmend. So sagt ein hervorragender Vertreter des deutschen Verfassungsrechts, Hans Peter Ipsen, i n einem berühmt gewordenen Referat über Enteignung und Sozialisierung (Oktober 1951): Dabei verstehe ich i n bezug auf die Eigentumsverfassung, die hier als Ausschnitt der Sozialordnung zur Erörterung steht, unter Gestaltung der Sozialordnung die Neu- u n d Andersgestaltung der Eigentumsherrschaft bis hin zu seiner Neuverteilung.
Zum Begriff der Sozialisierung heißt es, daß Sozialisierung i m unverfälschten, noch nicht durch Verfassungsnormen gebändigten u n d juridifizierten, damit ihrer eigentlich revolutionären Bedeutung entkleideten Sinne die planmäßige Umgestaltung der wirtschaftlichen Eigentumsordnung zu künftiger Teilhabe bisheriger Nichtteilhaber postuliert (S. 75).
Ferner: Wenn der — von der D o g m a t i k unserer geltenden Unternehmensverfassung aus betrachtet — juristisch indifferente Begriff der Vergesellschaftung einen Sinn gewinnen soll, der zugleich dem historisch u n d wirtschaftsden Begriff des Sozialen auf eine bloße „gegenseitige Rücksichtnahme" reduzieren, w e i l der Grundgesetzgeber „den Verzicht auf den Wohlfahrtsstaat bewußt i n K a u f genommen" habe. Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. I , Tübingen 1953, S. 37, meint, die Sozialstaatsklausel der A r t . 20, 28 G G enthalte nur den „sozialen Generalvorbehalt", der die wirtschaftliche Freiheit dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit, d . h . der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle, unterwerfe. Die zusammenfassende u n d abschließende verfassungsrechtliche Behandlung des Problems ist von Ernst Forsthoff zu erwarten. (Zusatz 1957: Inzwischen als Referat u n t e r dem T i t e l „Begriff u n d Wesen des sozialen Rechtsstaates4* 1954 ersdiienen; vgl. B e m e r k u n g 1, oben S. 230, und B e m e r k u n g 4, u n t e n S. 503.) I m übrigen darf man für den deutschen Sprachgebrauch nicht außer acht lassen, daß das W o r t sozial i m Deutschen ein Fremdwort bleibt, zum Unterschied von den romanischen Sprachen u n d auch vom Englischen. I n diesen Sprachen k a n n das W o r t seinen allgemeinen, nicht spezifisch sozialistischen Zusammenhang m i t societas, societe, society eher bewahren als i m Deutschen. M a n versuche n u r einmal, Disraelis social sorcery ins Deutsche zu übersetzen! Doch ist hier eine Äußerung des hervorragenden französischen Juristen Georges Ripert (Le declin d u droit, Paris 1949, p. 39) zu beachten, der die Redensart socialisation du droit für sinnlos erklärt, dann aber fortfährt: aber auch solche Sprachgewohnheiten haben ihre Bedeutung: das Wort „social" bezeichnet eine Partei, eine P o l i t i k , eine D o k t r i n , eine Literatur, eine Kammer des Kassationsgerichtshofes u n d sogar eine Sektion des Staatsrates; es k a n n also auch dazu dienen, ein droit social zu bezeichnen. I n der Sache handelt es sich darum: de proteger les uns et de desarmer les autres. 32 Carl Sdimitt
498
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
politisch entstandenen Postulat der Sozialisierung entspricht, so verlangt er die Ablösung der individuellen, auf Eigennutz gerichteten u n d nur den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Eigentumsbindungen unterworfenen Eigentumsherrschaft mindestens durch eine Mehr- (Plural-, Mit-) Herrschaft, k r a f t deren bislang von der Eigentumsherrschaft ausgeschlossene soziale Gruppen künftig an ihr beteiligt werden (S. 106).
Aber gerade w e i l der Sozialismus die Frage der sozialen Ordnung i n aller Direktheit und i n ihrem gesamten Umfang als eine Frage des Teilens u n d Verteilens a u f w i r f t , stößt er wieder auf das alte Problem der Reihenfolge u n d Bewertung jener drei Urvorgänge des menschlichen Zusammenlebens und Wirtschaf tens. Auch der Sozialismus k a n n der Grundfrage des Nehmens, Teilens und Weidens und der Problematik ihrer Reihenfolge nicht entgehen. I m Lichte dieser Grundfrage enthüllen sich dann die starken Verschiedenheiten und sogar Gegensätze, die zwischen den zahlreichen Doktrinen und Systemen obwalten, die sämtlich unter der gemeinsamen Benennung sozialistisch kursieren u n d denen trotz ihrer Verschiedenheit sämtlich das Recht der sozialistischen Flagge zuerkannt wird. E i n Sozialist wie Charles Fourier ist hier ein besonders einfacher Fall. F ü r i h n gehen alle Probleme des Nehmens und Teilens i n einer phantastischen Produktionssteigerung unter. Er gilt deshalb als Utopist; doch sollte man nicht außer acht lassen, daß er gerade m i t diesem angeblichen Utopismus für die Beantwortung der Grundfragen eine klare Position bezieht u n d die zeitgeschichtliche Bindung des Sozialismus an das Geschichtsbild des technischen Fortschritts und seiner grenzenlosen Produktionssteigerung bestätigt. Anders Proudhon. Er argumentiert, m i t einem stark moralischen Pathos, vor allem ii\ den Kategorien von Recht und Gerechtigkeit. Sein Sozialismus ist deshalb wesentlich eine Teilungs- und Verteilungslehre. Die Erhebung des Produzenten über den Konsumenten, des Arbeiters über den bloßen Esser, w i r d auf moralische Werturteile abgestellt. Die Menschheit ist noch nicht, wie später bei Georges Sorel, nach Freund und Feind i n Produzenten u n d bloße Konsumenten gespalten. Proudhon ist ein Moralist, auch i m spezifisch französischen Sinne des Wortes. F ü r i h n w i r d das Nehmen zu einer Folge und Begleiterscheinung des gerechten Teilens u n d Verteilens, durch das die echten Produzenten die bloßen Konsumenten ihres angemaßten Eigentums entkleiden. Demgegenüber argumentiert der Sozialismus von K a r l M a r x nicht moralisch, sondern i n geschichtsphilosophischer D i a l e k t i k . Natürlich verzichtet er nicht auf den Nachweis des Unrechts beim Gegner. Er
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
499
verzichtet auch nicht auf die intensive moralische Entrüstung, weder gegenüber dem offenen Beutemachen des Frühkapitalismus der Piratenzeit, noch gegenüber den versehleierten Formen des Nehmens, in denen sich die Aneignung des vom Arbeiter produzierten Mehrwertes durch den Kapitalisten vollzieht. Geschichtsphilosophisch aber konstruiert M a r x die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung als eine — m i t der wachsenden Produktion wachsende — Situationswidrigkeit der Verteilung, als eine der geschichtlichen D i a l e k t i k i m Wege stehende ökonomische Sinnwidrigkeit, die sich schließlich selber aufhebt u n d zerstört 7 . Die tiefe Verschiedenheit eines Sozialismus, dessen Kerngedanke geschichtsphilosophisch ist, gegenüber einem anderen Sozialismus, der i m Kern moralisch argumentiert, w i r d hier i n der verschiedenen Reihenfolge und Bewertung des Nehmens, Teilens und Produzierens sichtbar. D i e geschichtsphilosophische D i a l e k t i k der weltgeschichtlichen Entwicklung gibt demjenigen, der auf der Seite der kommenden Dinge liegt, das große geschichtliche Recht zu nehmen, was er i m Grunde schon hat. Das folgende Teilen und das spätere Weiden sind dann Fragen, über die man sich nicht aufzuhalten braucht, solange die große Nähme noch nicht vollzogen ist. M a r x übernimmt u n d steigert die progressistische Behauptung von der unabsehbaren Steigerung der Produktion, die dem fortschrittlichen Liberalismus wesentlich ist. Demzufolge k a n n er die Frage der konkreten Teilung und Verteilung als eine spätere Sorge behandeln. Die ganze Wucht des akuten Angriffs konzentriert sich bei M a r x auf die Expropriation der Expropriateure, d . h . auf den Vorgang des Nehmens. A n die Stelle des alten Beuterechts und der p r i m i t i v e n Landnahmen vorindustrieller Zeiten t r i t t jetzt die Inbesitznahme der gesamten Produktionsmittel, die große moderne Industrie-Nahme. Daran müßte sich eigentlich die naheliegende Frage anschließen, wie denn nun die konkrete Teilung und Verteilung der neuen Appropriationschancen vor sich gehen werden. Denn m i t der Expropriation der alten Eigentümer eröffnen sich doch von selbst neue Appropriätionsmöglichkeiten, u n d zwar i n ungeheurem Maße, gleichgültig, ob sie als 7 M a x Weber hat i n „Wirtschaft u n d Gesellschaft" an einer bekannten Stelle, die auch durch ihre Stellungnahme zu dem W o r t „Gemeinwirtschaft" berühmt geworden ist, einen „Rationierungs-Sozialismus" (der sich, w i e M a x Weber sagt, m i t einem „Betriebsrats-Sozialismus" gut verträgt) von einem evolutionistischen Sozialismus unterschieden (Wirtschaft u n d Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 61).
