Verbrechertum und Prostitution in Madrid

Übersetzung von Mala vida en Madrid Die soziologische Studie »Verbrechertum und Prostitution in Madrid« der spanischen

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German Pages [359] Year 1910

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Verbrechertum und Prostitution in Madrid

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SEXUALPSYCHOLOOISCHE BIBLIOTHEK

ERSTE SERIE Bd. I

Die Memoiren des Grafen von Tilly I Die Memoiren des Grafen von Tilly 11 Bd. in Prostitution und Verbrechertum in Madrid (Quiros-Agullaniedo)

Bd. ii

B d.iv

Yoshiwara. Japaner

Die Liebesstadt der (Dr.Tresmin-Tr&noliä-es)

Das verbrecherische Weib (Oranier) Bd. vi Das Ende einer Gesellschaft Bd. v

Neue Formen der Korruption in Paris (Talmeyr)

HERAUSGEBER

DR.

M ED .

IWAN BLOCH

C. BERNALDO DE QUIRÖ S UND

J. M. L AGUILANIEDO VERBRECH ERTUM UND PROSTITUTION IN MADRID

M IT E IN EM VO RW O RT V O N

P R O F E S S O R C E S A R E L O M B R O SO AUTORISIERTE UEBERSETZUNO ERSTE BIS FÜNFTE AUFLAGE

LOUIS MARCUS VERLAGSBUCHHANDLUNG BERLIN

!•

Alle Rechte Vorbehalten

1» V orrede. Das Verbrechen in Spanien und seine Geschichte. Spanien war bis vor einigen Jahren wirklich der klassische Boden für das Studium des Verbrechens. Es ist ein Land von großer Eigentümlichkeit, von Gebirgen starrend, voll tiefer Schluchten, durch die titanischen Brüche der Sierra erzeugt, voll von Ver­ stecken und natürlichen Schlupfwinkeln, mit so spär­ lichen Verkehrsmitteln (bis vor wenigen Jahren gab es nur 9000 Kilometer Eisenbahnen), daß viele Teile im Innern des Landes von der zivilisierten Welt ab­ geschlossen waren. Außerdem hatte Spanien in den Gewalttätigkeiten der Kämpfe gegen die Mauren, gegen die Franzosen und gegen die Ketzer, in denen der Patriotismus mit der Ergebenheit der Kirche gegenüber identifiziert wurde, eine historische Periode gewalt­ samen Verbrechens, welches sich mit der nationalen Politik verband. ' Die Briganten, Gamurri genannt (welche sich in Neapel zu Kamorristen umwandelten), nach der Jacke „Gamurra", die sie zu tragen pflegten, bildeten im Mittelalter eine Vereinigung oder, besser gesagt, eine Gruppe verschiedener Vereinigungen, mit Gesetzen

VI und besonderen Riten und waren mit der regulären Streitmacht der Monarchie verbündet, um die Reste der Mauren Und alle aus politischen oder religiösen Gründen Unbeliebte verfolgen zu können. Es war nicht möglich, eine Reise zu machen, ohne sein Einkommen mit diesen Briganten teilen zu müssen ; sie besaßen ihre besonderen Taxen für Herden, für Wald- und Minenerzeugnisse, für die Post und die Durchreise vom Fremden, sowohl für einen reisenden spanischen Granden wie für einen Beamten, der ohne Eskorte reiste, für einen Bauern, einen Maultiertreiber und ebenso für das Korn, das vom Felde in die Scheune gebracht wurde, wobei sich die Taxe je nach dem Ausfall der Ernte richtete. Trotzdem bewahrten sie noch einen Schein von Großmut, besonders in Andalusien, in der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, wo sie die Diebe unter­ drückten und ihre Klienten unter den Besitzern ver­ teidigten. Aber ihre Großmut ward durch die Raubgier er­ stickt; Cervantes erzählt in „ R i n c o r e t o y C o r t a d e l l a " die Geschichte einer 1417 gegründeten Schelmenzünft in Sevilla, die ihre besonderen Riten hatte, zü ihren Mitgliedern Priester und Mönche zählte, und die ihren Gewinn mit der Polizei zu teilen pflegte. Die religiösen Verfolgungen wurden mit der größten Energie bis in das vergangene Jahrhundert fortgesetzt (noch 1790 wurden in Sevilla Hexen ver­ brannt, und Spanien besaß 2704 Inquisitoren und 250000 Geistliche), der Aberglaube dominierte, und

