Urban Transformation Design: Grundrisse einer zukunftsgewandten Raumpraxis 9783035620573, 9783035620504

Unsere Zukunft entscheidet sich in den Städten. Die gegenwärtige Urbanisierung ist nicht zukunftsfähig, weil sie auf ein

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German Pages 200 Year 2020

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Urban Transformation Design: Grundrisse einer zukunftsgewandten Raumpraxis
 9783035620573, 9783035620504

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Urban Transformation Design

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Michelle Christensen Michael Erlhoff Sandra Groll Wolfgang Jonas Gesche Joost Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Lena Berglin Cees de Bont Elena Caratti Michal Eitan Bill Gaver Orit Halpern Denisa Kera Keith Russell Doreen Toutikian Michael Wolf John Wood

Hişar Schönfeld

Urban Transformation Design Grundrisse einer zukunftsgewandten Raumpraxis

Birkhäuser Basel

Diese Arbeit richtet sich an dich. Denn das Urbane ist überall. Jeder Mensch ist Designer. Du bist Urban Designer.

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort BIRD

011

Prolog: Was ist (gutes) Urban Design?

013

Intro: Von Urban Design zu Urban ­T ransformation Design

017

1 Gegenwartsdiagnose: Krise, Kritik und Zukunft des Urbanen 1.1 Was ist gutes Urban Design?

021

1.2 Die expansive Moderne

022

1.3 Die Grenzen des Wachstums

023

1.4 Zur Bedeutung des Urbanen

025

1.5 Change by Disaster or by (Urban) Design

027

1.6 Wir müssen uns ändern

028

1.7 Das Ende der Geschichte

030

1.8 Wider die Retro- und Technotopien

031

1.9 Wie wollen wir leben?

032

1.10 Zurück in die Zukunft: Eine Frage des Urban Design

033

2 Urban Design: Gestaltung des Urbanen 2.1 Urban Design: Problem und Lösung zugleich

035

2.2 Urban Design gestern: Eine kurze Entstehungsgeschichte des ­U rban Design

036

INHALTSVERZEICHNIS 007

2.3 Urban Design heute: Eine undisziplinierte Disziplin

043

2.4 Urban Design morgen: Disziplinierung einer ­u ndisziplinierten ­D isziplin?

047

2.5 Auf Spurensuche: Zum „Design“ im Urban Design

054

3 Design: Transformation durch Gestaltung 3.1 Design: Aktivierung der Affordanz

061

3.2 Was ist Design?

062

3.3 Design Turn | Political Turn: Der erweiterte Designbegriff

068

3.4 Kompendium politischer Designbegriffe

079

3.5 Aktivierung: Transformation Design

100

4 Transformation: Diskurse gesellschaftlichen Wandels 4.1 Zum Transformationsbegriff des Urban Design

103

4.2 Die Große Transformation

105

4.3 Transformative Wissenschaft

107

4.4 Kritische Transformationsforschung

111

4.5 Urban Designer: Pioniere des Wandels

115

5 Urban Transformation Design: Grundrisse einer zukunfts­gewandten Raumpraxis 5.1 Urban Transformation Design: Begriffsdefinition

008  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

121

5.2 Urban | Transformation | Design: Theoretisch-begriffliche Grundlagen

122

5.3 Wie gestalten? Die moralische Landkarte der Transformation

126

5.4 Bruch, Freiraum, Symbiose: Urbane Transformationsstrategien

130

5.5 Reale Utopien: Inventur urbaner Transformationen 134 5.6 (Nicht-)Intendiert | (Un-)Bewusst: Vier Arten des Urban Transformation Design 138 5.7 Die 20 transformativen Antihelden: Typologie urbaner Transformation Designer 143 5.8 Himmelsscheibe der Transformation: Der transformative Diskurskosmos

168

5.9 Praxisbeispiel: Die Transformative Zelle

168

5.10 Zusammengefasst: Relevanz und Perspektive

182

Outro: Der stille Wandel

183

Epilog: Weiter … mit amore

187

Danksagung 188 Literaturverzeichnis 189 Autor 199

INHALTSVERZEICHNIS 009

VORWORT BIRD Der Titel dieses Buches antwortet auf die Frage „Was ist gutes Urban Design?“. Die Zweifel des Autors an der anscheinend eindeutigen Antwort bleiben: „Manche Fragen, heißt es, sind zu gut, um sie durch eine Antwort zu zerstören.“ Heinz von Foerster präzisiert dies: „Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“1 ­Antworten liegen also weniger in der Sache, sondern in uns selbst. Wir sind ver-antwort-lich. Zwischen Frage und Antwort findet hier eine umfassende Reflexion der Thematik statt: Ausgangspunkt ist die Unzufriedenheit mit der aktuellen Praxis des Urban Design, die nach Ansicht des Verfassers hinter den einmal formulierten emanzipatorischen Ansprüchen der Disziplin zurückbleibt. Nach einer historischen Analyse und einer Kritik des Status quo arbeitet er die Theorien und aktuellen Diskurse eines erweiterten Design sowie die sich entwickelnden Ansätze der Transformationsforschung auf – im Design und anderswo –, um sie für eine Weiterentwicklung des Urban Design nutzbar zu machen. Daraus wird eine integrative Synthese für ein transformatorisch erweitertes, offenes und prozessuales Verständnis des Urban Design entwickelt. Der große Wert dieses Entwurfs liegt weniger in seiner Homogenität und Konsistenz, sondern in seiner Reichhaltigkeit und seiner theoretischen und begrifflichen Transparenz und damit in ­seiner Anschlussfähigkeit für weiter gehende Diskurse im Urban Design – und auch darüber hinaus, ganz im Sinne des von Foerster’schen Imperativs: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“2 Die Motive des Verfassers sind sowohl persönlicher als auch politischer Art, was der Arbeit einen zuweilen manifestartigen, stark normativen Charakter verleiht. Dieses moralische Gewicht wird jedoch durch die theoretischen Fundierungen und methodischen Anleitungen sowie durch Elemente wie die „20 transformativen Antihelden“ perfekt ausbalanciert. Die Moral kann sich dann auch wieder zurücknehmen: „Ich möchte Sprache und Handeln auf einem unterirdischen Fluss der Ethik schwimmen lassen und darauf achten, dass keines der beiden untergeht, so dass Ethik nicht explizit zu Wort kommt und Sprache nicht zur Moralpredigt degeneriert.“3 Ethik lässt sich nicht aussprechen, sondern sie zeigt sich. Die Chance auf viele gute Antworten auf die praktische Frage nach dem zukünftigen Urban Transformation Design erhöht sich mit diesem bemerkenswerten Buch ganz signifikant. Wolfgang Jonas Board of International Research in Design (BIRD)

1 2 3

Heinz von Foerster (1993), KybernEthik, Berlin: Merve, S. 73. Heinz von Foerster (1993), Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 234. Heinz von Foerster (1993), KybernEthik, Berlin: Merve, S. 68, 69.

VORWORT BIRD  011

PROLOG: WAS IST (GUTES) URBAN DESIGN? Design can and must become a way in which young people can participate in changing society. Victor Papanek, 1971

Ich studierte bereits ein Jahr im Masterstudiengang Urban Design der Technischen Universität Berlin, als ich im Herbst 2016 erstmals realisierte, dass ich Urban Designer werde. Eine befremdliche Entdeckung, hatte ich mich während meines vor­ herigen Bachelorstudiums der Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar doch gerade erst mit dem Gedanken vertraut gemacht, mich als „Urbanist“ und „Stadt­ planer“ zu bezeichnen. Nun also Designer. Doch was bedeutet es eigentlich, Urban Designer zu sein? Was ist Urban Design? Was ist gutes Urban Design? Und welche Bedeutung hat das Design im Urban Design? Diese Fragen waren der Beginn einer anhaltenden identitäts- und fachpoli­ tischen Suche. Mit der Publikation meiner Masterarbeit liegt nun das (vorläufige) Ergebnis vor.1 Meine Thesis begann und endete mit einem Jubiläum. Beim ersten Jubiläum handelte es sich um die Feierlichkeiten anlässlich des zehnten Jahrestags der Grün­ dung des Masterstudiengangs Urban Design an der TU Berlin, im Wintersemester 2016/2017. Ich organisierte und leitete damals ein Spiel für die Jubiläumsfeier. Es war ein Aufstellungsspiel, bei dem ich den Teilnehmenden Fragen stellte, worauf­ hin diese sich entsprechend ihrer Antwort im Raum positionierten. Hierfür kamen mir folgende weitere Fragen in den Sinn, die mich noch lange begleiten sollten: 1

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Was ist dein fachlicher Hintergrund? Bist du Urban Designer? Warum hast du dich für Urban Design entschieden? War es Enttäuschung? In welchem Bereich arbeitest du heute? In welchem Bereich möchtest du morgen arbeiten? Auf welchen Maßstabsebenen arbeitest du? Ist Urban Design dasselbe wie Städtebau? Was sind die Grenzen des Urban Design? Ist Urban Design grenzenlos?

Das vorliegende Buch beruht auf meiner Abschlussarbeit Urban Transformation Design – Grundrisse e ­ iner zukunftsgewandten Raumpraxis im Masterstudiengang Urban Design der TU Berlin, die von Prof. Undine Giseke (Fachgebiet Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung, TU Berlin) und Prof. Dr. habil. Wolfgang Jonas (Fachgebiet Designwissenschaft, HBK Braunschweig) betreut und am 31. Mai 2018 e ­ ingereicht wurde.

PROLOG  013

Das Spiel zeigte: Auf meine Frage, was (gutes) Urban Design ist, bekam ich so viele Antworten, wie ich Personen fragte. Es handelte sich offenbar zehn Jahre nach der Studiengangsgründung noch immer um eine offene Sache. Auch auf die Frage, was eigentlich die Bedeutung des Design im Urban Design ist, folgte weitgehend Ratlosig­ keit. Sie hatte sich, so schien es, zuvor noch niemandem ernsthaft gestellt. So hatte ich nach dem Spiel also mehr Fragen als zuvor. Ein Problem, handelte es sich für mich, je näher mein Studienabschluss rückte, doch um fundamental wichtige The­ men, die dringend einer Klärung bedurften. Denn: Braucht ein Selbstverständnis als Urban Designer und die gesellschaftlich verantwortungsvolle Ausübung der eigenen beruflichen Tätigkeit nicht Wissen oder zumindest eine persönliche Haltung dahin gehend, was die Bedeutung, Aufgabe und Verantwortung der eigenen Disziplin ist? Anhaltspunkte zur Beantwortung meiner Fragen sah ich zunächst wenige. Der einzige Designbegriff, der mir während meines Masterstudiums zu Ohren kam, war der des Design Thinking. Ein Begriff, der mir aus der Marketing- und Start-up-Welt geläufig war und zur Beantwortung meiner Fragen wenig geeignet schien. Rich­ tungsweisend erwies sich stattdessen ein Unbehagen daran, dass ich die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart, wie den Klimawandel und soziale Ungleichheiten, nicht angemessen in Lehre und Forschung repräsentiert sah. Ich durfte während meiner Studienzeit an der TU Berlin zwar zahlreiche enga­ gierte Lehrkräfte kennenlernen, die sich kritisch mit den Bedingungen gegenwärti­ ger Raumproduktion befassen und gleichsam versuchen, auch Studierende dazu zu befähigen, eine verantwortungsvolle Berufspraxis auszuüben. Entsprechende Hal­ tungen blieben jedoch, angesichts des Ausmaßes der Probleme, vor denen wir heute stehen, meinem Gefühl nach viel zu vage, fragmentiert und implizit. Meine Wahr­ nehmung war, dass es dem kritischen Bewusstsein, dem politischen Aktivismus und dem Engagement raumbezogener Disziplinen – wie Urban Design – heute einer gemeinsamen Agenda fehlt (Hirsch 2013, 5). Wie der Philosoph Michael Hirsch sagt: „Es fehlt an einem gemeinsamen Bezugspunkt über politische Ziele; es fehlt an einem zusammenhängenden Programm – an einer neuen großen Erzählung über einen möglichen Fortschritt“ (ebd.). Möchte man wirksam Einfluss auf das fach­ politische Selbstverständnis von (angehenden) Urban Designern nehmen und pro­ duktiv auf die Berufspraxis einwirken, müssten politische Haltungen entschiedener vertreten, systematisiert und auf den Begriff gebracht werden. Sie sollten i­ nnerhalb der Wissenschaftsgemeinschaften sowie nichtwissenschaftlichen Akteuren gegen­ über möglichst deutlich gemacht werden. Beim zweiten Jubiläum, das den Abschluss meiner Masterarbeit im Sommer 2018 markierte, handelt es sich um den 50. Jahrestag der sozialen Bewegungen und Studierendenproteste um 1968, die auch die Geschichte der Architektur- und Pla­ nungsfakultäten der TU Berlin bewegten. Gemeinsam mit drei Kommilitoninnen und Kommilitonen verfasste ich einen Beitrag für das Buch Vergessene Schulen: Architekturlehre zwischen Reform und Revolte um 1968 (Gribat et al. 2017), das einen Rück­ blick über die damaligen Geschehnisse gibt und Auswirkungen auf gegenwärtige

014  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

Debatten über das Berufsbild von Architektinnen und Planern untersucht. Der ge­ meinsam verfasste Text „Kontroverse Berufsbilddebatten: Eine Gegenüberstellung der Diskussionen um die Planerflugschrift (1968) und die Kölner Erklärung (2014)“ (Burke et al. 2017) bot Anlass zur Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonten damaliger Studierender. Während unserer Recherchen stie­ ßen wir auf folgendes Zitat des Werkbund-Architekten Fritz Schumacher: Was wir heute tun, wird man später danach beurteilen, wie wir die Zukunft vorbereitet und für ihre Entfaltung die Möglichkeiten freigehalten haben. (Aktion 507 1968 a, o. S.)

Dieses Zitat stellten die Studierenden und Dozierenden der 68er-Generation der TU Berlin ihrem Diagnose-Manifest voran (ebd.). Mit der parallel stattfindenden ­Ausstellung über das Planen und Bauen in Berlin (Aktion 507 1968b) und der zeitgleich veröffentlichten „Planerflugschrift“ (Autorenkollektiv der Fachschaft Architektur, TU Berlin 1968) stießen sie damals einen Wandel an, der zu einem Paradigmenwech­ sel von Flächenabriss und Kahlschlagsanierung zur behutsamen Stadterneuerung, einer tief greifenden Reform des Architekturstudiums und der Gründung eines eigenständigen Studiengangs der Stadt- und Regionalplanung beitrug. A ­ ngetrieben wurden sie von dem Frust, eine „weder wissenschaftliche noch den Anforderungen der Praxis adäquate Planungsausbildung zu erhalten“ (ebd., 1499). Als angehender Urban Designer, an der Schwelle zwischen Studium und Be­ rufsleben, befand ich mich im gleichen Lebensabschnitt wie die Protagonistinnen und Protagonisten der 68er. Fasziniert blickte ich zurück auf die Tiefe der gesell­ schaftspolitischen Reflexion, das Selbstbewusstsein, mit dem politische Aktionen damals gewagt wurden, sowie auf die nachhaltige Wirkung der damals hauptsäch­ lich von Studierenden eingeforderten Reformen auf das heutige Selbstverständnis der Planungsdisziplinen, sowohl in Lehre und Forschung als auch in der Berufs­ praxis (Burke et al. 2017). Im Rückblick auf Jahre der Ausbildung, im Ausblick auf Jahrzehnte der Berufs­ tätigkeit und angesichts des 50. Jahrestages der damaligen Geschehnisse fragte ich mich: Was kann ich, als junger Urban Designer, heute dazu beitragen, die Zukunft vorzubereiten und für ihre Entfaltung die Möglichkeiten freizuhalten? In diesem Sinne stellt die vorliegende Arbeit einen persönlichen Rückblick und eine Reflexion meiner eigenen fachlichen Ausbildung dar. Ein D ­ eutungsdefizit ist immer auch ein Deutungspotenzial. Diese Arbeit ist der Versuch, meine Deu­ tungsnot zur Tugend zu machen, um eine Haltung und einen Anspruch an meine berufliche Zukunft als Urban Designer zu formulieren und Antworten auf die ein­ gangs gestellten Fragen zur Diskussion zu stellen: Was ist Urban Design? Was ist gutes Urban Design? Und was bedeutet eigentlich das Design im Urban Design?

PROLOG  015

INTRO: VON URBAN DESIGN ZU URBAN ­TRANSFORMATION DESIGN Der Weg zum Konkreten erfordert den Umweg über die Abstraktion. Niklas Luhmann, 1982

Dies ist eine designtheoretische Arbeit über die Frage „Was ist gutes Urban Design?“, die ich mit „Urban Transformation Design“ beantworte. Das ist der auf die kürzestmögliche Formel gebrachte Inhalt dieser Arbeit. Sie signalisiert gleich zu Beginn eine wichtige Grundeinsicht: Bei der zentralen Frage „Was ist gutes Urban Design?“ muss es sich um eine offene Frage handeln, sonst wäre es mir nicht möglich, diese mit einer eigenen Wortschöpfung zu beantworten. Die Frage nach der Bedeutung und Aufgabe des Urban Design war, wie wir sehen werden, seit jeher eine offene – und das ist auch gut so. Denn es ist genau diese Of­ fenheit, die Urban Design von anderen raumgestaltenden Disziplinen wie Architek­ tur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung unterscheidet und besonders macht. Manche Fragen, heißt es, sind zu gut, um sie durch eine Antwort zu ­zerstören. Eigentlich gilt dies auch für die nach der Bedeutung und Aufgabe des zeitgenös­ sischen Urban Design. Als Urban Designer, so bin ich überzeugt, gilt es Ambiva­ lenzen, die die Identität betreffen, und Unsicherheiten, die mit der Offenheit und Komplexität der eigenen Disziplin einhergehen, auszuhalten, wenn nicht lieben zu lernen. Urban Design erfordert Ambiguitätstoleranz (Bauer 2018). Der Verführung einer Disziplinierung der undisziplinierten Disziplin (Schultheis 2005) des Urban Design sollte daher unbedingt widerstanden werden. Man liefe Gefahr, ihr gemein­ sam mit der Offenheit ungewollt auch den Geist dessen, was Urban Design auszeich­ net, auszutreiben und die fruchtbare Quelle, die ihr (selbst-)transformative Kraft verleiht, versiegen zu lassen. Und doch, so mag es wirken, falle ich hier vom Glauben ab, wage mich an eine Antwort und begründe mit dem Begriff des Urban Transformation Design meine eigene Religion. Warum? So berechtigt und begrüßenswert, ja schützenswert die Kultur der Offenheit im Urban Design auch sein mag: Angesichts der multiplen Zivilisationskrise, mit der wir uns heute konfrontiert sehen, gilt es, so denke ich, aus der Behaglichkeit fachpolitischer Contenance herauszutreten und die Frage nach der Bedeutung und Aufgabe des Urban Design auf radikale Weise neu zu stellen – und zu beantworten. Blicken wir mit unverstelltem Blick auf unsere urbanen Lebensräume, so ­sehen wir eine Landschaft ideologischer Trümmer. Die Stadt ist eine Ruine. ­Manche sehen wie Ruinen aus, andere erstrahlen im Glanz und bersten vor Vi­ talität – doch die ­Katastrophe verbirgt sich hinter der Fassade (Fry 2017, 135).

INTRO  017

Die ­welt­um­spannenden Prozesse der Urbanisierung sind untrennbar mit der Lo­ gik der kapitalistischen Wachstumswirtschaft verbunden. Dieses der globalen Urbanisierung zugrunde liegende Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturmodell ist ethisch nicht tragbar, weil es weltweit enormes Leid verursacht. Es ist zudem nicht zukunfts­fähig, weil es seine eigenen materiellen Grundlagen zerstört. ­Wollen wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben, unsere zivilisatorischen Errungen­ schaften bewahren, erweitern und weiteren Teilen der wachsenden Erdbevölke­ rung zugänglich machen, müssen sich die Prozesse der globalen Urbanisierung, unsere urbanen Lebensräume und die Art ihrer Gestaltung radikal ändern. Die gute Nachricht lautet, dass sie sich ohnehin ändern werden. Die Frage ist, ob „by disaster or by design“ (Sommer und Welzer 2014), inwiefern der Wandel also von den sozialen und ökologischen Folgen der sich im 21. Jahrhundert zuspitzen­ den Eskalationsdynamik aus expansivem (Post-)Industriekapitalismus, exponen­ tiellem Bevölkerungswachstum und explosionsartiger Urbanisierung erzwungen wird oder wir ihn aktiv und zielgerichtet auf eine wünschenswerte, das heißt zu­ kunftsfähige und gerechte Weise gestalten können (ebd.). Unsere Zukunft ist also untrennbar mit der künftigen Entwicklung der Urba­ nisierung verbunden. Der Fortgang des 21. Jahrhunderts hängt wesentlich mit der Frage zusammen, wie wir unsere urbanen Lebensräume gestalten werden. Ein change „by“ design der urbanisierten Weltgesellschaft kann daher nur auf Grundlage eines change „of urban“ design gelingen, da es unser bisheriges Urban-Design-Ver­ ständnis ist, das uns ursprünglich in die Krise führte. Aus diesem Grund, so meine Überzeugung, brauchen wir ein grundlegend anderes Urban-Design-Verständnis. In dieser Arbeit werde ich einen Vorschlag für ein solches Verständnis unterbrei­ ten, das ich Urban Transformation Design nenne. Wie gelangen wir von Urban Design zu Urban Transformation Design? Die Spur, der ich in dieser Arbeit nachgehen werde, führt uns über ebenso tief grei­ fende wie folgenreiche Kontinentalverschiebungen an der Wissensbasis des Urban Design zu zwei tragenden begrifflichen Fundamenten der Disziplin: dem Design und der Transformation. Diese unterliegen gegenwärtig beide einem grundlegen­ den Bedeutungswandel. Auf der einen Seite lassen sich unter den Schlagwörtern des design turn und eines political turn des Design ein wachsendes Interesse an Fragen der Gestaltung sowie eine Entgrenzung und Erweiterung dessen beobachten, was unter „Design“ verstanden wird. Design wird hierbei zunehmend als politische Praxis angesehen. Der Begriff der Transformation wird zugleich, vor dem Hintergrund zuneh­ mender Forderungen einer „Großen Transformation“ (WBGU 2011) unserer nicht­ nachhaltigen Gesellschaft, zunehmend mit tief greifendem gesellschaftlichem Wandel in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht. Beide dieser diskursiven Wendungen spiegeln sich im noch recht jungen Transformation Design (Sommer und Welzer 2014; Jonas et al. 2016), einem Dis­ kurs-, Forschungs- und Praxisfeld, das anstrebt, mit gestalterischen Mitteln zu

018  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

einem grundlegenden Wandel unserer nichtnachhaltigen Gesellschaft in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit beizutragen. Diese drei genannten diskursiven Entwicklungen haben, meines Erachtens nach, eine enorme Bedeutung für Urban Design. Angesichts des Potenzials, wenn nicht der Notwendigkeit, einer fundamentalen Hinterfragung der eigenen Bedeu­ tung und Aufgaben, die hieraus für raumgestaltende Disziplinen erfolgen, ist es je­ doch frappierend, wie wenig Aufmerksamkeit eben diesen im Urban Design bisher zukommt. Hierauf, so denke ich, lässt sich aufbauen. Ein change „of urban“ design kann gelingen, wenn wir an die gegenwärtigen Entwicklungen in der Designwelt an­ knüpfen und zugleich die transformative Kraft des eigenen Wirkens grund­legend überdenken. Ein change „of urban“ design erfordert ein erweitertes und politisches Urban-Design-Verständnis. Mit Urban Transformation Design werde ich in dieser Arbeit die Grundrisse einer solchen zukunftsgewandten Raumpraxis skizzieren.