32»
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
Eigentum oder als Sozialfunktion bezeichnet werden. Aber diese naheliegende Frage w i r d nicht mehr konkret beantwortet, obwohl sie interessant genug ist. Sie w i r d als unwissenschaftlich abgelehnt. Ebensowenig w i r d die konkrete Frage nach der Fortsetzung und Gestalt der nach der großen Industrie-Nahme von selbst eintretenden ungeheuren Steigerung der Produktion zugelassen. Das Beutemachen soll zwar aufhören, aber das Nehmen als Voraussetzung des neuen Teilens hört eben doch nicht auf. Wenn das Wesen des Imperialismus i m Vorrang des Nehmens vor dem Teilen und dem Produzieren liegt, dann ist eine solche D o k t r i n der Expropriation der Expropriateure offenbar stärkster, weil modernster Imperialismus. Schaffen w i r alles Nehmen ab, weil es unmenschlich und geschichtlich überholt ist! Führen w i r a u d i das Teilungsproblem auf ein Mindestmaß zurück, w e i l es allzu schwierig ist, hierfür nicht nur allgemeine Grundsätze, sondern auch überzeugende konkrete Maßstäbe und rechtlich vollziehbare Verfahren zu finden! D a n n bleibt nur noch das Weiden, das Produzieren. Es gehört zur Genialität mancher Doktrinäre, den Blick vom Nehmen und vom Teilen auf die reine Produktion zu lenken. Aber offenbar enthalten alle von der bloßen Produktion her konstruierten Sozial- und Wirtschaftssysteme etwas Utopisches. Wenn es tatsächlich nur noch Produktionsprobleme gibt und das reine Produzieren einen solchen Reichtum und so unabsehbare Konsummöglichkeiten schafft, daß sowohl das Nehmen wie das Teilen keine Probleme mehr sind, dann hört auch das W i r t schaften i m eigentlichen Sinne auf, w e i l Wirtschaften immer noch eine gewisse Knappheit voraussetzt. Unsere Bemerkungen zum Sozialismus und Imperialismus sind nur als Beispiel gemeint, um die Brauchbarkeit jener drei Grundbedeutungen des Nomos u n d das Problem ihrer Reihenfolge anzudeuten. Angesichts der großen u n d bedeutenden Literatur, die allein schon zu den beiden großen Themen Sozialismus und Imperialismus vorliegt, könnte es als allzu einfach, j a p r i m i t i v erscheinen, wenn w i r hier für den Imperialismus die Seite des Nehmens so nachdrücklich betonen. Das wäre w i r k l i c h überflüssig u n d nicht viel mehr als eine Wiederholung der vorzüglichen Analyse und Prognose, die Carl Brinkmann (in seinem Imperialismus-Aufsatz der Festgabe für L u j o Brentano S. 87/88) schon 1925 gegeben hat, als er sagte: „Imperialismus ist j a eben großenteils der i m weitesten Sinne technische K a m p f m i t diesen Gesetzen (sc. den Ertrags- u n d Bevölkerungsgesetzen der klassischen Nationalökonomie) selbst u n d n i d i t allein der K a m p f u m die
Nehmen / Teilen / Weiden (1953) ihnen unterstehenden Futterplätze. Aber es fehlt doch nirgends an A n zeichen, daß auch dieser zweite, primitivere K a m p f i m Vordergründe der Weltwirtschaft stehen w i r d . "
Zweifellos t r i f f t das zu. AbeT es kommt uns hier noch auf etwas Weiteres an: auf das stets vorhandene Nebeneinander, die Reihenfolge und die wechselnde Bewertung der drei Grundkategorien des Nehmens, Teilens und Weidens, die i n jedem konkreten Nomos enthalten sind und m i t verschiedener Bewertung u n d Reihenfolge allen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystemen latent innewohnen, u m dann i n einem oft überraschenden Wechsel doch immer wieder von neuem virulent zu werden. Das wissenschaftliche Anliegen, das uns bewegt, w i r d am besten erkennbar, wenn w i r die alles umgreifende aktuelle Frage, die sich heute für jede rechts wissenschaftliche Betrachtung erhebt, unter unsere drei iVomos-Kategorien bringen: die Frage nach dem heutigen Stande der Einheit der Welt. Haben die Menschen ihre Erde heute w i r k l i c h schon als eine Einheit so „genommen", daß tatsächlich nichts mehr zu nehmen bleibt? H a t das Nehmen heute w i r k l i c h schon aufgehört, und gibt es jetzt tatsächlich nur noch Teilen und Verteilen? Oder gibt es vielleicht sogar nur noch Produzieren? D a n n fragen w i r weiter: wer ist der eine große Nehmer, dieser eine große Teiler u n d Verteiler unseres Planeten, der Lenker u n d Planer der einheitlichen Weltproduktion? Schon diese A r t der Frage ist geeignet, uns vor manchem ideologischen Kurzschluß zu bewahren. Weit verbreitete und überaus schlagkräftige, aber wissenschaftlich durchaus oberflächliche Vereinfachungen sind hier a m Werk. Sie suggerieren uns fiktive Einheiten. Ihre Vereinfachungen lassen sich nur durch die tiefere Einfachheit ursprünglicher Begriffe überwinden.
Dieser Aufsatz w u r d e i n der Zeitschrift Gemeinschaft u n d P o l i t i k , Jahrgang 1, Heft 3 (Verlag des Instituts für Geologie u n d P o l i t i k , Bad Godesberg) i m November 1953, u n d i n der Revue Internationale de Sociologie, Rom (Fratelli Bocca Editori) H e f t 1, 1954 veröffentlicht. Er ist als 7. Corollarium zum Nomos der Erde gedacht. D i e ersten f ü n f Corollarien sind i n dem Buch „ D e r Nomos der Erde" (Greven Verlag Köln, 1950, S. 13 bis 51) abgedruckt. Das 6. C o r o l l a r i u m „Über die phonetische Bedeut u n g des Wortes Raum" steht i n der Erinnerungsgabe „ T y m b o s für W i l h e l m A h l m a n n " (Verlag de G r u y t e r & Co., Berlin 1950). Eine Betrachtung über den „Neuen Nomos der Erde" erschien i n der Sammlung Lebendiges W i s s e n N . F . S. 281 bis 288, herausgegeben von Heinz Friedrich, A l f r e d K r ö n « Verlag Stuttgart, 1956.
502*
Nehmen / Teilen / Weiden (1953)
1. D i e A n k n ü p f u n g an das griechische W o r t Nomas führt zu philologischen Erörterungen, die hier keineswegs Selbstzweck sind, sondern einer rechts- u n d verfassungstheoretischen Betrachtung dienen. Umgekehrt werfen unsere rechts- u n d verfassungstheoretischen Erwägungen neues Licht auf den ursprünglichen Sinn des alten Wortes Nomos u n d seine Veränderungen durch Sophistik u n d Normativismus. Das gilt auch für die Bedeutung des Wortes i m A l t e n und i m Neuen Testament. Der Gegensatz von vor-exilischem u n d nach-exilischem Nomos w i r d jetzt fundamental; dazu M a r t i n Noth, Das Gesetz i m Pentateuch u n d andere Aufsätze i n seinen Gesammelten Studien zum A l t e n Testament (Chr. Kaiser Verlag, München 1957). D i e Behauptung Philos von Alexandrien, die 1800 Jahre nachgesprochen worden ist u n d noch i n Bodins Methodus u n d Pascals Pensees wiederholt w i r d , nämlich daß das W o r t Nomos (mit dem Akzent auf der ersten Silbe) bei Homer nicht vorkomme, erscheint jetzt i n einem klareren Licht. Doch bleibt zu beachten, daß unsere rechts- u n d verfassungstheoretischen Erkenntnisse nicht an die Wechselfälle philologischer Streitfragen gebunden sind. Das gilt auch für die philologischen Meinungsverschiedenheiten darüber, ob das deutsche W o r t „Nehmen" w i r k l i c h auf die alte, griechische Wurzel N E M zurückgeht; vgl. E. Laroche, Histoire de la Racine N E M en Grec ancien, Paris, L i b r a i r i e Klincksieck, 1949. Nach F. Heinimann (a.a.O. S. 59) ist „das V e r b u m Nemein u r v e r w a n d t m i t deutsch Nehmen". Der Aufsatz ist durch Antonio T r u y o l y Serra ins Spanische übersetzt worden (in dem Boletin I n f o r m a t i v o del Seminario de Derecho Politico der Universität Salamanca, 1955) m i t dem T i t e l : Appropiacion, Particion, Apacentamiento. Schon diese Übersetzung des Titels zeigt, welchen Schwierigkeiten eine Übertragung deutscher Worte wie „ N ä h m e " u n d „Weiden" begegnet, wenn sie auf die verfestigten T e r m i n i der romanischen Sprachen stößt. Das g i l t allgemein f ü r das W o r t Nomos. W i r zitierten bereits (oben S. 427) den Ausspruch des Romanisten A l v a r o d'Ors, daß Ciceros Übersetzung des griechischen Wortes Nomos durch das lateinische W o r t Lex zu den schwersten Belastungen unserer occidentalen Kultursprache gehört. Doch hat das W o r t „Nehmen" u n d „Nähme" jedenfalls i m Französischen noch eine ursprüngliche K r a f t bewahrt, so i n „prendre une v i l l e " u n d „prendre une femme". I m Völkerrecht des Seekrieges hat sich die „gute Prise" erhalten, die i n den deutschen Prisenordnungen m i t „Wegnahme" des Schiffes übersetzt wurde. Durch die nach-exilisclie u n d die nach-sophistische Normativierung des Wortes Nomos Sind die wichtigsten Einsichten verschüttet worden. A n den sprachlichen Zusammenhang von Nehmen und Wahrnehmen, prendre u n d coitiprendre sei hier wenigstens erinnert. 2. Wenn große Philosophen, wie Thomas von A q u i n u n d Thomas- Hobbes, den A n f a n g jeder Rechtsordnung i n einer ersten T e i l u n g — einer divisio primaeva — erblicken, so bedarf dieser Gesichtspunkt einer Ergänzung: Der Teilung u n d Verteilung, also dem Suum cuique, geht die Nähme der zu verteilenden Masse, demnach eine occupatio oder appropriatio primaeva voraus. D i e K o n t i n u i t ä t einer Verfassung ist so lange erkennbar, wie der Regreß auf diese erste Nähme erkennbar u n d anerkannt ist. Auch bei jeder umfassenden Planung w i r d geteilt, eingeteilt, verteilt u n d das zu Teilende vorher genommen, sei es n u n G r u n d u n d Boden, P r o d u k t i o n s m i t t e l , A r b e i t s -