die Regierung war in den Händen der Priester, ebenso wie die meisten kultivierten Landstreeken, da die Be­ sitztümer der Mönche, die Manimorte, große Teile des inneren Landes bedeckten. Die religiöse Verfolgung vollbrachte Tag für Tag ihr Vernichtungswerk, sie tötete jeden originellen Denker, der nicht orthodoxer Theologe war, sie brachte es sogar dahin, daß die Wissenschaft überhaupt als ein Verbrechen betrachtet wurde, und vernichtete so jede wissenschaftliche Kultur. Wenn Spanien sich mehrere Jahrhunderte hindurch großer Männer auf dem Gebiete der Kunst und Literatur rühmen konnte, so hat es andererseits nur wenige Männer der Wissen­ schaft hervorgebracht Die Folge davon war eine all­ gemeine und gewollte Ignoranz; es sei nur erwähnt, daß die Universitäten noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts das Gesetz der Schwere und den Blut­ kreislauf leugneten. Diese Ignoranz war direkt durch Maßnahmen der Regierung hervorgerufen worden, wie beispielsweise unter Ferdinand der Minister Calomardo die Schulen für Philosophie und Literatur unterdrückte und sie durch solche für — Stierkämpfe ersetzte! Die Eroberung von Amerika (nebenbei gesagt mit einer Auslese in umgekehrter Richtung verbunden, da sie das Mutterland der kühnsten und intelligentesten Männer beraubte) war die Quelle eines außerordent­ lichen Reichtums, denn sie brachte 54 Milliarden in wenig mehr als einem Jahrhundert ein, erhöhte die Korruption und die Faulheit; das Gold war ohne An­

strengung zu erlangen, und man dachte nicht mehr daran, es durch Arbeit zu verdienen. Als die Quellen versiegten, hatten die Spanier, an die Trägheit ge­ wöhnt und jeder Kultur entfremdet, keine andere Zu­ flucht als zu der Wohltätigkeit der Mönche. Man ver­ stand nicht einmal mehr die Felder zu bebauen, und ohne die Einwanderung der Bauern von Bearn würde das Land verödet sein, da die Anzahl der Kaufleute nur noch 34000 betrug, während es siebenmal so viel Geistliche gab; am Ende des vorigen Jahrhunderts zählte man deren 250000. Die Folge hiervon war eine enorme Verarmung des Landes sowie eine regelrechte Entvölkerung, so daß die Einwohnerzahl unter Karl III. auf neun Millionen gesunken war. Die Kämpfe gegen die Invasion von Fremden, mit den Mauren beginnend und mit den Franzosen endend, die Eroberungskriege, der gewohnte Gebrauch des großen Messers „Navaja", das jeder von Kindheit an bei sich trug, und ihre geringe Elementarbildung erzeugten bei den Spaniern andererseits Mut und ein Gefühl der Unabhängigkeit, zugleich aber auch den Hang zur Gewalttätigkeit. Das in der Kriegsgeschichte so bekannte Saragossa ist in derselben Weise durch seine vielen Mordtaten bekannt geworden. So ent­ wickelte sich das Wohlgefallen an blutigen und gewalt­ tätigen Schauspielen. Das Hospital in Valencia wurde lediglich durch die Corridas und Toreadores unter­ halten; die im Jahre 1830 in Sevilla begründete Schule für Stierkämpfe ist jetzt zwar geschlossen, aber noch

bis vor sieben Jahren florierten dort sieben ausschließ­ lich den Stierkämpfen gewidmete Zeitungen, und wenn man in Madrid den Torero auch nicht mehr, wie früher, als einen Halbgott verehrt, so wird er doch immer noch mit einem literarischen oder politischen Genius auf die gleiche Stufe gestellt. Die Regierung vermehrte das Unheil; die Ver­ fassung an und für sich schon mehr rein dekorativ als in anderen Staaten, ward unter der Maske des Liberalismus tatsächlich zu einer Militärdiktatur er­ niedrigt; selbst unter Männern wie Prim, Serrano, Navarros, Espartero wurde über das Land alljährlich ein mehr oder weniger maskierter Belagerungszustand verhängt, der die Gerechtigkeit durch die Gewalt er­ setzte. Schon seit Jahren suchten die Finanzminister des Landes durch Anwendung fauler Winkelzüge den Bankerott zu verschleiern; sie bezahlten oft die armen Staatsbeamten nicht und ließen die rückständigen Steuern aufsummen, so daß in der Folge Tausende von Besitzungen zur öffentlichen Versteigerung kamen. Die Generäle waren jederzeit zu einer Rebellion bereit, ebenso wie die Soldaten ihrerseits zur Desertion. Kaum der zehnte Teil der Bevölkerung besuchte die Schulen. Bis vor einigen Jahren fehlten die sozialen Fürsorgeanstalten, die Kooperationen. An ihrer Stelle existierte nur das alte Almosenwesen der Mönche. Noch in größerem Maße als im übrigen Europa waren die Gefängnisse nicht Zügel, sondern Brutstätten für das Verbrechen.