Der Gang der Untersuchung Stellt man sich diese Arbeit wie eine Reise vor, die von Urban Design zu Urban Trans­ formation Design führt, so ist das Intro der Routenplan, der zeigt, wie wir vom einen zum anderen gelangen. Die Reise führt uns über fünf Etappen zum Ziel. Auf diesen fünf Etappen wird schrittweise eine systematische und theoretisch fundierte Begründung, mehr noch, eine Aufforderung dahin gehend entwickelt, warum Urban Design heute idealer­ weise als Urban Transformation Design verstanden und ausgeübt werden sollte. In Kapitel 1 – Gegenwartsdiagnose wird ausgehend von einem gegenwartsdiag­ nostischen Überblick über die aktuell bedeutendsten gesellschaftlichen Problem­ lagen und Herausforderungen formuliert, was verantwortungsvolles, zeitgemäßes und zukunftsgewandtes, kurz: gutes Urban Design heute leisten muss. In Kapitel 2 – Urban Design folgt eine Auseinandersetzung mit der Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft der Disziplin. Hier wird erstens dargelegt, wie Urban Design zu dem wurde, was es heute ist; zweitens, um was es sich beim Urban D ­ esign heute handelt; drittens, warum und inwiefern das heute vorherrschende Urban-­ Design-Verständnis den in Kapitel 1 formulierten Herausforderungen (nicht) ent­ spricht; viertens, was sich zukünftig an Urban Design ändern muss; und fünftens, wie sich Urban Design ändern kann, um den in Kapitel 1 formulierten Ansprüchen und Erfordernissen zu entsprechen. Kapitel 3 – Design führt in den Designbegriff ein und fokussiert hierbei auf ein zentrales Charakteristikum der Disziplin: die Tendenz der Entgrenzung und ­Erweiterung des eigenen Bedeutungs- und Gegenstandsbereichs, und die (Selbst-) Disziplinierung durch (Selbst-)Begrenzung von und durch andere (gestalterische) Disziplinen. Mit dem gegenwärtigen design turn designferner Disziplinen und

INTRO 019

dem political turn des Design selbst wird anschließend der erweiterte und politi­ sche D ­ esignbegriff genauer betrachtet. Im Kompendium politischer Designbegriffe werden insgesamt 20 Designbegriffe vorgestellt, denen ein explizit erweitertes und politisches Designverständnis zugrunde liegt. Unter diesen wird mit dem Be­ griff des Transformation Design schließlich ein einzelner ausgewählt, auf den sich im wei­teren Verlauf der Arbeit die Entwicklung eines erweiterten und politischen Urban-Design-Verständnisses stützen soll. In Kapitel 4 – Transformation wird, mit dem Ziel einer Selbsttransforma­ tion des Urban Design, ausgehend vom Transformation Design, der Begriff der Trans­formation einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Der traditio­ nelle Transformationsbegriff des Urban Design wird hier mit den normativen Transformations­verständnissen des Transformation Design, der sogenannten Gro­ ßen Transformation, der transformativen Wissenschaft und der kritischen Trans­ formationsforschung gegenübergestellt. In Kapitel 5 – Urban Transformation Design werden in einer Synthese schließ­ lich die Erkenntnisse zum Urban Design (Kapitel 2), Design (Kapitel 3) und zur ­Transformation (Kapitel 4) in Beziehung gesetzt, um die eingangs formulierte Frage „Was ist gutes Urban Design?“ (Kapitel 1) mit „Urban Transformation De­ sign“ zu beantworten (Kapitel 5). Im fünften Kapitel werden mit dem Begriff des Urban Transformation Design abschließend die Grundrisse einer zukunftsgewand­ ten Raumpraxis skizziert. Noch da? Gute Reise!

020  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

1 GEGENWARTSDIAGNOSE: KRISE, KRITIK UND ZUKUNFT DES URBANEN Mit dem Fragen fängt das Denken an. Ettore Sottsass junior, 1999

1.1  Was ist gutes Urban Design? Urban Design ist ein englischer Begriff und bedeutet soviel wie städtische Gestaltung. Die Vermutung liegt also nahe, dass Urban Design etwas mit der Gestaltung von städtischen Lebensräumen zu tun hat. Das stimmt. „Doch halt!“, mögen die landlustigen unter den Lesenden einwenden. „Nur Städte? Und was ist mit dem Land?“ Und sowieso: „Ist das nicht dasselbe wie Städte­ bau? Warum dann nicht gleich auf Deutsch?“ In der Tat, diese Fragen sind be­ rechtigt. Und schon zeigt sich: Auf den ersten Blick scheint Urban Design etwas sehr Selbstverständliches, geradezu Triviales zu sein. Seine Analyse ergibt jedoch, dass es sich tatsächlich um einen äußerst vertrackten Begriff handelt, voll ontologischer Spitzfindigkeit und teleologischer Mucken. Auch sonst ähnelt Urban Design, wie sich zeigen wird, dem, was der Philosoph Karl Marx als „Fetischcharakter der Wa­ ren“ bezeichnete (Marx 1909 [1867], 37). Marx meinte damit, in einfachen Worten, dass den Waren und dem Geld im Kapitalismus Eigenschaften zugeschrieben wer­ den, die diese in Wahrheit nicht haben. Ähnlich verhält es sich mit Urban Design. Beschäftigt man sich mit der Geschichte des Urban Design, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich auch hier um ein fetischisiertes Ding han­ delt. Die Geschichte zeigt: Es gibt so viele Urban-Design-Verständnisse wie Urban Designer. Urban Design ist eine Wunschmaschine, eine Projektionsfläche, ein ­Palimpsest der Bedeutungszuschreibungen, gekennzeichnet von überbordendem Bedeutungsüberschuss. Urban Design ist eine Disziplin, die bis heute immer wie­ der neu definiert, immer wieder neu erfunden wurde. Jede Generation angehender Urban Designer muss daher die Frage nach der Bedeutung und Aufgabe des Urban Design auf zeitgemäße und zukunftsgewandte Weise neu stellen – und beantwor­ ten (Mumford 2006, 10). Ein verantwortungsvolles Urban Design, eine Raumpra­ xis, die sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewusst ist und politische sowie moralisch-­ethische Dimensionen des eigenen Handelns reflektiert, kommt also nicht umhin, sich die Frage zu stellen, in welcher Zeit wir heute leben und was in dieser heutigen Zeit die Bedeutung und Aufgabe sowie angemessene Kriterien für gutes Urban Design sind.

WAS IST GUTES URBAN DESIGN?  021

Genau darum geht es in diesem ersten Kapitel: Im Rahmen einer Gegen­ wartsdiagnose wird ein einleitender Überblick über aktuelle gesellschaftliche Pro­ blemlagen und Herausforderungen gegeben, die im weiteren Verlauf der Arbeit orientierungsgebend und handlungsweisend sein werden. Abschließend wird als Zwischenergebnis eine Hypothese dahin gehend formuliert, was gutes Urban De­ sign heute sein und leisten sollte.

1.2  Die expansive Moderne Millionen von Arten leben auf unserem Planeten. Nur eine, so Emmott (2014, 8 f.), ­beherrscht sie: wir. Unsere Spezies trat vor etwa 200 000 Jahren auf den Plan. Vor 10 000 Jahren waren wir eine Million. 1800 erreichten wir die erste Milliarde. Heute leben über sieben Milliarden Menschen auf der Erde. Während dieser Zeitspanne – in geologischer Zeit nicht mehr als ein Wimpernschlag – haben wir diesen Planeten durch unsere Intelligenz, unsere Kreativität und unser Tun umgestaltet, und zwar massiv (ebd., 17, 12). Während der sich ab dem 19. Jahrhundert entfaltenden Es­ kalationsdynamik aus expansivem Industriekapitalismus, exponentiellem Bevölke­ rungswachstum und explosionsartiger Urbanisierung begaben sich immer größere Teile der Welt auf den industriekapitalistischen Entwicklungspfad. Dies ging einher mit einer sogenannten Großen Beschleunigung (Crutzen und Schwägerl 2011) unse­ rer Fähigkeit zur Gestaltung und Beherrschung des Planeten. Diese Beschleunigung führte, insbesondere in den westlichen Industrienationen des ­sogenannten globa­ len Nordens, nicht nur zu einem historisch unvergleichlich hohen ­materiellen Wohl­ stand, sondern auch zu wertvollen zivilisatorischen Errungenschaften (Sommer und Welzer 2014, 24). Mit und oft auch durch den Widerstand sozialer Bewegungen gegen die Expansion des kapitalistischen Wirtschaftssystems entstanden für die Bürgerin­ nen und Bürger ideelle Güter wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsrechte und Schutz vor körperlicher Gewalt, Arbeitsschutzrechte, Gesundheits- und Sozial­ versorgung und viele mehr, die das Leben in den dortigen Ländern mit dem ­höchsten materiellen Wohlstand, der größten Lebenssicherheit und den meisten Freiheits­ rechten ausstatten, die es in der Menschheitsgeschichte je gab (Welzer 2016, 15). Das ist das unbestreitbare Verdienst der kapitalistischen Wachstumswirtschaft: Kein an­ deres Gesellschaftssystem zuvor vermochte es in diesem Maße, die gesellschaftliche Produktivität zu erhöhen, soziale Verhältnisse zu verbessern und Möglichkeiten in­ dividueller Freiheit zu gewähren (Sommer und Welzer 2014, 47). In dieser weltgeschichtlichen Phase zunehmenden Wohlstandes und Freiheit verschoben wir das Verhältnis zwischen Vorgefundenem und Umgestaltetem im­ mer deutlicher in Richtung des Gestalteten. Das kollektive Ausmaß der von uns ver­ ursachten Einwirkungen auf das Erdsystem hat hierbei neue Größendimensionen erreicht. Der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen und der

022 GEGENWARTSDIAGNOSE

Biologe Eugene Stoermer schlugen daher zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor, das gegenwärtige Zeitalter als Anthropozän zu bezeichnen, das Erdzeitalter des Men­ schen. Dieses beschreibt den Beginn einer neuen geochronologischen Epoche, in welcher der Mensch global einen bis in die Tiefenschichten der Erde hinab reichen­ den ­Einfluss auf die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse des Planeten nimmt und somit als hauptsächlicher Faktor planetarer Veränderung an­ gesehen werden kann (Crutzen und Stoermer 2000).1 Doch damit ist längst nicht das Ende der Großen Beschleunigung erreicht. Gegenwärtig begeben sich immer weitere Teile der Erdbevölkerung auf den indus­ triekapitalistischen Entwicklungspfad. Immer mehr Menschen ziehen auf der Su­ che nach Sicherheit, Wohlstand und Freiheit in die Städte. Die Weltbevölkerung wächst indessen scheinbar unaufhaltsam weiter. Dabei steuert die Menschheit auf völlig unbekanntes Terrain zu. Laut aktuellen Prognosen werden bis 2050 neun Mil­ liarden Menschen diesen Planeten bevölkern. Und wir wissen nicht, was passieren wird, wenn wir gegen Ende dieses Jahrhunderts auf zehn Milliarden angewachsen sein werden. Oder mehr (Emmott 2014, 17, 123).

1.3  Die Grenzen des Wachstums Der Begriff des Anthropozäns spiegelt auch einen kognitiven Wandel der Mensch­ heit wider, die sich ihrer Bedeutung als gestaltende Kraft des Planeten zunehmend gewahr wird (WBGU 2011, 33). Dieser Bewusstseinswandel hat seine Gründe. Denn unsere Intelligenz, unsere Kreativität und unser Tun – die Quellen unseres Wohl­ standes – sind zugleich die Ursachen vieler der globalen Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen (Emmott 2014, 12). Heute, zu Beginn des 21. Jahrhun­ derts, da die Globalisierung den gesamten Planeten in den wachstumswirtschaft­ lichen Sog zieht, stehen wir vor der Herausforderung, unsere zivilisatorischen Er­ rungenschaften zu sichern, die immer stärker unter den Druck ökologischer wie sozialer Krisen geraten (Welzer und Wiegandt 2017, 7). Der materielle Wohlstand kapitalistischer Gesellschaften beruht auf einem expansiven System, das permanentes Wachstum zu brauchen scheint, um sich dy­ namisch zu stabilisieren. Das Betriebssystem des Kapitalismus kann hierbei mit der einfachen Formel G – W – G‘ grob zusammengefasst werden: Geld (G) wird in die Produktion von Waren (W) investiert, um mit dem Handel dieser Waren einen 1

Der Begriff des Anthropozäns wird zum Teil stark kritisiert, da er suggeriert, es sei der Anthropos, also der Mensch an sich, beziehungsweise die gesamte Menschheit, die unser gegenwärtiges Erdzeitalter prägt – und damit wesentlich für den anthropogenen Klimawandel verantwortlich ist –, dabei müssten in diesem Kontext mit „wir“ vor allem „Menschen in einer historisch und wirtschaftlich höchst spezifischen kulturellen Formation“ (Welzer 2016, 14) gemeint sein, und zwar vor allem „Menschen in den kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens“ (Brand und Wissen 2017, 33 f.).

DIE GRENZEN DES WACHSTUMS  023

Mehrwert, also mehr Geld (G‘), zu produzieren. Kapitaleignende müssen einen Großteil des produzierten Mehrwerts (G‘) in weitere Warenproduktion reinvestie­ ren und mehr Mehrwert erwirtschaften, um die eigene Position im Wettbewerb um ständige Kapitalakkumulation auszuweiten oder zumindest zu halten – also dyna­ misch stabilisieren zu können. G – W – G‘ – W – G‘‘ – W – G‘‘‘ … und so weiter (Marx 1909 [1867], 68–78). Dabei besteht jedoch ein entscheidendes Problem: Jede menschliche Gesellschaft, einschließlich ihrer Ökonomie, ist ein Subsystem des Planeten Erde. Sie lebt von den Stoffströmen dieses übergeordneten Systems; von seiner Fähigkeit, Wasser, Atemluft, Nahrung, Mineralien und einigermaßen stabile Wetterverhältnisse bereitzustellen. Die Erde kann leicht ohne menschliche Gesellschaften und Ökonomien auskommen, aber diese Gesellschaften und Ökonomien können nicht für den Bruchteil einer Sekunde ohne das ultrakomplexe lebende System der Erde existieren. Bricht das übergeordnete System zusammen, geht auch das Subsystem zugrunde. [...] Ein Subsystem kann niemals das übergeordnete System, von dem es abhängt, kontrollieren. Ein Subsystem kann innerhalb eines übergeordneten Systems auch nicht grenzenlos wachsen. Überschreitet es bestimmte kritische Schwellen, brechen Funktionen des übergeordneten Systems zusammen, die wiederum die Versorgung des Subsystems untergraben. (Scheidler 2017, 201)

Genau dies ist heute der Fall. Moderne Gesellschaften wie die unsere sind struk­ turell nicht zukunftsfähig, weil sie auf physischen Grundlagen beruhen, die nicht dauerhaft zur Verfügung stehen. Sie ignorieren die planetaren Grenzen und verbrau­ chen ihre eigenen Existenzgrundlagen. Und davon jedes Jahr mehr. In der Folge ­lassen sich heute bei vielen der lebenswichtigen Umweltdimensionen unseres Pla­ neten krisenhafte Entwicklungen beobachten (Rockström et al. 2009; Sieferle 2010; WBGU 2011). Das Erreichen ökologischer Grenzen geht dabei untrennbar mit sozialen Gren­ zen einher. Je mehr wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, desto wei­ ter verschärfen sich auch die globalen sozialen und politischen Konflikte. So ist zu­ künftig beispielsweise aufgrund der globalen Erwärmung „mit einem Rückgang der Lebensmittelproduktion sowie der Verfügbarkeit an Trinkwasser zu rechnen“ (Sommer und Welzer 2014, 27) – und dies bei einer exponentiell wachsenden Welt­ bevölkerung. Regionen in Küstennähe und heute ohnehin schon extrem heißen Weltgegenden werden aufgrund eines steigenden Meeresspiegels und der Zunahme extremer Wetterbedingungen unbewohnbar werden. Schätzungen zufolge werden so bis 2050 weltweit 250 Millionen Menschen wegen Nahrungs- und Wasserman­ gels und Obdachlosigkeit, auf der Flucht vor sozialen und politischen Konflikten sowie auf der Suche nach Lebensgrundlagen, Sicherheit und Perspektive aus ihrer Heimat vertrieben und massive Migrationsbewegungen in Gang gesetzt werden. Hierbei überschreiten sie bereits heute in großen Zahlen nationale Grenzen, was zu neuen Konflikten führt und die Destabilisierung ganzer Regionen zur Folge hat (Fry

024 GEGENWARTSDIAGNOSE

2017, 3, 6, 41 f.). Diese kann wiederum leicht in politische Umbrüche umschlagen, „von Revolutionen bis hin zu autoritären Machtergreifungen und Kriegen“ (Scheid­ ler 2017, 202). Mögliche politische Implikationen solch unkontrollierter Fluchtbe­ wegungen lassen sich seit 2015 anhand der Folgen der sogenannten europäischen „Flüchtlingskrise“ beobachten. Diese Befunde zeigen, dass ökologische Fragen ge­ meinsam mit sozialen und ökonomischen betrachtet werden müssen.

1.4  Zur Bedeutung des Urbanen Was hat das mit Urban Design zu tun? Zunächst einmal besteht, wie der G ­ eograf ­David Harvey eindrücklich gezeigt hat, ein innerer Wirkungszusammenhang ­zwischen dem expansiven System der (post-)industriekapitalistischen Wachstums­ wirtschaft und den Prozessen der globalen Urbanisierung. Die Stadt war vom Anbe­ ginn des Kapitalismus der zentrale Ort der Wert- und Mehrwertproduktion und die Urbanisierung ein entscheidendes Mittel zur Absorption von Kapital- und Arbeits­ kräfteüberschüssen (Harvey 2014, 88). Der Kapitalismus erzeugt fortwährend das Mehrprodukt, das die Urbanisierung benötigt. „Umgekehrt gilt dasselbe. Der Ka­ pitalismus benötigt die Urbanisierung, um das Mehrprodukt zu absorbieren, das er fortwährend erzeugt“ (ebd., 30). Das Urbane ist laut dem Stadttheoretiker Lewis Mumford die „größte Errun­ genschaft unserer Zivilisation“ (Matzig 2017, 2). Bei der globalen Urbanisierung handelt es sich laut dem Designtheoretiker Tony Fry um das wirkungsmächtigste ­Gestaltungsmerkmal unserer Spezies und seit Beginn des 19. Jahrhunderts um einen Kerntrend des globalen Wandels, mit enormen Auswirkungen auf Weltgesellschaft und Erdsystem (Fry 2017, 167). Die Überlegungen, die dem Begriff des Anthropozäns zugrunde liegen, schlagen sich daher auch in den Diskursen der Raumforschung nie­ der, die ihrerseits unlängst das urbane Zeitalter ausgerufen hat. Das Urbane ist heute demnach weltumspannend. Das Wachstum des Urbanen und die zunehmende Ver­ dickung globaler Kapital-, Waren-, Personen- und Kommunikationsströme gehen laut den Raumtheoretikern Neil Brenner und Christian Schmid mit einer sukzessi­ ven funktionalen Integration des Hinterlandes und einem Ende der Wildnis einher. Die Natur ist heute multidimensional und translokal mit den sozioökonomischen Transformationen der globalen Urbanisierung verwoben und in operationalisierte Landschaften überformt. Die gesamte Welt ist von den Prozessen der Urbanisierung betroffen (Brenner 2014, 14–31; Brenner und Schmid 2014, 160–163). Dieser Trend setzt sich gegenwärtig mit hoher Dynamik fort. „Das 21. Jahr­ hundert wird das Jahrhundert der Städte sein: Urbane Räume werden zur zentra­ len ­Organisationsform nahezu aller menschlichen Gesellschaften“ (WBGU 2016, 1). Während die Weltbevölkerung exponentiell anwächst, steigt zugleich auch der welt­ weite Anteil der Stadtbevölkerung um mehr als 1 Million pro Woche (WBGU 2011, 58).

ZUR BEDEUTUNG DES URBANEN  025

Sie könnte laut aktuellen Prognosen bis zum Jahr 2050 von heute etwa 4 Milliarden auf dann 6,5 Milliarden Menschen ansteigen. Knapp zwei Drittel der Menschheit würden dann in urbanen Räumen leben. Der Umzug der Menschheit kann daher auch im 21. Jahrhundert als der „wirkungsmächtigste Prozess des sozialen Wandels“ an­ gesehen werden (WBGU 2016, 1). Das Dilemma hierbei: Das wirtschaftlich enorm erfolgreiche System, das sich ab dem 18. Jahrhundert in frühindustrialisierten Nationen herausbildete, basierte von Anfang an darauf, dass es die Ressourcen zum ökonomischen wie urbanen Wachstum „von Außen, d. h. vor allem aus den (Ex-)Kolonien, bezog. Eine globali­ sierte Welt hat jedoch kein Außen mehr“ (Sommer und Welzer 2014, 43). Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der Urbanisierung der Schwellenländer des globa­ len Südens begeben sich heute immer größere Teile der exponentiell wachsenden Weltbevölkerung auf den Entwicklungspfad frühindustrialisierter Gesellschaften. Mit dem Wachstum des Urbanen verbreitet sich also auch die auf Wirtschaftswachs­ tum ausgerichtete Imperiale Lebensweise 2 des globalen Nordens, die wesentlich für die globalen ökologischen und sozialen Krisen verantwortlich und somit schlicht nicht verallgemeinerbar ist (ebd.). Städte sind zugleich Treiber und Betroffene planetarer Umweltveränderun­ gen (WBGU 2016, 2). Sie sind verantwortlich für einen überwiegenden Teil des ­welt­weiten Ressourcenverbrauchs und einen Großteil der Landnutzung. Sie sind Ur­sache für rund 80 Prozent der Treibhausgase, verbrauchen ungefähr 75 Prozent der global erzeugten Energiemenge und produzieren etwa 75 Prozent allen terres­ trischen Abfalls (Hebert 2016, 263; von Borries und Kasten 2019, 47). Die weltweite Urbanisierung ist hauptverantwortlich dafür, dass der globale Rohstoffverbrauch, die Emissions- und Abfallmengen da exponentiell wachsen, wo sie eigentlich radi­ kal schrumpfen müssten. Eine große Zahl an menschlichen Siedlungsgebieten wird in Folge des Klima­ wandels kaum bewohnbar sein, unter ihnen möglicherweise einige der bevölke­ rungsreichsten und am stärksten wachsenden Städte und Metropolregionen des Planeten (Fry 2017, 50 f.). Eine Vielzahl an Städten wird mit enormen Problemen konfrontiert sein, weil ihre Bauweise und die Art ihrer sozialen und politischen Or­ ganisation den Herausforderungen der Zukunft nicht gewachsen sein wird (ebd., 3). Während auf der einen Seite mit scheiternden Siedlungen auch ganze Ökonomien zusammenbrechen, wird auf der anderen Seite die Arrival City (Saunders 2013) mit der Aufnahme und Integration der Opfer der sozialökologischen Eskalations­ dynamik konfrontiert sein. Laut UN-Habitat sind gegenwärtig etwa 80 Prozent des gesamten globalen Wohnungsneubaus informeller Natur (UN-Habitat 2007; Meilke 2011). Schon heute leben weltweit über 850 Millionen Menschen in unzureichenden 2

Der Begriff der Imperialen Lebensweise beschreibt „herrschaftliche Produktions-, Distributions- und Konsummuster, die tief in die Alltagspraktiken der Ober- und Mittelklassen im globalen Norden und zunehmend auch in den Schwellenländern des globalen Südens eingelassen sind“ (Brand und Wissen 2017, 44).

