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German Pages 230 Year 2015
Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen
Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.)
Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke)
Work published within the framework of Sur Translation Support Program of the Ministry of Foreign Affairs, International Trade and Worship of the Argentine Republic (article 12 of the Rules for the SUR Translation Support Program). Dieser Band wurde mit freundlicher Unterstützung des Übersetzungsprogramms des argentinischen Außenministeriums (SUR Translation Support Program) realisiert. Der Druck wurde durch einen Zuschuss des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin großzügig gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Débora Ledesma, Berlin Lektorat & Satz: Ralph Buchenhorst Übersetzer: Martin Schwietzke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1524-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Danksagung
Die Herausgeber danken folgenden Institutionen: dem Goethe-Institut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Universität Buenos Aires, die uns bei der Durchführung des Symposiums, dessen Vorträge die Basis dieses Sammelbands darstellen, auf das Freundlichste unterstützten; der argentinischen Regierung, deren Übersetzungsprogramm SUR, das im Rahmen der Einladung Argentiniens als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2010 eingerichtet wurde, die Übertragung der vorliegenden Beiträge finanziell realisierbar machte; dem Zentralinstitut Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, das durch seine großzügige Unterstützung den Druck des Bandes ermöglichte.
Inhalt
Vorwort der Herausgeber | 9
AUS DER GEGENWART: AKTUALITÄT DES BENJAMINSCHEN DENKENS Metropole & Megastadt: Zur Ordnung des Wissens in Walter Benjamins Passagen
Willi Bolle | 17 Lesarten Benjamins: Zwischen Anachronismus und Aktualität
Ricardo Forster | 53
E LEMENTE EINER T HEORIE DES STÄDTISCHEN R AUMS DER M ODERNE Die Frage nach dem urbanen Raum bei Simmel und ihre Spuren bei Benjamin
Esteban Vernik | 73 Straßen ohne Erinnerung: Die Phänomenologie der Großstadt bei Siegfried Kracauer und Walter Benjamin
Miguel Vedda | 87 Anmerkung zu Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und dem Paris des Zweiten Kaiserreichs: Anknüpfungspunkte
Carlos Eduardo Jordão Machado | 99
IM DICKICHT DER STÄDTE: BENJAMINSCHE T OPOGRAPHIEN Schrift und Artefakt der Stadt
Claudia Kozak | 117 Die Städte, die Ästhetik und Benjamin
Silvia Schwarzböck | 131 Die Illusion des allumfassenden Stadtplans: Walter Benjamin und die hybride Stadt
Ralph Buchenhorst | 141
ANNÄHERUNG AN DIE LATEINAMERIKANISCHEN
HYPERSTÄDTE
Vom urbanisierten Subjekt zur Zerstörung des Urbanen
Helmut Galle | 161 Benjamins Konzept des dialektischen Bildes und die Filmstadt in A Margem
Fábio Raddi Uchôa | 175 São Paulo: Zwei Fotografen, die eine unbewusste Optik der Stadt offenbaren
Márcio Seligmann-Silva | 187 Das Buenos Aires der Zwischenräume: Eine Annäherung an seine Handelsorte
Andrea Ebu Isaac, Luciana Romano y Mariela Zelenay | 209 Autorinnen und Autoren | 223
Vorwort der Herausgeber
Es existiert eine Fotografie von Walter Benjamin aus dem Jahre 1933, aufgenommen im Hafen von Ibiza.1 (Abbildung 1) Das Bild hat den Charakter eines Schnappschusses, dem die Intention des (anonymen) Fotografen auf den ersten Blick nicht abzugewinnen ist. Die Aufnahme hält sich in keiner Weise an die traditionellen Regeln für den Aufbau eines Bildes. Man sieht eine Menschenmenge, deren Mitglieder allesamt leger gekleidet sind und an einem Sommertag auf einem Platz oder einer Uferpromenade (die nähere Umgebung ist nicht zu sehen) stehen und warten. Einige schauen in die Kamera, andere nicht. Von seinem erhöhten Standpunkt aus scheint der Fotograf kein bestimmtes Objekt anzuvisieren. Fast am unteren Bildrand, mittig, ist Walter Benjamin zu erkennen (sein Oberkörper), der sich wie zufällig auf den Betrachter zubewegt. Seine Augen fixieren etwas unter und hinter der Kamera. Er scheint zu lächeln. So wie sich das Bild Benjamins auf dieser Fotografie wie zufällig dem Betrachter nähert, so müssen sich auf Benjamin wohl selbst jene Städte und Orte, in und an denen er lebte, wie zufällig zubewegt haben. Die durch sie ausgelösten und eingefangenen Bewegungen, ihre Bilder, ihre Geräusche und Gerüche, ihre wechselnden und fesselnden Eindrücke waren für sein Denken Irritation und Auslöser zugleich. Und mehr noch, einige urbane Orte wurden für sein Werk nicht bloß Metaphern, sondern konkrete Räume der dialektischen Erfahrung seiner Zeit (wie die kleinen Gassen und ausladenden Boulevards von Paris): Während Benjamin den Großteil seiner zweiten Lebenshälfte in Hotels und für kurze Zeit angemieteten kleinen Wohnungen verbrach-
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Aus dem Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt/Main.
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te, war das Denken Benjamins ein Denken in situ, ein Denken, das versuchte, diesen Orten entgegenzukommen, sich mit ihnen zu vereinigen, um das Sprachrohr ihrer Vergangenheit ebenso wie ihrer Zukunft zu werden.
Abbildung 1, anonym, Walter Benjamin im Hafen von Ibiza Heute hat dieses Denken so viel Anerkennung und so viel Aufmerksamkeit im kulturkritischen Dialog erhalten, dass sich seine Gegenwart, in Form von Zitaten auf Konferenzen und in Aufsätzen, in zahlreichen Kommentaren und Analysen seines facettenreichen Werks, auf niemanden mehr wie zufällig zubewegen kann. Seit den 1970er Jahren hat sich Benjamin in der europäischen Rezeption als ein interdisziplinärer, unkonventioneller Denker der in sich gespaltenen Moderne verwandelt, und zwar sowohl in den anglo-amerikanischen cultural studies und dem Diskurs über die kollektive Erinnerung als auch in der zeitgenössischen Ästhetik, der Architektur und der Theorie der Massenmedien. Der Hinweis auf Konzepte wie Allegorie, Aura und dialektisches Bild sind zu Gemeinplätzen geworden. Inzwischen sind ein „Lexikon“ der zentralen Begriffe des Benjaminschen Denkens und ein umfangreiches Benjamin-Handbuch erschienen.2
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Opitz, M.; Wizisla, E. (Hrsg.) Benjamins Begriffe, 2 Bände, Frankfurt a/M: Suhrkamp, 2000; Lindner, B. (Hrsg.), Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006.
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All dies mag den Leser zu der Frage führen, warum man diesem Umstand eine weitere Publikation über den Autor hinzufügen soll. Nun konzipierte Benjamin seine „Urgeschichte der Moderne“ in einigen und anhand seiner Erfahrungen mit einigen der wichtigsten Hauptstädte Europas: Berlin, Paris, Moskau. In ihnen, in ihrer Form, Geschichte und Struktur (üb)erlebte er etwas aus dem Traum der traditionellen Metaphysik des westlichen Denkens: dass die Gebäude, die Straßen, das Leben in ihnen der Rationalität folgen sowie Selbsttransparenz und Selbstbestimmung des Kantschen Subjektes darstellen sollten. Ein Großteil von Benjamins Werk ist der Dekonstruktion dieses Traumes gewidmet, und zwar mit dem Ziel, beim Aufwachen ein neues, radikales Geschichtsverständnis gegenüber diesen urbanen Räumen zu entwickeln. Trotzdem bleibt der Verdacht, dass die heutigen städtischen Hyperräume mit den Konzepten, die Benjamin für den kulturellen Wandel der europäischen Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, nicht zu beschreiben sind. Das charakteristischste Beispiel ist womöglich der Wandel von konkreten, physischen Räumen mit historischem und utopischen Wert hin zu vollkommen virtuellen Räumen (Cyberspaces) ohne utopischen Wert und zu Räumen aus flüchtiger, hybrider Schrift (Graffiti, Werbung, Videoüberwachung), für welche Konzepte nötig sind, die Städte als beiläufige, zufällige, gleichwohl machtdurchwirkte Räume begreifen.3 Wir, die Beitragenden des vor-
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Der Architekt und Architekturtheoretiker Rem Koolhaas stellt für die vergangenen 20 Jahre eine Entwicklung fest, die im Fehlen einer konstruktiven Vision für den städtischen Raum mündet: „Heutzutage schreiben wir keine Manifeste mehr; höchstens noch verfassen wir Stadtporträts, und dabei hoffen wir nicht etwa, theoretisch begründete Vorschläge zum Städtebau zu entwickeln, sondern bestimmte Entwicklungen überhaupt einmal verstehen zu können. Das Vertrauen in entsprechende Theorien ist geschwunden, und es wird lange dauern, bis wieder etwas Ähnliches entsteht.“ (Koolhaas, R., „Mut zur Lücke“ In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven, III/2006, S.20. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch eine Ausstellung, die im Oktober und November 2006 im Museo de Arte Contemporáneo in Santiago de Chile unter dem Titel Spam-City. Dialogos sobre la ciudad contemporánea („Spam-City. Gespräche über die zeitgenössische Stadt“) stattfand. Dort wurden Konzepte wie „Ciudades Ocasionales“ („Zufällige Städte“), „Post-It-City“ oder „Ciudad Efímera“ („Flüchtige Stadt“) gezeigt, Konzepte eines ständigen
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liegenden Bandes, fragen uns entsprechend, ob in Benjamin (obwohl er das Konzept des Historismus und des ständigen Fortschritts kritisiert) die Idee der Erlösung in der Vorstellung einer plötzlichen Durchlässigkeit des totalen Raums fortbestand, so wie in seiner Sprachphilosophie die Idee der reinen Sprache fortdauerte, wie ein Fluchtpunkt des Sinnes jeder konkreten Sprache.4 Die meisten der in diesem Band enthaltenen Artikel gehen auf die Vorträge zurück, deren Rahmen ein Symposium über das Werk Benjamins darstellte, das im Mai 2006 in Buenos Aires stattfand. Das Symposium machte es sich zur Aufgabe, die Hauptkonzepte der Benjaminschen Analyse urbaner Räume herauszuarbeiten und ihre Aktualität auf die Probe zu stellen, vor allem im Kontext der Hyperstädte Lateinamerikas: Buenos Aires, São Paulo und Mexiko-Stadt, in denen sich aus der Interkulturalität, dem unkontrollierten Wachstum und der Dezentralisierung der Kräfte eine andere urbane Modernität ergibt als in den europäischen Großstädten. Ein weiteres spezifisches Ziel des Symposiums war es, die Rezeption der Schriften Benjamins im akademischen Diskurs in Lateinamerika zu untersuchen. Die Vortragenden entstammten unterschiedlichen Disziplinen: Literaturtheorie und kritik, Philosophie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften, Filmtheorie, Architektur, Literatur. Wir hoffen, dem Leser mit der Vorlage der ausgearbeiteten Artikel eine Auswahl präsentieren zu können, die das Werk Benjamins auf ähnliche Weise platziert wie das oben erwähnte Foto den Denker selbst: als eine (wenn auch gewichtige) Stimme unter vielen, als eine Lesart der städtischen Menge, die stets akzeptieren muss, ein Teil von dieser zu sein und die so für dasjenige steht, was die offene Gesellschaft in all ihrer Kontingenz und Pluralität kennzeichnet: für die Produktion von Differenz. Die Artikel, aus denen sich dieses Buch zusammensetzt, sind auf vier Abschnitte verteilt. Der erste („Aus der Gegenwart: Aktualität des Benjaminschen Denkens“) beinhaltet zwei Artikel, welche die Mög-
Neu(be-)schreibens des und im öffentlichen Raum, ohne vereinenden Horizont; siehe www.spam-arq.cl (letzter Zugriff 14.07.2010). 4
Benjamin, W. Gesammelte Schriften [=GS]. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bände, Frankfurt a/M, 1975ff., Bd. IV.1, S.13.
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lichkeit untersuchen, Benjamins Denkansätze auf den heutigen kulturellen und kulturwissenschaftlichen Kontext in Lateinamerika zu übertragen. Der Beitrag Willi Bolles geht von Erwägungen zum Passagenprojekt aus, sowie zur Interpretation desselben als ein Modell der „historiographischen Polyphonie“, um später einige Vorschläge zur Analyse der postmodernen Metropolen und Megastädte zu machen. Ricardo Forster bietet eine detaillierte Beschreibung der Geschichte der Benjaminrezeption in Argentinien aus einer polemischen und kritischen Perspektive. Der zweite Abschnitt („Elemente einer Theorie des städtischen Raumes der Moderne“) enthält Arbeiten, die verschiedene Theorien des städtischen Raumes behandeln, welche direkt oder indirekt mit Benjamin in Verbindung stehen. Esteban Vernik beschäftigt sich mit einer Untersuchung der von Georg Simmel vorgenommenen Bestimmung des Urbanisten – entwickelt vor allem in Die Großstädte und das Geistesleben –, und analysiert die Studien, die der Autor der Philosophie des Geldes den Städten Rom, Florenz und Venedig widmet. Der Artikel von Miguel Vedda umreißt einige Parallelen zwischen den Phänomenologien der Großstadt bei Siegfried Kracauer und Walter Benjamin und verbindet die allegorischen Bilder beider Autoren mit dem Ziel, eine Vision der Großstadt vorzustellen, die jener der Perspektive des Exilanten entfremdet ist. Carlos Eduardo Machado sieht in der Soziologie der Angestellten, die Kracauer in der klassischen Studie von 1929 entwickelt hat, wie auch im Buch über Offenbach und in den Benjaminschen Analysen des Paris des Second Empire Bestrebungen, in scheinbar oberflächlichen, fragmentarischen und verstreuten Phänomenen die Grundlage für eine Mikrologie der großen Städte zu finden, die eine Überlegung zu den zeitgenössischen politischen Bedingungen und speziell zum Aufstieg des Nationalsozialismus enthält. Der dritte Abschnitt („Im Dickicht der Städte: Benjaminsche Topographien“) setzt die Benjaminschen Überlegungen zur Stadt mit zahlreichen Ebenen des Ästhetischen in Relation. Claudia Kozak verbindet die exzentrische Plastizität, die Benjamin in der Einbahnstraße oder im Passagen-Werk beobachtet hat, mit gegenwärtigen Ausdrucksformen im urbanen Raum wie den Graffitis, den lettristischen oder situationistischen Versuchen und anderen Eingriffen in die Selbstbeschreibungen der Stadt. Silvia Schwarzböck vergleicht die Sichtweisen von Walter Benjamin und Susan Sontag und betrachtet einige Probleme der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik. Der Artikel von Ralph Buchenhorst entwickelt, ausgehend von einer Dis-
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kussion über die Benjaminsche Theorie des urbanen Raums und den Studien Fredric Jamesons über die Postmoderne, Elemente eines kritischen Kontruktivismus, der es ermöglichen soll, vom heutigen fragmentierten und dezentrierten städtischen Raum ein adäquates Zeugnis abzulegen. Die Texte von Helmut Galle und Márcio Seligmann-Silva im vierten Abschnitt („Annäherung an die lateinamerikanischen Hyperstädte“) stellen voneinander abweichende und – stellenweise – sogar entgegengesetzte Lesarten der Stadt São Paulo dar. Im Fall Galles wird die brasilianische Großstadt als eine chaotische, monströse Szenerie betrachtet, deren Bewohner sich ständig in einem Labyrinth eingesperrt sehen, das von der Gegenwart selbst und einer Zukunft der Dekadenz gebildet wird. Márcio Seligmann-Silva dagegen findet in den Fotografien Claude Lévi-Strauss’ und Carlos Goldgrubs zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen intelligente und provokative Sichtweisen auf die Entwicklung der Stadt São Paulos. Auf dieselbe Stadt richtet sich der Fokus im Beitrag von Fábio Raddi Uchôa, der die Ergiebigkeit von Benjamins Kategorie der dialektischen Bilder hervorhebt, um den Blick zu erklären, den der Film A margem von Ozualdo Candeias von der Stadt São Paulo entwickelt. Schließlich bietet der Artikel von Andrea Ebu Isaac, Luciana Romano und Mariela Zelenay eine lebendige und eindrucksvolle Betrachtung über die alten und neuen Handelsorte im Buenos Aires des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ralph Buchenhorst/Miguel Vedda, Berlin/Buenos Aires, Juli 2010
Aus der Gegenwart: Aktualität des Benjaminschen Denkens
Metropole & Megastadt: Zur Ordnung des Wissens in Walter Benjamins Passagen1 WILLI BOLLE
Das französische Wort für ,Hauptstadt’ – ‚capitale’ – hat Walter Benjamin2 in einer einprägsamen Passage mit ,Metropole’ übersetzt. „Dans les plis sinueux des vieilles capitales, / Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements [...].“ Diese Anfangsverse aus einem berühmten Gedicht von Baudelaires „Tableaux parisiens“ behalten auch in der Übertragung ihren inkantatorischen Charakter: „Im Faltenschoß der alten Metropolen / Wo Feen im Entsetzen selber walten [...].“3 Im Unterschied zum Original, das die Große Stadt als lenkendes und befehlendes ,Haupt’ bzw. organisierendes Gehirn präsentiert, evoziert die Übersetzung die ,Mutter-Stadt’, die aus ihrem Schoß andere Städte
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Für die Unterstützung dieser Forschungsarbeit danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico (CNPq); für die Gespräche über die Arbeit Klaus Scherpe, Michael Werner und ganz besonders Eberhard Lämmert. Gedankt sei auch dem Metzler-Verlag für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks des Aufsatzes.
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Die Ausgabe der Gesammelten Schriften von Walter Benjamin, Hg. Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, 7 Bände und 2 Supplementbände, Frankfurt a.M. 1972-1989, wird im folgenden mit der Sigle GS und der Bandnummer zitiert.
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GS IV.1, S. 32-33.
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gebiert. Die hier kommentierten Verse dienen als Motto für die folgenden Betrachtungen. Gegenstand der Untersuchung ist ein paradigmatisches Werk der Geschichtsschreibung, eine Darstellung des Phänomens der modernen Metropole, die Walter Benjamin 1927 als „dialektische Feerie“ begonnen hatte und an der er bis zum Jahr seines Todes, 1940, gearbeitet hat: das Projekt der Pariser Passagen.4 Worin besteht der spezifische methodologische Beitrag dieses Projekts zur Geschichtsschreibung? Eine erste Antwort auf diese Frage soll hier aus einer kulturtopographischen Perspektive erarbeitet werden. Mit ,Topographie’ ist dabei zum einen der kulturgeographische Raum gemeint, in dem sich „die Sozialgeschichte der Stadt Paris im 19. Jahrhundert“ abspielt, das Thema, mit dem Benjamin ab 1935 im offiziellen Programm des New Yorker Instituts für Sozialforschung figurierte.5 Zum anderen werden damit die materiellen und ideellen Ordnungen des Wissens bezeichnet,6 die er in Gestalt von Entwürfen, Materialsammlungen, Exzerpten, Aufzeichnungen, Gliederungsschemata usw. vorgenommen hat, um sich seines Gegenstands als Geschichtsschreiber zu bemächtigen. Beide topographischen Domänen – das Dargestellte und das Darstellende – sind eng miteinander verwoben, und in dieser Verflechtung sollen sie hier auch vorgestellt werden. Die erste Stufe von Benjamins Arbeit am Passagenprojekt ist eine Sammlung von 408 Fragmenten, in den Jahren 1927-1929 zusammen-
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GS V.1,2. Das Passagen-Werk. Hg. Tiedemann, Rolf. Frankfurt a.M. 1982. Für die Bezeichnung „Passagen-Werk“ findet sich bei Benjamin kein Beleg.
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Vgl. Tiedemann, Rolf in: GS V.2, S. 1097. Zur Problematik der Ordnung des Wissens siehe Lämmert, Eberhard: “How to cope with the ever growing body of human knowledge?” Vortrag 13.4.1994, Instituto de Estudos Avançados, Universidade de São Paulo; sowie Baxmann, Inge/Franz, Michael/Schäffner, Wolfgang (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Hg.. Berlin 2000; darin besonders die Beiträge von Siegert, Bernhard: “Wissensanalyse in der frühen Royal Society. Robert Hookes ‘mechanical algebra’” (S. 26-44), Stockhammer, Robert: “Zeichenspeicher. Zur Ordnung der Bücher um 1800” (S. 45-63) und Schäffner, Wolfgang: “Topographie der Zeichen. Alexander von Humboldts Datenverarbeitung” (S. 359-382).
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gestellt unter dem Titel „Pariser Passagen “.7 Richten wir hier unsere Aufmerksamkeit auf das wissenstopographisch Relevante, nämlich auf die Begriffe und Ordnungsvorstellungen, die diesem ersten, von Benjamin organisierten Wissensfundus zu Grunde liegen und die alle späteren Ordnungen – insbesondere die Hauptsammlung von „Aufzeichnungen und Materialien“ – entscheidend prägen und mitbestimmen. Das Modell dieser ersten Ordnung sind die FragmentSammlungen der Frühromantiker Friedrich Schlegel und Novalis, deren Werk Benjamin in seiner Dissertation studiert hatte. Mit der Aufwertung des Fragments im Sinne eines „konstruktiven Fragmentarismus“ 8 stützt sich Benjamin auf einen der ästhetischen Grundbegriffe der Moderne.9 Die Fragment-Sammlung von 1927-1929 wurde übertragen in einen sehr viel größeren Fundus von „Aufzeichnungen und Materialien“, der ab 1934 die Grundlage von Benjamins Passagen-Forschungen bildete. Bei diesem Wissensfundus, der vom Autor bis 1940 kontinuierlich erweitert wurde und schließlich 910 Seiten umfaßte,10 handelt es sich um ein in 36 thematische Konvolute gegliedertes Archiv von mehr als 3.500 Fragmenten bzw. Text-Passagen. Diese aus Exzerpten und Zitaten, Notizen und Reflexionen bestehende Datenbank wurde auf der Grundlage einer Bibliographie bzw. Quellen-Sammlung von mehr als 850 Titeln erstellt,11 die eine eigene Untersuchung wert wäre. Mit der strategischen Verwendung des Titelwortes „Passage(n)“ kommt der Doppelcharakter von Benjamins topographischem Ansatz zum Ausdruck: zum einen sind die Pariser Galerien als urbanistischarchitektonische Orte gemeint, die der Ware, dem Konsum und dem Vergnügen gewidmet sind; zum anderen ist es die Konstellation von Tausenden von Text-Bausteinen, mit denen versucht wird, die Ordnung der Stadt in die Syntax eines historiographischen Textes zu übersetzen.
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GS V.2, S. 993-1038. Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt a.M. 1999.
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Vgl. Fetscher, Justus: “Fragment”. In: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 2. Stuttgart 2001, S. 551-588.
10 GS V.1,2, S. 79-989. 11 GS V.2, S. 1277-1323.
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Sollte diese Wissensordnung die Form eines Buches annehmen? Es gibt gute Gründe dafür, diese Frage für eine gewisse Zeit (bis zum Projekt des Baudelaire-Buches 1938) zu bejahen, endgültig aber doch zu verneinen.12 Auf jeden Fall ist es philologisch genauer – anstatt über ein nicht zustande gekommenes Passagen-‚Buch’ zu spekulieren –, von dem Fragmentenfundus der Passagen als „working lexicon“13, Archiv, Zettelkasten, „Hypertext“14 oder Baukasten zu sprechen. Jede dieser Bezeichnungen hat besondere Konnotationen und beleuchtet spezifische Aspekte des Textes. Ein Lexikon ist die Materialiensammlung insofern, als die Konvolute alphabetisch gegliedert sind; andererseits ist sie irgendwie auch die Parodie eines Lexikons, da einige Buchstaben fehlen und unter demselben Buchstaben oft Heterogenes versammelt ist. Die Bezeichnungen ,Archiv’ und ,Zettelkasten’ legen nahe, daß es sich zwar um geordnet gespeicherte, aber auch um lediglich provisorische Informationen handelt, die bereitstehen für weiter zu entwickelnde wissenschaftliche und intellektuelle Operationen. Das Vorhandensein von Hypertext-Elementen, die fortlaufende Erweiterung und das ständige Bauen sowie die essentielle Mobilität der Archive verleihen dieser Wissensordnung einen Baustellen- bzw. Baukastencharakter. Diese Überlegungen werfen also die grundsätzliche Frage auf, ob das Fragmentenarchiv der Passagen – in dem sich das von Benjamin über die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts zusammengetragene Wissen konzentriert – nur in Funktion anderer, aus seinen Materialien zu konstruierender Texte existiert oder ob es eine selbständige Funktion besitzt. Als Hypertext, so kann man sagen, genügt das Archiv sich selbst: es ist ein als räumlicher Text angelegtes Dispositiv zur Erforschung des
12 Vgl. Eiland, Howard/McLaughlin, Kevin: “Translators’ Foreword”. In: Benjamin, Walter: The Arcades Project. Cambridge/Mass. 1999, S. XI: “At any rate, it seems undeniable that despite the informal, espistolary announcements of a “book” in the works, an eigentlichen Buch, the research project had become an end in itself.” 13 Buck-Morss, Susan: The Dialectics of Seeing. Walter Benjamin and the Arcades Project. Cambridge/Mass. 1989, S. 207. 14 Bolle, Willi: “Die Metropole als Hypertext. Zur netzhaften Essayistik in Walter Benjamins Passagen-Projekt”. German Politics and Society, Issue 74, Vol. 23, No. 1,Spring 2005, S. 88-101.
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Phänomens der modernen Metropole. Wenn aber auf dieser Grundlage ein in einer zeitlichen Folge artikulierter Geschichtsdiskurs entstehen soll, so muß man sich für eine Auswahl, eine Perspektive und eine „Reihenfolge“15 entscheiden. In diesem Sinne sollen nun die zwei Ordnungen untersucht werden, mit denen Benjamin das in seiner Fragmentensammlung gespeicherte Wissen strukturieren wollte. An ihnen läßt sich die fruchtbare Spannung erfahren, die zwischen der Wissensordnung in Form eines anschaubaren, aber nicht erzählbaren Datennetzes und dem Versuch besteht, einen Geschichtsdiskurs in einer zeitlichen Ordnung zu artikulieren, so wie sie durch unser Sprechen und Schreiben vorgegeben ist.
I.
D IE ÄUSSERE T OPOGRAPHIE DER H AUPTSTADT , ODER : DAS N ETZ EINER POLYPHONEN G ESCHICHTSSCHREIBUNG
Eine erste diskursive Ordnung seines in den 36 Konvoluten der „Aufzeichnungen und Materialien“ zusammengetragenen Wissens über die Welt der Passagen hat Benjamin 1935 mit dem Exposé „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ vorgenommen. Es handelt sich um einen Versuch, eine polyphone Form von Geschichtsschreibung zu entwickeln. Diese Absicht ist aus einer Reihe von Termini herauszulesen, die über das Exposé verstreut sind und die es als Ganzes zusammenhalten: „Geschichte der Architektur“, „Geschichte der Technik“, „Geschichte der Photographie“ bzw. der Medien, „Urgeschichte“, Geschichte als „Klassenkampf“ bzw. als „Geschäfte [machen]“, „Kulturgeschichte“, „Detektivgeschichte“, „geschichtliches Aufwachen“.16 Das Exposé wird damit zu einem Begriffsnetz, das der Autor konstruiert hat, um ein anderes, komplexeres Netz, das des Materialienfundus, zu beobachten und zu organisieren.17 Das Paradoxe an der Aufgabe,
15 Vgl. Benjamins Überlegungen zur “Reihenfolge” (recte für “Bücherfolge”) seiner Passagen-Bauelemente, GS VII.2, 762f. 16 GS V.1, S. 46, 49, 49, 47, 50, 52, 55, 53 und 59. 17 Vgl. Böhme, Hartmut: „Netzwerke: Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 13 (2003), H. 3, S. 590-
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die er sich vorgenommen hat, besteht darin, innerhalb der Konventionen essayistisch-wissenschaftlicher Texte die Strukturen des Gleichzeitigen in linearer Abfolge darzustellen. Anders formuliert: das Netzwerk bzw. der Hypertext polyphoner Geschichtsschreibung kann zwar topographisch ansichtig gemacht, aber wie soll er ‚erzählt’ bzw. als ein in einer zeitlichen Abfolge artikulierter Geschichtsdiskurs entwickelt werden? Die Gliederung des Exposés, mit der Parallelsetzung von je einer historischen Persönlichkeit und einem Merkmal der Stadt Paris, ist eindeutig topographisch geprägt: „Fourier oder die Passagen“, „Daguerre oder die Panoramen“, „Grandville oder die Weltausstellungen“, „Louis-Philippe oder das Interieur“, „Baudelaire oder die Straßen von Paris“, „Haussmann oder die Barrikaden“. Im Vordergrund steht die Stadtgeschichte mit Paris als Protagonist. Die Einzelheiten der dargestellten Topographie, also das Thema Paris, müssen hier allerdings im Hintergrund verbleiben zugunsten der methodologischen Fragen der Topographie der Darstellung, d.h. der Art und Weise der Wissensorganisation. Als erstes läßt sich feststellen, daß Benjamin mit diesen sechs Textblöcken nicht nur ein Sechstel seiner 36 MaterialienKonvolute, sondern ausschließlich topographische Elemente aufgerufen hat: „A Passagen [...]“, „Q Panorama“, „G Ausstellungswesen [...]“, „I das Interieur [...]“, „P die Straßen von Paris“ und „E Haussmannisierung, Barrikadenkämpfe“. Diese Reihenfolge der Konvolute muss in einem Kommentar nicht unbedingt orthodox nachvollzogen werden. Methodologisch ergiebiger scheint mir, aus Benjamins Exposé – mit seinen an Filmeinstellungen und -sequenzen erinnernden Sätzen und Abschnitten – das Verfahren der Montage herauszulesen und damit das Prinzip, dass die Konvolute mit ihren Fragmenten auch in anderer, freier Reihenfolge, angeordnet werden können. Damit erreichen wir nicht nur ein flexibleres Verständnis der Topographie von Paris, sondern vor allem die Einsicht in den ganz und gar unlinearen, hypertexthaften Charakter von Benjamins Geschichtsschreibung. In der Tat begleitet die topographische, netzartige Form der Materialsammlung den im Exposé in der Zeit entwickelten Geschichtsdiskurs auf Schritt und Tritt, und dieser erhellt seinerseits wie ein Kommentar den Sinn jener Sammlung. Bei diesem
604; hier: S. 599: „Man baut[] Netze, um Netze zu beobachten und zu erkennen.“
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Umgang mit den Texten geht es mir nicht in erster Linie darum, im einzelnen empirisch nachzuvollziehen, „wie es“ mit der Entstehung des Passagenprojekts „eigentlich gewesen“ ist, sondern vielmehr zu erkennen, welche Form von Wissensorganisation Benjamin in Bewegung gesetzt hat. Die von ihm im Exposé skizzierte methodologische Vorgabe – wie das Netz einer polyphonen Geschichtsschreibung funktioniert – soll hier theoretisch und didaktisch ausgewertet werden. Nach dieser Prämisse lassen sich die genannten sechs Konvolute auch in einer anderen Reihenfolge anordnen, zum Beispiel wie folgt: „Q Panorama“, insbesondere Panorama von Paris, als erste Annäherung an die Stadt; „P die Straßen von Paris“, unterstützt durch einen Stadtplan; „I das Interieur [...]“; „A Passagen [...]“, als Synthese bzw. Überblendung von Straße und Interieur; „E Haussmannisierung und Barrikaden[...]“ als Schauplatz sozialer Konflikte; „G Ausstellungswesen [Weltausstellungen]“, mit Paris als Welt-Metropole, Zentrum eines kolonialen Imperiums. Die derart topographisch fundierte Stadtgeschichte könnte durch sechs weitere, ebenfalls topographische Konvolute noch bereichert werden: „C antikisches Paris [...]“; „l die Seine, ältestes Paris“; „T Beleuchtungsarten“; „R Spiegel“; „M der Flaneur“ und damit verbunden „m Müßiggang“. Wie wir sehen, sind 12 von 36, also ein Drittel von Benjamins thematischen Konvoluten, topographischer Art; von daher rechtfertigt sich die Benennung der hier erörterten Wissensordnung als topographische. Der Flaneur wird dabei als eine Art Sondierungsfigur eingesetzt, um die Kartographie, den Raum und die Geschichte der Stadt Paris zu erschließen. Die topographische Wissensordnung ist dermaßen vielfältig und komplex, dass damit gleichzeitig alle anderen Arten von Geschichte berührt werden; z.B. die „Wirtschaftsgeschichte“ (g) oder die „Sektengeschichte“ (p), um zwei von Benjamin angelegte Konvolute zu nennen. Auf der Grundlage seiner Wissenssammlung lässt sich somit ein komplexes historiographisches Netzwerk identifizieren, das hier in seinen wesentlichen Teilen kurz beschrieben werden soll. Aufbauend auf der topographischen, stadtbezogenen Geschichtsschreibung können wir das Quadrivium des sogenannten „Unterbaus“, bestehend aus der politischen Geschichte, der Wirtschafts-, Technikund Sozialgeschichte, zusammenstellen – wohl wissend, dass Benjamin auf das marxistische Unterbau/Überbau-Schema nur in einem ers-
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ten Moment zurückgreift, um es dann zu dekonstruieren.18 Anhand des Konvoluts „E Haussmannisierung, Barrikadenkämpfe“ wird das Verflochtensein der politischen Geschichte mit der oben skizzierten Stadtgeschichte und damit die Vernetzung der verschiedenen Arten von Historiographie ersichtlich. Zur politischen Geschichte mit ihren Ereignissen, Prozessen, Institutionen, Staatsgeschäften, Kollektiva und Persönlichkeiten gehören auch die Konvolute „a soziale Bewegung“, „V Konspirationen, compagnonnage“ und „k die Kommune“. Damit wächst das Netz der Geschichtsschreibung von 12 + 3 auf 15 der 36 Konvolute. Die politische Geschichte wird ergänzt durch die „Wirtschaftsgeschichte“ (Konvolut g). Hierher gehört, als Ausdruck der Massenproduktion, auch das Konvolut „Z die Puppe, der Automat“ (15 + 2 = 17 Konvolute). Die Wirtschaftsgeschichte geht Hand in Hand mit der Technikgeschichte: „F Eisenkonstruktion“, „r École polytechnique“ und „U Saint-Simon, Eisenbahnen“ (17 + 3 = 20 Konvolute). Das letztere, semantisch doppelt besetzte Konvolut ist wiederum ein Beispiel für die Verknüpfung verschiedener Arten der Geschichtsschreibung. Mit dem Thema des Saint-Simonismus ist die Überleitung zur Sozialgeschichte gegeben. Hierher gehören, ergänzend zu den im Rahmen der politischen Geschichte schon behandelten gesellschaftlichen Kämpfen (insbesondere: Barrikaden versus Haussmannisierung), die philosophischen Reflexionen über die Gesellschaft: mit Saint-Simon und „W Fourier“ die beiden wichtigsten Sozialutopiker des 19. Jahrhunderts – dazu auch „p anthropologischer Materialismus, Sektengeschichte,“ – und, als Kritiker dieser Sozialutopien, Synthesefigur und Autor einer ‚realen’ Utopie: „X Marx“ (20 + 3 = 23 Konvolute). An einer Passage aus diesem Konvolut über die „Quellen von Marx und Engels“ [X12,1], lässt sich illustrieren, wie das von Benjamin konstruierte historische Informationsnetz auf der mikrostrukturellen Ebene der Fragmente funktioniert: „‚Sie nahmen von den bürgerlichen Historikern der Restaurationsperiode den Begriff der sozialen Klasse und des Klassenkampfs, von Ricardo die ökonomische Begründung der Klassengegensätze,
18 Statt auf den “Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur”, wie bei Marx, kommt es Benjamin auf den “Ausdruckszusammenhang” an; s. GS V.1, S. 573f. [N1a,6].
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von Proudhon die Proklamierung des modernen Proletariats als einzige wirklich revolutionäre Klasse, von den feudalen und christlichen Anklägern der neuen ... Wirtschaftsordnung die schonungslose Entlarvung der bürgerlich liberalen Ideale, die haßerfüllte, ins Herz treffende Invektive, vom kleinbürgerlichen Sozialismus Simondis die scharfsinnige Zergliederung der unlösbaren Widersprüche der modernen Produktionsweise, von den anfänglichen Weggenossen aus der Hegelschen Linken, besonders von Feuerbach, den Humanismus und die Philosophie der Tat, von den zeitgenössischen politischen Arbeiterparteien – den französischen Reformisten und den englischen Chartisten – die Bedeutung des politischen Kampfes für die Arbeiterklasse, vom französischen Konvent, von Blanqui und den Blanquisten die Lehre von der revolutionären Diktatur, von St. Simon, Fourier und Owen den ganzen Inhalt ihrer sozialistischen und kommunistischen Zielsetzung: die totale Umwälzung der Grundlagen der bestehenden Gesellschaft, die Beseitigung der Klassen ... und die Verwandlung des Staats in eine bloße Verwaltung der Produktion.’ Korsch [Karl Marx] III, p. 101.“ In diesem Fragment werden nicht nur in kompaktester Form die Voraussetzungen der marxistischen Gesellschafts- und Geschichtsvision resümiert, sondern mit der dargestellten Vernetzung des Wissens entstehen links zu Konvoluten wie „U Saint-Simon [...]“ und „WFourier“ und damit die Anregung zu einer netzartigen Lektüre von Benjamins Passagenfundus insgesamt. Ein dritter Bereich von Benjamins netzwerkartiger, polyphoner Geschichtsschreibung kann schließlich aus all den Formen der Historiographie gebildet werden, die sich mit ästhetischen, künstlerischen und kulturgeschichtlichen Erscheinungen befassen; nennen wir ihn hier die Fünfer-Konstellation des sogenannten „Überbaus“. Genau besehen handelt es sich – da Benjamin ja die Relation Unterbau/Überbau aufheben will – um eine Neuschreibung der konventionellen „Kulturgeschichte“, in dem Sinne, dass die kulturellen Phänomene als „Ausdruck der wirtschaftlichen Verhältnisse“ verstanden werden.19 Die fünf hier vertretenen Modalitäten der Geschichtsschreibung sind die allge-
19 Siehe GS V.1, S. 495f. [K2,5]: “Zur Lehre vom ideologischen Überbau. [...]”.
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meine Anthropologie, die Kunst-, Medien- und Literaturgeschichte, sowie die Ästhetik als Wahrnehmungsgeschichte. Zur allgemeinen Anthropologie gehören Phänomene wie „B Mode“ und „S [...] Neuheit“, Verhaltensformen wie „O Prostitution, Spiel“ sowie Empfindungsweisen und philosophische Kategorien wie „D die Langeweile, ewige Wiederkehr“ (23 + 3 = 26 Konvolute). Die Kulturgeschichte im engeren Sinne umfasst traditionell die verschiedenen Künste, von denen Benjamin die Bildenden Künste und die Literatur berücksichtigt – beide allerdings ausdrücklich im Zeichen des durch die Industrielle Revolution ausgelösten Medienwandels. Was die Kunstgeschichte betrifft, so geht es um die Auseinandersetzung der traditionellen Kunst mit den neuen Ausprägungen der Technik, dargestellt am paradigmatischen Fall des Konflikts der „Malerei“ (Konvolut S) mit der „Photographie“ (Konvolut Y). Die Mediengeschichte – über die Benjamin, parallel zur Passagenarbeit, den grundlegenden Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” (1936) verfasst hat – ist im Materialienfundus mit den Konvoluten „i Reproduktionstechnik, Lithographie“ und „b Daumier“ vertreten. Vor diesem Hintergrund kommt es zu einer radikalen Neuschreibung der „Literaturgeschichte“ (Konvolut d): die Literatur wird sowohl im Kontext der neuen Medien als auch im Zeichen des Marktes und der Ware studiert. (Das Netz der Geschichtsschreibung umfasst nunmehr 26 + 2 + 2 + 1 = 31 Konvolute.) Auch die Geschichte der Ästhetik wird von Benjamin neu geschrieben; nicht mehr im Hegelschen Sinne als Philosophie der einzelnen Künste, sondern wie bei Baumgarten als Geschichte der Wahrnehmung. Allerdings mit einer materialistischen Wendung: die ästhetischen Phänomene werden als „Ausdruck“ der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, d.h. als Bestandteile einer allgemeinen Geschichte, verstanden. Hier können auch die Konvolute „K Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus, Jung“ und „L Traumhaus, Museum, Brunnenhalle“ verortet werden (31 + 2 = 33 von 36 Konvoluten). Damit schließt sich der Kreis in Bezug auf den topographischen Ausgangspunkt dieser polyphonen Geschichtsschreibung. Andererseits ist in diesem Netz bereits die Entstehung einer neuen Wissensordnung angelegt. Der Übergang von einer Geschichtsschreibung als topographisch fundiertem Netz zu einer kritischen Dekonstruktion des Wissens als ,Kultur-Besitz’ vollzieht sich in Benjamins Reflexionen darüber,
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wie Geschichte zu schreiben sei. Sie finden sich vor allem im Konvolut „N Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts“, daneben auch in den Konvoluten „H der Sammler“ und „K Traumstadt und Traumhaus [...]“ mit Gedanken zur Ordnung der Sammlung und zur Verwertung des Freudschen Traum-Modells. Mit dem Anspruch, eine „neue, die dialektische Methode der Historik“ zu schaffen ([K1,3]; vgl. auch [N2,2] und [N4,1]),20 zielt Benjamin insbesondere auf das „Erwachen“ aus einer ‚musealen’ Geschichtsschreibung, wie sie vom Historismus des 19. Jahrhunderts betrieben wurde. Damit wir seine Kritik des Wissens als Kultur-Besitz mit vollziehen können, musste die Ordnung, die er dekonstruiert, freilich erst einmal aufgebaut werden. Das topographische Netz der Geschichtsschreibung können wir uns synoptisch wie folgt vor Augen stellen: topographische Geschichte, Stadtgeschichte: Konvolute:
A, Q, G, I, P, E+C, l, T, R, M, m
politische Geschichte:
(E), a, V, k
Wirtschaftsgeschichte:
g, Z
Technikgeschichte:
F, r, U
Sozialgeschichte:
(U), W, p, X
allgemeine Anthropologie:
B, (S), O, D
Kunstgeschichte:
S, Y
Mediengeschichte:
i, b
Literaturgeschichte:
d
neue Ästhetik,
20 GS V.1, S. 491, 574 und 580. Da die Passagen-Fragmente in den GS am genauesten mit Angabe ihrer Sigle lokalisierbar sind – z.B. [K1,3] oder [N2,2] –, werden sie im folgenden direkt im Haupttext und nur mit der Sigle zitiert.
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Wahrnehmungsgeschichte: Reflexionen zur Geschichtsschreibung: Kern des Modellbuchs der Passagenarbeit:
L, K
H, (K), N J (insgesamt 36 Konvolute).
Wie man sieht, handelt sich um eine polyphone bzw. simultane Form der Geschichtsschreibung, mit der wie in einem Gewebe das Gleichzeitige und das Ineinandergreifen der verschiedenen historischen Einzelelemente darstellbar gemacht werden. Freilich wird mit diesem Schema – mit diesem Netz, das dazu dient, ein anderes Netz zu beobachten – eine Reduktion im Maßstab von etwa 1:1.000 vorgenommen; es ist eine Synopsis der 910 Seiten der „Aufzeichnungen und Materialien“ unter dem Aspekt der Modalitäten der Geschichtsschreibung. In dem Maß, in dem man dieses großmaschige Netz verfeinert und es benutzt, um auf der Mikroebene der 3.500 Fragmente die für jede Art von Geschichtsschreibung am meisten charakteristischen Passagen herauszufiltern, bekommt man einen detaillierten Einblick in die Sozialgeschichte der Stadt Paris im 19. Jahrhundert. Mit der Materialsammlung ging es Benjamin zweifelsohne darum – das sollte hier mit Hilfe des Exposés von 1935 gezeigt werden –, ein Repertoire und Archiv zu diesem historischen Gegenstand zusammenzustellen. Allerdings werden die Sachverhalte von ihm nicht immer didaktisch und allgemein verständlich präsentiert. Wer mit Hilfe Benjamins die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts oder auch nur des Second Empires kennenlernen will, darf sich mit der Passagenarbeit allein nicht begnügen, sondern muss auch andere Quellen heranziehen. Eine sehr nützliche Hilfe zur besseren Erschließung des in den Passagen zusammengetragenen Repertoires bietet der „Guide to Names and Terms“ der englischsprachigen Ausgabe.21 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der Vergleich von Benjamins Methoden und Ergebnissen als Geschichtsschreiber mit denen anderer historischer Studien unerlässlich ist und zwar von beiden Seiten. Typisch für diesen z.Zt. noch weitgehend fehlenden Dialog ist einerseits die kuriose Tatsache, dass im Dictionnaire du Second
21 Benjamin, Walter: The Arcades Project (s. Anm. 12), S. 1016-1053.
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Empire (1995) unter dem Stichwort „Baudelaire“ Benjamins Studie „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ überhaupt nicht erwähnt wird.22 Andererseits lässt sich bei nicht wenigen BenjaminForschern eine Haltung narzisstischer Abkapselung, ein selbstgenügsames Sich-Einspinnen in seine idiosynkratische Terminologie beobachten. Bleibt der Dialog mit anderen Geschichtsschreibern aus, so wird nicht nur das Vorurteil bestärkt, dass Benjamin ‚eigentlich kein richtiger Historiker’ war, sondern es fehlen die Maßstäbe um zu beurteilen, was er als Geschichtsschreiber effektiv geleistet hat. Es ist an der Zeit, endlich das zu leisten, was Rolf Tiedemann, der Herausgeber des Passagen-Werks, ausdrücklich „nicht beabsichtigt“, nämlich „in die Diskussion der theoretischen Fragen einzutreten, die das Passenwerk in Fülle stellt“.23 Eines dieser theoretischen Probleme, dem sich die vorliegende Studie von Anfang bis Ende widmet, ist die Frage, ob und wie ein Netz zu erzählen sei. Es handelt sich um die Herausforderung, das Netz von historischen Gleichzeitigkeiten, das Benjamin mit dem Wissensfundus seiner Passagen aufgespannt hat, in einem Diskurs in zeitlicher Folge so zu entwickeln, dass schließlich ein „Erwachen“ aus jenen beiden Epochen erfolgt: aus dem Second Empire Baudelaires und aus der von Benjamin dargestellten Zeit zwischen zwei Weltkriegen.
II. D IE
INNERE T OPOGRAPHIE DER M ETROPOLE , ODER : D IE D EKONSTRUKTION DES IMPERIALEN ‚K ULTURBESITZ ‘-W ISSENS
So enzyklopädisch die von Benjamin zusammengestellte Wissenssammlung zur modernen Metropole mit ihren über 3.500 Exzerpten und Notizen auch sein mag, so hatte er doch etwas anderes damit im Sinn als die Einrichtung eines didaktischen, wohlgeordneten Geschichts-Repertoires, mit dem man einen so komfortablen Ausblick auf das Universum hätte wie etwa die Piloten in STAR WARS vor der Schalttafel ihres Raumschiffes. Oder wie der bürgerliche Sammler vom Typ Adolphe Thiers, der sein Leben und sein Geld darauf anlegt,
22 Tulard, Jean (Hg.): Dictionnaire du Second Empire. Paris 1995. 23 In: GS V.1, S. 14.
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sich mit einer Sammlung von Kultur-‚Gütern’ zu umgeben, die für ihn einen „Abriß der Welt“ [H3,1] darstellen soll. Gegen ein solches Wissen als gespeicherten, akkumulierten Besitz, als statisches ‚Magazin’ setzt Benjamin ein Wissen in ständiger Bewegung. Die neue Form der Geschichtsschreibung, die er 1938 mit einem Modellbuch der Passagen verwirklichen will, zielt auf die Dekonstruktion des Wissens, das von der bürgerlichen Gesellschaft und Geschichtsschreibung als Kultur-‚Besitz’ in Anspruch genommen zu werden pflegt. Eine totale Umwälzung der im Exposé von 1935 entworfenen provisorischen Ordnung, der nach Benjamins eigener Aussage „das konstruktive Moment [fehlte]“,24 erfolgte mit dem Bauplan des Modellbuchs, der 1981 in der Bibliothèque Nationale in Paris wiedergefunden wurde. Unter dem Titel Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus war ein Werk aus drei Teilen geplant: I. „Baudelaire als Allegoriker“, II. „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, III. „Die Ware als poetischer Gegenstand“.25 In Funktion dieses Projekts hat Benjamin sein gesamtes Materialien-Archiv neu gelesen und neu geordnet. Von den mehr als 3.500 Fragmenten hat er 1.745, also etwa die Hälfte, ausgewählt, wobei besonders relevant ist, dass er diese Fragmente resümiert.26 Dieses Faktum wurde vom Herausgeber Rolf Tiedemann allerdings vollkommen unterbewertet: für ihn sind die Resümees qualitativ nicht mehr als „Regestenverzeichnisse“; quantitativ hat er sich auf den Abdruck von weniger als 2 Prozent der Resümees beschränkt. 27 Da Benjamins Fragment-Resümees eine unersetzliche Orientierungshilfe bilden – der Leser wird vom Autor selbst durch die Topographie des Passagenprojekts geführt, z.T. mit Formulierungen, die sich nur an dieser Stelle finden – soll in diesem Aufsatz ausgiebig
24 Brief an Gretel Adorno vom 16.8.1935. In: GS V.2, S. 1139. 25 Brief an Friedrich Pollock vom 28.8.1938. In: GS I.3, S. 1086. 26 Eine ausführliche Beschreibung des Bauplans findet sich in Espagne, Michel/Werner, Michael: “Vom Passagen-Projekt zum ‘Baudelaire’. Neue Handschriften zum Spätwerk Walter Benjamins”. In: DVjs 58 (1984), S. 593-657. 27 In: GS VII.2, Frankfurt a.M., 1989, S. 736-738. Von den insgesamt 1.745 Fragment-Resümees wird auf S. 737f. eine Textprobe von 30 Resümees abgedruckt, das sind 1,7%.
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von ihnen Gebrauch gemacht werden.28 Thematisch hat Benjamin eine Eingrenzung des „19. Jahrhunderts“ auf das „Second Empire“ vorgenommen und statt einer überblickshaften, ‚allwissenden’ Darstellungsweise die Perspektive in ein Subjekt – Baudelaire, als exemplarischer Dichter der Moderne – hineinverlegt. Die moderne Metropole wird nunmehr mit den poetischen Kategorien Baudelaires wahrgenommen, aus denen der Autor des Passagenprojekts Kategorien der Geschichtsschreibung entwickelt. Da das geplante Buch als Ganzes nicht zustande gekommen ist – nur Teil II wurde effektiv abgeschlossen –, soll hier anstelle der Teilniederschrift der Bauplan des Buches analysiert werden. Mit diesem Bauplan tritt die Ordnung des Passagen-Archivs nach 36 thematischen Materialsammlungs-Kategorien (Konvoluten) in den Hintergrund zugunsten von 30 theoretisch elaborierteren, ‚konstruktiven’ Kategorien, deren Konstellation wir uns als mögliche Gliederung des Buches etwa so vor Augen stellen können: CHARLES BAUDELAIRE, EIN LYRIKER IM ZEITALTER DES HOCHKAPITALISMUS I. Baudelaire als Allegoriker
II. Das Paris des Second
III. Die Ware als poetischer
Empire bei Baudelaire
Gegenstand
Rezeption
Rebell und Spitzel
Die Ware
Rezeption generell
Politische Reaktionen
Rettung
Dante/ Physiognomik
Literarischer Markt
Nouveauté
der Hölle
28 Das Manuskript des Bauplans zum Baudelaire-Buch wurde 1996 von der Bibliothèque Nationale in das Frankfurter Benjamin-Archiv überführt und liegt seit Mai 2004 in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv. Die im folgenden zitierten unveröffentlichten Fragment-Resümees finden sich auf 58 losen Manuskript-Blättern, die von 425 bis 482 durchnumeriert sind; im Text werden sie mit “Ms. Nr. ...” zitiert. Ich danke der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur für die Genehmigung zur Publikation sowie Erdmut Wizisla und Ursula Marx für ihre Hilfe.
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Sensitive Anlage
Der Flaneur und die
Ewige Wiederkunft
Masse Gautier/
Ennui
Spleen
Ästhetische Passion
Der Heros
Perte d’auréole
Allegorie
Physiognomisches
Fortschritt
Verfehmung des
Der Dandy
l’art pour l’art
Jugendstil
Organischen Melancholie
Lesbos
Tradition
Pariser Antike Chthonisches Paris Die Prostituierte
Die Reihenfolge dieser Kategorien ist nur für den tatsächlich abgeschlossenen Teil II nachweisbar, für die anderen beiden Teile muss sie konjekturell bleiben. In unserem Zusammenhang ist das allerdings sekundär, da keine Rekonstruktion dessen beabsichtigt ist, ‚was Benjamin wohl geschrieben haben könnte’, sondern eine Auseinandersetzung mit der von ihm hergestellten Spannung zwischen linearer und netzwerkartiger Geschichtsschreibung. Obwohl der Bauplan nicht die letzte Textualisierungsstufe darstellt, darf er dennoch als „die avancierteste Strukturierung“ des Passagenprojekts29 angesehen werden. Nicht nur, weil Benjamin damit und nur damit „das umfangreiche Ganze in allen Teilen klar vor [sich] sehen [konnte], bevor [er sich] an die Niederschrift [...] machte“,30
29 Espagne, Michel/Werner, Michael: “Ce que taisent les manuscrits: les fiches de Walter Benjamin et le mythe des ‘Passages’”. In: Didier, Béatrice/Neefs, Jacques (Hg.): Penser, classer, écrire. De Pascal à Pérec. Vincennes 1990, S. 105-118, hier: S. 107. 30 Brief an Theodor und Gretel Adorno vom 28.8.1938. In: GS I.3, S. 1087.
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sondern auch deshalb, weil die heutige elektronische Schriftkultur uns dazu veranlasst, den nicht sequentiellen, mobilen Hypertext mit seinen mannigfaltigen Kombinationsmöglichkeiten gegenüber dem linearen, ein für allemal fixierten Text aufzuwerten.31 Mit dem Bauplan hat Benjamin, wie drei Jahre zuvor im Exposé, wiederum ein Wissensnetz eingerichtet, um den großen Materialienfundus zu beobachten und zu strukturieren – aber ein ganz und gar neues Netz: „N1a,1 das Stahlgerüst der materialistischen Geschichtsschreibung“ (Ms. Nr. 460), wie es emblematisch von dem ‚Eisennetz’ des Eiffelturms gebildet wird. Vor dem Hintergrund dieses Netzes möchte ich hier drei Vektoren analysieren, die den Diskurs der mit dem Modellbuch angestrebten Wissensordnung methodologisch prägen: den „Abdruck Baudelaires im 19. Jahrhundert“, Baudelaires Poetik der Destruktion und Benjamins dekonstruktive Geschichtsschreibung. „J51a,5 unberührter Abdruck Baudelaires im neunzehnten Jahrhundert“ (Ms. Nr. 440), so lautet Benjamins Resümee eines Fragments, das für die Kategorie der „Rettung“ – und damit für seine Konzeption der „rettenden Kritik“ – methodologisch besonders relevant ist. „Was ich vorhabe ist, Baudelaire zu zeigen, wie er ins neunzehnte Jahrhundert eingebettet liegt. Der Abdruck, den er darin hinterlassen hat, muß [...] hervortreten [...]“, so wird das Resümee im Volltext des Fragments näher erklärt. „Rettung“ ist zusammen mit „Rezeption“ und „Tradition“ eine der methodologischen Rahmen-Kategorien des Modellbuches. Mit der „Rettung“ Baudelaires als einer der „großen Figuren des Bürgertums“ [J77,1] versteht sich Benjamins Studie als Modell einer kritischen Geschichtsschreibung im Gegensatz zur bürgerlichen Art der Überlieferung und Traditionsbildung. Wie sieht der Abdruck Baudelaires im 19. Jahrhundert im Einzelnen aus? Der größte Teil der Belege findet sich in den zum mittleren Teil des Modellbuches gehörenden Kategorien: von „Rebell und Spit-
31 Die Hypertext-Strukturen von Benjamins Passagenprojekt treten besonders deutlich hervor, wenn man den Bauplan aus der Perspektive des darin verwendeten Farbsiglensystems studiert: siehe Abbildung und als Erläuterung dazu Bolle, Willi (Anm. 14) sowie ders.: “Geschichtsschreibung als ästhetische Passion”, in: Goebel, Eckart/Klein, Wolfgang: Literaturforschung heute. Berlin 1999, S. 98-111, und „Geschichte ”, in: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hg.): Benjamins Begriffe. 2 Bände. Frankfurt 2000, S. 399-442, hier: 425-440.