Zwar erfuhr Spanien im 19. Jahrhundert eine Wiedergeburt und erhob sich auf das Niveau zivili­ sierter Nationen, aber wenn es jetzt aus der extremsten Verworfenheit erstanden ist, so verdankt es dies nicht seinen wenig achtenswerten und wenig geachteten Regierungen; das Verdienst gebührt im Gegenteil der verhaßten französischen Invasion, welche die im Lande schlummernde persönliche Energie wieder erweckte und die in den Klöstern aufgehäuften ungeheuren Schätze in Umlauf brachte, wenn auch in doppelt gewalttätiger Weise, da die die Mönche plündernden und tötenden Soldaten ihrerseits wiederum getötet und geplündert wurden. In den letzten Jahren gebührt das Verdienst besonders dem fremden Geld und Ein­ fluß, vor allem von England, Belgien und Frankreich, welche zahlreiche Chemiker, Ingenieure und Arbeiter nebst einem Kapital von mehr als 2Va Milliarden in das Land schickten. Wenn auch die Hoffnungen auf Verdienst nicht immer verwirklicht wurden, so ge­ nügte diese Wendung der Dinge doch, um das Land zu heben; die Ankömmlinge beuteten die Minen von Huelva und Linares aus, exportierten Oel und Orangen aus Valencia, Korn aus Kastilien, Tiere aus Galicien und Wein aus Andalusien und Katalonien. Auf diese Weise entstanden zahlreiche Fabriken und wurden, besonders in Katalonien, Dampferlinien eröffnet, welche die Küste mit einem dichten Netz umspannten. Aber trotz all dieser Fortschritte ließ die Statistik der Verbrechen eine Nachwirkung der alten traurigen gesellschaftlichen Zustände erkennen. Während in

allen zivilisierten Landern Europas die Zahl der schweren Verbrechen sich verminderte, stieg sie in Spanien derart, daß sie in den Jahren 1883—89 84 888 und in den Jahren 1896—99 91 915 betrug. Darunter waren besonders die Verbrechen gegen die Person, wie das Schießen mit Feuerwaffen — was unserem Mord entspricht — von 1072 im Jahre 1883 auf 1633 im Jahre 1899 gestiegen. Bei den Verbrechen: Gewalttätigkeiten und öffent­ licher Widerstand besteht eine leichte Herabminderung, von 1157 in den Jahren 1883—85 auf 1110 im Jahre 1897, vorwiegend, wie ich wiederhole, in den letzten Jahren in dem wegen seiner militärischen und patrioti­ schen Tapferkeit so berühmten Saragossa. Andererseits ist es natürlich, daß bei einer historisch so zur Ge­ walt oder, besser, zu persönlichen Gewalttätigkeiten neigenden Erziehung, welche die blutigen Verbrechen begünstigt, wie wir gesehen haben, und welche einen blutigen Patriotismus gegen die Fremden und den Haß gegen die Ketzer als den Gipfel aller Tugenden betrachtet, daß bei einem Volke, welches man einen tragischen Gascogner nannte, weil es in blutigen Dingen sich nicht auf Drohungen beschränkt, sondern sich mit größtem Ergötzen an dem grausamen Schick­ sal menschlicher Wesen erfreute, die sich in der Arena zerfleischten, und das einen Torero vergötterte — daß solch ein Volk leicht dazu drängt, das verwickelte Problem politischen Unglücks, das aus so vielen atavisti­ schen Ursachen, historischen und selbst klimatischen, herrührt, durch einen Messerstich oder eine Bomben-