026 GEGENWARTSDIAGNOSE

Wohnverhältnissen ohne infrastrukturelle Grundversorgung (WBGU 2016, 5). Diese Zahl könnte laut der UN bis 2050 um 1 bis 2 Milliarden steigen (UN Desa 2013). Es zeichnet sich daher bereits heute ab, dass in den kommenden drei Jahrzehnten ebenso viele Infrastrukturen hinzukommen werden, wie seit der industriellen Re­ volution entstanden sind (WBGU 2016, 6). Städte werden in Zukunft – und sind es b ­ ereits heute – auch immer mehr zum Austragungsort sozialer, politischer und gewaltsamer Konflikte. Sie sind „Schauplatz von Segregation, Hunger, Krieg und Terror, und Stadtbewohner werden immer öfter zu Opfern von ökologischen, kli­ matischen, politischen und gesellschaftlichen Katastrophen“ (Hebert 2016, 263). Während sich bereits heute immer mehr Städte aufrüsten und abschotten und ihre Bewohnenden bewachen, ist davon auszugehen, dass auch die Kriege der Zukunft vor allem in den urbanen Räumen von morgen ausgetragen werden (SSG 2014). Diese Zusammenhänge machen deutlich: Unsere Zukunft ist untrennbar mit der zukünftigen Gestaltung des Urbanen verbunden. Von den Entscheidungen, die in den kommenden Jahren in urbanen Räumen getroffen werden, hängt der Fortgang des 21. Jahrhunderts ab (WBGU 2016, 417). Bis 2050 könnte laut Wissen­ schaftlichem Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Weg in Richtung einer nachhaltigen Urbanisierung eingeschlagen oder aber eine Ketten­reaktion von dann irreversiblen Fehlentscheidungen ausgelöst werden, die die Menschheit in eine existenzielle Zivilisationskrise führen (ebd., 7). Wir ha­ ben also einen Handlungsspielraum, um die Weichen in Richtung Zukunftsfähig­ keit zu stellen. Dieser Spielraum schwindet jedoch so rasch, „dass wenig Zeit bleibt, um den Urbanisierungsprozess adäquat zu gestalten bzw. umzusteuern“ (ebd., 6).

1.5  Change by Disaster or by (Urban) Design Um die Folgen der hier beschriebenen interdependenten Eskalationsdynamik aus expansivem (Post-)Industriekapitalismus, exponentiellem Bevölkerungswachstum und explosionsartiger Urbanisierung zusammenzufassen: Wir stecken in ernsthaf­ ten Schwierigkeiten. Unser sich durch die globale Urbanisierung verbreitende, strukturell nicht­ nachhaltige Modus des Bewohnens dieses Planeten ignoriert die planetaren ­Grenzen und wird daher im Verlauf des 21. Jahrhunderts, ohne Umlenkung in klima- und sozialverträgliche Bahnen, eine fatale Wirkung auf die Existenzgrund­ lagen gegenwärtiger wie künftiger Generationen entfalten. Wir untergraben die Trag­fähigkeit des Erdsystems, der Menschheit auch in Zukunft die stabile Existenz­ grundlage zu bieten, die ihr Entstehen und ihren unglaublichen Erfolg während der letzten 10 000 Jahre erst ermöglicht hat (WBGU 2011, 33). Es geht also womöglich um nichts weniger als „die menschliche Lebensform, die durch ihre eigene nicht­ nachhaltige Praxis bedroht ist“ (Welzer 2016, 14).

CHANGE BY DISASTER OR BY (URBAN) DESIGN  027

Es geht hierbei jedoch um viel mehr als um das nackte Überleben. Die Frage ist vor allem, wie wir (über-)leben. Laut Untersuchungen zur Beziehung zwischen den Folgen des Klimawandels und Gewalt (UNEP 2007; EU-Kommission 2008) droht bei weiterer Überschreitung der planetaren Grenzen, der Verknappung natürlicher Ressourcen und der Zuspitzung sozialer Konflikte ein Eskalationsprozess der Entzi­ vilisierung bis hin zu Klimakriegen (Welzer 2008; Sommer und Welzer 2014, 44). Es geht bei Fragen der nachhaltigen Entwicklung also auch und vor allem um die Ge­ währleistung und „Aufrechterhaltung einer kulturellen Lebensform, die durch Frei­ heit, Recht und Teilhabe definiert ist“ (Welzer 2016, 14) – darum, ob die Gesellschaft und die Stadt der Zukunft eine offene Stadt (Sennett 2018) sein wird, oder nicht. Fest steht: Unser aktueller Zustand ist auf Dauer unhaltbar. Die gute Nachricht lautet, so die Transformationsforscher Bernd Sommer und Harald Welzer (2014, 10), dass sich das der globalen Urbanisierung zugrunde liegende Gesellschafts- und Kultur­modell der kapitalistischen Wachstumswirtschaft so oder so ändern wird. Die Frage ist jedoch, inwiefern die Veränderung von der sich zuspitzenden sozial­ ökologischen Eskalationsdynamik erzwungen wird, oder auf Grundlage von „Demo­ kratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität gestaltet“ und in eine wünschenswerte Richtung umgelenkt werden kann – ob der Wandel also by disaster or by design erfolgen wird (ebd.).

1.6  Wir müssen uns ändern All diese Tatsachen laufen auf eine unumstößliche Erkenntnis hinaus: Wir müs­ sen uns ändern. Ein radikaler Wandel unseres Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturmodells sowie der Prozesse der globalen Urbanisierung in klima- und sozial gerechte Bahnen ist dringend notwendig, um unsere Existenzgrundlagen und Zu­ kunftschancen zu bewahren sowie unsere zivilisatorischen Errungenschaften zu sichern – und möglichst zu erweitern sowie weiteren Teilen der wachsenden Erd­ bevölkerung zugänglich zu machen (WBGU 2011, 281). Die große Herausforderung besteht heute also darin, einen Weg der Verge­ sellschaftung und Urbanisierung zu finden, der bei radikal reduziertem Ressourcen­ verbrauch die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung unseres heutigen zivili­ satorischen Standards ermöglicht (Sommer und Welzer 2014, 25). Es geht laut Welzer „also um die Organisation eines nachhaltigen Naturverhältnisses unter den ­zivilisatorischen Bedingungen der Moderne“ (Welzer 2017, 12). Hierfür ist ein echter Pfadwechsel in Richtung Nachhaltigkeit notwendig, der auch globale Gerechtigkeitsfragen nicht mehr ausklammert (Welzer 2016, 21). Wir müssen uns ändern, individuell und kollektiv. „Wollte man auf eine nachhaltige ­Lebens- und Wirtschaftsweise kommen und zugleich das normative Ziel einer globa­ len Gerechtigkeit verfolgen, dann müssten wir, die Bewohnerinnen und Bewohner

028 GEGENWARTSDIAGNOSE

einer der reichsten Gesellschaften der Erde“ unseren Ressourcenverbrauch r­ adikal reduzieren (Welzer 2017, 9). Dies setzt eine „Veränderung der Praxisformen in fast allen Lebensbereichen“ (Sommer und Welzer 2014, 37) und unsere freiwillige De­ privilegierung voraus, von Produktion-, Arbeits- und Konsumformen bis hin zur Art des Bewohnens dieses Planeten (ebd., 49). „Wir müssen uns ändern“ bedeutet auch: Unsere Lebensräume müssen sich än­ dern. Denn die Zukunft der Menschheit ist untrennbar mit der Frage verbunden, wie die urbanen Räume der Zukunft aussehen werden. „Die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt oder scheitert in den Städten“ (WBGU 2016, 7). Wenn wir als Menschheit eine (gute) Zukunft haben wollen, darf unsere Nichtnachhaltigkeit, die­ sen Planeten zu bewohnen, nicht fortgeführt werden wie bisher. Denn unsere Städte sind eine Katastrophe (Virilio 2005, 90). Das Verhältnis von Mensch und Umwelt ver­ hält sich hierbei dialektisch. Der Mensch gestaltet seine urbane Umwelt. Doch das Urbane gestaltet genauso das Sein des Menschen. Das bedeutet: Wenn sich unsere Lebensräume nicht grundlegend ändern, werden auch wir uns nicht grundlegend ändern können. Und wenn wir uns nicht ändern, wird sich auch das Urbane nicht ändern können. Die (Um-)Gestaltung des Urbanen erfordert somit zugleich die (Um-)Gestaltung unseres Selbst. Das Finden neuer Wege der Subjektivierung und Urbanisierung und die fundamentale Umgestaltung der Stadt stellen somit einen ethisch-moralischen Imperativ des urbanen 21. Jahrhunderts dar (Fry 2017, viii). Und tatsächlich – man muss gar nicht weit in die Zukunft blicken, Prognosen zitieren und defätistische Drohkulissen konstruieren, um festzustellen: Viele Men­ schen in Deutschland wollen Veränderung, und das schon heute. Denn spätestens seit der Immobilien- und Finanzkrise von 2008, die nahtlos in die Euro- und Schul­ denkrise überging und in Deutschland zuletzt von der sogenannten Migrations­ krise abgelöst wurde, macht sich das kollektive Gefühl breit, dass „hier irgendwas nicht stimmt“. Indem die Krise zum Normalzustand geworden ist, befindet sich der Kapitalismus selbst in einer gravierenden Legitimationskrise (Wright 2017, 486). Systemkritik ist heute wieder salonfähig. So erscheint auch die Forderung „So wie es ist, kann es nicht bleiben!“ – einer der Slogans der 68er-Bewegung – aktueller denn je. Wachstums- und Kapitalismuskritik werden von einem Großteil der deut­ schen Bevölkerung geteilt. So halten laut einer im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung 2010 durchgeführten Studie knapp 90 Prozent der Deutschen das derzeitige System nicht für geeignet, „den Schutz der Umwelt, den sorgsamen Umgang mit den Res­ sourcen sowie den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft genügend zu berücksich­ tigen“ (WBGU 2011, 72). Rund 80 Prozent wünschen sich demnach gar eine neue Wirtschaftsordnung (ebd.). Befunde wie diese zeigen: Wir befinden uns in einer politischen Landschaft „ideologischer Trümmer“ (Fisher 2013, 92). Der Niedergang des Fortschrittsopti­ mismus, der die westliche Zivilisation im 20. Jahrhundert geprägt hatte, ist nicht zu übersehen (Scheidler 2017, 197).

WIR MÜSSEN UNS ÄNDERN  029

Die Welten der Zeitung, der Wissenschaft, der Literatur und Fotografie, des Films, des Fernsehens sind geradezu kontaminiert von den Bildern des Unheils – Bildern, die vom Sterben und Aussterben, Verkümmern, Verdursten, Ersticken, Schmelzen, Ertrinken oder Verbrennen sprechen. Selbst die großen kommerziellen Kinofilme schwelgen seit Jahrzehnten in Endzeitphantasien, unterhaltsamen Apokalypsen, finalen Katastrophen. (­Willemsen 2016, 9)

Und doch, so scheint es, ändert sich wenig. Zumindest nicht in die gewünschte Richtung.

1.7  Das Ende der Geschichte Im Kontrast zu den sich beschleunigenden sozialökologischen Katastrophen, den an­ haltenden Krisen- und Ausnahmezuständen und dem starken Vertrauensverlust in die kapitalistische Wirtschaftsordnung zeigt sich die heutige Politik unfähig, Ideen zu entwickeln, um unsere Gesellschaften zum Besseren umzugestalten (Srnicek und Williams 2013, 22). Dies zeigt jedenfalls der Blick in die deutschen P ­ arteiprogramme. Keine der bedeutenden deutschen Parteien hinterfragt das Wachstumsparadigma grundsätzlich und konsequent, keine zeigt sich ernsthaft um die Entwicklung alter­ nativer Entwürfe der Urbanisierung bemüht (Sommer und Welzer 2014, 71). Statt­ dessen wird unser politisches Leben vom überwältigenden Konservatismus eines business as usual beherrscht (ebd.; Welzer 2017, 10). Die kritische Betrachtung gegenwärtig dominanter, meist technologiegläu­ biger Bewältigungsstrategien des politökonomischen Mainstreams zeigt jedoch: ­business as usual ist keine Option mehr (Jackson 2009, 15). Die Zukunftsoptionen von heute sind die Utopien von gestern, „und plötzlich, so scheint es, geht es nur noch um die Sicherung dieses Status quo“ (Welzer 2017, 10). Angesichts dieser Lähmung der politischen Imaginationskraft findet Zukunft heute kaum mehr statt (Srnicek und Williams 2013, 22). „Zukunft, das ist heute: Schlimmeres verhindern, Vorhandenes konservieren, keine Experimente“ (ebd., 24). Es gab einmal eine Zeit – sie ist noch gar nicht lange her –, da glaubten sowohl Kritikerinnen als auch Verteidiger des Kapitalismus, dass eine andere Welt m ­ öglich ist. Doch mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs erlosch dieser Glaube ab 1989 zunehmend. Aufgrund des Niedergangs des Ostblocks sowie der (Selbst-)Diskreditierung der kommunistischen Utopie glaubte der Westen, die liberale Demokratie und der Kapitalismus seien die einzige mögliche Zukunft des globalisierten 21. Jahrhunderts. Das Ende der Geschichte (Fukuyama 1992) wurde ausgerufen (Wright 2017, 28). Heute glauben die meisten Menschen nicht länger an die Möglichkeit einer anderen Welt. „Der Kapitalismus erscheint ihnen als Teil der natürlichen Ordnung“ (ebd., 39). In der ideologischen Monokultur von heute

030 GEGENWARTSDIAGNOSE

scheint Zukunft kaum mehr denkbar. Als sei „mit der Einlösung der Wohlstands­ versprechen der Nachkriegszeit die Zukunft aufgebraucht, indem sie realisiert wor­ den ist“ (Welzer 2017, 10). Eigens für diesen Zustand, dieses latente Gefühl, wurden in der linken Theo­ rie zahlreiche Begriffe geprägt. Der Kulturtheoretiker Marc Fisher beschrieb mit ­Kapitalistischem Realismus (2013) das weitverbreitete Gefühl, dass es mittlerweile unmöglich ist, sich eine alternative Realität überhaupt vorzustellen, eine unsicht­ bare Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt und die gesellschaftli­ che Vorstellungskraft aushöhlt. Prägnanter als mit Margaret Thatchers „There is no Alternative“ kann man diesen Zustand nicht auf den Punkt bringen, in dem es, laut dem Theoretiker Frederic Jameson, einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustel­ len als das Ende des Kapitalismus (Jameson 2003). Der Architekt und Philosoph Paul Virilio nannte unsere Zeit eine des Rasenden Stillstands (1997), in der das Rasen an der Oberfläche den Stillstand in der Tiefe nur dürftig zu überdecken vermag. An der Oberfläche verändert sich alles rasend schnell, in den Tiefenstrukturen bleibt jedoch alles gleich. Auch die Absolute Gegenwart (Quent et al. 2016) beschreibt das Gefühl, dass wir in einer unendlich gedehnten Gegenwart gefangen sind. Defuturing nennt der Designtheoretiker Tony Fry (1999) diesen doppelten Verlust der Zukunft, indem wir uns mit jedem weiteren Tag, den wir uns als unfähig erweisen, Zukunft zu denken, buchstäblich um unsere Zukunft bringen, da die Eskalationsdynamik sozialökologischer Katastrophen scheinbar unaufhaltsam weiter voranschreitet.

1.8  Wider die Retro- und Technotopien Haben wir heute also wirklich das Ende der Geschichte erreicht? Ändert sich tat­ sächlich nichts an den Tiefenstrukturen der Gesellschaft? Mitnichten. Die Welt dreht sich weiter. Derzeit, so scheint es, nur nicht in die li­ berale, demokratische und sozialökologisch-nachhaltige Richtung, die im Hinblick auf den Erhalt – und eine tatsächliche Öffnung – der Offenen Gesellschaft (Popper 1957) wünschenswert und notwendig wäre. Statt um progressive Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart handelt es sich bei dem, was im politökonomischen Mainstream gegenwärtig an Alternativen angeboten – und zunehmend nachge­ fragt – wird, entweder um nostalgischen Eskapismus in Retrotopien der Vergangen­ heit (Bauman 2017) oder technotopische Zukunftsfantasien. Auf der einen Seite will „Trump [...] ‚Amerika wieder groß machen‘. Putin träumt davon, das Zarenreich wie­ derzuerwecken. Im Mittleren Osten will der IS das Kalifat aus dem 7. Jahrhundert wiederbeleben“ (Hürter et al. 2017, 4). Nicht vorwärts soll es hier gehen, s­ ondern zurück zu (vermeintlicher) alter Größe. Viele Menschen scheinen den Glauben an ein zukünftig besseres Leben schlicht aufgegeben zu haben. Stattdessen wenden sie sich einer untoten Vergangenheit zu (Bauman 2017). Auf der anderen Seite regiert

WIDER DIE RETRO- UND TECHNOTOPIEN  031

das narzisstische Wunschdenken der Apologetinnen und Protagonisten des Silicon Valley, die, anstelle gegenwartverankerter Antworten auf heutige ­Zukunftsfragen, lieber Fluchtpläne für eine posthumane und extraterrestrische Z ­ ukunft schmie­ den und sich gedanklich bereits in ein technotopisches Übermorgen verabschiedet ­haben. Auf der einen Seite die geschlossene Stadt. Auf der anderen Seite die unter­ nehmerische, neofeudale Smart City. Auf beiden Seiten scheinen die sozialpsycho­ logischen Triebkräfte, die politische Agenden und die ökonomischen Beweggründe höchst fragwürdig – und entsprechende Zukunftsangebote entsprechend der hier dargelegten Argumentation wenig attraktiv. Die drohende Deutungshoheit der extremen Rechten über die Zukunft zeugt zugleich von der anhaltenden Lähmung einer schwachen Linken. Dreißig Jahre Neoliberalismus haben die meisten linksorientierten Parteien aller radikalen Ideen beraubt, ausgehöhlt und ohne Mandat der Bevölkerung zurückgelassen. Bestenfalls haben sie auf unsere gegenwärtigen Krisen mit dem Ruf nach der Rückkehr zu einer keynesianischen Volkswirtschaft reagiert – ungeachtet der Tatsache, dass die Bedingungen, die die Nachkriegssozialdemokratie ermöglicht haben, nicht mehr existieren. (Srnicek und Williams 2013, 23)

Zeitdiagnostische Begriffe wie der kapitalistische Realismus zeugen somit auch von dem Unvermögen der politischen Linken, gesellschaftliche Alternativen zu ­ersinnen, die über den Sozialismus des 20. Jahrhunderts hinausgehen, und der „Ermangelung einer radikal neuen sozialen, politischen, organisatorischen und öko­ nomischen Vision“ (ebd., 23 f.). Statt eigene, neue, tragfähige, zukunftsfähige Ideen zu entwickeln und überzeugende Alternativen zum Status quo vorzuschlagen, be­ schränkt sich die Linke seit den 1990er-Jahren vor allem auf (Selbst-)Kritik. In der Tat: Die Kritik gegenwärtiger Missstände sollte die Grundlage eines jeden progres­ siven gesellschaftlichen Wandels darstellen – das permanente Ausrufen einer Krise reicht aber, wie die denkwürdige Vergangenheit (und traurige Gegenwart) der Lin­ ken zeigt, schlicht nicht aus, um einen Wandel anzustoßen. Indem die Kritik wie paralysiert auf die Krise starrt, trägt sie mit dazu bei, diese am Leben zu halten. Was ultimativ in der Krise steckt, ist somit vor allem die Kritik selbst. Mit Kritik wer­ den wir die Krise nicht los, sorgt sie doch nur für einen permanenten Stillstand (­Avanessian 2013, 73 f.).

1.9  Wie wollen wir leben? Wir müssen uns also etwas einfallen lassen. Wenn wir die großen Probleme der Gegenwart weder mit business as usual noch mit Kritik lösen können, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf die Suche nach neuen Denk- und Gestaltungsmög­

032 GEGENWARTSDIAGNOSE

lichkeiten einer radikal anderen Zukunft zu begeben. Wir müssen also laut Welzer die Nachhaltigkeitsfrage wieder als politische formulieren: Wie wollen wir leben? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie wollen wir in dieser Gesellschaft leben? Wie viel müssen wir abgeben? Welche Verantwortung, welche soziale Verpflichtung kommt jenen zu, die das Privileg haben, in freien und sicheren Gesellschaften zu leben? Und schließlich: Welchen Gewinn an Lebensqualität können sie selbst aus einem höheren Maß an globaler und lokaler Gerechtigkeit, aus der Ausübung ihrer Verantwortung ziehen? (Welzer 2016, 29)

Wie sehen moderne Gesellschaften aus, die nicht mehr wachsen müssen, son­ dern das gute Leben mit einem Bruchteil unseres heutigen Ressourcenverbrauchs ­ermöglichen (Welzer und Wiegandt 2017, 7)? Und: Wie kann die globale Urbanisie­ rung genutzt werden, „um die Förderung von Lebensqualität von einer Erhöhung der Umwelt­belastungen zu entkoppeln und die natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern“ (WBGU 2016, 2)?