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zel“ über „literarischer Markt“ und „der Flaneur und die Masse“ bis zu „der Heros“ und „Pariser Antike“. Die topographische Methode wird hier deutlich verfeinert, ‚von innen heraus’ neu konzipiert, gelangt damit aber auch an ihre Grenze. Das zeigt u.a. die Unmöglichkeit, die Befunde zu Baudelaires gesellschaftlichem Standort und seinem literarischen Feld, d.h. zu seinem gesellschaftlich-ideologischen Kontext, strikt abzugrenzen gegenüber seiner Poetik und seinen künstlerischen Voraussetzungen, die im einleitenden Teil des Modellbuches vorgestellt werden sollten. Anhand einer kleinen Auswahl von Fragmenten bzw. deren Resümees werden wir sehen, wie diese Elemente ineinandergreifen und wie das äußere topographische Wissensnetz durch eine stärker poetisch und theoretisch geprägte Wissensordnung ersetzt wird. Was die Einbettung Baudelaires in seine Zeit betrifft, so verstand er sich, wie Benjamin u.a. mit dem Fragment [d15,4] darlegt, als Teil der Bohème. Seine zwiespältige politische Haltung, sowohl als ‚Rebell’ wie als ‚Spitzel’, lässt sich durch eine Kontrastmontage von Fragment-Resümees verdeutlichen: einerseits die Aussage „J25,5 Baudelaire möglicherweise Mitbegründer des Salut public“ – andererseits die drei Belege „J1a,2 Schmähung der Februarrevolution“, „J19a,2 Freude über Züchtigung von Republikanern“ und „J38a,2 Baudelaire als ‚mouchard’ [Polizeispitzel] in Belgien“ (Ms. Nr. 443, 481, 481, 443). Solche von Benjamin selber in den Resümees vorgenommenen Verkürzungen erlauben es des Öfteren, seine Gedanken in prägnanterer Form zu erkennen als in den ausformulierten Texten. Am ergiebigsten ist meistens eine Kombination von beiden. So lassen sich z.B. die Widersprüche in Baudelaires politischer Haltung wie folgt erhellen: Sein Status als „J30,2 fils de famille [...]“ (Ms. Nr. 443) mit großem anfänglichen Vermögen und einflussreichen Beziehungen erlaubte es ihm, „die Juni-Insurrektion auf der Seite des Proletariats mit[zu]machen und [...] jeder Unannehmlichkeit [zu] entgehen, indem er seinen Freunden Chennevières und La Vavasseur von der école Normande begegnete, die sich ihrerseits in Begleitung eines garde nationale befanden“ [J26a,]. Letztlich geht es Benjamin aber nicht darum, Baudelaire als revolutionären oder reaktionären Autor einzustufen, sondern seine Unberechenbarkeit und seine Autonomie gegenüber Ideologien zu betonen, d.h. den „Spielraum“ aufzuzeigen, „der ihm als Literat zur Verfügung stand“.32
32 “Das Paris des Second Empire bei Baudelaire”. GS I.2, S. 528.
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Abbildung, Die konstruktiven Kategorien des Passagen-Modells in Form von Farbsiglen. Durch die Formen und Farben entstehen andere Arten von links zwischen den Kategorien, die die verbal hergestellten linearen Zusammenhänge netzartig überlagern.
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Dieser Spielraum, d.h. Baudelaires Stellung in seinem literarischen Feld,33 lässt sich topographisch beschreiben einerseits als Gebundensein an die Gesetze des „literarischen Marktes“, andererseits als Abgrenzungsstrategie gegenüber den Zeitgenossen. Was das Wirtschaftliche angeht, so betrug der „J42a,3 Gesamtverdienst [Baudelaires] 16.000 francs“ (Ms. Nr. 447), in krassem Gegensatz zu den Honoraren von Erfolgsautoren wie Victor Hugo (300.000 frcs allein für die Misérables), Scribe, Dumas oder Lamartine (zwischen 1838 und 1851 fast 5 Millionen frcs) (vgl. [d6a,1]). Aufgrund seiner poetischen „Staatsräson“34 aber auch als „J58,4 [...] Manöver im [poetischen] Konkurrenzkampf“ (Ms. Nr. 426) hielt der Autor der Fleurs du Mal sehr darauf, sich gegenüber den Berufskollegen klar abzugrenzen. Nicht selten lief es darauf hinaus sie zu disqualifizieren: „J7a,5 Baudelaire abschätzig über Gautier“ (Ms. Nr. 462), „J27a,4 über Lamartine: un peu catin“ (Ms. Nr. 462), „un peu prostitué“ [J27a,4]), über Hugo: „J19a,7 l’Océan même s’est ennuyé de lui“ (Ms. Nr. 451), „un génie spécial et [...] un sot“ [J19a,7]. Andererseits verlor Baudelaire dabei aber weder die Qualität der künstlerischen Verfahrensweisen noch seine poetische Aufgabe aus den Augen. Wenn er z.B. Gautier mit den Worten kritisiert: „il ne fait qu’enfiler et perler des mots en manière de colliers d’osages“ [J7a,5], so bescheinigt dieser ihm umgekehrt ausdrücklich die Qualität der „J25a,3 Ausschaltung der Rhetorik“ (Ms. Nr. 462): „Autant que possible, il [Baudelaire] bannissait de la poésie l’éloquence“ [25a,3]. Die poetische Aufgabe, die Baudelaire sich gestellt hat, wird von Benjamin in zwei Fragment-Resümees prägnant definiert: „J51a,7 Aufgabe des Heros: der Moderne Gestalt geben“ und „M10a,2 eine Prosa [schaffen] nach dem Bilde der großen Stadt (spleen de Paris)“ (beide Ms. Nr. 455). Im Original-Zitat des Fragments [M10a,2] – „C’est surtout de la fréquentation des villes énormes [...] que naît cet idéal obsédant“ – wäre das entscheidende Wort, wie Benjamin es anderer Stelle getan hat, besser mit ‚Riesenstädte’, im Vorgriff auf die ‚Megastädte’ unserer Zeit, zu übersetzen. „Baudelaire schrieb gewisse seiner Gedichte um andere, vor ihm gedichtete zu zerstören“ [J59a,3]. Wie diese Passage zeigt, sind Baudelaires strategische Abgrenzungen gegenüber den Berufskollegen im
33 Zum Begriff des literarischen Feldes, s. Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. 34 “Über einige Motive bei Baudelaire”. GS I.2, S. 615.
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Bereich des Übergangs von der Bestimmung seines literarischen Feldes zur Definition seiner Poetik der Destruktion zu verorten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Distanz des Dichters gegenüber bestimmten literarischen Konventionen. Von der Kritik an der NaturVerehrung der Romantiker: „J24a,1 impudence de la nature florissante“, „J69,1 Entweihung der Wolken“, „J25,3 [...] Abneigung gegen den blauen Himmel“, „J21a,7 sternenlose Nacht des ‚balcon’“ (Ms. Nr. 462, 462, 454, 434); über „J32a,5 Invektive[n] gegen den Amor“ und „J48a,1 [...] gegen die Mythologie [der] école païenne“, „J56a,12 Verzicht auf den Zauber der Ferne“ (Ms. Nr. 465, 465, 435); Erklärungen „J5a,2 [...] gegen l’art pour l’art“, „J66a,1 [...] gegen progrès“, „J40,2 gegen den Begriff der avantgarde“ (Ms. Nr. 443, 454, 439); bis zur Ablehnung der Gelegenheitsdichtung („J37,7 refus de l’occasion“) zugunsten einer poetischen „Aufgabe“ (Ms. Nr. 455) – mit diesem Block von Stellungnahmen, alle negativer Art, lässt sich von den poetischen Verfahren her der Standort Baudelaires im Literaturbetrieb seiner Zeit kompakt umreißen. Baudelaires Poetik der Destruktion liegt, Benjamin zufolge, in seiner „sensitiven Anlage“ begründet, eine Kategorie, die zusammen mit „Melancholie“, „Allegorie“ und „ästhetische Passion“ in Teil I des geplanten Buches („Baudelaire als Allegoriker“) eine zentrale Rolle spielen sollte. Ganz allgemein gesagt zielt Baudelaires Poesie darauf, in radikaler Form die Sensibilität der Moderne zum Ausdruck zu bringen (vgl. [J33a,3]). Unter den Facetten des ‚Dagegen’-Seins und der Revolte lässt sich als Grundstimmung und Quelle seiner Poesie die ‚Melancholie’ erkennen (vgl. [J8a,2]). Ihre spezifisch moderne, urbane Form ist der ‚Ennui’. Wie der Dichter in einem Brief an seine Mutter schreibt, „J46a,5 langweilt [er] sich in Paris wie noch nie jemand auf der Welt“ (Ms. Nr. 453). Als „D5,4 erster Lyriker des schlechten Wetters“ (Ms. Nr. 453) evoziert er die „J72,4 brumes et pluies [...]“, den „J6,2 ennui apparaissant comme un soleil pâle“ und die „J2a,6 coupole spleenétique du ciel“ (alle Ms. 454). Dieser Außenwelt entsprechen „J54,7 entleerte Erlebnisse (bu sans soif)“ und eine „67a,5 Aushöhlung des Innenlebens“ (beide Ms. Nr. 468). Was Baudelaires Bruch mit der konventionellen Liebeslyrik bedeutete, hat auf unnachahmliche Weise Flaubert in einem Schreiben an ihn zum Ausdruck gebracht: „J13a,2 Vous chantez la chair sans l’aimer“ (Ms. Nr. 463); der Text fährt fort „d’une façon triste et détachée qui m’est sympathique. Ah! vous comprenez l’embêtement de l’existence, vous!“ [J13a,2].
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Die melancholische Grundhaltung erfährt ihre Ausformung in der Allegorie, die den Kern von Teil I des geplanten Buches bilden sollte. Als Allegoriker leistet Baudelaire, wie Benjamin erklärt, „J56a,6 [...] Verzicht auf [die] harmonische Totalität des Daseins“ (Ms. Nr. 466), darin der Konzeption des l’art pour l’art verwandt, welches „das Reich der Kunst außerhalb des profanen Daseins“ errichtet [J56a,5]. Noch entschiedener formuliert: der „J55a,3 Allegoriker [verhält sich] gewalttätig gegen die Harmonie“ (Ms. Nr. 466), willens, „die harmonische Fassade der ihn umgebenden Welt einzureißen“ [J55a,3]. Baudelaires allegorische Verfahrensweise kommt am prägnantesten in dem Gedicht „La Destruction“, dem Paradigma seiner Poetik der Zerstörung, zum Ausdruck. Der dort präsentierte „appareil sanglant de la Destruction“ ist das „Werkzeug, mit dem [die Allegorie] die Dingwelt so entstellt und so zugerichtet hat, daß nur noch die Bruchstücke von ihr da sind“ [J68,2]. Wie manifestiert sich dieses allegorische Verfahren in Baudelaires Darstellung von Paris? Mit dieser Frage kehren wir von der Topographie des literarischen Feldes und der Poetik zurück zur Topographie der Metropole. „Was bei Baudelaire mitschwingt, wo er in seinen Versen Paris beschwört, das ist die Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit einer großen Stadt“, resümiert Benjamin [J57a,3], dabei auf „Le Crépuscule du Matin“ und das erste „Spleen“-Gedicht [J69,3] verweisend. Noch radikaler verfährt der Dichter in der Darstellung des unterirdischen, chthonischen Paris. Die Stadt erscheint als Ort, der Angstträume und Zerstörungsvisionen auslöst: „Je vois de si terribles choses en rêve“: „J’habite pour toujours un bâtiment qui va crouler, un bâtiment travaillé par une maladie secrète [...] [une] multitude de cervelles, de chairs humaines et d’ossements concassés“ [J44,3]. Paris wird zum Abgrund, zur höllischen Stadt, in der Satan seine „demeure souterraine“ aufgeschlagen hat (vgl. [L4a,5]). Der Satanismus Baudelaires ist, wie Benjamin erläutert, eine „J58,1 [...] Absage an die Gemütlichkeit“ (Ms. Nr. 433). Die Hauptstadt verwandelt sich damit in die „J11,4 Hölle des 19. Jahrhunderts“ (Ms. Nr. 472). In diese, unter der glamourösen Metropole liegende Unterstadt der Verdammten steigt der Dichter der Moderne – die Bilder Thea von Harbous und Fritz Langs antizipierend – als ein „J10a,1 damné de la capitale [...]“ (Ms. Nr. 451) hinab. Benjamins Geschichtsschreibung verdankt der Poetik Baudelaires entscheidende Anregungen, wie es u.a. die Kategorien „Nouveauté“, „Spleen“ und „Perte d’auréole“ bezeugen. Die allegorische Verfah-
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rensweise des Dichters – „J56,1 destruktiver Impuls mit konservativer Haltung verbunden“ (Ms. Nr. 466) – liefert das Modell für eine zugleich dekonstruktive und rettende Konzeption der Geschichtsdarstellung. Sein Programm der „rettenden Kritik“ resümiert Benjamin mit dem Satz: „N7,6 Konstruktion setzt Destruktion voraus [...]“ (Ms. Nr. 477). Indem er die konventionelle Rezeption Baudelaires dekonstruiert, schlägt er neue Wege der Vermittlung der kulturellen Tradition ein. Deren wichtigste Kategorien sollten im Schlussteil des geplanten Buches („Die Ware als poetischer Gegenstand“) behandelt werden. Zwei von ihnen, „die Ware“ und „Perte d’auréole“, sollen hier kurz vorgestellt werden: die erste, weil sie den hohen Grad der Abstraktheit der Bauplan-Kategorien im Vergleich zu den topographisch geprägten Exposé-Kategorien repräsentiert; die letzte, weil sie die Rückkehr von der Abstraktheit zum Topographischen aufzeigt. Die „Ware“ ist in Benjamins Passagen das zentrale „dialektische Bild“ (vgl. Resümee von N2,7, Ms. Nr. 426). Um das Dialektische der Ware zu „entwickeln“, muss zunächst das Mythische an ihr, der „Warenfetisch“ (Marx) erfahren werden. Benjamin rekonstruiert deshalb auf einer ersten Stufe das, was er in einer Neuformulierung des Marx’schen Ansatzes die „Einfühlung in die Warenseele“ nennt, d.h. den Zustand des Konsumenten, der den Warencharakter als etwas Religionsartiges verinnerlicht. Schon in einem frühen Fragment, „Kapitalismus als Religion“ (1921), hatte Benjamin den Kapitalismus als eine „essentiell religiöse[] Erscheinung“ begriffen,35 allerdings rückt bei der Wiederaufnahme dieser Idee im Passagenprojekt anstelle des Geldes der Warenfetisch ins Zentrum der Überlegungen.36 Ein Beispiel für die Ware, die mit Einbeziehung kultischer Momente über sich selbst reflektiert und damit das Umschlagen vom Mythos zur Dialektik illustriert, liefert die Poesie Baudelaires. Prägnant wird dieser Sachverhalt durch Benjamins Resümees von zwei sehr ähnlichen Fragmenten hervorgehoben: „J59,9 Mystifikation als apotropäischer [d.h. Unheil abwendender] Zauber“ und „J59,7 Mystifikation als publizistischer Kunstgriff“ (beide Ms. Nr. 479). Auf den „J49a,3 Warencharakter der Literatur oder der Literaten“ und gegen das „Geistige“ hatte sich Baudelaire schon zu Beginn seiner Produktion eingestellt (Ms. Nr. 425).
35 “Kapitalismus als Religion”. GS VI, S. 100. 36 Steiner, Uwe: “Kapitalismus als Religion. Anmerkungen zu einem Fragment Walter Benjamins”. In: DVjs 72 (1998), S. 156.
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Seine Strategien auf dem Markt reichen von der „J59a,2 Emanzipation von den Stilen“ über den „J9,9 [Bruch] mit dem Publikum“ (beide Ms. Nr. 426) bis zur „J56a,5 Inkompatibilität mit dem Journalismus“ und zum „Klassenverr[at]“ (Ms. Nr. 444). Das Gesetz des Marktes, daß die „Neuheit“ des Produkts eine enorme Bedeutung „als Stimulans der Nachfrage“ bekommt (vgl. Resümee von J56a,10, Ms. Nr. 427), wird vom Dichter der Fleurs du Mal dialektisch umgekehrt durch „J61,10 Einrichtung auf langfristige Nachfrage“ (Ms. Nr. 426). Benjamins Theorie vom Verfall der Aura, eines der originellsten Momente seiner dekonstruktiven Geschichtsschreibung, ist von dem Prosastück „Perte d’auréole“ aus dem Spleen de Paris inspiriert. „J64,5 Baudelaires spleen [ist das] Leiden am Verfall der Aura“ (Ms. Nr. 432). Diese Erfahrung wurde von dem Dichter in einen „unergründlich trostlosen“ Vers gefasst: „Le Printemps adorable a perdu son odeur!“. Die durch den Aura-Verfall bewirkte Aushöhlung der Erfahrung betrifft vor allem das Phänomen des menschlichen Blicks. Komplementär zur Definition der Aura als die „Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks“ [J47,6], diagnostiziert Benjamin den AuraVerlust als einen „J47,6 vom Zauber der Ferne verlassene[n] Blick“ (Ms. Nr. 434). Ein Beispiel für den auratischen Blick und dessen Dekonstruktion bei Baudelaire ist das Gedicht „Le Voyage“, das Benjamin wie folgt kommentiert: „der Traum von der Ferne gehört der Kindheit an. Der Reisende hat das Entfernte gesehen, aber den Glauben an die Ferne hat er verloren“ [J50,6]. Kennzeichnend für die allegorische Gestaltung des Aura-Problems ist das Verfahren, die „Ferne in eine Nähe [zu rücken], die überraschen und bestürzen soll“ [J77a,8]. In der Poesie Baudelaires geschieht das dadurch – hier nehmen wir unser topographisches Leitthema wieder auf –, dass er die Ferne der Kolonialländer unmittelbar in das Zentrum der sie regierenden Metropole stellt. Die entscheidenden Fragment-Resümees lauten „J50,7 die Ferne der Nähe botmäßig: Negersklavin in Paris“ und „J54a,7 Blick auf das koloniale Imperium“ (Ms. Nr. 434, 435). Benjamin erläutert: „ihr geschändeter Leib ist es, in dessen Gestalt diese Ferne sich dem zu Füßen legt, was Baudelaire nahe war: dem Paris des Second Empire“; und weiter: „Baudelaire erfaßte, indem er der schwindsüchtigen Negerin in der Hauptstadt entgegenging einen sehr viel wahreren Aspekt des kolonialen Imperiums von Frankreich als Dumas, der im Auftrage von Salvandy ein Schiff nach Tunis bestieg“. Benjamin verknüpft also seine Theorie des Auraverlusts, die von der Rezeption bis-
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her vor allem im Rahmen der Ästhetik diskutiert wurde, mit einem Problem der Weltgeschichte und der Weltpolitik. Diese Perspektive soll im Schlussteil dieses Aufsatzes in ihren weiteren Implikationen zumindest ansatzweise herausgearbeitet werden. Wie wir sehen werden, erwidert das koloniale Imperium den Blick. Der dritte Teil dieser Studie zielt darauf, Benjamins Passagenprojekt aus dieser Perspektive zu „entwickeln“.37 Vorher noch eine Frage zur Topographie des Wissens: Wäre das Passagenprojekt mit dem Baudelaire-Buch abgeschlossen gewesen? Unsere beiden Analysen – sowohl die von Benjamins topographischpolyphoner Geschichtsschreibung als auch die seiner Dekonstruktion des Wissens als ‚Kultur-Besitz’ – weisen darauf hin, daß andere Zusammenstellungen des in dem großen Fundus zusammengetragenen Materials mit anderen Perspektiven und anderen Auswahlkriterien sich prinzipiell ebenso rechtfertigten lassen. Die Untersuchung bestätigt die Arbeitshypothese, dass es sich nicht sowohl um ein ‚Werk’, als vielmehr um eine ‚Werkstatt’ handelt, um eine Datenbank, die auf Konstruktion und Dekonstruktion, d.h. auf aktive Mitarbeit der Leser angelegt ist.38 Selbst die Kontingenzen, dass Benjamin das von ihm Intendierte nicht zum Abschluss bringen konnte, treten gegenüber der Tatsache in den Hintergrund, dass es sich – entsprechend den Voraussetzungen der frühromantischen Brouillon- und Fragment-Ästhetik – um einen strukturell unabschließbaren Text handelt, um einen Baukasten, mit dem die Darstellung der modernen Metropole in einer neuen geschichtlichen Konstellation jeweils neu komponiert werden kann.
37 “Entwickeln” im Sinne des von Benjamin zitierten André Monglond: “Le passé a laissé de lui-même dans les textes littéraires des images comparables à celles que la lumière imprime sur une plaque sensible. Seul l’avenir possède des révélateurs assez actifs pour fouiller parfaitement de tels clichés.” GS V.1, S. 603f. [N15a,1]. 38 Wenn auch der von Rolf Tiedemann gewählte Titel Das Passagen-Werk irreführend ist, so kommt ihm als Herausgeber doch das große Verdienst zu, Benjamins Passagen-Baukasten veröffentlicht zu haben.
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III. S OLLEN ARM UND REICH DIE GLEICHE L UFT ATMEN ? ODER : W ELCHES IST DIE H AUPTSTADT DES 21. J AHRHUNDERTS ? Der Artikel, der am 1. Januar 2000 in der New York Times über die Megastadt São Paulo erschienen ist,39 liest sich wie ein Kommentar zu Bertolt Brechts „Über den Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des dritten Jahrtausends“. Als Herausgeber der demnächst erscheinenden brasilianischen Fassung des Passagen-Werks stellt sich für den Verfasser dieser Studie insbesondere auch die Frage der Verwertung von Benjamins Œuvre im lateinamerikanischen Kontext. Inwiefern können Benjamins Kategorien der Beschreibung einer europäischen Metropole – Paris als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ – zur Erfassung von Megacities der Dritten Welt wie z.B. São Paulo dienen, und inwieweit sind neue Kategorien zu erfinden? Methodologisch gesehen geht es dabei um Aspekte des kulturellen Transfers40 oder genauer, um eine Verfeinerung dieses Ansatzes im Sinne einer histoire croisée.41 Während der Kulturtransfer meist nur in einer Richtung studiert wird, ist die neuere Methode explizit als „Blickwechsel“42 zwischen den Kulturen angelegt. In diesem Sinne ist der dritte und abschließende Teil dieser Studie einer Reflexion über die Begriffe ‚Metropole’ und ‚Megastadt’ in ihrer wechselseitigen Beziehung gewidmet. Das & Zeichen im Titel, das üblicherweise nur in Firmennamen verwendet wird, verweist darauf, daß es sich um eine Beziehung im glo-
39 Cohen, Roger: “Audis and Cell Phones, Poverty and Fear”. In: The New York Times, 1. Januar 2000, S. 28 (Heft “Visions”, Rubrik “Cities”). 40 Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988; s. darin besonders dies.: “Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze” (S. 11-34). 41 Werner, Michael/Zimmermann, Bénedicte: “Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité”. In: Annales 58-1 (2003), S. 7-36; und dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée. Paris 2004. 42 Bolle, Willi et al. (Hrsg.): Blickwechsel. Akten des XI. Lateinamerikanischen Germanistenkongresses, São Paulo-Paraty-Petrópolis, 2003. 3 Bde. São Paulo 2005.
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balen Wirtschaftszusammenhang handelt.43 Die Intention dieses Aufsatzes besteht darin, mittels einer Aktualisierung von Benjamins Idee der Metropole monadologisch das „Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen“44 oder zumindest zu skizzieren. Ein philologischer Blick auf das Wort ‚Metropole’ ist allein schon deshalb notwendig, weil es in unseren Tagen ganz und gar inflationär verwendet wird. Jeder Radiohörer kann darauf die Probe machen, wie im täglichen Wetterbericht mit ziemlicher Häufigkeit von ‚Metropolen’ wie Braunschweig, Magdeburg, Lübeck und Flensburg die Rede ist, selbst Sylt wurde einmal genannt – ein Zeichen, dass die Bedeutung des Wortes völlig ausgeblichen wird. In dieser Situation ist es geradezu eine Verpflichtung, sich über die in den Wörterbüchern festgelegte Sprachnorm zu informieren, und darüber hinaus ist es lehrreich, sich auf den semantischen Werdegang des Wortes bis zurück zu seiner ursprünglichen Bedeutung zu besinnen. „Metropole“ wird in der Brockhaus Enzyklopädie (1998) und in Meyers neuem Lexikon (1994) definiert als „Hauptstadt mit weltstädtischem Charakter“. Daneben existiert das Wort „Metropolis“, in der von den alten Griechen entlehnten Bedeutung „die ‚Mutterstadt’, im Gegensatz zu den von ihr ausgehenden ‚Tochter’- bzw. KolonialStädten“. Anhand von Kluges Etymologischem Wörterbuch (1995) lässt sich nicht nur der Ursprung aus griechisch méter „Mutter, Erzeugerin“ und pólis „Stadt“ ergänzen, sondern auch die für Wortgeschichte wichtige Information, dass es sich sowohl um eine Stadt, als auch um einen Staat, das „Mutterland“, handeln kann. Von diesem Aspekt ist auch im großen Duden-Wörterbuch (1999) die Rede: „(früher) Mutterland (von Kolonien)“. Dieser von dem deutschen Wörterbuch einer ‚früheren’ Epoche zugeschriebene Wortgebrauch ist in einem Land wie Frankreich, das zu den großen Kolonialmächten gehörte, bis heute viel stärker präsent. In den meisten französischen Wörterbüchern, wie im Trésor de la langue française (1994), steht die Bedeutung der „cité-mère, considérée par rapport aux colonies qu’elle a fondées et qui dépendent
43 Die Vorstellung der Kolonie als eine vom Mutterland betriebene Firma kommt emblematisch im Originaltitel des Werkes von Gilberto Freyre (1933) zum Ausdruck, der nicht als Herrenhaus und Sklavenhütte, sondern als Herrenhaus & Sklavenhütte zu übersetzen wäre. 44 GS I.1, S. 228.
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d’elle“ an erster Stelle vor der Bedeutung „ville principale d’un pays, d’une province ou d’une région“ bzw. „ville dont le rayonnement et l’influence lui font jouer le rôle de capitale“. Im Grand Dictionnaire universel (Hg. Pierre Larousse, 1865-1890) findet sich unter „Métropole“ ein aufschlussreicher historischer Abriss, der sich wie folgt zusammenfassen lässt. Im alten Griechenland, wo die meisten Kolonien Gründungen der mère-patrie waren, hatten sie zwar „die Pflichten einer Tochter gegenüber der Mutter“, waren aber ansonsten unabhängig, ganz im Gegensatz zu den römischen Kolonien. Diese wurden gegründet, um den Machtbereich Roms zu erweitern, andere Völker und Länder zu unterwerfen, zu beherrschen und in Abhängigkeit zu halten. Auf der Höhe der Macht existierte in jenem Imperium die Metropole, ungeachtet ihrer Filialen, den ‚Metropolen zweiten oder dritten Grades’, streng genommen nur im Singular. Man muss von der römischen Geschichte bis zur Entdeckung und Eroberung Amerikas fortschreiten, so fährt der Text fort, um eine Metropole „im wahren Sinne des Wortes“ wiederzufinden. Portugal und Spanien haben im 16. Jahrhundert die Grundlagen für das moderne Kolonialsystem geschaffen. Das System bestand darin, die Kolonien als kommerzielle Unternehmungen zu betrachten, die das Mutterland nach seinem Gutdünken und zu seinem exklusiven Profit ausbeuten konnte. In diese Zeit, so wäre hinzuzufügen, fällt in Lateinamerika die Gründung von strategischen Filialen wie Mexiko-Stadt, Buenos Aires und São Paulo, die sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts explosionsartig zu Megastädten entwickeln sollten. Von allen modernen Metropolen, so lautet die Bilanz des Grand Dictionnaire universel, habe England die besten Ergebnisse erzielt. Mit dieser Skizze der antiken Metropole und der Anfänge der modernen Metropole sind wir bei ihren beiden Hauptvertreterinnen im 19. Jahrhundert, London und Paris, angelangt. Beide Städte, die miteinander rivalisierten und in denen ab 1851 wechselweise die großen Weltausstellungen stattfanden, waren in der Ära des Kapitals und zu Beginn des Imperialen Zeitalters45 die einzigen ‚echten’, universalen Metropolen. Zur Zeit des Second Empire spielte die Kolonialpolitik – wie Walter Benjamin in einer Reihe von Fragmenten des Passagenprojekts zeigt – eine entscheidende Rolle für das Selbstverständnis der Hauptstadt Paris und des französischen Staates als ‚Metropole’. Be-
45 Vgl. Hobsbawn, Eric: The Age of Capital 1848-1875. London 1976; und ders.: The Age of Empire 1875-1914. London 1987.
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gründet durch Napoleon I., war diese Expansionspolitik intensiv schon unter der Julimonarchie betrieben worden. Besonders aufschlussreich ist das Passagen-Fragment „d4,1 Dumas geplante AlgerExpedition“ (Ms. Nr. 434). Darin heißt es: „Dumas père. ‚En septembre 1846, le ministre Salvandy lui proposa de partir pour l’Algérie et d’écrire un livre sur la colonie [...] Dumas [...] qui était lu au bas mot par cinq millions de français, donnerait bien à 50 ou 60.000 mille d’entre eux le goût de coloniser.’“ Im Sinne einer histoire croisée soll hier auch der Gegenblick dazu dargestellt werden. Einhundertundfünfzehn Jahre nach dem von dem Erfolgsschriftsteller Alexandre Dumas vorgelegten Buchprojekt über Algerien erschien eine aus der dortigen Perspektive verfasste Schrift, an der sich ablesen lässt, was der seinerzeit von der französischen Regierung vertretene goût de coloniser für die Kolonisierten bedeutete. Es handelt sich um das von Frantz Fanon verfaßte Buch Les damnés de la terre (1961), eine aus der Perspektive des algerischen Freiheitskampfes verfasste grundlegende Schrift zur Kolonisierung und Entkolonisierung der von den Metropolen beherrschten Länder der Dritten Welt. Die oben untersuchte Semantik des Wortes Metropole wird von dem Psychiater Fanon sehr präzise aktualisiert in einer politischen Aufladung, die gleichsam das Röntgenbild zu den in den Wörterbüchern registrierten Bedeutungen liefert: „La mère coloniale défend l’enfant contre lui-même, contre son moi, contre sa physiologie, sa biologie, son malheur ontologique.“46 Hier tritt der ursprüngliche Sinn von griechisch metrópolis als Urbs ex qua coloniae deductae sunt,47 d.h. als Verhältnis der ‚Mutter’ (Stadt oder Staat) zu dem von ihr abhängigen ‚Kind’, mit aller Deutlichkeit zu Tage. In diesem Falle wird das Kind von der Mutter jedoch nicht gegen äußere Bedrohungen, sondern gegen seine eigenen vermeintlich pathologischen und selbstverschuldeten Veranlagungen ‚beschützt’:
46 Fanon, Frantz: Les damnés de la terre. Paris 2002, S. 201 (1. Auflage: 1961). 47 Stephanus: Thesaurus graecae linguae. Band VI. Graz 1954, Stichwort metrópolis.
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„Sur le plan de l’inconscient, le colonialisme ne cherchait donc pas à être perçu par l’indigène comme une mère douce et bienveillante qui protège l’enfant d’un environnement hostile, mais bien sous la forme d’une mère qui, sans cesse, empêche l’enfant fondamentalement pervers de réussir son suicide, de donner libre cours à ses instincts maléfiques.“48 Die Metropole sieht sich also in der Rolle einer Schutzmacht, die das im Zustand des Bösen und der Unmündigkeit verharrende ‚Kind’ auf unabsehbare Zeit gegen sich selbst verteidigen muss. Allerdings kann das Perverse und Pathologische, wie Fanon in der Erwiderung des Blicks zeigt, genau so auf der Gegenseite in der Gestalt der Metropole „als unerbittliche und blutgierige Stiefmutter“49 verortet werden. Statt nun dem ‚globalen Haß’ und dem Aufeinanderprallen der Kulturen Vorschub zu leisten, zielen Fanons Bemühungen darauf ab, über den Konflikt auf beiden Seiten mit Hilfe eines differenzierten Bewusstmachungsprozesses zu reflektieren. Kennzeichnend für seine Konzeption des Humanismus ist die Verschränkung des Schicksals der (ehemaligen) Kolonien mit dem der Metropolen in einer den ganzen Planeten einbeziehenden Perspektive. Diese Intention wird im Vorwort von Alice Cherki zur Ausgabe von 2002 hervorgehoben: „Ce rapport de forces de deux mondes coupés l’un de l’autre, excluant tout dialogue, que Fanon avait analysé pour son époque, n’est-il pas encore aujourd’hui à l’œuvre dans maintes régions du monde? [...] que se joue-t-il quand aucun pacte ne se tisse entre ces deux mondes, quand tout espace de médiation par la parole se renferme et que le monde le plus fort se prétend propriétaire du lieu de l’autre, que ce lieu soit territorial, culturel ou psychique? C’est justement la prévision de ce monde qui avait alarmé Fanon et qui l’avait poussé à écrire Les damnés de la terre.“50 Zu diesem äußerst problematischen Dialog zwischen den Kulturen, zu dieser histoire croisée zwischen der Ersten und der Dritten Welt möchte die vorliegende Studie einen Beitrag aus der Perspektive der beiden
48 Fanon (s. Anm. 46), S. 201. 49 Fanon, S. 139. 50 Cherki, Alice: “Préface à l’édition de 2002”. In: Fanon, S. 14.
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topographischen Formationen ‚Metropole’ und ‚Megastadt’ leisten, die hier emblematisch als ‚hegemoniales Zentrum und Peripherie’, als ‚Ober- und Unterstadt’, als problematische ‚Nord : Süd-Relation’, vor allem aber als die ineinander verschlungenen – eine weitere Bedeutung des & Zeichens – Hemisphären unserer einen Welt verstanden werden. Die Megastädte der Dritten Welt sind die explosionsartig groß gewordenen Kinder der europäischen Metropolen, ihre Missgeburten, Zerrbilder, Karikaturen. Fanons Les damnés de la terre wird dabei als ‚Entwickler’ von Benjamins Passagenarbeit eingesetzt.51 Der Ansatz zu dem abnormen Wachstum der Megastädte, das in den 1950er und 1960er Jahren begann und von da an in besorgniserregender Form bis auf den heutigen Tag anhält, wird von Fanon als Flucht des landlosen, arbeitslosen und perspektivlosen Lumpenproletariats vom Land in die Städte beschrieben, wo es sich in den Elendsvierteln der zur Zeit der Kolonialherrschaft entstandenen Städte zusammendrängt.52 Es handelt sich um ein weltweites Phänomen: Massen von Depossedierten und Elenden setzen sich aus den Gebieten ohne Existenzmöglichkeiten in Bewegung in Richtung auf die Großen Städte, die Reichtum und Fortschritt symbolisieren, wenngleich sie sich in riesige Ameisenhaufen verwandeln.53 In der Vorstellung der Menschen der ‚Peripherie’ ist die Metropole bzw. ihre regionale Stellvertreterin gleichsam die ‚Netzestadt’, die wie Mahagonny die Leute, die ihr Glück suchen und einfach überleben wollen, magnetisch an sich zieht. Aus der Perspektive der Netzwerke liefert Hartmut Böhme (2003) den Ansatz zu einem strukturellen Vergleich zwischen Metropole und Megastadt: „Megalopolen von heute versinken deswegen im Chaos, weil ihre Netze überfordert, unzureichend, zerstört, gewissermaßen verrückt sind. Die ungeheure Verdichtung von Menschen ruft nach einer ebenso ungeheuren Verdichtung von Netzwerkstrukturen – und genau davon sind die Megalopolen überfordert.“54
51 Zu Benjamins Begriff des “Entwickelns” von Texten aus der Vergangenheit, s. Anm. 37. 52 Fanon, S. 110f. 53 Vgl. Bolle, Willi: Physiognomik der modernen Metropole. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 379-382. 54 Böhme, Hartmut (s. Anm. 17), S. 596.
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Diese Feststellung lässt sich so interpretieren, dass in den Strukturen der Megastädte der Bauplan der Metropolen mit ihren gut funktionieren Netzwerken durchaus enthalten ist, meist allerdings in höchst problematischer Form. Von den Netzen der Megastädte der Dritten Welt – die ohnehin nur Metropolen dritten Ranges sind – werden viel höhere Leistungen bei viel geringeren öffentlichen Investitionsmöglichkeiten verlangt. Man vergleiche etwa das S- und U-Bahn-Netz der 4 Millionen-Stadt Berlin mit dem der 18 Millionen-Stadt São Paulo, dessen Kapazität im umgekehrten Verhältnis zur Einwohnerzahl steht. So können die Megastädte nur am Rande des Chaos existieren; andererseits werfen sie wie in einem Zerrspiegel das Bild der Metropolen kritisch zurück. Es ist nun an der Zeit, dass wir, analog zu den Begriffsbestimmungen zur „Metropole“ nochmals einen kleinen Rundgang durch die Lexika machen, um die wichtigsten Bedeutungen des Wortes „Megastadt“ bzw. „Megacity“ oder „Megalopolis“ zu erfassen. Im Meyer (1994) und Brockhaus (1998) finden sich unter den ersten beiden Wörtern keine Einträge, nur unter „Megalopolis“. Diese moderne Bezeichnung für ein „[riesiges] städtisches Ballungsgebiet“ ist aus dem griechischen megalópolis „große Stadt“ entlehnt. Eine Stadt dieses Namens wurde, wie man in der Encyclopaedia Britannica (2003) nachschlagen kann, 371-368 v. Chr. auf der Peloponnes in Arkadien als Gegenpol gegen Sparta gegründet. An den Ufern des Helikon-Flusses gelegen und durch Zusammenlegen der Bewohner aus Dutzenden von umliegenden Dörfern bevölkert, machte Megalopolis ihrem Namen Ehre, indem sie über nach damaligen Maßstäben „grandiose Ausmaße“ verfügte.55 Die moderne, aktuelle Bedeutung von „Megalopolis“ wurde 1961 von dem Geographen Jean Gottmann geprägt als Bezeichnung für „die fast 1000 km lange Verstädterungszone an der Nordost-Küste der USA, von Boston über New York, Philadelphia, Baltimore bis Washington reichend, mit über 20% (1970 über 40 Millionen Einwohner) der Bevölkerung der USA auf etwa drei Prozent der Gesamtflä-
55 In Beckel, Lothar (Hg): Megacities: ein Beitrag der Europäischen Raumfahrtagentur zum besseren Verständnis einer globalen Herausforderung. Salzburg 2001, findet sich neben den Satellitenaufnahmen der Megastädte unserer Zeit auch eine der antiken Stadt Megalopolis.
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che“.56 Wie die Definitionen und Beispiele im Großen Duden (1999) zeigen, dürfen Megalopole – „Riesenstadt: Istanbul mit acht bis zehn Millionen Einwohnern“ – und Megastadt [Megacity] – „Großstadt von ausufernden Ausmaßen“ – durchaus als Synonyme verwendet werden. Dennoch kommt es nun darauf an, einen Unterschied innerhalb der Riesenstädte, ob wir sie nun Megalopolen oder Megacities nennen, herauszuarbeiten, der entscheidend ist, um ihre Rolle im globalen Zusammenhang zu identifizieren und auch um die bereits getroffene Unterscheidung zwischen echten und abhängigen Metropolen nicht zu verwischen. Die entscheidende Frage ist, ob es sich um Riesenstädte der reichen oder der armen Länder der Welt handelt. Während die der ersten Kategorie ausnahmslos den Industrieländern zugeordnet werden können und sie nur vergrößerte Varianten der echten Metropolen darstellen, gehören die Megastädte der letzteren Kategorie als MetropolenFilialen ebenso eindeutig zu den Entwicklungsländern bzw. Schwellenländern der Dritten Welt. Diese Definitionen lassen sich mit konkreten, auf jüngsten UNO-Statistiken beruhenden Fakten belegen.57 Danach gibt es zur Zeit 17 Mega-Cities, d.h. Städte mit über 10 Millionen Einwohnern, auf der Welt. Sechs dieser Megastädte – New York, Los Angeles, Tokio, Osaka, Peking, Shanghai – liegen in den drei Ländern, die zusammen mit der Europäischen Union zu den Weltwirtschaftsmächten gehören. Die übrigen elf Megastädte – Bombay, Kalkutta, Delhi, Dhaka, Karatschi, Jakarta, Manila, Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Rio de Janeiro, São Paulo – befinden sich in abhängigen, problematischen Ländern Süd- und Südostasiens sowie Lateinamerikas. Was Afrika betrifft, so werden bis zum Jahre 2015 Lagos und Kairo mit dazu kommen und, auf der Grenze zwischen Europa und Asien, auch Istanbul.
56 Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. Band 15. Mannheim 1975, Stichwort “Megalopolis”. Vgl. Gottmann, Jean: Megalopolis. The Urbanized Northeastern Seabord of the United States. New York 1961. An diese Tradition knüpft der von L.J. Sharpe herausgegebene Sammelband The Government of World Cities. The Future of the Metro Model, Chichester/New York u.a. 1995 an. 57 Jahrbuch 2004. Die Welt in Zahlen, Daten, Analysen. München 2004, S. 500f.
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Bei den Interpretationen des Phänomens der Megastädte gehen die Meinungen darüber bis zu den neuesten Studien58 z.T. diametral auseinander, was in der Geschichts-, Gesellschafts- und Menschheitskonzeption der Interpreten begründet liegt. Bald hat der mathematischtechnologische Aspekt des Präfixes ‚mega(lo)’ – im Sinne von ‚das Millionenfache’ – die Oberhand, bald der pathologische Aspekt – im Sinne eines ‚abnormen Wuchses’, wie im Beispiel der ‚mégalosplénie’ (von griechisch splén ‚Milz’, eine Riesenmilz). In der vorliegenden Studie, die unter dem Eindruck von zwei visionären Werken der modernen Dichtung, Baudelaires Spleen de Paris und Mário de Andrades Wahnsinnsstadt São Paulo59 entstanden ist, wurde der zweite Aspekt betont, vor allem auch deshalb, weil die Menschheit als Ganzes und nicht nur ihr privilegierten Teil den Horizont dieser Dichter bildet. „[S]ollen arm und reich die gleiche Luft atmen? [...]“ so lautet Benjamins Resümee des Passagen-Fragments [p5a,2] (Ms. Nr. 434). Er bezieht sich auf eine Stelle aus dem Aphorismus „Pauvres, riches“ von LJB de Tourreil, der die Reichen anredet und ihnen von den Armen spricht: „´Et d’ailleurs, si vous ne voulez point les élever jusqu’à vous et dédaignez de vous mêler à eux, pourquoi donc respirez-vous le même air, habitez-vous la même atmosphère? Pour ne point respirer et vous assimiler leur émanation ... il vous faut sortir de ce monde, respirer un autre air, vivre dans une autre atmosphère.´“ Ebenso datiert wie die obige Frage ist die Spekulation, welches wohl die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts sein könne. Wenn man beabsichtigt, Benjamins Formulierung von der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ zu aktualisieren, sollte man anstatt einer mehr oder weniger mechanischen Nachahmung vielleicht besser versuchen, seine Formulierung historisch zu verorten. Der Autor des Passagenprojekts gebrauch-
58 Siehe insbesondere Mongin, Olivier: “La mondialisation et les métamorphoses de l’urbain. Mégacités, ‘villes globales’ et métropoles”. In: Esprit, März-April 2004, S. 175-198; und Davis, Mike: “Planet of Slums”. In: New Left Review 26, März-April 2004, S. 5-34. 59 Andrade, Mário de: Paulicéia desvairada. In: ders.: Poesias completas, hg. von Manfio, Diléa Zanotto. Belo Horizonte/São Paulo 1987, S. 55-115. (Erstausgabe: São Paulo 1922).
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te den Hauptstadt- bzw. Metropolenbegriff zwar in bezug auf die Epoche des beginnenden Imperialismus, aber aus der Perspektive des heraufziehenden Zweiten Weltkriegs, in dem der imperiale Wahn von Germania als der Welthauptstadt mit Millionen von Menschenleben bezahlt wurde und schließlich scheitern sollte. Gerade von der deutschen Geschichtserfahrung her können wir zu dem Schluß gelangen, daß im 21. Jahrhundert, im Zeitalter weltweiter Emanzipationsbewegungen, der Begriff einer Welt-Metropole höchst fragwürdig geworden ist. Die Alternative dazu hat Benjamin mit dem Motto zu seinem Paris/Baudelaire-Aufsatz treffend formuliert: „Une capitale n’est pas absolument nécessaire à l’homme“.60
60 GS I.2, S. 512.
Lesarten Benjamins: Zwischen Anachronismus und Aktualität RICARDO FORSTER
Ich werde an dieser Stelle nicht versuchen, vor Ihnen eine detaillierte Untersuchung über „Die Rezeption Walter Benjamins in Argentinien“ auszubreiten; es ist nicht meine Absicht, einen historischen Weg nachzuzeichnen, der in der Lage wäre, die verschiedenen Stationen einer Beziehung auszuschlachten, die in den 1940er Jahren mit ein paar Zitaten bei Juan Luis Guerrero begann, als der Name Benjamin nicht nur hierzulande fremd und geradezu extravagant klang, sondern auch in Europa noch relativ unbekannt war, wo seine Rettung, die den Bemühungen Gershom Scholems und Theodor Adornos zu verdanken ist, noch nicht begonnen hatte. Mein Vorhaben geht in eine andere Richtung, weg von der gelehrt klingenden Aufzählung der Leser seines Werkes, hin zur Formulierung einer anderen Frage, die den Einfluss Benjamins in den Jahren des Niedergangs der argentinischen Militärdiktatur betrifft, im Einklang mit der damals gerade erst beginnenden, aber letztendlich zerstörerischen Krise des Marxismus. Ich möchte deshalb gleich zu Beginn sagen, dass Benjamins Ankunft in unseren Breiten, sein Eintritt in die intellektuelle Debatte zusammenfiel mit der politischen Niederlage, mit einer theoretischen Unsicherheit, die aus der Erkenntnis entstanden war, dass diese dunklen Jahre nicht bloß die Wege zur Revolution versperrt, sondern ebenfalls die ideologischen Denkmuster verändert hatte, anhand derer man eventuell eine gewisse Tradition hätte festmachen können. Benjamins Schriften verbreiteten sich unter uns just in dem Moment, in dem die politischen Forderungen, die dringliche Notwendigkeit von Taten Platz machten für die
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Ankunft bestimmter Debatten, die sich in anderen Teilen der Welt bereits spätestens seit den 1970er Jahren entwickelt hatten. Der Zusammenbruch der revolutionären Ideen eröffnete, mitsamt jener seltsamen Widersprüche, die die Geschichte stets mit sich bringt, die Möglichkeit einer anderen Art des Lesens, des Miteinbeziehens von Namen und Konzepten, die so eine signifikant andere Bedeutung erhielten als jene, die ihnen ihre ursprünglichen Träger zugedacht hatten. Ich möchte sagen, dass der kritischste und bedeutendste Moment der Benjaminrezeption in direkter Verbindung zu einem tiefen und entscheidenden historischen Umschwung stand; einem Umschwung, durch den die revolutionären Träume als ausgeträumt erschienen und infolge dessen sich jene, die zuvor versucht hatten, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, in den akademischen Bereich zurückzuziehen begannen. Benjamin wurde gelesen, als die Zeit der politischen Dringlichkeiten zugunsten jener der intellektuellen Debatten beiseite trat, die um eine Unzahl von runden Tischen herum organisiert waren, eine Zeit, die schon nicht mehr vom Eifer und Aufruhr endloser politischer Streitereien dominiert wurde, sondern von gemäßigten und toleranten Einrichtungen, die in der Anfangszeit des Übergangs zur Demokratie entstanden waren. Was zuvor von den Anforderungen einer agitationsschwangeren Geschichte vergiftet worden war, überließ seinen Platz nun einer Alchimie aus Generalüberholungen alter Gewissheiten und einer rapiden Ablösung der revolutionären Grammatiken. Wir traten in eine Phase ein, in der die Toleranz und die guten Sitten die einstigen Spannungen abgelöst hatten. Für einige bedeutete Benjamin eine Zuflucht, eine Möglichkeit zum Hinterfragen der Denkmuster, deren Ende bereits zu dämmern begann. Fern der Totengräberstimmung, noch ferner den beginnenden postmodernen Bacchanalen, schloss der Rückzug zu Benjamin mit ein, die Handlung einer kriselnden Moderne auf andere Weise, aus einem anderen Blickwinkel heraus zu lesen. Einige glaubten, in seinen Schriften eine Möglichkeit zur Erneuerung der emanzipatorischen Tradition zu finden, die, etwas jenseits von Marx, jedoch keine endgültige Abkehr von diesem bedeutete, aber auch nicht die Feststellung jener Katastrophe aussparte, die diese Ideale im Moment ihrer Realisierung hinter sich gelassen hatten. Andere hingegen lasen ihn wie eine Tür zum Ausweg aus längst aufgegebenen politischen Leidenschaften, die von Reisen ins Herz der Kultur ersetzt wurden, durchflochten von scharfen Beobachtungen auf dem Gebiet der Kunst und Literatur. Für einige be-
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deutete die Diskussion des Benjaminschen Denkens keine Vernachlässigung des tragischen Hintergrundes der Zeitgeschichte; für andere konnte sich eine Lektüre auch entwickeln, indem sie von der fortwährenden Katastrophe abstrahierte, als deren unentbehrlicher kritischer Zeuge das Werk des exilierten Berliners auftrat. Für die anderen war es weiterhin grundlegend, jenen Keim von Benjamins Denken zu übernehmen, der sich zwischen der radikalen Kritik der Fortschrittsidee, dem Ausnahmezustand, in dem die Unterdrückten leben, und der Erwartung einer messianischen Wende bewegte, ohne wiederum die innovativen Betrachtungen über die Sprache, die Übersetzung, das Gedächtnis und die Verbindungen zwischen den neuen Kulturphänomenen und den zurückgestellten Bildern der Glückseligkeit zu übergehen; letzteren ging es darum, ihn in die neuen Einrichtungen der Kunstkritik einzufügen und die theologisch-politische Dimension beiseite zu rücken, die sich aus dem Autor der Thesen Zur Geschichtsphilosophie und Erkenntniskritik ergab und die ihnen gemäß der Zeitenwende anachronistisch vorkam. Eine erste Hypothese, die ich ins Spiel bringen möchte, lautet wie folgt: Während die Politik stets im revolutionären Sinne begriffen wurde, und während die historische Bühne mit Blick auf den Klassenkampf und die von der maroden Tradition verkörperten Avantgarde entfaltet wurde, war das Lesen Benjamins, das Sich-Ergreifen-Lassen durch seine spezielle Sichtweise praktisch unmöglich. Derselbe Lauf der Ereignisse, dieselben Notwendigkeiten, die scheinbar von der Realität herrührten, der Brand einer ganzen Epoche, die, ohne es zu wissen, die letzten Seiten einer Art und Weise des Eingreifens in die Geschichte schrieb, sie alle blockierten den Weg zur Rezeption eines Werkes, das sich trotzdem selbst aufgebaut hatte, indem es die Revolution zu seinem strahlenden Sinneskern gemacht hatte, zum durchschlagenden Ereignis, in der Lage, den homogenen, linearen Diskurs einer zu stark auf Fortschrittstheorie und -praxis gestützte Geschichte zu durchbrechen. Benjamin sah deren Krise der emanzipatorischen Ideale voraus, lange bevor diese es schafften, ihren eigenen Bankrott einzugestehen. Doch war seine Ausstrahlung vielleicht genau deshalb, wegen seiner vorgreifenden Qualität, erst posthum greifbar und Ergebnis eines langsamen Rhythmus, als diese orkanartigen Winde, die aus dem Paradies kamen, ihre Abrissarbeiten beendeten und das Ausmaß der Katastrophe einer Geschichte bestätigt hatten, die sich nicht nur von ihren Erlösungsphantasien entfernt hatte (von jenen utopi-
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schen Träumen also, die Benjamin so sehr beschäftigten und sorgten), sondern die sich auch beeilte, die harten Kompromisse mit der Barbarei aufzuzeigen, die diesen Diskursen innewohnten, welche der Geschichte zuvor wie Vertreter eines Ideals von Freiheit und Gleichheit heraufgedämmert waren. Womöglich verhinderte die Benjaminsche Auswertung einer durch die Verflechtung von Zivilisation und Barbarei gekennzeichneten Epoche, dieses triste Verständnis eines Zusammenbruchs, das die seit der Oktoberrevolution immer wieder auf die Probe gestellten emanzipatorischen Ideale nicht intakt lassen konnte, selbst andere Lesarten Benjamins seitens jener, die in den 1960er und 1970er Jahren hauptsächlich damit beschäftigt waren, die revolutionäre Metapher weiterzuführen, ohne die Fehlschläge dieser Tradition zu übernehmen oder, schlimmer noch, ohne anerkennen zu wollen, dass der Grund für das Misslingen im eigentlichen Kern der Ideologie zu suchen sei. Eine andere Arbeitshypothese wäre die folgende: In unseren Breiten konnte Benjamin erst gelesen werden, als die Vorherrschaft diverser marxistischer Scholastiker verebbt war, und sogar einige von denen, die den Autor der Thesen Zur Geschichtsphilosophie und Erkenntniskritik unter uns eingeführt hatten, wussten – wenngleich sie sich als Erben der Tradition Marx’ aufspielten – durchaus, dass ihre Lektüre des exilierten Berliners zunächst nur in jenen Freiräumen stattfand, die die alten Lehrmeinungen offengelassen hatten. Hierbei denke ich besonders an Pancho Aricó, der mich persönlich in den frühen Achtziger Jahren an eine entscheidende Benjaminlektüre heranführte, nachdem ich in meinem Studium, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, zunächst das Denken Theodor Adornos und die Grundtradition der Frankfurter Schule durchgenommen hatte. Immer wieder aufs Neue überraschte mich die Frische, mit der Aricó vor allem die oben erwähnten Thesen las, von denen er wusste, dass sie nicht nur eine scharfe Kritik des historischen Materialismus enthielten, sondern auch eine vernichtende Betrachtung über die Verantwortung der Sozialdemokratie für den Aufstieg des Faschismus – ein Umstand, der noch viel bedeutender wird, wenn man um seine Wende hin zu einer sozialdemokratischen Interpretation des Vermächtnisses von Marx weiß. Aricó verstand es, zumindest in meiner Erinnerung zwanzig Jahre später, Benjamin sprechen zu lassen und mir, dem nach Neuem lechzenden Jüngling, der ich damals war, ein häretisches, erneuerndes Denken anzubieten, unbarmherzig gegenüber der Tradition, aus der es
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hervorzugehen behauptete, extrem scharfsinnig und in der Lage, sich zahlreiche unversöhnliche Auffassungen der Welt anzueignen. Doch mit und durch Benjamin, vertieft in sein Werk, schloss ich – was stets wichtig war – nie mit dem ab, was ich seine messianische Ebene nennen möchte, seine entschiedene Ablehnung einer ungerechten Welt, die der Erlösung harrt. Ich habe das Gefühl, dass in dieser Lesart Pancho Aricós in jenen Zeiten demokratischer Begeisterung immer noch dieser wiedergutmachende Sinn mitschwang, die Möglichkeit, eine andere Geschichte zu ersinnen, den Stimmen der Vergessenen und zum Schweigen Gebrachten ein Ohr zu leihen. Ich möchte nochmals sagen, dass diese Lektüre vom Politischen durchdrungen war, und das in einer Zeit, in der diese Dimension langsam begann, Raum für andere Arten der Rezeption zu schaffen, in denen dieser Dreh- und Angelpunkt im Denken Benjamins undurchsichtig blieb oder ganz einfach unter den Tisch fiel. Ich erinnere mich an jene unvergesslichen Nachmittage, an denen ich mit Pancho inmitten der Bibliothek in seinem Haus in der Calle Bulnes diskutierte und als die Lektüre der Thesen über die Geschichtsphilosophie uns auf die verschiedensten Themen brachte, so dass wir schließlich auf Marx, aber auch auf Carl Schmitt zu sprechen kamen, auf Weber, aber auch auf Fourier, auf Saint-Just und Robespierre, aber auch auf die Brüder und Schwestern des freien Geistes und Thomas Münzers Bauern, auf den vergessenen Hermann Lotze und auch auf das Erbe des jüdischen Messianismus. Wir diskutierten die Idee der Revolution und ihre verschiedenen Fäden, was uns die Kabbala Isaac Lurias ins Gedächtnis rief und, noch weiter in der Vergangenheit, die Alchemie des biblischen Prophetismus und den Aufstand des Spartakus. Pancho begleitete mich trotz allem auf dieser Entdeckung der messianischen Ebene, die in Benjamins Schriften steckte, obwohl er sich in jener Zeit mehr für Juan B. Justo1 und Eduard Bernstein interessierte und eher geneigt war, auf die alten Revisionisten des Marxismus zu
1
Juan Bautista Justo (1865-1928): argentinischer Arzt, Journalist, Schriftsteller und Politiker. Er war Mitbegründer der Sozialistischen Partei, deren Vorsitzender er bis zu seinem Tode war und für die er als Abgeordneter in verschiedenen Kammern der Legislative saß. Seine Frau war die bekannte französisch-argentinische Feministin Alicia Moreau de Justo. (Anmerkung des Übersetzers)
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hören, sowie bemüht, das Vermächtnis Marx’ zu „retten“, indem er anerkannte, dass die Zeit der Totengräber gekommen war; vor allem jedoch brachte er mir bei, diesen Schriften dieselbe Art von Aktualisierung zuteil werden zu lassen, die Benjamin hinsichtlich jener Traditionen versucht hatte, die er nie zu zitieren aufhörte, um sie mit den Anforderungen der Gegenwart zu verbinden. Besonders erinnere ich mich an ein langes Gespräch über einen damals noch nicht auf Spanisch erschienenen Text, eine Notiz aus der Entstehungszeit der geschichtsphilosophischen Thesen, in der Benjamin hinsichtlich Marx und seiner Theorie der Revolution eine 180Grad-Wende vollzog. Wenn die Geschichte laut Marx wie ein Zug zu verstehen sei, der den Gang in die Zukunft anzutreten in der Lage ist, dann müsse, so Benjamin, in der aktuellen Stunde, die im Schatten der Katastrophe, direkt am Abgrund stand, die Menschheit, die in diesem Zug reiste, diesen nicht beschleunigen, sondern die Notbremse ziehen.2 In den zahlreichen Interpretationen, die dieses Zitat hervorruft, in seinen diversen Hermeneutiken, wurden und werden vielleicht immer noch jene Lesarten aufs Spiel gesetzt, die in den Debatten der letzten Jahrzehnte über das Werk des Autors von Ursprung des deutschen Trauerspiels gemacht wurden. In Aricós Lesart handelte es sich dabei, soweit ich mich zu erinnern glaube, um einen doppelten Beweis: einerseits um den des Scheiterns der Revolution im 20. Jahrhundert als alternativen Weg zum Sozialismus, andererseits um die Bestätigung, wie entscheidend und tief doch bei Benjamin die Kritik am Ideal des Fortschritts in Verbindung mit einer Umwertung der utopischen Traditionen war. Ich stimmte mit der zweiten Ansicht überein, wenngleich ich versuchte, sie zu radikalisieren, anstatt der ersten zu widersprechen – da ich berücksichtigte, dass Benjamin sogar vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Paktes nicht die Hoffnung auf die „schwache messianische Kraft“ verlor -, und meine Empörung richtete sich auf das, was beim Nachspüren des Benjaminschen Denkens eine meiner Hauptsorgen war: die messianische Spur, seine Verbindung, hauptsächlich durch den Kontakt zu Scholem, die jüdische Grundlage seiner Betrachtungen; eine Grundlage, die mich sowohl zum kabbalistischen Mysti-
2
Das exakte Zitat von Benjamin lautet: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (GS I.3, S. 1232).