Nehmen / Teilen / Weiden (1953) k r ä f t e u n d Arbeitsplätze, das Sozialprodukt oder die V e r f ü g u n g über die die W ä h r u n g . 3. D i e Weltgeschichte ist eine Geschichte des Fortschritts - r oder vielleicht auch n u r des Wandels — i n den M i t t e l n undi Methoden der Nähme: von der Landnahme nomadischer u n d agrarisch-feudaler Zeiten, zur Seenahme des 16./17. Jahrhunderts, über die Industrienahme des industrielltechnischen Zeitalters u n d seine Unterscheidung von entwickelten u n d unentwickelten Gebieten, bis schließlich zur L u f t - u n d Raum-Nahme der Gegenwart. Das O d i u m des Kolonialismus, das heute die europäischen Völker t r i f f t , ist das O d i u m des Nehmens; vgl. K a r l M a r x , Das K a p i t a l , 24. Kapitel, insbesondere seine A n m e r k u n g 2 zu diesem Kapitel, wo er m i t besonderm Vergnügen das „Lehrgespräch" Goethes zitiert: Lehrer: Bedenk, o K i n d , woher sind diese Gaben? D u kannst nicht alles v o n dir selber haben. K i n d : Ei, alles hab' ich vom Papa. Lehrer: U n d der, woher hat's der? K i n d : V o m Großpapa. Lehrer: Nicht doch! Woher hat's denn der Großpapa bekommen? K i n d : Der hat's genommen. 4. Der hier abgedruckte Aufsatz b e t r i f f t eine verfassungstheoretische Seite des Nomos-Problems, deren Bedeutung akut w i r d , sobald die wichtigste F u n k t i o n des Staates i n der Verteilung oder Umverteilung des Sozialprodukts besteht. Das ist der F a l l i n industrialisierten Ländern beim Verwaltungsstaat der Massen-Daseins Vorsorge; dazu das Referat von Ernst Forsthoff, Begriff u n d Wesen des sozialen Rechtsstaates, vgl. oben S. 230 u n d S. 497. Bevor ein solcher Staat das Sozialprodukt verteilt oder umverteilt, muß er es nehmen, sei es durch Steuern u n d Abgaben, sei es durch V e r t e i l u n g der Arbeitsplätze, sei es durch Geldentwährung oder auf andere direkte oder indirekte Weise. I n jedem F a l l sind die Verteiler u n d Umverteilerpositionen echte politische Machtpositionen, die ebenfalls genommen u n d verteilt werden. Die Frage des Nehmens ist auch hier noch keineswegs entfallen. „Eine Verfassung, die sich i n der Hauptsache als eine Prozeßordnung für die Verteilung des Sozialprodukts betrachtet, ist keine mehr." Dieser Satz steht i n der oben S. 261 genannten Zeitschrift Civis v o m 31. J u l i 1957. Wäre es w i r k l i c h schon soweit, dann läge das pessimistische U r t e i l nahe, das Georges Burdeau 1956 für den Verfassungsbegriff gefällt hat: Une survivance: l a n o t i o n de Constitution; vgl. oben S. 231. I m Jahre 1957 stellte Werner Weber fest: „. . . die wissenschaftliche Diskussion ist des Problems der Sozialstaatsklauseln der A r t . 20 u n d 28 G G noch nicht Herr geworden" (Die Verfassung der Bundesrepublik i n der Bewährung. MusterschmidtVerlag, Göttingen, 1957, S. 13). 5. I n einem Vortrag vom 18. Januar 1957 prägte Alexandre Kojeve i m H i n b l i c k auf den neuen Nomos der Erde (oben S. 385) den Ausdruck „gebender Kapitalismus". D a m i t sollte gesagt werden, daß der moderne, fordistisch aufgeklärte Kapitalismus, der auf die Steigerung der K a u f k r a f t der Industriearbeiter u n d industrielle Entwicklung der industriell unter-
Nehmen / Teilen / Weiden (1953) entwickelten Gebiete bedacht ist, etwas wesentlich anderes bedeutet, als der n u r nehmende Kapitalismus, den K a r l M a r x i m Auge hatte. E» wurde Kojeve erwidert, daß k e i n Mensch geben k a n n , ohne irgendwie genommen zu haben. N u r ein Gott, der die Welt aus dem' Nichts erschafft, k a n n geben ohne zu nehmen, u n d auch er nur i m Rahmen der von i h m aus diesem Nichts erschaffenen W e l t .
Namenverzeichnis Ablaß, Abg. 20 f., 64, 65 Alvarez, Suarez U. 393, 395 Anson, W . 19, 26 Anschütz 83, 113, 141, 143, 145 f., 150, 160, 164/5, 181 f., 184, 187/9, 199, 202, 208, 218, 221, 278, 279/80, 301, 323, 336, 345 A r e n d t , Hannah 366 Aristoteles 266/7, 427 Austin, J. 425 Bachof (180 Bachofen, J. J. 394, 416 B a k u n i n 418 Ballerstedt, K. 347/8 B a r i n g 180 Barion, H. 449 Bauer, Bruno 418 Beckerath, E. von 361 B e l l a r m i n 379 Below, G. v o n 384 Bentham, J. 425 Berle, A d o l f A . 231 Bertram, A . 72, 81 Beyerle, F. 401, 417 Bilfinger, C a r l 39, 75, 91/2, 93, 221, 301, 311 Binder, J. 428 Binding, K a r l 403, 405 Bismarck 29 f., 389, 402, 430, 438 Bodin, Jean 376 f., 422, 502 Böckenförde, E.-W, 448 Boehmer, Gustav 160, 216 Bonnecase, J. 424 B r a n d 174 f., 190, 214, 253, 256 Brecht, Bert 450 Bredt 95, 197, 353 Breitscheid, Abg. 352 B r i n k m a n n , C a r l 76, 383, 500 Brüning, H., Reichskanzler 28 Brunner, O t t o 384 Bruno, Giordano 380 Brzezinski 172, 366 Bugnet 424 Bühler, O. 181, 199, 208, 256, 301 Burckhardt, J. 418 Burdeau, G. 231, 348, 385, 503 Bynkershoek 381 Cabral de Moncada 426 C a p r i v i , Reichskanzler 29 Carre de Malberg 282
Castruccio Castracani 378 Chamberlain, Joseph 495 Cicero 427, 502 Civis Zeitschrift 261, 503 Cohn, K u r t 242 Comte, Auguste 411 Conde, Javier 412 Constant, B e n j a m i n 343 Cucumus 200 Daniels, H. 174, 253, 256 Daskalakis, Georg 407 Delbrück, Abg. 196 Delius 209 D e n n e w i t z 189 D i c e y 19 D i s r a e l i 497 Dohna, G r a f zu 150i Donellus 422 Donnedieu de Vabres 387 D u g u i t 406 D ü r i g , Günter 119, 122 D ü r i n g e r , Abg. 199 Ehmke, Horst 138 Eickel 252, 256 Eisenmann, Ch. 64, 79 Emig, K u r t 407 Engels, Friedrich 418 Esmein 406 Esmein-Nezard 18 Fabre-d'Olivet 449 Ferrero, E. 449 Fischbach 180 Fleiner, F. 181, 184, 192 Förster-Eccius 403 Forsthoff, Ernst 118, 121, 139, 143, 150, 153, 172, 180, 230, 347, 384. 428, 497, 503 Fourier, Ch. 498 Fraenkel, E. 332 Fragistas 387 Freyer, Hans 371 F r e y m u t h 236 Freytagh-Loringhoven, A. v o n 181, 355 Friedrich, C a r l J. 262, 366 Friesenhahn, E. 150, 175, 214, 252 Gajzago, L. v o n 395 Galiani, Abbe 381
506
Namenverzeichnis
G a l i l e i 380 Gardiner, C. Means 231 Gäthgens 407 Gebhard 352 Gehlen, A . 138, 172, 451 Gentiiis, A l b e r i c u s 395, 422 Georgescu, Yal.-A. 393 Gerber, H. 150, 175, 181, 204, 221, 272, 301 Giese, Friedrich 143, 150, 160, 175, 181, 189/90, 202, 206, 214, 253, 351/2 G l u m , F r . 144 Gneist, R, 68, 78 Goebel, Julius 389 Goethe 369, 409, 503 Goldschmidt, James 69 Grau, R. 65, 77, 332 Grewe, W . 462 Guenther, A . E. 371 Guggenheim, P. 137 G u t z w i l l e r , M a x 409 Haentzschel, K . 170, 171, 181, 209, 210, 236, 303 Hardenberg, Staatskanzler 430, 437 H a r r i n g t o n 63 H ä r t u n g , F r i t z 34 Hatsdiek-Kurtzig 181 H a u r i o u , M. 172, 311, 406, 424 Hauser, H e n r i 380 Hegel 58, 194, 228, 427 f., 449 H e i n i m a n n , F e l i x 489, 502 H e l l e r , H. 67, 197, 384 Hennis, W . 262, 366 Hensel, A l b e r t 96, 111, 144, 181, 197, 211 222 H e y l a n d , C a r l 462 H e w a r t , L o r d 406 H i d i m i , A k a g i 390 H i l f e r d i n g , Reichsminister; 245 Hindenburg, Reichspräsident 350, 365, 450 H i p p e l , F. v o n 211 Hirsch, Emanuel 197 H i t l e r , A . 28, 350, 431 f., 450 Hobbes, Th. 58, 451 Hofacker, W . 65, 161, 181, 193, 2t6, 219 222 Holstein, G. 150/1, 181, 197, 205, 228 H o l t k o t t e n , H. 109 H u b e r , E. R. 118, 121, 155, 172 H u b e r , Eugen 401 Hughes, Ch. E. 81 Husserl, G. 275 Ipsen, H. P. 476, 497 f. Isay, E. 208 Jacobi, E r w i n 242, 301, 313/4, 458 James, W i l l i a m 76 Jellinek, Georg 181, 199, 207