1.10  Zurück in die Zukunft: Eine Frage des Urban Design Dies führt uns abschließend zu den Fragen: Was kann Urban Design hierzu beitra­ gen? Wie können Urban Designer dazu beitragen, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hinzuwirken? Dies, so bin ich überzeugt, sind die grundlegenden Fragen, die sich gesell­ schaftlich verantwortungsvollem, zeitgemäßem und zukunftsgewandtem Urban Design heute stellen – und an denen sich die heutige Generation von Urban Desig­ nern orientieren sollte. Somit ist bereits ein Teil der eingangs formulierten Frage beantwortet: Gutes Urban Design trägt dazu bei, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zu­ künfte zu entwickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hinzuwirken. Hieran – so die Hypothese – sollte sich gutes Urban Design heute und in Zu­ kunft messen lassen. An dieser Stelle kommt nun eine weitere entscheidende Frage ins Spiel: Kann Urban Design, in seiner gegenwärtigen Konstitution, diesen Anfor­ derungen entsprechen? Verfügen heutige Urban Designer über das entsprechende Problem- und Selbstbewusstsein, das erforderliche Wissen und die notwendigen Kompetenzen, um dem hier formulierten Anspruch gerecht zu werden? Mit dieser Frage wird sich das zweite Kapitel befassen.

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: EINE FRAGE DES URBAN DESIGN  033

2  URBAN DESIGN: GESTALTUNG DES URBANEN Urban design is not architecture. The function of urban design, its purpose and objective, is to give form and order to future. Wilhelm von Moltke, 1966

2.1  Urban Design: Problem und Lösung zugleich Wie kann Urban Design dazu beitragen, Vorstellungen über alternative, wünschens­ werte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hin­ zuwirken? Dass Urban Design hierzu etwas beizutragen hat, liegt auf der Hand. Wenn das Urbane Treiber sowie Betroffener der Folgen globaler Umweltveränderungen und sozialer Verwerfungen ist, ist es sowohl Teil des Problems als auch der Lösung. Somit ist auch Urban Design – genau wie andere raumgestaltende Disziplinen wie Architektur, Landschaftsarchitektur oder Stadtplanung – Teil des Problems und Teil der Lösung. Probleme können niemals mit derselben Denkweise gelöst werden, durch die sie entstanden sind. Wenn wir uns ändern wollen, muss sich folglich das Urbane än­ dern. Wenn sich das Urbane ändern soll, müssen sich auch raumgestaltende Diszi­ plinen, wie Urban Design, ändern. Wenn sich Urban Design ändern soll, muss sich … ja, was eigentlich ändern? Um in Erfahrung zu bringen, wie es um das Verhältnis zwischen dem in Ka­ pitel 1 formulierten Anspruch an die Disziplin des Urban Design und ihre heutige Realität gestellt ist, und herauszufinden, was sich an Urban Design ändern muss, um den genannten Herausforderungen zu entsprechen, geht Kapitel 2 folgenden fünf Fragen nach:

1. Wie wurde Urban Design zu dem, was es heute ist? 2. Was ist Urban Design heute? 3. Inwiefern entspricht Urban Design heute den in Kapitel 1 formulierten Herausforderungen – inwiefern nicht? 4. Was muss sich an Urban Design ändern? 5. Wie kann sich Urban Design ändern?

URBAN DESIGN: PROBLEM UND LÖSUNG ZUGLEICH  035

2.2  Urban Design gestern: Eine kurze Entstehungsgeschichte des ­Urban Design Um zu verstehen, was Urban Design heute ist, gilt es zunächst einen Blick zurück­ zuwerfen, den historischen Entstehungskontext der Disziplin zu vergegenwärtigen und zu fragen: Wie wurde Urban Design zu dem, was es heute ist? Einer der weitesten Definition zufolge ließe sich Urban Design als Akt des Ord­ nens menschlicher Siedlungen beschreiben (Arida 2008, 422). Auf der Suche nach ihrem Ursprung könnte man diesem Verständnis zufolge also bis zur neolithischen Revolution zurückgehen, dem Zeitalter menschlicher Sesshaftwerdung. Jenseits dieses generischen Verständnisses gehen das Aufkommen des Urban Design als moderne akademische Disziplin und der Beginn ihrer Formalisierung als Berufs­ feld jedoch auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Der Begriff des Urban Design wurde Mitte der 1950er-Jahre „als Reaktion auf die modernistische Stadtplanung“ und „die katastrophalen Auswirkungen der Moderne auf die Qualität des städti­ schen Raumes in den USA geprägt“ (ebd.).

Vorentwicklungen Man führe sich folgende Situation vor Augen: 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Auf der einen Seite benötigten die europäischen Nationen, deren Ökonomien und Städte weitgehend in Trümmern lagen, enorme Kapitalsummen zum Wiederauf­ bau sowie zur Begleichung horrender Kriegsschulden. Zugleich stieg, auf der ande­ ren Seite des Atlantiks, die Siegermacht der Vereinigten Staaten – geografisch weit abgeschlagen und von Kriegszerstörungen weitgehend verschont – zur do­minanten Weltmacht des 20. Jahrhunderts auf. Die USA wurden zum größten Gläubiger des schuldenfinanzierten Wiederaufbaus Europas und während der goldenen Zeit der 1950er- und 1960er-Jahre, zum finanzpolitischen Hauptprofiteur der rasant wach­ senden Weltwirtschaft. Als in den ausgehenden 1940er-Jahren der Kalte Krieg im­ mer deutlichere Konturen annahm, spielte, neben der anlaufenden militärisch-in­ dustriellen Maschinerie, die Urbanisierung in den Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle zur Mehrwertproduktion sowie zur Absorption enormer Kapitalüberschüsse (Harvey 2014, 37 f.). Durch ein System von schuldenfinanzierten Highways, Infrastrukturmaßnah­ men und einem autogerechten Umbau erst der US-amerikanischen Großstädte und Metropolregionen, später des Hinterlandes, gelang es, das Mehrprodukt zu binden und damit das Problem der Absorption der Kapitalüberschüsse zu lösen. Dieser Pro­ zess erfasste alle wichtigen Großstädte der USA und spielte eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (ebd.). Zwei Kerntrends prägten die Urbanisierung und Raumentwicklung der USA da­ mals: Stadterneuerungsprojekte in den urbanen Zentren und die Suburbanisierung

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der Peripherie. Der Preis dieser Entwicklung waren die Aushöhlung der Stadtzen­ tren, die ihrer ökonomischen Grundlage beraubt wurden, und eine Zersiedelung der städtischen Randgebiete (ebd.). „Während die Vororte aufblühten, stagnierten und verfielen die Innenstädte. Die weiße Arbeiterklasse erlebte eine Blütezeit, die den in den Innenstädten zusammengedrängten Minderheiten – insbesondere den Afroamerikanern – verwehrt blieb“ (ebd., 101). Vor aller Augen spielte sich ab, was später als Ursache und Anbeginn der urbanen Krise der 1960er-Jahre ­bezeichnet werden sollte (ebd.) – und rückblickend als Geburtsstunde des Urban Design an­ gesehen werden kann. Eine weitere Fügung, welche die Stadtentwicklung der USA bis heute maß­ geblich prägte – und damit auch die Entstehung und den Werdegang des Urban ­Design –, war die kriegsbedingte Migration einer Vielzahl schon damals einfluss­ reicher europäischer Architektinnen und Planer. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, zwischen 1937 und 1939, suchten viele dem Bauhaus und dem CIAM nahestehender Persönlichkeiten Schutz im US-amerikanischen Exil, so etwa Walter Gropius, Marcel Breuer, László Moholy-Nagy, Mies van der Rohe oder Josep Luís Sert. CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, zu Deutsch Interna­ tionaler Kongress Moderner Architektur) war ein von 1928 bis 1959 bestehender, enorm einflussreicher Zusammenschluss führender europäischer Architektinnen und Planer. Die – hauptsächlich männlichen – Protagonisten CIAMs zielten auf Grundlage fordistisch-tayloristischer Prinzipien der Industrialisierung, Rationali­ sierung und Standardisierung des Bauwesens und einer Einteilung der Stadt in die vier funktionalen Zonen Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Freizeit auf einen radi­ kalen Umbau der Städte, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen und die Umwelt, insbesondere zur Freizeitnut­ zung, zu schützen. Entsprechend des Dogmas Licht, Luft, Sonne mussten so bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Europa viele historisch gewachsene, dicht gebaute Stadtzentren den von CIAM-Architekten bevorzugten monofunktionalen und in die Höhe strebenden Neubauten sowie weitläufigen, ungenutzten Freiflä­ chen weichen. Es ergab sich, dass viele der oben genannten Architekten und Pla­ ner schon bald nach ihrer Ankunft auch in den USA wichtige Lehrstühle an ameri­ kanischen Universitäten besetzten und, nicht zuletzt durch ihre berufspraktische Tätigkeit, einen gewichtigen Anteil an der oben beschriebenen US-amerikanischen Stadtentwicklung während der Nachkriegszeit hatten (Mumford 2009, 3–11). Doch es waren nicht nur CIAM-Architekten, welche die US-amerikanische Stadtlandschaft prägten. Die Verhältnisse und Entwicklungen in den USA hat­ ten ihrerseits ebenfalls einen nachhaltigen Einfluss auf den weiteren Werdegang C ­ IAMs selbst (ebd., 20). Ausgangspunkt dieser Veränderungen war Philadelphia, damals schon eine der größten Metropolen der USA. Philadelphia war die erste Stadt, in der ernst zu nehmende Versuche unternommen wurden, den damaligen Herausforderungen in den Stadtzentren, die als hoffnungslos veraltet angesehen wurden, auf andere Weise

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entgegenzutreten als mit Aufwertung durch Kahlschlagsanierung und autogerech­ tem Neubau oder der Flucht in die suburbane Peripherie. Eine Gruppe von CIAM-­ Architekten um den damaligen ASPA-Präsidenten (American Society of Planners and Architects, zu Deutsch Amerikanische Gesellschaft der Planer und Architekten) Louis I. Kahn verfolgte hier Anfang der 1940er-Jahre eine gänzlich andere Richtung. Obgleich in modernistischer Tradition stehend und den Zielen CIAMs verschrieben, widersprachen sie dem damaligen Mainstream in entscheidenden Punkten. Sie ver­ folgten im Rahmen verschiedener Bauvorhaben und öffentlichkeitswirk­samer Aus­ stellungen und Wettbewerbe alternative Wege der Stadterneuerung, die mit ver­ hältnismäßig behutsamen, fußgängerorientierten Neu- und Umbaumaßnahmen auf einen weitgehenden sozialen wie baulichen Erhalt der städtischen Zentren ziel­ ten (ebd., 65, 69). Kahns Arbeiten wurden bald von Josep Luís Sert, CIAM-Präsident zwischen 1947 und 1956, aufgegriffen. Mit der achten von insgesamt elf CIAM-Konferenzen „Heart of the City“ im Jahr 1951 wurde der kulturellen und politischen Bedeutung dem menschlichen Maßstab entsprechender vitaler Stadtzentren Rechnung getra­ gen und die fußgängerorientierte Gestaltung innerstädtischer Begegnungsorte auf die Agenda CIAMs gesetzt, auf der sie bis zu dessen Auflösung im Jahr 1959 bleiben sollte. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen CIAM, ASPA und der einfluss­ reichen Harvard Graduate School of Design (GSD) zwischen 1943 und 1951 sowie einflussreichen Personen wie Sert, Kahn und anderen gewann dieser alternative ­Ansatz zunehmend an Bedeutung. Institutionalisiert wurde er jedoch erst ab 1953, als Sert zum Dekan der Harvard GSD ernannt wurde (ebd., 95, 98).

Begründung und Entwicklung des Urban Design an der Harvard Graduate School of Design (GSD) Den Grundstein für die neue Disziplin des Urban Design legten die zwei Gründungs­ väter Josep Sert und Sigfried Giedion, seines Zeichens Architekturhisto­riker, einer der Gründungsfiguren CIAMs und Professor an der ETH Zürich und Harvard GSD (Marshall 2006, 26). Obgleich der Begriff des Urban Design bereits während der 1940er-Jahre gelegentlich in Philadelphia von Kahn genutzt wurde, waren es Sert und Giedion, die den neuen Ansatz in Harvard zu einer eigenständigen Disziplin ­erklärten und den Begriff des Urban Design im Rahmen von zwölf Urban-Design-­ Konferenzen zwischen 1953 und 1969 sowie mit der Gründung eines gleichnamigen Studiengangs im Jahr 1960 prägten, systematisierten, bewarben und zur Grundlage einer alternativen Programmatik modernistischer Stadtentwicklung des 20. Jahr­ hunderts erkoren (Mumford 2009, 102). Was veranlasste die Protagonisten der Harvard GSD um Sert und Giedion zur Begründung einer neuen Disziplin?

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Ausgangspunkt waren hier zunächst das oben genannte Unbehagen am Ver­ fall der Innenstädte, die Kritik des schonungslosen Modernismus der Großprojekte, der durch Kahlschlagsanierung geprägten autogerechten Stadterneuerungspolitik sowie der Suburbanisierung und Zersiedelung der Peripherie. Hieraus folgte die Forderung nach dem Erhalt und der behutsamen, dem menschlichen Maßstab ent­ sprechenden und fußgängerorientierten Erneuerung der Innenstädte sowie der Ge­ staltung nachbarschaftlicher Begegnungsorte. Diese wurde zunächst weniger mit einer Kritik der sich erst später abzeichnenden ethisch-moralischen Implikatio­ nen der sich zuspitzenden Rassensegregation in den USA begründet, sondern mit der ideellen Betonung der historisch wie theoretisch begründeten kulturellen und politischen Bedeutung vitaler urbaner Zentren. Ein zweiter Grund, der zu diesem frühen Zeitpunkt noch hintergründig blieb, sich jedoch wie ein roter Faden durch die Geschichte des Urban Design zieht und ab Mitte der 1960er-Jahre mit dem Erstarken der Umweltbewegung an Bedeutung gewann, war die Zurkenntnisnahme eines unaufhaltsam wachsenden, an Komple­ xität zunehmenden und immer unkontrollierbarer werdenden Urbanen sowie des­ sen zunehmend zerstörerischen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt und die Gesundheit der Menschen (ebd., 117, 141). Sert und Giedion waren sich einig, dass eine diesen beiden Herausforderun­ gen entsprechende Umgestaltung der Stadt eine radikale Umgestaltung der raumge­ staltenden Disziplinen selbst erforderte (Marshall 2006, 28). Als Voraussetzung für einen solchen Wandel sahen sie die Zusammenführung der drei damals getrennten Teildisziplinen Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung (­Mumford 2009, 102 f.). Mithilfe des Urban Design sollte eine Grundlage gefunden werden, um gemeinsam die Probleme zu bewältigen, die ihrer Ansicht nach allein nicht gelöst werden konnten (Krieger 2009, ix). Es ging ihnen um eine Disziplin, die das große Ganze im Blick hat und die Gestaltung besserer Lebensräume sowie eines guten Le­ bens ermöglicht (Mumford 2009, 143). Zu guter Letzt kann das damalige Engagement zur Gründung des Urban ­Design auch als strategische Refomierungsbemühung zur Rettung CIAMs angese­ hen werden. In seiner Rolle als CIAM-Präsident geriet Sert Anfang der 1950er-Jahre ­zunehmend unter Druck durch Team 10, einer an Einfluss gewinnenden Gruppe ambitionierter Jungarchitektinnen und -planer, die die funktionale Trennung der Stadt ebenso wie die der raumbezogenen Teildisziplinen öffentlichkeitswirksam ablehnte und so zugleich die Autorität der CIAM-Architekten und die Legitimation CIAMs selbst infrage stellte. Die Gründung des Urban Design kann daher zugleich als Versuch verstanden werden, CIAM zu rehabilitieren (im Falle Serts und Giedi­ ons auch: das eigene Erbe in die Zukunft zu retten; ebd., 113 f.), was zwar letztlich nicht verhindern konnte, dass sich CIAM schlussendlich 1959 auflöste – und doch, in gewisser Weise, mit und durch Urban Design bis heute fortlebt.

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Die Harvard-Urban-Design-Konferenzen (1956–1969) Die erste der insgesamt zwölf Harvard-Urban-Design-Konferenzen fand 1956 an der Harvard GSD statt. Ziel der Konferenz war die Definition des Urban Design (Mar­ shall 2006, 26). Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer, eine vielschich­ tige Gruppe renommierter Architektinnen und Planer wie beispielsweise Ed B ­ acon, Jane Jacobs, Lewis Mumford und Richard Neutra, waren dazu aufgerufen, ein Den­ ken zu fördern, das die Trennung zwischen Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung aufheben und eine Grundlage zur ganzheitlichen Gestaltung der Stadt darstellen könne – was jedoch kaum von Erfolg gekrönt war (Krieger 2006b, 64). Die erste Urban-Design-Konferenz blieb folglich ohne handfeste Ergebnisse. Auch ein Jahr später, nach der zweiten Urban-Design-Konferenz, bestand noch viel Uneinigkeit und Unklarheit im Hinblick auf die Bedeutung des Urban Design (Mar­ shall 2006, 28). Das schon damals schwierige Unterfangen der Definition des Urban ­Design spiegelt sich symptomatisch auch in der ersten Ausgabe der studentischen Zeit­ schrift Synthesis der Harvard GSD, welche die Ergebnisse der zweiten Konferenz zusammenfasste und ebenso die Definition des Urban Design zum Ziel hatte (Mumford 2009, 130). Hierfür wurden 32 herausragende Architektinnen, Land­ schaftsarchitekten, Stadtplanerinnen, Soziologen, Ökonominnen und Personen des öffentlichen Lebens nach ihrer persönlichen Definition von Urban Design ge­ fragt, deren Antworten gesammelt in einem Essay erschienen (ebd., 134). Viele der angefragten Personen verweigerten sich einer Definition. Drei der Absagen wur­ den schlicht damit begründet, Urban Design könne nicht definiert werden. Die De­ finitionen derer, die sich äußerten, waren hingegen so generisch wie disparat, was Sert dazu veranlasste, in diesem Zusammenhang ernüchtert von einem „Nebel gut gemeinter Gemeinplätze“ zu sprechen (Marshall 2006, 31). Sert definierte Urban Design, in schwer nachvollziehbarem Gegensatz zu den eigens formulierten Hoff­ nungen und Erwartungen, die mit dem Begriff verbunden wurden, als „den Teil der Planung, der sich mit der physischen Form der Stadt befasst“ (Arida 2008, 422). Laut Arida eine unglückliche Formulierung, die jedoch Bände spricht – sollte sich doch gerade diese einseitige Definition zum Handicap des Berufsstands entwickeln, weil sie „die ‚nicht physischen‘, aber ebenso gewichtigen Belange aus dem Aufgaben­ bereich ausklammerte“ (ebd.).

Dominanz der Architektur Bereits die dritte Urban-Design-Konferenz im Jahr 1959 wurde von Sert mit den Wor­ ten eröffnet, es sei müßig, weiter zu versuchen, allgemeine Fragen zu diskutieren und sich endlos im Kreise zu drehen. Damit gab er das Finden einer weitgehend geteil­ ten und tragfähigen Definition des Urban Design faktisch auf – mit folgenreichen

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­ uswirkungen für den weiteren Werdegang der Disziplin. Mit der Gründung des welt­ A weit ersten Urban-Design-Studiengangs an der Harvard GSD im Jahr 1960 wurde im Rahmen der Lehre, zahlreicher Wettbewerbe, Bauvorhaben und Briefwechsel sowie den darauffolgenden Urban-Design-Konferenzen die Disziplinierung des Urban De­ sign während der 1960er-Jahre sukzessiv vorangetrieben. Das Bemühen endete mit der zwölften und letzten Urban-Design-Konferenz an der Harvard GSD und dem Ab­ treten Serts als Dekan der GSD im Jahr 1969 (Mumford 2009, 148, 180). Die späten 1960er-Jahre gelten als die Blütezeit des Urban-Design. Hier fan­ den richtungsweisende Entwicklungen statt, welche die Disziplin bis heute prägen (Bahrainy und Bakhtiar 2016, vi). Obgleich es in vielen Fällen das Wirken von Fach­ fremden wie beispielsweise der Journalistin und Architekturkritikerin Jane Jacobs war, die den Anliegen des Urban Design mit ihrem Jahrhundertwerk The Death and Life of Great American Cities (1961, das heißt ein Jahr nach Studiengangsgründung) zu größerem Ansehen verhalf, entwickelte sich die Disziplin während der 1960erJahre faktisch zu einem Hoheitsgebiet der Architektur (Bodenschatz 2011, 24; Arida 2008, 423). Die anfänglichen Bestrebungen, mit Urban Design eine neue Disziplin zu begründen, die all jene Wissensbereiche zusammenbringt, die für die Gestaltung der Stadt Bedeutung haben, wichen bald einer recht eingeschränkten, vornehmlich architekturbetonten Konzeption. Die ambitionierte Vision der Begründung einer um­fassenden Disziplin zur ganzheitlichen Gestaltung der Stadt wurde mit der Nie­ derlegung der Bemühungen um eine einheitliche Definition in der Praxis schnell auf eng definierte und pragmatische, realisierbare Projekte reduziert. Urban ­Design entwickelte sich so bald zu einer Aktivität, die vor allem von Architekten ausgeübt wurde – und als solche im deutschsprachigen Raum heute „Städtebau“ genannt wird (Marshall 2006, 30; Bodenschatz 2011, 25).