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zismus und zu seiner Theorie der Sprache der Namen führte, wie auch zu Dialektik von Katastrophe und Chance, die die ganze Geschichte des Judentums ausfüllt, vom Exil in Babylon über die Zerstörung des zweiten Tempels, die Diaspora und die Vertreibung aus Spanien bis hin zur Tragödie der Vernichtung durch die Nazis. Benjamin und sein labyrinthisches, buntes Denken erlaubten es mir, auf andere Weise jene Geschichte zu beleuchten, die nun weitere Interpretationsmöglichkeiten eröffnete und dem Revolutionsmythos eine neue Dimension hinzufügte, die schlicht und einfach nicht auf jene reduzierbar war, die traditionell von der marxistischen Linken hochgehalten wurde, beziehungsweise von den sklerotischen Resten einer Linken, die sich zwar auf Marx beruft, dabei jedoch unfähig war und ist, die Giftpfeile ihrer Kritik auf ihre eigenen Weisheiten zu richten, die sich am Verlauf einer Geschichte abgenutzt haben, auch wenn diese unbarmherzig war mit jenen, die sich ihrer Verantwortung nicht bewusst waren oder sich ihr nicht stellen wollten. In der Lesart Aricós hat sich dieses andere große Thema durchgesetzt, das an verschiedenen Stellen in Benjamins Werk vorkommt: Ich spreche von seiner Geschichtsrevision aus der Sicht der Verlierer, eine Perspektive, die es ihm erlaubte, die heikle Frage des revolutionären Messianismus und seiner Unvereinbarkeiten mit der sozialdemokratischen Wende zu umgehen, welche Aricós „aktualisierten“ Marxismus durchdrang.3 Wir kamen jedenfalls darin überein, dass diese Lesart – im Unterschied zu anderen, die sich für eine Rezeption in ästhetischer
3
Es ist interessant hervorzuheben, dass der Einwand, den Pancho Aricó bezüglich des Charakters des eigentümlichen revolutionären Messianismus’ Benjamins erhob – andernorts und einige Jahre später, aber doch in deutlicher Übereinstimmung mit Aricó – von Jacques Derrida in einem Text namens Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘ geäußert werden sollte, in dem der französische Philosoph den Essay Zur Kritik der Gewalt des Berliners analysierte und den „unruhigen, rätselhaften, furchtbar zweideutigen“ Charakter eines Textes beschreibt, der dann weiter unten schließlich doch als „revolutionäre(r) Aufsatz (revolutionär auf eine marxistische und zugleich messianische Weise)“ bezeichnet wird (vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft.
Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frank-
furt/Main: Suhrkamp 1991, S. 60, S. 62). Ich habe diesen Text Derridas kritisch analysiert in: Walter Benjamin y el problema del mal. Buenos Aires: Altamira, 2001, S. 161-171.
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Tonart entschieden – versuchte, innerhalb dessen zu bleiben, was ich eine „politische“ Perspektive nenne, auch wenn das einen Abschied vom aufrüttelndsten Muster des Benjaminschen Denkens bedeuten sollte. In jedem Fall hatte sich die deutsche Debatte der 1960er Jahre über Benjamin und sein Verhältnis zum Marxismus unter uns nie derart entwickeln können, was womöglich auch an unserer verspäteten Bekanntschaft mit ihr lag. Als seine Behandlung im intellektuellen und akademischen Rahmen an die Reihe kam, mochte niemand mehr diese Fragen diskutieren, besonders weil schon niemand mehr Marx in Frage stellen wollte. Für einige fungierte Benjamin als Gegenpol zur „Modeerscheinung Foucault“, die unsere Breiten in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre überschwemmte; er machte es möglich, weiter eine Gegengeschichte der Moderne auszukundschaften und sich dabei von der erdrückenden französischen Hegemonie zu lösen, die anhand zahlreicher Poststrukturalismen und Dekonstruktivismen diese dem Denken Benjamins so zugetane Gegend unsichtbar machte und jeglichen Gebrauch „toter“ Vokabeln, die von Marx oder aus anderen, noch dunkleren Quellen stammten, die im Flor verdächtiger theologischer Diskurse verwurzelt waren, als nicht mehr aktuell abtat. Bestimmte italienische Einflüsse (besonders der einiger Mitglieder der Universität für Architektur in Venedig: Manfredo Tafuri, Massimo Cacciari und Franco Rella) ermöglichten mir einen Brückenschlag zwischen Foucault und Benjamin, sowie auch zu Nietzsche und Heidegger und zum Hintergrund der kulturellen Dekadenz, die als kreative Ableitung im Wien des Fin de Siècle ihren Ausdruck fand, und eröffneten mir schließlich die notwendigen Konzeptualisierungen für eine Kritik der Moderne, die sich nicht von Geschichte und Subjekt verabschiedet, wenngleich beide Termini den Abgrenzungen und Einwänden unterlagen, die von verschiedenen Argumentationslinien ausgingen, welche zu den erwähnten Philosophen führten. Was jenseits der von der Lektüre Benjamins durch die politische Brille aufgeworfenen Probleme langsam klar wurde, war der Wandel der Kritik hin zu einer Interpretation, deren Hauptachsen bald zu ästhetischen Fragen, bald zu Debatten führten, die auf dem Feld der Theorien von Kommunikation und Massenkultur entflammten; ein Feld, das sich besonders vom überreichlich zitierten Artikel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit angezogen fühlte, welcher sich zum Schlachtross all jener entwickelte, die die vermeintlich Benjaminsche Sicht auf die Kulturindustrie jener vorzo-
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gen, die im aristokratischen Geist von Adorno formuliert worden war. Ein zerstückelter Benjamin, fein säuberlich von seinen anderen Einflüssen und Aussichten gereinigt, konnte in den Schulen der Kommunikation als nicht zu übergehende Referenz vorgezeigt werden. Doch zeigte sich auch ein anderer Benjamin, der vor dem Hintergrund der ästhetischen Avantgardisten zurechtgestutzt worden war, welcher wiederum jene Leser bediente, die sich mehr der Frage der Ästhetik denn einem Ermitteln der politischen Dimension seines Denkens widmeten. In diesem Sinne entstand so eine Deaktivierung des Textkorpus Benjamins, indem er an eine tolerante Zeit angepasst wurde, die sich rasch den alten Polemiken und den noch anachronistischeren Verbindungen zwischen Kulturkritik und revolutionärem Messianismus versagte. Dieser esoterische Benjamin, der der Wiederbelebung von Begriffen der Theologie zuneigte, die „heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“4, stieß nur auf sehr wenig Interesse, also derjenige Benjamin, der fähig war, seinem Freund Scholem zu schreiben, dass nur derjenige, welcher in der Kabbala bewandert ist, auch in der Lage sei, den Prolog zum Trauerspielbuch zu verstehen, und der in seinem letzten Text, der als philosophischpolitisches Testament fungiert, zu den Spuren der Schriften seiner jungen Jahre zurückkehrte, in denen er die Merkmale des jüdischen Messianismus übernommen hatte, in dem er aber auch, einmal mehr, den revolutionär-erlösenden Hintergrund seiner Kulturkritik zum Ausdruck brachte. Ich möchte bei einigen autobiographischen Punkten nachhaken, nicht um die Aufmerksamkeit auf meine eigene Erfahrung zu lenken, die für Sie nicht interessant sein wird, sondern um ein Beispiel des Aufs und Abs zu geben, die die Benjaminrezeption bei uns im Laufe der Jahre durchlitt. In meinem Fall, ich habe das bereits angedeutet, stand die Annäherung an das Schaffen Benjamins einerseits unter dem Einfluss Adornos, andererseits unter jenem der kritischen Bearbeitung des Erbes von Hegel und Marx, welche mich zu einigen jüdischen Quellen und, bei deren genauerer Betrachtung, zu dem führte, was man gemeinhin konservativ revolutionäres Denken nennt und was im Wesentlichen zur Zeit der Weimarer Republik entwickelt wurde. Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre, im Übergang von der Diktatur zur Demokratie, erlaubten mir Benjamin und die Angehöri-
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GS I.2, S. 693.
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gen der Frankfurter Schule im Allgemeinen, in der linken Tradition zu verweilen und gleichzeitig ihren dogmatischsten und verkrustetsten Epigonen abzuschwören. Adorno und Benjamin hatten auf jeden Fall Lukács, Marx und sogar Hegel hinter sich, ohne auf die Miteinbeziehung Nietzsches, Simmels und Webers zu verzichten, wohingegen sich die neuen geläufigen Kritiken – von denen einige später in den Postmodernismus mündeten – feierlich von jenen Theorien der Revolution und der Umwälzung der Geschichte abspalteten, um am Ende diverse Tode zu verkünden: den der Geschichte selbst, der grandes récits, des Subjektes, des Autors, der Politik usw. Mit Adorno und Benjamin wurde es möglich, sich von der marxistischen Vulgata zu entfernen und ebenso dem Angriff derer auszuweichen, die dem „Ende der Geschichte und des Subjektes“ das Wort redeten, und zwar nicht indem man eine Rückkehr zum veranschaulichten rationalistischen Denkmuster der Moderne forderte, sondern indem man den tragischen Hintergrund der zeitgenössischen Geschichte hervorhob. Mit Benjamin, und jenseits von Adorno selbst, konnte ich mich in diese seltsame Alchimie vertiefen, in der sich ein bestimmtes Konzept der Sprache aus Talmud- und biblischen Texten speiste und diese mit der Poetik des französischen Symbolismus, den Schriften Prousts und dem surrealistischen Experimentieren in Einklang brachte, ohne dabei die besondern Quellen der deutschen Romantik zu vergessen, die mit den kabbalistischen Überlegungen Molitors und den Spekulationen des späten Schelling verflochten waren. Angesichts einer Realität, die sich beeilte, den endgültigen Bankrott aller utopischen Träume zu erklären, die zwar in den Werkstätten der Moderne entstanden, jedoch in vielen Fällen von alten millenaristischen und messianischen Traditionen ererbt worden waren, erlaubte es mir die durchaus interessierte und voreingenommene Lektüre Benjamins, mich in jene anderen Gebiete zu flüchten, durch die sich auch schon, wenngleich unter anderen Vorzeichen, Ernst Bloch bewegt hatte und die vor allem den Adorno der Minima Moralia durchdrungen hatten. Eine Lektüre unter pessimistischen Vorzeichen, die sich von einer gescheiterten Praxis distanzierte, stattdessen lieber rückwärtsgewandt den Spuren der zeitgenössischen Katastrophe nachspürte und so mit Benjamin ähnlich umging wie er selbst es mit den Barockkünstlern des 17. Jahrhunderts getan hatte: seine eigene historische Zeit ersinnen und dabei die Bühne der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als kritischen Fragesteller zu haben,
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als Beleuchter dieses Hintergrundes, der seinerseits die Bühne der Gegenwart grundlegend neu formulierte. Ein Fluchtpunkt: Das bedeutete Benjamin in den 1990er Jahren, als sich in unserer Gesellschaft zahlreiche Gemeinheiten vermehrten - ein Fluchtpunkt zu sein bedeutete allerdings nicht, der Realität den Rücken zu kehren und sich in anderen, angenehmeren historischen Zeiten zu verlieren. Ganz im Gegenteil bedeutete dies in den 1990er Jahren die Notwendigkeit, unsere Dekadenz und unsere Annäherung an die Katastrophe vom Blickwinkel des anderen Fin de Siècle, jenes des 19. Jahrhunderts, abzulesen und dabei aufmerksam den Stimmen der „Propheten des Feuers“ zuzuhören, die „Wahlverwandtschaften“ zu finden und in der Vergangenheit einige unersetzliche Schlüssel zum Verständnis der Marschrichtung unserer Zeit zu entdecken – einer Zeit, die sich selbst als Trägerin einer radikalen Neuartigkeit feierte, so radikal, dass sie endgültig jegliche Spur der anderen Zeit hinter sich gelassen hatte, zu der Benjamin selbst gehört hatte, welcher, wenn man von einigen modernen Konzepten ausgeht, als anachronistisch angesehen wurde. Auch wurden bestimmte Romantikvorwürfe laut, besonders seitens jener, die sich dafür entschieden hatten, sich der alten revolutionären Phantasmagorien zu entledigen und sich den Anforderungen eines neuen, siegreichen Progressivismus anzupassen, der auf enthusiastische Weise der Gedankenwelt eines formellen demokratischen Republikanismus hinzugefügt worden war, welcher allerdings seinerseits gegen Ende des Jahres 2001 sein Waterloo erlebte. Mit Benjamin gedachten wir des „Mit-dem-Strom-Schwimmens“ und ahnten schon ein angekündigtes Ende, witterten in der Atmosphäre der Zeit bereits die Ankunft der Katastrophe. In jedem Fall, und das kann ich Ihnen mit Bestimmtheit mitteilen und erklären, erlaubte es Benjamin mir oder uns, besser die Symptome der Zeit zu bedenken, uns ihre Auflösung vorzustellen, und zwar auf dieselbe Weise, wie er uns auch die Möglichkeit eröffnete, die europäische Gegenwart und die amerikanische Expansion aus einer anderen Perspektive heraus zu deuten. Schon fast von Anfang an hat uns der Ausweg Habermas’ nicht überzeugt, ein Ausweg, der versuchte, allen Widerständen zum Trotz das „unvollendete Projekt der Moderne“ zu retten. Unser Suchen, beeinflusst vom Benjaminschen Impuls, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“, ließ uns diese auf den ersten Blick gut durchdachte Lösung verdächtig erscheinen und führte uns wiederum zu den wankelmütigen Schauplätzen der ersten Romantik und der stürmischen Atmo-
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sphäre des Europa der Zwischenkriegszeit, als einige gewagte Gedanken entstanden waren, in denen sich die Grenzen mit großer Leichtigkeit überqueren ließen. Auf jeden Fall zeigte uns Benjamin, wie man gewisse brandstiftende Traditionen zu lesen hatte, indem man sie umfunktionierte.5 In einer Situation, die von der demokratischen Faszination beherrscht wurde, war es letztendlich schwierig, zu einigen Beispielen von Sichtweisen zurückzukehren, die dem herrschenden Klima entgegenstanden. Zwar war dieses Sprechen über die Besiegten weitgehend akzeptiert, der Rückzug auf die unwiederbringlich verlorenen Felder der revolutionären wie konservativen Antiparlamentarismen der Zwanziger Jahre hingegen, die Lukács, Jünger, Bloch, Klages, den Thomas Mann der Betrachtungen eines Unpolitischen, Benjamin, Schmitt, Scholem oder Gustav Landauer im selben Spektrum unterbrachte, nicht gern gesehen. Im Unterschied zu anderen Autoren, die sich in Bildungseinrichtungen verwandelten (ich denke hierbei besonders an die Leichtigkeit, mit der Foucault vom akademischen System verschlungen wurde, indem er eine ganze Palette von Kategorien anbot, die in der Lage waren, den uralten marxistischen Kanon zu ersetzen, der seinen Abgang in den Hintergrund antrat), konnte Benjamin nur unter der Bedingung einbezogen werden, ihn zu verstümmeln, wodurch der komplexen Verbindung jener zahllosen Bestandteile, welche die Struktur seines Theoriegerüstes darstellen, Gewalt angetan wurde. Seine Lehre blieb in den meisten Fällen auf irgendeinen emblematischen Aufsatz beschränkt, zumal aus der Reihe derer, die sich vermeintlich dazu eigneten, ihn pädagogisch bloßzustellen. Doch, und das hat nichts von seiner Wichtigkeit verloren, verschwor sich gegen diese Art der Wiedergabe zunächst seine gekünstelte Sprache, die vielfach kryptisch ist und dem Leser mehr abverlangt, als in Universitätsseminaren üblich ist, die alles in ein Raster pressen möchte; ein Hindernis stellte jedoch auch die unmögliche Beschränkung seines Denkens auf eine systematisch organisierte Methode dar. Zweifelsohne hat Benjamin Orientierungen
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Ich benutze diesen Terminus, der auf Brecht zurückgeht, im selben Sinne wie es Theodor W. Adorno in seinem kritischen Essay über Oswald Spengler getan hat. Vgl. T.W. Adorno, „Spengler nach dem Untergang” In: ders., Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen, Gesammelte Schriften Bd. 10.1, hrsgg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 5181.
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angeboten, Momentaufnahmen, erhellende Schnappschüsse einer Ursprungszeit der bürgerlichen Moderne, verbunden mit einer außergewöhnlichen Kunstfertigkeit der kritischen Lektüre, die von einer Verflechtung verschiedenster Traditionen gestützt wird, welche er anhand der ihm eigenen Strategie der Aneignung eines literarischen Textes oder einer Stadt als entscheidendem Schauplatz des Erdenkens eines Zeitalters der Welt durchexerziert. Diese Schnittstellen zu vergessen, dieses Spiel aus den Augen zu verlieren, in dem sich gegensätzliche Sichtweisen ineinander fügen, würde bedeuten, ihm einen Teil seiner Originalität zu entziehen. Ich glaube, dass es einigen der unter uns erarbeiteten Lesarten seines Werks genau an dieser Bandbreite von Kriterien mangelt, und dass sie sich von künstlichen Verkürzungen oder, noch direkter, von einer Verschleierung ganzer Abschnitte von Benjamins intellektuellem Projekt haben leiten lassen. Um also auf verschiedene Etappen zurückzukommen, die die Benjaminrezeption durchmachte, glaube ich, dass nun die entscheidende Verbindung zwischen den Lesestrategien und den historischpolitischen Wendungen klarer wird; anders gesagt, es ist kein Zufall, dass die erste Aufnahme seitens der Gruppe Sur so verschlüsselt geblieben ist, dass sie auf die kulturellen Debatten jener Jahre keinen Einfluss hatte, Debatten, die von der Notwendigkeit der Tat und der Überlegenheit des marxistischen Lagers geprägt waren, ebenso wenig wie es Zufall war, dass viel später, als die dunklen Jahre der Diktatur endlich vergangen waren, einige dieser Lesarten und Übersetzungen, vor allem die von Murena6, plötzlich sichtbar wurden – und dies auf dieselbe Weise wie seine Verbreitung seit den 1980er Jahren mit der Niederlage der revolutionären Träume sowie der allgemeinen Krise des Marxismus einherging und diese Situation die speziellen und gegensätzlichen Rezeptionsstrategien hervorrief sowie, in einigen Fällen, zu seiner kompletten Apolitisierung gelangte, zur Amputation seiner revolutionär messianischen Komponente, die zu bloßen Spekulationsspielen oder zu nicht zu verwirklichenden esoterischen Inhalten reduziert wird, die theoretisch unbedeutend ist. Als ob sie bloßer Auswurf eines Denkens wären, das bereits nicht mehr gebräuchlichen Traditionen verpflichtet ist.
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Héctor Murena (1923-1975), Argentinier, Mitglied der Gruppe Sur und erster Übersetzer Walter Benjamins ins Spanische (Anmerkung der Herausgeber).
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Näher stand uns die Rezeption der 1990er Jahre, die vom Klima ausgeprägter kultureller wie politischer Dekadenz geprägt war, von der, zumindest für einige, dringenden Notwendigkeit, abseits der neoliberalen oder naiv progressiven Möglichkeiten die kritischen Traditionen zu wahren, die Tiefe eines Risikodenkens in einem Kontext, in dem die Szenerie vom schärfsten Pragmatismus dominiert wurde. Zwischen den Ruinen der Kultur wurde die Lektüre Benjamins als Möglichkeit, eine Alternative zur herrschenden Politik zu denken, unverzichtbar. Gegen den Strich zu lesen bedeutete, mit dem Finger auf die Täuschungen des progressiven Diskurses zu zeigen, in einer Zeit, als die Mode des Antimenemismus7 sich nur aus der Sicht eines akritischen, formellen und substanzlosen Demokratismus schreiben zu lassen schien, der darin mündete, den Bankrott der Regierung der Alianza8 zu erklären. Mit Benjamin versuchten wir, die wir an der Erfah-
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Gegenbewegung zur Politik von Carlos Saúl Menem Akil (*1930), Präsident Argentiniens von 1989 bis 1999. Der Beginn seiner Amtszeit war u.a. von einer Hyperinflation geprägt, der er mit der 1:1-Kopplung des argentinischen Peso an den US-Dollar zu entgegnen versuchte. Die daraus resultierende Notwendigkeit, den Kurs mittels der Dollarreserven der Zentralbank zu decken, und die Probleme beim Export argentinischer Waren führten zu einer drastischen Erhöhung der Auslandsverschuldung und schließlich in die Finanzkrise um den Jahreswechsel 2001/2002. Des weiteren leitete Menem die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe ein, die einerseits von Vetternwirtschaft durchdrungen war und andererseits teils dramatische Folgen für die betroffenen Sektoren hatte. So wurden etwa große Teile des Schienennetzes der argentinischen Eisenbahn aufgegeben, die nun abgesehen von Vorortzügen der Hauptstadt Buenos Aires im Transportwesen des Landes kaum noch eine Rolle spielt; das Chaos bei der Fluglinie Aerolineas Argentinas hingegen führte schließlich dazu, dass diese 2008 vom Staat schrittweise teuer zurückgekauft wurde. (Anmerkung des Übersetzers).
8
Die Alianza por el Trabajo, la Justicia y la Educación (“Allianz für Arbeit, Gerechtigkeit und Bildung”), umgangssprachlich “Alianza” genannt, war ein 1997 gegründetes Bündnis der Unión Cívica Radical („Radikale Bürgerunion“, kurz: UCR) und der Frente Páis Solidario („Front Solidarisches Land“, kurz: FrePaSo); 1999 gewann der gemeinsame Präsidentschaftskandidat Fernando de la Rúa die Wahlen und wurde Nachfolger Menems. Mit dem Rücktritt de la Rúas am 20. Dezember 2001 anlässlich der Krise zerbrach das Bündnis (Anmerkung des Übersetzers).
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rung der Zeitschrift Confines9 teilhatten, aus dieser ungesunden Atmosphäre zu fliehen, die sowohl vom menemistischen Mob wie von den früheren Revolutionären herrührte, die nun zu Hütern eines guten demokratischen Gewissens geworden waren. Ich glaube, die Parallelen zwischen den verschiedenen Zeitschriften wahrnehmen zu können, die kurz vor und in den 1990er Jahren die verschiedenen Lesarten und Rezeptionen von Benjamins Denken ausdrückten. Punto de Vista10 zog es vor, den ästhetisch-kritischen Überbau wiederherzustellen, und versuchte so, in dieser Interpretation das auszumerzen, was sie als messianisch-romantische Komponente bezeichnete. El rodaballo11, der Michael Löwys geistreiche Wiederbelebung der jüdischen Intellektualität der Zwischenkriegszeit geerbt hatte (vor allem das, was er die Wahlverwandtschaften zwischen der messianischen Tradition des Judentums und dem freiheitlichen Anarchismus genannt hat)12, interpretierte die eigentliche Krise der argentinischen Linken im Licht der Aussicht auf einen belesenen Marxismus unter tragischen Vorzeichen, der danach trachtete, einige der seltener gewordenen Stimmen unserer eigenen Tradition in Erinnerung zu rufen, wie etwa die von Silvio Frondi-
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Pensamiento de los Confines (etwa „Gedanken der Grenzen“) ist eine argentinische Zeitschrift der Sozialwissenschaften (Anmerkung des Übersetzers).
10 Punto de Vista („Standpunkt“) ist eine argentinische Zeitschrift über Kultur (hauptsächlich Literatur, Musik und bildende Kunst), die 1978 gegründet und von der Essayistin Beatriz Sarlo geleitet wird. 11 El rodaballo („Der Steinbutt“), argentinische Kultur- und Politikzeitschrift (Anmerkung des Übersetzers). 12 Vgl. Michael Löwy. Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Berlin: Philo 2002, sowie seine Studie Fire alarm : reading Walter Benjamin's On the concept of history, London/N.Y.: Verso 2005. Vom selben Blickwinkel aus seien die folgenden Bücher empfohlen: Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843–1943), Mainz: Decaton-Verlag, 1995; La Pensée Dispersée. Figures l’éxil judéo-allemand. Paris: Éditions Léo Scheer, 2004. Seinerseits ist interessant ist das Buch von Irving Wohlfarth. Hombres del extranjero. Walter Benjamin y el parnaso judeoalemán. México: Taurus, 1999. Ich habe dieses Thema angesprochen in El exilio de la palabra. En torno a lo judío. Buenos Aires: EUDEBA, 1999 und in Walter Benjamin y el problema del mal, ed. cit.
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zi13 und Milcíades Peña14. Von Confines ausgehend vertieften wir unsere Nachforschungen über das, was wir Risikodenker nannten und hoben dabei die zentrale Rolle hervor, die Benjamin in der kritischen Rezeption sowie im Sinne einer Feinfühligkeit der Linken gegenüber den hegemonischen Linien im Marxismus spielte, gegenüber Traditionen, die aus der Ecke kamen, die man normalerweise als rechts bezeichnet. Doch beunruhigte und interessierte uns auch weiter der subversive Kern eines Denkers gegen die Moden und Systeme. Indem wir mit Benjamin seiner originellen Archäologie der Moderne folgten, drangen auch wir in diese anderen Zeiten ein, welche das noch kommende Unheil bereits erahnten. Eine Rezeption der intellektuellen Unbequemlichkeit, der kritischen Wachsamkeit, des Antidogmatismus: Das war wohl der Eindruck, die der Kontakt mit Benjamin bei uns hinterlassen hat; ein Eindruck, der die akademische Gleichschaltung eines grenzenlosen Denkens problematisch hat werden lassen, eines Denkens zumal, dessen Einordnung in irgendeine der üblichen Disziplinen sich als unmöglich erwies, das Schicksal einer misslungenen Geste, die im Namen der Lehreinrichtungen und ihrer Zollbeamten versuchte, die wesentliche Alchemie derer zu reinigen, die die kulturelle Landkarte zu lesen verstanden, indem sie sich die unterschiedlichsten Weisheiten aneigneten. Ich komme somit zu Aricós Bibliothek in dem Moment zurück, in dem ich versuche, ein Bild vom Benjamins Einfluss auf mich persönlich zu
13 Silvio Frondizi, geboren 1907, war ein argentinischer Anwalt und marxistischer Intellektueller. Sein Bruder Arturo (1908-1995) wurde 1958 zum Präsidenten gewählt, vier Jahre später jedoch von den Militärs aus dem Amt geputscht. Silvio Frondizi sympathisierte mit der kubanischen Revolution und hatte persönlichen Kontakt mit Ernesto „Che“ Guevara. Neben seiner Arbeit als Anwalt, in deren Rahmen er sich u.a. für politische Gefangene einsetzte, war er Autor zahlreicher theoretischer Schriften. Am 27. September 1974 wurde von den rechtsextremen Paramilitärs der Alianza Anticomunista Argentina („Argentinische Antikommunistische Allianz“, kurz: AAA oder Triple A) ermordet (Anmerkung des Übersetzers). 14 Milcíades Peña (1933-1965) war ein argentinischer Historiker, Politiker, Trotzkist und Mitbegründer der Zeitschrift Fichas. 1965 beging er Selbstmord. Sein Sohn gleichen Namens wurde als Ermittler um den Brand in der Diskothek República Cromañón im Jahr 2004 bekannt, bei dem 193 Menschen zu Tode gekommen waren (Anmerkung des Übersetzers).
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zeichnen. In dieser hervorragenden, gastlichen Bibliothek, die den endlosen Feinheiten des brüderlichen Gesprächs offenstand, verbreitete sich die Stimme des Autors der Berliner Kindheit ohne Einschränkungen, sie floh vor den Verkürzungen hin zur praktischen Anwendung, indem sie mir die Türen zu vergessenen Welten öffnete, zu grundlegenden Schriften, zu an den Rand gedrängten Traditionen. Dort, zwischen Pancho Aricós prall gefüllten Bücherregalen, seine freigebigen, ungehemmten Worte in den Ohren, wusste ich, dass die wahrhaftigste aller Verbindungen Benjamins jene zur amourösen Leidenschaft war, jene, die immer mehr Nachdruck auf die Spuren legen möchte, welche von einem Denker hinterlassen wurde, der auf überwältigende Weise zugleich anachronistisch und aktuell ist.
Elemente einer Theorie des städtischen Raums der Moderne
Die Frage nach dem urbanen Raum bei Simmel und ihre Spuren bei Benjamin ESTEBAN VERNIK
Im Jahr 1903 veröffentlicht Georg Simmel einen seiner berühmtesten Essays, Die Großstädte und das Geistesleben. Diese Schrift, die sich dem Phänomen der Metropole widmet, eröffnet in synthetischer Weise einige der grundlegenden Züge der Analyse seiner wichtigsten soziologischen Werke, der drei Jahre zuvor erschienenen Philosophie des Geldes und der Soziologie, die fünf Jahre später erscheinen wird. Die Großstädte und das Geistesleben erscheint seinerseits inmitten einer Trilogie über die italienischen Städte Rom, Florenz und Venedig. Tatsächlich erscheint Rom. Eine ästhetische Analyse wenige Jahre vor Die Großstädte und das Geistesleben, die Schriften über Florenz und Venedig hingegen später. Jenseits dieser chronologischen Saga, und trotz ihrer thematischen Nähe, sind die disziplinären Schwerpunkte verschieden gesetzt. Während wir im Essay über die zeitgenössischen Metropolen seine Soziologie wiederfinden, ist die Herangehensweise in der Trilogie über die italienischen Städte eine ästhetische. Wenngleich ich den Umstand berücksichtige, dass Simmels Denken keine scharfe Abgrenzung erlaubt, die Soziologie und Ästhetik in streng getrennte Schubladen einsortieren könnten, so tauchen doch beide überall in seinem Werk konzeptuell und methodologisch separat auf. Im Folgenden werde ich versuchen, beide Untersuchungen, die Simmel der Stadtfrage zuteil kommen ließ, zu überprüfen, um mich danach ihren möglichen Spuren im Werk Walter Benjamins widmen zu können.
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I.
S TÄDTISCHE L EBENSARTEN Stadtluft macht frei.
Wie das alte deutsche Sprichwort in unserem Motto, mit dem Grimm die Parlamentssitzungen in Frankfurt am Main eröffnete, schreibt Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben: „Das Kleinstadtleben in der Antike wie im Mittelalter legte dem Einzelnen Schranken der Bewegung und Beziehungen nach außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin auf, unter denen der moderne Mensch nicht atmen könnte […]1 Und gleich anschließend weist er darauf hin: „[…] noch heute empfindet der Großstädter, in die Kleinstadt versetzt, eine wenigstens der Art nach gleiche Beengung.“2 Simmels Analyse über das Leben in der Großstadt, verglichen mit dem im dörflichen Kontext, hob unter anderem die Frage nach der individuellen Freiheit besonders hervor und betrachtete sie mittels einer paradoxen Terminologie. Einerseits wurde der Grad der individuellen Freiheit durch die Möglichkeiten der Fortbewegung und die Anonymität der Großstädte erhöht, andererseits wurde er dadurch vermindert, dass das Individuum in die extremste Form der sozialen Arbeitsteilung eingebettet ist, die es durch die erbarmungslose Objektivität von Geld und Fabrikarbeitszeit auf ein „übersubjektives Schema“ reduzieren. Wenn es die Großstädte einerseits erlaubten, die Selbstüberwachung der Kleinstädte hinter sich zu lassen, so konfrontierten sie doch andererseits das Individuum letzten Endes mit dem Widerstand, „in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden.“3 Diese widersprüchliche Einschätzung des Lebens in der modernen Metropole stimmt mit Simmels allgemeiner soziologischer Diagnose der Technik und Moderne überein. Tatsächlich ist die – für moderne Sozialwissenschaftler typische – Gegenüberstellung des Dorfes oder der provinziellen Kleinstadt mit der Großstadt sowie der Agrargemeinschaft und der kapitalistischen Gesellschaft, sein Ausgangspunkt für
1
Simmel, G. „Die Großstädte und das Geistesleben”, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Bd. I, Gesamtausgabe Bd.7, hrsgg. v. Rüdiger Kramme et al., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 123f.
2
Ebenda, S. 124.
3
Ebenda, S. 116.
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den internen Aufbau des Textes, und zwar unter ähnlichen Gesichtspunkten wie Ferdinand Tönnies’ Binom Gemeinschaft versus Gesellschaft. Auch sind die Aspekte des Stadtlebens, bei denen Simmel analytisch verweilt, typisch für eine Theorie der kulturellen Moderne: die Weiterentwicklung neuer technischer und finanzieller Formen, der Verlust des persönlichen Kontaktes und sein Ersetzen durch immer einschränkendere, unpersönlichere Kommunikationsformen und schließlich das Auftauchen einer Kultur, die immer weiter von den subjektiven Sphären des Individuums entfernt ist. An dieser Stelle ergänzt Simmel das Auftauchen neuer psychologischer – in gewissem Sinne „urbaner“ – Pathologien wie die Nervosität, die Nervenschwäche, das abgestumpfte Handeln, die Gleichgültigkeit. Man kann sagen, dass dieser Essay einen Großteil der thematischen Kernpunkte enthält, die Simmel im Verlauf seiner Soziologie untersucht: die Geldfrage, die Intellektualität der modernen Subjektivität, die erbarmungslose Objektivität der Freiheit als relatives Konzept, und die Formulierung der Kulturtragödie – die in seiner Soziologie noch in den Kinderschuhen steckt und die der Autor erst Jahre später vollends entfalten wird. Außerdem arbeitet Simmel in diesem Essay von 1903 in derselben Weise wie in seiner Soziologie, indem er Interaktionsformen beobachtet, die stets reziproke Handlungen sind, in denen sich also spezifische Wechselwirkungen entfalten; und soziale oder psycho-soziale Typen, die keine Leitbilder im Sinne jener sind, die Max Weber methodologisch benutzt, sondern eine spezielle Position innerhalb einer sozialen Struktur oder eine allgemeine Kategorie zur Orientierung in der Welt. Einige dieser Typen, die Simmel in seinem Werk herausarbeitet, sind: der Ausländer – der u.a. den Mangel an sozialen Verbindungen zur Charakteristik hat, was seine individuelle Freiheit befördert –, der Arme, der Geizhals, der Verschwender, die Kokette, der Modefanatiker, der Abenteurer. Und so kommen wir zu jenem spezifischen Typus, dessen Charakterisierung diesem Essay seine Aufgabe erteilt, dem Großstädter, welcher die Art des im Denken und Fühlen durch das Urbane geprägten Individuums ausdrückt. Wie ist die Großstadt konzipiert? Als Gesamtheit der Ansammlungen von Gebäuden, von ununterbrochenem Personen- und Warenverkehr, von schnellem Austausch von Eindrücken, von denen derjenige der räumliche Nähe einer der wichtigsten ist. Häufig wird dieses Gefühl von Nähe mit demjenigen der geistigen Entfernung in Zusammenhang gebracht. Dazu schreibt Simmel, dass „[…] man sich unter
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Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl“, und bezieht sich auf die Erfahrung, dass dieses Gewühl „[…] die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht.“4 Eine der Charakteristiken, die den Großstädten entspringt, ist ein intellektualistisches Konzept des Seelenlebens, das zugleich eine Verringerung der Gefühle und ihr Ersetzen durch ein berechnendes Begriffsvermögen bedeutet. Dies führt zu sachlicheren und kälteren Beziehungen zu den Nächsten. Der intellektualistische Charakter der Metropole – eine Tendenz der Moderne, die u.a. von Max Weber wieder aufgegriffen wird – schließt eine absolute Reduzierung der Welt auf Logik und reine Vernunft und das zunehmende Ersetzen des Gefühls durch den Verstand mit ein, was dazu führt, dass die Menschen wie Zahlen behandelt werden. Deshalb hält sich Simmel bei dem auf, was er die berechnende Genauigkeit des modernen Lebens nennt, die immer stärkere Reduzierung der qualitativen Werte auf quantitative. Von diesen Tendenzen ausgehend lassen sich einige der paradoxen Effekte des Geldes einschätzen, das die Verhältnisse zwischen den Individuen dominiert und zum eingreifendsten aller Egalisierungsmechanismen wird: Alle Dinge können einen in Geld auszudrückenden Wert haben, und auf die erbarmungs- und würdeloseste Weise können sogar Personen einen Preis haben. Doch auch ohne zu diesem Extrem zu gelangen, vermehrt die Stadt mit ihrem unaufhörlichen und schnellen Geld-, Waren- und Personenverkehr die Nervosität im Leben ihrer Bewohner und führt zu einer schonungslosen Objektivität zwischen einander absolut unbekannten Konsumenten. Eine solche Charakteristik der Großstadt, der Austausch von Leistungen unter Unbekannten – wie er bei einem Großteil der Kontakte im öffentlichen Raum der Fall ist –, erzeugt Formen der Indifferenz, die letzten Endes Formen der Verteidigung gegen die Vielzahl der von den Massenbeziehungen produzierten Bildern und Stimuli sind: „[…] das Recht auf Mißtrauen, das wir gegenüber den in flüchtiger Berührung vorüberstreifenden Elementen des Großstadtlebens haben, nötigt uns zu jener Reserve, infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kenne und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen läßt.“5 Was geschähe, wollte man wie
4
Ebenda, S. 126.
5
Ebenda, S. 123.
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in einem kleinen Dorf jeder Person, die man trifft, persönlich Guten Tag sagen? Es ist unmöglich, alle Leute zu begrüßen, denen man auf einem großen Platz, einer Messe oder in den Straßen begegnet. Angesichts der Vielzahl von Nervenreizen und ausgetauschten Leistungen greifen die Stadtbewohner auf Verteidigungsmechanismen aus ihrem Inneren zurück, wie die Verschlossenheit, die Antipathie, das Abstumpfen der Sinne und die Gleichgültigkeit, die allesamt charakteristische Eigenschaften des Stadtmenschen sind. Gleichzeitig führt die Frage des Kennens oder Nicht-Kennens zwischen den Personen, in Kontexten höchster Unpersönlichkeit zwischen den Personen wie jenem der Großstadt, zur Einnahme von Distanz und schließlich zu Formen der Heuchelei unter den Nachbarn. So schreibt Simmel im Kapitel „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ seiner Soziologie einen Satz, den man durchaus als Ratschlag verstehen kann: "Es ist gut, seine Nachbarn zu Freunden zu haben, aber es ist gefährlich, seine Freunde zu Nachbarn zu haben"6 Auch Simmels Beobachtungen zur Soziologie der Sinne finden sich in der Analyse der Großstadt. Über den Charakter der Beziehungen mit räumlicher Nähe, die die großen Städte vorgeben, erklärt Simmel, dass das Leben in der Großstadt, im Gegensatz zur Kleinstadt, viel weniger auf dem Hören als viel mehr auf dem Sehen basiert. Wichtiger als das, was man hört, ist das, was man sehen kann oder sehen lässt. So erlaubt die Großstadt mit ihren hell erleuchteten und ihren dunklen Bereichen eine vormals unbekannte Erfahrung von Anonymität, eine Erfahrung des In-der-Stadt-Untertauchens. So gelangt der Großstädter zu einer zuvor (in der Kleinstadt mit all ihren Belanglosigkeiten und Vorurteilen, die ihre Bewohner einschränken) nicht gekannte Freiheit. Trotz alledem ist das Gleichgewicht der städtischen Lebensformen, wie bereits gesagt, paradox. Genau jene Freiheit, die mit der Stadtluft eingeatmet wird, lässt die Pathologien auftauchen, die das Subjekt schließlich bis zur Gleichgültigkeit verkümmern lassen. Dementsprechend geht die Verdinglichung des Geisteslebens in der Stadt sogar so weit, dass man sich selbst als Ding anbietet.
6
Simmel, Georg. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 721.
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UND
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Die Trilogie über Rom, Florenz und Venedig besteht aus drei kurzen Essays, die ursprünglich in Zeitungen erschienen waren.7 Noch viel mehr als im Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ handeln diese drei Schriften von Empfindungen, noch genauer: von den subjektiven ästhetischen Eindrücken, die diese drei Städte hervorrufen. Es handelt sich hier um geschichtsträchtige Städte, in denen die ästhetische Betrachtung mit den historischen Spuren in der Gegenwart in Zusammenhang zu stehen scheint. Simmel beschreibt den Erhalt der Architektur, der Landschaft und des Urbanismus im Verlauf der Geschichte, „[…] die Dialektik von Konstruktion und Destruktion, die das Überdauern der historischen Städte kennzeichnet.“8 Die Schriften über Rom, Florenz und Venedig sind also Essays über Landschaftsphilosophie und urbanistische Ästhetik, gleichzeitig aber auch – ein Glücksfall für die Erlebnisliteratur – Darstellungen, welche die Begeisterung des Reisenden für die italienische Kultur nicht verhehlen. Ähnlich wie wir es später beim Aufsatz über Florenz sehen werden, beginnt auch jener über Rom mit einer Betrachtung der später angewandten ästhetischen Kategorien. Die ästhetische Schönheit ist als das Produkt einer Spannung zwischen einander entgegengesetzten Begriffen gedacht, die trotzdem eine harmonische Einheit erreichen: „[…] der reinste Zufall hat entschieden, welche Gesammtform sich aus dem Früheren und dem Späteren, dem Verfallenden und dem Erhaltenen, dem Zusammenpassenden und dem Dissonierenden ergeben soll. Und da das Ganze dennoch von so unbegreiflicher Einheitlichkeit geworden ist, als hätte ein bewußter Wille seine Elemente um der Schönheit willen zusammengeführt, so erwächst nun die Macht seines Reizes wohl aus diesem weiten und doch versöhnten Abstand zwischen der Zufälligkeit der Theile und dem ästhetischen Sinne des Gan-
7
„Rom“ in Die Zeit, Wien, am 28. Mai 1898. „Florenz“ in Der Tag, Berlin, am 2. März 1906. „Venedig“ in Der Kunstwart, München, im Juni 1907. Nach Georg Simmels Tod veröffentlichte seine Witwe die drei Aufsätze zusammen in der Antologie Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und Kunstphilosophische Aufsätze. Potsdam: Gustav Kiepenheuet, 1922.
8
Jonas, Stephane. „Georg Simmel. Sur l’esthétique des villes historiques italiennes“. In: Otthein Rammstedt und Patrick Watier (Hrsg.) G. Simmel et les Sciences Humaines. Paris: Méridiens, 1992. S.167.
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zen […].“9 Der einzigartige Charakter der Stadt Rom entspringt aus den Sinneserregungen, die der Autor verspürt, als er auf ihren Straßen wandelt und ihre Luft atmet, doch ebenso aus einer theoretischen Konstruktion: „Das ganz Unvergleichliche des Eindruckes von Rom ist, daß die Abstände der Zeiten, der Stile, der Persönlichkeiten, der Lebensinhalte, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, so weit gespannt sind, wie nirgends in der Welt, und daß diese dennoch in eine Einheit, Abgestimmtheit und Zusammengehörigkeit verwachsen, wie nirgends in der Welt.“10Die Einheit der Sinne, die Simmel in Rom findet, wirkt gleichermaßen auf die Spannungskraft zwischen den verschiedenen Elementen, die auf verschiedene wichtige Punkte bezogen sind, welche quer über die Stadt verteilt sind, wie auch auf die Harmonie, die sie unter der übergeordneten Einheit der Stadt erlangen. Auf dieselbe Weise bezieht sie sich auf die Zusammensetzung (in Spannung wie in Harmonie) der verschiedenen zeitlichen Elemente des Stadtseins Roms, die die der Stadt ganz eigene Überzeitlichkeit zum Resultat haben: „Aber das Wunderbare ist, daß auch hier, im Zeitlichen, die Elemente nur deshalb wo weit auseinandergetrieben scheinen, um die Einheit, zu der sie dennoch zusammengehen, um so kräftiger, eindringlicher, umfassender zu zeigen.“11 Indem er sich explizit sowohl von dem, was er bürgerlichen Rationalismus nennt, wie auch vom „unerträglichen“ Blick des typischen Touristen entfernt, spielt Simmel auf Goethe an und lässt sich vom Eindruck treiben, dass die Geschichte kommt und geht wie die Wellen des Meeres, in einer konstanten und harmonischen Unruhe: „In ganz eigenartiger, schwer zu beschreibender Weise empfindet man hier das Außereinander der Zeiten zu einem Mit- und Ineinander zusammenwachsen. Man hört das so aussprechen, daß einem in Rome die Vergangenheit zur Gegenwart würde, oder auch umgekehrt: daß einem die Gegenwart so traumhaft, übersubjektiv, beruhigt wird, als wäre es einen Vergangenheit.“12 In Florenz hingegen stellt die Betrachtung der ästhetischen Kategorien die Trennung zwischen Natur und Geist als das Problem, „[…]
9
Simmel, G. „Rom. Eine ästhetische Analyse.“ In: -, Georg Simmels Gesamtausgabe. Gesamtausgabe herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a/M: Suhrkamp, 1992, Bd.5, S.304.
10 Ebenda, S. 302. 11 Ebenda, S. 305. 12 Ebenda.
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dessen Bewußtsein und Lösungsversuche die ganze Neuzeit erfüllen […]“13 in Frage. Wie lässt sich die verlorene Einheit zwischen den beiden Teilen des Lebens wiederherstellen, die die Moderne durch den Cartesianischen Dualismus getrennt hat? Die Antwort muss man in der Fülle des Kunstwerkes suchen, in dem „[…] die Elemente … so unscheidbar eins geworden [sind], wie sie es vor ihrer Trennung durch den Prozeß des geschichtlichen Lebens waren.“14. Doch kann man diese der ästhetischen Erfahrung eigene Wiedervereinigung finden, wenn man Florenz von der Höhe von S. Miniato betrachtet, „wie es von seinen Bergen gerahmt und von seinem Arno wie von einer Lebensader durchflossen ist; wenn man, die Seele erfüllt von der Kunst seiner Galerien und Paläste und Kirchen, am Nachmittag durch seine Hügel streift, mit ihren Reben, Oliven, Zypressen, wo jeder Fußbreit der Wege, der Villen, der Felder gesättigt ist mit Kultur und großen Vergangenheiten, wo einen Schicht von Geist wie ein Astralleib dieser Erde um sie liegt – da erwächst ein Gefühl, als sei hier der Gegensatz von Natur und Geist nichtig geworden.“15 Die Landschaft, die Simmel in Florenz darstellt, setzt sich aus Elementen der Natur und Kultur zusammen wie eine Plantage der letzteren: Mohnblumen und Ginster, wie geheim verschlossene Stadtteile, spielende Kinder, das Blau und die Wolken des Himmels. Doch wie in Rom, so schließt auch hier die Analyse die Erfahrung der Nähe von Vergangenheit und Gegenwart mit ein; auch hier ist die Geschichte ein Kommen und Gehen, das die Schönheit aus einer Einheit von Spannung und Harmonie formt: „Denn die Vergangenheit ist anschaulich geblieben und hat dadurch eine eigentümliche Gegenwart, die sich neben die andere, vom Tage getragene stellt, ohne sie doch zu berühren. Die Zeit stiftet hier nicht zerrüttende Spannung zwischen den Dingen, wie die reale, sondern gleicht der ideellen Zeit, in der das Kunstwerk
13 Simmel, G. „Florenz“. In: -, Georg Simmel Gesamtausgabe. Gesamtausgabe herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a/M: Suhrkamp, 1992, Bd. 8, S. 69. 14 Ebenda. 15 Ebenda.
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lebt, die Vergangenheit ist hier unser eigen wie die Natur, die auch immer Gegenwart ist.“16 Zuletzt hat Venedig, der Essay, den Simmel der Stadt der Brücken und Tore widmet, eine Einschätzung zum Resultat, die jener von Rom und Florenz entgegengesetzt ist. In einem Kontrapunkt zur Architektur letzterer erklärt er: „Bei den Palästen von Florenz, von ganz Toskana, empfinden wir die Außenseite als den genauen Ausdruck ihres inneren Sinnes: trotzig, burgmäßig, ernste oder prunkvolle Entfaltung einer wie in jedem Steine fühlbaren Macht, jeder die Darstellung einer selbstgewissen, selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Die venezianischen Paläste dagegen sind ein preziöses Spiel, schon durch ihre Gleichmäßigkeit die individuellen Charaktere ihrer Menschen maskierend, ein Schleier, dessen Falten nur den Gesetzen seiner eignen Schönheit folgen und das Leben hinter ihm nur dadurch verraten, daß sie es verhüllen.“17 Für Simmel drückt Venedig eine Diskrepanz zwischen dem, was es zur Schau stellt, und dem, was es ist, aus. Und nicht nur das, in Venedig wird man des Verlangens einer Macht gewahr, die alle Kunst verneint: „[…] am Markusplatz, auf der Piazzetta, empfindet man einen eisernen Machtwillen, eine finstere Leidenschaft, die wie das Ding an sich hinter dieser heitern Erscheinung stehn.“18 So ist das Endergebnis des Vergleichs, den Simmel zwischen Florenz und Venedig anstellt, wie folgt: die Schönheit ersterer Stadt ist das Ergebnis der Wahrheit der Kunst, die der zweiten eines des Betrugs einer Macht. Florenz, als Kunstwerk wahrgenommen, stellt sich Venedig entgegen, „der künstlichen Stadt“, die nur die verlogene Schönheit der Maske in sich birgt. Prunkvoll und oberflächlich, ist es wie seine engen Gassen, in denen das unvermeidliche Zusammenstoßen der Menschen „[…] den Schein einer Vertrautheit und ‚Gemütlichkeit‘ diesem Leben gibt, dem jede Spur von Gemüt fehlt.“19
16 Ebenda, S. 71. 17 „Venedig“. In: Ebenda , S. 259. 18 Ebenda. 19 Ebenda, S. 262.
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III. N EAPEL . V ERSUCH EINER G EGENÜBERSTELLUNG B ENJAMIN – S IMMEL Es gibt viele Herangehensweisen an das Verhältnis zwischen Benjamin und Simmel. Hier stellen wir eine von ihnen vor. Zuallererst tauchen Parallelen in ihren Biographien auf. Ein zentraler Punkt ist, dass beide Autoren an den Rändern des akademischen Betriebs arbeiteten, was sie beide in zahlreichen Momenten ihres Lebens zum Journalismus führte.20 Als ein Grund, der sie an einer Universitätskarriere hinderte, wird oft ihr jüdische Herkunft genannt, zumal ihre Schaffensperiode in eine Zeit fällt, in der in den Universitätskollegien (und nicht nur dort) ein starker Antisemitismus herrschte. Vielleicht noch wichtiger allerdings war für die Berufslaufbahnen beider die Tatsache, dass sie äußert originelle und persönliche Schriften vorlegten, die querstanden zur verkrusteten offiziellen, akademischen Produktion. Aus biographischen und die Lektüre betreffenden chronologischen Gründen ist der Einfluss zwischen beiden eine Einbahnstraße von Simmel zu Benjamin. Wenngleich Benjamin Simmel niemals persönlich kennen lernte, so war er doch zweien von Simmels wichtigsten Schülern eng verbunden: Ernst Bloch und Siegfried Kracauer. Auch lässt sich in der Korrespondenz zwischen Adorno und Benjamin die Behandlung der Frage einer möglichen Auswertung von Simmels Werk ausmachen, die schwierig zu interpretieren ist, zumal sie in einer persönlichen Chiffre geschrieben zu sein scheint, von der aber doch trotz alledem klar ist, dass Benjamin immer derjenige ist, der die Position der Verteidigung Simmels einnimmt.
20 Da er fast sein ganzes Leben ohne die Vorteile eines Universitätssalärs auskommen musste, schrieb Simmel für zahlreiche Publikationen: Zeitungen mit hoher Auflage wie Der Tag oder die Frankfurter Zeitung, mit sozialdemokratischer Tendenz wie Vorwärts oder Die Neue Zeit, Zeitschriften wie jene der Brauereigewerkschaft oder die Zeitschrift Jugend der Avantgardisten von München, wie auch für die philosophische Zeitschrift Logos. In ähnlicher Weise war Benjamin Stammmitarbeiter der Frankfurter Zeitung, seine Beiträge zur Russischen Enzyklopädie sind berühmt, ebenso wie jene zur Literarischen Welt, wie auch seine Auseinandersetzungen mit Adorno und Horkheimer über Artikel, die er ihnen nach New York sandte.
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Eine andere Frage, die im Verhältnis Benjamin–Simmel auftaucht, ist der Einfluss der Stadt Berlin, in der beide wichtige Etappen ihres Lebens verbrachten. Und vielleicht war es Simmel, von dem Benjamin die Idee des Sich-Verlierens in einer Stadt übernahm – die er an zahlreichen Stellen in seinem Werk ausdrückte, so etwa in Berliner Chronik. Doch gibt es darüber hinaus auch einen heuristischen Schlüssel zu seinen Schriften: Es ist der Stellenwert der Beobachtung enthüllender Details, die Frage der Erleuchtungen als Verzeichnis der Blicke und Empfindungen, die sich bei Simmel, Bloch, Kracauer und Benjamin findet. Konkreter lassen sich diejenigen Lektüren von Schriften Simmels betrachten, die Benjamin im Passagen-Werk unternimmt, das man als seine Haupthinterlassenschaft ansehen kann. Hier stützt sich Benjamin auf drei Bücher Simmels: Philosophie des Geldes, Philosophie der Mode und, vor allem, Goethe.21 Letztendlich weisen wir in diesem Parallelismus darauf hin, dass sowohl Simmels als auch Benjamins Denken auf den grundlegenden Einflüssen von Kant, Goethe und Marx fußen und dass die dort vorfindliche theoretische Kombination von Kritizismus, Romantizismus und historischem Materialismus von einer messianischen, utopischen Komponente durchdrungen ist. Wir wissen vom starken Einfluss, den die Goethelektüre sowohl bei Simmel als auch bei Benjamin hinterlassen hat. Die Italienische Reise ist, sozusagen, der Bildungsroman Goethes, respektive sein Eintritt in das Leben und den Werdegang des Dichters. Auf den ersten Seiten lässt sich der Überdruss spüren, mit dem Goethe die deutschen Landschaften beschreibt. Als er die Grenze überquert, fühlt er sich, als habe er die Grenze zwischen Nacht und Tag überschritten. Eine wahre Geburt. Womöglich lassen sich der Vitalismus und die romantische Melancholie, die in Goethes Werk zu Hause sind, in den oben behandelten Schriften Simmels und dem im Folgenden beschriebenen Werk Benjamins wiederfinden.
21 Für eine genauere Analyse, siehe: Susan Buck-Morss. Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.
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Neapel, geschrieben 1924,22 ist eine Freske der süditalienischen Stadt. Eine Reisechronik, die sich nach Art der Kupferstiche auf das bezieht, was in den Straßen und anderen öffentlichen Orten wie Cafés, Tavernen und sogar der Universität passiert, in der gerade ein internationaler Philosophiekongress stattfindet. Bei der Lektüre möchte man meinen, dass Benjamin und Asja Lacis – die einander auf dieser Reise kennen lernten – an diesem teilgenommen haben. In der Chronik offenbaren sich dem Blick des Ausländers Faktoren, die ihrer Charakteristiken wegen typisch für die Stadt sind: die Präsenz des Katholizismus und der Kirchen, der Polizei und der Camorra oder der Ramschhändler, die vom Regenschirm bis zur Zahnpasta alles verkaufen. Auch werden Handlungsweisen verzeichnet, die in den Kulturen des Nordens seltsam erscheinen würden, wie beispielsweise die Leidenschaft für die Improvisation, die mit den Neapolitanern in Verbindung gebracht wird, worunter auch die Fertigkeit, Maccaroni mit den Händen zu essen, fällt.23 Ebenso wie in Simmels Aufsätzen über die italienischen Städte gibt es auch bei Benjamin Beobachtungen architektonischer Strukturen, die jedoch zumeist aus einer Art Alltagsperspektive der Neapolitaner heraus gehalten sind: „Niemand orientiert sich an Hausnummern. Läden, Brunnen und Kirchen geben die Anhaltspunkte. Und nicht immer einfache.“24 Auch hinsichtlich der Bauweise ist das Vorkommen von Ruinen, in denen einige Neapolitaner leben, charakteristisch. In gewisser Weise hallt hier Simmels Essay über die Ruinen wider, die dieser allerdings, obwohl er sich auf dasselbe Beispiel in Neapel bezieht, nicht derart anpreist wie Benjamin. Dieser streicht das gegenseitige Sich-Durchdringen der Architektur der Gebäude sowie der Arkaden und Treppen der Stadt hervor, ebenso die Durchlässigkeit zwischen privatem und öffentlichen Leben in den vielen Fällen, in denen die Menschen Stühle auf die Straße stellen und so ihre Wohnzimmer erweitern. Zuguterletzt drückt sich der sinnliche Jubelton in folgender Bekräftigung aus: „[…] in den heißen Getränken ist diese Stadt so unüber-
22 Veröffentlicht 1925 in der Frankfurter Zeitung, mit Angabe der russischen Schauspielerin und Revolutionärin Asja Lacis als Koautorin. 23 GS IV.1, S. 311. 24 Ebenda, S. 309.
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troffen wie in den Sorbets, Spumones und Gelaten […]“.25 Benjamin – vielleicht auch Lacis – schließt mit einem Wortspiel, indem er die Redensart vedere Roma e dopo morire auf Neapel anwendet. Italien und seine Städte machen Freude, so wie sie es schon bei Goethe und Simmel getan haben.