Jellinek, W a l t e r 70, 77, 85/6, 161, 165, 177, 208/9, 221, 255, 301, 318, 336 ess 189 eze, G. 67 hering, R. 404, 409, 416 oseph-Barthelemy 19 ouvenel, B e r t r a n d de 451 Kaas, Abg. P r ä l a t 349/50, 450 Kaiser, Joseph H . 109, 385 Käser 393 Kaufmann, E. 84, 97, 182, 197 K e l l e r , R. v o n 182, 190 Kelsen, H. 73, 74, 76, 77, 80, 182, 284 Kempner, Robert 437, 448 Kern, Ernst 180, 384 Keynes, E. 28, 109 Kirchheimer, O t t o 99, 161/2, 168, 182, 192, 195, 262, 269, 346, 366, 488 Kirchmann, J. H . von 399, 406 K l e i n , Friedrich 28, 171/2, 173, 231, 487 K l e i n , K . H. 139 K l i ö k o v i c , Sava 122 Koch, Abg. 140, 196 K o e l l r e u t t e r , O t t o 17, 20, 157, 180, 301, 303, 434 Röttgen, A . 180 Kojeve, A . 385, 503 Koschaker 394, 417 Krieck, Ernst 205 K r ü c k m a n n 111, 113, 116, 163 K r ü g e r , H. 180 K ü h n e m a n n 328 Laband 279 Laberthonniere, P. 440, 445, 448 Lambert, Ed. 79, 92, 405 Lamennais 424 Lammers, H. H. 20, 184, 432 f. Landauer, C. 206, 216 Lande, W . 157 Larenz, K . 428 Laroche, E. 502 Lassar, G. 144, 150, 175, 214 Laski, H a r o l d J. 76 Leibholz, G. 93, 165, 211 Lenel, Otto 142, 225 L e n i n 346, 428, 447, 450 Leroy, M a x i m e 402 L i e r m a n n 203 Liszt, Franz v o n 404 Lobe, Reichsgerichtsrat 253 Locke, John 349 Loewenthal 95 Loewenstein, K a r l 144, 150/1, 153, 181, 203, 214, 222, 301, 333 L o r i m e r 389 Louis Philippe 449 Luetgebrune 197 Lukäcs, Georg 425/6, 450
Namenverzeichnis Lundstedt, A . 399 L u t h e r , Hans 58 M a c d i i a v e l l i 377 M a i w a l d , Serge 383, 427 M a i t l a n d 18 Mangoldt, H. v o n 423; K o m m e n t a r v. Mangoldt-Klein 48, 173, 231, 262, 487 M a n n h e i m 222 Mareks, Erich M a j o r 349 M a r x , K a r l 261, 428, 498, 503 M a r x , W i l h e l m , Reichskanzler 13 f., 16 f. Marshall, Chief Justice 88, 90 Mausbach 197 Mayer, O t t o 80, 132, 288, 397 Meinecke, F r . 99 Menger, Chr. Fr. 496 Michelet, Jules 449 Mohl, Robert v o n 63, 403 Morstein, M a x 65/66, 86, 236 Mott, Rodney L. 423 M ü g e l 253 M u m m , Abg. 152 Nadolski, F. 182, 193, 207 Napoleon I I I . 445, 449 Naumann, Friedrich 194, 195, 199, 374/5 N a w i a s k y , H. 77, 181 Neefie, G. 399 Neumann, Franz 118, 168, 182, 196/7, 198 Nietzsche 428 Noth, M a r t i n 502 Orlando, V. E. 397 d'Ors, A l v a r o 393, 394, 427, 502 d'Ors, Eugenio 426 Ott, Eugen, M a j o r 349 Pascal, Blaise 502 Partsch, Jos. 396 Peters, Hans 217, 433 Petersen, Abg. 237 Pfeiffer, B. W . 408 P h i l o v o n A l e x a n d r i e n 502 Piggott, Francis 396 P i l o t y 200 P i a t o n 267, 427 Pöchl, W . 449 Poetzsch-Heffter 143, 160, 164, 174, 181, 202, 253, 329, 352 Pohl, Heinrich 20, 352 Popitz, Joh. 8, 13, 18, 21, 36, 40, 100, 101—105, 227, 298, 349, 384, 405, 412, 427 Preuß, H u g o 21, 63 f., 78, 86, 142, 195 PrevostrParadol 19 Proudhon 498
Pufendorff 377, 381 Quabbe, Georg 346 Radbruch, Gustav 84, 178, 346 Radek 346 Renard, G. 172 Renner, K a r l 161, 168, 210 Redlich, Jos. 192 Reichel 72 Riccobono, Salvatore 395 Rieger, M i n i s t e r i a l r a t 407 Rieß, A . 111/2 Ripert, Georges 497 Ritter, Joachim 429 Romano, Santi 172 Rosenstock, Eugen 194 Rothenbücher, K . 150, 181, 209 Ruck, E. 162, 165 R u d o r f f 409 Rumpf, H e l m u t 106 Salomon, G o t t f r i e d 198 Savigny 394, 408 f., 427 f., 449 Scheuner, U l r i c h 84, 120 Scheicher, W . 160, 162, 206, 216 Schelling 418 Schelsky 172 Schiller 438 Schleicher von, Reichskanzler 28, 350, 357, 450 Sdimid, Carlo 105, 476 Schmidt, W a l t h e r A . E. 152, 159, 214,
216
Schmoller, G. von 415 Schneider, Hans 106, 180, 345, 410, 418 Schnur, Roman 172 Schönbauer 394 Schönfeld, W a l t h e r 398 Schröder, W i l h e l m 150, 175, 183, 214, 252 Schwab, George 439 Scott, W i l l i a m Sir 396 Seydel, M a x von 183 Sieyes 63, 340 Simons, H., Reichsgerichtspräsident 70, 184 Simons, T u l a 197 Smend, Rudolf 33, 65, 68, 86, 97, 98/9, 150, 183, 194, 197, 207, 209, 210, 269, 271 Smith, Rüssel A . F. 63 Sohm, Rudolf 384, 392, 403 Sombart, Nicolaus 449 Sorel, Georges 498 Spengler, O. 420 Stalin 420 Starosolsky, W. 287 Stein, F r e i h e r r v o m 409 Stein, Lorenz v o n 33, 195, 419
608
Sachregister
Steinbach, P. A . 204 Stierlin, Peter 389 Stier-Somlo 145, 150, 177, 183, 197, 214 Stirner, M a x 418 Stödter, Rolf 119 Stoll 66 Story, John 422 Strickrodt, G. 121 Stroux, J. 427 Stutz, Ulrich 171, 204 Süsterhenn 105 T a l m o n 566 Tardieu, A . 206 Tatarin-Tarnheyden 195, 204, 221/2 T h i b a u t 408 Thieme, H. 409 Thoma, Richard 35, 64, 75, 82, 99, 141, 143, 183, 185/6, 190, 193, 199/203, 209, 210, 214, 217/8, 220, 221/2, 223, 265, 301 Tischleder 197 Tocqueville, A . de 420 Trendelenburg, Ernst, Staatssekretär 7 Triepel, H . 64, 73/4, 105, 124, 126, 132, 165, 174, 178, 211, 216, 221, 252, 301, 387, 404 T r o t z k i 346, 450 T r u m a n , D a v i d B. 439 T r u y o l y Serra, A n t o n i o 502
Ule, C. H. 459, 481 Verdroß, A . v o n 390 Wächter, C. G. 403 Wacke, G. 347, 435 Warren, Ch. 81 88, Weber, M a x 269, 272, 384, 420 Weber, W e r n e r 59, 118, 119, 407, 416, 447, 459, 462, 464, 481, 503 Weigert, O. 222 Westlake 387 Wieacker, Fr. 393 Wilson, W., Präsident 449 W i l h e l m I I . 29, 430/31, 438 Winckelmann, Joh. 384, 451, 492 Windscheid 398 Wintrich, J. 174 W i t t m a y e r 20, 65, 68,, 96, 111 Wolff, M a r t i n 96, 110 f., 119, 132, 160, 216 Wolff, Hans J. 121 Wolgast, E. 183 Zangara, V. 172 Zechlin, Egmont 29 f. Zeiler, Reichsgerichtsrat 65, 111 Ziegler, Heinz O. 340 Zouch, Richard 395 Zweigert, Staatssekretär 100
Sachregister A b l ö s u n g von Staatsleistungen 155 Abschaffung der Todesstrafe durch Verfassungsgesetz 154 A k a d e m i e Braunsberg 158 Aktionskommissar s. Reichspräsident A l k o h o l v e r b o t als Verfassungsgesetz 154,305/6 A l t e r n a t i v e v o n Programm u n d positivem Recht 140, 143, 188, 199, 218, 461 f. Anerkennung, verfassungsrechtlich 229; völkerrechtlich 389, 442 A n o r d n u n g als beschleunigte Vero r d n u n g m i t Maßnahmecharakter 407,443 Auflösung des Parlaments 17 f.; als A p p e l l an das V o l k 14, 19, 21, 104, 331, 339; — des Reichstags 12 f., 341/2;
— letzte A u f l ö s u n g des Reichstags am 1. F e b r u a r 1933 28, 350, 450 A u f l ö s u n g des Enteignungsbegriffes 110 f., 162/3, 173 Auflösung der staatlichen Einheit 76, 139, 180, 337, 362, 385 — des Gesetzesbegriffs u n d der Legalität 300 f., 347 Ausland, Schutz des Deutschen 127 f., 204 Ausnahmegesetz 211 Ausnahmezustand 235 f., 256 f., 324; heuristische Bedeutung als Spieg e l b i l d der Verfassungsstruktur 259, 260/1; Institutionalisierung oder A u s k l a m m e r u n g 261; klassischer A . 261; A . u n d D i k t a t u r 237, 259/60; A . u n d D e m o k r a t i e 237;
Sachregister — des A r t . 48 der W e i m a r e r Verfassung 235 f., k e i n Ausführungsgesetz, daher verfassungsrechtliches P r o v i s o r i u m 237/8, 257, 262, 330, 334; T o l e r i e r u n g durch das Parlament 319, 335; Beispiel einer kommissarischen D i k t a t u r 261; Außerkraftsetzung von Grundrechten 323 f.; Maßnahmen 242, 321; E n t w i c k l u n g eines gesetzvertretenden Verordnungsrechts 258; E n t w i c k l u n g v o m militärisch-polizeilichen zum w i r t schaftlich-finanziellen Ausnahmezustand 235/42, 259, 261 A u s w ä r t i g e Gewalt 124 f., 137 f. A u t o m a t i k des Verfassungsvollzugs durch Ausschaltung des Gesetzgebers 108, 188, 217/8, 221, 262, 487/88; s. Verfassungsvollzug A u t o r i t ä t der Gerichte 342; des Staates 269, 273, 340; des Reichspräsidenten 365; — der Fragestellung 341 — gegen Totalitarismus 340 Beamtentum 47 f., 174 f., 213/5, 255 f., 271 f., 342, 440 f., 443; M i n i s t e r i a l beamtentum 410, 441 — nach dem 1. W e l t k r i e g 1918/19 177 A n m . 10 — europäisches B. 180 — i n s t i t u t i o n e l l e Garantie 36, 150 f., 174f., 214, 251 f.; wohlerworbene Rechte 174 f., 205 A n m . 64, 247; ziffernmäßige Garantie der Bezüge 150 f., 175 f., 252, 255; Reichstagserklärung v o m 26. 4. 1942 435, 443 Beamtenvolk 446 Belagerungszustand 235, 261 Besoldungsgesetzlicher Änderungsvorbehalt 254 f. Blutgruppenuntersuchung 229 A n m . Bund, Bismarcks Reich als Fürstenb u n d 30 f., s. Dynastische L e g i t i mität B ü r o k r a t i e 271 f., 441 f. — ist unser Schicksal 444, 447 — Legalität, der Funktionsmodus der B ü r o k r a t i e 272 f.; s. Legalität Case l a w 219, 413 Chance politischer Machtgewinnung 283 f., 301, 338, 348 — einen Prozeß zu führen, gegen Verzicht auf das Widerstandsrecht 287, 324 Chimäre der 51 °/o M e h r h e i t 346, 488 Common l a w Europas 396