XII explosion zu lösen. Der Anarchismus steht daher in voller Blüte. Wer wird sich darüber wundern, wenn in einer so mit Gewalt gesättigten Gesellschaft von Zeit zu Zeit sich die Gewalttätigkeit überall in Blitz und Sturm entlud? Man kann die Gewalt nicht ungestraft mit dem Hintergedanken heilig sprechen, daß sie nur in einer bestimmten Richtung anzuwenden sei, früher oder später wird jemand kommen, der das Evangelium der Macht von einem politischen Glauben auf den andern überträgt. Diesen Tatsachen gegenüber sollte der moderne Mensch in sich gehen und die eiserne Religion der brutalen Macht, deren Anhängerin bis jetzt die Menschheit war, mit dem höchsten Eide ab­ schwören, und er sollte wenigstens begreifen, daß der G rundsatz: „Gewalt ist immer unmoralisch, auch dann, wenn sie angewendet wird, um Gewalttätigkeiten zu unterdrücken", nicht von einer krankhaften Sentimen­ talität eingegeben ist, sondern von der Logik, die sich aus der Beobachtung des Lebens selbst ergibt. Wir müssen diese neue Religion verkünden, um den großen Wechsel zu ¡beschleunigen, der sich inmitten der modernen Zivili­ sation vollzieht, sonst würde der Europäer mit seiner ganzen Wissenschaft und Zivilisation nur wenig über dem Australier stehen, der Bonwick, auf seine Frage über gut und böse, zur Antwort g a b : „Gut ist, wenn ich die Frau eines anderen raube, böse, wenn mir ein anderer die meine nimmt."

Eine auf diese Weise entstandene Kriminalität hat auch ihre Spuren in einer besonderen Literatur zurück­ gelassen. Cervantes in seinen „Novellen", Mendoza im „Lazarillo de Tormes", Quevedo im „Buscon", Gil Maestre in der „Granja de Ciudad" und im „Ver­ brechen von Barcelona" (1888), sowie in „Malhechores de Madrid" (1883) beschreiben sie gründlich. Das Werk von Quirös: » V e r b r e c h e n u n d P r o s t i t u t i o n in M a d r id " vervollständigt dieses traurige Bild auf wunderbare Weise, indem es die Be­ obachtungen der Kriminalanthropologie hinzufügt, worin der Verfasser ein Meister ist, so daß er nicht nur ein schönes und merkwürdiges, sondern auch ein in hohem Grade wissenschaftliches Werk schaffen konnte. T u r i n , 15. September 1909. Cesare Lombroso.

U eb e r das Verbrecherleben in den großen Städten sind von Schriftstellern und Gelehrten aller Länder höchst interessante Bücher geschrieben worden. London, Rom, Berlin und Paris verfügen über eine so reichliche Literatur dieser Art, daß selbst eine bibliographische Zusammen­ stellung in knapper Auswahl viele Seiten füllen würde. Nur bei uns ist die Literatur über diesen Gegenstand bisher mißachtet worden. Es ist jetzt aber an der Zeit, daß man aufhört, sie lediglich als Gegenstand der Neugierde, des Lachens, des Unwillens oder des Aergemisses zu be­ handeln. Von einem anderen Gesichtspunkte betrachtet, erregt das Verbrecherleben ein so ausgesprochenes Mit­ gefühl, daß auch die Literatur sich auf ein höheres Niveau erheben muß. Wenn wir dir, lieber Leser, dieses Buch übergeben, so hoffen wir, daß du uns Gerechtigkeit widerfahren lassen wirst. Beim Sammeln des Materials und bei der Nieder­ schrift schwebte uns der Gedanke vor, daß nicht das niedrige Material, sondern die Art der Bearbeitung des Stoffes dazu beitragen würde, dein Interesse zu erwecken, welcher Gedanke uns bei der Arbeit nicht ermüden ließ. Trotzdem müssen wir des Folgenden noch in der Ein­ leitung besonders Erwähnung tun: 1. Wir wollen allen denen danken, die uns bei der Arbeit geholfen haben. Wir wollen, als Zeichen unseres Dankes, der Welt ihre Namen bekannt geben. Besonders seien zwei Herren erwähnt, die uns während der Dauer der Arbeit tatkräftig zur Seite standen, der Beamte der öffentlichen Strafanstalten, Herr Juan Ramos Marin, und