IV. AUSKLANG Nach dem von uns beschrittenen Weg möchten wir mit zwei Beobachtungen schließen. Erstens ruft der Vergleich der zwei Ansätze zur Stadtfrage bei Simmel tatsächlich verschiedene Bewertungen hervor. Einerseits die soziologische Annäherung an die kapitalistische Metropole: die Großstadt als Zentrum der sozialen Arbeitsteilung sowie des Geld- und Warenverkehrs. Wenngleich es nicht explizit erwähnt wird, so ist doch Berlin das Erfahrungsobjekt, das sich als Stadt der Gegenwart der Zukunft präsentiert. Andererseits die ästhetische Herangehensweise an die Analyse der historischen italienischen Städte Rom, Florenz und Venedig. Es sind anschauliche Schilderungen der Stadtlandschaften, die auf lebensbejahende Weise versuchen, den Leser in die subjektiven Erfahrungen und die Gefühle zu versetzen, die diese Straßen beim Autor hervorrufen: Jubel, Melancholie, Trauer. Zweitens können wir beim Versuch der Gegenüberstellung von Simmel und Benjamin im Hinblick auf die italienischen Städte nicht feststellen, dass die eine sozusagen aus der anderen entspringe. Neapel ähnelt weniger der Trilogie Rom-Florenz-Venedig als vielmehr anderen Werken Simmels, die Benjamin etwa mit Ideen über die Ruinen, den Beziehungscharakter des sozialen Lebens, den allen erotischen Beziehungen innewohnenden Leistungsaustausch und den Blick sowohl des Ausländers selbst als auch denjenigen auf ihn beeinflusst haben. In Neapel beispielsweise ist der Erzähler ganz klar ein Flaneur, der durch die Straßen wandelt, welche die Hügel hinauf und hinunter führen, der hört, was in den Straßen und auf dem Markt geschieht, der sich kurz den Menschen nähert und so Klänge, Geräusche, Aromen und Farben wahrnimmt. Er ist es, der sich in seine Cafés und seine nur schwach beleuchteten Tavernen zu den Fischern, Seeleuten und Prostituierten setzt. In den Eindrücken Simmels hingegen werden uns die
25 Ebenda, S. 316.
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italienischen Städte durch einen anschaulichen Blick vorgestellt; die Übersicht, die sich uns bietet, entfaltet sich wie von einem Aussichtspunkt aus, geradeso als ob Simmel ein impressionistischer Maler wäre.
Straßen ohne Erinnerung: Die Phänomenologie der Großstadt bei Siegfried Kracauer und Walter Benjamin MIGUEL VEDDA
I. Die Reflexionen Siegfried Kracauers und Walter Benjamins über die Großstadt, geboren unter ähnlichen Umstanden und Einflüssen – und teilweise auch unter wechselseitigem Einfluss –, stellen zwei der ehrgeizigsten aller bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts unternommenen Versuche dar, einem Phänomen gerecht zu werden, das sich zur damaligen Zeit in seinem Anfangsstadium befand. Was Kracauer angeht, muss man anmerken, dass sich die Grundlagen seiner Theorie vor allem in der Soziologie Simmels finden, in der Weberschen Charakterisierung des Kapitalismus als „entzauberte Welt“ und des kapitalistischen Geistes als „stahlhartem Gehäuse“, das den modernen Menschen gefangen hält, jedoch auch in der Lukácsschen Theorie der Verdinglichung, wie sie in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) entwickelt wird. Im Einklang mit diesen Vorschlägen sieht Kracauer, wie Graeme Gilloch anmerkt, in der Großstadt eine Umwelt „bureaucratisé et rationalisé, marqué par l’instrumentalisme, l’abstraction et le calcul cruel“1, und in dem sich andererseits die Spuren einer gemeinschaftli-
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Gilloch, Graeme. „Optique urbaine. Le film, la fantasmagorie et la ville chez Benjamin et Kracauer“, in: Sinay, Ph. (ed.) Capitales de la modernité.
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chen Erfahrung, die in der Lage wäre, die Menschen zu leiten, schon wieder verwischt zu haben scheinen. Schon im „philosophischen Traktat“ über den Detektiv-Roman (1925) wird die bürgerliche Welt als eine „entwirklichte Gesellschaft […], die aus der existenziellen Gemeinschaft durch die bis zum äußersten fortgetriebene Verabsolutierung der ratio entsteht“2, dargestellt. Als paroxystische Form strebt der Kriminalroman nicht nach einer genauen Wiedergabe des Hochkapitalismus, sondern danach, den intellektualistischen Charakter dieser Wirklichkeit hervorzuheben: ein Stadium der Gesellschaft aufzuzeigen, „in dem der bindungslose Intellekt seinen Endsieg erfochten hat, ein nur mehr äußeres Bei- und rDurcheinander der Figuren und Sachen, das fahl und verwirrend anmutet, weil es die künstlich ausgeschaltete Wirklichkeit zur Fratze entstellt.“3 Die von lebensweltlicher Erfahrung entleerte Wirklichkeit, der diese Gattung entspricht, repräsentiert die Krise einer sozialen Struktur, die dem Ausmerzen der Dimension des Kultischen verpflichtet war und die Ratio zu ihrem Gott machte; so erklärt sich auch, dass der Detektiv im Kriminalroman den Platz einnimmt, der in der Gemeinschaft dem Priester oder Magier zustand, und dass die Hotelhallen eine Funktion bekleiden, die mit jener vergleichbar ist, die in den traditionellen Kulturen die Kirchen innehatten. Doch diese Illusionen, die der Rationalismus aus dem Alltäglichen zu entfernen versucht, und die aus der „entzauberten Welt“ der Fabriken und Büros verbannt zu sein scheinen, tauchen nach Feierabend wie Träume wieder auf. Die Kräfte, die in der momentanen Ordnung keine Anwendung finden, erschließen sich in der Freizeit einen zügellosen, manchmal gewalttätigen Ausweg; in den Zentren der Unterhaltung versuchen die städtischen Mittelschichten ihr Bewusstsein mittels einer Zurschaustellung des Glanzes einzuschläfern; was der kleine Angestellte in den Nachtlokalen sucht, ist nicht „Gehalt, sondern Glanz. Es ergibt sich ihm nicht durch Sammlung, sondern in der Zerstreuung”4; wenn die Büroangestellten so häufig die Nachtlokale besuchen,
Walter Benjamin et la ville. Paris/Tel Aviv: Editions de l’Eclat, 2005, S. 101-127; hier, S. 121. 2
Kracauer, S. Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt
3
Ebenda, S. 10.
4
Kracauer, S. Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt
a/M: Suhrkamp, 1979, S. 30.
a/M: Suhrkamp, 1971, S. 91.
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so liegt das daran, dass “es zu Hause elend ist und sie am Glanz teilhaben wollen”5. Dieser Gegensatz zwischen Glanz und Elend – der einem die Splendeurs et misères des courtisanes von Balzac ins Gedächtnis ruft – gewährt einen Hinweis auf die Bedürftigkeit, die die Mittelschicht im entwickelten Spätkapitalismus erlebt, sodass sie sich schließlich von der realen Misere in die überschwängliche Misere flüchtet. Zum Ende einer der Abschnitte von Die Angestellten (1929) beschreibt Kracauer ein Feuerwerk im Lunapark: „Im Lunapark wird abends mitunter eine bengalisch beleuchtete Wasserkunst vorgeführt. Immer neu geformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, dass sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, läßt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf.“6 Der Kult des Glanzes knüpft an die Notwendigkeit des Systems an, die soziale Rationalisierung rosarot einzufärben: „Die Düsterkeit der ungeschminkten Moral brächte dem Bestehenden ebenso Gefahr wie ein Rosa, das unmoralisch zu flammen begänne“7. Und trotzdem ist der Glanz Teil einer Ambivalenz, die für das gesamte Stadtleben charakteristisch ist: Als Ausdruck und Mittel der von der List der instrumentellen Vernunft bewerkstelligten Täuschung bringen die Tagträume auch etwas über die soziale Ungerechtigkeit und die utopische Hoffnung in einer emanzipierten Gesellschaft ans Licht. Diese Ambivalenz kennzeichnet ganz allgemein die Traumphantasien, die das kollektive Unterbewusstsein bevölkern, und man muss daran erinnern, dass Kracauer, wie auch Benjamin, davon ausgeht, dass dieses an der Gestaltung der Utopien der städtischen Massen einen größeren Anteil hat als das kollektive Bewusstsein. Wenn die Interpretation der Stadt im Entziffern seiner Traumbilder liegt, kann deren Kern nur aus den Phänomenen gewonnen werden, welche in der unkalkulierbarsten und banalsten Gestalt auftauchen. Benjamin behauptet, dass eine Philosophie,
5
Ebenda.
6
Ebenda, S. 101.
7
Ebenda, S. 24.
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die nicht die Möglichkeit der Kaffeesatzleserei beinhalte und nicht in der Lage sei, dies auch zu erklären, keine wahre Philosophie sein könne; auf ähnliche Weise urteilt Kracauer, dass sich das Wesen einer Epoche anhand von unauffälligen Details bestimmen ließe: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. […] Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden.“8 Ähnlich wie der “Brief Ihrer Majestät” in Poes Der entwendete Brief sind diese Ausdrücke, obwohl sie sich vor aller Augen befinden, letztendlich gerade aufgrund ihrer Offensichtlichkeit unauffindbar. Wie der Detektiv ist auch der Essayist nicht minder gezwungen, die Andeutungen des Sichtbaren zu entschlüsseln, um schließlich zur Wahrheit zu gelangen; und es ist charakteristisch, dass Kracauer diese Wahrheit lieber aus den visuellen Bildern zieht, und vor allem aus jenen, die Architektur und Kino liefern: jene Kunstformen, die anzuschauen normalerweise Zerstreuung verursacht, im Gegensatz zum Zustand der Sammlung, den die Malerei verlangt. Von Studium und Beruf her Architekt, Kracauer „interessierte sich weniger für die Architektur als einer formalen Organisation des Raumes als für die Unzahl der unvorhersehbaren und flüchtigen Beziehungen, die in den Strömen und Wirbeln der großstädtischen Existenz auftauchten und wieder verschwanden.“9; als Pionier der Filmtheorie und -kritik fand er, dass das Kino über die privilegierte Fähigkeit verfügte, das mit den Sinnen nicht direkt Wahrnehmbare, das visuelle Unterbewusstsein einzufangen. Doch verknüpft sich seine Interpretation mit dem Wissen um diese Phänomene, und der Autor der Angestellten versucht, eine Interpretationsmethode zu begründen, die in der Lage ist, den Bildern der Städte einen Sinn zu verleihen. In seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1926) stellt Benjamin – bezüglich der biblischen Genesis – fest, dass der Akt des Benennens seinen Sinn darin hat, die Dinge von ihrer Stummheit zu erlösen und damit zugleich
8
Kracauer, S. Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a/M: Suhrkamp,
9
Gilloch, op.cit., S. 116.
1977, S. 50.
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ihr Wesen aufzuzeigen: Es ist mehr als eine reine Konvention. Auf ähnliche Art verbindet Kracauer die Interpretation der städtischen Räume mit der Idee, den Raumbildern eine Sprache zu schenken; wie man in Straßen in Berlin und anderswo lesen kann: „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“10 Enzo Traverso hat geschrieben, dass die Architektur Kracauer ein Konzept der Stadtlandschaft als Metapher beigebracht hat, wie eine Hieroglyphe, durch die es möglich ist, die Vergangenheit und Gegenwart einer Gesellschaft zu entschlüsseln.11 Von daher erscheinen die Fassaden in Straßen in Berlin wie Texte, deren Lektüre es ermöglicht, dass die Gebäude selbst die an ihnen sich ablagernde Geschichte erzählen. Wenn, wie Freud erklärte, die vom Bewusstsein nicht verarbeiteten traumatischen Erlebnisse Spuren im Unterbewusstsein hinterlassen, und wenn diese Spuren sich von der mémoire involontaire12 nähren, dann lässt sich sagen, dass der Entzifferungsaufwand darin besteht, einem materiell im Raum objektivierten Unterbewusstsein eine Sprache zuzuerkennen; dabei ist mit Proust anzumerken, dass die Zeit hier eine räumliche Form angenommen hat, erst recht wenn sich eine Situation wie die des Wanderers einstellt, der sich „[…] nicht nur im Raum bewegte, sondern oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang.“13 Die Fähigkeit, die Vergangenheit aus den Straßen ohne Erinnerung abzuleiten, die die Großstädte durchziehen, steht nur
10 Kracauer, S. Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a/M: Suhrkamp, 1964, S. 69f. 11 Traverso, E. Siegfried Kracauer. Itinerario de un intelectual nómada. Trad. de Anna Montero Bosch. Valencia: Edicions Alfons El Magnàmin, 1998, S. 30. 12 Gilloch, G. op.cit., S. 113. 13 Kracauer, S. Straßen in Berlin…, S. 10.
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dem zur Verfügung, der diese mit dem Blick des Exilanten betrachtet, sprich: mit dem Blick desjenigen, der – wie Poes Dupin – die notwendige Distanz zum unmittelbar Sichtbaren wahrt, damit dieses vor seinen Augen nicht unbeachtet bleibt. Ebenso wie die Erhaltung der eigenen Klarheit interessierte es Kracauer, ein Bewusstseinserwachen der städtischen Massen zu entfachen; und so wie wir in seinen Artikeln in der Frankfurter Zeitung eine Kritik des trivialen Kinos finden, das danach trachtet, die Nachdenklichkeit des breiten Publikums einzuschläfern, so finden wir auch ein Infragestellen der Neuen Sachlichkeit sowie der Fotografie und des Journalismus, welche die Erscheinungsformen der Wirklichkeit mit deren tiefgründigem Wesen verwechseln. In Der Erzähler (1936) bringt Benjamin den Tod des traditionellen Erzählens mit der Ausbreitung der Zeitungen in Verbindung; Kracauer, der jedem Vorschlag, die Formen der Vergangenheit wiederzubeleben, skeptisch gegenübersteht und davon überzeugt ist, dass die Kunst mit den Stoffen arbeiten soll, die ihr zur Verfügung stehen, strebt eine Umformung der journalistischen Mittel – Bericht, Reportage etc. – hin zu ästhetisch und ideologisch aufrüttelnden Werkzeugen an. Wenn die Zeitungen den Leser zu Passivität und unbewusster Anpassung an den Schock erziehen, bemüht sich der deutsche Essayist darum, das Bekannte wieder fremd zu machen und auf diese Weise ein Erwachen zu erleichtern. Da er von den Schranken des abstrakten Denkens überzeugt ist, bewirkt er – wie Proust, wie Benjamin – ein mit Bildern und, vor allem, Metaphern wucherndes Denken. Gerwin Zohlen bemerkt, dass das Denken in Analogien ein grundlegender Bestandteil der philosophischen Methode Kracauers ist: „Im einleitenden Kapitel zum Buch über seinen philosophischen Lehrmeister Georg Simmel vermerkt er die Restriktionen rationaler Diskursivität, die die Dinge in ihren starren Begriffsgehäusen einsinnig werden läßt. Ihr entgegen stellt er die subversive Potenz der Analogie, die die Wirklichkeit von ihren fratzenhaften Begriffsversteinerungen befreien kann.“14
14 Zohlen, G. „Text-Straßen. Zur Theorie der Stadtlektüre bei Siegfried Kracauer“ In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur [Sonderband: Siegfried Kracauer] 68 (Oktober 1980), S. 62-72; hier S. 68.
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Die Allegorie wird hier zu einem kognitiven Hilfsmittel zur Entzifferung der Hieroglyphen der Großstadt. Sie dient vor allem – in beinahe Brechtschem Sinne – als Verfremdungsmittel zur Entautomatisierung der alltäglichen Wahrnehmung. Von daher führt Kracauer in seiner Analyse der Moderne häufig Analogien zur Vergangenheit oder zum Exotischen ein; so beruft er sich auf die Zauberwirkung der Bescheinigungen, die den Zugang zu bestimmten Sphären der Beamtenschaft gewähren oder versucht auszuloten, welche Zauberkräfte nun eigentlich einer Erscheinung innewohnen müssen, damit sich ihm die Pforten des Betriebs öffnen. Darüber hinaus stellt er eine Expedition durch eine der modernen Firmen wie ein Abenteuer dar, das fast noch riskanter ist als eine Reise durch den afrikanischen Dschungel.
II. Die „frenetische Reiselust“ wird von Benjamin mit Aspekten „der Grenzüberschreitung und des Eskapismus“15 in Verbindung gebracht; für ihn geht es nicht nur darum, mit dem Blick des Exilanten ausländische Städte zu betrachten, sondern auch darum, das Ursprungsmedium über eine Entfernung hinweg zu projizieren, die eine klare Interpretation ermöglichen, wie jene in der Berliner Chronik (1932) oder Berliner Kindheit (erschienen 1950). Der junge Lukács hatte sich auf die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen bezogen und die Romanhelden als „Suchende“ definiert; Kracauer charakterisierte die Großstadtbewohner als „geistig obdachlos“. Indem er aus der Not eine Tugend zu machen versucht, entwickelt Benjamin aus der Obdachlosigkeit sogleich eine Grundlage für den Aufbau einer Phänomenologie der Großstadt. In einem der Denkbilder ist zu lesen, dass „’Die Zeit, in welcher selbst der lebt, der keine Wohnung hat’, wird dem Reisenden, der keine hinter sich ließ, ein Palais.“16 Auch hierbei geht es darum, der Zeit eine räumliche Form zu geben, und zwar auf
15 Brodersen, M. Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin: Leben und Werk. Bühl-Moos: Elster, 1990, S. 194. 16 Benjamin, W. Gesammelte Schriften [=GS] Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, Bd. IV.1, S. 383.
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dieselbe Weise wie jenes graphische Schema, durch das Benjamin einmal versucht hat, seine eigene Biographie zu umreißen; umgekehrt sieht jedoch der Reisende die städtischen Räume – Straßen, Gebäude – mit der Absicht, den Raum zu historisieren. Die modernen Metropolen, sofern sie Schauplatz des Fetisch und der Phantasmagorie sind, versuchen, ihre eigene Vergangenheit zu begraben, so dass sie für ihre Bevölkerung, die ihrerseits in ihnen keine echte Heimat mehr sieht, schon nicht mehr bewohnbar sind.17 Das von Haussmann in Paris unternommene Projekt der Restrukturierung der Stadt, das später in anderen urbanistischen Entwürfen kopiert wurde, wird dazu benutzt, kollektive Erfahrung und Vergangenheitserinnerungen auszulöschen;18 auf der Suche nach einer Alternative zu diesem embellissement stratégique durchwanderte Benjamin Städte, in denen die Geschichtlichkeit durchaus sichtbar war, so vor allem Neapel, dessen Steine die Verkörperung des Vergänglichen sind: „Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. […] Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‚so und nicht anders’. So kommt die Architektur, dieses bündigste Stück der Gemeinschaftsrhythmik, hier zustande.“19 Die Porosität ist hier das Gesetz des Lebens; ein Gesetz, das auf unaufhörliche Weise immer wieder neu entdeckt wird: „[…] jede private Haltung und Verrichtung wird durchflutet von Strömen des Gemeinschaftslebens. Existieren, für den Nordeuropäer die privateste Angelegenheit, ist hier […] Kollektivsache.“20 Die Porosität und die Durchdringung, die in Neapel so offen zutage treten, sind dem Forscher in Paris oder Berlin nur dann sichtbar, wenn er die unter dem Fetisch des Fortschritts begrabenen Spuren der Geschichtlichkeit sucht. Die Wirkung, den die Moderne – und, vor allem: die Mode – auf das historische Gedächtnis der Massen hat, ist vergleichbar mit jener des Lethe in der antiken Mythologie; die Moden, wie man im Passagen-Werk nachlesen kann, „[…] sind ein Medikament, das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens, im kol-
17 Benjamin, GS VI, S. 383. 18 Vgl. Löwy, M. „La ville, lieu stratégique de l’affrontement des classes. Insurrections, barricades et haussmannisation de Paris dans le Passagenwerk de Walter Benjamin“ In: Sinay (Hrsg.), 2005, S. 19-36; hier S. 26. 19 Benjamin, W. GS IV.1, S. 309. 20 Ebenda, S. 314.
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lektiven Maßstab, kompensieren soll. Je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet.“21 Gegen den Strom des von der Mode vorangetriebenen mythischen Vergessens sucht die von Benjamin angestoßene Entzifferung die abgetötete Natur unter der facies hippocratica der Ware. Wie bei Kracauer geht es auch hier um eine Entmythologisierung der Moderne mit Hilfe der Allegorie. Dieser bedient sich Benjamin, wenn es darum geht, die Großstadt an die wilde Natur anzupassen; in der Berliner Chronik wird erzählt, wie der kleine Junge, „in den asphaltierten Straßen“ sich „den Naturgewalten preisgegeben“ fühlte, „in einem Urwald wäre ich zwischen den Baumriesen nicht verlaßner gewesen als hier auf der Kurfürstenstraße zwischen den Wassersäulen“22; des weiteren hatte schon Baudelaire gesagt, dass die Gefahren des Waldes und der Prärie gering sind im Vergleich zu den täglichen Konflikten der zivilisierten Welt.23 Wenn das PassagenWerk den Zweck hatte, die kollektive Geschichte weder „wie es gewesen war“ darzustellen, noch so, wie ihrer gedacht wird, sondern so, wie sie vergessen wurde,24 geht es darum, die vom Glanz der Mode überdeckten (und vergessenen) Erfahrungen zu befreien und zugleich ihre Verbindung zur verdrängten Vergangenheit zu enthüllen. Benjamin, wie auch Kracauer, erscheinen die Großstädte als riesige Netze von Straßen ohne Geschichte; von daher erlaubt es die Enthüllung der begrabenen Gegensätze, der Unterwelt, auf ihren vorübergehenden Charakter, auf ihre Porosität aufmerksam zu machen. Nicht zufällig greift Benjamin auf den Vergleich zwischen Paris und Neapel zurück, um die moderne Stadt anhand der Natur darzustellen: „Paris ist in der sozialen Ordnung ein Gegenbild von dem, was in der geographischen der Vesuv ist. Ein drohendes, gefährliches Massiv, ein immer tätiger Herd der Revolution. Wie aber die Abhänge des Vesuvs dank der sie deckenden Lavaschichten zu paradiesischen Fruchtgärten wurden, so blühen auf der Lava der Revo-
21 Benjamin, W. GS V.1, S. 131. 22 Ebenda, S. 468. 23 Vgl. Benjamin, W. GS I.2, S. 542. 24 Vgl. Buck-Morss, S. The Dialects of Seeing. Walter Benjamin and the Arcades Project. Cambridge-London-Massachussets: MIT Press, 1989, S. 39.
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lutionen die Kunst, das festliche Leben, die Mode wie nirgend sonst.“25 Benjamins metaphorische Sprache zeigt das vom kollektiven Bewusstsein unterdrückte und vergessene Leben wie ein Fundament, dass vom Lauf der Zeit verschüttet wurde. Die Arbeit des Historikers ähnelt somit jener des Geologen, der zu den tieferen Erdschichten hinabsteigt, oder der des Archäologen, der die Schätze der Vergangenheit ausgräbt. Im Passagen-Werk erscheint das Paris des 19. Jahrhunderts wie eine moderne Phantasmagorie, deren Wurzeln sich in einem dichten Netz aus Katakomben und unterirdischen Galerien stecken, in dem Benjamin Ähnlichkeiten zum mythischen Hades feststellt; dasselbe Bild offenbaren die Eingänge zur „Métro, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen.“26 Nicht weniger wichtig ist der Vergleich des städtischen Labyrinths mit dem Bewusstsein: ein Wirrwarr von Häusern, in denen sich, an dunklen Orten, Zugänge zu den Höllen andeuten, die ihrerseits „voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden“27, sind. In der Berliner Chronik ist zu lesen, dass, wer sich seiner eigenen verschütteten Vergangenheit annähern will, grabend vorgehen muss: Die Faktenbestände sind Schichten, die erst nach einer intensiven Ausgrabung ihre Substanz freigeben können, die so zersplittert ist wie die Ruinen und Torsi in der Galerie des Sammlers.28 Diese Gedankengänge erlauben es, die Überlegungen Benjamins zur Großstadt mit seiner Geschichtstheorie zu vergleichen; Michael Löwy hat treffend aufgezeigt, dass das in den Thesen Über den Begriff der Geschichtsphilosophie (1940) entwickelte Vorhaben darin besteht, Distanz zur Tagespolitik zu wahren, und zwar nicht um sie zu ignorieren, sondern um ihre tieferen Gründe aufzufinden;29 diese Betrachtung erlaubt es uns, den Fortschritt zu entmystifizieren, indem wir die Kontinuität in der Politik der Unterdrücker – vom Römischen bis zum Dritten Reich – sowie in den Kämpfen der Unterdrückten – vom Aufstand des Spartakus bis hin zum Spartakusbund – aufdecken; ebenso erlaubt sie jedoch auch eine noch tiefere Analyse, welche die
25 Benjamin, W. GS V.1, S. 134. 26 Ebenda, S. 135. 27 Ebenda. 28 Vgl. Benjamin, W. GS VI, S. 486. 29 Vgl. Löwy, op.cit., S. 96.
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Dialektik von mythischer Natur und Geschichte sowie den Vorschlag eines Hinabsteigens in das auch als Katabasis verstandene kollektive Unterbewusstsein neu aufgreift. In „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ (1935) hatte Benjamin geschrieben, dass in dem Traum, in dem sich jede Epoche der jeweils nachfolgenden offenbart, diese fest mit Elementen einer Vorgeschichte verflochten erscheint, beziehungsweise mit denen einer klassenlosen Gesellschaft; deren Erfahrungen, im kollektiven Unterbewusstsein abgelagert, sind aufgrund der Durchdringung durch das Neue mit der Gestaltung der Zukunft beauftragt. Benjamin beharrt darauf, dass sich der primitive Kommunismus, der tief im Unbewussten des Kollektivs ruht, mit dem von Bachofen beschriebenen Matriarchat deckt, für welches das Recht ein überirdisches Konstrukt ist, „[…] dont les assises souterraines et de profondeur inexplorée sont formées par les us et les coutumes religieuses du monde antique. La disposition, voire le style de cette construction étaient bien connus mais personne encore ne semblait s’être avisé dén étudier le sous-sols”.“30 Diese Vorgeschichte wieder in Erinnerung zu rufen, ist eine der Grundbedingungen für die Umsetzung der Utopie; nicht umsonst hebt Benjamin die Teilnahme einer Frauengruppe namens Les Vésuviennes an der Pariser Februarrevolution von 1848 besonders hervor;31 diese verweist Benjamin nicht nur auf das Bild des Vesuvs – das für ihn, wie wir gesehen haben, nicht unwichtig ist –, sondern auch auf eine Geste der Erneuerung des Mutterrechts. Die Oberfläche der modernen Stadt, durch und durch voll vom Glanz der Mode, erweist sich als Hölle; umgekehrt jedoch ist der in geschichtlicher Vergangenheit und kollektivem Unterbewusstsein versenkte Hades eine Vorausdarstellung des Paradieses. Das Graben seitens der Aufständischen und die anschließende Verwendung der Steine zum Barrikadenbau scheint das Bedürfnis nach einer Offenlegung der Unterwelt; Schwester im Geiste ist für Benjamin in dieser Kampfstrategie die Poesie Baudelaires, in der Paris auftaucht als „eine versunkene Stadt und mehr unterseeisch als unterirdisch. Die chtonischen Elemente der Stadt – ihre topographische
30 Benjamin, W. GS II.1, S. 226. 31 Vgl. Benjamin, W. GS I.2, S. 597.
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Formation, das alte verlassene Bett der Seine – haben wohl einen Abdruck bei ihm gefunden“32; des weiteren werden die Gedichte „Correspondances“ und „Vie anterieur“, die in Les Fleurs du Mal enthalten sind, von Benjamin als ein Ausdruck der auf die Urgeschichte gerichtete Nostalgie betrachtet. Wenn die Barrikaden der Gegenentwurf zu Haussmann sind, dann sind Blanqui und Baudelaire die Kehrseite der Ästhetisierung der Politik Napoleons III.; von daher sind für Benjamin Blanquis Tat und Baudelaires Traum die beiden Hände, die ineinander verschlungen sind „auf einem Stein, über dem Napoleon III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hatte.“33 Doch die Bemühung, unter dem Offensichtlichen die tieferen und umfangreicheren Gründe zu suchen, zeigt eine wenig geschätzte Besonderheit im Denken Benjamins. Wie das urbane Denken Kracauers – womöglich noch in weitaus größerem Maße – stützt sich auch Benjamins Phänomenologie der Großstadt auf eine ontologische Sicht der Dinge, der zufolge die Erscheinungen der Gegenwart – im Blochschen Sinne: das Dunkel des gelebten Augenblicks – anhand ihrer Verbindung mit den tieferen historischen Wurzeln ihren Sinn erhalten. Wir wissen, dass Hegel und Marx die „Ruhe“ des Wesens der Vielfalt und ständigen Bewegung äußerlichen Erscheinungen entgegengestellt hatten; auf ähnliche Weise nimmt Benjamin sich vor, bis zu den tiefsten feinen Verzweigungen hinabzusteigen, um dort die Grundlagen für das Utopische zu finden. Nach der Abstraktion der bürgerlichen Ratio glaubt Benjamin in dieser Unterwelt die Wurzeln des Materiellen und Konkreten zu finden.
32 Benjamin, W. GS V.1, S. 55. 33 Benjamin, W. GS I.2, S. 604.
Anmerkung zu Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und dem Paris des Zweiten Kaiserreichs: Anknüpfungspunkte1 CARLOS EDUARDO JORDÃO MACHADO
Innerhalb der Generation von Intellektuellen, zu der Kracauer und Benjamin gehören, existiert eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, die der gleichen historischen und intellektuellen Erfahrung geschuldet sind. Ich hebe an dieser Stelle nur zwei Aspekte hervor, um eine Grundgerüst der klärenden Fragen zu den Lebenswegen beider Intellektueller aufstellen zu können: einerseits der biographisch-existenzielle Charakter – die tragische Erfahrung des Exils –, andererseits der intellektuelle, verbunden mit der Geschichtskonzeption, besser gesagt: mit der Art und Weise, in welcher der eine oder andere die Geschichte Frankreichs, genauer gesagt: jene der Stadt Paris während des Zweiten Kaiserreichs, als Ursprungsform der Moderne ansieht: die Regierung Napoleons III. als erste moderne Diktatur. Dies ist der entscheidende Aspekt der anfänglichen Analyse, die beide Autoren über die Ursprünge der Moderne aufbauen – ein Punkt, der von der Sekundärliteratur über das Werk beider meist vernachlässigt wird –, bzw. die Form, in der sie die kulturelle Dynamik des Klassenkampfes der Zeit beurteilen.
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Dieser Text diente als Grundlage für meinen Beitrag auf dem Internationalen Symposium „Observaciones urbanas – Benjamin y las nuevas ciudades“, das im Mai 2006 in Buenos Aires stattfand.
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Wie Enzo Traverso2 zeigt, ließe sich die Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts von der Warte des Exils aus lesen, und zwar eines nicht nur sozialen und politischen, sondern auch intellektuellen Exils. Im Falle von Kracauer und Benjamin beginnt das Exil in ihrer Heimat Deutschland, in dessen Übergang von 19. ins 20. Jahrhundert. Beide Denker verkörpern die Gestalt, die Lukács als „transzendentale Obdachlosigkeit“3 bezeichnet: Lukács selbst machte während des Zweiten Weltkriegs die gleiche Erfahrung und lebte von 1933 bis 1944 im Exil in Moskau. Dies ist, um den Ausdruck Kracauers zu benutzen, die Erfahrung der „Exterritorialität“. Dabei geht es um intellektuelle Nomaden: Wenn ihnen dies einerseits eine kosmopolitische Sichtweise ermöglicht, die gegen alle Merkmale der Engstirnigkeit immun und allen der weltweiten Ausbreitungen des Kapitalismus eigenen Wandlungen gegenüber aufmerksam ist, so ist andererseits das gesamte Schaffen Kracauers und Benjamins ohne die Jahre der Weimarer Republik und jene in Paris, während des Exils ab 1933, undenkbar: einen Umstand, der ihnen eine ungewöhnliche Aktualität verleiht. Siegfried Kracauer wurde 1889 in Frankfurt geboren, als Sohn einer typischen jüdischen Kaufmannsfamilie der Stadt. Sein Onkel väterlicherseits, Isidor Kracauer, gewissermaßen sein intellektuelles Vorbild, war Lehrer an der Grundschule der Israelitischen Gemeinde Frankfurt und Autor einer Geschichte der Juden in Frankfurt a.M., vom Mittelalter bis zur Restauration. 1907 beginnt er sein Architekturstudium, das er 1917 mit der Monographie Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts abschließt. Zwischen 1915 und 1918 arbeitet er als Architekt. In dieser Zeit entdeckt er, durch die intensive Beschäftigung mit Literatur, Soziologie und Philosophie, seine wahre Berufung zum Schriftsteller; er befasst sich mit Kant, Nietzsche und Thomas Mann und besucht sogar Seminare von Georg Simmel in Berlin. Die Anzahl jüdischer Intellektueller in der deutschen Kultur, vor allem während der Zeit der Weimarer Republik, ist bemerkenswert;
2
Vgl. Enzo Traverso: Siegfried Kracauer. Itinéraire d’un intellectuel nomade (Paris: La découverte, 1994); La pensée dispersée (Paris: Lignes, 2004).
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Vgl. Lukács, G. Theorie des Romans. München: dtv, 1994; außerdem Machado, C.E.J. As formas da vida. São Paulo: Ed. UNESP, 2004.
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genannt seien hier Namen wie Arnold Zweig und Joseph Roth, der Regisseur Fritz Lang, der Komponist Hans Eisler, der Fotograph John Hartfield, der Kritiker Kurt Tucholsky, der Dramaturg Ernst Toller, Intellektuelle wie Norbert Elias, Max Horkheimer und Theodor Adorno, Franz Rosenzweig, Ernst Bloch, Gershom Scholem und Walter Benjamin und viele andere wie Hannah Arendt und Günther Anders; sie alle werden, bis zu deren Untergang in den Jahren 1930 bis 1933, mit der Republik identifiziert, die nach der Niederschlagung der Räterevolution geboren worden war. In der Epoche der Entstehung der modernen deutschen Architektur um Walter Gropius und der Gründung des Bauhauses ist Kracauers Geschmack, beeinflusst von der wilhelminischen und der französischen Architektur des 19. Jahrhunderts, traditionalistisch geblieben. Eigentlich hasste Kracauer seinen Beruf. Doch schenkte dieser ihm eine überdurchschnittliche Sensibilität für den Bereich der räumlichen Wahrnehmung und für die urbane Landschaft, die er als Metapher sieht, als Hieroglyphe, durch die es möglich ist, die Vergangenheit und Gegenwart einer Gesellschaft zu entschlüsseln. Über diese Anfangsphase seines intellektuellen Lebensweges, bzw. seiner Berufsbestimmung, finden sich aufschlussreiche Details in seinem autobiographischen Roman Ginster, der 1928 anonym veröffentlich wurde. Kracauer war, wie man sagte, „ein intellektueller Schwejk“. Gegen Ende des Jahres 1918 lernt Kracauer Theodor W. Adorno kennen, Sohn eines reichen Weinhändlers und Freund der Familie. Adorno ist damals fünfzehn Jahre alt, Kracauer neunundzwanzig. Der Altersunterschied verhindert jedoch nicht, dass sich zwischen den beiden eine lange, spannungsreiche Freundschaft entwickelt, die bis zum Tod des Autors von Ginster im Jahre 1966 andauert. Adorno erwähnt diesen Anfang einer Freundschaft in einem dem Freund gewidmeten Essay (Der wunderliche Realist), in dem er vor allem hervorhebt, dass er gemeinsam mit diesem die Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft sowie des Werkes Georg Simmels begonnen hat. In dieser Zeit schreibt Kracauer den Essay Über die Freundschaft, die zum großen Teil unter dem Eindruck der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller steht. Zum Ende des Ersten Weltkriegs entschließt sich Kracauer, seine Karriere als Architekt abzubrechen und Schriftsteller zu werden, beginnend mit seiner Mitarbeit bei der Frankfurter Zeitung, bis hin zum Posten als einer der Hauptredakteure, den er bis 1933 innehält. Es
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herrscht eine Zeit großer Umwälzungen im Denken. Wie andere Intellektuelle seiner Generation lebt Kracauer seine, um mit Michael Löwy zu sprechen, „politische Wende“ aus, wobei er die Radikalität der an einem „romantischen Antikapitalismus“ orientieren Weltanschauung teilt. Unter dem Einfluss der Russischen Revolution liest er begeistert Dostojewskij und engagiert sich zwischen 1921 und 1924 am Freien Jüdischen Lehrhaus, wo er in Kontakt mit Martin Buber, Franz Rosenzweig und dem Rabbiner Anton Nobel kommt, mit denen er sich schnell überwirft. Mit derselben Entrüstung gegenüber der Versöhnung des religiösen und des säkularen Standpunktes reagiert er in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung kritisch auf Ernst Blochs Thomas Münzer. Der endgültige Bruch mit Buber und Rosenzweig ereignet sich 1926, aus Anlass einer von den beiden geleisteten neuen Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Der Artikel, der in der Frankfurter Zeitung erschien, ist bissig. Der Bruch mit der religiös-jüdischen Sichtweise ist entscheidend, um den Prozess der politischen Radikalisierung Kracauers nachzuvollziehen. Seine Lektüren, nicht nur der Werke Max Webers und Karl Marx‘, sondern vor allem Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein, entsprechen dieser Phase. Kracauer entwickelt in jener Zeit eine romantische Kritik der entzauberten Welt, die sich in der industriellen Revolution manifestiert; seine Lektüre der Theorie des Romans von Lukács ist hier grundlegend. Zwischen 1922 und 1925 schreibt er, zu großem Teil beeinflusst von diesem Buch des jungen Lukács, einen philosophischen Traktat mit dem Thema Der Detektiv-Roman, eine Pionierleistung über das Genre. Der Grundgedanke seiner Kritik richtet sich gegen die Massenkultur und die Unterhaltungsindustrie. Zwischen 1921 und 1933 schreibt Kracauer eine außerordentliche Anzahl von Essays und Artikeln für die Frankfurter Zeitung. Um eine Idee davon geben zu können, muss man anführen, dass sich in der Werksausgabe Kracauers der letzten Jahre drei Bände mit Essays, einer Gesamtzahl von 241 Artikeln (Schriften 5 1-3) (4), und weitere drei Bände mit insgesamt 807 Artikeln über Filmkritik (Schriften 6 1-3) finden. Der Reichtum dieser Schriften ist beträchtlich. 1930 stellt Kracauer eine Reihe von Artikeln, die ursprünglich in der Frankfurter Zeitung erschienen waren, unter dem Titel Die Angestellten zusam-
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Der Band 5 seiner Werke wird im 4 Teilen noch in diesem Jahr veröffentlicht werden, fast 800 Artikel, Rezensionen, und Aufsätze.
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men. Das Büchlein erhält gute Kritiken von Ernst Bloch und Walter Benjamin. Anhand von Zitaten, Gesprächen und Beobachtungen in Lokalen und verschiedenen Orten in Deutschland – einer bewundernswert konkreten Analyse einer konkreten Situation – zeigt Kracauer, wie sich im Verlauf der 1920er Jahre eine neue Art von Lohnarbeitern herauskristallisiert, die der Angestellten. Zugleich unterstreicht er, dass sich in dieser Zeit die Zahl der Angestellten verfünffacht hat, jene der Angehörigen der Arbeiterklasse aber lediglich verdoppelt. Eine neue Quantität, die zu keiner neuen Qualität im Hinblick auf ein neues „Klassenbewusstsein“ (Lukács) geführt hat; im Gegenteil brachte es sogar Elemente von „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) und „Regression“ (Adorno) hervor. Eine Haltung, die gekennzeichnet ist von der Flucht in die Bilder der Propaganda und Zerstreuung, „die Flucht vor der Revolution und dem Tod“5. Das Buch nimmt um zwanzig Jahre Wright Mills’ berühmtes Werk White Collar vorweg. Mit dem Aufstieg Hitlers sieht sich Kracauer gezwungen zu emigrieren, zunächst nach Frankreich (1933 bis 1941) und später in die Vereinigten Staaten, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1966 bleibt. Man kann sagen, dass die wichtigsten theoretischen Werke seiner Exilzeit Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit6, geschrieben 1937 in Frankreich, sowie die systematischen, in den USA entstandenen Werke sind, etwa Von Caligari zu Hitler (1947), Theorie des Films (1961) und Geschichte – vor den letzten Dingen (posthum). Trotzdem war es zur Zeit der Weimarer Republik, in den Seiten der Frankfurter Zeitung, in denen wir seine größte Vitalität als scharfsinniger Kritiker nachfühlen können, der aufmerksam die Entwicklung des Kinos ebenso wie die der großen Städte, namentlich Berlin und
5
Kracauer, S. Die Angestellten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. S. 99.
6
Im Rahmen der neuen Ausgabe der Schriften Kracauers wurde im vergangenen Jahr unter der Leitung von Ingrid Belke Band 8 veröffentlicht: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Diese neue Ausgabe enthält Anhänge wie das für MGM geschriebene Filmdrehbuch Jacques Offenbach. Motion picture treatment (1938), ein Plan, der schnell wieder verworfen wurde; ein Glossar Jacques Offenbach. Lexikonartikel für die Universal Jewish Encyclopedia und das Vorwort für die französische Ausgabe von Daniel Halévy; außerdem zahlreiche erklärende Anmerkungen und ein sehr informatives Nachwort der Redakteurin.
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Paris7, verfolgte und der seine kritische Originalität offenbart, indem er die Geschichte als eine Mikrologie – das Ganze im Detail – auffasst und eine Analyse der Oberflächenphänomene entfaltet, der Fragmente, der unmittelbar zerstreuten Elemente. 1963 stellte Kracauer eine Auswahl dieser Artikel unter dem Titel Das Ornament der Masse zusammen; hier veröffentlichte der Kritiker Essays wie „Film und Gesellschaft“ („Die Kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“), „Kalikowelt“ oder seine Beschreibung des von Hans Pölzig entworfenen Berliner Filmpalastes, „Kult der Zerstreuung“, neu. Im Jahr darauf fasste Kracauer eine Gruppe von Artikeln, die zwischen 1925 und 1933 ursprünglich in der Frankfurter Zeitung erschienen waren, unter dem Titel Straßen in Berlin und anderswo zusammen; dabei handelte es sich um einen alten Plan, auf den er sich in seiner Korrespondenz als Straßenbuch bezieht und der 1933 fallen gelassen worden war. Kracauer und seine Frau verlassen Deutschland am 27. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, und fahren nach Paris. Ursprünglich hatte Kracauer in der französischen Hauptstadt eine Funktion als Korrespondent für die Frankfurter Zeitung ausüben sollen; dies erwies sich jedoch, angesichts der Verschlechterung der politischen Situation sowie der Verfolgung von Juden und linken Intellektuellen, bald als Illusion. Sein Gehalt wird drastisch reduziert, bis er im August desselben Jahres schließlich entlassen wird. Seine Situation wird dramatisch und ändert sich erst wieder, nachdem er Ende April 1941 in die USA übersiedelt. 1934 beginnt er seinen zweiten Roman, Georg, der erst posthum 1973 veröffentlicht wird. Während seines über acht Jahre dauernden Aufenthalt in Frankreich führt Kracauer ein sehr zurückgezogenes Leben: Er beteiligt sich nicht an öffentlichen Veranstaltungen, unterzeichnet keine Manifeste und nimmt nicht mehr an antifaschistischen politischen Versammlungen teil. Ernst Bloch erzählt ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview mit K. Witte von der Schwierigkeit, in jener Zeit persönlichen Kontakt mit Kracauer aufrechtzuerhalten.8 Er fürchtete damals um seine Mutter und seine Tante,
7
Vgl. Espagne, M. „Siegfried Kracauer et Paris“ In: Parés, 14. Paris: PUF, 1991; außerdem Krebs, C. Siegfried Kracauer et la France. Saint Denis: Éditions Suger, 1998.
8
Bloch, E. „Der eigentümliche Glücksfall. Über Jacques Offenbach von Siegfried Kracauer.“ In: Arnold, H.L. (Hrsg.) Text + Kritik 68. München: Text + Kritik, 1980. S. 73-75.
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die in Deutschland geblieben waren und 1942 schließlich von den Nationalsozialisten deportiert und in das Vernichtungslager Theresienstadt geschickt worden waren. Der verzweifelte, in Südfrankreich unternommene Fluchtversuch Kracauers und Benjamins endet tragisch und mündet im September 1940 in Port Bou schließlich in den Selbstmord Benjamins. Durch puren Zufall befinden sich Kracauer und seine Frau in einer anderen Gruppe und kehren in die nächstgelegene Stadt, nach Perpignan, zurück. Kracauer gibt, als er sich 1947 die Ereignisse ins Gedächtnis zurückruft, sogar zu, dass seine Frau Lily und er durchaus auf dieselbe Weise hätten gehandelt haben können. Gegen Ende des Jahres 1934 beginnt Kracauer mit der Niederschrift einer Biographie des Paris des Zweiten Kaiserreichs, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, in der Hoffnung auf einen internationalen Erfolg. Das Buch wird 1937 in Amsterdam veröffentlicht und schnell ins Französische und Englische übersetzt. Es findet keinerlei Widerhall und wird auch von den engsten Freunden wie Adorno und Benjamin schlecht aufgenommen. Noch im Jahre 1936 verfasst er für die Zeitschrift des Institutes für Sozialforschung ein Exposé für Masse und Propaganda, das jedoch aufgrund der politischen Radikalität seiner Argumente abgelehnt wird. Die Korrespondenz Kracauers mit Löwenthal, Bloch, Benjamin, Adorno, D. Halévy und anderen ist für die Erklärung dieser schwierigen Jahre von Kracauers Leben und intellektuellem Werdegang von großem Wert. Kracauers Stadtbetrachtungen, die größtenteils seinem Pariser Exil vorausgehen, sind meiner Ansicht nach von entscheidender Wichtigkeit zum Verständnis seines Anliegens, eine „Gesellschaftsbiographie“ des Paris des Zweiten Kaiserreichs zu verfassen. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine Biographie Offenbachs und seines musikalischen Schaffens; genau aus diesem Grund erweist es sich ihm nicht als unabdingbar, eine Analyse der musikalischen Substanz von Offenbachs Operetten durchzuführen. Dieser Punkt sorgte und sorgt für Missverständnisse bezüglich dieser bedeutenden Arbeit.9 Es geht vielmehr darum, das zu analysieren, was der Autor unter dem Konzept der „Gesellschaftsbiographie“ versteht. So drückt sich Kracauer im
9
Grimstad, K. „Jacques Offenbach. Reflex und Reflexion bei Karl Kraus und Siegfried Kracauer.“ In: Kessler, M./Levin, Th. Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen: Staufenburg, 1990.
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Vorwort aus: Sein Buch unterscheide sich von der althergebrachten Form der Biographie eines Autors, die normalerweise sein Privatleben in den Mittelpunkt stellt: „Frankreich, genauer: Paris. Als Schauplatz einer Folge von sozialen, politischen und künstlerischen Ereignissen ersten Ranges ist das Paris des neunzehnten Jahrhunderts tatsächlich die einzige Stadt, deren Geschichte europäische Geschichte ist. Dieses Buch ist auch als eine Stadtbiographie aufzufassen. Es stellt den Versuch einer Lebensbeschreibung von Paris dar, die mit der Zeit Louis Philippes beginnt und sich bis zu den Anfängen der Dritten Republik erstreckt; wobei die Periode Napoleons III. besonders scharf auskonstruiert wird. Angesichts des Geschehens unserer Tage wird niemand verkennen, dass gerade die Phantasmagorie des Zweiten Kaiserreichs Aktualität besitzt.“10 In diesem Teil der Einleitung bezieht sich Kracauer auf die „Phantasmagorie des Zweiten Kaiserreichs“ im gleichen Sinne wie Benjamin in seinem Exposé Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts: „Die Phantasmagorie der kapitalistischen Kultur erreicht auf der Weltausstellung von 1867 ihre strahlendste Entfaltung. Das Kaiserreich steht auf der Höhe seiner Macht. Paris bestätigt sich als Kapitale des Luxus und der Moden. Offenbach schreibt dem Pariser Leben den Rhythmus vor. Die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals.”11 Das Konzept der „Phantasmagorie“ ist zum Verständnis der Gesamtheit des im Passagenwerk Dargestellten entscheidend. Es handelt sich dabei um eine archetypische Auslegung des Konzepts des „Warenfetischismus“ (Marx) sowie des weiteren des Konzeptes der „Verdinglichung“ in Geschichte und Klassenbewusstsein von Lukács.12
10 Kracauer, S. Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Schriften 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S.11-12 11 Benjamin, W. Das Passagenwerk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 5152. 12 Zum Verhältnis Benjamins zur Theorie des Fetischismus der Ware bei Marx und in der lukácsschen Variante, siehe die Einleitung von Rolf Tiedemann zum Passagen-Werk, ed. cit, S. 25.
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Obwohl Kracauer Konzepte wie das des “dialektischen Bilds“ und des „Urphänomens“ nicht direkt anwandte, ist die Art, in der er die Vergangenheit, „die Phantasmagorie des Zweiten Kaiserreichs“ mit den Ereignissen der Gegenwart dialektisch verknüpft, der Form nahe, in der Benjamin dies tut: „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So wie ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten.“13 Die Vergangenheit hört auf, als etwas Feststehendes im Sinne des Historizismus, als das “Von-jeher-Gewesene” verstanden zu werden, tut dies jedoch nicht als „Urphänomen“: „Das dialektische Bild ist diejenige Form des historischen Gegenstands, die Goethes Anforderungen an den Gegenstand einer Analyse genügt: eine echte Synthesis aufzuweisen,. Es ist das Urphänomen der Geschichte.”14 Oder, wie wir in einem anderen Abschnitt in diesem Werk Benjamins lesen können: „Für den materialistischen Historiker ist jede Epoche, mit der er sich beschäftigt, nur Vorgeschichte derer, um die es ihm selber geht. Und eben darum gibt es für ihn in der Geschichte den Schein der Wiederholung nicht, weil eben die ihm am meisten angelegenen Momente des Geschichtsverlaufs durch ihren Index als ‚Vorgeschichte‘ Momente dieser Gegenwart selber werden [...].“15 Wie für Benjamin ist auch für Kracauer das „Von-jeherGewesene“ der Geschichte aufs Engste mit dem „Gedächtnisbild“ verknüpft, das so wie für den Erzähler in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit – dem Erwachen folgt: „Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene aufsetzen. So ist bei Proust wichtig der Einsatz des ganzen Lebens an der im höchsten Grade dialektischen Bruchstelle des Lebens, dem Erwachen. Proust beginnt mit einer Darstellung des Raums des Erwachenden.“16 Kracauer entwickelt bereits in seinem Essay über die „Photographie“ von 1927 eine bahnbrechende Kritik des Historizismus: „Die Photographie bietet ein Raumkontinuum dar; der Historismus möchte das Zeitkontinuum erfüllen. [...] Dem Historismus geht es um die Pho-
13 Benjamin, W. Das Passagenwerk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. N 9,7. 14 Ebenda, N 9a,4. 15 Ebenda, N 9ª, 8. 16 Ebenda, N 3ª, 3.
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tographie der Zeit. Seiner Zeitphotographie entspräche ein Riesenfilm, der die in ihr verbundenen Vorgänge allseitig abbildete.“17 Die Kritik des Historizismus – d.h. die positivistische Wunschvorstellung vom Versuch einer lückenlosen Rekonstruktion der historischen Realität, des „Von-jeher-Gewesenen“ – ist ein Schlüsselelement nicht nur des Passagenwerks, sondern auch der Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) Benjamins sowie ebenfalls des letzten, posthum erschienenen Werkes von Kracauer, History - The Last Things before the Last, und nicht zu vergessen seiner Theory of the Film von 1960. Das Passagen-Werk von Benjamin beschließt in sich eine Komplexität von Konzept und Darlegung – da es schließlich nicht mehr von Benjamin selbst gegliedert wurde –, die über das hinausgeht, was Kracauer mit der „Gesellschaftsbiographie“ im Sinn hatte, oder besser noch: die in anderem Gewand daherkommt. Die Passagen18, diese Konstruktionen aus Eisen und Glas, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in großstädtischen Räumen wucherten, sind bei Kracauer eine Bühne, wie der Raum der Boulevards, „Die Heimat der Heimatlosen“, die Panoramen, die Universalausstellungen, die Bohème mit ihren Kurtisanen, ihren Geliebten und Journalisten, die Langeweile; kurz gesagt, jene Welt, aus der sich die Operetten zusammensetzen. Er selbst erkennt seine intellektuelle Schuld gegenüber Benjamin im Essay „Ab-
17 Kracauer, S. Das Ornament der Masse. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 24. 18 Der Text Walter Benjamins, auf den in diesem Buch in erster Linie Bezug genommen wird, ist Das Passagen-Werk. Der Begriff passage wurde von Benjamin aus dem Französischen übernommen, was im von ihm beschriebenen Kontext (hauptsächlich Paris) durchaus angebracht sein mag. Das Spanische, ebenfalls romanischen Ursprungs, hat mit pasaje einen ähnlich klingenden Begriff mit derselben Etymologie (wenngleich auch nicht immer gleicher Bedeutung – so kann das Wort in einigen spanischsprachigen Ländern z.B. auch „Fahrkarte“ bedeuten). Ins Deutsche wäre dieser in manchen Fällen als „Passage“, in anderen Zusammenhängen aber womöglich auch als „Gasse“ oder „Gässchen“ zu übersetzen. Um dem Geist Benjamins, auf den sich alle hier vorliegenden Aufsätze mehr oder weniger berufen, zu entsprechen, wurde jedoch auf diese Differenzierung weitestgehend verzichtet und, wann immer möglich, mit der Übersetzungsvariante „Passage“ gearbeitet. (Anm. d. Übers.)