Daseinsvorsorge, Verwaltungsstaat der Massendaseinsvorsorge 28, 109, 261, 503 s. Keynes'sches T r i l e m m a D e m o k r a t i e 295/6; parlamentarische D . 274—293; plebiszitäre D . 339; mittelbare u n d u n m i t t e l b a r e D . 315; nationalstaatliche D. 138; industrielle Massen D . 28, 109, 261 — u n d Ausnahmezustand 237 — Homogenität als Voraussetzung der Mehrheitsentscheidung 295 Demokratische L e g i t i m i t ä t 449 Dezisionismus 79, 81/2, 99 Anm. 68, 172, 219 D i k t a t u r des Reichspräsidenten 261, 322; kommissarische D. 321 f.; D . Gesetz 262; diktaturfeste G r u n d rechte 328/9; D i k t a t o r als außerordentlicher Gesetzgeber 319 f.; s. Ausnahmezustand — vom Reichstag toleriert 337, 342 — Maßnahmen mangels eines Ermächtigungsgesetzes 405 Dilatorische Formelkompromisse 82, 106, 195 A n m . 30, 344 D i v i s i o primaeva 502 Dualismus, klassischer D . v o n Völkerrecht u n d Landesrecht 126, 138, 387/8 Due process of l a w 116, 120, 423 Dynastische L e g i t i m i t ä t 30, 269, 273 E i d auf die Verfassung -38/9, 69, 350 E i g e n t u m 110f., 160 f., 230 f.; Gemeineigentum 452, 488; Volkseigentum 465; marxistisches Eigentum 161; Institutsgarantie 160/67, 216, 231; G r u n d e i g e n t u m 122/3; der Religionsgemeinschaften 155/6; s. E n t e i g n u n g Enteignung, als Rechtsinstitut wesentlicher Bestandteil der Eigentumsgarantie 119f.; klassische E. ein der Beschaffung von G r u n d eigentum zugeordnetes Rechtsi n s t i t u t 122; 4 verschiedene Enteignungsbegriffe 478; E. als Einzeleingriff 118, 479; enteignungsähnliche Eingriffe 107, 112/3, 121; L i q u i d i t ä t s - E n t e i g n u n g 121 — auf G r u n d eines Gesetzes 116; durch Gesetz 347, 482; durch V e r fassung 481 — u n d Sozialisierung 476 — u n d Entschädigung 113 f., 120, 395 — v o n Geldforderungen 121, 133, 135 E n t p o l i t i s i e r u n g 56, 340, 353/4, 395
Sachregister Entscheidung v o n dilatorischen Formelkompromissen durch e i n Gericht 106 — v o n Zweifeln u n d Meinungsverschiedenheiten über den I n h a l t der Verfassung 82 — v o n K o n f l i k t e n zwischen Regier u n g u n d Parlament durch A p p e l l an das V o l k (Neuwahl oder Volksabstimmung) 21/22, 27/28, 313/4 Ermächtigungsgesetz 337, 404f.; allgemeine Tendenz zu E. 405/6; T o l e r i e r u n g v o n Maßnahmen des Ausnahmezustandes statt eines E. 337, 347, 349 — v o m 24. März 1933 357, 442; Verlängerungen 443 Ermächtigungsfunktion v o n Verfassungsbestimmungen 205, 227/8 Erziehung 205 Europäisches Beamtentum 180 — Common l a w 396 — Rechtswissenschaft 386 f. — Verteidigungsgemeinschaft 137/8 — Völkerrecht 387 Exemtionen 204, 205 A n m . Fehlerhafter Staatsakt 85; Gesetz, fehlerhaftes 107 F e i n d s. Rechtsstaat Feindbegriff i m L a n d k r i e g 382; i m Seekrieg 382; i m B ü r g e r k r i e g 350, 450 Finanzgesetzvertretende Verordn u n g 245 Flucht aus der P o l i t i k 56/57, 359 Föderalismus u n d Pluralismus 53/4; sozialer F. 206 F o r m e l k o m p r o m i ß 82, 106, 195 A n m . 30 Fragestellung, Macht der F. 340/1 Freiheit, keine I n s t i t u t i o n 167 f., 208 A n m . 72 — u n d E i g e n t u m 141, 154, 280, 331 — u n d P l a n 266 — der Meere 381 — v o m Staat 207 Freiheitsrechte 140f., 207f., 301 f.; p r i n z i p i e l l unbegrenzt 167, 208; allgemeines Freiheitsrecht 199/ 201, 301; s. Grundrechte — juristischer Personen 231 F u n k t i o n a l i s i e r u n g des Eigentums 123; der Grundrechte 231; der Legalität 269/70, 273, 287, 299, 303 f., 349, 447; u n d sogar der höheren L e g a l i t ä t 304 Garantien, sachliche E i n t e i l u n g verfassungsrechtlicher G. 206 f.; ver-
fassunggesetzliche G. 62 f., 153 f., 230; Institutsgarantien 160 f. 215; I n s t i t u t i o n e l l e Garantien 140 f., 213 f., 231; der Kirchen 157; Status quo-Garantien 150 f., 159, 216, 252; ziffernmäßige G. 175 f. Gemeineigentum 452 f., 464, 486 Gerichte als Gesetzgeber 82, 106; als Gutachter 71, 72 A n m . 21, 79, 81, 106; Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung 65; s. Justiz u n d Richter Gesetz 67, 79, 200, 211, 218, 263/4, 270/1, 274 f., 294, 309, 323/4, 330 f., 347, 397 f., 404 f., 453 f. — Kongruenz v o n Gesetz u n d Recht 276/7, 325; rechtsatzschaffende K r a f t des Gesetzes 276; klassischer Begriff des G. 347; Erfordernis einer gewissen D a u e r 334; relative E w i g k e i t 412; volonte generale 282; W i l l e der Mehrheit 284; V e r w a n d l u n g des Rechts i n Gesetz 370 — Herrschaft des Gesetzes als unpersönlicher N o r m 67, 264, 276, 310, 402, 440; Vorbehalt des G. 140 f., 154, 201, 209, 211, 276; Vorbehalt des verfassungsändernden G. 154, 310/11; V o r r a n g des G. 201, 276; beseitigt durch unmittelbaren Verfassungsvollzug u n d Verfassungsautomatik 108, 188, 217/8, 262, 310, 487/88; Z w i schenschaltung des Gesetzes 460 f. — T r e n n u n g v o n Gesetz u n d Gesetzesvollzug als Grundlage des Rechtsstaates 323, 453 f.; Gesetzmäßigkeit aller staatlicher Eingriffe 459; E i n g r i f f auf G r u n d eines Gesetzes 116, 264, 468; Eing r i f f durch Gesetz 464, 468; Eing r i f f u n m i t t e l b a r durch Verfassung 481 f. — einfaches u n d höheres Gesetz 136, 154, 234, 294, 299 f. — u n d V e r o r d n u n g 235 f., 319 f., 404; V e r o r d n u n g als beschleunigtes Gesetz 404/5 — u n d A n o r d n u n g 407, 443; A n o r d n u n g als beschleunigte Verordn u n g 407 — u n d Maßnahme 242 f., 260, 265, 271, 320 f., 325, 332/3, 347; Maßnahmegesetz 347/8 —, besondere F ä l l e : Ermächtigungsgesetz 337, 347, 349; Ermächtigungsgesetz v o m 24. März 1933 350, 450; Haushalts- u n d Finanzgesetz 245/6; Grundsatzgesetz 250; nicht ergangene Ausfüh-
Sachregister rungsgesetze 237/8 (zu A r t . 48); 42/3 (zu A r t . 165); Streik- u n d Parteiengesetz 262 — als M i t t e l v e r n ü n f t i g e r Reform u n d evolutionären Fortschritts 268, 349 — als M i t t e l der Planung 366, 407/8 — k l ü g e r als der Gesetzgeber 403 — der Quote 55 Gesetzespositivismus 388 Gesetzgeber 275 f.; parlamentarischer Gesetzgeber 274, 317; d r e i außerordentliche G. der Weimarer Verfassung 293 f. (Verfassungsg.), 319 f. (Volksg.), 335 (g. vertretendes Verordnungsrecht des Reichspräsidenten); höherer ( 2 /s Mehrheit-) G. 294 —, K o n t r o l l e durch den Richter 67 f., 107, 308, 330/31; Desavouierung durch N i c h t i g k e i t s e r k l ä r u n g v o n Gesetzen 107 —, vereinfachte Gesetzgebung 404; motorisierte G. 407 f ; G. u n d Rechtswissenschaft 400; Federstrich des G. 399, 402 — soll Gesetze, nicht Gesetzgeber machen 349 Gesetzgebungsstaat als Staatstypus gegenüber Jurisdiktionsund Verwaltungsstaat 80, 99, 165, 263 f., 317, 331, 487; Legalitätsmonopol des Gesetzgebers 412 Gesetzmäßigkeit der gesamten Staatstätigkeit 199/201, 459 Gewährleistungen s. Garantie Gewaltverhältnis, besonderes G. 188, 279 Gewerkschaften, verfassungsrechtliche A n e r k e n n u n g 196 Gleichgewichtsstruktur, soziale G. 99 Gleichheit v o r dem Gesetz 199, 211 Anm., 333; keine Gleichheit v o r der Maßnahme 271 Grundeigentum und klassischer Enteignungsbegriff 122 Grundpflichten 216 Grundrechte 36, 190, 226, 230; als vor- u n d überstaatliche Rechte 192; klassische G. 40, 167 f.; polizeifeste G. 207 f.; diktaturfeste G. 320; G. auf soziale Leistungen 212, 468 f ; G. juristischer Personen 208, 231 — irreführende Alternative von P r o g r a m m u n d positivem Recht 140, 199, 218; P o s i t i v i e r u n g der G. 37 f., 217; Leerlauf 66, 141, 143, 169, 176, 186, 199, 201/2, 205 Anm., 231, 300, 331