der junge Advokat, Herr Enrique Garcia Herreros, unser hauptsächlichster Mitarbeiter bei unseren Exkursionen. Wir übermitteln hiermit diesen liebenswürdigen Freunden unseren Dank für ihre guten Dienste. 2. Wir versichern, daß unsere Forschungen in der lautersten Absicht geschehen sind. In dem1 Buche gibt es Dinge, welche wie Lügen klingen. Oott gebe, es wären welche 1 Aber es ist Wahrheit, und wir haben nichts über­ trieben. So viel wie möglich haben wir gezählt, gewogen und gemessen, und wo es unmöglich war, haben wir der Erfahrung gemäß berichtet 3. Schließlich bitten wir, nicht an gewissen Worten, Redewendungen oder Gedanken Anstoß zu nehmen, die in dem Buche zu lesen sind. Wir vertrauen hierbei auf die Kraft der Wissenschaft, welche dem Wißbegierigen eine leidenschaftslose Auffassung ermöglicht und verhindert, daß jemand d a s als Unmoral und Schmutz betrachten könnte, was wir aus edelsten Motiven heraus behandelt haben. M a d r id .

C. Bernaldo de Quirös. J. M. Llanas Aguilaniedo.

Herrn R a f a e l S a U lla s ! In Ihrem Werke über die Volkssprache, speziell in dem Teile: „Der spanische Verbrecher“ liest man Folgendes: „Aus diesem Grunde ist der Titel „ D e r s p a n i s c h e V e r b r e c h e r “ nicht meine Erfindung, es ist vielmehr das Banner, unter welchem sich alle Forscher scharen, die bei kriminalistischen Studien das nationale Subjekt und Objekt als Ausgangspunkt für die Forschung wählen. Von der Wichtigkeit ihrer Arbeit wird es abhängen, ob dieses Banner ein Heerzeichen sein wird, das geeignet ist, auf dem Felde der Wissenschaft ein neues Orientierungs­ zeichen für das Vordringen unserer aufklärenden Forschungen zu bilden.“ Mit unserem Werke „Verbrechertum und Prostitution in Madrid“ stellen wir uns in den Dienst dieser Allgemein­ idee, deshalb können wir das Werk keinem anderen als Ihnen zueignen, schon aus dem Grunde, weil Sie zur Ehre und zum Ruhme unseres Landes der Idee gedient haben und Ihre unschätzbare Hilfe es uns ermöglichte, unser Projekt schließlich zu verwirklichen. Wir bitten Sie, als Zeichen unserer unwandelbaren Gesinnung und Dankbarkeit, die Widmung anzunehmen.

Die Autoren.

Inhalt Seite

Vorrede von C esare L om broso: Das Verbrechen in Spanien und seine G eschichte...................................... V Vorwort der V erfasser............................................................... XIV Widmung an Rafael S a l i l l a s ..................................................XVI 1. K ap itel: D ie A n g eh ö rig en des V erb re ch e rtu m s . 1 I. Das Verbrecherleben................................................... 3 II. Die E ntw icklung......................................................... 4 1. Die V erw ahrlosten.......................................... 7 2. Die Unanpaßlichen (inadaptables)................... 9 a) Mangelhafte E rz ie h u n g .................................. 10 b) A tavism us..........................................................11 c) Pathologische und Entartungszustände . . 13 3. Die G e fa lle n e n ..................................................... 16 III. Das P a ra site n le b e n ......................................................... 18 1. Soziales P arasitentum ........................................... 22 2. Die G o lfo s.............................................................. 25 IV. Unterscheidung der S p e z i e s ........................................... 36 V. Gemeinsame Charaktere.................................................... 43 1. Der Vagabundencharakter.......................................52 2. Professionelle Deformationen und Veränderungen 57 3. Brandmale des Verbrecherlebens......................... 66 a) Spitznamen......................................................... 68 b) J a r g o n .............................................................. 70 c) T äto w ieru n g en ................................................77 d) Traumatische undpathologische Narben . 83 e) Alkoholismus.....................................................84 f) Professioneller T y p u s .......................................92