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schied von der Lindenpassage“ über Berlin an. Auch haben beide Denker die Konzeption der Arbeit des Kulturhistorikers als detektivische Aufgabe gemeinsam. In diesem Sinne haben sich sowohl Kracauer als auch Bloch das Vorhaben Benjamins zum Vorbild genommen. Benjamin selbst bezieht sich darauf direkt: „Formulierung von Ernst Bloch zur Passagenarbeit: ‚Die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland-Yard‘“19 Ein Großteil der linken Intellektuellen jener Zeit, beispielsweise Benjamin, Kracauer, Bloch und auch Lukács, sieht die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich, als Urform der Moderne, der Massengesellschaft und, vor allem, des Nazifaschismus, und aktualisiert damit Marx’ Diagnose aus Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: das Zweite Kaiserreich als Farce. Dies ist der Standpunkt Kracauers. Dieser nimmt die Biographie des „Spottvogels“ Offenbach, um die Biographie einer Gesellschaft zu verfassen: der ersten Form der modernen Diktatur. Er respektiert die Besonderheit seines Objektes und zählt unglaubliche Anekdoten über das Subjekt seiner Biographie auf, das, laut Nadar, „eine Kreuzung aus Hahn und Heuschrecke“20 war. Für Kracauer ist der Werdegang Offenbachs ein Spiegelbild der Geschichte des Zweiten Kaiserreichs und verschwindet mit dessen Ende, dem Deutsch-Französischen Krieg und der Entstehung der Pariser Kommune. Am Vorabend der Weltausstellung im Juli 1855 wird die die Einweihung des Théâtre des Bouffes Parisiens mit der Operette Ba-ta-clan zu einem Erfolg; darauf folgt eine fieberhafte Produktion von Orphée aux enfers (1858), das nach seiner Uraufführung ganz Paris erobert, über La Belle Hélène (1864) und La Vie parisienne (1866) bis hin zu La Périchole (1869). Die Weltausstellung von 1867 war ebenso der Zenit Offenbachs wie auch des Kaiserreichs, wie Benjamin in seinem Exposé von 1935 erklärt: „Die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals”.21 Die Operetten Offenbachs erlauben es spiegelbildlich, aufgrund ihrer Unwirklichkeit, die Wirklichkeit jener Zeit zu zeigen. Hier ist die Vision Kracauers jener des Wiener Autors Karl Kraus ähnlich, der in den Zwanziger und Dreißiger Jahren eine Offenbach-Renaissance her-
19 Ebenda, N 3,4. 20 Kracauer, S. op.cit., S. 99. 21 GS V.1, S. 52.
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vorruft. In dieser Zeit lässt sich auch eine Wandlung der Rolle der Presse beobachten, die anfängt, immer mehr von Werbung und Anzeigen abhängig zu werden; der Kultur, seit der Entstehung der Unterhaltungskunst und den neuen Reproduktionstechniken; der Fotographie, die für den Wandel der Form der Malerei verantwortlich ist; ein Wandel der Rolle des Künstlers, der nun als Ausgestoßener der Gesellschaft angesehen wird; eine Krise der Erzählkunst (Flaubert); ein Wandel der Architektur mit ihren Eisenkonstruktionen und dem Auftauchen des Stahlbetons und des Architekten selbst, der vom Ingenieur, in Gestalt von Haussmann – der für die radikale Änderung des Stadtbildes verantwortlich ist –, in den Schatten gestellt wird; ganz zu schweigen von der Politik als Spektakel, als Farce – der Neffe, Louis Napoléon, der den Onkel imitiert (Marx) –; die Rolle der Propaganda, die Zeit der Herausbildung des Plakats; vor allem aber der Wirtschaft, mitsamt des globalen Wachstums des Kapitalismus und des Beginns der Massenproduktion von Konsumgütern, die den Schauplatz der Passagen zu dominieren beginnt. Kracauers Buch über Offenbach muss deshalb als ein Übergangswerk interpretiert werden; es enthält seine frühen Analysen über die Massenkultur, das Ornament und die Fotographie, die Propaganda, die Zerstreuung und die Langeweile, über verschiedene Geschäfte, Straßen, mit Blick auf die dort vorhandenen Personen und Objekte, die „den dialektischen Blick“ über die wichtigste Metropole des 19. Jahrhunderts, Paris, gestalten. Außerdem enthält es seine späteren systematischen Arbeiten über Propaganda, Kino und Kunst, die nach 1941 in den USA entstanden sind. Sein späteres intellektuelles Schaffen deutet sich während seines Pariser Exils bereits an. Dieser Übergangscharakter erscheint mir wesentlich, da sonst jenes Verständnis verloren ginge, das in der Lage ist, dasjenige adäquat zu beurteilen, was Kracauer wie erwähnt als eine „Gesellschaftsbiographie“ bezeichnete, sowie seine eigenwillige Interpretation des Nazifaschismus, der Rolle der Propaganda, der Wochenschauen im Kino und der Haltung der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, vor allem der Angestellten, gegenüber diesen „neuen“ Machtapparaten. Das ist die Phantasmagorie des 19. Jahrhunderts, des Zweiten Kaiserreiches, Napoleons III., die erneut in Europa umgeht, und nicht nur dort und nicht nur zu jener Zeit. Die thematische Nähe zu den Reflexionen Benjamins über die Passagen springt nicht nur aufgrund des behandelten Zeitabschnittes, des Zweiten Kaiserreichs, ins Auge, sondern auch wegen des theore-
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tisch-methodologischen Zuschnitts, der dazu einlädt, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als Urform der Massengesellschaft zu interpretieren. Diese Nähe muss in detaillierter Form analysiert werden, die in Kracauers Buch nicht nur einen bloßen Schatten oder ein „Plagiat“ von Benjamins Buch über die Passagen sieht, wie dieser in seinem Brief an Gershom Scholem vom 9. August 1935 schreibt,22 wenngleich es wirklich einige identische Zitatstellen im Offenbach und in den Anmerkungen des Passagen-Werks (D 3a,4) gibt: über Theaterstücke, Lokale, Autoren, bis hin zu Zeitungsausschnitten der Zeit. In einem der entscheidenden Kapitel seines Buches Langeweile nimmt Kracauer einen ganzen Gedankengang wieder auf, der schon im meisterlichen, gleichnamigen Essay von 1926 behandelt wurde, und zeigt nun auch das Geburtsdatum dieses Phänomens: 1948. Der Fall des Humoristen Dubereau, den beide anführen, dient als Beispiel: „Damals kam ein schwarzgekleideter Mann zu einem bekannten Arzt und klagte ihm, dass er an einer tödlichen Krankheit leide. Worin seine Krankheit bestehe? Im Spleen, im Abscheu vor sich selbst und den anderen und einer tiefen Traurigkeit. Der Arzt riet dem Patienten, sich im Theater der ‚Funambules‘ den berühmten Komiker Debureau anzusehen, durch dessen Pierrotapässe er zweifellos schnell kuriert werde. ‚Ich bin Debureau‘, sagte der Mann, der allabendlich die Lachlust der Menge erweckte.”23 Benjamin bedient sich in seinem Passagen-Werk mehrfach Kracauers Buch über Offenbach. Zunächst im Abschnitt namens Die Langeweile, ewige Wiederkehr (D3a, 4), in dem er die oben erwähnte Episode zitiert, ohne Kracauers Buch zu erwähnen. Es wäre müßig zu fragen, wer von beiden als erster von dieser Anekdote über den französischen Dichter Alphonse de Lamartine erfuhr. Jedenfalls gibt Benjamin den genauen Zeitpunkt, die Vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, des Phänomens der Langeweile an, das sich seitdem ohne Einschränkung der Welt offenbart. Da es um Literatur geht, zitiert Kracauer nicht zufällig auf derselben Seite die folgende Episode der Erziehung des Herzens von Flaubert, in der die Hauptfigur, Frédéric Moreau, ein Mensch vom
22 Vgl. dazu Machado, C.E.F. Debate sobre o expressionismo. São Paulo: Ed. UNESP, 1998. 23 Kracauer, S. op.cit. S. 99.
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Typ Flaneur, der ziellos kreuz und quer durch die Stadt streift, um die Schaufenster, Lithographien und die eleganten toilettes zu beschauen und, in den Cafés eine Dominopartie nach der anderen zu spielen sowie permanent Zigarren zu rauchen. In einer Sommernacht, in der er nichts zu tun hat, geschieht Folgendes: „Er blieb am Theater der Porte-Saint-Martin stehen [...] um den Theaterzettel zu betrachten; und da er nichts zu tun hatte, kaufte er sich ein Billet. Man spielte eine alte Feerie, Zuschauer waren kaum vorhanden [...] Die Bühne stellte einen Sklavenmarkt in Peking dar, mit Glockenspielen, Blechpauken, Sultaninnen, Zipfelmützen und Kalauern. Später, als der Vorhang fiel, irrte er einsam durchs Foyer und bewunderte auf dem Boulevard einen großen grünen Landauer am Fuß der Freitreppe, der mit zwei Schimmeln bespannt war, die von einem Kutscher in kurzen Knielosen am Zügel gehalten wurden.“24 Kracauer führt, den Flaneur, in diesem Fall Frédéric, mit dem Haschischraucher vergleichend, aus: “Die Bilder der Stadt umgaukelten ihn wie Träume. Auch den Boulevardiers wurde das Laster des Umherschweifens, das solche Träume erzeugte, zur süßen Gewohnheit.“25 Wir finden hier, neben der Problematik der Langeweile, ein weiteres Motiv aus dem Passagen-Werk, den Flaneur, der den Anmerkungen zufolge eine Schlüsselrolle einnimmt. Benjamin erwähnt vielfach das Buch Kracauers über Offenbach, im Kapitel über die Langeweile jedoch kaum, sondern vielmehr in weiteren Abschnitten, wie jenem über die „Hausmannisierung, Barrikadenkämpfe“, im bereits erwähnten “Der flâneur”, “Prostitution, Spiel”, “Panorama”, “Saint-Simon, Eisenbahnen”, “Soziale Bewegung”, “Daumier”, “Literaturgeschichte, Hugo” etc. Jenseits der gemeinsamen Quellen ragen hierbei drei Autoren heraus, die von entscheidender Wichtigkeit für die Entstehung beider Werke sind: wie erwähnt die Schriften Marx’ über die französische Geschichte jener Zeit; Simmels Essays über die Mode, die Philosophie des Geldes, und ganz besonders das Buch Siegfried Giedions von 1928: Bauen in Frankreich. Ein programmatisches Buch, das für die
24 Kracauer, S. Jaques Offenbach und......, S. 99-100. 25 Ebenda, S. 100.
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Verbreitung und Analyse der neuen französischen Architektur im deutschen Sprachraum hauptverantwortlich war. Es zeichnet ein Panorama der französischen Architektur im Verlauf des 19. Jahrhunderts, von den ersten Eisen-und-Beton-Konstruktionen bis zur Architektur von Le Corbusier und seinen Schülern. Es analysiert die Passagenkonstruktionen und Galerien, die Weltausstellungen, Hausmann, A.G. Perret, Tony Garnier und vieles mehr. Das Buch war bahnbrechend und sorgte nicht nur unter den modernen deutschen Architekten, die sich dem Bauhaus verbunden fühlten, für Aufruhr, sondern auch bei Intellektuellen wie Benjamin, Kracauer und Bloch. Wir können ohne Übertreibung sagen, dass die Veröffentlichung von Walter Benjamins Passagen-Werk im Jahre 1983 für die Neuausgabe von Giedions Buch im Jahr 2000 keine unwichtige Rolle spielte. Zuguterletzt, ohne auf den gesamten Fragenkomplex eingehen zu können, der eine immanente Analyse beider Werke und ihrer Zeit mit sich brächte – das wäre Stoff genug für ein ganzes Buch –, hebe ich kurz die Tatsache hervor, dass in der Art, die oberflächlichen, scheinbar banalen Elemente wie Mode, Plakate, die Operette selbst etc. zu berücksichtigen, in anderen Worten: in der Art, wie die zwei Autoren Kultur und materielles Leben zueinander stellen, beide das vorwegnehmen, was mittlerweile als cultural studies bezeichnet wird.26 Übereinstimmend mit den Worten Benjamins: „Marx stellt den Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur dar. Hier kommt es auf den Ausdruckszusammenhang an. Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen. Es handelt
26 Zu cultural studies siehe: Cevasco, M.E. Dez lições sobre estudos culturais. São Paulo: Boitempo Editorial, 2003. In diesen Vorlesungen zeigt Maria Elisa mit Schärfe und Originalität, wie Antonio Candido bereits in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Brasilien das realisierte, was später cultural studies genannt werden würde, d.h. bevor es zu einer Mode wurde. In seiner Habilitation von 1950, die erst 1987 von Gilda de Mello e Souza als Buch unter dem Titel O espírito das roupas. A moda no século dezenove veröffentlicht wurde, nimmt unter vielerlei Gesichtspunkten (und sicherlich ohne Kenntnis der Arbeiten Benjamins und Kracauers, aber beeinflusst vom Soziologen Georg Simmel) die Analysen des Passagenwerks wie auch des Buches über Offenbach vorweg.
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sich, mit andern Worten, um den Versuch, einen wirtschaftlichen Prozeß als anschauliches Urphänomen zu erfassen, aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insoweit des 19ten Jahrhunderts) hervorgehen.“27 Abgesehen davon, dass sie enge Freunde waren, haben beide eine nicht nur thematisch ähnliche Herangehensweise entwickelt; auch erarbeiten sie eine Form des Erfassens von Geschichte vom Standpunkt einer Mikrologie, einer Analyse der Oberflächenphänomene, der Fragmente, der Abfälle der Geschichte. Das rückt beide auch in die Nähe der damaligen Arbeiten Ernst Blochs. So wie Kracauer ein Traktat über den Detektivroman schrieb (1924) – mit einem anschaulichen Kapitel über die Hotelhalle –, so schreibt Bloch seinerseits in derselben Zeit einen Essay über die Philosophische Ansicht des Detektivromans, ganz zu schweigen von dem, was beide über die „Stadtbilder“ zu Papier brachten. Zuguterletzt ist es, wie Roberto Schwarz, „ein Kritiker in der Peripherie des Kapitalismus“, in einem anderen Zusammenhang beobachtete, nicht überraschend, zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen, wenn man zuvor dieselben Voraussetzungen zugrunde gelegt hat; diese Ideen lagen in der Luft. Zwischen Benjamins Passagen-Werk, Kracauers Buch über Offenbach und Blochs Erbschaft dieser Zeit gibt es sicher feste Verbindungspunkte, politische Wahlverwandtschaften in der Kritik der damaligen Gegenwart.
27 Benjamin, W. Das Passagen Werk... N1a, 6. S. 573f.
Im Dickicht der Städte: Benjaminsche Topographien
Schrift und Artefakt der Stadt CLAUDIA KOZAK
1830 wurde in New York ein junges Mädchen namens Martha Clements gemeinsam mit ihren Eltern und einer Freundin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt, da sie – der Aussage einer empörten Nachbarin zufolge – die Angewohnheit hatte, große Buchstaben aus den Plakaten und Handzetteln der Straße auszuschneiden, um aus ihnen „vulgäre und anstößige“ Wörter zusammenzusetzen, die sie, als ein neues Plakat, an den Zaun ihres Hauses klebte. Diese Episode, erzählt von David Henkin in seinem Buch City Reading,1 erlaubt es nicht nur zu betrachten, auf welche Weise der Kampf zwischen Privatem und Öffentlichem in einer Großstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts zutage trat, und nicht nur den Verbreitungsgrad des gedruckten Wortes als Akteur des öffentlichen Raumes – eine anhand der Anzahl von Publikationen gut dokumentiertes Faktum – zu bemessen, sondern auch die Art und Weise, in welcher die textliche Verzerrung und die neue Bedeutungszuweisung des urbanen Wortes an und für sich als „anstößig“ angesehen werden konnten, auch jenseits der „Vulgarität“ der neuen, öffentlich lesbaren Wörter. Und das vor allem deshalb, weil der Akt des Schneidens und neu Zusammenklebens dieser öffentlichen
1
Henkin, David. City Reading. Written Word and Public Spaces in Antebellum New York. New York: Columbia U.P., 1998. S.78. Henkin seinerseits bezieht sich auf das Buch von Christine Stansell. City of Women: Sex and Class in New York, 1789-1860. Urbana: University of Illinois Press, 1986. Die Autorin gibt als Quelle an: People vs. Moses Clement et al. Court of General Sessions, 13. September 1830.
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Wörter nichts anderes tat, als die Wahrnehmung der textlichen Promiskuität, die viele Bewohner jener Zeit im Hinblick auf den städtischen Raum verspürten, an eine Grenze zu führen und so sichtbarer zu machen. Es handelte sich um die Wahrnehmung einer in leicht spöttischem Ton in den Zeitungschroniken oder in Lithographien auftauchenden Promiskuität, welche in abgewandelter Form Werbeanzeigen wiedergaben, die die Straßenplakate überlagerten und so, durch die Nebeneinanderstellung, auf ganz simple Weise unwahrscheinliche Bedeutungen erzeugte.2 Die Collagen von Martha Clement hatten dagegen ein unglücklicheres Schicksal als ihre gelegentlichen, journalistischen Pendants, die sich in ihrer Freizügigkeit auch von den willkommenen sozialen Funktionen abkoppelten; nicht so wie die Stadtchroniken, dieses redselige Genre, das stark dem ähnelt, was wir heute „Farbtupfer“ zu nennen pflegen. Von alledem ist meine Schlussfolgerung, mein Versuch, das Handeln eines einzelnen, isolierten Mädchens in den allgemeinen Rang einer zweckdienlichen, erleuchtenden Gesetzesübertretung zu erheben, weit entfernt. Gestehen wir ihr wenigstens zu, lange vor den Situationisten die Praxis des détournement erfunden zu haben,3 und zwar unabhängig von unserer Beurteilung des mehr oder weniger überschreitenden oder widerstandsfähigen Wertes dieser Art von Handlung im Verlauf des 20. Jahrhunderts (eine Frage, auf die ich weiter unten zurückkommen werde). Der objektive Beleg ist, ja, die enorme Ausbreitung des öffentlichen geschriebenen Wortes zu Werbezwecken während eines Großteils des 19. Jahrhunderts und, zur selben Zeit, der darauf geschriebene Sinnverlust angesichts seines eigenen, chaotischen Überflusses, welcher später spezifischer Regeln bedurfte, um „eine gewisse Ordnung aufrecht zu erhalten“. „Es existierte ja in den Anfangszeiten der Affiche“, darauf weist Walter Benjamin in seinen Anmerkungen zum Passagen-Werk hin, „noch kein Gesetz, das die Art und Weise der Plakatierung, den Schutz der Plakate aber auch den Schutz vor Plakaten, anordnete und so konnte man, wenn man eines Morgens beim Aufwachen sein Fenster von
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Henkin, D. Op.cit. S. 71 u. 79.
3
Die Situationisten übernahmen diese Praxis des Eingriffes in Werbeplakate auf der Straße vom belgischen surrealistischen Dichter Marcel Marien, der für die Zeitschrift Les Lèvres Nues (1954-1958) schrieb.
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einem Plakat verklebt finden [sic]“4, und zitiert weiter unten einen Text von Eduard Kroloff von 1839: “’Viele Pariser Häuser scheinen gegenwärtig im Geschmack von Harlekinsjacken verziert; das ist eine Versammlung von großen grünen, gelben, [ein Wort unleserlich] und rosenfarbigen Papierstücken. Die Ankleber streiten sich um die Mauern und schlagen sich um eine Straßenecke. Das Hübscheste dabei ist, alle diese Affichen bedecken sich gegenseitig zehnmal des Tages.’ Eduard Kroloff: Schilderungen aus Paris Hamburg 1839 II p 57 [G 3,3]“5 An gleicher Stelle des Passagen-Werks, eine weitere Bobachtung: „Das Charivari von 1836 hat ein Bild, das eine Affiche zeigt, die über die halbe Hausfront geht. Die Fenster sind ausgespart, außer einem, scheinbar. Denn dort heraus lehnt ein Mann und schneidet das ihn störende Papier fort. [G 3.6]“6 Unterm Strich war die Verbreitung der Werbeplakate in der Wahrnehmung eines Bewohners der westlichen Großstädte des 19. Jahrhunderts, die, um in Anlehnung an einen bekannten Exposé-Titel von 1935 zu sprechen, in Paris ihre Hauptstadt – d.h. nicht so sehr ihr Zentrum, sondern vielmehr ihr paradigmatischstes Produkt –7 hatten, nicht allzu weit von der Wahrnehmung der optischen Verschmutzung des 20. Jahrhunderts entfernt. In beiden Fällen geht diese Wahrnehmung mit jenen von Schnelligkeit und Fragmentierung einher, die für den Ge-
4
Benjamin, W. Gesammelte Schriften [=GS] Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde., Frankfurtt a/M: Suhrkamp, 1991, Bd.V.1, S. 114.
5
Ibidem, S. 240.
6
Ibidem, S. 241.
7
Deshalb stellt Adorno in seinem Brief an Benjamin, in dem er das Exposé von 1935 kommentiert, die Behauptung auf, dass der passendere Titel in der Tat „Paris, Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ und nicht „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ wäre. So ist Paris Zentrum, jedoch vor allem des Kapital(ismu)s. Vgl. Brief Adornos an Benjamin datiert zum 2., 4. und 5. August 1935, in Adorno/Benjamin. Briefwechsel 1928-1940, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 114.
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genstand der modernen Stadt charakteristisch sind. So sagt Benjamin im Passagen-Werk: „Vor einem durchaus verwandten Problem stand man angesichts der neuen Geschwindigkeiten, die einen veränderten Rhythmus in das Leben trugen. Auch der wurde erst gewissermaßen spielerisch ausprobiert. Die montagnes russes kamen auf, und die Pariser bemächtigten sich wie besessen dieses Vergnügens. Um 1810 notiert ein Chronist habe eine Dame an einem Abend im parc de montsouris, wo damals diese Luftschaukeln standen, 75 Franken darauf vergeudet. Das neue Tempo des Lebens kündigt sich oft auf die unvermute{t}ste Weise an. So in den Affichen. ‚Ces images d’un jour ou d’une heure, délavées par les averses, charbonnées par les gamins, brûleés par le soleil, et que d’autres ont quelquefois recouvertes avant même qu’elles aient séché, symbolisent, à un degré plus intense encore que la presse, la vie rapide, secouée, multiforme, qui nous emporte.’ Maurice Talmayr: La cité du sang Paris 1910 p 269 [B 2,1]“8 Ich bitte, trotzdem zu beachten, dass ich nicht behaupte, es handle sich um vergleichbare Tatsachen, sondern vielmehr um gemeinsame Züge, die die Wahrnehmungen der jeweiligen Zeitgenossen tragen. Die Schwelle der Wahrnehmung jeder Epoche wandelt sich mit der Zeit. Das Befahren einer Autobahn bei 120 Stundenkilometern erweckt heute das Gefühl von gelassener Ausgeglichenheit. Bei Tempo 80 gleicht die Wahrnehmung schon der eines Stillstandes. Dass diese Wahrnehmung im Lauf der Zeit vom 19. Jahrhundert bis heute wie eine ständig zunehmende Beschleunigung erscheint, zeugt von der modernen Einschätzung der Beschleunigung inmitten von soviel „Fortschritt“. Auch wissen wir sehr gut, bis zu welchem Punkt das moderne Gedankengut des Fortschritts – das im Verlauf des 20. Jahrhunderts viele Male in Frage gestellt, aber immer wieder neu erfunden worden ist – sich als ein Glücksversprechen einnistet. Generell trägt jeder neue Apparat, jede neue Einrichtung – unter ihnen der Apparat der Stadt – dieses Glücksversprechen in sich, das im Augenblick seines Auftauchens oft verneint, danach jedoch sofort durch ein neues Versprechen in Form eines technischen Gerätes ersetzt wird. Dieses spezielle Verhältnis
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zwischen Beschleunigung und Fortschritt, das Benjamin mit dem Auftauchen der Novitäten als wesentlich für eine homogene Zeit einzuschätzen wusste, ist gerade im Kontext seiner Erkenntnistheorie interessant. Wenn das Entstehen dialektischer Bilder um die historische Zeit des ewig Gleichen herum den Zugang zu Wissen ermöglicht, dann wird dies daran liegen, dass es den doppelten Charakter der „Phantasmagorien“ sichtbar macht: Versprechen und Verneinung des Inhalts des Versprechens in einem. Selbstverständlich könnten Schnelligkeit und Fragmentierung auch anhand anderer Stoffe betrachtet werden, jenseits derer, die sich auf Sprache beziehen, also anhand von Straßen, Plätzen, Gebäuden, Fortbewegungsmittel, städtischem Umgang in bestimmten sozialen Formen. Gleichwohl würde ich hier vorschlagen, dass das Lesen des Wortes im öffentlichen Raum der Städte seit dem 19. Jahrhundert für Benjamin, und hier pflichte ich ihm bei, ein Mehr an Bedeutung haben kann, das seine Lektüre auf einen festen Boden stellt – vor allem deshalb, weil seine Erkenntnistheorie niemals aufgehört hat, eine Namenstheorie zu sein. Tatsächlich bringt er, ausgehend von der Ablehnung mechanisch-mathematischer Wissenskonzepte, eine Erkenntnistheorie hervor, die auf einer Sprachphilosophie aufbaut: Jegliches Wissen, behauptet er, hat seinen Kern in der Sprache. Wenn wir daher die Schnittstelle zwischen Wort und Stadt bedenken, erlaubt uns dies, die Konzeptlinien zu vereinen, die Teil der Grundlage des Benjaminschen Denkens sind. Das im großstädtischen Raum seit dem 19. Jahrhundert ausgestellte Wort stellt demnach ein Blickobjekt von ähnlicher Form dar wie die Passagen, die Architektur aus Eisen und Glas und die sozialen Randgruppen. Gleichwohl ist dieser Text, obwohl von ähnlicher Art, auch verschieden, da er doch zwei komplementäre Inschriften in sich trägt. Mal ist er Blickobjekt, in dem die Möglichkeit des Wissens schlummert, mal ist er das Wissen als Wort. Susan BuckMorss führt an: „[Gemäß Benjamin] As the name-giver of God’s creatures, Adam, not Plato, was the father of philosophy. But the language of Paradise was wounded by the Fall, and the babble of human language, in which words intended objects, could not recapture the concrete knowledge of the particular provided by the name [...] [Benjamins Begriff des Namens] […] retained, even after his move to Marxism, traces of its theological origin: utopia, the return of the lost
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Paradise, implied the reestablishment of the divine language of names. Benjamin’s focus on the overlooked art form of Baroque tragic drama, or on the seemingly insignificant historical details which came alive in his Passagenarbeit, reflected the hope for rescuing the phenomena from temporal extinction by redeeming them within the name.“9 Gewiss offenbart die städtische Landschaft, die den Schreibtrieb Walter Benjamins anfeuert, einen manchmal langgezogenen, manchmal kompakten Handlungsknoten, der eine bedeutende Vielfältigkeit der repräsentativen Spezies einschließt, die das Alltagsleben bevölkert: nicht nur Straßen und Gebäude, sondern auch, und ganz speziell, Personen sowie große oder kleine Objekte: Flaneure, Prostituierte, Bohémiens und Lumpensammler; Spiegel, Panoramen, Spielzeuge und mechanische Wahrsagerinnen. Dabei handelt es sich selbstverständlich um einen Sammeltrieb, der auf den Autor zurückzuführen ist und in dem sich sein Blick hervortut, der Fragmente zusammenstellt, Reste, die in einem Tanz sich vereinen, auf der ständigen Suche nach Figuren, die nichtsdestoweniger wie in der Schwebe und derart unvollendet bleiben. Aus diesen Fragmenten – um letztendlich zur von mir vorgeschlagenen Argumentationslinie zurückzukehren – lassen sich jene ausschneiden, die mit der Schrift und ihrer Stofflichkeit in Verbindung stehen: von Zitatsammlungen, die eine textbezogenere Lesart erlauben bis hin zu Buchstaben des Alphabets, die, sofern man das von der herkömmlichen Buchform losgelöste Konzept, das Benjamin in der Einbahnstraße entwickelte, beibehält, sich auf den Werbeplakaten sowohl als Heuschreckenschwarm wie auch als Versprechen einer neuen exzentrischen Bildhaftigkeit auftaucht (worauf ich später zurückkommen werde). Die Verweise auf das im städtischen Raum lesbare Wort im Passagen-Werk sind von vielfältiger Art: Es gibt Bezugnahmen auf Namen von Geschäften, Straßen, Passagen und U-Bahnstationen; ebenso gibt es Interpretationen von Produktnamen auf Plakaten sowie von umfangreicheren Texten, hauptsächlich jene auf den Plakaten
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Buck-Morss, S. The Origin of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, and the Frankfurt Institute, N.Y.: The Free Press 1977, S. 88f.
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selbst und die der ausgestellten Zeitungen sowie jene, die im öffentlichen Raum gelesen werden. Wenngleich ich an dieser Stelle hauptsächlich die Texte behandle, die auf Plakaten vorkommen, möchte ich nicht die Frage der Straßennamen übergehen, die, wie ich glaube, von besonderem Interesse ist. Abseits des von ihm Bezeichneten bewahrt der Eigenname für Benjamin mit seinem einfühlsamen Charakter einen gewissen Grad der Annäherung an das Erlebte. „Die Stadt ist durch die Straßennamen ein sprachlicher Kosmos”,10 der „unser Wahrnehmen sphärenreicher und vielschichtiger mach[t]“11. Dem Bürger, sagt Benjamin – sich selbst einschließend – bleibe schon keine andere Möglichkeit mehr: „Denn was wissen wir von den Straßenecken (,) Bordschwellen, der Architektur des Pflasters, wir die wir niemals Hitze, Schmutz und Kanten der Steine unter den nackten Sohlen gefühlt, niemals die Unebenheiten zwischen den Fliesen auf ihre Eignung uns zu betten, untersuchten.“12 In diesem Zusammenhang ist im Passagen-Werk auch das Zitat zu verstehen, in dem Leo Spitzer seine Lesart der Eigennamen bei Proust anbietet; Spitzer sagt: „‚Begrifflich unbeschwerte, rein klangliche Wirkung üben ja auch die Eigennamen aus … die Eigennamen sind, um einen Curtiusschen Ausdruck zu gebrauchen (S.65), ‚Blankoformulare’, die Proust mit Empfindungen ausfüllen kann, weil sie noch nicht von der Sprache rationalisiert sind.’ Leo Spitzer: Stilstudien München 1928 II p 434.“13 Den Vergleich der Benjaminschen Formulierungen über die Eigennamen bei Proust mit dem bekannten Artikel Roland Barthes‘ Proust et les noms14 hebe ich mir für eine andere Gelegenheit auf; als Barthes
10 Benjamin, W. GS V.1, S. 650. 11 Ebenda, S. 645. 12 Ebenda. 13 In: ebenda, S.646f. 14 Barthes, Roland. „Proust et les noms“ In: ders., OEuvres completes II, Paris: Editions du Seuil 1994, S. 1368-1376.
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diesen schrieb, waren Benjamins Anmerkungen zum Passagen-Werk noch nicht verfügbar, der 1929 von Benjamin veröffentlichte Artikel Zum Bilde Prousts aber sehr wohl, ebenso wie Spitzers Buch aus dem Jahre 1928. Eine andere interessante Parallele kann zwischen den Anmerkungen Benjamins über die Namen von Pariser Straßen und UBahnstationen sowie jenen von Martínez Estrada in La cabeza de Goliat über das Buenos Aires der Dreißiger Jahre gezogen werden: Die Ähnlichkeiten sind beachtlich und entstammen wahrscheinlich der Lektüre Simmels, vor allem hinsichtlich der Art, in der beide die Änderungen der Wahrnehmungen betrachten, denen sich der moderne „Urbanist“ in den neuen Städten gegenübersieht. „[…] was wissen […] wir die wir niemals Hitze, Schmutz und Kanten der Steine […] gefühlt“, sagt Benjamin, auf die gleiche Weise wie Martínez Estrada darauf beharrt, dass selbst wenn der Fuß – und nicht die Hand – das Organ zum Abtasten der Stadt wäre, „[…] una ciudad no ha sido adoquinada para caminar por ella sino para recorrerla en coche. El coche es el peatón natural de la ciudad: el neumático, no el pie; la llanta de hierro, no la pata.“15 Die Fragestellung des Undeutlichwerdens städtischer Verhaltensweisen unter der Erde, im Untergrund, ist bei beiden Autoren ähnlich. Bei Benjamin schließt dies die Form einer Evaluation dieses linguistischen Kosmos der städtischen Oberfläche mit ein, die, wenngleich die Erfahrung entblößend, immer noch die Spur einer spürbaren Wertschätzung aufrecht erhält, sofern sie sich in ein neues, nicht geradliniges Bild hüllen kann, dass der Untergrund mittels eines Übermaßes an Isolation und Geradlinigkeit verschließt.16 Im Bereich
15 „[…] eine Stadt nicht gepflastert wurde, damit man darin zu Fuß geht, sondern damit man sie mit dem Auto durchfährt. Das Auto ist der natürliche Fußgänger der Stadt: der Reifen, nicht der Fuß; die Eisenfelge, nicht das Bein.“ (Übersetzung: M.S.) – Martínez Estrada, E. La cabeza de Goliat. Microscopía de Buenos Aires. Buenos Aires: Losada, 1983. S. 114. 16 „Aber ein anderes System von Galerien, die unterirdisch durch Paris sich hinziehen: die Métro, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen. Combat – Elysée – Georges V – Etienne Marcel – Solférino – Invalides – Vaugirard haben die schmachvollen Ketten der rue, der place von sich abgeworfen, sind hier im blitzdurchzuckten, pfiffdurchgellten Dunkel zu ungestalten Kloakengöttern, Katakombenfeen geworden. Dies Labyrinth beherbergt in seinem Innern nicht einen sondern Dutzende blinder, rasender Stiere, in deren Rachen nicht
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seiner Wissenstheorie könnte sich von der sichtbaren Spur des Eigennamens, in seiner (als Ware betrachtet) unmittelbaren Annäherung an die Wahrheit ein gewisser wahrer Inhalt ableiten. Dies jedoch wäre lediglich innerhalb einer anderen materiellen Lebensweise möglich, in einer Form, die durch die materiellen Existenzbedingungen des Kapitalismus verunmöglicht wird. Was Benjamin in seiner Arbeit als Archivar macht, ist, diese Kraft des Namens trotzdem festzuhalten. Zitate sammeln – aber auch Städte: Berlin, Paris, Moskau, Neapel, Marseilles – um aus ihnen eine Kartei aufzubauen, die in ihrem dreidimensionalem Charakter zur Stofflichkeit der kennenzulernenden Realität neigen könnte, und so ist es der Konstruktion dialektischer Bilder mit verschiedenartigen Elementen gleichzusetzen. Nicht zufällig vereint er in einem Text der Einbahnstraße selbst, in dem er die Möglichkeiten der Verwandlung der geschriebenen Worte im Sinne einer Befreiung von ihrer Geradlinigkeit darlegt, das Mallarmésche Projekt des totalen Buches, die dadaistischen „Experimente“, die Datenbank des Forschers und die Werbetexte des urbanen Raums. Hierbei handelt es sich um ein Fragment mit dem Titel „Vereidigter Bücherrevisor“. Dieses Fragment hat mich seit jeher interessiert und fasziniert. Die charakteristische argumentative Kehrtwende, die so typisch für viele seiner Schriften ist – dieselbe, die beispielsweise in Artikeln wie Erfahrung und Armut und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit so klar zum Vorschein kommt, in welchen die Momente positiver oder negativer Interpretation eines Phänomens nebeneinander existieren und einander dabei gegenseitig verdrängen –, lässt sich hier im Verhältnis zum Schicksal der Schrift erkennen. Darin zielt Benjamin auf eine mögliche moderne Wandlung der Schrift ab, die, „unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt“17, beginnt, sich aus der Horizontalität zu erheben, an die sie durch das Buch gefesselt worden war:
jährlich eine thebanische Jungfrau, sondern allmorgendlich tausende bleichsüchtiger Midinetten, unausgeschlafener Kommis sich werfen müssen. Straßennamen. Hier unten nichts mehr von dem Aufeinanderprall, der Überschneidung von Namen, die das oberirdische Sprachnetz der Stadt bilden. Ein jeder haust hier einzeln, die Hölle sein Hoofstaat, Amer Picon Dubonnet sind die Hüter der Schwelle.“ (Benjamin, W. GS V.1, S. 135f.) 17 Benjamin, Walter. Einbahnstraße. In: –, GS IV.1, S. 83-148; hier: S. 103.
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„Nun deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht. Mallarmé, wie er mitten in der kristallinischen Konstruktion seines gewiß traditionalistischen Schrifttums das Wahrbild des Kommenden sah, hat zum ersten Male im ‚Coup de dés’ die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild verarbeitet.“18 Wenn jedoch die “diktatorische Vertikale”, der die Zeitung und die Werbung das geschriebene Wort unterordnen, eine Antwort auf die Anforderungen des Marktes ist, indem sie den Stadthimmel mit Heuschreckenschwärmen oder -plagen bedeckt, zeugt sie gleichzeitig von den befreienden Möglichkeiten einer Schrift, die sich jetzt nicht mehr in die Illusion ihrer Eigenständigkeit verkriechen kann. Bedenken wir, dass Einbahnstraße, erschienen 1928, nicht unbedingt ein Buch, sondern, seiner Widmung zufolge, eines Straße mit dem Namen Asja Lacis ist, die, in der Art eines Manifestes, mit dem Abschnitt „Tankstelle“ beginnt: „Unter diesen Umständen kann wahre literarische Aktivität nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich abzuspielen.“19 Von hier an sind die Elemente vorgegeben, mit denen der Text seinen Argumentationsbogen entwickelt und schließlich den Tag erahnt, an dem die Schrift, abgelöst von den „Machtansprüche[n] eines chaotischen Betriebes in Wissenschaft und Wirtschaft […], Quantität in Qualität“ verwandle: „[…] die Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, [wird] mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft […] An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Unzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms.“20 Was wären die objektiven Bedingungen für das Eintreffen dieses Tages? Zweifelsohne nicht jene, die weiterhin bewirken, dass dieses
18 Ebenda, S. 102. 19 Ebenda, S. 85. 20 Ebenda, S. 103f.
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neue, grafische Wort die Logik des Marktes mit Täuschungen bedeckt. Und Benjamin wird diesbezüglich im Passagen-Werk sehr deutlich, wenn er konkrete Beispiele davon gibt, wie die Namen von magasins des noveautés in den Passagen von Paris dem Vaudeville entstammen.21 Noch deutlicher wird er, wenn er die mimetische Verräumlichung betrachtet, die sich in den Buchstaben der Namensschilder bestimmter Geschäfte findet. Dazu ein weiteres kurzes Zitat aus dem Buch von Eduard Kroloff, Schilderungen aus Paris: „’Der Name des Juweliers steht in großen, mit täuschend nachgeahmten Edelsteinen ausgelegten Buchstaben über der Ladenthür.’ Eduard Kroloff: Schilderungen aus Paris Hamburg 1839 II p 73 ‚In der Galerie Véro-Dodat ist ein Eßwarenladen, über dessen Thür man die Inschrift Gastronomie cosmopolite lieset, deren einzelne Buchstaben auf eine höchst komische Art aus Schnepfen, Fasanen, Hasen, Hirschgeweihen, Hummern, Fischen, Vogelnieren u.s.w. zusammengestellt sind.’ Kroloff: Schilderungen aus Paris II p 75 Grandville [A 1,2]“22 Gibt es in diesen „täuschenden“ Buchstaben vielleicht einen doppelten Impuls - utopisch und infernal zugleich - der unmittelbaren sprachlichen Realisierung? In der Form einer Phantasmagorie taucht hier eine gewisser utopischer Impuls in/von der Sprache der „entstellten“ Buchstaben der Plakate auf, so als ob diese in ihrem Entwurf die stets verlorene Brücke zwischen Wörtern und Dingen schlagen können, und trotzdem entwickeln sie sich wie ein reiner „billiger Edelstein“ auf dem Schild des Juweliers. Die höllische Seite bewirkt offensichtlich die Animalisierung der Buchstaben der Plakate, die ins Verhältnis zu den von Grandville gezeichneten Anthropomorphismen der Tiere – und der dort vorkommenden Animalisierung der Personen – gesetzt werden muss. Direkt nach dem Zitat, das sich auf diese Plakate bezieht, nennt Benjamin tatsächlich den Namen des Zeichners.
21 „Namen von Magasins de Nouveautés: La fille d’honneur / La Vestalle / Le page inconstant / Le masque de fer / Le petite chaperon rouge / La petite Nanette / La chaumière allemande / Au mamelouk / Au coin de la rue – Namen, die meist aus erfolgreichen Vaudevilles stammen. Mythologie.“ (Benjamin, W. GS V/1, S.83f.) 22 Zitiert nach: ebenda, S. 84.
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Wie weit, zeitlich gesehen, lassen sich aber nun die Möglichkeiten dieser exzentrischen Bildhaftigkeit des städtischen Wortes in irgendeinem abgelösten Sinne weiterführen, den Benjamin, trotz der Phantasmagorien des 19. Jahrhunderts, am Beginn des 20. Jahrhunderts zu erkennen glaubte, in seiner eigenen Gegenwart also, als er in den 1920er Jahren noch auf die Vorbereitung einer revolutionären Konjunktur vertrauen konnte? Benjamin war ein Leser der Vergangenheit, weil er seine Gegenwart lesen wollte. Das Verhältnis, das er zwischen den beiden ausmachte, setzte keine unbedingte ununterbrochene Folge voraus, sondern eher ein Verhältnis, das vorgegeben war durch das Aufleuchten kleiner Reste, Spuren, Ruinen, die aus der Vergangenheit ihn als Historiker, Kritiker, Philosoph anriefen, der stets bemüht war, sie in gegenwärtigen Gestalten wieder zusammenzufügen. Wenn wir unsere Fragestellung als eine Geschichte in drei Zeiträumen – dem 19. Jahrhundert, der Zeit Benjamins und der unsrigen – betrachten, wird deutlich, dass der von Benjamin in Einbahnstraße anhand der Reste einer vorangegangenen Epoche erahnte Moment noch nicht gekommen ist, und dass es nichtsdestoweniger Bereiche der Gegenwart gibt, in denen das Wort weiter diesen Weg vorgibt. Ich verweise auf das Beispiel der Aktualisierungen, die die visuell inspirierte Poesie vom Konkretismus ausgehend (begonnen von Mallarmé und Apollinaire) im Lauf des 20. Jahrhunderts zustande gebracht hat. Bis hin zu – und ich komme nun zu den textdichterischen oder situationistischen Versuchen zurück – den neueren städtischen Eingriffen von Künstlerkollektiven und zu einem bestimmten Typ von Graffiti, der die übliche und betäubende Lesart urbaner öffentlicher Texte stört. Trotzdem würde es mehr Dinge verschleiern als erhellen, wollte man in einer Welt, die nur aus der Vermittlung von Geschäften besteht, ohne weiteres die Versöhnung von Worten und Dingen verkünden. Der visuelle und experimentelle Dichter arbeitet auf diesem Weg der Umwandlung des Wortes, genauso wie viele Künstlerkollektive, die in den öffentlichen Raum eingreifen, um einen befremdeten Blick zu provozieren, oder Personen, die, wie es Martha Clements 1830 tat, vielleicht ohne es zu wissen, ein weniger heterogenes städtisches Wort verfechten. Doch denken wir nicht, dass ihre Praxis die letztendliche Realisierung des utopischen Traums oder des Glücksversprechens sei. So mancher besteht darauf, dass sich Mallarmés Traum vom totalen, ja sogar dreidimensionalen Buch, der seinerzeit materiell unmöglich zu
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realisieren war, inzwischen aufgrund der neuen Technologien Wirklichkeit geworden ist, beispielsweise im holographischen Gedicht.23 Die Frage ist stets: Wie weit schafft es die Entfremdung des Dichters vom Alltag – doch, auch dies muss man sagen, ebenfalls des Kritikers, der Literaturkritik, der Kulturkritik –, sich jenseits der „Geste“ zu platzieren? Diesbezüglich haben wir keine endgültigen Antworten. Das Mindeste, was man verlangen könnte, wäre, dass wir uns nicht mit einer Verherrlichung unserer eigenen Entfremdung zufriedengeben. Die Entautomatisierung des urbanen Textes bleibt ein gangbarer Weg, den man im Auge behalten sollte; seine Lobpreisung als Teil einer bereits erreichten oder realisierten Utopie – und es herrscht heutzutage kein Mangel an Kulturkritik, die genau das tut, sei sie auf das „Flanieren durch die Stadt“ oder auf das „totale, dreidimensionale Buch“ ausgerichtet – kann jedoch nur zu ihrer Verschleierung führen.
23 Vgl. Machado, A. El paisaje mediático. Buenos Aires: Libros del Rojas, 2000.
Die Städte, die Ästhetik und Benjamin SILVIA SCHWARZBÖCK
Zwischen der Ästhetik und der Großstadt besteht eine Verbindung, die mit der Entwicklung beider immer sichtbarer wird. Vielleicht hat die Ästhetik, die im 18. Jahrhundert entstand, als sie sich der Problematik des Geschmacks näherte, niemals vollständig ihren Gegenstand gewechselt, und es erscheint ihr heute nur fataler, wenn die Geschmacksrichtungen sich überschneiden, als wenn sie sich voneinander unterscheiden. Wie dem auch sei: Im 19. Jahrhundert, dem entscheidenden Jahrhundert für die Entwicklung der Kunstphilosophie, bedeutet das nicht, dass sie nicht zu ihren Ursprüngen zurückkehren könnte, erst recht wenn sie nicht mehr derselben Zeit entstammt wie die Werke und Künstler, die dem Konzept der großen Kunst entsprechen wollten. Womöglich hat Susan Sontag 1964 eine reichlich vereinfachte Idee der Ästhetik vorgelegt, als sie schrieb, dass die Interpretation in Zeiten großer Kunst zu einer reaktionären Tätigkeit wird, da sie nur der Redundanz das Wort redet, wohingegen sie in Zeiten, in denen die große Kunst Sache der Vergangenheit ist, kreativ und sogar revolutionär sein kann.1 Selbstverständlich bezieht sie sich hierbei auf ihre damalige Gegenwart, auf den Moment, als Against Interpretation (1966) erschien, wie auf einen entscheidenden Augenblick für die große Kunst, ohne diesem Konzept auch nur ein Stück weit zu misstrauen. Als das Buch 1996 neu herausgegeben wird, ist Sontag bereits eine andere, und die Kunst, die jemand wie sie – in der Rolle einer Theore-
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Sontag, Susan. “Against Interpretation”, in: Against Interpretation and Other Essays, New York, Picador, 2001, § 9.
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tikerin, die der Theorie abschwört – 1966 in die große Kunst einschließen konnte, hatte genug Zeit, um zu zeigen, inwieweit sie selbst dazu beigetragen hat, dieses Konzept zu diskreditieren, für das sie zuvor in erster Linie gefeiert worden war. Davon ausgehend nimmt sie in ihrem Vorwort von 1996 („Thirty Years Later…“), unter dem Deckmantel des als mutig geltenden Genres der Selbstkritik, ihr früheres Ich in Schutz und begründet es mit den Umständen jener Epoche, bezüglich derer sie mittlerweile eine Expertin ist, von der sie aber damals, als sie damit begann, über ihre Neuerungen zu schreiben, doch nur ein Teil war: „What I didn’t understand (I was surely not the right person to understand this) is that seriousness itself was in the early stages of losing credibility in the culture at large, and that some of the more transgressive art I was enjoying would reinforce frivolous, merely consumerist transgressions. Thirty years later, the undermining of standards of seriousness is almost complete, with the ascendancy of a culture whose most intelligible, persuasive values are drawn from the entertainment industries. Now the very idea of the serious (and the honorable) seems quaint, “unrealistic,” to most people; and when allowed, as an arbitrary decision of temperament, probably unhealthy, too.“2 Dass Sontag aus Gründen wie diesen empfiehlt, ihr Buch wie eine Pionierleistung – jedoch eine aus einer anderen Zeit – zu lesen, ist mehr als nur eine Form, es vor dem Vergessen zu retten, sondern vielmehr auch eine Art, es neu zu schreiben, ohne auch nur ein Komma daran zu ändern. Es genügt völlig, dass sie sich nun bezüglich dieser Zeit von der Visionärin zur Zeitzeugin wandelt, damit jeder Satz etwas anderes bedeutet als vor dreißig Jahren. So gelesen verliert Against Interpretation jenes Körnchen Wahrheit, welches die großen Fehler (im Gegensatz zu den nicht so großen) immer auch in sich tragen. Es hat etwas Wahres an sich zu glauben, dass die Ästhetik nach der Zeit der großen Kunst stärker aufblüht – ohne dass diese dadurch besser oder schlechter würde – und, ganz generell, nach dem Ende des Konzeptes von der großen Kunst, einem Konzept, in das sich auch noch die verschiedenen Arten der Avantgarde (inklusive ihres Willens,
2
Sontag, Susan. “Afterword: Thirty Years Later …”, in: op. cit., S. 312.
D IE S TÄDTE,
DIE
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sich dieser großen Kunst zu verweigern, denn sich einem wirkenden Konzept entgegenzustellen ist etwas anderes als ein bereits veraltetes zu kritisieren) und die moderne Kunst im Allgemeinen einschließen ließen. Das Problem, das die Pop Art aufwirft – und durch die Happenings, den Konzeptualismus und die mediale Kunst höchstens verstärkt wird –, ist nicht, dass ihre Neuartigkeit nicht innerhalb der historischen Linie verstanden werden könnte, die auf der Seite der modernen Kunst offen ist, sondern dass sie erst recht nicht mit den Selbstverständlichkeiten bezüglich dessen, was die große Kunst ist, gelesen werden kann, die zum Verständnis der modernen Kunst noch gut genug gewesen waren, und zwar dadurch, dass sie ihrerseits jenen der ernsten Kunst nahestanden. Ohne diese Selbstverständlichkeiten, die es erlauben, die Unverständlichkeit als Synonym der Ernsthaftigkeit anzusehen, und ohne dass dieser Grad an Ernsthaftigkeit dementsprechend die Größe eines Kunstwerkes garantieren könnte, taucht die besondere Unverständlichkeit, die die Pop Art – so wie jede andere Kunst nach ihr auch – beinhalten kann, nicht bereits wie ein Katalog negativer und autonomer Sprache auf – die der Kommunikation und der sozialen Logik gegenüber verschlossen ist –, sondern wie ein Katalog eines willkürlichen Codes, der ein Ergebnis eines subjektiven Einfalls ist und, um sich in die Kunstgeschichte zu integrieren, unabhängig vom Werk eines theoretischen Diskurses bedarf. Die zeitgenössischeren Werke benötigen, im Gegensatz zu den modernen, keine Interpretation, sondern allenfalls eine theoretische Basis, die ihnen zu Hilfe kommt. Sontag hat meines Erachtens sehr recht, wenn sie – in ihrer Eigenschaft als Geläuterte – sagt, dass 1996 die Mehrheit der Leute, und nicht nur der Künstler, die Ernsthaftigkeit für antiquiert hält. Die Konzepte, die sie vermischte, als sie sich für die Neuerungen der 1960er Jahre begeisterte, waren die große Kunst und die ernste Kunst. Im Grunde genommen vermischte sie sie, weil sie davon ausging, dass beide eigentlich stets miteinander einhergegangen waren. Das Ernste war groß, und das Große war ernst. Die Publikumsprovokation ging für sie dementsprechend mit pädagogischen Zielen einher – sie bildete sie, genauso wie es zuvor die Avantgardisten getan hatten –, und die Tätigkeit als Antikünstler schloss von selbst einen Widerstand gegen den üblichen Werdegang der Künstler ein, die wie ein Fegefeuer geradewegs in ein Endstadium, den Platz im Museum, mündete. Die Wer-
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ke ihrerseits ergänzten diese antiinstitutionelle Haltung, indem sie dafür erdacht waren, sich in Luft aufzulösen, bevor sie sich in eine Ware verwandeln konnten. Tatsächlich lässt sich sagen, dass Sontag versuchte, dasselbe auf dem Feld der ästhetischen Theorie zu vollbringen, einem Gebiet, zu dessen Begründung als privilegierte – und manchmal ausschließliche – Tätigkeit der Kulturkritik sie wesentlich beitrug. Against Interpretation selbst ist, wenn man es so liest, wie es die Autorin in ihrem letzten Prolog vierzig – statt dreißig – Jahre nach Erscheinen des Werkes möchte, ein mehr als interessantes Symptom günstiger Zeiten für die Ästhetik, für die sie die ihre zunächst einmal nicht hielt. Die Ästhetiken der heroischen Zeiten waren – im 18. und 19. Jahrhundert – Teil eines philosophischen Systems oder – im 20. – eines unsystematischen Gedankenkorpus, doch stellten sie niemals die ausschließliche Beschäftigung eines einzelnen Philosophen durch sein ganzes Werk hindurch dar. Weder Burke noch Kant oder Hegel, und auch nicht Heidegger, Simmel, Lukács, Benjamin, Adorno oder Sartre haben nur über Ästhetik geschrieben oder in erster Linie über Ästhetik nachgedacht. Es scheint, dass sich angesichts des Gefühls, dass die große Kunst der Vergangenheit angehört, die Notwendigkeit mehrt, die gesamte theoretische Ästhetik zu angewandter Ästhetik zu machen oder – um es besser auszudrücken – eine Überdimensionierung der Ästhetik als interpretative Disziplin vorzunehmen. Und an dieser Stelle offenbart die Stadt – die Großstadt – ihre wesentliche Verbindung zur Ästhetik. Derjenige, der am meisten zur Verdeutlichung dieser Verbindung beigetragen hat, ist zweifelsohne Benjamin mit seiner Sichtweise auf das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Die Großstadt öffnet den Blick auf die Verhaltensweisen in ihrer unpersönlichen Beschaffenheit. In ihr wird mehr als je zuvor jene marxistische Vermutung greifbar, dass sich das, was der Kapitalismus aus den Menschen macht, am ehesten zeigt, wenn eine große Anzahl von ihnen auf engem Raum gedrängt ist. Was von jedem Menschen hervorschimmert, wenn er inmitten der Masse gesehen wird, ist das plumpe Äußerliche. Wenn sich auch kein Individuum auch nur einen Moment komplett von seinen Äußerlichkeiten befreien kann – höchstens kann es, am Telefon oder im Internet, physisch unsichtbar werden –, so ist es doch für einen eventuellen Beobachter desselben umso einfacher, die Gemeinsamkeiten dieses Individuums mit jedem beliebigen
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DIE
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anderen zu erkennen, je mehr es sind, mit denen er auf demselben Raum zusammengedrängt ist. Wenn man das menschliche Verhalten im Hinblick auf die Themen untersuchen würde, mit denen sich die Ästhetik beschäftigt, so müsste man das, was ein Individuum in einer Großstadt tut, als „Teil des Publikums sein“ bezeichnen. Teil des Publikums zu sein beinhaltet letzten Endes die – oftmals schmerzhafte – Feststellung, dass der eigene Geschmack zur Massenware geworden ist. In der großen Stadt verwandelt sich – ironisch gedacht – das ästhetische Urteil als universell subjektives – das zweite Moment des ästhetischen Urteils im Kantischen Sinne3, das sich folgendermaßen ausdrücken lässt: Indem ich etwas als schön beurteile, bringe ich damit automatisch meinen Wunsch zum Ausdruck, dass dieses Urteil für alle Personen mit denselben Fähigkeiten und der gleichen Sinnlichkeit wie ich ebenfalls gelten möge – in den Konflikt des Wissens darüber, dass man als einer nur einer mehr – eine Nummer – ist, dem dasselbe gefällt wie anderen auch; man –„ich“ – ist nur der Käufer „Nummer soundsoviel“ einer Theaterkarte, eines Buches, einer CD etc. Das Problem existiert jedoch auch für jene, die in einer Provinzstadt leben. Die Kulturobjekte haben, wenngleich sie weniger massenhaft sind, auch eine geringere Wahrscheinlichkeit, überhaupt dort anzukommen, was jedoch nicht heißen muss, dass diejenigen, denen sie gefallen könnten, nicht in der Lage wären, von ihrer Existenz zu erfahren, sofern die Feuilletons – die, da sie Massenware sind, überall hingelangen – sie bei ihrem Auftauchen erwähnen. Was die Großstädte sichtbar machen, ist, dass, wenngleich jedes ästhetische Urteil Kants Bedingung der Universalität erfüllen muss – man kann nicht „schön“ nennen, was nur einem allein gefällt –,4 niemand wollte, dass die Phantasie einer bezüglich Fähigkeiten und Geschmacksrichtungen in sich identischen Menschheit Wirklichkeit würde, die unisono sagen würde: „Dies ist schön.“ In gewissem Sinne ist die Massengesellschaft das schlechte Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft, für die Kant das ästhetische Urteil erdacht hat, und in einem anderen Sinne seine als Alptraum realisierte sophistischste Idee: jene, dass man die Welt mittels eines Kriteriums beurteilen könnte, dass
3
Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. K.Vorländer. Hamburg:
4
Ebenda, § 7.
Felix Meiner (Philosophische Bibliothek), 39. Ausgabe, 1974, § 8.
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weder sein bedeutsamer noch sein moralischer Wert sei, aber auch nicht seine Nützlichkeit oder eine unmittelbare Befriedigung. Die Großstadt enthüllt, im Rahmen des spezialisierten Publikums, dass für das ästhetische Urteil der Wunsch nach Universalisierung eine Phantasie ist, die bereits in den Ansätzen ihrer Verwirklichung zum Alptraum werden würde. Der Aspekt des Alptraums lässt sich vor allem in der Reaktion dessen erkennen, dem diese Universalisierung am meisten zuwider ist. Gemeint ist der Kulturkonsument, der angesichts der hohen Anzahl möglicher Kandidaten für eine Gesinnungsgenossenschaft, die allsonntäglich – oder allsamstäglich – von den Kulturbeilagen der großen Zeitungen zusammengerufen wird, seinen Geschmack als einzigen und einzig echten gelten lassen will. Je mehr Leuten dasselbe gefällt wie uns, desto eher neigen wir dazu, uns als die einzigen anzusehen, die abseits sozialen Drucks ein Urteil zu fällen imstande sind. Obwohl die Erkenntnisfähigkeiten und das Empfindungsvermögen die wohl am weitesten verbreiteten Eigenschaften der Welt sind, übersetzt sich der Eindruck, es sei unmöglich, dass so viele Menschen sich in einer solch persönlichen Angelegenheit wie dem Geschmack ähneln, in den Verdacht, dass die Urteile aller anderen von einer unsichtbaren Hand gelenkt wurden, die – unerklärlicherweise – gerade in unseres nicht eingegriffen hat. Für dieses eigenartige kulturelle Klima brachte Benjamin die erhellendste Vorgeschichte bei. Um das Misstrauen in den Nächsten zu erklären, das sich in den zeitgenössischen Geschmacksurteilen zeigt, lässt sich seine Version des Paris des Second Empire bei Baudelaire wie ein Präambel lesen, vor allem aufgrund seiner etwas argwöhnischen Beobachtung der Figur des randständigen, verwerflichen Künstlers; ein Verdammter, der alles mit dem Ziel tut, genau dies zu sein. Diese Figur des Künstlers, begonnen durch Baudelaire und gültig für eine Nachwelt, von der wir immer noch ein Teil sind, ist jemand, der sich anhand seiner Erscheinung, anhand seines Äußeren selbst konstruiert, der sich aber zugleich auf unvorhersehbare, ja sogar unerklärliche Weise sowohl hinsichtlich seiner Erscheinung als auch seines Credos wandelt. Benjamin präsentiert diese Figur in Opposition zu jener Darstellungsform, die, obwohl sie dies als Hochstapelei betrachtet, sie in einer zunächst unergründlichen, nach dem Kontakt mit der Außenwelt jedoch von der Gnade der Banalisierungen – seitens derer, die noch keine Künstler sind – abhängigen Innerlichkeit sowie in ihren Bemühun-
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DIE
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gen verwurzelt sieht, schnell ein zu imitierendes Vorbild zu finden. In diesem Sinne versucht Benjamin nicht, damit im Gegensatz zu den Physiologienautoren aller Epochen, seine Leser dadurch zu beruhigen, dass er ihnen das Bild eines Künstlers vor Augen führt, der über Qualitäten verfügt, die ihnen, die sich selbst angesprochen fühlen, das ohnehin schon gut proportionierte Selbstbewusstsein stärken. Was in der Benjaminschen Beschreibung aus Baudelaire einen ebenso privilegierten wie interessanten Gegenstand macht, sind nicht gerade einige wenige Punkte, die von sich aus schon zum Lob aufrufen, obwohl das kein Hindernis dabei ist, ihn für den vakanten Posten eines modernen Helden aussichtsreich zu positionieren. Nicht sein Verhältnis zur Bohème, zur flânerie und zur Modernität verleihen ihm die Würde, aus der Durchschnittlichkeit seiner Zeitgenossen herauszuragen, sondern jene noch nicht dagewesenen Rollen auszufüllen, die dem nachfolgenden Durchschnitt bereits vertraut erscheinen werden. Andererseits wird keine dieser Rollen – professioneller Verschwörer, Bohème, Lumpensammler, Flaneur, apache, Dandy – von Baudelaire bis zum Ende und bis zur letzten Konsequenz ausgeführt. Die Epoche erlaubt es auch nicht, dass diese Rollen ihrerseits mehr als nur Übergangscharakter haben. Sie sind keine Überlebensstrategien – etwas, von dem man leben könnte –, sondern eher Arten, das Neue der eigenen Epoche voll auszuleben. Dieses Neue verbindet sich mit dem Massentauglichen, dem gleich es die Großstadt wie eine Bühne benötigt, die nichts anderes sein kann, die aber genau deshalb, aus einer Verpflichtung zur Äußerlichkeit heraus, die sie gleichermaßen charakterisiert wie auch vervielfältigbar macht, ihre Form verändert, bevor sie endgültig versiegen kann. Der Fall des Flaneurs ist diesbezüglich paradigmatisch: Kaum wird ihm die Passage durch den Bazar ersetzt, ändert er auch schon die Taktik. Wenn er vorher durch die Straße (die Passage) streifte wie durch ein Interieur, so streift er nun durch ein Interieur (den Bazar) wie durch eine Straße, besieht alles mit abwesenden Augen und kauft nichts. Keine dieser aufeinanderfolgenden Rollen macht aus einem Menschen einen Künstler; trotzdem werden alle Künstler der Zukunft etwas von der Art Menschlichkeit in sich tragen, die Benjamin in Baudelaire gesehen hat, vom Mangel an Überzeugung, der ihn ständig sein Aussehen ändern ließ, bis hin zum Schielen auf die von der Moderne verwaist gelassenen Rolle des Helden, mit der Menge als Kulisse.