— Verhältnis zum organisatorischen T e i l der Verfassung 34 f., 136, 140 f., 181—206, 226/7, 282, 293 ff., 307; G. u n d Justizstaat 194 A n m . 24; Überspannung des G. teils der W V 36 f.; keine organische V e r b i n d u n g m i t dem organisatorischen T e i l 226 f. — als Gegenverfassung 136, 307 — als Volkskatechismus 194, 196 Gutachten eines Gerichtshofes 71, 72, 81, 106/7 Haushaltsplan 245/6 H e i l i g t u m , Grundrechte als H . 35, 40, 185/6, 201/02, 222, 296, 300/1, 328, 331; s. L e e r l a u f — Verfassung als H. 231 Herrschaft des Gesetzes 276, 310; des Rechts 414 Hessische Sozialisierung 346 f., 452 bis 488 Hierarchie der Normen 80, 224, 307/8 H i n d e n b u r g Reichspräsident 350,450 Historische Schule 410, 420 H i t l e r Reichskanzler 28, 350, 450; Machtkonzentration 431 f. Hochschulen, I n s t i t u t i o n e l l e Garantie 150, 157, 214 Homogenität 295 f.* 297/8 Hors-la-loi-Setzung s* Illegalitätserklärung und Legalitätsverwirkung H ü t e r der Verfassung 60, 63 f., 70, 101 f., 105; Mehrzahl von H ü t e r n 65; Oberhaus als H.d.V. 78; Justiz als H. 69 f., 105 f. — der Grundrechte, Staat als H . 192, 193 — der W ä h r u n g 52; w a h r e r H. des Eigentums 123 I l l e g a l i t ä t 303; V e r w i r k u n g u n d I.E r k l ä r u n g 105, 261, 286 Imperialismus als Lösung der sozialen Frage 495, 500 Industriestaat 42, 99, 230, 503 Industrie-Nahme 499, 503 Inflation 28, 89 A n m . 53, 121, 123 s. Keynes'sches T r i l e m m a I n k o m p a t i b i l i t ä t e n s. Unvereinbarkeiten Institution, List der Idee u n d der 1. 46/47 I n s t i t u t i o n e l l e Garantien 140—173, 213 f., 422; der Selbstverwaltung 142 f.; des Berufsbeamtentums 174 f., 251/2; der Religionsgesellschaften 155 f., 171; der Hochschulen 214; der theologischen
6
Sachregister
F a k u l t ä t e n 157; due process of l a w als i. G. 422 Institute, Komplementär- u n d Komp l e x i n s t i t u t e 167/8, 171 Institutsgarantie 160 f., 215 f. I n t e g r a t i o n 68, 97, 172, 194 I n t e g r i e r u n g 385 I n t e r r e x 354 Internationales Privatrecht 386/7, 419 I n t e r v e n t i o n u n d Nicht-Intervention 41/42, 203 Investitionshilfegesetz 121/22, 494 Anm. I t i o i n Partes 296 Judge made law, statt Zwischenschaltung des Gesetzes 109, 123, 262 Juristische Personen 208, 231 Justiz, eigene Sphäre 74, 87, 267; en quelque fagon n u l l e 97; Unabhängigkeit als K o r r e l a t der Bind u n g an das Gesetz 78, 87 Justiz u n d Gesetzgebung 79 f., 82, 85, 97 f., 106, 117 f., 218, 309, 336, 342 — u n d Verfassungsgerichtsbarkeit 69, 73, 108 — u n d Regierung 106, 259 — als H ü t e r der Verfassung 69 f. Justiz-Juristen 48 f. Justiz-Ministerium, durch Nichtigk e i t eines Gesetzes desavouiert 107 Justiz-Staat 78, 87 Justizförmiges Verfahren 74, 258, 342; s. Prozeß Kapitalismus u n d Sozialismus 99,195 — nehmender u n d gebender K . 503/4 Kartellgerichte 50 Katastrophe der Philosophie des deutschen Idealismus 418 Katechismus, Grundrechte als VolksK . 194 A n m . 29 Kellogg-Pakt 291 Keynes'sches T r i l e m m a 28, 109 Kirche u n d Staat 155, 157, 171, 213, 379; s. Laizisierung — als vertragsgesicherte Körperschaft 204 — als juristische Person 231 Kirchengut 156/7 Klassischer Begriff — des Ausnahmezustandes 261 — der Enteignung 119—122, 479 — des Gesetzes 347 — der Grundrechte 40, 167 — der Opposition 366
— des Staates 180, 260, 385 — der T r e n n u n g von Staat u n d Gesellschaft 348 — des Dualismus von Völkerrecht u n d innerstaatlichem Recht 121, 138, 387/8 — der Verfassung 231 Koalitionsparteienstaat 45, 103 Kodifikationen 400 — nach europäischem V o r b i l d 390 — Savigny gegen K. 423 f. K o m p a t i b i l i t ä t e n , L a n d der grenzenlosen K . 355/6 Kompromiß 45, 194/5, 298, 337 Komplementär- u n d Konnex-Institute 167/8, 171, 210 K o n f l i k t , preußischer 1862/66 18/19 K o n k o r d a t 171, 204 Konsens b e w i r k t Macht 370 s. Macht K o n t r o l l e des Gesetzgebers durch den Richter 79—89, 107, 336; Desavouierung des Gesetzgebers 107 — des Ausnahmezustandes durch den Reichstag 258 Körperschaft, vertragsgesicherte K. 171 Kreditermächtigung durch Verordn u n g 245/6 Laizisierung des Staates 300, 336 Leerlauf 66, 141, 143, 169, 176, 186, 199, 201/2, 205 Anm., 231, 300, 331 Legalität 7, 28, 269 f., 349/50, 440 f. — ein Stück occidentalen Rationalismus 349 — ursprünglich die höchste, w e i l die rationale F o r m der L e g i t i m i t ä t 270 f. — beginnt als Botschaft der G ö t t i n der V e r n u n f t 349 — als Herschaft des Gesetzes gegen die A u t o r i t ä t des Vaters 449 — w i r d Gegenbegriff gegen die (traditionale u n d charismatische) L e g i m i t ä t 397 — gerät i m 19. Jahrhundert i n die Krisis der gesetzesstaatlichen Legalität 397 — endet i m 20. Jahrhundert als Gangsterparole bei Bert Brecht 450 Legalität, höhere L. 272 f., 294, 307, 310/12, 348; Überlegalität (superlegalite) 311 — des j e w e i l i g e n Status quo 425 —, Schlüssel zur staatlichen Macht 442/3 — V e r w a n d l u n g des Rechts i n Legalität 447
Sachregister — Funktionsmodus der B ü r o k r a t i e 272/73. 348, 434, 444/6 — T ü r zur Machtergreifung 286, 350 — Waffe des Bürgerkrieges 350, 356/58, 447, 450 — P r ä m i e n auf dem Besitz der legalen Macht 28, 106/7, 138, 288 f., 304, 348, 350, 450 —, rührendes L.Bedürfnis der D e u t schen 48, 446; legalite q u i tue 423, 445; Savignys Abstandnahme v o n der gesetzesstaatlichen L. 408 f. —, V e r w i r k u n g e n u n d Illegalitätse r k l ä r u n g e n 105, 261, 286 Legislative s. Gesetzgebung; Verh ä l t n i s der Verf.-Gerichtsbarkeit zur L. 106/8 Legislateur 263 Legisten 377, 425, 445 L e x , irreführende Übersetzung v o n Nomos 427, 502 Lichtspielwesen 303, 368/9 L i q u i d i t ä t s e n t e i g n u n g 121 s. Enteignung List der Idee u n d der I n s t i t u t i o n 46/47, 105 L o b b y 385, 439 Macht, P r ä m i e n auf dem legalen Machtbesitz 28, 106/7, 138, 288 f., 348, 350, 369 — b e w i r k t Konsens 370 f. s. Konsens — der Fragestellung 343 — gleiche Chance der Machtgewinn u n g 283 f. — V o r r a u m der Macht 438 Machthaber, Zugang zum M. 430 bis 439 Machtpositionen des modernen Staates 367—371 Massendaseinsvorsorge 28, 109, 230 Maßnahme 242 f., 260, 265, 271, 320 f., 325, 332/34, 335, 347, 407/8' — u n d gesetzvertretende Verordn u n g 244 — Maßnahmegesetz 347/48 — dem Verwaltungsstaat zugeordnet 266 — des Ausnahmezustandes 319—335 — keine Gleichheit vor der Maßnahme 271 — richterliches U r t e i l niemals Maßnahme 332/33 M a t h e m a t i k , Unmenschlichkeit 295, 317/8 M a x i m a non curat praetor 106 Mediatisierung des Einzelnen 190, 207 Mehrheit, einfache u n d qualifizierte M. 294 f.; M. u n d M i n d e r h e i t 33'
513
295/6; Zerstörung des demokratischen M.-Prinzips durch verfassungsgesetzliche F i x i e r u n g e n 306; verfassungsändernde Mehrheit 154, 202/3, 293 f.; negative M. 258, 307, 347, 350, 356/7, 364/5 Mehrheitsunfähiges Parlament 13 f.; t o l e r i e r t Regierungen (statt Vertrauensbeschluß) 24,365; t o l e r i e r t D i k t a t u r m a ß n a h m e n (statt Ermächtigungsgesetz) 242, 317, 321, 337, 342, 347, 405; handlungsu n f ä h i g 258 Mensch, der Verbandsmensch als der Normalmensch der Gegenw a r t 206 Menschenrechte 208, 231 Menschenwürdiges Dasein 197, 226 M i n d e r h e i t e n 295 f. M i n i m a non curat dictator 331 Minister gegen Kabinettsräte 430, 438; Geschäftsministerien 292 Ministeranklage i n Preußen, k e i n Ausführungsgesetz 262 Nähme s. Nehmen/Teilen/Weiden; Landnahme 493 f., s. divisio p r i maeva; Seenahme 383, 503; I n d u strienahme 499; L u f t - u n d RaumNahme 503 Nationalsozialisten 302, 323 Negative Mehrheiten 250, 347, 350 Nehmen/Teilen/Weiden 489—504 N e u t r a l i t ä t , innerpolitische N. 41 f.; N. der Sachverständigen 50 f.; Reichspräsident als Träger neut r a l e r Gewalt 350 — W e r t n e u t r a l i t ä t der Weimarer Verfassung 270, 283, 300/3 — bis zum Selbstmord 294, 301/2 Nomos 427, 489 f., 502; N. der Erde 384/5; vor-exilischer N. 427, 502; vor-sophistischer N. 427, 502; Belastung des Wortes durch Übersetzung m i t l e x u n d Gesetz 427, 502 N o r m 64, 77 f., 80 A n m . 39, 270 f., 307. 334/5; höhere N o r m 88, 218, 224. 293 f., 307/8, 309, 312, 349; organisatorische Auswirkungen der Unterscheidung 307 Normalmensch 206 Normalsituation 274, 281. 321 N o r m a t i v e K r a f t des Faktischen 446 Normativismus 270, 274 N o r m e n k o n t r o l l e 106 Notstand 260; Staatsnotstand 349/50 Notverordnungen des Reichspräsidenten 235 f., 319 N u l l p u n k t 357, 364