Die urbane Krise In dieser Konstitution fand Urban Design in den 1960er- und 1970er-Jahren Eingang in die Lehrprogramme vieler großer US-amerikanischer und europäischer Hoch­ schulen und wurde zum Vorbild vieler weiterer S ­ tudiengangsneugründungen, na­ tional wie international (Arida 2008, 423 f.; Mumford 2009, 176). Angetreten, um dem rücksichtslosen Modernismus der Großprojekte sowie der Suburbanisierung entgegenzutreten und die US-amerikanischen Innenstädte zu retten, gewannen die Ansätze des Urban Design stetig an Einfluss. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die sich bereits Anfang der 1950er-Jahre abzeichnenden sozialen Verwerfun­ gen, die mit der Begründung des Urban Design gewissermaßen antizipiert wurden, in den US-amerikanischen Städten endgültig eskalierten. Um 1965 überschlugen sich die gesellschaftspolitischen Ereignisse und verdichteten sich zu der sogenann­ ten urbane Krise der 1960er- und 1970er-Jahre. Die Wut der in den verfallenen In­ ­ erdrängung nenstädten zusammengedrängten, durch Neubauvorhaben und von V

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­ edrohten und vom Wohlstand der weißen Mittelschichten weitgehend ausge­ b schlossenen Minderheiten entlud sich zunehmend auf der Straße. Die Folge wa­ ren Hunderte von innerstädtischen Aufständen landesweit (Harvey 2014, 101). Die Bürgerrechtsbewegung machte auf die rassistische Agenda der Stadterneuerungs­ projekte aufmerksam. Die Frauenrechtsbewegung entblößte den ­Sexismus, der der Suburbanisierung und dem damaligen Wohnungsbau zugrunde lag. Die Umwelt­ bewegung zeigte die zerstörerischen Auswirkungen der autogerechten Stadtent­ wicklung auf (Sorkin 2009, 158). Hinzu kamen landesweite Antikriegs- und Stu­ dierendenproteste gegen den Vietnamkrieg. Nicht zuletzt die Ermordung Martin Luther Kings, des Idols der Bürgerrechtsbewegung, wurde zu einer Zerreißprobe der zutiefst gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft (Mumford 2009, 172). Letzt­ lich trug die Seelenlosigkeit des vorstädtischen Lebens wesentlich zu den drama­ tischen Ereignissen dieser Zeit in den USA bei. Der Geograf David Harvey geht in diesem Zusammenhang sogar so weit, von „urbanen Wurzeln der Achtundsechziger-­ Bewegung“ zu sprechen (Harvey 2014, 12). Mit der urbanen Krise gerieten auch die raumgestaltenden Disziplinen unter Druck, die für diese Eskalation mitverantwortlich gemacht wurden. All jene Ent­ wicklungen führten zu einem weitverbreiteten Misstrauen der US-amerikanischen Gesellschaft (insbesondere der Jugend) in den Staat sowie institutioneller Autori­ tät im Allgemeinen und mündeten in einem empfindlichen und lange währenden Vertrauens- und Legitimationsverlust in die modernistische Architektur und Stadt­ planung. Obwohl die Gründungsfiguren des Urban Design diese Entwicklungen mit ihrer frühzeitigen Forderung nach einer alternativen Stadtentwicklung antizipier­ ten und die Begründung des Urban Design rückblickend als Versuch verstanden werden kann, genau jene krisenhaften Entwicklungen, die in den 1960er-­Jahren eintraten, zu verhindern, geriet mit der Krise raumgestaltender Disziplinen, wie zu­ vor CIAM, nun auch Urban Design selbst ins Kreuzfeuer der Kritik durch einfluss­ reiche Intellektuelle wie den Philosophen Henri Lefebvre und den Situationisten Guy Debord, welche die Legitimation des Urban Design grundsätzlich infrage stell­ ten (Mumford 2009, 172, 176). Ungeachtet dieser herben Rückschläge entwickelte sich Urban Design ab den 1970er- und 80er-Jahren national wie international weiter, mit der Gründung einer Vielzahl an Urban-Design- beziehungsweise Städtebau-Studiengängen und -Curri­ cula weltweit – so auch in Deutschland (ebd., 177, 190). An dieser Stelle, an der sich unsere Entstehungsgeschichte geografisch von den USA und – indem auf einmal von Städtebau die Rede ist – der Bezeichnung Urban De­ sign entfernt, wollen wir die Gelegenheit ergreifen, auch mit der kurzen Geschichte des Urban Design zum Ende zu kommen. Es ließe sich zweifelsohne viel mehr zum weiteren Werdegang des Urban Design beziehungsweise der Entwicklung und Aus­ differenzierung der Disziplin des Städtebaus in Deutschland sagen. Abgesehen da­ von, dass eine solche Erzählung hier den Rahmen sprengen würde (die Geschichte des Urban Design beziehungsweise des Städtebaus im deutschsprachigen Raum ist

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eine eigene Geschichte), reichen die bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse jedoch, wie wir auf den kommenden Seiten sehen werden, aus, um uns guten Gewissens der Frage zuzuwenden, was aus Urban Design heute geworden ist.

2.3  Urban Design heute: Eine undisziplinierte Disziplin Nachdem wir uns den Entstehungskontext der Disziplin des Urban Design vergegen­ wärtigt haben, kommen wir nun zur zweiten Frage: Was ist Urban Design heute?

Urban Design ist eine Disziplin Heute, 64 Jahre nach der ersten Urban-Design-Konferenz an der Harvard GSD, hat sich Urban Design international zu einer formalisierten akademischen Disziplin und einem etablierten Berufsfeld entwickelt. Weltweit gibt es in den unterschied­ lichsten Kultur- und Sprachräumen Urban-Design-Studiengänge, Urban-Design-­ Büros, städtische Urban-Design-Ämter, Urban-Design-­Forschungsinstitutionen, Urban-Design-Berufsverbände, sowie Print- und Online-Medien, die sich mit Urban Design befassen. Es werden Urban-Design-Wettbewerbe ausgetragen, Urban-­ Design-Preise verliehen, Urban-Design-Ausstellungen eröffnet und Urban-Design-­ Fachtagungen, -Konferenzen und -Podiumsdiskussionen abgehalten. Es existiert ein ebenso breiter Fundus an (populär-)wissenschaftlicher Literatur, die sich mit Urban Design befasst und in welcher, während der 64-jährigen Geschichte des ­Bestehens des Urban Design, eine Vielzahl an Personen unterschiedlichsten Hin­ tergrunds versucht hat, eine Antwort auf die Frage zu geben, die auch diese Arbeit bewegt: Was ist (gutes) Urban Design (Pittas 1980; Lynch 1981, 1984; Mackay 1990; Gosling und Maitland 1984; Tibbalds 1984; Gossling 1984a, b; Barnet 1982; Col­ man 1988; Goodey 1988; Kreditor 1990; Lang 1994; Relph 1987; Mandipour 1997; Schurch 1999; Marshall 2006; Brown et al. 2009; Mumford 2009; siehe Bahrainy und Bakhtiar 2016, 5)?

Urban Design ist eine undisziplinierte Disziplin Die Vielzahl unterschiedlicher, oftmals widersprüchlicher Definitionen des Begriffs Urban Design, auf die man bei der Sichtung dieser Literatur stößt, zeigt: Die Frage nach der Bedeutung des Urban Design ist auch heute noch eine offene. Es exis­ tiert bis heute nicht annähernd eine einheitliche, von allen geteilte und allgemein ­anerkannte ­Definition des Begriffs Urban Design (Bahrainy und Bakhtiar 2016, 5; Krieger 2006b, 64 f.).

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Statt daher an dieser Stelle nun die unterschiedlichsten Definitionen in ihrem Wortlaut zu zitieren und gegenüberzustellen (für eine Auswahl fehlen uns zu die­ sem Zeitpunkt legitime Kriterien), soll daher in einer Synthese der oben aufgeführ­ ten Literaturquellen aufgezeigt werden, anhand welcher Merkmale sich die Defini­ tionen des Urban Design unterscheiden lassen. Die bestehenden Definitionen lassen sich grundsätzlich dahin gehend diffe­ renzieren, ob und inwiefern sie Aussagen zu folgenden Aspekten treffen und wie diese gewichtet werden:

1. Art der Wissenskultur (Kunst vs. Wissenschaft) 2. Disziplinäre Zuordnung (Disziplin vs. Subdisziplin) 3. Disziplinäre Charakterisierung (Inter- vs. ­Transdisziplin) 4. Abstraktionsgrad (generisch vs. spezifisch) 5. Komplexitätsniveau (reduktionistisch vs. komplex) 6. Kulturelle Prämissen (monokulturell vs. multikulturell) 7. Dimensionspräferenz (Raum vs. Zeit) 8. Maß getroffener Werturteile (deskriptiv vs. normativ) 9. Art der Normativität (implizit vs. explizit) 10. Maßstabsfokus (Mikro vs. Meso vs. Makro) 11. Produkt-/Prozessorientierung (Materialität vs. ­Immaterialität) 12. Hierarchiebezogene Perspektive (Top-down vs. Bottom-up) 13. Formalisierungspräferenz (formell vs. informell) 14. Wirksamkeit (reaktiv-inkrementell vs. initiativ-strategisch) 15. Nachhaltigkeitspräferenz (ökonomisch vs. sozial vs. ­ökologisch)

Die Varianz der Begriffsdefinitionen offenbart das scheinbar endlose Problem der Definition des Urban Design. Urban Design ist auch heute noch weit von einem klar umrissenen Tätigkeitsfeld entfernt (Bahrainy und Bakhtiar 2016, 5). Es scheint, als habe sich an der Schwierigkeit der Begriffsdefinition, an der Mitte des 20. Jahrhun­ derts bereits die Protagonisten der Harvard GSD scheiterten, bis heute nichts geän­ dert (Marshall 2006, 23). Die Frage, was genau Urban Design ist, bleibt auch heute, über ein halbes Jahrhundert später, ungeklärt. Sert dürfte sich hierüber wohl ent­ täuscht zeigen. Der „Nebel gut gemeinter Gemeinplätze“, den er hinter sich las­ sen wollte, ist bis heute nicht gewichen (Sert in: Krieger 2006b, 71). Die radikale Offenheit des Urban Design, die sich in einer Fülle widersprüchlicher Definitio­ nen und zugleich einem Mangel an Kohärenz, Konsistenz und Klarheit bemerk­ bar macht, wirft ungeachtet ihrer Formalisierung und Etabliertheit wiederum die Frage auf, ob es sich hierbei überhaupt um eine Disziplin handeln kann (Bahrainy und Bakhtiar 2016, vi). Dies ließ in der Vergangenheit einige der oben genannten Autorinnen und A ­ utoren zu der Schlussfolgerung kommen, Urban Design sei weni­ ger ein ­eigenständiges Fach als vielmehr eine Art disziplinübergreifende Wissens­

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kultur, die durch einen Anspruch der Ganzheitlichkeit gekennzeichnet ist und sich der ­Einhegung innerhalb disziplinärer Grenzen entzieht (Marshall 2006, 32; Krieger 2006a, 3; K ­ rieger 2006b, 64–71). Angesichts der nicht bestreitbaren Formalisierung und Etablierung des Urban Design als Wissenskultur einerseits und der ihr zeit­ gleich innewohnenden Offenheit, Unschärfe und Ambiguität andererseits scheint es daher nahe­liegend, im Fall des Urban Design von einer „undisziplinierten Diszi­ plin“ zu sprechen (Schultheis 2005).

Urban Design ist eine Transdisziplin Der eingangs dieser Arbeit formulierte Gedanke, dass ein change by design der Ge­ sellschaft ein change „of urban“ design erfordert (S. 18), ist im Grunde nicht neu. Er markierte bereits vor über 60 Jahren den Anbeginn des Urban Design. Die Gründung des Urban Design war eine Reaktion auf folgende Erkenntnis: Um die Probleme des 20. Jahrhunderts zu bewältigen, die mit dem unaufhaltsam wachsenden, komplexer und unkontrollierbar werdenden Urbanen sowie dessen zerstörerische Auswirkun­ gen auf die natürliche Umwelt einhergingen (change „by“ design), brauchte es eine radikale Umgestaltung raumgestaltender Disziplinen in Form einer Zusammenfüh­ rung der drei damals getrennten Teildisziplinen Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung (change „of urban“ design). Zu diesem Zweck wurde Urban Design begründet. Urban Design ist daher eine Inter- und Transdisziplin. Urban Design ist die multidimensionale interdisziplinäre Schnittstelle, die für die Umwandlung der verschiedenen Aspekte urbanen Lebens in eine physische und nutzbare Umgebung verantwortlich ist. Und da ein Setting erst dann ,realisiert‘ ist, wenn seine Endnutzer es aktiviert haben, übersteigt die Definition von ,urban designers‘ die Grenzen der Fachrichtungen sowie Berufsfelder und schließt alle anonymen Bürger in ihren täglichen Interaktionen miteinander und mit ihrer Umgebung ein. (Arida 2008, 422)

Nach diesem erweiterten Verständnis können all jene als Urban Designer bezeich­ net werden, die durch ihr Dasein und Handeln an der Gestaltung des urbanen ­Lebensalltags teilhaben. Aus diesem Grund heißt es eingangs: „Du bist Urban De­ signer“ (S. 5).

Urban Design ist (nicht) Städtebau Urban Design hat ein Janusgesicht. Während der Blick in die Bücher und das Be­ fragen der Geschichte und Theorie den Eindruck vermittelt, die Frage nach der ­Bedeutung und Aufgabe des Urban Design sei eine offene, zeigt die berufsprak­ tische Realität hingegen ein gänzlich anderes Bild. Die Offenheit, Unklarheit und

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Mehrdeutigkeit dessen, was Urban Design idealerweise sein soll, steht hier einer relativen Geschlossenheit, Klarheit und Eindeutigkeit gegenüber, dahin gehend, was Urban Design heute faktisch ist. Während sich die Theorie aus ideellen Grün­ den im Kreise dreht, werden in der Praxis on the ground aus pragmatischen Grün­ den tagtäglich Fakten geschaffen. Denn auch an der Hegemonie der Architektur, die sich bereits zur Grün­ dungszeit des Urban Design an der Harvard GSD abzeichnete, hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. Die Feststellung, Urban Design sei de facto schlicht eine Erweiterung und Ergänzung der Architektur, bestenfalls eine Art Mittler zwi­ schen Architektinnen und Stadtplanern und nicht etwas Eigenes beziehungsweise grundsätzlich anderes, zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur (Marshall 2006, 31; Arida 2008, 422–424). Somit kann auch die Frage, ob Urban Design nicht schlicht dasselbe sei wie Städtebau – eine Frage, mit der man als Urban Designer oft konfrontiert wird –, klar mit Jein beantwortet werden. Mit Blick zurück auf den Entstehungskontext des Urban Design: Nein, Urban Design ist nicht Städtebau. Mit Urban Design war ursprünglich etwas anderes ge­ meint als dass, was heute im internationalen Kontext unter dem Begriff und im deutschsprachigen Raum unter Städtebau verstanden und praktiziert wird: Eine Disziplin, die, im Hinblick auf gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen, weithin als zu oberflächlich, materialistisch, formverliebt, dienstleistungs- und pro­ duktorientiert, funktionalistisch, angepasst und als besessen von Ästhetik und Stil kritisiert wird (Bahrainy und Bakhtiar 2016, vi; Fry 2017, 163). Mit Blick auf heute: Ja, Urban Design ist Städtebau. Weil Urban Design, als die Architekturerweiterung beziehungsweise der Architekturplanungshybrid, zu dem es sich in der Gestaltungspraxis entgegen der ursprünglichen mit dem Begriff des Urban Design verbundenen Hoffnungen entwickelt hat, in der Regel dem Fachver­ ständnis des deutschsprachigen Begriffs Städtebau entspricht (Bodenschatz 2011, 25; Frick 2011). Kurz: Ganzheitlichkeit war das Ideal des Urban Design. Städtebau ist seine Realität. Der Welt wurde Urban Design in Aussicht gestellt, bekommen hat sie Städtebau.

Urban Design ist ein Krisenkind Urban Design ist ein Krisenkind. Die Idee des Urban Design wurde als Reaktion auf die Ursachen der urbanen Krise der 1960er- und 1970er-Jahre in die Welt gesetzt mit der Mission der Gestaltung einer urbanen Umwelt, die den „wirklichen“ Bedürf­ nissen der Menschen entspricht. Auch heute ist es eine Krise (die urbanen Wurzeln der ökologischen Krise), die Akteure, wie etwa den Wissenschaftlichen Beirat der ­Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU), dazu veranlasst, die „transformative Kraft“ des Urban Design zu beschwören und ein Loblied auf Urban

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Designer als „Pioniere des Wandels“ anzustimmen (WBGU 2016, 13). Von Geburt an lasten auf Urban Design messianisch anmutende Erlösungserwartungen. Heils­ versprechen eines urban healing, das Heilen der Wunden, welche die urbane Krise hinterließ (baulich-räumliche Wunden, psychosoziale Wunden, ökologische Wun­ den und, in Konsequenz, Wunden am Vertrauen in die raumgestaltenden Diszi­ plinen), sowie die Hoffnungen auf einen goldenen Weg zur Gestaltung der genuin ­guten Stadt wurden Urban Design in die Wiege gelegt. Urban Design ist aus der Not einer sich anbahnenden Krise geboren. Das erklärt, warum der Ruf nach Urban De­ sign vor allem in Zeiten der Krise erklingt.

Urban Design ist eine Wunschmaschine Die Erwartungen, die an Urban Design gerichtet wurden, waren hierbei schon immer so hoch, dass sie enttäuscht werden mussten. Mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan ließe sich sagen: Angesichts der ungreifbaren Größe und Komplexi­ tät des Urbanen ist es der strukturelle Mangel an Gestaltungskompetenz, der das Begehren nach Urban Design strukturiert. Es ist das Begehren nach einer imagi­ nären, ultimativen Kompetenzpotenz zur Gestaltung des zunehmend ungestalt­ baren Urbanen, das die Gesellschaft mit ihrer latenten Kompetenzimpotenz kon­ frontiert. Im selben Maße, in dem das Phänomen des Urbanen an Raum ein- und an Komplexität zunimmt, intensivieren sich das Begehren ebenso wie der Mangel und die Unmöglichkeit seiner Gestaltbarkeit. Lacan fordert, man solle trotz der Un­ erreichbarkeit des Begehrten „im Begehren nicht nachlassen“ (Lacan 1995, 380). Urban Design ist in diesem Sinne Ausdruck von Mangel und Begehren zugleich. Es ist eine Wunschmaschine, ein Ideal, ein vor uns liegender Horizont. Urban Design ist die Karotte vor dem Karren des raumgestaltenden Milieus, die nie erreicht wer­ den kann – und nach der es sich dennoch zu streben lohnt. Das Verhältnis aus Man­ gel und Begehren ist der Grund, warum sich das Wechselspiel aus Erwartungen und Enttäuschungen so konstant durch die Geschichte des Urban Design zieht. Es ist das lacanianische Nichtnachlassen im Begehren, das dem Streben nach dem Ideal des Urban Design historische Konstanz und Legitimation verleiht.

2.4  Urban Design morgen: Disziplinierung einer ­undisziplinierten ­Disziplin? Nun, da wir ein Bild davon haben, was Urban Design heute ist, wenden wir uns der dritten Frage zu: Inwiefern entspricht Urban Design heute den in Kapitel 1 formu­ lierten gesellschaftlichen Herausforderungen und Ansprüchen an gutes Urban De­ sign – inwiefern nicht?

URBAN DESIGN MORGEN: DISZIPLINIERUNG EINER U ­ NDISZIPLINIERTEN ­D ISZIPLIN?  047

Die Gegenüberstellung der Entstehungsgeschichte des Urban Design im 20. Jahrhundert einerseits und seiner heutigen Verfassung andererseits offenbart sowohl Stimmigkeiten als auch Missverhältnisse zwischen dem in Kapitel 1 formu­ lierten Anspruch, wie Urban Design sein sollte, und dem, was Urban Design heute ist beziehungsweise wie Urban Design gegenwärtig zumeist verstanden wird – was also die Realität des Urban Design ist. Die Disziplin des Urban Design ist charakterisiert durch eine doppelte Ambi­ valenz, eine Ambivalenz der Ambivalenz. Die erste Ambivalenz meint ihre simul­ tane Offenheit (einer in der Theorie undisziplinierten Disziplin) und Geschlossen­ heit (einer in der Praxis als Städtebau disziplinierten Disziplin). Urban Design ist eine Blackbox. Schrödingers Katze versinnbildlicht die Paradoxie der ihr innewoh­ nenden „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch 1962, 104). Urban Design ist theoretisch offen und praktisch geschlossen zugleich. Die zweite Ambivalenz meint die ambivalente Bedeutung dieser Ambivalenz, im Hinblick auf die in Kapitel 1 formulierten und an die Zukunft des Urban De­ sign gerichteten Ansprüche. Es sind die Stärken und Schwächen, Vor- und Nach­ teile, Chancen und Herausforderungen, die mit der gleichzeitigen Offenheit und Geschlossenheit des Urban Design einhergehen, die gemeint sind, wenn von einer Ambivalenz der Ambivalenz des Urban Design die Rede ist.

Die Offenheit des Urban Design ist wünschenswert Die Geschichte zeigt: Urban Design lässt sich offensichtlich nicht sinnvoll auf eine einfache Formel reduzieren (Marshall 2006, 23). Was, in einer optimistischen Les­ art, im Umkehrschluss wiederum die Vermutung nahelegt, dass die Offenheit des Urban Design einen Sinn ergibt. Und tatsächlich: Im Hinblick auf die Bewältigung heutiger wie zukünftiger Herausforderungen kann diese Offenheit als willkommener Zustand begrüßt wer­ den. Denn mit dieser Offenheit spiegelt Urban Design sowohl das Ziel wider, für das es Mitte des 20. Jahrhunderts konzipiert wurde, als auch das Feld, in dem es heute, im 21. Jahrhundert, agiert: der Gestaltung des hochkomplexen, translokalen, mul­ tidimensionalen und ebenso durch Offenheit geprägten Phänomens des Urbanen (Marshall 2006, 23; Bahrainy und Bakhtiar 2016, 5). Die Disziplin des Urban Design ist mit der ihr zueigenen Offenheit geradezu prädestiniert für die Gestaltung der offenen Stadt – offen sowohl im politischen Sinne sowie hinsichtlich einer entwicklungsoffenen Zukunft. Denn die Stadt von morgen ist offen, auch in dem Sinne, dass ihre Zukunft ungewiss ist. Der Soziologe Richard Sennett (2018) plädiert daher für die Gestaltung ebenso offener Städte. Eine offene Stadt versteht er als unvollständiges, konfliktreiches, nichtlineares System, das fähig ist, mit Komplexität umzugehen und flexibel auf Veränderung zu reagie­ ren. Um dies leisten zu können, bedarf die offene Stadt laut Sennett sowohl einer

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physisch-durchlässigen Porosität als auch Widerständigkeit, die ihr Form und Be­ stand gibt. Unscharfe Ränder, unvollständige Formen und die Planung ungelös­ ter Erzählungen der Entwicklung sind laut Sennett die Gestaltungsmerkmale, die eine offene Stadt kennzeichnen. Die geschlossene Stadt ist voller Grenzen, die of­ fene Stadt hat Membranen (Sennett 2013). Die heuristische Kontrastierung Sennetts zwischen der geschlossenen und der offenen Stadt kann als Allegorie auf das Verhältnis zwischen weitgehend ge­ schlossenen (disziplinierten) Disziplinen wie Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung und der offenen (undisziplinierten) Disziplin des Urban Design gelesen werden – und erweist sich als aufschlussreich zum Erfassen der Konstitu­ tion des Urban Design. Während sich vergleichsweise geschlossene Professionen wie Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung während ihrer sukzes­ siven Ausdifferenzierung im 20. Jahrhundert zunehmend voneinander abgrenzten (und damit selbst begrenzten), ist Urban Design als Transdisziplin im Gegenteil durch die semipermeable Offenheit einer porösen, durchlässigen und damit entgrenzten (und doch beständigen) Membran gekennzeichnet – welche ihr eine rela­ tive Unbegrenztheit verleiht. Zitiert Sennett in Bezug auf die offene Stadt Jane Jacobs, die betonte: „Wenn Dichte und Vielfalt Leben geben, ist das Leben, dass sie erzeugen, ungeordnet“ (Sennett 2013, 2), könnte man im Hinblick auf Urban Design entgegnen: Wenn eine Dichte und Vielfalt an Disziplinen, subsumiert unter dem Dach des Urban Design, Leben ergeben, ist das Leben, das es erzeugt, ungeordnet. Verkündet ­Sennett: „Die offene Stadt fühlt sich wie Neapel an, die geschlossene Stadt wie Frankfurt“ (Sennett 2013, 3), ließe sich, im Hinblick auf Urban Design, erwidern: Eine geschlossene Raumpraxis fühlt sich wie Architektur, Landschaftsarchitek­ tur, oder Stadtplanung an, eine offene hingegen wie Urban Design. Die Offenheit des Urban Design, als undisziplinierte Disziplin, ist daher – gerade im Kontrast und als Ergänzung zur relativen Geschlossenheit disziplinierter Disziplinen, wie etwa Architektur, Landschaftsarchitektur, Stadtplanung – eine ihrer größten Stär­ ken zur Gestaltung und Bewältigung der Herausforderungen des urbanen 21. Jahr­ hunderts (Marshall 2006, 32).