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Irgendwann zwischen dem Paris des Second Empire und der heutigen Zeit hat sich die Verbindung des Geisterreiches mit der Hochstapelei und dem Snobismus oder, direkt, zwischen der Pose und der Mode, der die Eingliederung in die reaktionären Gemeinplätze fern ist, zu einer weiteren Art entwickelt, es als politisch linksgerichtet anzusehen, dass die Logik des kapitalistischen Konsums alle Arten von Publikum gleichermaßen beeinflusst, ohne dabei zwischen hoher, mittlerer oder niederer Kultur zu unterscheiden. Davon findet sich auch etwas in den Korrekturen, die die Susan Sontag von 1996 jener von 1966 zuteil werden lässt. Diese Umgestaltung des ästhetischen Urteils, durch die ihr Dasein inmitten der Massengesellschaft die in der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht entwickelte Wahrheit enthüllt, ist Teil einer Form, die Ästhetik heranzuzüchten, die mehr noch als der Lektüre Benjamins just der Epoche verpflichtet ist, die er so trefflich beschrieben hat, der im Paris des Second Empire sich festigenden Moderne. Dessen ungeachtet wäre der Einfluss dieser Lektüre auf die Kulturanalysen der Gegenwart nicht immer glücklich. Er wäre es beispielsweise in jenen Fällen nicht, in denen sie dazu dienen würde, darauf hinzuweisen, dass alles, was jene Zeit unserer heutigen hinterlassen hat, dazu beiträgt, aus Benjamin einen immer moderneren Autor zu machen, so als ob die Textstellen, in denen er – dem Umstand geschuldet, dass er das Ende der Epoche, über die er schreibt, nicht kennt – seine Ungewissheit zeigt, nicht genau das wären, nämlich die hinterfragenswertesten von allen. Benjamin schreibt: „Ist ihr aber ihr Recht geworden, so ist die Moderne abgelaufen. Dann wird die Probe auf sie gemacht werden. Nach ihrem Ende wird sich erweisen, ob sie selber je Antike wird werden können.“5 Demnach ist die Frage zulässig: Ist das Ende der Moderne bereits gekommen, so dass wir ohne Ungewissheit darüber von ihr sprechen können, ob sie vielleicht noch etwas in Bereitschaft hält, etwas, das noch nicht einmal in Ansätzen vorhanden ist? Wenn dem so ist, kann man heute von der Moderne so sprechen, als ob sie die Antike wäre?
5
Benjamin, Walter. „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“. In: –, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a/M: Suhrkamp, 1974, Bd. I.2, S. 511-604; hier, S. 584.
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Die bestmögliche Umstellung Benjamins auf die zeitgenössische Ästhetik wäre jene, die mit dem Zitat Oscar Wildes einhergeht, das Sontag als Motto für ihren Essay Against Interpretation übernommen hat: „It is only shallow people who do not judge by appearances. The mistery of the world is the visible, not the invisible“6 Jedes Motto, das weiß man, ist ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz, von dem man hofft, der Leser möge vergessen, dass er in dem Kontext, aus dem er stammt, womöglich etwas ganz anderes bedeutete als im neuen. In Sontags Essay ist der Satz eine Grundsatzerklärung, die später in einem anderen Teil des Buches, „Notes on Camp“ erweitert wird, in dem sie sagt, dass diese Bemerkungen konkret an Oscar Wilde gerichtet sind. Wenn man nun aber, sich den Geist des Wildezitates zu eigen machend, die Benjaminsche Lesart des Paris des Second Empire in die Gegenwart verschieben wollte, wie einen Prolog derselben, dann schlösse das die Anerkennung des Umstandes ein, dass die Beschaffenheit des Scheins mit der Ästhetik in Konkurrenz steht, da dies ein Thema ist, welches einer tiefen konzeptuellen Anstrengung bedarf, und nicht etwa weil die Ästhetik dieser Beschaffenheit als Deckmäntelchen zu dienen hätte, indem sie ihm ein Vokabular bereitstellte – das jene Benjamins oder auch jedes anderen sein könnte –, mit dem man, wenn es nichts Neues zu sagen gibt, trotzdem adäquat von bestimmten Werken sprechen könnte. Benjamin bedient sich bei der Renaissance der Kunsttheorie, ohne jegliche Garantie dafür, dass diese sich in angewandte Ästhetik verwandeln könnte. Es gibt etwas, das Benjamin in der großen Stadt als Teil dessen entdeckt hat, was diese als radikal modern ausweist, das zumindest für die Ästhetik nicht an Gültigkeit verloren zu haben scheint und das sogar auf die Unangemessenheit hinweist, diese Disziplin aufrecht zu erhalten, so als diente sie nur als theoretischer Unterbau zur Interpretation von Kunstwerken. Es handelt sich um die scharfe Beobachtung dessen, wie der Bohème dazu beiträgt, eine Unwahrheit über den Schöpfer in Umlauf zu bringen. Die Bourgeoisie wusste diese Hinterlist in den Sinn der Gesellschaft zu stellen, um das Unglück jener zu rechtfertigen, die über nichts als ihre eigene Arbeitskraft verfügen, und so als nicht Arbeitende nur jene zu tolerieren, denen sie ein Talent zuschreiben kann, über das sie selbst nicht verfügt und das zu würdigen
6
Sontag, Susan. “Against Interpretation”, in: op. cit., S. 3.
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nur sie selbst in der Lage ist. Die Freizeitbeschäftigungen – der Künstler wie der Massen – bleibt so weiter ein grundlegendes Thema der zeitgenössischen Ästhetik.
Die Illusion des allumfassenden Stadtplans: Walter Benjamin und die hybride Stadt RALPH BUCHENHORST
1. W ALTER B ENJAMIN ALS P ASSAGE
UND DIE
W ELT
Benjamin, einem der letzten europäischen Autoren, der es unternahm, die Erzählformen des Mythos mit jenen der Moderne zu verbinden, gefiel es gelegentlich, seine Analysen des sozialen, technischen und wissenschaftlichen Wandels mit einem Märchen, einer Sage oder einer Parabel einzuleiten. Ich versuche in einer Annäherung, mich diesem Stil anzupassen und beginne mit einer Anekdote. Meine Familie lebte viele Jahre in Hamburg, in der Nähe des städtischen Tierparks, der als erster zoologischer Garten der Welt ohne Gitter auskam, da sein Gründer die Absicht gehegt hatte, seinen Tieren einen möglichst natürlichen Lebensraum einzurichten. Die Straßen der Gegend hatten, als wir Anfang der 1970er Jahre dort eine Wohnung bezogen, entsprechende Namen: Sie hießen Gemseneck, Gazellenkamp oder Antilopenstieg. In jener Zeit wuchs allerdings auch der Flughafen der Stadt in beträchtlichem Ausmaß, und man konnte ihn in unserem Viertel, das sich nicht so weit entfernt der Start- und Landebahn befand, gut hören. Dementsprechend war es der Lärm der Flugzeuge, der die Bewohner des Stadtteils morgens weckte. Szenenwechsel: Im Jahre 2006 nahm ich an einem Germanisten-Kongress in Havanna teil. Ich hatte ein Zimmer in der Innenstadt gebucht, in einem Privathaus an der Ecke der Straßen
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mit den ungewöhnlichen Namen Industria und Tráfico. Diese Namensgebungen waren sehr wahrscheinlich eine Folge der Revolution von 1959 und deren Absicht, den Sachverhalt der industriellen Modernisierung und ihres Gewichts für das urbane Leben des modernen Menschen hervorzuheben. Überraschenderweise wurde ich nach meiner ersten Nacht dort aus der morgendlichen Stille vom Schrei eines Hahnes geweckt. Im Zentrum Havannas gibt es aufgrund der Benzinknappheit und der Armut der Bewohner kaum Autos. Diese Anekdote erlaubt es uns, in die Welt der dialektischen Stadtbilder einzutreten, eines zentralen Denkelementes von Walter Benjamin. Sie erlaubt es auch, uns dem anzunähern, was Benjamin als eine „Technik“ definierte und was ihm als Modell seiner Geschichtsschreibung diente: das Erwachen.1 Seine Arbeit über die Passagen von Paris – das unvollendete Werk, das die ganze Tragweite von Benjamins Denken repräsentieren sollte – war der Versuch, mit der Intensität eines Traumes die Epoche der Dekadenz des Bürgertums zu durchlaufen, welche durch jene zwitterartigen Orte dargestellt wurde, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts entstehenden und bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit geratenen Geschäftspassagen im Zentrum von Paris. Benjamin bezeichnete die Passage als „Traumstadt“,2 und ihre Durchwanderung im Zustand der Träumerei war ihm der notwendige Schritt, um zu einer revolutionären Wendung im Bereich des modernen Wahrnehmens und Geschichtsverständnisses zu gelangen: zum verstehenden Erwachen des Materialisten, der sich der Geschichte bewusst bedient. Benjamin stellte die neue dialektische Methode der Geschichte als Kunst dar, mittels derer man die Gegenwart als eine erwachende Welt erfährt, auf die sich in Wirklichkeit jene Illusion bezieht, die wir Vergangenheit nennen. „Also: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens.”3 Durch das Erkennen dieses Zusammenhangs wird auch verständlich, warum Benjamin seinen Haschischerfahrungen so viel Wert beimaß. Denn im
1
Benjamin, W., Gesammelte Schriften [=GS]. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde.,. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, Band V.2, S. 1006.
2
Vgl. Benjamin. W., GS V.1, S. 490-523.
3
Ebenda, S. 491.
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Rausch eröffnet sich ein Raum der Visionen, welcher an der Kluft zwischen Wort und Objekt entlang wandelt, zwischen signifiant und signifié. Bedient man sich dieser Form der Wahrnehmung, verwandeln sich die Passagen in Räume der Poesie, in denen die Sprache in einer originären Identität mit dem optischen Erscheinungsbild erfahrbar wird.4 Jenes visionären Raums entsprechend sollte die Illusion, welche aus diesen Reisen in die tiefsten Schichten des kollektiven Unterbewusstseins der Gesellschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts resultierte, für den Historiker nicht das Ende der Forschung sein. Vielmehr waren die Funde dieser Reisen an die Oberfläche des Bewusstseins zu tragen, um jenen Mythos zu zerstören, der sie in einem jäh von den Notwendigkeiten der Gegenwart erleuchteten Bild umgab. Das eben umrissene, späte Großprojekt, das Benjamin „die Urgeschichte der Moderne“ nannte, nahm schließlich in der Gestalt von Untersuchungen zu drei urbanen Räumen seine spezifische Form an: zum Paris der Passagen (die etwa Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden), zum Berlin seiner eigenen Kindheit (um 1900) und zum Paris von 1935, dem Jahr der Präsentation des Passagenprojektes sowie der Untersuchung über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Jeder Raum hat seinen charakteristischen Bewohner: die Passagen den Flaneur; Berlin einerseits den Gelehrten im Elfenbeinturm und andererseits den Buckligen; das Paris von 1935 die urbane Masse. Der Gelehrte im Elfenbeinturm ist der Repräsentant der ersten Stufe dieser Protohistorie: Im Inneren seines Hauses träumend, das ihm Schutzwall gegen die zufälligen, scheinbar unkontrollierbaren Vorgänge im öffentlichen Raum ist, lebt diese Figur in einem Umfeld des seriösen, die Konventionen respektierenden Umgangs und der Selbstbewahrung. Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett formulierte zur Charakterisierung der Beziehungen dieser Figur ein griffiges Konzept: Sie würden sich unter der Tyrannei der Intimität entwickeln.5 Der Städter des 19. Jahrhunderts, der mit einer immer mehr Kontingenzen unterworfenen Öffentlichkeit konfrontiert wurde, suchte Identifikationspotentiale und verlässliche Kontrollmechanismen in seinem eigenen Privatleben. Die Figur, die ihn aus dieser Illusion
4
Siehe die Protokolle zu Drogenversuchen: Benjamin, W. GS VI, S. 558618.
5
Sennett, R. The Fall of Public Man, London: Penguin, 2002.
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seines tiefsten, beschützenden Inneren erweckte, war der Bucklige. Er ist die vielleicht emblematischste und getreueste Figur des Benjaminschen Denkens. Dieses Gespenst, Protagonist eines Liedes, das Benjamin in seiner eigenen Kindheit oft gehört hatte, ist zugleich vertraut und unheilvoll, zerbrechlich und mächtig, weltlich und doch ein Wegweiser hin zur Erlösung. Er ist der Erwecker der in sich gekehrten Kindheit des gescheiterten Bürgertums und die Hoffnung der Vergessenen. Was der Bucklige auf seinem Rücken trägt, hat der Flaneur in seinen Beinen und in seinem Blick. Er ist der hybride Protagonist des charakteristischsten aller hybriden Orte im Paris des 19. Jahrhunderts: der Passagen, jener öffentlichen Räume, die privaten Zimmern ähneln, indem sie die Idee der Straße mit jener der privaten Wohnung vermischen, die des Museums mit jener des Lagerhauses, die des Mythos mit derjenigen des ökonomischen Kalküls. Der Flaneur gestaltet diese Flüchtigkeit des öffentlichen Lebens um und macht aus der urbanen Beobachtung Arbeit.6 Sein Atelier, die Stadt, ist das Experimentaltheater der alltäglichen Lebensweisen. In der Illusion des Flaneurs erscheint das Bild einer Welt in nuce, das das menschliche Handeln in ein Theater oder gar in ein Puppenhaus versetzt. Es bewegt sich an einem Ort, der „[…] alle Gewerbe vereinigt, Puppenklinik und menschliche Orthopädie ist, Trompeten und Muscheln feilhält, Vogelfutter in Schalen einer photographischen Dunkelkammer, Okarien als Schirmkrücken.“7 Folglich ist Benjamins Methode in allen Bestandteilen monadologisch. Die Passagen repräsentieren die Welt im verkleinernden Maßstab, als ein Mikrokosmos, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem flüchtigen Bild kondensieren. Benjamin versteht diesen Ort also als ein Gebilde, in dem der gesamte Verlauf der Geschichte konserviert ist.8 Deshalb hat der Blick des Flaneurs unbewusst die Kontrolle des gesamten Marktes, die die Illusion des Kapitalismus darstellt, zum Ziel. Doch über diesem teatrum mundi, das die Passagen sind, wartete auf dem Dach, das ihre Gänge bedeckt, bereits die Zukunft, eine Zukunft, die mit Schwellenfiguren wie dem Flaneur aufräumte. Ihre
6
Paetzold, R. „Walter Benjamin and the Urban Labyrinth“. In: Filozofski
7
Benjamin, W. GS V.2, S. 1344.
8
Benjamin, W. GS I.2, S. 702f.
vestnik XXII/2 (2001), S. 115.
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Baumaterialien, Eisen und Glas, waren fortschrittlicher und offenbarten die Grundsätze der neuen Gesellschaft: Künstlichkeit, Reproduzierbarkeit, Durchsichtigkeit. Durch den bewussten Einsatz dieser Baumaterialien erschien das neue Objekt der städtischen Moderne: die Masse. Das Eisen der Straßen- und Eisenbahnschienen ermöglichte die physische Vereinigung, das Glas die visuelle. Die Menschenmenge war der Vollstrecker jener Grundsätze, die er an den Schauplätzen seines Arbeitsalltags und seiner urbanen Bewegung auslebte: in Fabriken und Hangars, auf Bahnhöfen und Messen. Die Logik der neuen Baumaterialien passt zur neuen Form der Ware. Beide betreten die Szenerie des erweiterten urbanen Raumes als Mittel der Ablenkung. Jedoch bleibt in dieser Zerstreuung ein Großteil des in der Stadt Geschriebenen in der Unlesbarkeit versunken. In seiner Einbahnstraße erwähnt Benjamin die Passanten auf der „Place de la Concorde: Obelisk. Was vor viertausend Jahren darein ist gegraben worden, steht heut im Mittelpunkt des größten aller Plätze […] Wie sieht in Wahrheit diese Glorie aus? Nicht einer von Zehntausenden, die innehalten, kann die Aufschrift lesen.“9 Das Buch der Natur hat sich in ein Buch der Stadt verwandelt, ist nun aber in einer verschleierten Geheimschrift verfasst, die überschrieben ist und sich selbst überschreibt. Wie kann man sie entziffern? Benjamin, der die Menschenmenge als Handelnden der Stadt darstellt, welcher den staunenden Blick gegen die technische Sichtweise eintauscht und den Körper der Stadt seziert wie ein Chirurg den seines Patienten, dieser Benjamin also träumt weiter von einer allumfassenden Kartographie des städtischen Raumes. Das Passagen-Werk, ein Fragment, bietet für die Anordnung seines Materials keine nachvollziehbare Ordnung an. Die Zufälligkeit seines Aufbaus spiegelt jene des Großstadtlebens wieder, das über kein neues, revolutionäres Kollektivsubjekt verfügt. Was bleibt, ist das dem Autor eigene Ideal: die erleuchtete Stadt, die als erotisiert angesehen wird. Folglich resultiert ihre Überschaubarkeit aus folgendem Erlebnis: „Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines Tages ein geliebter Mensch dort einzog.“10 Das Bild der Erlösung, das Benjamin für die authentische Erfassung der historischen
9
Benjamin, W. GS IV.1, S. 112.
10 Ebenda, S. 110.
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Zeit als grundlegend ansah,11 erscheint als Metapher der Stadt der Liebenden. Um seinen dem Subjekt innewohnenden Wunsch nach einer Überschaubarkeit des Raumes zu verstehen, muss man dessen historische Wurzeln im Denken des rationalen Subjektes suchen.
2. F REDERIC J AMESON
UND DIE
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ALS
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Wir finden diese Wurzeln beispielsweise in einem Zitat des mittelalterlichen Philosophen und Mathematikers Nikolaus von Kues (14011464). Von Kues vergleicht dort den menschlichen Geist mit einer Stadt und die Darstellung der Welt in ihrer Gesamtheit mit dem Erstellen einer Landkarte. Diese Landkarte ist die Wiedererschaffung der Welt in kleinerem Maßstab: „Das vollkommene Sinnenwesen, das Sinne und Vernunft besitzt, ist also wie ein Kosmograph zu betrachten, der eine Stadt mit fünf Toren, nämlich den fünf Sinnen, besitzt, durch welche Boten aus der ganzen Welt eintrete und vom gesamten Aufbau der Welt berichten […] Der Kosmograph sitzt da und zeichnet alle Berichte auf, damit er die Beschreibung der gesamten sinnenfälligen Welt in seiner Stadt aufgezeichnet besitze […] Daher bemüht sich der Kosmograph mit allem Eifer, alle Tore offenzuhalten und ständig die Berichte von immer neuen Boten zu vernehmen und seine Beschreibung immer wahrer zu gestalten. Wenn er schließlich in seiner Stadt eine Gesamtaufnahme der sinnenfälligen Welt fertiggestellt hat, trägt er sie, um ihrer nicht verlustig zu gehen, in rechter Ordnung und in den entsprechenden Größenverhältnissen auf einer Karte ein. Sodann wendet sich der Karte zu, entläßt die Boten für die Folgezeit und schließt die Tore. Nun lenkt er seinen inneren Blick zum Schöpfer der Welt zu, der nichts von alledem ist, was der Kosmograph durch Vermittlung der Boten verstand und aufzeichnete; er ist vielmehr der Werkmeister und die Ursache von allem. Nach der Auffassung des Kosmographen verhält er sich in
11 Benjamin, W. GS V.1, S. 600.
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vorgängiger Weise so zur ganzen Welt, wie er selbst als Kosmograph zur Karte […]”12 Von Kues formuliert womöglich als Erster einen Topos, der bis in die Gegenwart fortgeführt werden kann: die Stadt als ein Ort der Verkörperung der Welt als Ganzes; und die Landkarte als Gesamtvisualisierung derselben. Ein weiteres Element der von Kuesschen Metapher ist das Verhältnis des Protagonisten zu seinem Wahrnehmungsapparat. Die Türme werden aufgrund einer freien Entscheidung des Subjektes geschlossen, das ständige Einströmen neuer Sinneseindrücke bricht bewusst ab. Wagen wir nun einen direkten Sprung in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und betrachten, wie anders die Beschreibung ausfällt, die der brasilianische Soziologe und Medientheoretiker Vilem Flusser vom Verhältnis des Stadtbewohners zu seiner Umwelt anfertigt. Flusser beschreibt bereits 1989 die drastischen Veränderungen, die eine urbane Wohnstatt und die ihr zugedachte Architektur in der (post)modernen Stadt unterworfen ist: „Es zieht im Haus von allen Seiten, die Orkane der Medien sausen hindurch, und es ist unbewohnbar geworden. […] Das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür gibt es nur noch in Märchenbüchern. Materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telefondraht, statt Fenster das Fernsehen, und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst. Das ist ein schäbiges Flickwerk. Eine neue Architektur ist vonnöten.”13 Für Flusser hat sich die Schwelle zwischen dem Inneren des Hauses und seiner Umgebung aufgelöst. Die Wohnstatt des hyperurbanen Menschen wird für Massenmedien und Transportmittel durchsichtig und durchlässig. Eine weitere kopernikanische Wende hat sich vollzo-
12 Nikolai de Cusa, Compendium. Kurze Darstellung der philosophischtheologischen Lehren, hrsgg. v. Bruno Decker u. Karl Bormann, Hamburg: Meiner 1996,. S. 31ff. 13 Flusser, V. Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin/Wien: Philo 2000, S. 60, S. 67.
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gen: Es sind die entindividualisierten Kommunikationsströme und für sie erforderliche Technik, die Prothesen der menschlichen Sinne, die nun den Hausbewohner zu kontrollieren scheinen, und nicht etwa umgekehrt. In der intellektuellen Debatte zur Postmoderne, die die Konsequenzen dieser Entwicklung abschätzte – einer Debatte um ein mögliches Ende der Rationalität –, wurden üblicherweise zwei einander entgegengesetzte Positionen unterschieden: Die eine kritisiert den Eklektizismus, die Heterogenität und das Irrationale der neuen Konstellationen und sieht dabei die selbstreflektierende Rationalität des modernen Subjektes als unverzichtbare Bedingung an. Die andere nimmt die Überkomplexität dieser Konstellationen als gegeben hin, betrachtet das Modell der modernen Rationalität als obsolet und entwickelt Modelle einer situationsbedingten, zeitlich befristeten Rationalität. Betrachten wir zunächst eine Analyse, welche die oben erwähnte kopernikanische Wende anerkennt, wie auch die Annahme, dass das Subjekt in seiner modernen Form gegenüber dem neuen Hyperraum fehl am Platze ist, und trotzdem nicht die Hoffnung auf einen qualitativen Sprung und auf einen evolutionären Prozess verliert, der das Subjekt wieder auf das Niveau seiner Umgebung hieven könnte, wodurch es die Kontrolle über diese zurückgewänne. Auf dem Höhepunkt der Diskussion um das Ende des Projektes der Moderne veröffentlichte Frederic Jameson eine ästhetische Interpretation der Postmoderne, in der er ein Gebäude heraushob, das ihm als Wahrzeichen der neuen Ära erschien: das Westin Bonaventure Hotel des US-amerikanischen Architekten John Portman in Los Angeles. Jameson vertritt die Ansicht, dass „the Bonaventure aspires to being a total space, a complete world, a kind of miniature city”.14 Dieses Zitat entwirft vom Bonaventure ein ähnliches Bild wie Benjamin von den Passagen: als Monade, als Metropole in der Metropole. Angesichts der Erkenntnis, dass die postmoderne Gesellschaft die Utopie eines neuen kollektiven Subjektes, das aus der Illusion der irreführenden Kultur erwacht, schon nicht mehr akzeptiert, kann Jameson dem Wahrnehmungs- und sozialen Wandel im neuen städtischen Raum nicht das gleiche Vertrauen schenken. Folgerichtig erkennt er an, dass
14 Jameson, F. Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham: Duke University Press 1991. S. 40.
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„this latest mutation in space – postmodern hyperspace – has finally succeeded in transcending the capacities of the individual human body to locate itself, to organize its immediate surroundings perceptually, and cognitively to map its position in a mapable external world. It may now be suggested that this alarming disjunction point between the body and its built environment […] con itself stand as the symbol and analogon of that even sharper dilemma which is the incapacity of our minds, at least at present, to map the great global multinational and decentered communicational network in which we find ourselves caught as individual subjects.”15 Die Formulierungen „alarming“ und “at least at present” haben einen enthüllenden, die metaphysische Position ihres Autors indizierenden Charakter. Sie drücken die Hoffnung aus, dass es das Subjekt eines Tages doch noch schaffe, auf einer Stufe mit der Komplexität seiner schwer greifbaren Umwelt zu gelangen, und ihm endlich von einem neuen Archimedischen Punkt aus das Erstellen einer kognitiven Landkarte gelinge, die im räumlichen und sozialen Bereich allumfassend wäre. Ein derartiger Gedankengang verbleibt im Modell des Hegelschen, sich selbst transparenten Subjekts. Damit zeigt sich, dass Jameson vom urbanen Subjekt in seiner postmodernen Umgebung gleichzeitig zu viel und zu wenig erwartet. Zuviel, weil wir mit Jameson immer noch gezwungen sind, es als mit dem Anspruch belastet zu sehen, den Raum komplett neu zu ordnen, ein Anspruch, der angesichts einer überkomplexen Realität, die das phänomenologische Vermögen übersteigt, scheitert. Gleichzeitig erwartet er zuwenig, da er das Bonaventure als ausschließlichen Prüfstein für die kognitiven Fähigkeiten des Stadtbewohners darstellt, während dieser sich in Wahrheit einem fragmentieren urbanen, durch eine Vielzahl von Codes definierten Raum gegenüber sieht, sowie Zonen, welche durch verschiedene Kombinationen von Sozialverhalten, Wahrnehmungsschwerpunkten, wirtschaftlichem Handeln und Gesetzesfragen bestimmt wird. Wir haben gelernt, uns in einem Museum, auf einem internationalen Flughafen, in einem lateinamerikanischen Armenviertel, in einem Supermarkt und bei einem Empfang in einer Botschaft jeweils den unterschiedlichen lokalen Codes angepasst zu bewegen. Und dabei kamen wir zur
15 Ebenda, S. 44.
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Einsicht, dass es für diese vielfältigen Wahrnehmungsweisen und Verhaltenscodes keine alles vereinende und koordinierende Metaphysik gibt. Wir verfügen über keinen Masterplan mit fest abgestecktem Wegenetz, womöglich gar angelegt durch eine unbestechliche Rationalität, die zwischen Stadt und Land, Synthetischem und Organischem, zwischen Zivilisation und Natur zu unterscheiden wüsste: „Telekommunikation und Teleproduktion brauchen keine vernünftig gebauten Städte. Die Megapolis umgürtet die Erdkugel von Singapur bis Los Angeles und Mailand. Ganz und gar Zone zwischen nichts und nichts, kennt sie keine spürbare Dauer und Entfernung. Und jede Wohnung wird zu einer Kabine, in der das Leben darin besteht, Nachrichten zu versenden und zu empfangen.”16 Das Ergebnis scheint ein Leben ohne Verbindlichkeit, ohne Offenbarungen, ohne Erklärungen zu sein und demnach ohne die Möglichkeit einer Rückkehr zu theologischen oder kultischen Referenzen. Was bleibt ist, wie Lyotard es nennt, das stumme Bedauern der Abwesenheit des Absoluten.17 Doch auf welche Weise sollte sich dieses stumme Bedauern ausdrücken? Man muss darauf hinweisen, dass es weder in einer prophetischen noch in einer poetischen Schrift ausgedrückt werden kann. Im Hinblick auf Benjamin könnten wir hinzufügen: in einer erotischen ebenso wenig. Der urbane Nihilist bevorzugt eine Kürze ohne Pathos. Die moderne Stadt ist das Antipoetische, das Unpoetische, die Nachlässigkeit gegenüber dem Absoluten.
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UND DIE
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Wir kommen zu einer Frage, die sich im modernen urbanen Raum direkt in die Mitte des Kraftfeldes zu setzen scheint: Ist es möglich, sich ein bewusstes Stadtleben ohne das Lyotardsche stumme Bedauern vorzustellen? Bleibt nicht der Bezug auf irgendetwas jenseits des Entarteten, des auf sich selbst Gestellten, des Flüchtigen und der Sorglosigkeit gegenüber jeglicher Metaphysik unumgänglich, so vergeblich, verschwommen und kontraproduktiv er auch sein mag? Der Bezug auf eine Art Echo des Erlösenden, Liebenden, so wie wir es bei Benjamin
16 Lyotard, J.-F. „Zone“ In: Keller, U. (Hrsg.) Perspektiven metropolitaner Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. S. 122. 17 Ebenda, S. 128f.
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gefunden haben? Nehmen wir an, dass sich mit der zweiten Frage ein romantischer Philosoph beschäftigt, während sich der ersten ein ernüchterter Autor widmet, ein Kritiker, der sein Leben in der Stadt und nicht seine Illusion, diese zu erbauen, zum Thema nimmt. Folgen wir also dem Weg, den die erste Frage vorgibt. Dies ist eine Entscheidung, die wir nicht vollständig und nachvollziehbar rechtfertigen können, vielleicht sehen wir sie als Konsequenz einer emotionalen Disposition an, die wir durch unser Leben in Großstädten wie Buenos Aires oder São Paulo entwickelt haben, Städten also, die sich keinesfalls mehr auf die Frage nach der Erhaltung des Ursprungszustandes oder die Konservierung des status quo konzentrieren, sondern auf das Hervorrufen und Potenzieren von sozialen, ökonomischen und kulturellen Differenzen18 und auf eine virtuelle, situative Selbstdarstellung lokaler Eigenheiten.19 Dies führt uns zur nächsten Schlussfolgerung: Die der modernen Stadt eigenen Werte müssen in Konzepten der Eventualität gefasst werden. Als Konsequenz daraus sehen wir uns gezwungen, neue Wahrnehmungsweisen zu entwickeln, die für die soziale Teilintegration in die gegenwärtigen Hyperstädte tauglich sind, Konzepte wie die situations- und funktionsbedingte lokale Orientierung20 oder die Mahnung, auch Zufälligkeiten in unseren Plan vom Leben in der Metropole einzubinden; in einem Wort: Wir suchen Bausteine für einen kritischen Konstruktivismus der Stadtkultur. Versuchen wir, uns diesen Konzepten anzunähern, indem wir von zwei Misserfolgen bezüglich einer Konzeptualisierung der vielseitig
18 Luhmann, N. Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. S. 15. 19 Das bekannteste und polemischste Beispiel hierfür: Robert Venturi, der bereits in den 1960er Jahren vorschlug, der nordamerikanische Urbanismus solle sich das Fernsehen zum Vorbild nehmen anstatt eines konkreten öffentlichen Raumes, siehe sein Complexity and Contradiction in Architecture. NY: The Museum of Modern Art Press, 1996. S.133 Andere, jüngere Beispiele: Rötzer, F. „Telepolis: Abschied von der Stadt“ und Guggenberger, B. „Virtual City. Jetztzeitwesen in einer ’ortlosen’ Stadt“, beide in: Keller, U. (Hrsg.) Perspektiven metropolitaner Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. S. 16-59. 20 Wie sie in der Architektur durch das Konzept des Vernakularen entwickelt worden ist (siehe z.B. Oliver, P., Encyclopedia of Vernacular Architecture of the World, Cambridge: Cambridge University Press 1997).
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festgelegten Räume lernen. Von 1934 bis 1937 hatte der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität von São Paulo inne. Während dieser Zeit entstand sein Bild von einer der schnellstwachsenden Städte Lateinamerikas. Bei seinem Vergleich mit europäischen Städten konzentriert sich LéviStrauss vor allem auf das Verhältnis der sich ständig verändernden Struktur der Stadt zum Gedächtnis ihrer Bewohner. Es klingt beunruhigend, wie er Paris als einen Ort außerhalb der Zeit beschreibt, deren Einwohner ein ahistorisches Leben inmitten einer urbanen Struktur führen, die ewig zu sein scheint. Diesem Bild setzt er das von São Paulo mit seinem schnellen Rhythmus gegenüber: „Die Stadt entwickelt sich mit solcher Geschwindigkeit, daß es unmöglich ist, sich einen Stadtplan zu besorgen: jede Woche müßte eine neue Ausgabe erscheinen. Und will man im Taxi zu einer wenige Wochen zuvor getroffenen Verabredungen fahren, so läuft man Gefahr, einen Tag zu früh anzukommen, das heißt, bevor das Viertel fertig ist. Unter solchen Umständen gleicht das Erzählen fast zwanzig Jahre alter Erinnerungen dem Betrachten einer vergilbten Fotografie. Immerhin kann sie von dokumentarischem Interesse sein: ich vermache, was tief in den Schubfächern meines Gedächtnisses ruht, den Archiven der Stadtverwaltung. “21 Man versteht, dass der Autor von diesem Getümmel von Tätigkeiten, Stilen und Verhaltensweisen, die dieser wilde Rhythmus verursacht, zutiefst beunruhigt ist und dass er eine übersinnliche Faszination entwickelt für das Scheitern der europäischen Konzepte der symbolischen Darstellung im Hinblick auf den betreffenden Gegenstand. Im Anschluss an die eben zitierte Beschreibung unternimmt es der Autor von Tristes Tropiques deshalb, als Gegenentwurf zu diesem willkürlichen Rhythmus das Verhältnis zwischen der europäischen Stadt und ihren Einwohnern als ein kontemplatives zu skizzieren, geleitet von der Idee einer auratischen Wahrnehmung im Benjaminschen Sinne. Die schönsten europäischen Städte seien keine Mittel zur Urbanisierung, sondern Reflexionsgegenstände. Indem Lévi-Strauss sie derart als außerhalb der Zeit stehend charakterisiert, verwandelt er sie unbewusst in natürliche, ahistorische Repräsentationen ihrer selbst. Zwischen der Stadt-
21 Lévi-Strauss, C., Traurige Tropen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, S. 88.
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werdung des Ewigen (die europäische Stadt) und des Kurzlebigen (die lateinamerikanische Stadt) sucht der europäische Ethnologe einen festen Punkt, der es ihm erlauben würde, eine Kausalbeziehung zwischen beiden aufzustellen. Er scheitert, da er den urbanen Raum weiterhin nach europäischen Denkmodellen begreift und sich dabei zwischen der Überhistorizität der europäischen und der Flüchtigkeit der amerikanischen Stadt verliert.22 Während die strukturalistische Ethnologie die Natürlichkeit von São Paulos Wachstum kritisiert, schlagen andere Strömungen wie der neue Urbanismus, der Regionalismus und der Neoklassizismus vor, die Natur als Referenzpunkt wiedereinzusetzen, und zwar inmitten des städtischen Spiels der Kräfte wie Technologie, Verkehr und Immobilienspekulation. All diese Theorien versuchen auf die eine oder andere Weise das Schrankenlose der hybriden Stadt zu bekämpfen. Die überlegene Denkweise dieser Gruppe, der kritische Regionalismus, sucht die Effekte der universalistischen Zivilisation mit jeweils ortsspezifischen Elementen zu verflechten. Ziel dieser Doktrin ist eine Poetisierung des Bauens im Sinne einer derartigen Wiederherstellung der Aura
22 Am Ende schließt Lévi-Strauss São Paulo also in seine Konzeption der neuen Stadt als ahistorischer, naturwüchsiger Raum ein, ohne das Historische allen natürlichen Seins hervorzuheben, wie es Benjamin in seinem Konzept der Naturgeschichte in seinen Untersuchung zum Ursprung des deutschen Trauerspiels getan hat. Die Ansicht Lévi-Strauss’ ist nicht dialektisch, wodurch ihm jedweder Ausdehnungsprozess der städtischen Infrastruktur mit seinen komplexen Verflechtungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entscheidungen zu einem Bild des Naturstands wird: Die Häuser der neuen Stadtviertel São Paulos erinnern ihn an „[…] große Herden von Säugetieren, die sich am Abend für einen kurzen Augenblick, zögernd und reglos, um eine Wasserstelle scharen, durch eine dringenderes Bedürfnis als die Furcht gezwungen, zeitweilig ihre antagonistischen Rassen zu vermischen. Die Entwicklung der Tiere vollzieht sich langsamer als das städtische Leben; würde ich heute denselben Ort betrachten, so müßte ich vielleicht feststellen, dass die hybride Herde verschwunden ist: niedergetrampelt von einer kräftigeren und homogeneren Rasse von Wolkenkratzern, die sich an diesen Ufern niedergelassen hat. Ufern, die durch eine Autobahn mit Asphalt versteinert worden sind.“ (Ebenda, S. 91f.).
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des Ortes, wie sie von Benjamin definiert wurde.23 Eine seiner Forderungen ist die Berücksichtigung der natürlichen Bedingungen vor Ort, etwa in der Form, Unebenheiten des Baugeländes nicht abzutragen, sondern als Terrassen, Absätze und prononcierte Desnivellierungen in den Bau mit einzubeziehen. Nun wissen wir, dass viele Favelas in Rio de Janeiro, La Paz und anderen bergigen Städten auf diese Art gebaut sind, jedoch nicht aus einer Poesie der Bauweise heraus, sondern aus Notwendigkeit geboren. Diese Favelas sind das Ergebnis einer immer weiter ansteigenden Landflucht. In Ländern wie Brasilien und Bolivien, so nimmt man an, kann die Natur nicht alle ihre Bewohner ernähren. Wenn sie in der Stadt ankommen, suchen sie keine Architektur, die im Einklang mit der Natur stände, sondern eine im Einklang mit ihren grundlegenden hygienischen, sozialen und technischen Bedürfnissen. Indem sie vor dem fliehen, was der kritische Regionalismus „Referenz des Autochthonen“ nennt, müssen vor allem die finanziell schlechter gestellten Großstadtbewohner mit einer Vielzahl von Konventionen, Verstößen, Subkulturen und ökonomischen Beschränkungen zurechtkommen. Für sie ist die Natur nicht etwas Externes, sondern ein grundlegender Bestandteil des Kulturbegriffs jeder urbanen Gruppe. Der Referenzpunkt ihres Selbstverständnisses ist keine absolute, höhere Kraft von außen, sondern eine sich wandelnde Konstellation eines beträchtlichen Teils der übrigen sozialen Gruppen mitsamt den erwähnten Konventionen. Der Soziologe und Kulturtheoretiker Héctor García Canclini verwirft, als Rückschluss aus diesen Umständen, die Anwendbarkeit der traditionellen soziologischen und anthropologischen Konzepte auf die hybriden Kulturen Lateinamerikas: „Los intercambios económicos y mediáticos globales, así como los desplazamientos de muchedumbres, acercan zonas del mundo poco o mal preparadas para encontrarse. Resultados: ciudades donde se hablan 50 lenguas, tráfico ilegal entre países, circuitos de comercio trabados porque el norte se atrinchera en aduanas agrícolas y culturales, mientras el sur es despojado... Es difícil estudiar ese
23 Frampton, K. „Kritischer Regionalismus – Thesen zu einer Architektur des Widerstands.“ In: Huyssen, A./Scherpe, K.R. (Hrsg.) Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986. S. 151-171.
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vértigo de confusiones con los instrumentos que usábamos para conocer un mundo sin satélites ni tantas rutas interculturales.“24 Diese “multizeitliche Heterogenität” der hybriden Kulturen Lateinamerikas begründet neue Arten von Kulturschaffenden; Akteuren, die García Canclini „artistas anfibios“ („Amphibienkünstler“), „gente del umbral“ („Schwellenmenschen“) und „artistas liminales“ (“Liminalkünstler”), in einem Wort: Stadtbewohner, die gleichzeitig „imágenes de la historia social y de la historia del arte, de la artesanía, de los medios masivos y del abigarramiento urbano“25 zu benutzen wissen. Das gesamte Arsenal an Konzepten, die García Canclini benutzt, berücksichtigt die Tatsache, dass die Stadtstruktur sich in Prozesse auflöst, die sich einer konzeptuellen oder symbolischen Aufsummierung entziehen.26 Das Vermischen von kaufmännischen, historischen, ästhe-
24 „Die Austauschprozesse von Wirtschaft und Medien, ähnlich wie die Verschiebungen der Menschenmassen, führen zur Annäherung von Weltteilen, die nicht oder nur schlecht auf ein solches Aufeinandertreffen vorbereitet sind. Die Ergebnisse: Städte, in denen 50 Sprachen gesprochen werden, illegaler Verkehr zwischen den Ländern, behinderte Handelskreisläufe, weil der Norden sich hinter Landwirtschafts- und Kulturzöllen verschanzt und der Süden ausgeplündert ist… Es ist schwierig, diesen Taumel an Verwirrungen mit den Mitteln zu studieren, die wir für eine Welt ohne Satelliten und eine solche Vielzahl von interkulturellen Beziehungen gebraucht haben.“ (Übersetzung: M.S.) – García Canclini, H. Diferentes, Desiguales y Desconectados. Mapas de la Interculturalidad. Barcelona: Gedisa, 2004. S. 14f. 25 „[…] Bilder der Sozialgeschichte sowie der Kunstgeschichte, des Handwerks, der Massenmedien und der Farbenvielfalt der Stadt […]“ (Übersetzung: M.S.) – García Canclini, H. Culturas Híbridas. Buenos Aires: Paidós, 2001, 1. überarbeitete Ausgabe. S. 321. 26 Mit dieser Position im Einklang befindet sich der kanadische Urbanist Leonie Sanderock, der „a theoretical understanding of ’difference’“ fordert („Mongrel cities: a 21st century urban reality“ In: Berking, H./Löw, M. (Hrsg.) Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden: Nomos, 2005. S.348) und diese theoretische Einsicht mit einem von ihm gesuchten urbanen Interkulturalismus gleichsetzt: „adressing the prevailing inequalities of political and economic power as well as developing new stories about and symbolds of national and local identity and belonging“ (Ebenda, S. 358).
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tischen und kommunikativen Interessen im Stadtbetrieb erfordert es, den städtischen Raum als Ort des semantischen Ringens sozialer, ökonomischer, kultureller, historischer und staatlicher Interessen zu betrachten. Das bedeutet, dass die urbanen Darstellungen das Ergebnis der Miteinbeziehung des Betrachters zweiter Ordnung in seine eigene Perspektive sind: Er weiß bereits, dass sie nur Ausschnitte sind, zeitgebundene Angebote im vielfältigen Prozess der Wiedergabe und Beseitigung eines Sinnes. Die Künstler der Allgegenwärtigkeit lehnen die alles umfassenden oder messianischen Illusionen ab und pflegen stattdessen ein angespanntes und fragendes Verhältnis sowohl zu den urbanen Faktoren der Konzentration der symbolischen oder ökonomischen Macht als auch zu aktiven sozialen Bewegungen.27 Diese Position geht, soweit ich sehe, über die vorgängig diskutierten Angebote von Benjamin, Lévi-Strauss und Jameson hinaus und macht diese als Perspektiven kenntlich, die in irgendeiner Weise noch dem europäischen Verlangen nach einem archimedischen Standpunkt, nach einer ganzheitlichen Karte oder nach einer Aufladung des Urbanen mit einer alle verbindenden Emotionalität verpflichtet sind. Und es scheint mir in keiner Weise zufällig, dass es mit García Canclini und Flusser zwei lateinamerikanische Theoretiker des Urbanen sind, die eine solche kritische Revision der traditionellen Positionen unternehmen. Wenn man in Städten wie Buenos Aires, São Paulo oder Mexiko City aufwächst und lebt, ist die direkte alltägliche Erfahrung der Straßen, Reklamen, Wohnstätten und sozialen Mischungen, an der Benjamin so viel lag, mit derjenigen ihrer Geschichte so verpflichteten europäischen Großstädten nicht zu vergleichen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung war es lediglich möglich, für einen kritischen Konstruktivismus im Kontext des modernen städtischen Raums die passenden Grundbausteine nur ansatzweise anzudeuten. Doch möchte ich das Ende dieses Beitrags gerne nutzen, um uns Skeptiker und Ironiker endgültig von der Illusion eines allumfassenden Stadtplans zu verabschieden, indem ich einen Gedankengang von Borges zitiere, ein Prosagedicht, das ironischerweise zu der Art von Allegorien gehört, die Benjamin begeistert hätten:
27 García Canclini, H. Culturas Híbridas. S. 321.
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„Von der Strenge der Wissenschaft ... In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geographischen Lehrwissenschaft. (SUÁREZ MIRANDA; Viajes de varones prudentes, Libro Cuarto, cap.XLV, Lérida, 1658).“28
28 Borges, J.L., El hacedor. In: ders., Obras Completas. 12. überarbeitete Ausgabe. Buenos Aires: Emecé, 2002. S.225 (deutsch: Borges, J.L.: Borges und ich, Gesammelte Werke, Bd. 6, München, 1982, S. 121). Vgl. dazu auch die informierte Parodie des Borgesschen Textes von Umberto Eco: „Die Karte des Reiches im Maßstab 1:1“, in: ders., Platon im StripteaseLokal, München: Hanser 1990, S. 85-97.
Annäherungen an die lateinamerikanischen Hyperstädte
Vom urbanisierten Subjekt zur Zerstörung des Urbanen HELMUT GALLE
Die Umstände, unter denen das Büchlein Berliner Kindheit von Walter Benjamin entstand, könnten suggerieren, dass es sich um ein weniger wichtiges Werk handle, das lediglich Produkt eines journalistischen Auftrags war und mehr aus Honorargründen denn seines Inhalts wegen weitergeschrieben wurde. In Wirklichkeit ist es jedoch umgekehrt. Benjamin wurde 1931 beauftragt, einige Großstadtglossen für die Zeitschrift Literarische Welt zu schreiben, doch entwickelte sich das Projekt rasch zu einem autobiographischen Bericht über seine Kindheit und Jugend: Berliner Chronik1. Dieser blieb unvollendet und wurde später als ein neuer autobiographischer Versuch weitergeführt, gewissenhaft in tableaux umgewandelt, sehr dichte, poetische und reflexive Bilder: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Von 1933 bis 1938 arbeitete der Autor an den Texten und ihrer Anordnung im Hinblick auf eine mögliche Buchpublikation, doch konnten trotz aller Bemühungen zu seinen Lebzeiten nur einige wenige der tableaux in Zeitungen erscheinen. Die erste Buchausgabe von Adorno, von 1950, erfüllt den Wunsch des Freundes, doch obwohl er die Texte in eine schlüssige Reihenfolge brachte, handelte es sich nicht um eine, die von Benjamin
1
Vgl. Benjamin, Walter. Berliner Chronik. In: -, Gesammelte Schriften [=GS]. Hrsg. von Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann. 7 Bände. Frankfurt/Main.: Suhrkamp, 1991, Bd. VI, S. 465-519.
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selbst festgelegt worden war; die Gesammelten Schriften2 enthielten eine erweiterte Fassung. Erst 1981 fand G. Agamben ein Manuskript, das der Autor anscheinend kurz vor seiner Flucht aus Paris versteckt hatte (GS VII). Die Überlegung der Herausgeber Tiedemann und Schweppenhäuser geht dahin, dass dieses „Handexemplar komplett die in den letzten Wochen vor Anfang Mai 1938 entstandene ‚Fassung letzter Hand’ ist“,3 die Benjamin 1938 für seinen eigenen Gebrauch und die weitere Korrektur zusammengestellt hatte.4 Zuguterletzt verfügen wir auch über eine erste Version, die vermutlich aus dem Jahr 1933 stammende, sogenannte „Gießener Fassung“, die später als die Gesammelten Schriften und völlig unabhängig von diesen als Buch herauskam.5 Die (wenigen) Korrekturen an den Texten selbst und die Änderungen der Titelabfolge zwischen der Gießener Fassung und der Ausgabe letzter Hand können uns als Hinweise dazu dienen, die Absichten des Autors im Prozess der Ausarbeitung seines Textes zu verstehen. Wenn dieses Buch dem Autor so teuer war, dass er es ständig vervollkommnen wollte – und er erwähnte dies in zahlreichen Briefen an seine Freunde –, dann müssen wir versuchen zu verstehen, welchen Stellenwert er ihm im Geflecht seiner Theorie einräumte. Dabei kann uns das Vorwort zur „Fassung letzter Hand“ helfen, das beinahe vollständig in einem Brief an Ferdinand Lion aus dem Mai 1938 wiedergegeben ist. Hier spricht Benjamin zunächst von einer Art „Impfung“, die ihm zur Zeit des erzwungenen Exils nötig erscheint: Er wollte Bilder seiner Kindheit in Berlin heraufbeschwören, die ihn gegen eine
2
Vgl. Benjamin, Walter. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: GS IV,
3
Vgl. Benjamin, Walter. Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung
4
Schöttker stellte fest, dass alle vorhandenen Versionen, bis zu einem be-
S. 235-304. letzter Hand) In: GS VII.1, S. 385-433; hier S. 694; kursiv im Original. stimmten Grade, Versionen der jeweiligen Herausgeber sind, nicht jedoch des Autors (Schöttker, Detlev. „Erinnern“ In: Benjamins Begriffe. Hrsg.: Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000. S. 260-298; hier, S. 268f.) In jedem Fall jedoch erlauben uns die Daten, die über die drei Versionen verfügbar sind, ein Urteil über die Entwicklung der Ziele Benjamins. 5
Benjamin, Walter. Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Giessener Fassung. Hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000.
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zukünftige Nostalgie bezüglich der Heimatstadt immunisieren sollten.6 Da er zur Immunisierung lediglich einer therapeutischen Dosis bedurfte, erklärte der Autor, dass die Erinnerung zugunsten der „notwendige[n] gesellschaftliche[n] Unwiederbringlichkeit des Vergangenen“7 auf unwesentliche individuelle, biographische Details verzichten kann. Mit diesen Worten weist der Autor bereits den Verdacht auf ein narzisstisches Motiv zurück,8 dem sich der Autobiograph aussetzt, und unterstreicht die Wichtigkeit der historischen Erfahrung, welche die Einzelerinnerungen sowohl ihm wie auch seinem Leser wieder ins Gedächtnis zu rufen vermögen. Anstelle eines Selbst- und Familienporträts, sagt Benjamin, wollte er „der Bilder habhaft […] werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt.“9 Anders als eine traditionelle Kindheit auf dem Land, inmitten der Natur, verfügt die urbane Biographie noch nicht über feste Formen, von daher können die von Benjamin in Erinnerung gerufenen Bilder womöglich von spezifischem Wert sein. Er spricht zuerst von einer besonderen Bestimmung, die auf diese Bilder warten könn-
6
„Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebenso wenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper.“ (GS VII.1, S. 385)
7
„Ich suchte es [das Gefühl der Sehnsucht] durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten.“ (Ebenda).
8
Das Motiv selbst lässt sich auch als ein Themenwechsel betrachten: In der Tradition des autobiographischen Genres fühlen sich viele Autoren verpflichtet, ihren Lebensbericht auf den allgemeinen Belehrungen fußen zu lassen, die diese mit sich bringen. Schon Goethe sah darin die bestimmende Rolle des historischen Kontextes: „dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“ (Goethe, J.W. von, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. München: dtv, 1998, Bd. 9, S. 9), wenngleich er letzten Endes versuchte, den erfolgreichen Prozess der Verbindung von Sozialem und Individuellem aufzuzeigen.
9
GS VII.1, S. 385; kursiv im Original.
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te.10 Danach bestimmt er diesen möglichen höheren Zweck genauer: „Dagegen sind die Bilder meiner Großstadtkindheit vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren.“11 Dieser Satz ist – sehr ähnlich der berühmten sechsten These über den „Begriff der Geschichte“12 – rätselhaft, da er nicht völlig klar werden lässt, ob es sich um eine unverstandene historische Konfiguration der modernen Stadt handelt, die sich der Analyse erst durch die Interpretation der holistischen Erfahrung des Kindes erschließt. In diesem Falle würde Benjamin die gegenwärtige (und zukünftige) Realität als eine Wirklichkeit ansehen, die einerseits undurchsichtig ist, andererseits aber in einer strukturellen Kontinuität mit der Realität Berlins um 1900 steht. Die „spätere geschichtliche Erfahrung“ wäre demnach ein Verstehen der historischen Bedingtheit der Gegenwart, die nur durch die literarische Darstellung der nicht funktionalisierten Wahrnehmung des Kindes möglich wird, welche sich so in eine Erfahrung des Erwachsenen verwandelt. Der interne Aufbau der Berliner tableaux zeigt, dass Benjamin tatsächlich eine Bergung dieser kindlichen Wahrnehmung suchte, die manchmal mit der Handlungsweise der archaischen Menschen verglichen wird,13 zugleich jedoch auch den Keim zu einer „rettenden“ Interpretation in sich trug, welcher aus der Gegenwart der sich
10 „Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist. Ihrer harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Lande verbrachte Kindheit zu Gebote stehen.“ (Ebenda). 11 Ebenda. 12 „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist’. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt.“ (GS I.2, S. 65). 13 Besonders das vermutliche Verhalten von Jägern und Sammlern: „Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns zu herrschen. […] Auf diesem mühevollen Wege ging der Geist des Todgeweihten in den Jäger ein. Die fremde Sprache, in welcher dieser Falter und die Blüten vor seinen Augen sich verständigt hatten – nun hatte er einige Gesetze ihr abgewonnen.“ (GS VII.1, S. 392f.) Adorno beschrieb den Charakter der Texte in einer ersten Reaktion als Suche nach dem „Mystischen“ im Irdischsten und Modernsten. (Brief an Kracauer von 21. November 1932, vgl. Adorno, Theodor W./ Benjamin, Walter. Briefwechsel 1928-1940. Hrsg. Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994. S. 31).
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erinnernden Person entspringt. Dies entspricht einem in der Berliner Kindheit ausgesprochenem Postulat: „Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. […] der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt.“14 Die Denkbilder enthalten eine noch konkretere Version dieser Idee: „So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde.“15 Dieser Ort bezieht, wie wir sehen, den topographischen Ort, mit dem die Erinnerung verknüpft ist, ebenso mit ein wie die Assoziationen, die sie im Bewusstsein begleiten. Das Vorwort fügt einen weiteren Satz hinzu; wir wissen nicht, ob dieser sich auf die Art der zuvor angekündigten historischen Erfahrung bezieht, oder ob es sich um eine separate Beobachtung handelt: „In diesen [den Bildern, H.G.] wenigstens, hoffe ich, ist es wohl zu merken, wie sehr der, von dem hier die Rede ist, später der Geborgenheit entriet, die seiner Kindheit beschieden war.“16 Sollte etwa diese Erfahrung von Hilflosigkeit und Verfolgung bereits in den Bildern des Kindes vorgegeben sein? Wenn dem so ist, wäre es eher erneut die Interpretation des erwachsenen Intellektuellen, der diese Komponente dessen freisetzt, was eigentlich friedlich und geborgen erschienen war. Andererseits ist darauf zu insistieren, dass die Erinnerung keine bloße Konstruktion des Subjektes ist, sondern dass sie sich auch auf Erlebnisse des Kindes bezieht, die erinnert werden und die sich so zur Erfahrung wandeln, indem sie in ein Verhältnis zur Gegenwart gesetzt werden. Ohne dieses Verhältnis zum bereits vergangenen Leben würde das Wort „präformieren“ („Bilder [die] in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung […] präformieren“) jeglichen Sinnes entbehren. Die in den Bildern der Berliner Kindheit dokumentierte Erfahrung spiegelt in verschiedenen Ausmaßen konkrete Orte und historische Momente wider. Die verschiedenen topographischen Elemente des wilhelminischen Berlins, die in den Titeln auftauchen („Loggien“, „Kaiserpanorama“, „Siegessäule“, „Tiergarten“, „Steglitzer Ecke Gen-
14 GS VI, S. 486. 15 GS IV.1, S. 401 – Siehe auch Schöttker, op.cit., S. 266f. 16 GS VII.1, S. 385.
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thiner“ usw.) verweisen auf eine objektive Realität, die in Fotografien, Texten und Artefakten dieser Zeit dargestellt ist, eine Realität, die allen Berlinern gemein ist. Vielfach taucht diese Objektivität in Anspielungen, erklärenden Kommentaren oder im generischen Plural auf: „Loggien“17, im Fall jenes konkreten überdachten Balkons der Familie Benjamin, die Information über den Niedergang der großen Panoramen,18 oder die Erwähnung des Umstandes, dass die Siegessäule mit dem Verschwinden des Kaiserreichs obsolet geworden ist.19 Andererseits deuten die Namen auf die persönliche Art hin, in der das Kind die Orte wahrnimmt. Die Loggia und der Hof seines Elternhauses stellten die Bedingungen seiner Entwicklung dar. Sie bestimmten die Art und Weise, wie es den inneren und äußeren Raum wahrnahm, den Verlauf der Zeit, den Wechsel der Jahreszeiten; später dienten sie als Erlebnisgrundlage für seine Lektüren. Es sind also die Loggien seiner Kindheit, die es zu zeigen ermöglichen, wie sich das geistige Leben des noch unschuldigen Kindes formt, jedoch die Retrospektive des Erwachsenen schreibt ihnen zugleich eine seinem aktuellen Schicksal entsprechende Eigenschaft zu: Sie waren und sind unbewohnbar, doch gewährt gerade dies den Trost „für den […], der selber nicht mehr zum Wohnen kommt.“20 Diese dritte Dimension, die der Gegenwart des sich erinnernden Autors, erscheint im Kapitel „Tiergarten“ noch klarer, das in der Version Adornos das Buch eröffnet und dem Anfang der Berliner Chronik entspricht. Der Erzähler kommt auf die Spaziergänge durch Berlin mit seinem Freund Franz Hessel zu sprechen, die es ihm erlauben, diese Stadt, in der er lebt, jenseits der Funktionen kennen zu lernen, die die Bewohner routinemäßig in Anspruch nehmen. Indem er die Wahrnehmung des städtischen Raumes entautomatisiert, beginnen die Straßennamen, „zu dem Irrenden so [zu] sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde wider[zu]spiegeln.“21 Wenn sich die Realität selbst schon dem Flaneur auf außerordentliche Weise öffnet, ist es die Stadtlandschaft seiner Kindheit, die unwillkürliche Erinne-
17 Ebenda, S. 386. 18 Ebenda, S. 388. 19 Ebenda, S. 389. 20 Ebenda, S. 387. 21 Ebenda, S. 393.
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rungen hervorzurufen vermag, Erinnerungen, die zwar nicht zum Wissenssystem22 des Erwachsenen gehörten, jedoch in der Lage sind, eine vollständige Erfahrung des Kindes zu rekonstruieren. Der Autor „kennt“ noch jene Verse, die die bunten Scheiben ihm beim Rasten auf dem Treppenabsatz offenbarten, doch ist es erst die erneute Konfrontation mit den alten Treppen, die die körperliche Erinnerung heraufbeschwört, dass diese Verse „nach der Schule die Intervalle meines Herzschlags füllten, wenn ich im Treppensteigen halt machte. Sie dämmerten mir von der Scheibe, wo ein Weib, schwebend wie die Sixtinische Madonna, einen Kranz in den Händen haltend, aus der Nische trat. Die Riemen meiner Mappe mit dem Daumen auf meinen Schultern lüftend, las ich ab: ‚Arbeit ist des Bürgers Zierde / Segen ist der Mühe Preis’.“23 Zu diesen drei Dimensionen der Wirklichkeit gesellt sich eine vierte. Die Kulturlandschaft der Stadt ist voll von Zeichen: Namen, mythologische Statuen, Denkmäler, die historistischen Zitate der Architektur, Plakate mit Werbung oder amtlichen Verlautbarungen. Diese Bedeutungsschicht stellt einen Code dar, der auf die geschichtliche Tiefe verweist, auf die Komplexität der industriellen Zivilisation und auf die bürgerliche Ideologie des Kaiserreichs. Der Erwachsene weiß den Code zu entschlüsseln und mittels vorher erworbener Kenntnisse zu analysieren. Die blitzartigen Erkenntnisse erschließen ihm jedoch auch die „merkwürdigen“ Interpretationen des Kindes. Dieses archaische Weltverständnis ist von seinem Ansatz her richtig, das Äußere nur in Verbindung mit dem subjektiven Inneren und umgekehrt zu verstehen. Es ist gerade die kindliche Blindheit für die „entwickelten“ Funktionen der Dinge, die es ihm erlaubt, seine Erfahrungen mit Hilfe von diesen Elementen zu identifizieren, die später dem Erwachsenen erlauben, jene Erfahrungen unter den Trümmern der Funktionalisierung der Welt wiederzuentdecken.