Sachregister Oberhaus (Senat, zweite Kammer) als H ü t e r der Verfassung 63, 68, 74, 78, 81, 95 A n m . 58 Offene Verfassungsbestimmungen 262; s. Provisorium Opposition, klassische 366 Organisationen, supranationale 180, 231 — politische H a f t u n g 303 Organisatorischer T e i l der Verfassung i m Verhältnis zum G r u n d rechtsteil 36 f., 68/9, 135/6, 137, 140 f., 189—206, 227, 244, 262, 293, 311, 329, 349; Beschränkung auf den organisatorischen T e i l 282, 303 f., 310, 324/8; A u s w i r k u n g der Unterscheidung von höherem und einfacherem materiellen Recht auf die Verfassungsstrukt u r 106, 293 f., 307/8; M i ß v e r h ä l t nis i n der W e i m a r e r V. 330 Organische, den Staatstypus tragende Verfassungsnormen 36, 40, 227, 298, 349 Parität 50, 55 Parlament als Transformator 46; als Schauplatz eines pluralistischen Systems 337; mehrheitsunfähiges Parlament 258; v o n negativen Mehrheiten beherrschtes P. 250, 347, 350 Parlamentarische D e m o k r a t i e 282, 313, 316/7, 335 f. Parteien-Gesetz 262 Parteien-Staat, Koalitionsparteien 45; pluralistischer P. Ein-ParteiStaat 44; t o t a l i t ä r e P a r t e i u n d totaler Staat 362; totale P a r t e i 385 Parteien i m Verfassungsstreit 75 Pathognomischer Moment 32/33, 260 Permanenz der Staatsverwaltung 68 P l a n u n d F r e i h e i t 266; Gesetz als M i t t e l des Plans 407; Gesichtsp u n k t der E i n h e i t des P. 247; P. u n d Herrschaft 371; P. u n d Rechtsstaat 484 Planung, räum- u n d rechtlose P. 412, 421; rechtsstaatliche Durchführ u n g v o n Planungen 469 Plebiszit s. Volksentscheid; tägliches PI. 339/40, 368 Plebiszitäre D e m o k r a t i e 312 f., 341 Pluralismus 32, 53, 55, 76, 205, 337; sozialer P. 206, 216; p l u r a l i s t i scher Verbandsstaat 205/6, 337/8, 385; Mediatisierung des Einzelnen 190 206; Verbandsmensch als Normalmensch 206 Politische Prozesse 350, 450
Polizeifestigkeit v o n Grundrechten 187 Positivierung der Grundrechte 35, 217 f. Positivismus 388, 411; s. A l t e r n a t i v e ; P. Savignys 411 Potestas indirecta 379 Prämien auf dem legalen Machtbesitz 28, 106/7, 138, 288 f., 348, 350, 369 — wahlgesetzliche P r ä m i e n 348 — außerordentliche P. auf der W a h r n e h m u n g der verfassunggebenden Gewalt 305, 348 Präsidialsystem, letzte Chance der W e i m a r e r Verfassung 345; plebiszitäre Basis 339 f.; gestützt auf Reichswehr u n d Beamtentum 273, insbesondere Ministerialb ü r o k r a t i e 448; v e r b u n d e n m i t Resten alter A u t o r i t ä t 340 — Verhältnis zur D i k t a t u r 235, 259/ 260; H ü t e r der Verfassung 100/ 101; Träger neutraler Gewalt 350 — verfassungsrechtlicher Spielr a u m : P r o v i s o r i u m des A r t . 48 237/8, 262; Außerkraftsetzung v o n Grundrechten 323 f.; Maßnahmen des Ausnahmezustandes 242 f., 271, 319 f.; gesetzvertretendes Verordnungsrecht 235 f.; tol e r i e r t v o m Reichstag 242, 258; Reichstagsauflösungen 17 f., 341/2 — E n t w i c k l u n g v o m militärisch-polizeilidien zum wirtschaftlichfinanziellen Ausnahmezustand 235—259; E. zum Verwaltungsstaat 273 — Zusammenbruch i n der Woche vor dem 30. Januar 1933 350, 450 Pressefreiheit 168 f., 210 Preußen s. Reichskommissar Prisenrecht 383, 396, 502 P r i v i l e g i e n 204; P.-Staat 169, 190; k u r z e r W e g v o n der F r e i h e i t zum P r i v i l e g 171 P r o v i s o r i u m des A r t . 48 W V 238, 257, 262, 330; gesteigerte Präzedenzk r a f t i m P r o v i s o r i u m 238 Prozeß, Veränderung des P.-Gegenstandes d u r d i das P.-Verfahren 108/9; P. als M i t t e l politischer Pression 350, 449/50 Quelle des Rechts 411 s. Gesetz Q u o r u m 293, 295 Quote, Gesetz der Q. 55 Rätesystem 42/43
in
der
Weimarer
V.
Sachregister Ratifikation, innerstaatliche Ausw i r k u n g der R. völkerrechtlicher Verträge 124 f. Rationalität, Legalität als Wert-R. gegen Zweck-K. 451 Rationalismus, Legalität als Stück occidentalen R. 346, 421 Raum, Staat als Raumordnungsbeg r i f f 380 f. — europazentrischer W e l t r a u m 382 Recht, Kongruenz v o n Gesetz u n d Recht 276/7, 325; s. Gesetz Rechtsbewahrstaat 192, 267 Rechtsgemeinschaft 267 Rechtsphilosophie 427/8 Rechtsstaat 74/75, 116, 136, 169, 196/7, 200, 263, 274, 458, 487/8 — feudaler R. 192, 267; l i b e r a l e r 87, 99, 169, 196/8; gewaltenteilender 458; nationaler 230; sozialer 230, 496 f.; sozialistischer 197, 212 — u n d D i k t a t u r 197, 266 — u n d Gesetzesstaat 99, 264, 413, 459, 496, 503; Gesetzgebungsstaat 117, 263 f.; Sozialstaat 198, 230/1, 496 f., 503 — Gewaltenteilender R. Zwischenschaltung des Gesetzes wesentlich 458 — u n d Sozialisierung 453 f. — u n d Rechtsstand 413 — Negierung des R. 274; F e i n d des R. 274 Rechtsstand, nicht Rechtsstaat 413 Rechtswissenschaft als eigentliche Rechtsquelle 412 f.; als Stück occidentalen Rationalismus 421 f.; zwischen Theologie u n d Technik 420 f.; letztes A s y l 420; Lage der europäischen R. 386—429 Reichsbahn 52, 203; Reichsbank 51, 203 Reichsgericht, als H ü t e r der Verfassung 63, 109 — Präsident des R. als Stellvertreter des Reichspräsidenten 351 f. Reichskanzler W , M a r x 15 f.; B r ü n i n g 235 f., 260; v o n Schleicher 28, 350, 357, 450; H i t l e r 28, 350, 357, 450 — als Stellvertreter des Reichspräsidenten 351 f. Reichskanzlei, Chef der R. 432 Reichskommissar f ü r das L a n d Preußen 350, 450 Reichspräsident, plebiszitäre Basis 339 f.; H ü t e r der Verfassung 100 f.; neutrale Gewalt 273, 350; außerordentlicher Gesetzgeber 319 f., 341; Aktionskommissar des Ausnahmezustandes 235 f.; A u f -
lösung des Reichstags 12 f. s. Ausnahmezustand, Präsidialsystem Reichstag, Auflösungen, Übersicht 27; Auflösung v o m 1. 2. 1933 35Ö, 450 — parlamentarische Schwierigkeiten 13 f., 24; Mehrheitsunfähigk e i t 258, 364/5; negative Mehrheiten 357, 362/5 — T o l e r i e r u n g der Reichsregierung statt V e r t r a u e n 24, 365; Tolerier u n g der Maßnahmen des Ausnahmezustandes statt A u f hebungsverlangen oder Ermächtigungsgesetz 242, 317, 321, 337, 347, 405 — N u l l p u n k t 356 Reichsverfassung Bismarcks 29 f. — Zehn Jahre W e i m a r e r Verf. 34-40 Reichswirtschaftsrat 49 Religionsgesellschaften 156, 171, 213 Religionsunterricht 215 Reparationsstaat 42, 51, 241 Repräsentation u n d Präsenz 268, 315 Rezeption, des Römischen Rechts 391 f. — des Konstitutionalismus 397 Republikschutzgesetz 94 Richter, B i n d u n g an das (tatbestandsmäßige Subsumtionen ermöglichende) Gesetz als K o r r e lat seiner Unabhängigkeit 68 Prüfungsrecht 82 f., 108, 336; gegenüber Notverordnungen 248, 258; gegenüber verf.ändernden Gesetzen 93/94, 248 Richterliches U r t e i l niemals Maßnahme 332/3 Römische Kirche 98, 231 Römisches Recht 391 f. Schule 82, 205, 216; Schulgeld- u n d L e r n m i t t e l - F r e i h e i t 471 Schutzanspruch gegenüber dem A u s l a n d 127f., 214 A n m . 58 Schutzwall des A r t . 76 W V ( V e r änderung) 186, 293 f., 300 f. Selbstauflösung des Parlaments 22 Selbstmörderische N e u t r a l i t ä t 284, 301/2 Selbstverwaltung, i n s t i t u t i o n e l l e Garantie 143 f. Situation 274, 321, 335 Souveränität des i n sich geschlossenen Staates 138, 376 f., 422 Soziale Gleichgewichtsstruktur 99 Sozialisierung, Hessische S. 346 f. — als Strafe 454; als sachliche Plan u n g 480 f.