Seite

VI. Das Verbrechertum in M a d r i d ...................................... 97 1. Vorstadtgegenden................................................... 103 2. Die niedrigen V ie r te l..........................................108 3. Das Z e n tru m ..................................... 116 2. K ap itel: D as V e r b r e c h e r tu m ..................................... 123 I. Die Verbrecherfauna Madrids......................................... 125 1. Allgemeine Uebersicht..........................................125 2. Zahl und Verhältnis der A rten....................... . 1 2 6 3. Verbrechertypen..................................... . . 130 a) R ä u b e r ............................................................ 131 b) Guapos (die S ta rk e n )..................................... 137 c) Diebe................................................................. 139 d) Fälscher............................................................ 142 e) G a u n e r ............................................................ 144 4. Die Verbrechervereinigungen............................147 II. Wie der Verbrecher e n ts te h t..........................................152 1. Die Kinder von V e rb re c h e rn ............................153 2. Die verwaiste und verwahrloste Jugend . . . 155 3. Die Perversen....................................................... 174 4. Die Vagabundengeschlechter................................ 177 III. Der Verbrecher im G e f ä n g n is .................................179 3. K apitel: Die P r o s t i t u t i o n .......................................... 207 I. Die Erscheinung der P ro stitu tio n ................................ 209 II. Die Prostituierten............................................................211 1. U r s p r u n g ............................................................211 2. Das Prostitutionsleben......................................... 226 3. Das E n d e ............................................................233 III. Die geschlechtliche Inversion......................................... 237 1. U ranism us............................................................242 2. Tribadie . . ........................................................264 IV. Klienten der Prostitution und pervers Sexuelle . . 268 V. Vermittler der Prostitution..............................................277 VI. Die Prostituierte und der Zuhälter................................ 290

Seite

4.

K apitel: D ie B e t t e l e i ..................................................297 I. Armut und B e tte le i.......................................... 299 II. Die B e ttle r ......................................................................301 1. Klassifizierung........................................................305 2. Die kräftigen B e t t l e r ..........................................306 3. Das Bettlerleben...................................................310 III. Der Einfluß des Almosens.............................................. 320

5. K apitel: D ie V erbesserung des L ebens

327

E rstes Kapitel.

Die Angehörigen des Verbrechertums.

Quirös-Aguilaniedo, Prostitution u. Verbrechertum in Madrid.

1

I.

Das Verbrecherleben. Das Verbrechertum ist der Ausdruck einer bestimmten Lebensführung. Wir begreifen unter demselben alle jene sozialen Klassen und Individuen, die von dem normalen Lebenswege in einer ganz spezifischen Weise abweichen, dank der anormalen Entwicklung ihrer Energie in allen Disziplinen, wie Kunst, Moral, Wissenschaften usw. X&w. Wenn diese Lebensform sich in einer besonderen Gesell­ schaftsklasse betätigt, welche Gruppen und einen mehr oder weniger von dem sozialen Körper losgelösten Stand bildet, der auf verwerfliche Weise seinen Lebensunterhalt sucht, so bekommen wir eine ganz bestimmte, spezifische Klasse: die Klasse der Verbrecher. Diese Klasse ist mehr oder weniger scharf umgrenzt oder auch unbegrenzt — man kann gegenwärtig das eine wie das andere sagen — wie die Leute der großen Welt oder von guter Lebens­ führung. Es sind die Verbrecher, die Prostituierten, die Bettler, die „Golfos" und „Verlorenen" jeder Art, die sich gegenseitig unterstützen und in dieser Klasse zu­ sammentun, heterogene und proteusartige Typen, die durch einen Entartungsvorgang sich vorn' sozialen Organismus loslösen und wie Parasiten auf ihm' leben, bald als Feinde verfolgt, bald wie Mitesser geduldet, bald in festen, gegen­ seitigen Beziehungen, sich jenem anpassend, um dadurch 1*

4 ihre Lässigkeit und ihre Untätigkeit zu bemänteln, ihre Eitelkeit zu stärken und ihren Lastern möglichst schrankenlos frönen zu können1).

II.

Die Entwicklung. Man kann den Oolfo in der Tat als Protoplasma des Verbrechertums betrachten. Mit Golfo bezeichnen wir einen Menschen, der auf irgendeine Weise der gesellschaftlichen Ordnung den Rücken gekehrt*2) oder sich aus irgendeinem Grunde von seiner Klasse losgelöst hat3). Es handelt sich also nicht, wie einige behaupten, um einen reinen Typus! Antisoziale Individuen und solche, die sich nicht anpassen können, hat es immer und überall gegeben. Das neue am Golfo ist der Name, die Bezeichnung. Wie ist sie aber entstanden? Gewöhnlich hält man sie für neueren Datums und erklärt sie für ein Gassenwort, das in alle gesellschaftlichen Schichten4) Eingang gefunden hat und nur nicht in die *) S a 1i 11 a s , „Hampa" (Das liederliche Gesindel), Madrid 1898, S. 43. 2) Salillas, „Hampa", S. 396. 8) Baroja, Pathologie des Golfo in „Vidas sombrías" (Dunkle Existenzen), Madrid 1900. 4) Man findet es schon in den ältesten Nummern der „Gaceta", z. B. in der vom 28. Februar 1600. Es ist ein Edikt des Universitätsrichters, in dem von einem Prozeß gegen ein Individuum José N. (a) Joseito, etwa 16 Jahre alt, die Rede ist,