22 Mit „Wissenssystem“ bezeichnen die Neuropsychologen den Gedächtnisbereich, in dem unsere Erinnerungen in systematischer Form, eben als Wissen, abgespeichert sind; den dazu komplementären Bereich bildet das episodische Gedächtnis, das dem willkürlichen Zugriff nicht zugänglich ist. Vgl. Harald Welzer. Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck, 2002. S. 24 f. 23 Ebenda, S. 395.
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Die Botschaften, die der Erzähler aus seiner Kindheit empfängt, sind daher insofern ein Trost, als dass sie ihm auch die Dürftigkeit des scheinbaren, vergangenen Idylls aufzeigen. Zugleich sind sie andererseits entschlüsselte Versprechungen, die ihn im Verlauf seines Lebens mit ihrer berauschenden „Luft“ begleiten wie der Gesang der Karyatiden der Loggien, jene Luft, die seine Liebesabenteuer umgab wie auch die Bilder, die sein allegorisches Denken bestimmen.24 Zwischen dieser glücklichen Atmosphäre der Loggien und ihrer Unbewohnbarkeit, zwischen dem rauschhaften Leben und der Unbehaustheit Todes, breitet sich das Spektrum der Bilder aus, die angeblich die nachträgliche historische Erfahrung präformieren. In einer fast schon hegelianischen Formel wird erklärt, dass die Loggia der kindlichen Erfahrung das Reich des Stadtgottes ist: „In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf.“25 Diese wenigen Beispiele sollen eine Idee davon vermitteln, wie in der Berliner Kindheit die Erinnerungen an das wilhelminische Berlin dazu benutzt werden, in der Gegenwart jene Brüche aufzuzeigen, die für Benjamin den internen Widersprüchen des modernen Kapitalismus entsprechen. Es ließ sich beobachten, dass Benjamin das Labyrinth der Stadt so benutzt wie die Meister der Rhetorik ihre topographischen Raster dazu gebrauchen, Motive der Rede mit einem Netz von Orten zu verknüpfen, ein mnemotechnisches System für die Praxis des Rhetors und Autors.26 Doch im Gegensatz zur antiken Mnemotechnik erfindet Benja-
24 „Die Karyatiden, die die Loggia des nächsten Stockwerks trugen, mochten ihren Platz für einen Augenblick verlassen haben, um an dieser Wiege ein Lied zu singen, das wenig von dem enthielt, was mich für später erwartete, dafür jedoch den Spruch, durch den die Luft der Höfe mir auf immer berauschend blieb. Ich glaube, daß ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt; und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens.“ (Ebenda, S. 386). 25 Ebenda, S. 388. 26 Schöttker, op.cit., S. 270ff.
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min weder eine künstliche Topographie, noch instrumentalisiert er eine bekannte Landschaft, um eine Rede auswendig zu lernen. Die loci sind nicht willkürlich gewählt, sondern Orte seiner Kindheit, die den Ersten Weltkrieg, das Ende des Kaiserreiches und die Weimarer Republik überlebten. Es sind Orte, die außerdem über eine historische Bedeutung verfügen, die das Leben des Subjektes überdauern und die ihm, wie Jan Assmann es ausdrückt, durch das kollektive oder „kulturelle“ Gedächtnis zur Verfügung gestellt werden. Dieser erweiterte Horizont lässt den Westen Berlins zum Okzident der Antike werden, indem er überlagert wird von jener mystischen Realität, die über seine Kindheit herrschte und die nun wieder über den sich erinnernden Wanderer herrscht.27 Der Umstand, der die unwillkürliche Erinnerung und die historische Reflexion über die Gegenwart erlaubt, ist die Präsenz der Objekte, die imstande sind, das Gedächtnis anzuregen. Das bedeutet, dass sie überdauern müssen, wenn auch verstaubt und heruntergekommen. Wenn das Haus, die Straße, die allegorische Fensterscheibe verschwunden sind, muss wenigstens ein Verzeichnis ihrer Namen existieren, ein Foto, das sie dokumentiert, damit der Prozess des Heraufbeschwörens der Vergangenheit beginnt und ihre Verwandlung in eine Gestalt des Verstehens eingeleitet wird. Nicht nur in diesem Aspekt unterscheidet sich Berlin wie die meisten europäischen Städte von den amerikanischen Metropolen, insbesondere von einem Phänomen wie São Paulo. Während Benjamin seine höchsten Erkenntnisse an Orten und in Momenten findet, in denen das Innere und das Äußere, Vergangenheit und Gegenwart, Raum und Zeit ineinanderfließen, so tendieren in São Paulo die Gegensätze zu einer immer strikteren Trennung. An dieser Stelle ist von der räumlichen Struktur zu sprechen, die die physische Erfahrung der brasilianischen Metropole des 21. Jahrhunderts so stark prägt. Das Fehlen einer Stadtplanung, welche die raren räumlichen Ressourcen an die Bedürfnisse der Fußgänger verschwenden würde, macht es vollends unmöglich, dass ein wie auch immer gearteter Flaneur unbedacht einfach dahin gehen könnte, wohin ihn seine Füße tragen: Er würde unmittelbar einem der Autos zum Opfer fallen, die völlig bedenkenlos aus den Parkgaragen und über die Bürgersteige schießen, oder einem Motorradfahrer, der einer stark be-
27 GS VII.1, S. 395.
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fahrenen Straße von der Fahrbahn ausschert, oder aber den allgegenwärtigen Bodenlöchern und Hindernissen. Zu Fuß entspannt durch die Straßen von São Paulo zu gehen ist praktisch unmöglich, und der Verkehr vollzieht sich beinahe ausschließlich in geschlossenen Fahrzeugen: Wer kann, benutzt das Auto, weil es sicherer, schneller und bequemer ist. Auf diese Weise gibt es keinen Raum für die körperliche Erfahrung der zufälligen Begegnung. Die Kinder der Oberschicht betreten so gut wie nie öffentliches Gelände, es sei denn, es handelt sich um den abgeschotteten Raum des Condominio28, der Schule, des Einkaufszentrums, des Klubs. Die soziale Mischung der Straßen Berlins, das zufällige Aufeinandertreffen mit Armen, Prostituierten und Bettlern, das Walter Benjamin als Kind erlebt hat, kommen in der Stadterfahrung der oberen Mittelschicht São Paulos nicht vor, oder sie wandeln sich zu etwas anderem: Besuche einer außerirdischen Rasse, die nach eigenen Regeln in nicht zugänglichen Räumen lebt. Wenn also für Benjamin die Kunst des Sich-Verlaufens notwendige Bedingung für die Resemantisierung der Stadt ist, so lässt sich konstatieren, dass sich in einem Ballungsraum wie São Paulo niemals jene topographische Kompetenz erreichen lässt, die zum Verstehen der Gesamtstruktur nötig wäre, da zur Orientierung notwendigen Charakteristiken fehlen: Es gibt nicht ein Zentrum und eine Peripherie, sondern eine Verkettung von unzähligen Zentren, die eigentlich Vororte sind und die alle einander ähneln. Im wilhelminischen Berlin waren es die Übergangszonen, die ein Erkennen der Aufstiegsbewegungen unter der Oberfläche der offensichtlich stabilen Ordnung ermöglichten. In São Paulo mit seinem den Bewohnern der favelas überlassenen alten Zentrum und seiner krebsartigen Ausbreitung von Geschäftsvierteln, Wohngegenden und Erholungsgebieten fehlen räumliche Anhaltspunkte, die es dem Subjekt ermöglichen würden, seinen eigenen Stand-
28 Unter einem brasilianisches Condominio ist ein Wohnkomplex (in der Regel ein Hochhaus) zu verstehen, den die Bewohner im Wesentlichen durch die Garage verlassen, es sei denn, sie führen ihren Hund selbst spazieren. Lediglich die Domestiken (auch die Mittelschicht verfügt über Hausangestellte) betreten das Gebäude zu Fuß. Der Eingang wird Tag und Nacht von Portiers überwacht, die Türen öffnen sich nur für autorisierte Besucher.
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punkt in Bezug auf die Macht und Richtung zu bestimmen, in die sich die sozialen Akteure bewegen.29 Der zweite frappierende Unterschied betrifft die zeitliche Struktur der amerikanischen Metropolen. Die Überraschung, die Claude LéviStrauss angesichts von Städten wie New York, Chicago und São Paulo ausdrückte: Wenngleich ihnen tausend Jahre Geschichte fehlen, präsentieren sie sich doch in einem Zustand fortgeschrittener Dekadenz: „Denn sie sind nicht nur neu erbaut: sie sind erbaut, um sich mit derselben Geschwindigkeit zu erneuern, in der sie errichtet wurden, das heißt schlecht.“30 Für São Paulo gilt das heute vielleicht noch mehr als in den 1930er Jahren, als der französische Anthropologe schrieb, dass der Metropolenraum, mit Ausnahme einiger weniger Stadtteile im Zentrum, über keinerlei „historische Gebäude“ verfüge, sondern nur über die Häuser, die jeden Tag gebaut und zerstört werden und die kaum länger als eine oder zwei Generationen stehen bleiben; letzterer Umstand ist in der Qualität der Bauweise begründet, aber auch in den städtischen Bauprojekten, vor allem aber in der Dynamik des Immobilienmarktes. Das Straßenbild vermag es kaum, Erinnerungen heraufzubeschwören, da nach einigen Jahren bereits nur noch wenig wiederzuerkennen ist, denn ständig müssen Blocks und ganze Stadtteile einer neuen Autobahn, einem Einkaufszentrum oder einem hermetisch abgeriegelten Wohnkomplex weichen.31
29 Rudolf Stichweh betont das Phänomen, dass die europäische Stadt als Labor der Moderne einem Modell der Vergangenheit gleicht, das sich nicht wiederholen wird, während Konstellationen wie Silicon Valley oder die City of London zeitgemäßere Modelle der Dezentralisierung sind. (Vgl. Stichweh, Rudolf. Die Weltgesellschaft. Soziologische Analyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. S. 202f.). 30 Lévi-Strauss 1978, S. 87. 31 Vgl. die ähnliche Beobachtung von Vilém Flusser: „Gegenwärtig – und es ist notwendig, ‚gegenwärtig’ zu sagen, weil sich ihr Aussehen seit meiner Ankunft im Jahre 1940 wiederholt bis zur Unkenntlichkeit verändert hat – sieht São Paulo etwa folgendermaßen aus […]“ (Flusser, Vilém. „Alte Codes und neue Codes: São Paulo“ In: Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert. Hrsg. Prigge, Walter. Frankfurt/Main: Fischer, 1992, S. 196-219) Die Radikalität, mit der die historischen Städte sich an der Schwelle zur Moderne in etwas komplett anderes verwandeln, wurde
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Konsequenterweise bedient sich der Dokumentarfilm Urbania, im Jahr 2001 von Flávio Frederico in São Paulo gedreht, einer Methode, die der Benjamins entgegengesetzt ist: Statt seine Erinnerung von den Orten anregen zu lassen, setzt der alte, blinde Protagonist seine aktiven Erinnerungen der völlig veränderten Wirklichkeit entgegen, die nicht ihm, aber dem Zuschauer sichtbar ist. Der Film zeigt die Jugenderinnerungen des Blinden anhand von Ausschnitten aus authentischen Dokumentationen aus den Vierziger Jahren und stellt sie den dekadenten Szenen der Gegenwart gegenüber. Die Objekte in den Straßen São Paulos vermögen somit nicht, ein menschliches Bewusstsein auf seine eigene Kindheit zu verweisen, und viel weniger noch auf eine tatsächliche oder bedeutsame Geschichte, so wie dies die Siegessäule, die Monumente im Tiergarten oder die Karyatiden der historistischen Architektur Berlins tun. Die einzigen Überbleibsel der Vergangenheit in den Straßen von São Paulo sind in vielen Fällen hohe Bäume, Vertreter einer zyklischen, fortdauernden Natur, nicht jedoch des Geschichtsverlaufs. Das Subjekt, das in einer europäischen Stadt wohnt, verfügt über ein äußeres Gedächtnis der städtischen Artefakte, ein wie die Schrift entzifferbares Archiv; in einer lateinamerikanischen Stadt ist das Subjekt tendenziell auf seine persönliche Erinnerung verwiesen, ein Verlust, der sich mit dem Unterschied der Erinnerungsmöglichkeiten zwischen Kulturen mit mündlicher und schriftlicher Tradition vergleichen lässt. Zugleich muss in einer Stadt, deren Einwohnerzahl zwischen 1887 und 2003 von 47.697 auf 17,5 Millionen32 angestiegen ist, der Anteil derer, die in der Stadt geboren sind, stets kleiner sein als der Anteil jener, die erst als Erwachsene zu ihren Einwohnern geworden sind.33 Letztere haben die Stadt nie mit den Augen eines Kindes gesehen. Für
bereits von Angel Rama festgestellt. (Rama, Angel. La ciudad letrada. Montevideo: Fundación Internacional Angel Rama, S. 31). 32 In der Stadt selbst leben zur Zeit (2006) 10,5 Millionen Menschen, der Großraum São Paulo hingegen „beherbergt“ ungefähr 17.5 Millionen Einwohner. (Zarattini, Carlos. „Circular (ou não) em São Paulo“ Estudos Avançados 17 (2003), S. 185-201; hier, S. 185). 33 Zwischen 1890 und 1934 bewegte sich allein der Ausländeranteil zwischen 55 und 28 Prozent. (Vgl. Fausto, Boris / Devoto, Fernando J. Brasil e Argentina. Um ensaio de história comparada (1850-2002) São Paulo: editora 34, 2004. S. 179).
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diese war und ist die Stadt eine Umwelt, die allen ihren Erfahrungen von Schutz und Sicherheit Hohn spricht, sie ist die Erfahrung der unbeherrschbaren, unerforschlichen Veränderung par excellence. Wenn das Erscheinungsbild Berlins das Verstehen von zeitlichen Bedeutungsschichten – einschließlich der Naturgeschichte des menschlichen Subjektes und der Vorgeschichte des Kapitalismus – erlaubt, so offenbart die Oberfläche von São Paulo keine zeitliche Tiefe, sondern verweist den Beobachter immer nur auf ihre und seine Gegenwart und eine abschüssige Zukunft. Ich sage nicht, dass diese Oberfläche keine hermeneutischen Lesarten zuließe, aber diese benötigten einen anderen Ansatz als den Benjamins, der in der Geschichte die kausalen Zusammenhänge sucht, die gerade in der undurchsichtigen Oberfläche der Gegenwart nicht wahrnehmbar sind. Die Oberfläche des öffentlichen Raums ist von einer anderen Phänomenologie gekennzeichnet: der Kontrast zwischen der hässlichen, schmutzigen und unordentlichen Wirklichkeit der Gebäude und Straßen einerseits – Gebilde, die so amorph und dekadent sind, dass sie jeglicher Bedeutung zu entbehren scheinen – und der Hyperästhetik der riesigen Werbeplakate andererseits, die die Reklame mit all ihren Versprechungen von Schönheit, Glück, ewiger Jugend usw. darstellen.34 Im Gegensatz zur fortgeschrittenen Korrosion der wirklichen Welt verschwinden die Werbeplakate lange vor jedem Anzeichen des Alterns und bleiben so wie makellose Fenster zu einer anderen Wirklichkeit bestehen, einer virtuellen Wirklichkeit, die mit den Bestandteilen des Stadtlebens unvereinbar ist. Was daraus folgt, ist eine Strategie, die alle Einwohner von São Paulo gleichermaßen anwenden: der selektive Blick, der nur die Elemente wahrnimmt, die der Erwartung von Ordnung und Schönheit entsprechen, und der sich der vollen Wahrnehmung der Realität entzieht. Müsste der Versuch zur „Rettung“ mit dieser selektiven Wahrnehmung ein Ende machen und sich der authentischen Wirklichkeit São Paulos aussetzen? Ich bezweifle es; wahrscheinlich wäre das Leiden größer als das Verständnis. Von diesem „urbanen“ Raum, der schon kein öffentlicher, geordneter und historischer Raum mehr ist, kann das Subjekt nicht viel mehr lernen, als dass die Diskrepanz zwi-
34 Ein Erlass der Präfektur von São Paulo von 2007 hat Abhilfe geschaffen, indem diese Werbeplakate, sogenannte „outdoors“, schlicht verboten wurden.
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schen dem zerstörerischen Lebensumfeld, das außerhalb seiner Privatsphäre herrscht, und dem Jenseits der Phantasie, die durch die visuellen Medien genährt wird, unversöhnlich ist.35 Die Spannung wird auf eine unerreichbare Zukunft projiziert und hält „die Maschine“ in Bewegung. Die autobiographisch-urbane Schrift Benjamins bietet, soweit ich sehe, keinen Schlüssel zum Verständnis dieser brasilianischen Realität. Sie wurde unter anderen Bedingungen konzipiert, bezeugt andere historische Rahmenbedingungen und hegt andere Hoffnungen als die Schriften, deren Interpretation meine Verzweiflung angesichts der Entwicklung der lateinamerikanischen Metropole vielleicht mildern könnte.
35 Soweit ich es überblicke, legt auch die Monographie über die „Fisiognomia da Metrópole Moderna“ von Willi Bolle nicht nahe, dass Benjamins Text besonders geeignet sei, um die lateinamerikanischen Metropolen zu verstehen, sondern eher entsprechende Werke von Mário de Andrade und neueren brasilianischen Autoren. (Vgl. Willi Bolle. Fisiognomia da Metrópole Moderna. Representação da História em Walter Benjamin. São Paulo: Edusp, 2000, S. 34 f.).
Benjamins Konzept des dialektischen Bildes und die Filmstadt in A margem FÁBIO RADDI UCHÔA
E INLEITUNG Die Schriften Benjamins über das Paris des Second Empire entfalten sich mittels einer bestimmten, charakteristischen Methode: die Schaffung von dialektischen Bildern. Sein Hauptanliegen ist das historische Erwachen, ein Moment des Bruchs, in dem die Zeit stillsteht und die Vergangenheit anhand ihrer Beziehungen zur Gegenwart wieder aufgegriffen wird. In den Worten des Philosophen: „Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jene Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.“1 Der Bruch, der von diesem Benjaminschen Werkzeug ausgeht, das auf dem Surrealismus und dem historischen Materialismus fußt, offenbart Verbindungspunkte zu: a) jener vom Kino geförderten Art der Wahrnehmung, die einerseits der des in der Masse versteckten Menschen entspricht und andererseits eine gewisse Art von Freiheit erlaubt; b) der Verzweigung zwischen der Stadt im Film und der tatsächlichen Stadt. Im Film A margem des Regisseurs Ozualdo Candeias wird die Stadt São Paulo auf einzigartige Weise rekonstruiert, die auf räumlichen und zeitlichen Dualitäten basiert. Diese gewinnen dadurch an
1
Benjamin, W. Passagen-Werk. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1983. S. 59.
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Dichte, dass man sie auf Basis des dialektischen Bildes betrachtet und diskutiert. Von der Idee ausgehend, mögliche Kontaktpunkte zwischen dem Benjaminschen Konzept und der Filmstadt in A margem zu untersuchen, ist die vorliegende Arbeit in drei Abschnitte unterteilt, die folgendes leisten sollen: a) die Beschreibung des Films A margem und der darin dargestellte Stadt, b) die Diskussion der Herangehensweise Walter Benjamins an das Kino sowie einiger relevanter Züge des Konzeptes des dialektischen Bildes und c) die Wiederannäherung an die dargestellte Stadt anhand des besprochenen Konzeptes.
D ER F ILM A M ARGEM A Margem wurde 1967 produziert, kurz vor der Verschärfung des brasilianischen Militärregimes,2 die 1968 durch den Acto Institucional n° 5 (AI-5) festgeschrieben wurde. Die geringen Ressourcen, das zur Produktion des Films zu Verfügung stand – der Mangel an Geld, das Zurückgreifen auf unerfahrene Schauspieler und die Auswahl des heruntergekommenen Gebietes am Rande des Tietê-Flusses als Drehort – sind ebenso wie die Vorliebe für den Müll und die fehlende Linearität hinsichtlich der Spannung Eigenschaften, die ihn in eine Reihe mit weiteren Filmen stellen, die zwischen 1968 und 1974 entstanden sind, dem sogenannten Cine Marginal.3 Eine erste Annäherung an den Film kann schon durch eine Analyse des suggestiven Titels geschehen: A margem4. Der erste mögliche Bezug sind die Produktionsbedingungen des Films. Ähnlich wie im Falle anderer als „marginal“ angesehener Werke, mehrheitlich ebenfalls Filme von Ozualdo Candeias, stellt die Aufführungsphase nicht die Hauptsorge dar. Es handelt sich um Produktionen am Rande des Filmmarktes, die mit einem seiner wichtigsten Punkte brechen: mit der Aufführung. Im Falle von A margem bedeutet dies, dass der Film
2
Bereits am 31. März 1964 hatten die Generäle den bis dato regierenden Präsidenten João Goulart aus dem Amt geputscht; die darauf folgende Militärdiktatur dauerte bis 1985 an. (Anmerkung des Übersetzers).
3
Ramos, Fernão. Cine Marginal (1968-1973). São Paulo: Editora Brasiliense, 1987.
4
Wörtlich “Der Rand” (Anmerkung des Übersetzers).
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kaum eine Woche lang in den Kinos lief, wodurch er zu einem Aufführungsflop wurde, der die Schwierigkeiten aufzeigt, die die Zuschauer beim Verständnis des Films hatten, und zugleich eine gewisse ästhetische Marginalität verdeutlicht. Der Titel des Films bezieht sich auch auf einen physischen Raum der Stadt São Paulo: die Ufer des Tietê-Flusses. Wie Zeitungsartikel aus der Zeit um die Premiere des Films verkünden,5 wurde ein Teil der Dreharbeiten an besagtem Fluss durchgeführt. Die Einstellungen, die eine Brücke - vermutlich in der Gegend von Vila Gulherme -, verlassene Schuppen und den Tietê selbst zeigen, verleihen der Stadt im Film einige Merkmale der wirklichen Stadt und reißen sie aus dem Zusammenhang: das Sumpfige, die Verwahrlosung und mangelnde Hygiene erscheinen bald traumhaft, bald schockierend. Als randständig sind auch die Herkunftsumstände der dargestellten Personen zu bezeichnen, sowohl im Bezug auf die Gesellschaft wie auch auf die Stadt São Paulo. Wie Machado Jr. anführt, gehören die Protagonisten von Ozualdo Candeias allesamt zu Randgruppen, sie sind Ausgestoßene, die typisch sind für das Lumpenproletariat: ohne Einbindung in das Produktionssystem, treiben sie sich an den Ufern des Tietê herum.6 A margem erzählt die Geschichte einer Prostituierten, eines dekadenten Kleinbürgers, eines Dienstboten, der später auf den Strich geht, und eines Verrückten. Zwei Paare, die nach der Ankunft eines Bootes, das ihren Tod ankündigt, an den Ufern des Tietê und im Stadtzentrum von São Paulo umherschweifen. Sie befinden sich in einer sozioökonomischen, räumlichen, ja sogar existenziellen Situation des Bruches mit herkömmlichen Lebensumständen. Der Umgang der Paare und der anderen Personen, mit denen sie in Kontakt kommen, zeugt in Bezug auf den offiziellen Markt von Ausschluss und Notdürftigkeit: Sie sind Müllsammler, Prostituierte, um Almosen
5
Vgl. Blanco, Armindo. „Amor com flor e algum salame.“ In: O Globo, Rio de Janeiro, 4.12.1967; Ferreira, Reynaldo, D. “A margem” In: Correio Brasiliense, Brasília, 1.12.1967; Pereira, Miguel. “Filme de Arte: A margem” In: O Globo, Rio de Janeiro, 29.11.1967; Rodrigues, Jaime. “A margem, um filme admirável” In: Correia da Manhã, Rio de Janeiro, 2.3. 1968; Vianna, Antônio Moniz. “A margem” In: Correia da Manhã, Rio de Janeiro, 18.14.1968.
6
Machado Júnior, Rubens. São Paulo vista pelo cinema. São Paulo: Centro Cultural São Paulo, unveröffentlicht.
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flehende Bettler, Lastwagenfahrer und ein Dienstbote. Der Ort, an dem sie leben, das Flussufer, liegt am Rande der staatlichen Sanierungs-, Sicherheits- und Wohnbauprojekte. Im Rahmen der Diegese des Films ist seine Dauer die Zeitspanne, die zwischen der Todesankündigung durch die Person auf dem Boot – dessen möglicher Vergleich mit Charon, der Unterweltgottheit aus der klassischen Mythologie, der die Toten über den Fluss Styx führt, einen Hauch von Mythologie über das Gebiet des Flusses wehen lässt – und ihrer Realisierung liegt. Ein subtiler einleitender Moment der Spannung zwischen Leben und Tod. Eine der Besonderheiten, die aus den Filmen von Ozualdo Candeias hervorsticht, ist die ständige Wandlung der Protagonisten. Diese Bewegungen, die für Bernadet an die französischen Avantgardefilme der 1920er Jahre erinnern,7 vereinen im spezifischen Falle von A margem verschiedene Räume der Stadt und schaffen so zwischen diesen Kontraste und Gemeinsamkeiten. Es lassen sich zwei Haupträume ausmachen, die von den Protagonisten frequentiert werden – die Umgebung des Tietê-Flusses und das Stadtzentrum von São Paulo – und deren Charakterisierung und Gegenüberstellung zum Verständnis der Gesamtstruktur des Films von großer Wichtigkeit sind. Jedem dieser Räume entspricht jeweils ein Stil und eine Art von Verhältnis der Personen zu ihrer Umwelt, die anhand von zwei Filmstellen beschrieben werden können. Die erste Einstellung nach dem Vorspann des Films ist ein subjektives, vertikales Panorama, das sich vom Boden eines Kanus aus bis zum Horizont erstreckt. Es handelt sich um den Blick einer Person, die sich mit einem Kanu langsam von den schäbigen, schlammigen Ufern des Flusses (des Tietê) her nähert. Bedingt durch das langsame Dahingleiten des Kanus auf dem Wasser richtet sich der Blick des Protagonisten zum Ende des Bootes und schließlich weiter nach oben, auf eine notdürftige Holzbrücke. Neben dieser, inmitten des Matsches, beobachtet ein Mann die Anfahrt. Im Hintergrund, der durch die Zersplitterung der Landschaft zerbröckelt ist, fahren Autos über eine Allee (die sogenannte Marginal Tietê). Von hier an schwenkt das subjektiv angelegte Panorama langsam nach links, ein Schwenk, der die Bewegung des Kanus kompensiert, um sich dem Blick des Mannes anzunä-
7
Bernadet, Jean-Claude. „Jean-Claude Bernadet“ In: Puppo, E.; Albuquerque, H.C. (Hrsg.) Ozualdo R. Candeias. São Paulo: Centro Cultural Banco do Brasil, 2002, S. 33.
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hern. In dieser ersten Einstellung finden sich einige Elemente, die den ersten Teil des Films bestimmen sollen: die personenorientierten Kameras, der verinnerlichte Blick und die langsamen Bewegungen der verschiedenen Landschaftselemente sowie der Protagonisten selbst, deren Körper dazu neigen, sich mit der Verwahrlosung der Landschaft zu vermischen. Ab der Mitte des Films lassen die Irrwege der Protagonisten diese das Stadtzentrum erreichen, genauer gesagt den Viaducto do Chá. Die erste Einstellung, in der diese Gegend auftaucht, zeigt Brüche im Verhältnis zu den Bildern am Anfang des Films. Eine statische plongée zeigt von der Spitze eines Gebäudes aus, wie der Viadukt von einem Verrückten (Betinho) überquert wird, der den Autos trotzt, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, wo sich einer seiner Freunde befindet. Von dieser Stelle des Film an, während des Schlenderns durch das Stadtzentrum, wird die subjektive Kameras weniger konstant, der Blickwinkel entspringt nun nicht mehr den Personen selbst, die sich mit etwas spontaneren Bewegungen den Autos und der Menschenmenge aussetzen. Die Filmstadt São Paulo in A margem ist eine Umordnung der tatsächlichen Stadt, die durch die räumliche Dualität Rand-Zentrum charakterisiert wird. Man kann sogar noch weitergehen und sagen, dass zu dieser Stadt zwei Dualitäten gehören: eine stilistische und eine zeitliche. Die Bezugnahme auf die Gegend des Tietê ist in der Entstehungszeit des Films, im Jahre 1967, kein Zufall. Gegen Ende genau jenes Jahrzehntes sind die Straßen neben den Flüssen Pinheiros und Tietê fertiggestellt und werden dem Hauptstraßensystem der Metropole einverleibt, womit sie zu einem Projekt zur Entlastung des Stadtzentrums von São Paulo beitragen.8 Der Viaducto do Chá ist das Symbol der Expansion über das zentrale Dreieck der Stadt hinaus – vom alten bis zum erweiterten Stadtkern –, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfand. Dies war ein Moment der Konsolidierung der Kaf-
8
Vgl. Meyer, Regina M. Prospero. Metrópole e Urbanismo. São Paulo: 1991 [Doktorarbeit an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung. Universidade de São Paulo] Vgl. auch Meyer, Regina; Grostein, Marta Dora; Biderman, Ciro. São Paulo Metrópole. São Paulo: Editora da Universidade de São Paulo, Imprensa Oficial do Estado de São Paulo, 2004.
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feeindustrie sowie diverser architektonischer Veränderungen, die sich die englische Architektur zum Vorbild nahmen.9 Die dargestellte Dualität – zunächst räumlich und stilistisch und schließlich zeitlich – kann, auch wenn man ihre jeweiligen historischen Besonderheiten bewahrt, mit dem Bruch in Verbindung gebracht werden, der für Benjamins dialektisches Bild so typisch ist. Mit anderen Worten: Die Filmstadt in diesem Werk von Ozualdo Candeias erfährt, wenn sie vom Konzept des dialektischen Bildes ausgehend neu überdacht wird, neue Bedeutungen und erlaubt auf diese Weise eine Neuerörterung der beschriebenen Dualität. Indem wir diesem Gedanken folgen, werden wir nun einige Aspekte der Filmkunst und des Konzeptes des dialektischen Bildes im Zusammenhang mit Benjamins Werk untersuchen.
D IE H ERANGEHENSWEISE W ALTER B ENJAMINS AN DAS K INO : K AMERA - UND M ONTAGETECHNIKEN Vom Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ausgehend lässt sich der Status ausmachen, den das Kino im Kontext der Theorie Walter Benjamins einnimmt. Wie der deutsche Philosoph und Medientheoretiker schreibt: „Der Film ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats – Veränderungen wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt.“10 Das Kino ist ein Phänomen der modernen Stadt, das mit einer speziellen Produktions- und Wahrnehmungsart verbunden ist. Seine Produk-
9
Segawa, Hugo. „São Paulo, veios e fluxos: 1872-1954“ In: Porta, Paula (Hrsg.) História da cidade de São Paulo, v.3 São Paulo: Paz e Terra, 2004, S. 341-385.
10 Benjamin, W. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ In: Benjamin, W. Gesammelte Schriften, Bd I.2 Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 431-508; hier S. 464.
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tionstechnik – die technische Reproduzierbarkeit – erlaubt nicht nur die massenhafte Verbreitung, sondern macht diese auch, und vor allem, obligatorisch. Die Dutzende von Bildwechseln pro Sekunde erscheinen den Massen als eine Art der Wahrnehmung, die das Großstadtleben ihnen zwangsläufig abverlangt. Dieser Wahrnehmungstyp verfügt über Charakteristiken wie z.B. die Tendenz, die Dinge dazu zu bringen, dass sie einem naherücken, und die Überwindung der Einzigartigkeit aller Ereignisse durch ihre Reproduzierbarkeit. Er gehört zu einer Art von Existenz, in der die Vorherrschaft der technischen Reproduzierbarkeit die einmalige Existenz und die Authentizität des Kunstwerkes einer Umwertung unterwirft, indem er seine Aura zerstört und seine soziale Funktion verändert: „In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit in der Kunstproduktion versagt, hat sich die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual ist ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“11 Wenngleich es für die kollektive Rezeption produziert wird und so mit der Ablenkung und Entfremdung der Massen verbunden ist, verfügt das Kino doch über ein befreiendes Potenzial, das durch seine Kamera- und Montagetechniken ermöglicht wird: „Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“12 Die Kamera – mit ihrem Abtauchen und Auftauchen, ihren Unterbrechungen und Isolierungen, Ausdehnungen und Beschleunigungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen – erlaubt die Untersuchung eines traumhaften Raumes, der für das menschliche Auge unsichtbar ist, indem sie erstmals die Erfahrung des optischen Unterbewusstseins eröffnet. Auf diese Weise erlaubt es das Kino, eine Bresche zwischen der Welt des menschlichen Bewusstseins und jener der Träume zu
11 Ebenda, S. 442. 12 Ebenda, S. 461.
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schlagen, zwischen dem noch nicht bewussten Wissen und dem Erwachen. Hinsichtlich der Montage lässt sich sagen, dass das Kino mit ihrer Hilfe in radikaler Form den Beginn der Fragmentierung durchführt: Die isolierten Elemente bedeuten nichts, und der Sinn entsteht aus einer Kombination heraus, die einer neuen Gesetzmäßigkeit folgt. Als Ergebnis wird eine neue Natur erschaffen, eine Natur zweiter Ordnung, formuliert anhand der andauernden Zusammenstöße, die vom Zuschauer eine vor allem berührbare Wahrnehmung verlangt. Das Schlagen einer Bresche zwischen der Welt des Traumes und der des Wachens, die durch die Kameratechniken und die Erarbeitung von Zusammenstößen ermöglicht werden – letztere wiederum begünstigt durch die Montage – erzeugt einen Widerhall bezüglich des Arbeitsinstrumentes des historischen Materialismus bzw. der Erzeugung der dialektischen Bilder.
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Unter jenen, die das Werk Walter Benjamins kommentieren, ist es nicht unüblich, das Konzept des dialektischen Bildes als eine der wichtigsten Kategorien seiner Geschichtsschreibung anzusehen. Dieses Projekt beginnt in den ersten Entwürfen des Passagenprojektes, zwischen 1927 und 1929, und begleitet die Arbeit des Philosophen bis zu seinen letzten Schriften, den Thesen Über den Begriff der Geschichte. Ursprünglich von Aragon angeregt, schlägt Benjamin das dialektische Bild als ein Werkzeug zur Entschlüsselung der Mythologie der Moderne vor, die in den kollektiven Träumen des 19. Jahrhunderts vorkommen. Statt wie die Surrealisten in der Traumsphäre zu verbleiben, schlägt Benjamin vor, die Konstellation des Erwachens zu finden, Produkt einer dialektischen Unternehmung, in der das noch nicht Bewusste mit dem wachen Bewusstsein verbunden wird. Dieses Verhältnis zwischen zwei Bewusstseinszuständen, für dessen Verhältnis sich der Philosoph ebenfalls vom Werk Prousts inspirieren lässt, ergibt sich nicht zufällig, sondern ist vielmehr das Ergebnis einer Konstruktion. Diese Operation hat ein besonderes zeitliches Verhältnis zum Hintergrund, in welchem der Augenblick der Gegenwart als ein Erwachen verstanden werden muss, auf das sich die Vergangenheit bezieht: „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die
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Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? […] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem.“13 Benjamins Kritik richtet sich an den Historizismus und das dogmatischen Fortschrittkonzept der deutschen Sozialdemokratie der Weimarer Republik, und er regt im Gegensatz dazu ein Geschichtsverständnis an, das eine Sprengung des Geschichtskontinuums vorsieht. Die Vergangenheit ist nicht mehr ein ewiges Bild, sie ist eine einzigartige Erfahrung, die im Moment von Zusammenstoß und Bruch unwiederbringlich aufblitzt: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“14 Der Vorgang der Sprengung des Geschichtskontinuums, von der Erschaffung eines neuen Bruchmomentes ausgehend, hat die Fragmentierung und Neuzusammensetzung zur Grundlage, die der Filmmontage eigen sind. Fragmente der Vergangenheit und der Gegenwart werden neu in eine Zusammensetzung gefügt, die unwiederbringlich kurz aufblitzt und deren Gestaltung durch den historischen Materialismus entlarvt werden muss.
N EUERÖRTERUNG DER S TADT IM F ILM ANHAND DES K ONZEPTES DES DIALEKTISCHEN B ILDES Die gefilmte Stadt als Studienobjekt gründet sich auf ein Abweichen von der wirklichen Stadt. Wie Comolli schreibt, zeigt das Kino eine zuvor nicht sichtbare Stadt: „La ville du cinéaste ne serait donc pas seulement le visible de la ville. Il se peut, même, que cet écart par rapport au visible soit la dimension juste du cinema [...]“15 Die Filmstadt entsteht aus diesem Abweichen von der sichtbaren Stadt, als Ergebnis eines Ästhetisierungs- und Intensivierungsprozesses der Formen der
13 Benjamin, W. „Über den Begriff der Geschichte“ In: Benjamin, W. GS I.2, S. 691-704; hier S. 293f. 14 Ebenda, S. 695. 15 Comolli, Jean-Louis. „La ville filmée“ In: Althabe, Gérard; Comolli, JeanLouis. Regards sur la ville. Paris: Centre Georges Pompidou, 1994, S. 1315; hier S. 17.
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tatsächlichen Stadt. Im Kontext des Films A margem bekommt das Abweichen von der tatsächlichen Stadt den Hauch eines Bruches. Es handelt sich um eine Stadt von abstoßender Farbe, lehmig und verkommen, die von Personen bewohnt wird, deren Verhältnis zu Arbeitsmarkt und Gesellschaft prekär sind. Andererseits verankern die Anspielungen auf Orte, die von den Zuschauern wiedererkannt werden können, wie die Umgebung des Tietê und der Viaducto do Chá, die noch einige ihrer radikalisierten Eigenschaften innehaben, die Filmstadt in der wirklichen. Die Stadt São Paulo des Films A margem liegt zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen oder – angelehnt an Kategorien Benjamins – zwischen dem noch nicht bewussten Wissen und dem Erwachen. Die vom Kino mit seinem Dynamit der Zehntelsekundenaufnahmen erschlossene Stadt ist durch den Weg der Protagonistenkörper neu eingeteilt worden, und zwar in zwei Haupträume – Stadtrand und zentrum –, deren Dualität für die interne Struktur des Films von großer Wichtigkeit ist. Die räumliche Annäherung, die durch die Montage erlaubt wird, übernimmt die Bedingung einer zeitlichen Annäherung von Elementen verschiedenen Alters. Vergangenheit und Gegenwart, Viaducto do Chá und die Brücke über den Tietê werden eins. Der Raum des Randes und seine zeitliche Verankerung, die Gegenwart 1960er Jahre, erscheinen als Mittelpunkt: Der Film beginnt und endet in diesem Raum, dem Ausgangs- und Zielpunkt des Weges, den die handelnden Personen auf sich nehmen. Indem er, wie im Verfahren des dialektischen Bildes, diesen Kontaktpunkt zwischen zwei verschiedenen Zeiten möglich macht, rettet der Film die dazwischenliegende existente Kontinuität. Es handelt sich um einen Akt der Urbanisierung sowie der Ausbreitung des Straßennetzes einer Stadt, die auf einem Sumpfgebiet liegt und sich aus zahlreichen Ufern und Tälern zusammensetzt, die überwunden werden müssen. Die duale räumliche Struktur des Films bestätigt den der besagten Bewegung der Stadt eigenen Ausschluss, der sich später zur Suburbanisierung sowie zur Entwicklung eines peripheren Urbanisierungsregisters verfestigt.16 Die Gegenüberstellung Zentrum-Peripherie,
16 Vgl. Bolaffi, Gabriel. „Habitação e urbanismo: o problema e o falso problema.“ In: Maricato, Hermínia (Hrsg.) A produção capitalista da casa (e da cidade) no Brasil industrial. São Paulo: Alfa-Omega, 1979; Bonduki, Nabil G. „Habitação popular: contribução par o estudo da evolução urbana
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die von den Geographen und Urbanisten untersucht wird, nimmt im Film die Form Zentrum-Rand ein, und zwar in einem Bereich, in dem der Ausschluss und die Verkommenheit radikalisiert sind. Man kann zwischen der Erzeugung der dialektischen Bilder und der Filmstadt in A margem zwei Arten von grundlegenden Gemeinsamkeiten ausmachen: den bruchhaften Charakter des Verlaufs und die etablierte Zeitstruktur. Als Bruch zeigt A margem zahlreiche bereits beschriebene Aspekte, die von seiner Produktion bis zur Zeit der Diegese des Films reichen, mit der eigentlichen Stellung der Filmstadt zur wirklichen Stadt dazwischen: einer Abweichung. Durch die Irrwege der Protagonisten werden die Räume der Stadt auf konstellative Weise, nach einer neuen Logik, umgeordnet. Die räumliche Dualität ZentrumRand nimmt die Form eines zeitlichen Bruchs an, der es erlaubt, Seite an Seite die Konstruktion des Viaducto do Chá und der Marginal Tietê hinzuzufügen, so als ob sie denselben Ursprung hätten. Die Vergangenheit deutet die Gegenwart um und ermöglicht so eine Neuerörterung der Ursprünge und eine Entfaltung der Urbanisierung der Stadt São Paulo, und zwar vom spezifischen Blickwinkel auf die Expansionsprozesse des Straßennetzes und der Suburbanisierung aus.
de São Paulo.” In: Valladares (Hrsg.) Debates urbanos 3. Rio de Janeiro: Zahar, 1983.
São Paulo: Zwei Fotografen, die eine unbewusste Optik der Stadt offenbaren MÁRCIO SELIGMANN-SILVA
„C’est la mode qui fixe la place de tout“, lesen wir in einem der vielen Zitate, die Benjamin in seinem Passagen-Werk zusammengetragen hatte.1 Der Satz ist typisch für diese Arbeit, die aus dem Paroxysmus des Zitierens, Anhäufens und Zusammenfassens entstanden ist. Es handelt sich sozusagen um eine Textstelle aus dritter Hand: Alphonse Karr wird von Benjamin anhand eines Zitates in Theodor Vischers Aufsatz Mode und Zynismus von 1879 zitiert. Der ganze Satz bei Karr lautet: „Rien n’est tout à fait à sa place, mais c’est la mode qui fixe la place de tout.“2 Die Mode ist für Benjamin nicht nur diese paradoxe Figur, die in der Moderne allem seinen Platz zuweist. Benjamin betrachtet sie auch unter der Prämisse des (freudianischen und marxistischen) Fetischismus, der mit Recht die Verschiebungen und Verdunklungen des Signifikanten hervorhebt. Ihm zufolge hat „gerade in diesem trockensten, phantasielosesten Jahrhundert sich die gesamte Traumenergie einer Gesellschaft mit verdoppelter Vehemenz in d(as) undurchdringliche lautlose Nebelreich der Mode geflüchtet […], in d(as) der Verstand ihr nicht folgen konnte. Die Mode ist die Vorgänge-
1
Benjamin, Walter. Das Passagen-Werk. In: –. Gesammelte Schriften. Hrsg. von R.Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt a/M.: Suhrkamp, 1982, GS V.1, S. 111.
2
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rin, nein, die ewige Platzhalterin des Surrealismus.“3 Diese, um es so auszudrücken, positive Seite der Mode wird in der Benjaminschen Theorie der dialektischen Bilder wiederbelebt, die sich der Mode als Modell des „Tigersprungs“ unter dem freien Himmel der Geschichte bedient. Künstler und Modeschöpfer haben so einen Scheinwerfer auf das gerichtet, was kommen wird. Benjamin beobachtete in seiner Aphorismussammlung Einbahnstraße von 1928, dass Mallarmé in der Werbung „das Wahrbild des Kommenden“ wahrnahm und „zum ersten Male im ‚Coup de dés’ die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild verarbeitet[e]“. Auf den Werbeplakaten der Stadt entdeckt Benjamin nach fünf Jahrhunderten der Horizontale, die das Buch durchgesetzt hatte, eine Revolution der Schrift. Wie er 1928 in prophetischem Ton schrieb: „Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden dichter mit jedem folgenden Jahr werden.“4 Im vorliegenden Text möchte ich einen Gedanken zu einigen der aktuellen Entfaltungen darlegen, die diese Theorie Benjamins über die Schrift und die Moderne in sich trägt. Es geht dabei darum, die Stadt als Raum dieser Schrift zu begreifen, in der die Werbung einen wichtigen Platz einnimmt. Außerdem finden wir in der Oberfläche der Stadt andere Schriften wieder, die Produkte der Zeit sind und ihre Spuren in der Abnutzung und der Veränderung einer Landschaft hinterlassen, die steinern und zugleich vergänglich ist. Um diese von Benjamin inspirierte Leseübung auszuführen, habe ich die Stadt ausgewählt, in der ich geboren wurde und heute noch lebe: São Paulo, eine Megalopolis, deren Einwohnerzahl die zehn Millionen übersteigt, zwanzig Millionen gar, wenn man die Einwohner des Großraums São Paulo zählt. Als „Leser“ und „Dolmetscher“ dieser Stadt habe ich zwei Persönlichkeiten ausgesucht, die sowohl zeitlich als auch in ihrer Herangehensweise an die Großstadt sehr weit voneinander entfernt sind: einerseits Claude Lévi-Strauss, der 1935 nach São Paulo kam, um dort einer der Mitbegründer der USP5 zu werden. Als junger Mann von 27 Jahren entpuppte sich der Philosoph in São Paulo als Ethnologe mit einem Blick auf
3
Ebenda, S. 113.
4
Benjamin, Walter. Einbahnstraße, in GS IV.1, S. 83-148; hier: S. 102-104.
5
Universidade de São Paulo, die größte Universität Brasiliens und eine der größten Lateinamerikas (Anmerkung des Übersetzers).
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das „Andere“ und auf die Einbeziehung der Andersartigkeit der normalerweise vergessenen Räume und Personen. Andererseits werden wir eine Reihe von Bildern des Fotografen Carlos Goldgrub betrachten, der in Buenos Aires geboren wurde, sich in São Paulo niedergelassen hat und für seine Arbeiten schon mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Bei Goldgrub beziehen wir uns auf ein ganz bestimmtes Werk, Outdoors, das vor einigen Jahren in São Paulo entstanden ist. Meine Idee ist, durch die Annäherung zweier zeitlich und ästhetisch voneinander entfernter Lesarten, die von Benjamin bezüglich der Mode, der Stadt, der Fotografie, der Schrift und der Moderne entwickelten Theoreme zueinander in Relation und dabei zugleich auf die Probe zu stellen. Es handelt sich nicht um ein Treffen von „Drillingen im Geiste“, sondern, wie ich glaube, um den Versuch, viele der ausdrücklichen und verborgenen Dialoge zwischen drei in die Stadt verliebten Lesern aufzuzeichnen. Benjamin mit seinem mächtigen Intellekt, seiner Betrachtung der Zeit und seiner Fähigkeit, Gedankenbilder zu formen; Lévi-Strauss mit seiner Kamera und seinen schlüssigen Beobachtungen der Städte des amerikanischen Kontinents; und schließlich Goldgrub mit seiner professionellen Kamera, die einen einzigartigen Ausschnitt der Stadt erstellt, ihre Oberfläche einreißt und so ihre Träume, Alpträume und Phantasien enthüllt.
B ENJAMIN : M ODE , S EXAPPEAL DES ANORGANISCHEN , DIALEKTISCHE B ILDER UND DIE T RÜMMERLANDSCHAFT DER M ODERNE Für Benjamin umreißt die Mode eine Dialektik zwischen dem Tode, der geisterhaften Berufung auf die Ware und dem sexuellen Genuss, vor allem in Form des weiblichen Körpers. Dieser Körper offenbart sich als eine Art Leichnam, der von innen heraus die Mode bewegt. So jedenfalls lesen wir es in einem seiner Fragmente: „Hier hat die Mode den dialektischen Umschlageplatz zwischen Weib und Ware – zwischen Lust und Leiche – eröffnet. […] nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib und zwischen geller memorierter Lache
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bitter geflüsterte Zwiesprach mit der Verwesung. Das ist Mode. Darum wechselt sie so geschwinde […]“6. Die Mode konzentriert in sich eine Dialektik, die an das erinnert, was sich zwischen der Libido und dem Todestrieb entfaltet. In ihr treffen sich Sex und Tod in einer Art Absolutem. Daher der Ausspruch Benjamins, „[…] daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist, als eine Idee.“7. Der immerwährende Friede leuchtet in der Mode auf, flüchtig wie der Tod und wie die Revolution. Die „zeitlose […] Wahrheit“ existiert jetzt nur noch in dieser vorübergehenden Form.8 Das Vaterland, das Zuhause, sind Ergebnisse der Mode und kosten das Leben. Sie besänftigt die Beklommenheit des modernen Individuums mit seiner Identitätsangst, seiner Suche nach Anerkennung. Die Mode erlaubt es, dass wir uns, wie Benjamin schreibt, „contemporaine de tout le monde“ fühlen.9 Zur selben Zeit, unterdrückt von einer raschen Vergänglichkeit, der Diktatur des Neuen, ist die Mode, wie Valéry schrieb, „périssable par essence“10. Die Mode würde so Gedächtnis und Geschichte ausblenden, indem sie diese ersetzt, und würde das Ausmaß der Zeit auf das Jetzt des Neuen reduzieren. Daran macht Benjamin fest, dass „Moden […] ein Medikament [sind], das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens, im kollektiven Maßstab, kompensieren soll. Je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet.“11 Benjamin stellt hier die Triade zusammen, die einem Kommentar von Eduard Fuchs in der Illustrierte(n) Sittengeschichte vom Mittelalter bis zu Gegenwart zufolge von drei Erkenntnissen getragen wird: 1) Die Mode folgt der Unterscheidung zwischen den Klassen (von daher auch ihre ständige Modifikation: Die unteren Klassen imitiert die Mode der oberen, die dadurch ihrerseits neuer Unterscheidungsmerkmale bedürfen); 2) Die Mode reagiert auf die Notwendigkeit von Handelsbeziehungen im Kapitalismus; 3) Die Mode
6
Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 111.
7
Ebenda, S. 118.
8
Ebenda, S. 578.
9
Ebenda, S. 115.
10 Zitiert nach: ebenda, S. 123. 11 Ebenda, S. 131.
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fungiert auch als erotischer Stimulus. In ihr müssen die erotischen Elemente unter ständig wechselnden Gesichtspunkten auftauchen.12 Davon ausgehend formuliert Benjamin, indem er über diese Triade hinausgeht, treffend die Idee, dass die Mode den Tod gerade mittels eines „sex-appeal des Anorganischen“13 überwindet. Die Mode „ […] verkuppelt den lebendigen Leib der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt die Mode die Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem sex-appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.“14 Dieser Fetischismus lässt sich anhand der Worte im Kapital von Marx verstehen: „Die Form des Holzes wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht; nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“15 Die doppelte Verbindung des Modephänomens, einerseits mit der Revolution (zumindest als zeitliches Modell, das sich durch Brüche und Sprunghaftigkeit auszeichnet) und andererseits mit den herrschenden Klassen, bedingt die uneindeutige Haltung Benjamins ihr gegenüber. Von Brecht ausgehend macht Benjamin in der ewigen Änderungsbewegung, die der Mode immanent ist, eine Maske ausfindig, die in Verbindung zu den tatsächlichen, konservativen Werten der herrschenden Klasse steht.16 In seinen Thesen über den Begriff der Geschichte, die der Revolution in ihrem Verhältnis zur Mode gewidmet ist, lesen wir: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. […] Die französische Revolution verstand sich als ein wie-
12 Ebenda, S. 128. 13 Ebenda, S. 130. 14 Ebenda. 15 Ebenda, S. 262. 16 Ebenda, S. 121.
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dergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.“17 Ein anderer wichtiger Aspekt der Mode, den Benjamin hervorhebt, ist ihre Fähigkeit, die Utopien ihrer Zeit darzustellen. Sein Passagenprojekt versuchte gerade, die Mode und die Architektur des 19. Jahrhunderts als Ausdrücke von Traum und Utopie zu deuten. Diese Interpretation sollte die Wünsche wieder zu einem Teil der Politik machen und sie in den Bereich der Geschichte einführen.18 Dabei geht es darum, aus dem Traum des 19. Jahrhunderts zu erwachen, der durch die in der Mode zelebrierten und im Inneren der Passagen ausgestellten Traumfiguren repräsentiert wird. Diese Passagen seien wie die Träume, „welche keine Außenseite haben“.19 Einer der Wege zum Erwachen ist die Konfrontation mit den Werbeplakaten: „Mode wie Architektur stehen im Dunkel des gelebten Augenblicks, zählen zum Traumbewußtsein des Kollektivs. Es erwacht – z.B. in der Reklame.“20 Die Werbung ist es auch, die Benjamin als eine Art Hinterlist der Kunst ansieht, die sich von Beginn des 19. Jahrhunderts an entwickelte und unfähig war, mit dem Rhythmus der Technik Schritt zu halten. Die Werbung sollte die Form sein, die die Phantasie in der Epoche der Industrie ausfüllt.21 Benjamin entwickelt eine Theorie der Lesart und Interpretation der Bilder als eine Art Gegengift gegen die archaisierende Sichtweise eines C.G. Jung, der in den Bildern Vertreter einer ewigen, unveränderlichen kollektiven Zeit sah. Benjamin dagegen politisiert die Bilder in seiner Betrachtung. Dazu erklärt er in seiner Theorie über die dialektischen Bilder:
17 Benjamin, Walter. Über den Begriff der Geschichte, in GS I.2, S. 691-704; hier, S. 701. 18 Benjamin, Walter. Das Passagenwerk, S. 497ff. 19 Ebenda, S. 513. 20 Ebenda, S. 497. 21 Ebenda, S. 232.
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„Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf die Vergangenheit wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder.“22 Das dialektische Bild ist auch ein “Traumbild”23 oder “Wunschbild”24, indem das Moderne seine Protogeschichte zitiert, „das heißt eine[…] klassenlose[…] Gesellschaft“25. Diese Form, die das Neue und das Utopische überlagert, hinterlässt Benjamin zufolge seine Spuren, „ […] die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat.“26
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DER SAUDADE […] „La forme d’une ville / change plus vite, hélas ! Que le coeur d’un mortel.“ Baudelaire, Tableaux parisiens Ein Kapitel seiner Tristes Tropiques von 1955 widmete Claude LéviStrauss seinen Eindrücken über die Stadt São Paulo. Dieses Kapitel beginnt mit einem Satz, der zum Klassiker geworden ist: „Ein Spötter hat behauptet, Amerika sei wie ein Land, das vom Zustand der Barbarei direkt in die Dekadenz gefallen ist, ohne die Kultur gekannt zu haben.“ Dieser diplomatisch-verallgemeinernden Aussage fügt der Autor hinzu: “Mit größerem Recht könnte man diese Definition auf die Städte der Neuen Welt anwenden: ihre Jugend verblüht, ohne daß sie geal-
22 Ebenda, S. 578 (Hervorhebungen: M.S.-S.). 23 Ebenda, S. 55. 24 Ebenda, S. 47. 25 Ebenda. 26 Ebenda.
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tert sind.“ 27 Es ist diese Abwesenheit des Alten, die in São Paulo einen Großteil der Aufmerksamkeit des Ethnologen auf sich zieht. Anstelle der Patina der Zeit und dem Zauber des Alten sieht er die grausame Gegenwart der Zerstörung und Dekadenz. „Für die europäischen Städte bedeutet der Verlauf der Jahrhunderte einen Aufstieg; für die amerikanischen dagegen bedeuten schon wenige Jahre einen Niedergang.“28 Diese amerikanischen Städte ohne Gedächtnis, die sich „sehr schnell entwickeln“ 29, sind wie Trümmerfabriken. In ihnen schließt die Mode der vornehmeren Viertel mit ein, dass Jahrzehnt um Jahrzehnt neue Stadtteile entstehen und die alten dem Vergessen anheimgegeben werden. Diese Städte, merkt der Denker an, leben “ […] fieberhaft in einem Zustand chronischer Krankheit; sie sind ewig jung und doch niemals gesund.“30 Heute könnte man sie mit den „Replikanten“ aus dem Film Blade Runner vergleichen: jung und stark, aber mit einer kurzen, vorgegebenen Gültigkeitsdauer. In diesen Städten hinterlässt die Zeit schnell ihre Spuren und Verwüstungen. Es ist schwierig, nicht eine Parallele zwischen Lévi-Strauss’ Beschreibungen von Chicago und New York und Benjamins berühmter These über den Engel der Geschichte zu ziehen, der vor sich als Zeichen des Fortschritts die Anhäufung von Trümmern und Zerstörung sieht. Lévi-Strauss betrachtet Chicago als die „[…] Stadt, die immer wieder auf ihren eigenen Trümmern aufbaut und dadurch ständig höher wird.“31 São Paulo wird beschrieben als eine Stadt, die ein bloßes Trugbild zu sein scheint: so etwas wie eine Studioeinrichtung, die schnell für eine Filmaufnahme errichtet wurde. Statt „hässlich“ nennt der Autor sie „wild“. Demnach ist es kein Zufall, dass das Bild, dass er zur Beschreibung der Gebäude im Valle del Anhangabaú gebraucht, eine Metapher aus dem Bereich der Natur, eine animalische ist: Sie werden verglichen mit einer Herde verschiedener Arten von Säugetieren, die sich um eine Wasserquelle scharen. Doch entbehrt auch dieses Bild nicht einer zeitlich begrenzten Bedeutung: „Die Entwicklung der Tiere vollzieht sich langsamer als das städtische Leben; würde ich heute denselben Ort betrachten, so
27 Lévi-Strauss, Claude. Traurige Tropen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 86f. 28 Ebenda, S. 87. 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 Ebenda.