Die Offenheit des Urban Design ist problematisch Doch nicht alles an dieser Offenheit ist wünschenswert. Denn die Offenheit des Urban Design geht zugleich mit einem Mangel an Kohärenz, Konsistenz und kla­ rer Richtungsweisung einher. Dies führt aufseiten praktizierender Urban Desig­ ner nicht selten zu Verwirrung, Unsicherheit und Frustration – und veranlasst Außenstehende immer wieder dazu, die Daseinsberechtigung der Disziplin grund­ sätzlich infrage zu stellen (Bahrainy und Bakhtiar 2016, 5 f.). Kann man als Urban ­Designer überhaupt handlungsfähig sein angesichts der Fülle widersprüchlicher

URBAN DESIGN MORGEN: DISZIPLINIERUNG EINER U ­ NDISZIPLINIERTEN ­D ISZIPLIN?  049

­ efinitionen, mangels einer klar umrissenen, tradierten Vorstellung, was die Bedeu­ D tung und Aufgabe der eigenen Profession ist, was legitime Kriterien für gutes und schlechtes, richtiges und falsches Urban Design sind, oder ist man zur Vollführung willkürlicher, widersprüchlicher und wirkungsloser Gesten verdammt? Wie ein­ gangs bereits eingewandt wurde (S. 14), brauchen ein Selbstverständnis als Urban Designer und die gesellschaftlich verantwortungsvolle Ausübung der eigenen be­ ruflichen Tätigkeit ein Orientierung gebendes und handlungsleitendes Wissen oder zumindest eine persönliche Haltung dahingehend, was die Bedeutung, Aufgabe und Verantwortung des Urban Design ist. Der Mangel an klarer Richtungsweisung erweist sich hier, angesichts der Herausforderungen, vor den wir heute stehen, als bedenkliche Kehrseite der begrüßenswerten Offenheit des Urban Design.

Die Geschlossenheit des Urban Design ist wünschenswert So eng, eingeschränkt und unzeitgemäß das dominante Verständnis des Urban Design als Architektur-Plus, Architekturplanungshybrid und Städtebau heute sein mag: Die Geschlossenheit und Disziplinierung des Urban Design hat auch Vorteile und birgt ihrerseits Potenziale für die Bewältigung gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen. Wenngleich viel von den Ursprungsgedanken, die vormals mit Urban Design assoziiert wurden, in Vergessenheit gerieten und bis heute nicht ­eingelöst werden konnten, handelt es sich bei Urban Design, wie wir gesehen ha­ ben, immerhin um ein international etabliertes und vitales Diskurs-, Forschungsund Praxisfeld. Dies ist keine Selbstverständlichkeit und sollte würdigend anerkannt werden. In ihrer Undiszipliniertheit war (und ist) die Disziplin Urban Design ihrer Zeit weit voraus. Um sich in Abgrenzung zu bestehenden akademischen Fächern behaupten zu können, wurde sie in der Vergangenheit diszipliniert und geschlos­ sen, wo sie für damalige Verhältnisse zu offen war. Zugespitzt formuliert: Der Pa­ tient liegt heute im Wachkoma, aber er lebt. Er konnte überleben, weil lebenserhal­ tende Maßnahmen ergriffen wurden. Und doch – um im Bild zu bleiben – ist es an der Zeit, ihn aufzuwecken.

Die Geschlossenheit des Urban Design ist problematisch Denn vieles an dieser Geschlossenheit ist im Hinblick auf die in Kapitel 1 formulier­ ten Herausforderungen höchst problematisch. Dass Urban Design in seiner gegen­ wärtigen Verfassung den in Kapitel 1 formulierten Anforderungen an gutes Urban Design nicht gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Die Geschlossenheit des Urban Design, im Sinne einer Vereinnahmung durch die Architektur sowie einer vorherrschenden, sich allzu oft in den Dienst der Ökonomie stellenden Konzeption als Städtebau, ist – im Kontrast zu ihrer oben postulierten Offenheit – ihre größte

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Schwäche im Hinblick auf die Gestaltung des Urbanen im 21. Jahrhundert (Marshall 2006, 32). Die Tatsache, dass Urban Design unmittelbar mit den Ursachen unserer Nichtnachhaltigkeit und globalen Ungleichheiten in Beziehung steht, spiegelt sich bis heute kaum in der Disziplin wider (Fry 2017, 137). Das gegenwärtig dominante Verständnis von Urban Design als Städtebau ist viel zu eingeschränkt (Marshall 2006, 32). Konventionelles Urban Design ist heute zu dienstleistungs- und profit­ orientiert und marktkonform. Es ist zu oberflächlich und formverliebt (Bahrainy und Bakhtiar 2016, vi; Fry 2017, 163). Es lenkt in seiner Oberflächlichkeit mehr von den schwerwiegenden, tiefer liegenden sozialräumlichen Problemen ab, als dazu beizutragen, sie zu lösen (Soja 2009, 267). Konventionelles Urban Design gibt heute viel zu oft Antworten auf Fragen, die es nicht mehr eigens formuliert (Jonas 1993). Indem es blind Antworten liefert, ohne sich die Frage zu stellen, welche Fragen eigentlich stellenswert sind, ist es „moralisch und sozial obdachlos“ (Sommer und Welzer 2014, 114). Konventionelles Urban Design sichert, indem es blind Antwor­ ten liefert, die bestehende Ordnung und damit bestehende Herrschafts- und Macht­ verhältnisse einer Welt, die vom Menschen gemacht – und damit selbst ein Entwurf ist (Aicher 2015, 184). Ein Entwurf, dessen Gestalt von ideologischen, normativen Werturteilen geformt wurde und – wie wir in Kapitel 1 gesehen haben – höchst pro­ blematisch ist. Urban Design fehlen die Mittel, das Urbane zukunftsgerecht um­ zugestalten. Mangels substanzieller theoretischer Debatten, entfremdet von der Lebenswirklichkeit eines globalen, exponentiellen Stadtwachstums, ist es unfähig, auf einfallsreiche Weise den Anforderungen der globalen Urbanisierung zu entspre­ chen. Während die Dringlichkeit und Komplexität der Aufgaben wächst, hat sich der Mainstream des Urban Design von einer einst potenziell breiten und hoffnungs­ vollen konzeptionellen Kategorie zu einer rigiden, restriktiven, und langweiligen Anhäufung von Orthodoxien entwickelt. Urban Design hat eine Sackgasse ­erreicht (Sorkin 2009, 155). Es ist in seiner aktuellen Verfassung schlicht ungeeignet, an­ gesichts der Tiefe, des Maßstabs und der Komplexität der urbanen Ursachen der Nichtnachhaltigkeit unserer Zeit (Fry 2017, 121).

Was sich an Urban Design ändern muss Was muss sich also an Urban Design ändern? Aus der Analyse der gleichzeitigen ­Offenheit und Geschlossenheit des Urban Design ergibt sich für die Zukunft der Disziplin eine zentrale (Heraus-)Forderung: Urban Design muss sich öffnen, wo es zu geschlossen ist, und schließen, wo es zu offen ist.

URBAN DESIGN MORGEN: DISZIPLINIERUNG EINER U ­ NDISZIPLINIERTEN ­D ISZIPLIN?  051

Was bedeutet „Urban Design muss sich öffnen, wo es zu geschlossen ist“? Wenn Urban Design gut, zeitgemäß und zukunftsgewandt sein soll, wenn es dazu beitragen soll, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zukünfte zu ent­ wickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hinzuwirken, muss es sich auf seine Entstehungsgeschichte zurückbesinnen. Da, wo es als Städtebau dis­ zi­pliniert wurde, muss die Disziplin des Urban Design die ursprünglich mit ihr ­assoziierten Hoffnungen und Versprechen einlösen. Sie muss wieder als die un­ disziplinierte Transdisziplin, das Krisenkind und die Wunschmaschine verstan­ den werden, die es mal war beziehungsweise ursprünglich hätte sein sollen. Um als solche verstanden zu werden, muss Urban Design entgrenzt und erweitert gedacht und praktiziert werden. Soll es den weitreichenden gesellschaftlichen Herausfor­ derungen unserer Zeit gerecht werden, muss es bestehende disziplinäre Einhegun­ gen überwinden, Grenzziehungen einreißen und Brücken bauen. Hierfür ist eine Neuüberprüfung der Wissensbasis des Urban Design erforderlich. Als erwachsene Krisenkinder müssen heutige Urban Designer erkennen, welchen Anteil ihre Pro­ fession an unserer multiplen Zivilisationskrise hat und welchen Beitrag sie leisten können, uns aus dieser Krise herauszumanövrieren. Sie müssen reflektierter und politisch engagierter agieren, ihr Problembewusstsein ändern und beginnen, die richtigen Fragen zu stellen. Urban Design muss auch als Wunschmaschine wieder­ entdeckt werden. Das Urbane war niemals größer, komplexer und unkontrollier­ barer als heute. Auch der Mangel an Kompetenz zur Gestaltung des Urbanen war nie so eklatant. Dementsprechend enorm sind heute der Bedarf und das Begeh­ ren nach Urban Design als (imaginäres) Ideal einer ultimativen Kompetenzpotenz zur Gestaltung des zunehmend Ungestaltbaren. So sehr dieses Denken auch von Wunschdenken geprägt sein mag – wir dürfen dennoch nicht nachlassen im Be­ gehren, diesen Wunsch zu realisieren. Kurz: Damit sich Urban Design öffnen kann, wo es zu geschlossen ist, bedarf es eines erweiterten Urban-Design-Verständnisses.

Was bedeutet „Urban Design muss sich schließen, wo es zu offen ist“? Es handelt sich hierbei nicht etwa um eine Forderung nach der Disziplinierung der undisziplinierten Disziplin des Urban Design. Im Gegenteil: Urban Design ist be­ reits viel zu diszipliniert. Nein, hiermit ist gemeint, was bereits im Prolog und Intro der Arbeit anklang: Möchten Urban Designer dazu beitragen, Vorstellungen über alter­native, wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mit­ tel aktiv auf diese hinzuwirken, müssen sie da, wo die Bedeutung und Aufgabe des Urban Design zu offen und unklar ist, (fach-)politisch Haltung einnehmen und Posi­ tion beziehen. Die gesellschaftlich verantwortungsvolle Ausübung der beruflichen ­Tätigkeit als Urban Designer bedarf einer möglichst umfassenden handlungsleiten­

052  URBAN DESIGN

ist geschlossen als Städtebau diszipliniert

Urban Design heute

und offen zugleich eine undisziplinierte Disziplin

muss sich öffnen, wo es zu geschlossen ist erweitertes Designverständis

Urban Design morgen

und schließen, wo es zu offen ist politisches Designverständnis

1  Urban Design muss sich öffnen, wo es zu geschlossen ist, und schließen, wo es zu offen ist.

den Wissensbasis, die es erlaubt, der in Kapitel 1 umrissenen Herausforderungen in angemessener Weise nachzukommen. Dieses spezifische Verständnis von gutem Urban Design sollte systematisiert und auf den Begriff gebracht werden. Kurz: Damit sich Urban-Design schließen kann, wo es zu offen ist, braucht es einen politischen Urban-Design-Begriff.

Latente Öffnung und Schließung heute Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass bereits heute Bemühungen einer solchen Öffnung und Schließung des Urban Design stattfinden. Im deutschsprachigen Raum gibt es an der TU Berlin und der HCU Hamburg inzwischen zwei Masterstudiengänge, die anstelle von Städtebau den Namen Urban Design tragen. Ein Schelm, wer hierbei Böses denkt und behauptet, diesen Entscheidungen lägen lediglich kommunikationsstrategische Erwägungen zugrunde. Sympathischer – und nicht weniger plausibel – scheint eine weitere Deutung. Die Entscheidung, Studiengänge im deutschsprachigen Raum anstelle von Städtebau Urban Design zu nennen, kann, im Sinne der hier vertretenen Argumentation, unter anderem als rollback, als Rückbesinnung und Hommage an die ­Ursprungsintentionen verstanden werden, die ursprünglich mit der Begründung der Disziplin verbunden waren: Eine Reintegration desintegrierter raumrelevanter Teildisziplinen (an der TU Berlin Architektur, Stadt- und Regionalplanung, Landschaftsarchitektur und Umweltplanung sowie Soziologie) unter dem

URBAN DESIGN MORGEN: DISZIPLINIERUNG EINER U ­ NDISZIPLINIERTEN ­D ISZIPLIN?  053

subsumierenden Dach und zusammengehalten durch den ganzheitlichen, trans­ disziplinären Begriff des Urban Design, mit dem Ziel, ein Studienprogramm ins ­Leben zu rufen (beziehungsweise zu reanimieren), das den komplexen Herausfor­ derungen des urbanen 21. Jahrhunderts entspricht (Bodenschatz 2011, 33; TU Ber­ lin 2019; Giseke et al., im Erscheinen).

2.5  Auf Spurensuche: Zum „Design“ im Urban Design Wir lassen nie vom Suchen ab, und doch, am Ende allen unseren Suchens sind wir am Ausgangspunkt zurück und werden diesen Ort zum ersten Mal erfassen. Eliot, 1942

Was sich an Urban Design ändern muss, ist nun klar. Stellt sich nur die Frage: Wie kann sich Urban Design ändern? Kultur – und das gilt wohl auch für Wissenskulturen wie Urban Design – sollte laut dem Philosophen François Jullien nicht als Identität gedacht werden, der Be­ stand und Geltung verliehen wird, indem man sie gegen ein Außen verteidigt oder abgrenzt, sondern vielmehr als fruchtbare Ressource, die es zu aktivieren, anzu­ eignen und – im besten Sinne des Wortes – auszubeuten gilt (Jullien 2017, 8, 36). Das Urban Design ist, wie oben bereits dargelegt wurde, Problem und Lösung zugleich. In einer optimistischen Lesart legt dies die Vermutung nahe, dass die Ant­ wort auf die Frage, wie sich Urban Design ändern kann, im Urban Design selbst zu finden ist. Der Schatz, der Schlüssel zum Öffnen und Schließen des Urban Design, liegt, so glaube ich, unter unseren Füßen begraben. Wie heben wir ihn? Was, lautet die Frage, ist die wichtigste Ressource des Urban Design, die akti­ viert werden kann, um es zu öffnen, wo es zu geschlossen ist, und zu schließen, wo es zu offen ist? Meine Antwort lautet: Es ist die ihr innewohnende Affordanz, ihr Angebotsund Aufforderungscharakter (Rosenberg 2008).

Urban Design ist eine Affordanz-Ressource Schaut man sich die Geschichte des Urban Design an, stellt man fest: Nichts im Urban Design ist so beständig wie der Wandel. Obgleich die Disziplin über einen ­reichen Kanon an Theorien und Begriffsdefinitionen verfügt, gibt es kaum Gleich­ klang. Wer sich am Diskurs der Selbstzuschreibungen beteiligt, spielt weitgehend nach eigener Musik. Die einzelnen Definitionen wirken in der Regel schlicht als ­Ausdruck der persönlichen Präferenzen derer, die sie verkünden. Es gibt so viele Urban-Design-Verständnisse wie Urban Designer (Bahrainy und Bakhtiar 2016,

054  URBAN DESIGN

5, 29). Es ist eine Disziplin, die bis heute immer wieder neu definiert und neu er­ funden wurde (Mumford 2006, 10). Urban Design ist ein Palimpsest der Bedeutungs­ zuschreibungen. Eine Projektionsfläche. Die Offenheit des Urban Design gleicht einem offenen Haus. Es ist gastfreundlich. Es lädt ein: „Tritt herein!“, „Nutze mich!“, „Deute mich!“, „Mach mich dir zu eigen!“. Das ist die wichtigste Ressource des Urban Design. Es ist die Affordanz, die gemeint war, als es im Prolog hieß: „Ein Deutungs­ defizit ist immer auch ein Deutungspotenzial.“ Jede Generation angehender Urban Designer muss die Frage „Was ist (gutes) Urban Design?“ auf zeitgemäße Weise neu stellen und beantworten (Bahrainy und Bakhtiar 2016, 6). Wie kann diese Frage heute zeit- und zukunftsgemäß beantwor­ tet werden? Hier zeichnet sich eine Fährte ab, die uns ins dritte Kapitel führen wird. Denn es existiert ein Territorium, in dem die Affordanz des Urban Design bisher weit­ gehend ungenutzt blieb. Eine blühende Landschaft voll reichhaltiger Ressourcen, die nur darauf wartet, von jungen, angehenden Urban Designern aktiviert zu wer­ den. Sie trägt den Namen Design. Der Designbegriff ist so etwas wie der Große Elefant im semantischen Bau­ werk des Urban Design. Dafür, dass er mehr als die Hälfte des Raumes einnimmt, ist es frappierend, wie hartnäckig dieser Elefant bis heute ignoriert wurde. Die Be­ deutung des Design im Urban Design blieb bis heute weitgehend ungedacht. Urban Design ist auf dem Designauge blind. Der Designbegriff ist der blinde Fleck in der Forschung über, für und durch Urban Design. Ein blinder Fleck, jedoch einer, der hell leuchtet. Denn es ist, wie sich zeigen wird, gerade der Designbegriff, der Urban Design seinen Affordanz-Charakter verleiht. Der englische Begriff design ist „unklar und multipolar – also zur Definition einer Disziplin gänzlich ungeeignet. [...] Das Feld des Designs ist vielmehr be­ stimmt durch einen offenen, interdisziplinären Charakter“ (Löw 2013, 47), der zur klaren Konturierung und Abgrenzung eines Fachs eigentlich hinderlich ist (­Bürdek 2011, 20). Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Protago­ nisten der Harvard GSD dennoch (oder: gerade deswegen) die Hellsichtigkeit besa­ ßen (der Philosoph Peter Sloterdijk würde sagen: Sie bewiesen „Vorsprung durch Geistesgegenwart“ (Geyer 2017, 1), in dem damals noch recht jungen ­Designbegriff eine geeignete Ressource zur Erneuerung der raumgestaltenden Disziplinen zu erkennen und sich diesen zunutze zu machen, indem sie ihrem Krisenkind den Namen Urban Design verliehen – das Fundament des Urban Design also gewis­ sermaßen über dem unerschöpflichen Jungbrunnen des Design errichteten, es ihren Erben – uns – jedoch bis heute nie wirklich in den Sinn kam, aus diesem zu schöpfen. Urban Design ist ein transdisziplinärer Gegenstand, zu dem sowohl raumbe­ zogene Disziplinen als auch die Designwissenschaft etwas zu sagen hätten. Den­ noch sind es nahezu ausschließlich Vertretende raumgestaltender Disziplinen (vor allem Architektinnen und Planer), die Urban Design als ihren Gegenstandsbereich

AUF SPURENSUCHE: ZUM „DESIGN“ IM URBAN DESIGN  055

betrachten und entsprechend ausgestalten. Designtheorie und -forschung hat bis­ her kaum eine Rolle im Urban Design gespielt (Mareis 2016, 19). Architektinnen und Planer ignorieren weitestgehend das Design, Designer ebenso das Urban De­ sign. Das Design und raumgestaltende Disziplinen führen traditionell eigene, ge­ trennte theoretische Diskurse und haben im 20. Jahrhundert getrennte disziplinäre Enklaven ausgebildet (Marshall 2006, 32). Dies kann nicht im Sinne der Disziplin des Urban Design und nicht im Sinne der zukünftigen Gestaltung unserer Städte sein. Das Verhältnis von raumgestal­ tenden und Designdisziplinen gleicht im Falle des Urban Design – wie sich im fol­ genden Kapitel zeigen wird (S. 67) – gewissermaßen einem Burgfrieden. Doch die disziplinären Grenzziehungen, in denen sich dieser Burgfrieden manifestiert, wei­ sen zunehmend Risse auf. Mit Blick auf den sich gegenwärtig vollziehenden design turn designferner Disziplinen und den political turn des Design verdichten sich die Zeichen, dass diese Risse künftig größer und nicht kleiner werden. In der Überzeu­ gung, dass dies nur im Sinne des Urban Design sein kann, werden wir uns im nächs­ ten Kapitel auf diese Neigung stützen, den Finger in die Wunde legen, um den Riss zu einem Bruch auszuweiten und die disziplinären Mauern zum Einsturz zu brin­ gen. Wir werden neue Brücken zwischen Urban Design und Design bauen, mit dem Ziel, das brachliegende Affordanzpotenzial der Designtheorie anzuzapfen und uns zunutze zu machen – um Urban Design da zu öffnen, wo es zu geschlossen ist, und dort zu schließen, wo es zu offen ist – und es auf einen erweiterten und politischen Begriff zu bringen.