akademische Sprache eingedrungen ist Baroja sagt: „Man hat es dort erfunden, wo solche Wörter fabriziert werden, in einem Gefängnis oder in einem Bordell1) / 4 Doch warum soll man annehmen, daß man das W ort willkürlich erfunden hat? Wir kennen einige Hypothesen über den Ursprung des Wortes. Nach einem fleißigen Forscher unserer altkastilischen Sprache würde es von „Golfin", dem alten Strandräuber, kommen*2). Nach anderen ist es eine Reminiszenz an das Sträf­ lingsleben auf den Galeeren, die jetzt in einer Aehnlichkeit der Sprache wiedererscheint3). Der Galeerensträfling lebte ja tatsächlich unter „Golfos", und sein Leben war folglich das eines Golfos. Es könnte aber auch eine unverständliche Neubildung sein. Vielleicht kommt es von dem Worte „Grofa", des alten Gaunerjargons, welches in dem Wörterbuche von dessen Personalverhältnisse und gegenwärtiger Aufenthalt un­ bekannt seien; man wisse nur, daß er gewöhnlich in den Wach­ häusern des Viertels von San Oil schlafe und unter den „ G o l f o s", welche in diesem Viertel verkehrten, wohlbekannt sei. x) Pathologie des Golfo. 2) Dieser Meinung ist Nicolas Estévanez in den „Frag­ menten aus meiner Erinnerung", veröffentlicht in „El Itnpardal" (20. August 1900). „Man kann sagen," meint er, „daß man seit undenklicher Zeit die Strandjungen meiner Heimat „Golfines" nennt, so wie man die großen Wucherer als „Hai­ fische" („tiburones") bezeichnet. Jedesmal, wenn man mir in Madrid von Golfos spricht, denke ich an die sympathischen Golfines, die Plünderer des Meeres, wo ein plünderndes Wesen sich in gewisser Weise verdient macht. s) Salillas scheint hierauf auch in „Die Sprache", Madrid 1896, S. 238, 1. Anmerkung, anzuspielen.

6 Juan Hidalgo mit „Freudenmädchen, Dirne1)" erklärt wird. Golfa bedeutet auch heute noch das „Freudenmädchen", und zwar das von niedrigster Sorte. Zweimal und an zwei verschiedenen Orten, bei einem alten Bettler und einer Vorstadtdirne, ist uns versichert worden, daß das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung weiblich war. Dies würde zu der Annahme einer sprach­ lichen Umformung führen, die sich im. Schoße der niedrigsten Gesellschaftsschichten langsam vollzogen h a t Nichtsdestoweniger ist die Frage vorläufig noch ohne endgültige Lösung. Doch weiter. Der Golfo ist ein Erzeugnis der gesellschaftlichen Entartung. Entarten in diesem Sinne bedeutet — wie Salillas sagt*2) — „die Bedingungen zum Lebensunterhalt, zur gesellschaftlichen Stabilität, Beständigkeit, verlieren." Die gesellschaftliche Entartung wird hauptsächlich durch zwei hervorstechende Merkmale gekennzeichnet, die sich bald getrennt, bald vereint zeigen und in diesem1 Falle in wechselseitig verwandter Beziehung stehen. Die Merk­ male sind: a) A n o m i e , d. i. Mangel an Gesetz und Regierung, an innerer und äußerer Disziplin, b) das E l e n d , oder, was dasselbe ist, die Armut, wenn sie so groß ist, daß sie beginnt, sich durch sich selbst zu ernähren. 1) Romanzen in der Verbrechersprache von verschiedenen Autoren, mit einem Wörterbuch, alphabetisch zusammengestellt von Juan Hidalgo, Madrid 1789. Nach Salillas (,»Die Sprache": das erste Wörterbuch der Gaunersprache) würde Grofa vom lateinischen „Scrofa" = Schwein kommen. 2) „Hampa", S. 398.

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