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müßte ich vielleicht feststellen, daß die hybride Herde verschwunden ist: niedergetrampelt von einer kräftigeren und homogeneren Rasse von Wolkenkratzern, die sich an diesen Ufern niedergelassen hat, Ufern, die durch eine Autobahn mit Asphalt versteinert worden sind.“32 Dies ist tatsächlich eingetreten. Doch deshalb wird Lévi-Strauss’ Verhältnis zu den urbanen und natürlichen Landschaften, die er in Brasilien vorgefunden hat, nicht weniger intensiv. Ganz im Gegenteil ist es eher so, als hätte diese Landschaft im damals noch jungen Forscher eine Leidenschaft für das Defekte ausgelöst hat. Diese Leidenschaft wird in den Bänden Saudades do Brasil (1994) und Saudades de São Paulo (1996) deutlich. Das erste dieser Bücher beginnt im Proustschen Ton, in dem der Autor die starken Gefühle beschreibt, die die Reize in den Tagebüchern seiner Reise, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, bei ihm auslösen. Es sind diese Reize, mehr als die fotografischen Bilder, die für die stärksten Erinnerungen verantwortlich sind, wie etwa für die saudade oder „Nostalgie“. Im Buch über Brasilien finden wir eine breite Auswahl von Fotos von Lévi-Strauss’ gesamtem Aufenthalt, mit Bildern von São Paulo, anderen Städten des Landesinneren, von Indianerstämmen und Wäldern. Die Geschichte Brasiliens, die wir in knapper Form in der Einleitung des Bandes lesen, zeigt, dass sich der Autor nicht nur vom baufälligen Panorama der Städte und des Landes angezogen fühlt, sondern dass er auch ein Konzept von der Vergangenheit als einer phantastischen Anhäufung von Barbareien hat. Was der Anthropologe hierbei besonders betonen möchte, ist das Ausmaß der Massaker an den Indianern. Dabei zielt er auf die Größe der indigenen Kulturen Brasiliens und dreht dabei die normalerweise unterstellte Hierarchie der indigenen Völker Amerikas um: Forschungen würden nachweisen, so Lévi-Strauss, „[…] daß die Besiedlung von Amazonien weit hinter das zehnte Jahrtausend zurückreicht. Muß man in Erinnerung rufen, daß viele Archäologen in Amerika noch dem Dogma anhängen, daß dieses Jahrtausend dasjenige war, in dem der Mensch auf dem Wege über die Bering-Straße zum erstenmal nach Amerika eindrang? Dennoch tauchen in der südlichen Hemisphäre und, genauer noch, gerade in Brasilien hier und da weit ältere Daten menschlicher Besiedlung auf […] Zwar sind manche Befunde noch umstritten, aber es besteht keinerlei Zweifel mehr daran, daß die Vorstellungen von der
32 Ebenda, S. 93f.
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Besiedlung Amerikas sich radikal zu ändern beginnen.“33 Durch diese Geschichtsrevision wird sein Epos noch mehr von Dekadenz und Barbarei geprägt. Lévi-Strauss erscheint wie ein Zeuge der Völker, die „[…] einen wahrhaft monströsen Genozid […]“34 überlebt haben, der von der Ankunft der Europäer bis heute andauert. Er sah „[…] die letzten Überlebenden jenes Kataklysmus, der für ihre Vorfahren die eigene Entdeckung und die nachfolgenden Übergriffe bedeuteten.“35 Der Band über São Paulo beginnt seinerseits mit einem Gedankengang zum „unübersetzbaren“ Begriff saudade, der die beiden Bände prägt: Es ist gerade so, als ob der Autor in ihnen eine zugleich universelle und unübersetzbare Erfahrung vorstellt, bezüglich seiner Verankerung in persönlichen Gefühlen. Doch ist die Definition von saudade, die Lévi-Strauss liefert, nicht nur originell, sondern sie sagt auch noch viel mehr aus, als das Wort eigentlich bedeutet. Es handelt sich dabei um eine kleine Geschichtsphilosophie oder, wenn wir so wollen, um eine Poetik der Vanitas: „Wenn ich, im Titel eines kürzlich veröffentlichten Buches, mit Brasilien (und São Paulo) den Begriff saudade verband, so geschah das nicht, um meine Abwesenheit von diesen Orten zu beklagen. Meine Klage wäre dem, was ich nach so vielen Jahren nicht wiederfinden würde, unnütz. Ich beschwor vielmehr jenes Erschauern im Herzen, das wir fühlen, wenn wir gewisse Orte erinnern oder wiedersehen und durchdrungen werden von der Gewissheit, dass es nichts Dauerndes und Sicheres auf der Welt gibt, auf das wir uns stützen könnten.“36 Auch ist es bemerkenswert, dass der Autor in diesem Eröffnungstext seinen Strukturalismus auf seine Verbindung zur von Autoren wie
33 Lévi-Strauss, Claude. Brasilianisches Album, München/Wien: Hanser 1995, S. 12f. 34 Ebenda, S. 13. 35 Ebenda, S. 15. 36 Lévi-Strauss, Claude. Saudades de São Paulo, São Paulo: Companhia das Letras 1996, S. 17 (hier und in der Folge bis einschließlich Fußnote 40 sind die Zitate aus dem brasilianischen Original übersetzt worden, da von diesem keine deutsche Übersetzung vorliegt, Anmerkung der Herausgeber).
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Goethe und Wilhelm von Humboldt begründeten Tradition zurückführt.37 Diese Autoren (zu denen in derselben Zeile auch noch Wilhelms Bruder Alexander mit einbezogen wird) gehören zu einer Tradition der Betrachtung der Naturgeschichte der Menschheit, die auch in vielen Abschnitten Benjamins Widerhall findet. Damit ist, in LéviStrauss’ Worten, ein Winkel und eine morphologische Herangehensweise gemeint, die aus der Naturbeobachtung entspringt. Auch ein Autor wie W.B. Sebald führte diese Tradition in seinen Romanen fort. Trotzdem muss diese morphologische Herangehensweise im Falle des Ethnologen aus Paris als eine Art psychoanalytischer Blick betrachtet werden, der sich mit dem Wissen eines Lesers der Städte mischt, eines Experten der Kunst, durch sie zu spazieren. Lévi-Strauss ist stolz darauf, mit seinen 1935 gemachten Vorhersagungen über das damals kleine Londrina (das zu dieser Zeit nur knapp dreitausend Einwohner zählte) richtig gelegen zu haben.38 Lévi-Strauss hatte sich eine Vorstellung gemacht vom „[…] zukünftigen Aussehen der Stadt, und ich war sicher dass, selbst im Falle die Planer sich gegenüber dem städtischen Raum indifferent verhalten sollten, die unbewussten mentalen Strukturen sich diese Indifferenz zu Nutze machen würden, um in das unbewohnte Terrain einzudringen und sich in ihm symbolisch oder konkret auszudrücken, ein wenig wie die unbewussten Sorgen sich Träume zu Nutze machen, um sich Geltung zu verschaffen“,39 oder sogar, wie wir hinzufügen können, sich zur Offenbarung ihrer selbst bei unseren Fehlleistungen zu bedienen. Lévi-Strauss ging davon aus, dass seine Vorhersagen wahr geworden waren, weil er in São Paulo gelebt hatte, wo der Akt des „[…] Erkundens der Stadt auf langen Spaziergängen […]“ ihm beigebracht hatte, „[…} den Plan der Stadt und aller ihrer konkret sichtbaren Aspekte wie einen Text zu behandeln, der gelesen und analysiert werden musste, um verstanden zu werden.“40 Wie für Benjamin, so geht es also auch für Lévi-Strauss darum, die Städte und die Welt zu lesen. Rufen wir uns einen Abschnitt des Berliner Philosophen in Erinnerung: „Die historische Me-
37 Ebenda, S. 13. 38 Die Stadt Londrina (wörtlich: „kleines London“) im brasilianischen Bundesstaat Paraná war erst im Jahre 1934 gegründet worden; heute zählt sie knapp eine halbe Million Einwohner. (Anmerkung des Übersetzers) 39 Ebenda, S. 16. 40 Ebenda.
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thode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt. ‚Was nie geschrieben wurde, lesen‘ heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.“41 In seinem Buch über São Paulo hebt Lévi-Strauss unter anderem seine Lesart der Hinweise auf das baldige Verschwinden hervor, das den Gebäuden der Stadt eingeschrieben ist.42 Seine Fotos heben diese Suche des Archäologen avant la lettre hervor, der in der Stadt eine ewige andauernde Ruinenkonstruktion erkennt. Strauss zeigt das Zentrum dieser alles durchdringenden Stadt, mit seinen verschiedenen modernen Gebäuden, in dem Moment, in dem er die Kamera auf das richtet, „was man nicht fotografieren darf“ (Abb. 1). Er zeigt die andere Seite des Fortschritts, nämlich die Häuser der Armen im Vale do Itororó (Abb. 2), inmitten der Großstadt, die zeigen, dass, wie Benjamin sagte, jeder Beleg von Kultur auch ein Beleg von Barbarei ist. Inmitten des Straßenbahnverkehrs überrascht er den Hirten, der seine kleine Herde über die Rua da Liberdade (Abb. 3) treibt. Auf der Straße fängt er die Werbeplakate ein, die Hinweisschilder auf zu verkaufende und vermietende Immobilien und die auf Japanisch verfassten Schilder, die an die japanische Kolonisation des Nordens des Bundesstaates Paraná erinnern. Seine meist horizontalen Aufnahmen von São Paulo zeigen klar seine Intention, sowohl die Stadt wie auch deren Aneignung durch ihre Bewohner zu dokumentieren. Volksfeste, Menschen, die inmitten der hektischen Bewegung der alltäglichen Unruhe durch das Zentrum wandeln, die halb verlassenen Straßen der besseren Viertel, das Haus, in dem er wohnte, die Silhouette der Straßenzüge, die Verkehrsmittel, die aufgehängte Wäsche: Nichts entgeht der Linse dieses Fotografen, der sich auf diesem Gebiet nicht einmal als Amateur betrachtet. Seine Fotos verraten nicht nur viel vom São Paulo der 1930er Jahre, sondern auch etwas von der dem Fotografen eigenen Weltsicht.
41 Benjamin, Walter. „Das dialektische Bild“ In: GS I.3, S. 1238. 42 Lévi-Strauss, Saudades de São Paulo , S. 61 (vgl. die Fotos auf S. 189).
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Abbildung 1, Claude Lévi-Strauss, Straßenszene im Zentrum São Paulos
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Abbildung 2, Claude Lévi-Strauss, São Paulo, Vale do Itororó
Abbildung 3, Claude Lévi-Strauss, São Paulo, Rua da Liberdade
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C ARLOS G OLDGRUB : O UTDOORS UND DIE N EUERFINDUNG DES STÄDTISCHEN R AUMS DURCH DIE F OTOGRAFIE Die Poetik der Fragmentierung und Verschiebung, die Goldgrub in seiner Studie Outdoors entwickelt (Abb. 4, 5 und 6), führt diese beiden Hilfsmittel zum Paroxysmus. Der Ausschnitt dient der Neuerschaffung der Wirklichkeit. Wir haben den Eindruck, eine Traumlandschaft zu sehen, oder die Verwirklichung des Films, der in São Paulo stattfindet, das Lévi-Strauss eben wie ein riesiges Filmstudio erschien. Seine Bilder erfinden und offenbaren zugleich den städtischen Raum. Outdoors arbeitet, wie der Titel schon andeutet, mit riesigen Werbeplakaten, so als ob diese eigentlich „Türen nach draußen“ wären: Türen, durch die die Waren ihren weiteren Marsch antreten – der von den Bewohnern jeden Tag in Gang gesetzt wird –, doch in denen sich auch ihre Träume und Wünsche zeigen. Beim Ausschneiden dieser riesigen Werbetafeln – deren Großteil die gesetzlich erlaubten Ausmaße überschreitet – lässt der Fotograf die Markennamen der beworbenen Produkte unberücksichtigt, ebenso die Mehrheit der angepriesenen Produkte selbst. Die Werbefotografie wird auf diese Weise von Goldgrub vollständig demontiert. Das Schwarzweiß seiner Bilder verstärkt diese „ästhetische“ Verschiebung. Wir verlassen den Raum der Farben und des Glamours der Werbung, um in einen Raum der Reflektion und Kritik einer Eigenart der Stadtfotografie einzutreten, die sich gerne als Intervention, als politischer Akt versteht. Doch geht es hier nicht darum, die Armen und Außenseiter zu zeigen, jene, die durch das neoliberale System ausgeschlossen werden, das auf radikale Weise die Stadt beherrscht und von dem diese Ausgeschlossenen ein essenzieller Teil sind. In diesem Zyklus von Goldgrub fällt die direkte Darstellung der Armen aus, welche in den Fotos von Lévi-Strauss, die das São Paulo der 1930er Jahre darstellen, durchaus gezeigt und berücksichtigt werden, wie auch der Rest der Bevölkerung der Stadt keinen Gegenstand der Bilder abgibt. Nur auf sehr wenigen Fotos finden wir Menschen.
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Abbildung 4, Carlos Goldgrub, Studie Outdoors
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Abbildung 5, Carlos Goldgrub, Studie Outdoors Während bei Lévi-Strauss die Horizontale vorherrscht, welche es erlaubt, die Menschen einzufangen, die die Straßen bevölkern, sehen wir die Stadtlandschaft hier in der Vertikalen. Goldgrub richtet seine Kamera auf den Himmel über der Stadt. Er bevorzugt die Werbefotos in Großformat, die sich über den Plakaten in Standardformat – das nicht weniger gigantisch ist – befinden, welche sich wiederum an den Hauptstraßen der Stadt breitmachen. Unter den Werbebildern sticht das menschliche Element hervor. Goldgrub zeigt ein São Paulo, das von riesigen Wesen dominiert wird, einer Art erhabener Halbgötter, die unser kleines, mittelmäßiges Alltagsleben überwachen. Diese Wesen, die das Schönheitsideal von den Titelseiten der Modezeitschriften verkörpern, leben in einer Idylle, während ringsherum Millionen von Menschen im Smog ersticken und in einer Explosion von Lärm und Gewalt versinken. Auf vielen Bildern sehen wir halbnackte Wesen, wahre Apollo- und Aphroditestatuen, die mit Leichtigkeit über die Stadt hinwegmarschieren. Viele dieser Figuren küssen und umarmen sich und gedenken dabei der erotischen und sentimentalen Leere im Leben der unten vorbeiziehenden Passanten. Sie posieren über der Stadt, als hätten sie Flügel, stellen ihre Schönheit ebenso zur Schau wie ihren „Triumph“ über den Tod und die Vergänglichkeit. Auch können sie als Überwacher gesehen werden, als Wächter eines gigantischen Panoptikums. (Denken wir an ein Bild aus dem Zyklus, eines der wenigen, auf dem die Fußgänger São Paulos auftauchen: Das Foto
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wird vom riesigen Auge eines elektronischen Big Brother dominiert.) In diesem Sinne kann die Tatsache, dass die Stadt verlassen erscheint, auch als eine Art Vorahnung interpretiert werden: Die hier dargestellte Stadt ist ein imaginatives totales Nachkriegs-São-Paulo, ein São Paulo nach dem Gemetzel, ein posthumanes São Paulo, in dem der Wunsch nach der endgültigen mimetischen Fusion aller mit allem in Erfüllung gegangen ist. Die von Goldgrub vorgeschlagene Ästhetik ist radikal. Sie könnte als bloße Verdopplung der Welt gesehen werden, als „Glamourisierung“ der Werbung und ihrer „cleanen“, sauberen Atmosphäre, mit „perfekten“ Personen, die die auf Erden bestmögliche Welt darstellen. Doch besteht dieser Vorschlag nicht nur darin, diese schönen Gesichter zu zeigen. Die Stadt mit all ihrem Verfall ist ebenfalls Teil dieser Fotografien. Wir sehen heruntergekommene Gebäude, die nur noch fortbestehen zu scheinen, um ihre Trophäen zur Schau zu stellen, eben jene „wunderbaren“, überdimensionalen menschlichen Passagen. Während Goldgrub die von Benjamin/Mallarmé so geschätzten Buchstaben fast gänzlich entfernt (und damit lediglich den stummen, nicht jedoch den verbalen Aspekt der Werberhetorik), stellt er doch andererseits die Aufschriften und Graffiti auf den Gebäuden dar, wo diverse urbane Gruppen ihre Unterschrift, den Beleg ihres Wunsches nach Beachtung hinterlassen. Die Ausschnitte Goldgrubs sind somit keine Verweigerung oder Verschleierung; sie schneiden aus, um mehr zu zeigen, um zu enthüllen, wie in Benjamins Kunst des Zitierens. Sie verdeutlichen die Widersprüche, entlarven die falsche Totalität. Er entdeckt in den Werbefiguren anthropomorphe Vertreter des Warenfetischismus. Der Sexappeal des Anorganischen tritt an der Oberfläche jener enormen zweidimensionalen Wesen zutage, die ursprünglich an Häuserwände gehängt wurden, um für Produkte zu werben. Auch diese Wesen sind eine Art „Replikanten“, perfekt und doch zugleich von der Krankheit des raschen Verfalls betroffen. In der Welt der Moden und Waren, wie auch in der Stadt São Paulo, zählt nur die Aktualität des „Jüngsten“, des „letzten Schreis“. Indem er diese Vertreter der Ideologie des Neuen und Supermodernen einer verfallenen und von den Menschen verlassenen Stadt überstülpt, zeigt Goldgrub die Widersprüche der Stadt auf. Seine Bilder sind insofern dialektisch, dass sie, soweit sie anhand von Ausschnitten und Verschiebungen die Ideologie einschließen, es auch erlauben, über sie hinauszugehen.
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Abbildung 6, Carlos Goldgrub, Studie Outdoors
In diesem Werbetraum, der uns gezeigt wird, haben die „perfekten“ Wesen nicht nur die Stadt, sondern auch die anthropologische Landschaft dominiert. Sie haben den Traum Wirklichkeit werden lassen, der hinter der endlosen Wiederholung der körperlichen Stereotype steckt: die Ausmerzung des „Anderen“, das Ausschließen der „Hässli-
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chen, Armen und Bösen“. Die Werbung ist hygienisch und eugenisch. Sie ist die Verwirklichung der Ontotypologie selbst. Wenn in ihr verschiedene „Typen“ auftauchen, dann tun sie dies in ihrer Eigenschaft als bloße Vertreter des jeweiligen „Typs“. In diesem Sinne verwirklicht Goldgrub auf schreckliche Weise die Utopie der Mode und der Werbung, um sie zu kritisieren. In diesem Universum der Werbeplakate – in dem es, paradoxerweise, keine Konsumenten gibt – wohnen alle in der herrlichen Welt des totalen Konsums. Das Absolute zeigt sich, wie bei Benjamin, als ein Konstrukt des Todes, des Sex und der Fülle. So ist es auch kein Zufall, dass den Filmplakaten von Matrix, auf denen die Darsteller des Blockbusters mit Sonnenbrillen zu sehen sind, die besondere Aufmerksamkeit Goldgrubs zuteil wurde, und dass sie das Interesse des Betrachters seiner Bilderserie weckte. Schon Benjamin hatte festgestellt, dass die Phantasie im 19. Jahrhundert zur Mode und Werbung hin abgewandert war. In Matrix sehen wir einen Film, in dem sich die wirkliche Welt so „liquide“ zeigt wie die Informationen in den Schaltkreisen eines Computers. Die Wirklichkeit ist der Traum einer Maschine. Wenn wir an unseren Alltag denken, in dem wir uns durch die Straßen und unsere Häuser bewegen, lässt sich auch sagen: Die Wirklichkeit ist das, was, immer gigantischer und glitzernder, auf unseren Fernsehschirmen auftaucht. Goldgrub zeigt die Werbung und die von ihr dominierte Stadt als Vertreter dieser „Wirklichkeit“. Im Bilderzyklus Outdoors erscheint São Paulo wie eine Stadt, die für ein Computerspiel entworfen wurde. Man muss hierbei berücksichtigen, dass der eigentliche „dargestellte Raum“ (also das, was auf den Fotos zu sehen ist) aus einer Mischung von Gebäudeausschnitten (die unser Stadtbild ausmachen) und Ausschnitten der Fotografien auf den Werbeplakaten besteht. Diese Mischung zielt auf eine Entleerung ab, hin zu einer Durchlässigkeit zwischen dem Trugbild und dem Konkreten. Die Bilder der Werbeplakate scheinen nachhaltiger zu sein als die Stadt in ihrem Verfall. Das öffentliche Dasein, der öffentliche Raum, wird durch die Gegenwart der Werbeplakate zum Gefangenen der Werbung, in derselben Weise wie dies im Inneren der Häuser, durch das Fernsehen, geschieht. Wenn das Stadtbild von Paris für Benjamin eine Welt ohne Außenwelt war, so sehen wir nun, dass das reale Universum, das wir auf den Fotos von Goldgrub oder im Film Matrix sehen, ebenfalls keine Außenwelt hat, wie in den Träumen. Die öffentliche und die private Sphäre verschmelzen. Die Werbung hilft schon nicht mehr dabei, aus dem Modetraum aufzuwachen, wie Benjamin es
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erstrebte, aber vielleicht hat doch die Fotografie diese Möglichkeit ererbt, wenngleich sie dazu die Impulse, die von der Werbung selbst geschaffen wurden, radikalisieren müsste. Diese Fotos zeigen unsere unbewusste Sicht. Die rebellischen „Halbgötter“ in Matrix tragen dunkle Brillen, um besser das sehen zu können, was direkt vor ihnen ist, und um seine Wahrheit zu verstehen, d.h. den wahren Kern des Trugbildes. Goldgrub erlaubt es uns mit seiner Kamera, die Augen vor einer Wirklichkeit zu öffnen, die so allgegenwärtig ist, dass wir nicht einmal in der Lage sind, sie wirklich zu sehen, und deren Wahrheit wir umso weniger verstehen können. Und das soll bedeuten: Das Trugbild ist unsere Wirklichkeit, eine wahrhaftige Wüste des Wirklichen.
São Paulo, 14. Mai 2006
Das Buenos Aires der Zwischenräume: Eine Annäherung an seine Handelsorte ANDREA EBU ISAAC, LUCIANA ROMANO MARIELA ZELENAY
Höchst unterschiedliche Zeiträume leben miteinander in der Stadt […] Dinge, die uns niemals wirklich erreichen, oder die uns nur erreichen, um ihren Ausdruck in politischen Ereignissen zu finden, entfalten sich in den Städten, die Instrumente von höchster Präzision darstellen, trotz ihrer steinernen Schwere sensibel wie eine äolische Harfe, um die Vibrationen des Windes der lebenden Geschichte aufzunehmen. FERDINAND LION/GESCHICHTE BIOLOGISCH GESEHEN
D ER H INTERGRUND Auf welche Weise kann man sich am besten einer lateinamerikanischen Hyperstadt wie Buenos Aires annähern? Womöglich kann man ihre Architektur untersuchen, um ihre Physiognomie zu verstehen, oder sich in ihrer sozialen und kulturellen Geschichte umsehen, um ihre Einwohner zu verstehen. Ebenso gut könnte man annehmen, dass die
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Beschreibung unserer alltäglichen Erfahrung, als einer von vielen, ausreicht, um von der Stadt zu erzählen. Gleichwohl erscheinen alle Möglichkeiten wie Aspekte einer Wirklichkeit, die über sie alle hinausgeht, wie verkürzte, aus dem Kontext gerissene Fragmente; wie Funken einer Gedankenwelt und einer dynamischen Realität, die sich ständig verändert. Wie kann man sich auf die Stadt beziehen, ohne die Gewalt der Verallgemeinerung einer Erfahrung, die weder total noch zu verallgemeinern ist? Die Fotografie ist eine der möglichen Formen, die Stadt zu erforschen. Doch gegenüber anderen Aufzeichnungsmedien, die es erlauben, das Bild einer vollständigen, endlosen Stadt zu offenbaren, verstärkt die Fotografie die Erfahrung des Begrenzten, des Fragmentes. Dieses Verfahren des Ausschneidens und Einfügens ist es, das die Verbindung zur Gesamtheit der getrennten Erfahrungen ermöglicht, die einer Hyperstadt wie Buenos Aires eigen sind (siehe Abb. 1).
Abbildung 1, Blick vom Turm der Galería Güemes auf Buenos Aires Die Fotografie trennt eine Erfahrung von ihrem Zusammenhang, sie suggeriert einen Unterschied, einen Bruch zwischen dem Moment der Aufnahme, dem Moment des Bildes und jenem seiner Betrachtung. Das Standfoto zerbricht das Zerbrochene noch einmal, und in diesem System von Brüchen lässt sich diese Unstetigkeit fassen. Der optische
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Abdruck macht das Bewegliche unbeweglich und versucht, das Flüchtige zu verewigen; es schneidet mit seiner Einstellung eines von unendlich vielen möglichen Bildern aus. Hinter jedem von ihnen befindet sich jener, der sieht, ein beobachtendes Subjekt, das, mit oder ohne Kamera: sieht. Es ist innen und außen, es hält sich mit Fragmenten auf, die aus sich selbst heraus nie versiegen. Die Anspannung wohnt diesem unruhigen Blick inne. Benjamin hat über viele Städte geschrieben, darunter Moskau, Berlin und Paris. Er fand sich in Bedingungen wieder, die seinen Augen die Erfahrung der Moderne ermöglichten. Diesmal bleibt der Blick vor und hinter den Wörtern Benjamins stehen. Ohne die Schwelle des Bildes zu überschreiten, im Diesseits des Sichtbaren, im Wissen darüber, dass die Pupillen begrenzt und beweglich sind und dass sie nie das Gesehene werden umschließen oder gar dauerhaft einfangen können. Der Weg des Bewohners einer Stadt ist normalerweise geplant, in der Regel ist er nie bloß spielerisch oder zufällig. Doch was geschieht, wenn man versucht, sich der eigenen Stadt dadurch zu nähern, dass man sich von ihr entfremdet und versucht, nicht an sie gewöhnt zu sein? Ist es auf diese Weise möglich, das Unbekannte zu entdecken und sich bemüßigt zu fühlen, dieses kennen zu lernen? Auf dieser Route und mit dieser Frage haben wir unbekannte Orte besucht, die allzu bekannt sind, und unmerkliche, die allzu sichtbar sind. Auch haben wie neue Orte entdeckt, die wir sonst niemals besucht hätten. Mit diesem Ziel machten wir uns auf den Weg durch die „eigene“ und „aktuelle“ Stadt Buenos Aires, um ein paar Bilder seiner diversen Handelsorte einzufangen. Trotzdem fing der rote Faden, an dem entlang wir unsere Marschroute gestalteten, mit der Zeit an, immer breiter zu werden, je mehr wir von unserer Wegstrecke zurücklegten; er gestaltete sich abwechslungsreicher und nahm komplexe Wendungen. Der Faden verfranzte sich zu einer Realität, die über den Moment, das Wort und die Fotografie hinausging. In diesem Zusammenhang war das Fotografieren ebenso notwendig wie arbiträr: Die Repräsentativität des Gesamtgefüges verleugnete sich selbst und ließ lediglich seine Zugehörigkeit zu einer nicht mehr greifbaren Vielfältigkeit gelten. Dies alles sind Rahmen und Blickwinkel der vorliegenden Arbeit.
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D IE B ILDER Der Rundweg begann mit einigen klassischen Passagen der Stadt: jener von La Piedad, El Barolo und der Galería Güemes: Orte, an denen sich inmitten des städtischen Trubels etwas Ruhe finden lässt. Diese Passagen präsentieren sich als Räume zwischen zwei Straßen, wie alltägliche und vergessene Durchgänge, wie Andeutungen von etwas, das zwar pocht, aber nicht lebendig atmet. Fragezeichen erscheinen, eine Stille, die das Bekannte nicht gelten lässt. Benjamin beschäftigte sich mit den Passagen von Paris, doch hat sich das, was er als Raum gewordene Vergangenheit wahrnahm, für uns eher in einen Vergangenheit gewordenen Raum verwandelt. Die Passagen, die wir in Buenos Aires trafen, scheinen wie erstarrt und eingesperrt in eine Zeit, in der Eisen und Glas noch eine Utopie erahnen ließen, heute jedoch nur noch als ein Beispiel des „historischen Erbes“ der Stadt gelten. Die Leute bewegen sich darin nicht mehr auf der Suche nach Waren, sondern allenfalls nach einer Epoche, die sich dadurch auszeichnete, dass man versuchte, Europa zu imitieren. Nur drei Häuserblöcke vom rasenden Rhythmus der Avenida Corrientes finden wir die älteste uns bekannte Passage, La Piedad, die 1997 unter Denkmalschutz gestellt wurde. An der Calle Bartolomé Mitre gelegen (zwischen der Calle Paraná und der Calle Montevideo)1, verdankt sie ihren Namen der gegenüber gelegenen Kirche (siehe Abb. 2). Erbaut im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, greift sie den französischen und italienischen Einfluss von 1880 auf. Ihre Architektur ist eine Mischung verschiedener typischer Stile jener Zeit, mit eleganten Türen und Laternen im Stil von Paris. Heute dagegen fällt
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Eine weitere Besonderheit beim Übersetzen betrifft den in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht ganz unwichtigen spanischen Begriff calle, der schlichtweg „Straße“ bedeutet. Es ist üblich, diesen sowohl im alltäglichen Umgang als auch auf Straßenschildern schlichtweg auszusparen. Der Satz: „Ich wohne in Paraguay.“, kann sich also nicht nur auf das südamerikanische Land, sondern im entsprechenden Kontext auch auf eine danach benannte Straße beziehen. Um den Gepflogenheiten des deutschen Sprachraums hier etwas mehr Rechnung zu tragen und eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, wurde der Begriff calle also auch dort übernommen, wo er im Originaltext nicht ausdrücklich genannt, jedoch impliziert war (Anmerkung des Übersetzers).
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der Blick auf gesenkte Rollläden und mitgenommene Fassaden; auf Gitter, die den öffentlichen Zugang zu der Gasse verhindern, die sich dahinter ausbreitet und den Weg zu den Wohnungen freigibt, die noch erhalten sind. Die Menschen, die dort leben, haben beschlossen, „den Dieben und Drogensüchtigen den Zutritt zu verweigern“. Der Eingang zu dieser Passage lässt eine Reise in die Vergangenheit erahnen, die sich öffnet und sogleich wieder verschließt. Wir besuchten auch die Galería Güemes, einen Ort, der eher bekannt als belebt ist und als Durchgang zwischen der Calle Florida und der Calle San Martín fungiert, wenige Straßen von der Avenida de Mayo entfernt. Sie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem italienischen Architekten errichtet, der sich dabei an der berühmten Mailänder Galerie Vittorio Emmanuele II orientierte. Im Jahr 1915 war der Turm, der von ihrer Mitte aus aufragt, der höchste der Stadt; heute kann seine Höhe nur von den nächstgelegenen Gebäuden aus gewürdigt werden, nicht jedoch von der Straße aus. Er verfügt über einige charakteristische Details: seine beiden Kuppeln aus Eisen und Glas, seine Bronzefiguren, die Dekoration des Eingangs zu den Aufzügen, die zu den Büros des Turms führen, die Geschäfte im Erdgeschoss.
Abbildung 2, Pasaje de La Piedad Ein paar Straßen weiter finden wir den Palacio Barolo, mit einer charakteristischen eklektischen Fassade, die den meisten bekannt ist, die häufig durch das Stadtzentrum gehen. Mit seiner stattlichen Struktur im romantisch-neogotischen Stil war dieses Gebäude 1923 das höchste
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der Stadt. Der italienische Architekt, der es entwarf, wollte mit den Verweisen auf die Göttliche Komödie, die man im ganzen Gebäude bewundern kann, Dante Alighieri ehren. Die Geschäfte, die einstmals hier in Betrieb waren, sind heute geschlossen. Im Inneren herrscht eine Atmosphäre des Vergangenen und Unzeitgemäßen. Hier zeigen sich die dekorativen Motive der einzelnen Stockwerke und die in den Boden des Erdgeschosses eingelassenen Blumenfiguren aus Eisen und Glas, die den Lichteinfall ins erste Untergeschoss ermöglichen. Doch wird dieses so ausgeklügelte Blütenblatt nur von wenigen Schritten passiert. Die Galerie scheint eines Blickes zu harren, der schon Vergangenheit ist, eines Betrachtens, das scheinbar niemand mehr investieren mag. Es gibt noch weitere Orte, an denen sich der Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf ähnliche oder andersartige Weise entfaltet. Dies geschieht zum Beispiel im Patio Bullrich oder in den Galerías Pacífico, deren Strukturen neu gestaltet wurden, um sie zu aktualisieren. Wenngleich ihre Konstruktionen alt sind und auf gewisse Weise dem Stil ihrer Zeit, wie jener der Passagen, entsprechen, scheint der Konsum in ihnen die Wege der Einwohner des heutigen Buenos Aires auf rigide Weise zu bestimmen. Der Patio Bullrich, inmitten des Stadtteiles La Recoleta gelegen, ist ein Marktplatz, auf dem sich die durch die Wechselkurse von Peso, Dollar und Euro begünstigten Touristen sowie die kaufkräftigen Schichten versammeln. Auf vier Etagen verteilt beinhaltet er 87 Geschäfte und zählt 15 Restaurants sowie ein Kino mit sechs Sälen. Nur 15 Straßenblocks weiter befindet sich die Feria de Retiro. Zu ihr kann man durch eine dunkle Passage gelangen, die zwischen dem Busterminal und dem Bahnhof Retiro hindurchführt. Die meisten, die hier einkaufen, sind Bewohner der sogenannten Villa 31. Diese Ansiedlung prekärer Unterkünfte befindet sich inmitten einer privilegierten Gegend der Stadt. Die verschiedenen Diktaturen versuchten, sie auszumerzen, in demokratischen Zeiten dagegen wurden Urbanisierungsprojekte vorgelegt. Ursprünglich war dies ein Durchgangsviertel für europäische Einwanderer; heutzutage kommt die Mehrheit der Bewohner aus dem Landesinneren und den Nachbarländern, d.h. aus Peru, Bolivien und Paraguay. Von hier aus lässt sich der für lateinamerikanische Städte typische Kontrast zwischen einer Armensiedlung am Rande des Marktes und dem berühmten Gebäude Prourbán (siehe Abb. 3) erkennen. Wenige
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kennen den wirklichen Namen dieses Bauwerkes, das im Hinblick auf seine Form als „el rulero“ („Lockenwickler“) bekannt ist, ein bekannter Orientierungspunkt für die Bewohner der Stadt. So wie die Umgebung des Bahnhofs Retiro als ein möglicher, notdürftiger Marktplatz für Obst, Gemüse und Kleidung fungiert, können wir einen Häuserblock vom Bahnhof Constitución entfernt Stände mit Textilprodukten auf einem Areal finden, das durch einen kleinen, unmerklichen Durchgang erreicht wird. Ebenso kann man in derselben Gegend, in der Calle Salta, Geschäfte finden, die zu Groß- und Einzelhändlerpreisen alle Arten von Waren an Straßenhändler und vorbeikommende Endverbraucher verkaufen. In ihren Schaufenstern finden wir Produkte vereint wie: Kämme, Enthaarungspinzetten, Uhrenbatterien, Baumwollfäden, Zahnpasta, Schnürsenkel, Anilin, Radiergummi, Zwillen, Papiertaschentücher, Klebstoff, Scheren, Nagellackentferner (siehe Abb. 4). In einer anderen Auslage finden wir auch die folgende Zusammenstellung: Plastikblumen, Tassen mit verschiedenen Motiven, Korrekturstifte, Haargummis, Feuerzeuge, Kugelschreiber, Teller, ein Kehrblech, Schaum für den Karneval2.
Abbildung 3, Markt von Retiro Andere Arten von Handelsplätzen sind einige Galerien, die in den meistfrequentierten Straßen der Stadt versteckt sind. Wenn man sie abläuft, drängen sich folgende Fragen auf: Wovon leben sie? Wer
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Im südamerikanischen Karneval ist es üblich, seinen Mitmenschen – Bekannten wie Passanten – einen speziellen Schaum, etwas dünnflüssiger als Rasierschaum, ins Gesicht oder auf die Kleidung zu sprühen (Anmerkung des Übersetzers).
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kauft dort ein? Auch wenn einige von ihnen sichtbarer sind als andere, sind die auffälligsten doch jene, die man zufällig entdeckt, in den Straßen, die vielleicht zu einer täglichen Wegstrecke gehören, denen man jedoch noch nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Tief im Herzen der Stadt verborgen, wenige Meter vom Obelisken – dem Wahrzeichen Buenos Aires - entfernt, finden wir einen dieser Orte. Er lässt sich von der Avenida Corrientes und der Calle Sarmiento aus betreten, zwischen der Calle Libertad und der Calle Talcahuano. Das Besondere an dieser Galerie ist die Häufigkeit von Optikern und Reparaturgeschäften für Uhren, die wie Werkstätten funktionieren. Hier arbeiten hauptsächlich Männer, die ein Handwerk am Leben halten. Einige Geschäfte sind geschlossen, andere sind augenscheinlich geöffnet, beschäftigen jedoch an einem Werktag um vier Uhr nachmittags niemanden, der sie beaufsichtigt.
Abbildung 4, Schaufenster in der Nähe des Bahnhofs Constitución In der eleganten Avenida Santa Fe, wenige Schritte von der Avenida Callao entfernt, finden wir die Galería Bozzini. In seinem Inneren, das reichlich dunkel ist, reihen sich Geschäfte diverser Art aneinander: ein Schlüsselservice, eine Friseurstube, eine Maßschneiderei, ein Tarotladen, ein Schuhgeschäft, dessen Schuster noch immer mit seiner Singer-Maschine arbeitet, ein Sexshop, ein Fanshop von Racing Avellaneda (einem argentinischen Fußballverein), eine Auslage mit einem Vorhang, der den Blick ins Innere versperrt, deren Schild jedoch verrät: „Julia, Änderungen aller Art“. Auch gibt es ein Geschäft, das „Anund Verkauf von Wertgegenständen“ anbietet, in dessen Innerem jedoch nur Dollar und Euro ge- und verkauft werden. Zuguterletzt, näher an der Straße, sieht man einen schwarzen Vorhang mit einer Treppe, die zum Hinabsteigen in irgendein Untergeschoss einladen soll, sowie
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einem Schild, auf dem steht: Kino Eden „24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr geöffnet. Nur für Erwachsene. $3.50“ (siehe Abb. 5). Das Shopping Abasto ist einer der paradigmatischen Konsumtempel aus den 1990er Jahren. Im Stadtteil Almagro gelegen, bewahrt dieser Ort vom alten Mercado de Abasto nur die Art-Deco-Fassade und eine Reminiszenz an dessen Namen. Der alte Markt, der 1934 eingeweiht und in den Achtziger Jahren geschlossen wurde, entstand als städtisches Projekt mit dem Ziel, die Stadt Buenos Aires mit Fleisch, Obst und Gemüse zu versorgen. Das Shopping belegt zwei Häuserblocks in einer Gegend, die trostlos und dunkel geworden war, bis die alte Marktstruktur wiederbelebt wurde und sie sich in einen Ort des Konsums und der Freizeitvergnügen verwandelte. Die Wiedereröffnung des Abasto versuchte unter anderem, eine Wiederaufwertung eines vormals zurückgebliebenen Stadtteils zu erreichen. Die angrenzende Gegend besteht ohne große Änderungen weiter, doch breitet sich der Stil des Shopping allmählich weiter aus, wodurch ein Stadtteil der arbeitenden Mittelschicht den Rahmenbedingungen des Konsums angepasst wird.
Abbildung 5, Galería Santa Fe und Callao. Im Unterschied zu anderen Orten auf unserem Rundweg ist die Beleuchtung im Shopping geradezu schrill. Das Tageslicht, das durch die Glasdecken hineinfällt, ist diffus, und so ist es das elektrische Licht, das eine neutrale Atmosphäre schafft, die sich dem Rhythmus von Tag und Nacht verschließt. Die Anordnung des Raumes erzeugt implizite Regeln von Aufenthalt und Zirkulation, was durch die Art, in der die
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Treppen sowie die Zugänge zu den verschiedenen Abteilungen angeordnet sind, ersichtlich wird. Der Raum präsentiert, verteilt auf fünf Stockwerke (siehe Abb. 6), vielfältige Konsumangebote: Vergnügungsangebote für Kinder, Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants, Filmtheater. Besonders erweckte das „Kindermuseum“ unsere Aufmerksamkeit, das sich auf der letzten Ebene des Shoppings befindet. Wir betraten es (der Eintritt kostet neun argentinische Pesos (etwa zwei Euro, A. d. Ü.) mit zwei Fragen im Kopf: die erste nach dem Sinn des Namens – warum „Kinder-“ und warum „Museum“? – und die zweite nach den dort möglichen Erfahrungen, erst recht wenn man bedenkt, dass es sich als „einen innovativen Raum auf dem Gebiet der Unterhaltung und der ungezwungenen Bildung [präsentiert], in dem Kinder die Möglichkeit haben, die Aktivitäten der Erwachsenen im wirklichen Leben auszuprobieren“. Dieses Museum „ermöglicht es den Kindern, sich zu informieren, zu forschen und neue Perspektiven zum Verständnis des städtischen Raumes und seiner Bewohner zu entdecken.“ Wir konnten verschiedene Abteilungen sehen, die versuchen, das Stadtleben in seiner „Verschiedenheit und Vielschichtigkeit“ darzustellen. So beinhaltet das Museum ein Krankenhaus mit Zahnarztpraxis unter der Schirmherrschaft der bekannten Zahnpastamarke Colgate (siehe Abb. 7), eine Bank, eine Hypothekenbank, bei dem die Kinder Geld abheben können, um in den anderen Abteilungen wie dem Minisupermarkt Coto und bei McDonald’s einzukaufen, in dem wiederum Hamburger (aus Plastik, mit Plastik-Pommes-Frites) zubereitet werden können, um sie zu kaufen und zu verkaufen. Auch gibt es einen Zeitungsverlag, Clarín (die auflagenstärkste Zeitung Argentiniens), eine der meistgehörten Radiostationen, Mitre, ebenso die AFIP (Administración Federal de Ingresos Públicos; die argentinische Steuerbehörde, Anm. d. Übers.), einen „öffentlichen Treffpunkt“, an dem die Kinder „debattieren lernen“ können, Aguas Argentinas (das größte argentinische Wasserversorgungsunternehmen; Anm. d. Übers.), ein Zollamt und vieles mehr. Die beiden Fragen, die wir uns beim Eintreten gestellt hatten, blieben bis zum Ausgang unbeantwortet. Während unseres Rundgangs kam eine weitere hinzu: Welche Art von Einwohner ist für diese Stadt im Kleinen vorgesehen? Eine mögliche Antwort gab uns der Slogan am Eingang des Komplexes, der benutzt wurde, um das Shopping zum Neuen Jahr 2006 zu bewerben: „250 Marken warten darauf, Teil deiner Geschichte zu werden. Zeige ihnen deine Welt!“
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Abbildung 6, Abasto
Abbildung 7, Zahnarztpraxis, Kindermuseum Abasto Shopping
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Als Kontrast zum Shopping Abasto besuchten wir im Umland von Buenos Aires, im Bezirk Lomas de Zamora, die Feria de La Salada. Auch bekannt als „Shopping für Arme“ und „größter Schwarzmarkt des Landes“, beeindruckt der Komplex mit einer Größe von 20 Hektar. Es ist allgemein bekannt, dass dieser Markt nur in den frühen Morgenstunden in Betrieb ist: montags und donnerstags von 2 bis 11 Uhr morgens. Über diesen Umstand ranken sich vielerlei Gerüchte, doch hauptsächlich ist davon die Rede, dass der Grund dafür der dortige Verkauf von Diebesgut und Drogen sei. Gegen alle Warnungen, die uns wohlmeinend entgegengebracht wurden, beschlossen wir, uns beim ersten Tageslicht dorthin aufzumachen. Obwohl viele Busse an diesen Ort fahren, war die Anreise nicht einfach, da alle Personen, die wir nach dem Weg fragten, sich auf Orientierungspunkte bezogen, die uns unbekannt waren. Schließlich gelangten wir an eine Verästelung des Marktes, der sich an einem Seitenarm des Río Riachuelo ausbreitet. Die Stände dort sind sehr notdürftig: Ein knappes Eisengestänge, das mit einer Plane oder einem Kunstfasertuch bedeckt ist, aufgestellt in einer seltsamen labyrinthischen Form, in der man sich unfehlbar verläuft, obwohl man sich unter freiem Himmel befindet. Nachdem wir diesen Abschnitt abgelaufen hatten und zu einem anderen, „besser organisierten“ Teil kamen, sagte uns eine Person, wir sollten den Abschnitt, von dem wir gerade kamen, nicht besuchen, da es dort „gefährlich“ sei. Von La Salada aus kann man nicht nur die Müllberge bewundern, die sich entlang des Río Riachuelo auftürmen (siehe Abb. 8), sondern auch die Hochhäuser der Stadt, die in der Ferne aufragen.
Abbildung 8, La Salada
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Der Markt hat drei Abschnitte: Urkupiña, Punta Mogotes und Ocean. Der städtischen Administration zufolge empfängt sie täglich mehr als 50.000 Besucher, und viele von ihnen kommen in Klein- und normalen Bussen aus dem Landesinneren, um sich mit Waren für ihre Geschäfte einzudecken (siehe Abb. 9). Die Anmeldegebühr für einen Stand hängt von dessen Größe und Standort ab, größtenteils aber von den Beziehungen zu jenen, die sie zuteilen und die Abwesenheit von Kontrolleuren und Polizei sicherstellen. Die Verkäufer sind meistens Einwanderer aus den Nachbarländern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt lag der Preis für den Erwerb eines Standortes bei 20.000 argentinischen Pesos (z.Zt. ca. 4.000 Euro, Anmerkung des Übersetzers), doch wie man uns mitteilte, werden keine neuen Konzessionen vergeben, und es kommt sehr selten vor, dass ein etablierter Händler seine eigene verkauft. Die Mieten bewegen sich zwischen 200 und 1500 Pesos (40 – 300 Euro, A.d.Ü.) täglich. Bei einem Großteil der verkauften Waren handelt es sich um Textilien, meist gefälschte Marken (Imitationen von Nike, Lacoste, Adidas und anderen) oder No-Name-Produkte. Zur selben Zeit, in der auch wir die Feria besuchten, wurde in der lokalen Presse ventiliert, dass die dort verkaufte Kleidung in Werkstätten angefertigt werden, in denen Einwanderer aus Bolivien und anderen Nachbarländern unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Außerdem wurde bekannt, dass viele legale Markenprodukte, die anderorts verkauft werden, ebenfalls aus diesen Werkstätten stammen.
Abbildung 9, La Salada Wer La Salada besucht und dort einkauft, wird kaum in den Patio Bullrich gehen; genauso wäre es in höchstem Maße seltsam, europäische Touristen in den Geschäften von Constitución nach dem Preis fragen zu sehen. Die alltäglichen Marschrouten der Bewohner von Bu-
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enos Aires sind vielfältig, doch existiert gleichzeitig keine Kontinuität zwischen dem einen oder anderen Ort. Es handelt sich um isolierte Räume des Konsums, Konstellationen, die zu koexistieren und einander gleichzeitig auszuschließen scheinen. Die verschiedenen Wege und die Arten, sie zu begehen, sind nur eine Möglichkeit, sich der Komplexität, der eigentümlichen Juxtaposition von Räumen anzunähern, die, verschieden und einander entgegengestellt, in einem Kraftfeld gegensätzlicher Energien zusammen existieren.
Autorinnen und Autoren
Bolle, Willi, promovierte an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Dissertation über die Erzähltechnik von Guimarães Rosa und beschäftigte sich in seiner Habilitationsschrift mit Walter Benjamin und der Kultur der Weimarer Republik. Er war Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Philosophie, Philologie und Geisteswissenschaften an der Universidade de São Paulo (USP). Bolle ist Autor der Bücher Physiognomik der modernen Metropole. Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin (1994) und grandesertão.br o romance do formação do Brasil (2004) und verantwortlich für die portugiesische Ausgabe des Passagen-Werks von Walter Benjamin (2006). Buchenhorst, Ralph, promovierte in Philosophie an der Universität Wien und habilitierte sich an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über das Argument der Undarstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst. Er unterrichtete an den Universitäten Göteborg, Frankfurt (Oder), Potsdam, Köln sowie an der Freien Universität Berlin und der Humboldt Universität Berlin. Er war zwischen 2002 und 2006 Gastprofessor des DAAD an der Philosophisch-Philologischen Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA) und dort auch als Koordinator des Freien Lehrstuhls „Walter Benjamin“ tätig. Buchenhorst veröffentlichte Bücher und Artikel zum Gattungsunterschied zwischen philosophischem und poetischem Diskurs, zum Wahrnehmungswandel im öffentlichen Raum und über die Kulturtheorie nach Auschwitz. Forster, Ricardo, ist Doktor der Philosophie, Professor und Forscher der Facultad de Ciencias Sociales der Universidad de Buenos Aires; Direktor des Postgraduiertenprogramms über Jüdische Studien der Fa-
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cultad de Filosofía y Ciencias Sociales der Universidad Nacional de Córdoba, Argentinien; Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Pensamiento de los Confines. Er war Gastprofessor an verschiedenen argentinischen und ausländischen Universitäten. Zu seinen aktuellen Veröffentlichungen zählen: Walter Benjamin y el problema del mal (2001), Crítica y sospecha. Los claroscuros de la cultura moderna (2003), Mesianismo, nihilismo y redención. De Abraham a Spinoza, de Marx a Benjamin (2005) und Walter Benjamin (2009). Galle, Helmut, promovierte an der Freien Universität Berlin. Seit 2001 ist er Professor für Deutsche Literatur an der Abteilung für moderne Philologie an der Universidade de São Paulo (USP). Er war Gastprofessor des DAAD in Portugal, Brasilien und Argentinien. Seine Forschungsgebiete sind Autobiographie, Zeitzeugnisse, Literatur des Holocaust und das kollektive Gedächtnis. Er veröffentlichte u.a. eine Geschichte des lyrischen Genres des Psalms in der deutschen Literatur (in Zusammenarbeit mit Inka Bach) und verschiedene Artikel über das kollektive und individuelle Gedächtnis. Machado, Carlos Eduardo Jordão, promovierte in Deutschland an der Gesamthochschule-Universität Paderborn, als Stipendiat des brasilianischen Forschungsrates CNPq, betreut von Frank Benseler und Christa Bürger. Er ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universidade Estadual de São Paulo (UNESP – Campus Assis). Er ist Gründungsmitglied der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, leitete Postgraduiertenseminare der Facultad de Filosofía y Letras der Universidad de Buenos Aires und veröffentlichte u.a. As formas e a vida. Estética e ético no jovem Lukács (1910-1918) (2004). Gemeinsam mit Marlene Holzhausen ist er für die Übersetzung von Das Ornament der Masse von Siegfried Kracauer verantwortlich. Kozak, Claudia, promovierte in Philologie an der Universidad de Buenos Aires. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kommunikation an der Universidad de Buenos Aires und der Universidad Nacional de Entre Ríos, Argentinien. Ebenso ist sie Assistentin des Lehrstuhls „Literatur des 20. Jahrhunderts“ der Facultad de Filosofía y Letras der UBA. Sie leitete Postgraduiertenkurse an verschiedenen argentinischen Universitäten. Zu ihren Publikationen zählen: Deslindes. Ensayos sobre la literatura y sus límites en el siglo XX
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(2006), Contra la pared. Sobre graffitis, pintadas y otras intervenciones urbanas (2004), Las paredes limpias no dicen nada (in Zusammenarbeit, 1991), Rock en letras (1990), außerdem zahlreiche Artikel über zeitgenössische Literatur, Medienkultur und jugendliche Subkulturen. Sie ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Artefactos. Pensamientos sobre la técnica und leitet Forschungsprojekte bezüglich des Verhältnisses von Kunst und Technik im 20. Jahrhundert (UBA/UNER). Uchôa, Fábio Raddi, ist Forscher am Dokumentationszentrum der Cinemateca Brasileira, arbeitet mit den persönlichen Archiven großer brasilianischer Filmkritiker und Regisseure wie Paulo Emilio Salles Gomes und Glauber Rocha. Außerdem unterrichtet er an der Kommunikations- und Kunstschule der Universidade de São Paulo; er forscht über die Darstellung der Stadt São Paulo in den Filmen von Ozualdo Candeias. Schwarzböck, Silvia, promovierte an der UBA in Philosophie. Ihre Dissertation behandelt „Das Problem des Glücks bei Adorno“. Sie war Postgraduiertenstipendiatin des CONICET. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ästhetik an der Escuela de Filosofía der Universidad Nacional de Rosario (Argentinien), sowie Professorin für Philosophie an der Facultad de Ciencias Sociales der Universidad Nacional de Quilmes (Argentinien) und Lehrstuhlinhaberin für Dokumentarfilmgeschichte II im Magisterstudiengang Dokumentarfilm an der Universidad del Cine. Sie veröffentlichte La herencia de Prometeo (1994), La idea de felicidad en Adorno (2008), eine kritische Ausgabe der Metaphysik der Sitten von Kant (1998), sowie zahlreiche Essays und Artikel über Themen zeitgenössischer Philosophie, Ästhetik, Kunst und Film in Büchern und Zeitschriften in Argentinien und im Ausland. Seligmann-Silva, Márcio, promovierte an der Freien Universität Berlin, absolvierte einen postdoktoralen Forschungsaufenthalt an der Yale University und ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universidade de Campinas (UNICAMP). Er ist Autor der Bücher Ler o Livro do Mundo. Walter Benjamin: romantismo e crítica poética (1999), Adorno (2003) und O Local da Diferença (2005); er ist Herausgeber der Sammelbände Leituras de Walter Benjamin (1999),
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História, Memória, Literatura: o Testemunho na Era das Catástrofes (2003) und Palavra e Imagem, Memória e Escritura (2006) sowie Mitherausgeber von Catástrofe e Representação (2000) Er übersetzte Werke von Walter Benjamin (O conceito da crítica de arte no romantismo alemão, 1993), G.E. Lessing (Laocoonte. Ou sobre as Fronteiras da Poesia e da Pintura, 1998), Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Jürgen Habermas und anderen. Vedda, Miguel, promovierte in Philologie an der Universidad de Buenos Aires und war Stipendiat des DAAD. Er ist Lehrstuhlinhaber für deutsche Literatur (Facultad de Filosofía y Letras, UBA) und Forscher des CONICET. Veröffentlichung einer Vielzahl von Artikeln über Lukács, Bloch, Ernst Fischer, Adorno sowie über Themen aus der deutschen Literatur. Vedda ist sowohl Mit- als auch alleiniger Herausgeber zahlreicher Sammelbände, darunter: Antología de la novela corta alemana. De Goethe a Kafka (2001); Marx/Engels, Escritos sobre literatura (2003); La teoría del drama en Alemania (1730-1850) (2004); György Lukács y la literatura alemana (2005); La sugestión de lo concreto. Estudios sobre teoría literaria marxista (2006), Walter Benjamin: constelaciones dialécticas (2008). Außerdem ist er Übersetzer und Herausgeber von Autoren wie Th. Storm (Un doble y otras novelas cortas, 2007), S. Kracauer (Los empleados, 2008) y H. Heine (Ludwig Börne, 2009). Er war Vorsitzender der Asociación Argentina de Germanistas und ist Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeitschrift Herramienta, Mitglied der Internationalen Georg-LukácsGesellschaft und Mitherausgeber des Anuario Argentino de Germanística und des Ibero-Amerikanischen Jahrbuchs für Germanistik. Vernik, Esteban, promovierte in Sozialwissenschaften am Colegio de México. Er ist Professor an der Facultad de Ciencias Sociales der UBA, wo er die Seminare „Georg Simmel“ und „Die ‚Idee’ der Nation“ leitet, sowie Forschungsassistent des CONICET. Er war Stipendiat des DAAD und Gastforscher an der Universität Bielefeld und der UNAM (Universidad Autónoma Metropólitana) in Mexiko. Er hat Kurse an verschiedenen argentinischen Universitäten geleitet, war Dozent an der Universidad Nacional de La Plata (Argentinien) und Gastprofessor der Universidad Nacional de la Patagonia Austral. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift El ojo mocho sowie verschiedener Bücher über Georg Simmel. Des weiteren ist er Autor von El otro Weber.
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Filosofías de la vida (1996), Ensayos contra la cosificación. Acerca de Georg Simmel (2000), Qué es una nación. La pregunta de Renan revisitada (2005) und Georg Simmel (2009), sowie zahlreicher Artikel in argentinischen und ausländischen Zeitschriften. Er ist Mitglied der Georg-Simmel-Gesellschaft. Ebu Isaac, Andrea/Romano, Luciana/Zelenay, Mariela sind Absolventinnen der Facultad de Filosofía y Letras der UBA und Mitarbeiterinnen des Freien Lehrstuhls „Walter Benjamin“ dieser Fakultät.
Urban Studies Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 Oktober 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0
Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik 2007, 402 Seiten, kart., 21,00 €, ISBN 978-3-89942-676-2
Martina Hessler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-725-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt 2007, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-789-9
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 März 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land 2009, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1127-4
Bastian Lange, Ares Kalandides, Birgit Stöber, Inga Wellmann (Hg.) Governance der Kreativwirtschaft Diagnosen und Handlungsoptionen
Christine Dissmann Die Gestaltung der Leere Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit
2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-996-1
November 2010, ca. 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1539-5
Annika Mattissek Die neoliberale Stadt Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte
Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-497-3
Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien Dezember 2010, ca. 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6
Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung 2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-622-9
Susanne Heeg Von Stadtplanung und Immobilienwirtschaft Die »South Boston Waterfront« als Beispiel für eine neue Strategie städtischer Baupolitik
2008, 298 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1096-3
Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur August 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4
Thomas Pohl Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne 2009, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1118-2
Gudrun Quenzel (Hg.) Entwicklungsfaktor Kultur Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt 2009, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1353-7
2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-819-3
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