056  URBAN DESIGN

A Advanced Design Adversarial Design Advertising Design Animal-Aided Design Anonymes Design Anormal Design Anti-Design Application Design Architectural Design Atomic Design Audiovisuelles Design Ausstellungsdesign Automobildesign Autorendesign Axiomatic Design B Banal-Design Bang Design Bel Design Big Design Body Design Brand Design Broadcast Design Bühnendesign Businessdesign C Character Design Cinematic Design Circular Design Citydesign Civic Design Clubdesign Co-Design Community Design Computerdesign Conceptual Design Corporate Design Cosmic Design Costume Design Critical Design Crowd Design

D Dark Design Datenbankdesign Death by Design Designaktivismus Design Art Design as Infrastructuring Design as Politics Design Austerity Design by Accident Design by Use Design Cybernetics Design Fiction Design for Debate Design for Good Design for Production Design for Social Change Design Futuring Design Governance Design Intelligence Design Intervention Design Methods Design Revolution Design Thinking Digital Design Discrimination by Design Discursive Design Disruptive Design Dissident Design Do-it-yourself-Design E Editorial Design Educational Design Elimination Design Emanzipatorisches Design Emergency Design Emotional Design Engineering Design Entwerfendes Design Event Design Expended Design Experience Design Experimentelles Design

F Farbdesign Financial Design Flat Design Florales Design Food Design Forschungsdesign Fotodesign Fun Design Futuristisches Design G Game Design Gender Design Generative Design Genetic Design Gesellschaftsdesign Grafikdesign Grand Design Green Design Guerilla Design H Hair Design Haptik-Design Haushaltsgerätedesign Healthcare Design Heimatdesign Hightechdesign Home Design Human-Centered Design Humanitarian Design I Inclusive Design Industriedesign Infrastructure Design Innovation Design Installation Design Intelligent Design Interaction Design Interface Design Interior Design Interkulturelles Design Invention Design Investitionsgüterdesign

2  Sammlung aller Designbegriffe, auf die ich während der Recherchen gestoßen bin

058  URBAN DESIGN

K Kognitives Design Kommunikationsdesign Konferenzdesign Kreidedesign Krisendesign Küchendesign L Landscape Design Lichtdesign Lifestyle Design Logodesign Lounge Design M Material Design Mechatronic Design Mediendesign Metadesign Möbeldesign Modedesign Multimedia Design N Nachhaltiges Design Nail Design Nature Design Next Design Neurodesign No-Design Non Intentional Design O Objektdesign Ökologisches Design Olfaktorisches Design On-Air-Design Ontologisches Design Open Design Organisches Design Organizational Design Orientierungsdesign Ostdeutsches Design

P Paradigm Design Parteiisches Design Participatory Design Planetarisches Design Plant Design Posterdesign Produktdesign Protestdesign Prozessdesign Public Design Public Interest Design R Radical Design Rebellisches Design Recyclingdesign Re-Design Reduktives Design Reflective Design Relational Design Retail Design Retro Design Research through Design Responsive Design Rural Design S Scenographical Design Schaufensterdesign Schmuckdesign Schuhdesign Screendesign Security Design Selbstdesign Service Design Set Design Shop Design Sicherheitsdesign Signage Design Slow Design Smart Design Social Design Social Innovation Design Softwaredesign Sound Design

Sozio-Design Spatial Design Speculative Design Spielzeugdesign Stage Design Strategisches Design Stromliniendesign Subversives Design (Öko-)Systemdesign T Textildesign Time-Based Design Title Design Total Design Town Design Traditional Design Transformation Design Transition Design Transportation Design TV-Design Type Design U Überlebensdesign Universal Design Unsichtbares Design Unterrichtsdesign Urban Design User-Centered Design User-Experience Design V Verpackungsdesign W Webdesign (Um-)Weltdesign Z Zoodesign

AUF SPURENSUCHE: ZUM „DESIGN“ IM URBAN DESIGN  059

3 DESIGN: TRANSFORMATION DURCH GESTALTUNG Unsere Zukunft ist vor allem eine Frage des Design. Vilém Flusser, 1993

3.1  Design: Aktivierung der Affordanz Achtung: Mit Kapitel 3 betreten wir nun die – für Urban Designer – erstaunlich fremde Welt des Design. Zum Design ließe sich weit mehr sagen, als in dieser Arbeit Platz ist. Damit wir uns im unwegsamen Diskurs-Dickicht dieser terra incognita nicht verlaufen, sollten wir daher kurz innehalten und Revue passieren lassen, wie wir hierhergekommen sind, vergegenwärtigen, wo wir nun stehen, und entscheiden, in welche Richtung wir weiter voranschreiten. In Kapitel 1 wurde ausgehend von einem gegenwartsdiagnostischen Überblick über aktuelle gesellschaftliche Problemlagen und Herausforderungen formuliert, was verantwortungsvolles, zeitgemäßes und zukunftsgewandtes, kurz: gutes Urban Design heute leisten muss: Gutes Urban Design trägt dazu bei, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mit­ tel ­aktiv auf diese hinzuwirken. Anschließend wurde in Kapitel 2 erörtert, was sich an Urban Design ändern muss, um diesem in Kapitel 1 formulierten Anspruch zu entsprechen. Durch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Urban ­Design und die Gegenüberstellung mit der in Kapitel 1 gestellten Gegenwartsdia­ gnose kamen wir zu folgendem Schluss: Urban Design muss sich öffnen, wo es zu ­geschlossen ist, und schließen, wo es zu offen ist. Wo das Urban Design von der Architektur dominiert und als Städtebau eingehegt wurde, bedarf es einer Erweite­ rung. Wo seine Bedeutung und Aufgabe unscharf sind, bedarf es einer Schärfung. Als Schlüssel zur Transformation des Urban Design wurde schließlich das bisher weitgehend ungenutzte Affordanzpotenzial, der Angebots- und Aufforderungs­ charakter, des ihm inhärenten Designbegriffs erkannt. Die drei zentralen Fragen, die uns im dritten Kapitel Weg und Ziel vorgeben, lauten nun:

1. (Warum) Kann Design zu einer Transformation des Urban Design beitragen? 2. Welcher Art der Auseinandersetzung mit dem Designbegriff

DESIGN: AKTIVIERUNG DER AFFORDANZ  061



bedarf es, um ihn als Schlüssel zum Öffnen und Schließen des Urban Design nutzen zu können? 3. Welcher der vielen existierenden Designbegriffe ist der ge­ eignetste, um Urban Design auf einen erweiterten und politi­ schen Begriff zu bringen?

In diesem Sinne führt das dritte Kapitel zunächst in den Designbegriff ein. Fokus­ siert wird hierbei auf eine der grundlegendsten Charakteristika der Designdisziplin: die ihr innewohnenden Tendenzen zur disziplinären Erweiterung durch Entgren­ zung und zur (Selbst-)Disziplinierung durch Abgrenzung von anderen (gestalte­ rischen) Disziplinen (3.2). Anschließend wird mit dem design turn design­ferner Disziplinen und dem political turn des Design der erweiterte Designbegriff einer näheren Betrachtung unterzogen, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, im Einfluss­bereich welcher gesellschaftlicher Dynamiken der design turn beziehungs­ ­ olitical turn des Urban Design, der in dieser Arbeit angestrebt wird, vollzo­ weise p gen wird (3.3). Mit einem Kompendium politischer Designbegriffe wird ­daraufhin eine Inventarisierung von Designbegriffen vorgenommen, denen ein explizit er­ weitertes und politisches Designverständnis zugrunde liegt und die als Grund­ lage zur Formulierung eines erweiterten und politischen Urban-Design-Verständ­ nisses d ­ ienen können (3.4). Aus dieser Sammlung wird schließlich ein einzelner Schlüssel­begriff ­ausgewählt, der im weiteren Verlauf der Arbeit genutzt werden soll, um Urban Design zu transformieren (3.5).

3.2  Was ist Design? Wir glauben meist zu wissen, was Design ist, denn es begegnet uns überall: „[…] in ­ lltagsobjekten wie Autos, Möbeln und Kleidern, aber auch in Werkzeugen und A ­Maschinen“ (von Borries o. J., o. S.). Aber ist das schon alles? Der Begriff des De­ sign steckt immerhin auch im Urban Design. Sind unsere Städte nicht auch durch Design­prozesse entstanden (ebd.)? Ist heute nicht die ganze Welt urbanisiert? Ist dann nicht die ganze Welt Gegenstand von Design? Ist Design also grenzenlos? Setzt man sich näher mit dem Begriff auseinander, zeigt sich, dass mit dem Design ein sehr weites Diskurs-, Forschungs- und Praxisfeld aufgespannt wird, das ein immenses Spektrum an Begriffen, Theorien, Methoden, Tätigkeiten, Rollenbil­ dern und Artefakten umfasst (Mareis 2016, 37). Der Designbegriff ist unscharf und nebulös (Schultheis 2005, 68). Das hat er – bezeichnenderweise – mit Urban Design gemein: Niemand weiß so richtig, was es eigentlich ist. „Es gibt sehr viele, sich teil­ weise widersprechende Versuche, den Begriff ‚Design‘ zu definieren; er wurde in der Geschichte unterschiedlich benutzt“ und unterlag zahlreichen Wandlungen und Verschiebungen (von Borries 2016, 9).

062 DESIGN

Wie können wir uns also dem Design nähern, ohne uns vollends in den laby­ rinthischen Windungen und Wendungen der Geschichte und Theorie der Diszi­ plin zu verlieren? Welcher Zugang ist hier nötig, um auf wenigen Seiten den Kern ­dessen zu erfassen, was Design ausmacht, und auf den Punkt zu bringen, was am Design für diese Arbeit wichtig ist? Meine Antwort lautet: „Folge dem Leben!“ Denn Design lebt. Einer atmenden Lunge gleich befindet sich das Design seit jeher in einem permanenten Zustand des Sichausdehnens-und-Zusammenziehens: einer disziplinären Erweiterung durch die Entgrenzung dessen, was als die Bedeutung und Aufgabe des Design gilt, sowie einer disziplinären (Selbst-)Begrenzung und Abgrenzung von und durch andere (ge­ stalterische) Disziplinen. Die Demarkation dessen, was mit Design bezeichnet werden soll, war von Be­ ginn an Gegenstand „virulenter sozialer und kultureller Aushandlungen“ um die theoretische wie praktische Abgrenzung und Erweiterung des Feldes (Mareis 2016, 61). Dies beginnt schon mit der umstrittenen Frage, was als der Beginn des Design zu gelten habe. Auf der einen Seite stehen hier jene, „die den Beginn des Designs mit der aufkommenden Industrialisierung am Ende des 18. Jahrhunderts erklären“ (Erlhoff 2013, 17). Folgt man dieser Sichtweise, dann beginnt die Geschichte des ­Design erst mit dem Beginn und dem Fortschreiten der industriekapitalistischen Warenproduktion (Selle 1994, 8). Sodann treten jene auf den Plan, die Design „als ein Set von erlernbaren, historisch gewachsenen Verfahren und Kulturtechniken“ (Mareis 2016, 43), als Prozess und Produkt des zielorientiert-gestaltenden Umgangs des Menschen mit seiner Umwelt ansehen (Jonas 2011b). Design wird nach dieser Anschauung als etwas angesehen, das für alle menschlichen Lebewesen konstitutiv ist, als etwas genuin menschliches, als Ursprung (und Produkt) der Kultur (Erlhoff 2016, 13) und anthropologisches Apriori, das seine eigene Grundlage darstellt (Jo­ nas 2011b). Aus dieser Perspektive ist jeder ein Designer, „der Abläufe ersinnt, um bestehende Situationen in erwünschte zu verwandeln“ (Simon 1994 [1969], 95). Die Geschichte des Design ist demnach gleichzeitig auch die Geschichte der Mensch­ werdung (Grito 2013, 36). Halten wir also fest: Es besteht ein Grundkonflikt zwischen Designverständ­ nissen im engeren und erweiterten Sinne. „Mal wurde Design eng definiert, mal wurden der Begriff und die damit verbundenen Aufgaben weit und umfassend ver­ standen“ (von Borries o. J., o. S.). Dieses Streben nach einer Ein- und Abgrenzung auf der einen Seite und der Entgrenzung und Erweiterung auf der anderen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Design (Mareis 2016, 198). Die Gründe dieser gegenläufigen – jedoch nicht widersprüchlichen – Bewegungsrich­ tungen verraten uns viel über das Wesen des Design sowie das Spannungsfeld, in dem es agiert.

WAS IST DESIGN?  063

Erweiterung des Design Eine Ursache und Voraussetzung der Erweiterung des Design ist beispielsweise die begriffliche Unschärfe des Designbegriffs. Etymologisch betrachtet geht der Designbegriff auf das lateinische Wort designare (später ital. disegnare) zurück, das ‚bezeichnen, abgrenzen, angeben‘ bedeutet, im Weiteren auch ‚bestimmen, ernennen‘, ‚andeuten‘, ‚einrichten, anordnen‘, ‚entwerfen‘, ‚im Umriss darstellen, nachbilden‘. (Mareis 2016, 36)

Der Begriff wurde geschichtlich wie geografisch unterschiedlich genutzt, unterliegt bis heute in verschiedenen Kultur- und Sprachräumen unterschiedlichen Bedeutun­ gen und ähnelt zum Teil „historischen und gegenwärtigen Synonyme[n] und Vorläu­ fer[n] – wie z. B. ‚Gestaltung‘, ‚Formgebung‘ oder ‚angewandte Kunst‘“ (von Borries 2016, 9). Ein Grund der Tendenz zur Entgrenzung des Design ist also die Schwierig­ keit seiner begrifflichen Abgrenzung. Die unauflöslichen Verstrickungen des Design zwischen Denken und Machen, Theorie und Praxis, wissenschaftlicher Forschung und künstlerisch-gestalterischer Tätigkeit tragen ihren Teil dazu bei, dass sich Designer ihrer eigenen Identität und Rolle nicht immer sicher sind und sich in einem permanenten Prozess der Selbst­ findung befinden – eine zentrale Voraussetzung und ein weiterer Grund für das im­ mer wieder neue Ausloten und Aushandeln von Grenzen (Mareis 2016, 25; Davey und Wootton 2016, 71). Design schlägt als Interface, als Schnittstellen- und Transdisziplin Brücken zwischen verschiedenen, ausdifferenzierten Wissensbereichen (Flusser 2019 [1993], 10). Es wird in einer Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeitsgebiete angewandt und bringt Wissen und Artefakte hervor, die für verschiedenste Bereiche relevant sind (Walker 1992, 48). Die Artefakte, die aus Designprozessen hervorgehen, können ih­ rerseits ebenso als Interfaces bezeichnet werden. Ein Artefakt kann als Punkt der Begegnung – in der heutigen Terminologie: als ‚Schnittstelle‘ – zwischen einer ‚inneren‘ Umgebung, der Substanz und inneren Gliederung des Artefakts selbst, und einer ‚äußeren‘ Umgebung, der Umwelt in der es operiert, gedacht werden. Wenn die innere Umgebung der äußeren angemessen ist oder umgekehrt, dann wird das Artefakt seinen Bestimmungszweck erfüllen. (Simon 1994 [1969], 6)

Die unscharfen Grenzverläufe zwischen dynamischen Wissenskulturen auf der einen Seite sowie von Artefakten und Kontexten auf der anderen sind eine weitere Ursache für die Unschärfe und den ständigen Bedeutungswandel des Design. Eine weitere grundlegende Eigenschaft des Design ist seine Imaginations-, Entwurfs- und Innovationskompetenz. Die Begriffe der sozialen und technischen Innovation sind zentral im Design. Sie bezeichnen den Drang zur Transformation

064 DESIGN

von Bestehendem und der Hervorbringung von Neuem (Joost und Unteidig 2016, 135). Die permanente Revolution ist eine der Grundeigenschaften des Design, es ist eine Disziplin, die sich nicht disziplinieren lässt (Schultheis 2005, 78). Zu­gespitzt formuliert gestalten Designer nicht nur (für) andere, sondern auch ihren eige­ nen Berufsstand und Aufgabenbereich immer wieder neu (Mareis 2016, 15). Eine Eigenart des Design ist es daher, „sich selbst ständig mit und in unterschiedlichen ­Entwurfstechniken neu zu entwerfen“ (Gethmann und Hauser 2009, 10). Diese Ten­ denz zum Selbstdesign (S. 74, 95) trägt ihren Teil zur stetigen Umwälzung und Er­ neuerung der Disziplin bei. Der letzte, ganz zentrale Grund für den expansiven Drang des Design, auf den hier eingegangen werden soll, ist die gesellschaftliche Dimension, womit sowohl die sozialen Voraussetzungen als auch die gesellschaftlichen Auswirkungen ge­ stalterischer Tätigkeit gemeint sind. Mitte des 19. Jahrhunderts war das Berufsbild des Designers mit dem Aufkommen der industriekapitalistischen Warenproduk­ tion verbunden (Mareis 2016, 49). Design wurde vornehmlich als kunstgewerbliche Tätigkeit, angewandte Kunst oder dekorative Oberflächenverschönerung verstan­ den, die der Gestaltung von Objekten, Artefakten und Produkten diente. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurden mit der Arts & Crafts-Bewegung, dem Werkbund oder dem Bauhaus erstmals explizit Ansprüche verknüpft, die Gesellschaft durch Ge­ staltung positiv zu beeinflussen beziehungsweise grundlegend zu verändern (Banz 2016, 8). Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung, der sozialen Gerechtigkeit und des Gemeinwohls gehörten damals schon zu den dringlichen Fragen und Pro­ blemen, die es durch Design zu lösen galt (ebd.). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wuchs schließlich das Unbehagen an den damals dominanten Designtheorien und -praktiken, die weitgehend von ästhetisch-künstlerischen „Stil- und Formfra­ gen sowie von Funktionalitätsdebatten geprägt waren“ (Mareis 2016, 31). Ausge­ hend von einer Kritik am Funktionalismus und den damaligen Produktions- und Machtverhältnissen wurden nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zuneh­ mend moralisch-­ethische und gesellschaftspolitische Ansprüche ans Design gerich­ tet (ebd., 31, 89–92). Auch die „Anforderungen und Aufgaben von Industrie, Technik und Gesellschaft, mit denen sich Designschaffende in der Nachkriegszeit konfron­ tiert sahen“, wurden zunehmend komplexer (ebd., 88). Das Handlungsfeld des De­ sign erfuhr angesichts der sozialen und ökonomischen Probleme in den 1960er- und 1970er-Jahren durch den Einfluss von Systemtheorie, Kybernetik, Informatik, Pla­ nungstheorie und Umweltdiskursen sowie durch (post-)moderne und (post-)struk­ turalistische Einflüsse schließlich eine interdisziplinäre Erweiterung (ebd., 14, 31). Es wurde zunehmend als ein Tätigkeitsbereich betrachtet, der zum Ziel hatte, kom­ plexe Probleme zu lösen und den Ansprüchen der Benutzenden entgegenzukom­ men (Bayazit 2004, 22), wodurch eine Vielzahl neuartiger, erweiterter Designbegriffe, wie etwa Radical Design (S. 82) und Social Design (S. 96), zur Debatte gestellt wurden (Mareis 2016, 14). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festigte sich dann ein erweiterter „Begriff von ‚Design‘ [...], der die gesamte von Menschen geschaffene,

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artifizielle Welt als seinen Gegenstand postulierte“ (ebd.). So hat sich das Design seit Mitte des 19. Jahrhunderts von einer gewerblich-industriellen Aktivität zu einem breiten Theoriediskurs und Berufsbild mit einem immensen Spektrum an Denk­ weisen und Praktiken ausdifferenziert (Buchanan 1998). Theorien des Design fas­ sen den Designbegriff somit heute in der Regel viel weiter, als es alltagssprachlich der Fall ist (Mareis 2016, 14). Der erweiterte Designbegriff ist in der Mitte der Design­ forschung angelangt und erlangt auch jenseits dieser zunehmend Aufmerksamkeit.

Disziplinierung des Design Die Ursachen der gegenläufigen Tendenz einer disziplinären (Selbst-)Begrenzung des Design sind ihrerseits kausal eng mit denen seiner Erweiterung verstrickt. Der Soziologe Franz Schultheis vertritt die These, dass jede bekannte und an­ erkannte wissenschaftliche Disziplin „das Produkt eines oft langwierigen und mü­ hevollen Prozesses der Durchsetzung, Legitimation und Institutionalisierung, kurz: einer ‚Disziplinierung‘ darstellt“ (2005, 67). Disziplinwerdung bedeutet hier „Ver­ wissenschaftlichung, Akademisierung und Professionalisierung“ (ebd.). Um sich „innerhalb des bestehenden akademischen Fächerkanons positionieren und in Ab­ grenzung zu etablierten Fächern behaupten“ zu können (Mareis 2016, 161), müs­ sen sich „die Vertreter oder Akteure einer spezifischen Praxis selbst Gesetze geben und sich diesen unterwerfen“ (Schultheis 2005, 69). Disziplinierung heißt daher auch Selbstdisziplinierung durch das Ziehen von Grenzen: „Grenzen des Denkba­ ren, Sagbaren und ­Machbaren“ (ebd., 79). Die Angehörigen einer sich konstituie­ renden Praxis müssen dementsprechend auf ein gewisses Maß an Freiheit verzich­ ten, um als Kollektiv Anerkennung und relative Autonomie zu erlangen. „Man gibt dabei individuelle Freiräume auf, um zu einer kollektiven Machtposition zu gelan­ gen, so ähnlich wie im rousseauschen Gesellschaftsvertrag“ (ebd., 69). Während dem Design also einerseits eine zentrifugale Tendenz zur Entgren­ zung und Erweiterung und damit auch der Kolonisierung anderer, benachbarter Wissenskulturen innewohnt, steht es zugleich vor der Herausforderung einer (un-) freiwilligen (Selbst-)Begrenzung und Disziplinierung durch die Spielregeln der Wissen­schaft, konkurrierende (Nachbar-)Disziplinen wie auch sich selbst. Das De­ sign musste zunächst verschiedene Stufen der Disziplinierung durchlaufen, um sich „von einer ‚illegitimen Kunst‘ zu einem legitimen Feld wissenschaftlicher Theo­ rie und Forschung [zu] wandeln“ (ebd., 68). Anfänge eines solchen systematisch ­geführten Diskurses zu Designtheorie und -methodologie waren seit der Design­ methoden-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahren zu beobachten, die zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung und Akzeptanz des Design als eigenständi­ ger Disziplin in der Wissenschaftswelt führte (Mareis 2016, 14, 88). Das Design ist heute als eigenständige Disziplin einigermaßen anerkannt. Zu beobachten ist jedoch, dass alle Bemühungen der letzten Jahrzehnte, Design als

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Transdisziplin zwischen Wissenschaft und Gestaltung und als eigenständige aka­ demische Disziplin zu etablieren, „mit einer schier unauflöslichen Verstrickung zwischen den Bereichen Theorie und Praxis, zwischen wissenschaftlicher Disziplin und praktischer Aktivität einhergingen“ (Mareis 2016, 25). Das Design konnte sich bis heute relativ erfolgreich der mit Modernisierungsprozessen einhergehenden Tendenz zur arbeitsteiligen Ausdifferenzierung und Spezialisierung widersetzen. Als undisziplinierte Disziplin zahlt sie hierfür jedoch mit ihrem immer noch rela­ tiv prekären Status im Kreis anerkannter Wissenschaften. Das Design muss sich bis heute „innerhalb des bestehenden akademischen Fächerkanons positionieren und in Abgrenzung zu etablierten Fächern behaupten“ (ebd., 161).