Sachregister — als selbständiges Rechtsinstitut gegenüber der Enteignung 476 f. Sozialisierungsverfahren 480 f. Sozialismus als das Ziel 198 Sozialprodukt, V e r t e i l u n g u n d Umv e r t e i l u n g durch den Sozialstaat 370, 497 f. Sozialstaat 198, 230/1, 496, 503 Staat, richtigerweise k e i n idealer Allgemeinbegriff, sondern an eine geschichtliche Epoche gebundener, konkreter Begriff 375—385; Epoche der Staatlichkeit 376 f.; Ende dieser Epoche? 139, 180, 384/5 — als Reich der o b j e k t i v e n Vern u n f t 58, 375; Ü b e r w i n d u n g des konfessionellen Bürgerkrieges 58; kontinental-europäischer Raumordnungsbegriff 378 f.; H ü t e r der vorstaatlichen Rechte 193; neutraler D r i t t e r 41 f. Staat als Rechtsstaat 264, 274 f.; Gesetzgebungsstaat 263; Jurisdiktionsstaat 264; Justizstaat 78, 87; Verwaltungsstaat 180, 261 f., 266, 348; Verteilerstaat 370, 497 f.; Wohlfahrtsstaat 102; Reparationsstaat 42, 51, 241 — als Organisation der Massen-Daseinsvorsorge 42, 99, 230, 503; Verwaltungsapparat 433 — totaler Staat u n d totalitäre Part e i 359—366 — Laizisierung 300, 306 Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich 37 f., 70, 450; D r o h u n g m i t Prozessen vor dem St. 349/50, 450 Staatsgewalt, Rechtmäßigkeit der Entstehung kein Merkmal 446 Staatsnotstand 349/50 Staatsrat, Preußischer 409 Staatsreife 390 Staatsstreichpläne Bismarcks 29—33 Staatstypus 264 f.; Beschränkung der Verfassung auf organische, den St. tragende N o r m e n 36, 227, 298 Status quo, Garantie des St. 155 f., 216, 252; des ziffernmäßigen Höchstbetrages der Bezüge 150 f., 175 f., 252, 255; Garantie des due process of l a w als Garantie des Status quo 423 Stellvertretung des Reichspräsidenten 351—358 Steuerrechtliche Notverordnungen 245 f. Streikgesetz 262 Superlegalite constitutionnelle 311 Supreme Court USA 77, 81, 105, 423
Supranationale Organisationen 138/9, 180, 231 Tägliches Plebiszit 339/40, 368 Tatbestandsmäßige Subsumtion als Voraussetzung der B i n d u n g an das Gesetz 84, 90, 92, 96 Theologie, Rechtswissenschaft zwischen Theologie u n d Technik 420—426 Theologische F a k u l t ä t e n 157, 215, 252, 331 Todesstrafe, Abschaffung durch Verfgesetz 154 Tolerierung der Reichsregierung durch den Reichstag s. Reichstag Tolerierte D i k t a t u r s. Reichstag Totaler Staat, q u a n t i t a t i v total 361 q u a l i t a t i v total 343, 362 Totalitäre P a r t e i 362 T r e a t y m a k i n g power 137 T r u m a n D o k t r i n 385 Tschechoslowakei, P a r a l l e l f a l l 1948 7 T ü r der Legalität 286, 350, 450 T y r a n n 285/6 Ü b e r f ü h r u n g als M e r k m a l der Enteignung 111, 115 — i n Gemeineigentum 452 f., 464, 486 Unabhängigkeit des Richters als K o r r e l a t der B i n d u n g an das Gesetz 87 Unantastbarkeit der Verfassung 185, 320, 327/9, 330 f.; Katalog der Unantastbarkeiten 37 Unmittelbares Verfassungsorgan 108 Unmittelbarer Verfassungsvollzug 461 f.; s. A u t o m a t i k Unternehmen als M e r k m a l der Enteignung 132; Sozialisierung als Unternehmen 484 Unterrichtsgeld, Befreiung v o n 471 Unverbindlicher Gesetzesinhalt 275 U n v e r e i n b a r k e i t e n 43. 52, 355/6 Vater, A u t o r i t ä t des Vaters gegen Herrschaft des Gesetzes; Paternalismus gegen Legalität 449 Verbandsmensch als Normalmensch
206
Verbandsstaat, pluralistischer 205 Verfassung 1) V. U r k u n d e 181; 2) erschwert abänderbares Gesetz 154, 185/6,301; 3) unantastbare G r u n d entscheidung 311, 320f.; 4) tägliches Plebiszit 339/40 — als pluralistischer V e r t r a g 75, 77; Kompromiß der Sozialpartner 194/5, 385; interfraktionelles P a r t e i p r o g r a m m 196; N o t b a u 38
Sachregister — sinnvolle Beschränkung auf organische, den Staatstypus tragende Bestimmungen 36, 40, 227, 298, 349 — Überlastung m i t Bestimmungen des materiellen Rechts 137, 154, 218 f., 293 f., 305—307 — s. Garantie, Grundrechte Verfassungsakt, Vertauschung m i t V e r w a l t u n g s a k t 482 — änderung 68/69, 138; Grenzen 38/9, 58/9, 94, 202, 221, 301 f. — besdiwerde 183/4 — gebende Gewalt 85, 461 — A u t o m a t i k 108, 262, 487/88 — geridit 37 f., 63, 105, 108; als verf.unmittelbares Organ 108; Oberhaus als V. 76; als Universal-Kontrollinstanz 38; Entscheidung über den I n h a l t der Verfassung 81/83, 290 Verfassungsvollzug, i m gewaltenteilenden Rechtsstaat Zwischenschalt u n g des Gesetzes n o r m a l 460; Vollziehbarkeit von V.bestimmungen 224, 454 f.; s. A u t o m a t i k Verfassungswidrigkeit von Gesetzen 82; e x - t u n c - W i r k u n g 107 V e r o r d n u n g gegen Gesetz 404. s. Gesetz, Notverordnungen V e r m u t u n g der F r e i h e i t 222; der Legalität s. Prämie auf dem legalen Machtbesitz V e r t e i l u n g des Sozialprodukts 370, 497; erste V e r t e i l u n g s. divisio primaeva Vertrag, Verfassung als V e r t r a g s. Verfassung; vertragsgesicherte Körperschaft 171, 186, 213 V e r w a l t u n g , Permanenz der Staatsv e r w a l t u n g 68 Verwaltungsakt, Enteignung als V. 116, 481; V e r w a l t u n g s a k t als Lenkungsakt 407; Vertauschung von Verwaltungs- u n d Verfassungsakt 482 Verwaltungsstaat 108, 261 f., 348, 503; V. der modernen Massen-Daseinsvorsorge 261, 266; s. Maßnahme V o l k 281, 312, 318 Volksabstimmung 23 f., 312 f., 337 f.; Volksgesetzgebungsverfahren 315 Volkskatechismus, Grundrechte als V. 195 A n m . 30 V o l l z i e h b a r k e i t v o n Gesetzen 217 f.; von Verfassungsbestimmungen 224, 454; s. Verfassungsvollzug
Vorbehalt des Gesetzes 140 f., 201, 209, 221, 245, 276, 324; s. Zwischenschaltung des Gesetzes Vorrang des Verfassungsgesetzes 218, 293 f. V o r r a u m der Macht 438 W a h l w i r d O p t i o n 331, 339, 364 Wehrstreit 1953 137 W e i m a r e r Verfassung, Zehn Jahre 34—40; d r e i außerordentliche Gesetzgeber 293 f., 319 f.; als N o t b a u 38; als interfraktionelles Parteirogramm 196; parlamentarische chwierigkeiten 12 f., 258; negat i v e Mehrheiten 350 W e i m a r u n d was dann? 195 Widerstandskraft gegen Enteignung 122/23 Widerstandsrecht 276, 278, 285/7, 338, 348, 446, 461; Verzicht auf das W. gegen die Chancen eines Prozesses 287, 324; s. T y r a n n Wirtschaftliche Gesetzgebung 407 — D i k t a t u r 240 — U n v e r e i n b a r k e i t e n 43 Wirtschaftsbeirat beim Reichspräsidenten 336 Wirtschaftsrat der W e i m a r e r Verf. 43 Wirtschaftsrecht als eine i n sich geschlossene D i s z i p l i n 348 Wirtschaftsstaat 42 f., 259, 266, 312/3, 370/71; W. ohne Wirtschaftsverfassung 43 Wirtschaftsdemokratischer G e w e r k schaftsstaat 197 Wirtschaftsverfassung 42. 191, 196/8; s. Wirtschaftsstaat Wohlerworbene Rechte s. Rechtsbewahrstaat; wohlerworbene Beamtenrechte 174 f., 247 f., 268; ziffernmäßige Garantie 150 f., 175 f., 252 f. Wohlfahrtstaat 102 Wunschrecht, politisches 301, 345
g
Young Plan 134, 136, 337 Zielsetzungen der Verfassung 226, 302, 480; Sozialismus als Ziel 198 Zugang zum Machthaber 430—439 Zuständigkeitsnorm, A r t . 4 8 W V 326; A r t . 45 Abs. 3 W V 126; A r t . 59 Abs. 2 G G 139 Zwischenschaltung des Gesetzes i m VerfassungsVollzug 460, 487; siehe Verfassungsvollzug — eines Sozialisierungsgesetzes 464, 473