Zum Verhältnis von Design und Urban Design Die hier beschriebenen Gründe zur Erweiterung und Disziplinierung des Design ­geben auch Aufschluss darüber, warum das Design im Urban Design weitgehend ungedacht sein könnte und im vorherigen Kapitel gar von einem „Burgfrieden“ zwi­ schen Design und raumgestaltenden Disziplinen die Rede war. Der Begriff Designer ist vage und ungeschützt, „denn im Gegensatz zu den Architekten ist es den Designern nie gelungen, […] eine Berufskammer zu etablieren, welche Kriterien für die Berufsaufgaben und die Ausbildung definiert“ (Löw 2013, 47). Da die „Gefahr einer ‚feindlichen Übernahme‘ des Designdiskurses“ (Krippen­ dorff 2013, 63) durch konkurrierende Disziplinen allgegenwärtig ist, musste sich das Design von Beginn an von anderen gestalterischen Disziplinen, wie der Archi­ tektur, abgrenzen, um sich vor möglichen Vereinnahmungen zu schützen (von Bor­ ries und Fezer 2013, 4). Abgrenzung zur Architektur bedeutete auch: strategischer Rückzug von und weitgehender Verzicht auf Anteilnahme an der Gestaltung des Urban Design (und des Urbanen), das sich gewissermaßen im Herrschaftsbereich der Architektur befand und auf das diese bis heute einen weitgehenden Anspruch alleiniger Deutungshoheit erhebt. Die Architektur wiederum sieht sich – nicht zuletzt aufgrund der oben be­ schriebenen, dem Design eigenen Tendenz zur Expansion – ihrerseits ebenso von der Gefahr bedroht, vom Design vereinnahmt zu werden (ebd., 6). Die Abgrenzung vom Design kam in diesem Kontext einer Ausgrenzung des Design gleich. Die Archi­ tektur wusste ihren (bis heute) weitgehend alleinigen Macht- und Gestaltungs­ anspruch erfolgreich zu verteidigen. Der Preis war der weitgehende Verzicht, zur Gestaltung der Disziplin Urban Design von den Theorien und Methoden der Design­ wissenschaft Gebrauch zu machen, um dieser nicht Tür und Tor zu öffnen. Es handelt sich also gewissermaßen um einen fachpolitischen Rückzug hin­ ter die Grenzen des Möglichen, der einer nachvollziehbaren Eigenlogik (einer ­Rationalität der Verlustangst im Wettstreit um Deutungshoheit, Einfluss und Ressourcen; Mareis 2016, 30) folgen mag, sich im Hinblick auf den eigentlichen

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Gegenstand – die Gestaltungskompetenzen von Urban Designern sowie die Gestal­ tung des Urbanen – jedoch als höchst irrational und kontraproduktiv erweist. Es verhält sich – zugespitzt – gewissermaßen wie bei einem Sorgerechtsstreit, bei dem die eine Partei (Architektur) erfolgreich das alleinige Sorgerecht erstreitet und ver­ teidigt, während die andere Partei (Design) durch eine Unterlassungserklärung in die Schranken gewiesen wird und Abstand nimmt. Der beziehungsweise die Leid­ tragende ist hierbei letztlich vor allem „das Kind“: Urban Design. Der vermeintli­ che Sieg der Architektur ist tatsächlich ein Pyrrhussieg. Der Verlierer ist das Urban Design.

3.3  Design Turn | Political Turn: Der erweiterte Designbegriff Wenn das Öffnen und Schließen, die Erweiterung und die Disziplinierung, Kenn­ zeichen der Vitalität des Design sind, war es wohl selten so lebendig wie heute. Zwei Entwicklungen prägen die Designwelt aktuell: der design turn design­ ferner Kontexte – im Sinne einer Hinwendung und Öffnung zum Design – und der social beziehungsweise political turn des Design selbst – im Sinne einer radikalen Entgrenzung und Erweiterung des Designbegriffs sowie der Etablierung eines poli­ tischen Designverständnisses. Haben „Theorien des Designs in der akademischen Landschaft lange Zeit ein eigentümliches Schattendasein gefristet“ (Mareis 2016, 9), lässt sich gegenwär­ tig ein wachsendes Interesse am Design beobachten. Unter dem Stichwort des design turn ist der Designbegriff mittlerweile in transdisziplinären Kontexten zwi­ schen Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften sowie Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft angekommen, die dem Design zuvor indifferent oder gar kritisch gegenüberstanden. Das Design genießt hier zunehmend den (nicht unbedenkli­ chen) Ruf eines Alleskönners, der zur praxisorientierten Wissensproduktion, zur Lösung von Problemen aller Art, zur sozialen und technischen Innovation sowie zur visuellen und haptischen Kommunikation komplexer Sachverhalte zurate ge­ zogen wird (ebd., 11). Indessen vollzieht sich mit einem political turn der Gestaltungspraxis und ­Designtheorie gegenwärtig eine praktische wie diskursive Hinwendung zu sozialpo­ litischen Dimensionen im Design. Vor dem Hintergrund der Umbrüche der l­ etzten Jahrzehnte strebt die Disziplin danach, sich in ihrer Beziehung zur gesellschafts­ politischen Realität neu zu erfinden (DGTF 2017). Die „weitreichenden sozialen, politischen, ökologischen Implikationen und Konsequenzen, aber auch die Rele­ vanz und Verantwortung […], die mit der Gestaltung […] einhergehen“ werden hier­ bei ­zunehmend anerkannt (Mareis 2016, 198 f.). Die Designwissenschaft themati­ siert ­verstärkt das Spannungsfeld von Gestaltung, Gesellschaft und Politik, indem sie F ­ ragen zur Handlungs- und Verantwortungsethik stellt und normative Ziele

068 DESIGN

formuliert (ebd., 200). Das Design erfährt hierbei eine massive Erweiterung: „Es wan­ delt sich von einem Berufsbild im Kontext der industriellen Produktion zu einem Modus des politischen H ­ andelns“ (ebd., 199). Design gestaltet nach diesem Ver­ ständnis nicht mehr nur, im engeren Sinne, Dinge und Produkte, sondern, im erwei­ terten Sinne, Bilder, Narrative und Visionen gesellschaftlicher Zukunft (ebd., 132).

Ursachen und Kontexte Diese Erweiterung des Design ist, wie oben gezeigt wurde, weder grundsätzlich neu noch besonders anders, sondern stellte von Beginn an ein Motiv und eine Trieb­ kraft der Designgeschichte dar. Neu sind allerdings die Radikalität und das weitrei­ chende Ausmaß der Erweiterung, sowohl hinsichtlich der Wandlung des Design­ begriffs selbst als auch hinsichtlich der Aufmerksamkeit und Unterstützung, die diesem inner- und außerhalb der Designwelt gegenwärtig zukommt. Neu und an­ ders sind selbstverständlich auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hin­ tergründe, die dem gegenwärtigen design und political turn zugrunde liegen. Eine nähere Betrachtung dieser Ursachen verrät uns viel darüber, in was für einer Zeit wir heute leben, welchen Veränderungen und Herausforderungen unsere Gesellschaft heute unterliegt, was Design ist, welche Anforderungen und Erwartungen heute an das Design gerichtet werden und welche Bedeutungen und Perspektiven diese ­diskursiven wie praktischen Wendungen des Design haben. Sie wird uns helfen zu verstehen, im Kontext welcher gesellschaftlichen Entwicklungen der design und political turn des Urban Design, der in dieser Arbeit angestrebt wird, erfolgen wird. 1.  Weltdesign im Erdzeitalter des Menschen

Aufschluss gibt hier beispielsweise der Anthropozän-Diskurs. Wir erinnern uns: Das Erdzeitalter des Menschen beschreibt den Beginn einer neuen geologischen Epo­ che, in der „die Menschheit“ global einen tief greifenden Einfluss auf das Erd­system nimmt und somit als hauptsächlicher Faktor planetarischer Veränderung angese­ hen werden kann (S. 23). Wie der Designtheoretiker Otl Aicher schon 1991 sagte: „Die Welt, in der wir leben, ist die von uns gemachte Welt“ (Aicher 2015 [1991], 184), die Welt ist ein Entwurf. Der zeitdiagnostische Begriff des Anthropozäns ist somit Ausdruck eines Bewusstseinswandels der Menschheit, die sich ihrer planetaren Be­ deutung als gestaltende Kraft zunehmend gewahr wird (WBGU 2011, 33). Dieser Bewusstseinswandel lässt sich auch in den Diskursen der Raumfor­ schung wiederfinden, die ihrerseits unlängst das urbane Zeitalter ausgerufen hat. Das Urbane ist heute demnach ein weltumspannender Zustand. Das, was wir „die Natur“ nennen, ist weltweit und maßstabsübergreifend mit den sozioökonomi­ schen Transformationen der globalen Urbanisierung vermengt. Die Gesellschaft ist komplett urbanisiert. Das Urbane ist überall (Brenner 2014, 14–31; Brenner und Schmid 2014, 160–163).

DESIGN TURN | POLITICAL TURN: DER ERWEITERTE DESIGNBEGRIFF  069

Diese fundamentalen Veränderungen stellen bisherige Annahmen dessen, was Natur, Mensch und Gestaltung bedeuten, grundsätzlich infrage und erfordern eine radikale Neubewertung bestehender epistemologischer Annahmen, analyti­ scher Kategorien sowie Untersuchungsgegenstände. Insofern spiegelt der design turn den kognitiven Wandel der Menschheit wi­ der, die sich der Tragweite ihrer gestaltenden Kraft zunehmend bewusst wird, wäh­ rend der political turn des Design Ausdruck der Einsicht in die ethisch-moralische Verantwortung gestalterischen (beziehungsweise menschlichen) Handelns ist, die hiermit einhergeht. 2.  Design as Politics in postpolitischen Zeiten

Ein zweiter Grund für den design turn und den political turn des Design ist, neben dem Anthropozän-Diskurs, die Feststellung, dass die Politik der politischen Ver­ antwortung, die Bedingungen verantwortungsvoller Weltgestaltung ihrerseits zu gestalten, nicht hinreichend nachkommt. Designtheoretiker wie Tony Fry kritisieren die Unfähigkeit der Politik, ange­ messen auf gegenwärtige Krisen zu reagieren. Die Politik scheint demnach weder willens noch fähig, existenzielle Probleme der Menschheit, wie Umweltverschmut­ zung und Klimawandel, zu lösen (Fry 2011, 5, 31). Diesbezüglich wird sie mehr als Teil des Problems als der Lösung angesehen. Der Philosoph Jacques Rancière (2007) nennt diesen zunehmenden Rückzug der Politik aus der Verantwortung des Regie­ rens „Postpolitik“. In dieser postpolitischen Zeit entpolitisierter Politik verhält sich der politische „Bedeutungszuwachs von Design umgekehrt proportional zum Bedeutungsverlust des Politischen“ selbst (von Borries 2016, 30). Die Depolitisierung der Politik hin­ terlässt ein Vakuum, das zunehmend vom Design eingenommen beziehungsweise dem Design zugeschrieben wird (Rancière 2007, 73). Und da, wo „das vermeintlich unpolitische Design in den Kontext grundsätzlicher gesellschaftspolitischer Fra­ gen gestellt wird, […] findet wiederum eine ‚Rückeroberung‘ des Politischen“ (von Borries 2016, 30) durch das Design statt. Das Design wird politisch und haucht wie­ derum dem Politischen selbst neues Leben ein. Dem Design kommt so, als Gestal­ tung der Beziehung von Mensch und Mensch, Mensch und Maschine und Mensch und Natur, die Rolle einer Ersatzpolitik zu. Als Suche nach einer solchen Ersatzpolitik lässt sich auch der design turn verstehen. Der political turn kann wiederum als Versuch des Design interpretiert ­werden, der damit einhergehenden politischen Verantwortung gerecht zu werden – beziehungsweise als erneuter Ausdruck der Tendenz zur Erweiterung des eigenen Bedeutungs- und Handlungsfeldes: Denn dort, wo Grenzen erodieren, dort, wo sich Lücken auftun, dort, wo es hereingebeten wird, lässt sich das Design nicht zwei­ mal bitten.

070 DESIGN

3.  Design als ultimativer Problemlöser in Zeiten der Krise

Eine dritte Ursache für das große Interesse am Design ist, neben den zeitdiagnos­ tischen Debatten zum Anthropozän und der Postpolitik, die nunmehr über zehn Jahre währende Omnipräsenz populärer Krisendiskurse. Der Begriff Postpolitik wird oft in einem Atemzug mit den Begriffen Postdemo­ kratie und Demokratiekrise genannt (Crouch 2008). Letzterer reiht sich wiederum in einen umfangreichen Kanon an Krisendiskursen ein: Demokratiekrise, Ökokrise, Eurokrise, Psychokrise, Terrorkrise, Migrationskrise (und einige mehr) überlagern sich zeitlich, bedingen sich kausal und kulminieren, spätestens seit der Immobilienund Finanzkrise von 2008, in einem bereits zehn Jahre erklingenden Klagelied der Krisenhysterie. Der Ausnahmezustand der Krise beschreibt den Normalzustand der Gegenwart (Agamben 2004). Endgültig in der Krise ist, mit der Enttäuschung fun­ damentaler Versprechen der Moderne, wie der Gestaltbarkeit der Zukunft im Sinne eines zivilisatorischen Fortschritts, somit letztlich die Moderne selbst. Laut dem Rechtsphilosophen Carl Schmitt (2015 [1922]) ist souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Wo moderne Gesellschaften mit der sich ­zuspitzenden Zivilisationskrise zunehmend an Selbstgestaltbarkeits-Souveräni­ tät einbüßen, wird Design, von einem „kompetenzökologischen Ansatz“ (Sloter­ dijk 2010, 11) her gesehen, als „Souveränitäts-Simulation“ (ebd., 12) verstanden: „Design ist, wenn man trotzdem kann“ (ebd.). Design gilt aufgrund seiner Innova­ tions- und Problemlösungskompetenz als „Können des Nichtkönnens“ (ebd.), als Trotzdemkönner. Es ist gegenwärtig auch deswegen so populär, weil es in Zeiten der Krise zum omnipotenten Krisenmanagement-Tool stilisiert wird (beziehungs­ weise sich selbst als solches gebärdet). Die Aufmerksamkeit des Design hat sich hierbei in den letzten Jahren zuneh­ mend von der Problemlösung auf die Problemstellung erweitert (Mareis 2016, 214): Designtheorien und -methoden wollen und sollen dabei helfen, neu- oder anders­ artige Perspektiven und Fragestellungen zum Verständnis gesellschaftlicher Prob­ leme zu entwickeln (ebd.). Komplexe gesellschaftliche Herausforderungen fordern die Akteure des Design vermehrt zu einer kritischen und verantwortungsbewussten Haltung heraus (Banz 2016, 8). Die krisenhafte gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der letzten Jahre hat in der Designwelt das Bedürfnis verstärkt, zu einer Verbesserung der Lage beizutragen (Cleven 2016, 57). Design und political turn können somit in einer krisengebeutelten Zeit, in der die Fragen der Gegenwart nicht mehr mit Antworten der Vergangenheit gelöst wer­ den können, als die Suche nach neuen Problem- und Lösungsansätzen angesehen werden. 4.  Design as Futuring in Zeiten der absoluten Gegenwart

Ähnlich attraktiv wie die Problemlösungskompetenz des Design erscheint in die­ sem Zusammenhang auch dessen Fähigkeit zur Imagination und Innovation, die vierte Ursache für den gegenwärtigen design und political turn.

DESIGN TURN | POLITICAL TURN: DER ERWEITERTE DESIGNBEGRIFF  071

Warum ist Imaginationskraft heute so wichtig? Hier können wir uns Ka­ pitel 1 in Erinnerung rufen (S. 27 f.): Unser nichtnachhaltiges Wirtschafts-, ­Gesellschafts- und Kulturmodell muss und wird sich ändern. Die Frage ist, in­ wiefern by disaster or by design (Sommer und Welzer 2014), inwiefern der Wan­ del also durch die sozialökologische Eskalationsdynamik aus expansivem (Post-) Industrie­kapitalismus, exponentiellem Bevölkerungswachstum und explosions­ artiger Urbanisierung erzwungen wird oder auf Grundlage von „Demokratie, Frei­ heit, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität gestaltet“ (ebd., 11) und aktiv, zielgerichtet und wirkungsvoll in eine wünschenswerte Richtung ge­ staltet werden kann. Für einen change by design bedarf es allerdings konsensfähiger Vorstellun­ gen über alternative, wünschenswerte Zukünfte, um Ziele zu haben, auf welche die ­Gesellschaft hinwirken kann. Das zentrale Problem ist, dass wir aktuell nicht über solche Zukunftsvorstellungen verfügen. Es scheint heute einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus (Jameson 2003). Die heutige Politik ist nicht fähig, Ideen zu entwickeln, um unsere Gesellschaften zum Besse­ ren umzugestalten. Angesichts dieser Trägheit der politischen Imaginationskraft findet Zukunft heute kaum mehr statt (Srnicek und Williams 2013, 22). Genau hier kommt das Design ins Spiel: Die Fähigkeit zur Imagination und ­Innovation ist eine der Grundeigenschaften des Design (Joost und Unteidig 2016, 135). „Design wird als zukunftsorientiertes, problemrelevantes Handeln ­definiert und folglich für die Gestaltung von Zukunft und das Lösen von Proble­ men als relevant erachtet“ (Mareis 2016, 214). Das Design gilt als optimistisch und kreativ. Es ist eine Grundüberzeugung des Design, dass es immer eine Lösung für ein Problem und Möglichkeiten zur Verbesserung der Welt gibt. Die wohl wich­ tigste F ­ ähigkeit von Designschaffenden ist die Schöpfung von bislang ungeahnten gestalterischen Möglichkeiten (Krippendorff 2007, 71) und die Kompetenz, Hand­ lungsoptionen hervorzubringen, die darauf abzielen, bestehende Situationen in ­wünschenswerte umzuwandeln (Simon 1996 [1969], 111). Der design turn zeigt insofern, dass das Design heute zunehmend als eine Leit­ disziplin zur Gestaltung der Zukunft verstanden wird (von Borries 2016, 136). Der political turn verdeutlicht seinerseits die Einsicht von Designschaffenden, dass ein change by design nur dann möglich ist, wenn sich das Design selbst wandelt – und als politisch begreift. 5.  Design Thinking als Money Machine in der schönen neuen Arbeitswelt

Die Diagnose einer Krise, häufiger als „Kapitalismuskritik“ zusammengefasst, stellte ursprünglich auch den dramaturgischen Hintergrund dar, vor dem das Kon­ zept des Design Thinking als General Problem Solver (Jonas 2011a) und zur Entwick­ lung sozialer und technischer Innovationen angepriesen wurde (Milev 2011, 39; Seitz 2017, 103). Die enorme Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die das ­Design Thinking seitdem in einem kaleidoskopischen Panorama an gesellschaftlichen

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(vor allem wirtschaftlichen) Kontexten genießt, ist ein fünfter Grund für die gegen­ wärtige Popularität des Design. Die Methode des Design Thinking geht davon aus, dass nachhaltige Innovatio­ nen vor allem dann entstehen können, wenn interdisziplinäre Gruppen zusammen­ arbeiten. Ausgehend von den richtigen Fragestellungen werden in einem iterativen, anwendungsorientierten Prozess zu Beginn Informationen über die Nutzerinnen und Nutzer generiert, um sodann ihre Sichtweise in den Entwicklungsprozess ein­ fließen zu lassen. Durch die Produktion und das Testen von Prototypen und ein permanentes Feedback der Endnutzenden entstehen – so das Versprechen – nut­ zernahe Produkte und Dienstleistungen. Daran ist das Selbstverständnis geknüpft, durch Design Thinking im Sinne der Menschen zu handeln, indem „wahre Bedürf­ nisse der Nutzer*innen befriedigt und die Exzesse der Massenproduktion über­ wunden werden“ (Seitz 2017, 108) und so letztlich ein positiver gesellschaftlicher Beitrag geleistet wird (Milev 2011, 39; Seitz 2017, 9). Ursprünglich als Innovationsmethode für „gute“ Produkte und Services ent­ wickelt, avancierte es bald zu einem Patentrezept zur Organisation hierarchie- und reibungsfreier, kommunikativer wie kollaborativer Arbeitsprozesse mit dem Ziel der Mobilisierung und Freisetzung von Kreativität (Boltanski und Chiapello 2003, 217). So hielt es als Business- und Managementansatz zur Optimierung von Orga­ nisationen und Systemen Einzug an der Schnittstelle von Wirtschaft, Industrie und Wissenschaft und ist heute demnach primär als ein Ansatz zur Etablierung einer be­ stimmten Arbeits- und Unternehmenskultur anzusehen (Milev 2011, 38–42; Seitz 2017, 113 f.). Während als Entstehungsort des Design Thinking immer wieder die amerika­ nische Designagentur IDEO und das an der Stanford University gegründete Hasso Plattner Institute of Design genannt werden, wurde der Begriff design thinking (klein­ geschrieben) erstmals tatsächlich Anfang der 1980er-Jahre als Bezeichnung eines Forschungsparadigmas der Designwissenschaft genutzt (Jonas 2011a; Seitz 2017, 10 f.). Bei Design Thinking handelt es sich somit tatsächlich weniger um eine ame­ rikanische Erfindung, sondern mehr um eine amerikanische Vermarktung. Seitens jener, die in den 1980er-Jahren begannen, design thinking als Forschungsgegenstand zu untersuchen, ist angesichts der zunehmenden Popularität der Design-Thinking-­ Methode ein wachsendes Unbehagen zu verzeichnen (Seitz 2017, 12). Das Design Thinking bietet demnach ein Authentizitätsversprechen, indem es Produkte und Dienstleistungen in Aussicht stellt, die den wahren Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer entsprechen. Tatsächlich trägt es jedoch zur Befeue­ rung profitorientierter Wettbewerbslogiken bei. Design Thinking verspricht eine grenzenlose Mobilisierung und Freisetzung von Kreativität. Tatsächlich wird Krea­ tivität jedoch in Reservaten domestiziert und mit instrumentellem Interesse (der Produktivitäts-, Effizienz- und Profitsteigerung) ausschließlich auf die Lösung be­ stimmter Probleme gerichtet, von anderem aber ferngehalten (Seitz 2017, 114). Das Design Thinking verspricht als Arbeitsmethode individuelle Emanzipation, Freiheit

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und Selbstverwirklichung. Statt echter Befreiung von Zwängen der Arbeit bringt es jedoch neue und subtilere Mechanismen der Unterwerfung unter einem neo-taylo­ ristischen Arbeitsregime hervor (Seitz 2017, 112, 127). Das Design Thinking erscheint im gouvernementalen Gewand als Freiheit, sich selbst auszubeuten. Keine Befreiung von, sondern eine Befreiung in der Arbeit wird durch Design Thinking in Aussicht gestellt. Die Individuen werden mehr und effizienter arbeiten – und sie werden es freiwillig tun. (Ebd., 122)

Design Thinking fügt sich somit nahtlos in die Ideologie des Neoliberalismus ein und stellt somit ein Paradebeispiel des neuen Geistes des Kapitalismus dar (Boltanski und Chiapello 2003), dem kapitalistischen „Phänomen der Endogenisierung, Verin­ nerlichung oder Einverleibung von Kritik“ (Seitz 2017, 104). Hierin liegt das Erfolgs­ geheimnis des Design Thinking. Was wir aus dieser kritischen Betrachtung des Begriffes des Design Thinking lernen können, ist, dass der vielerorts beobachtbare design turn zum design thinking (klein) oftmals mit Design Thinking (groß) verwechselt wird. Design (Thinking) ist ein zweischneidiges Schwert und kann sowohl zu strukturkonservativen als auch progressiven Zwecken genutzt und instrumentalisiert werden. Der Begriff des De­ sign Thinking ist zwar in gewisser Hinsicht auch politisch, sitzt allerdings einem neoliberalen und – aus emanzipativer Perspektive – zutiefst reaktionären Design­ verständnis auf. Der gegenwärtige political turn des Design kann daher seinerseits unter anderem als Abgrenzung, Gegenbewegung und Korrektiv zum Begriff des ­Design Thinking verstanden werden. 6.  Selbstdesign in Zeiten der Selbstoptimierung

Die sechste Ursache für das immense Interesse am Design ist, neben den genann­ ten Diskursen zum Anthropozän, zur Postpolitik, zur Krise, zur Zukunft und zum Design Thinking, der gegenwärtige Trend zum Selbstdesign und zur Selbstoptimie­ rung (S. 95). Das menschliche Selbst, sein Körper und Geist, waren schon immer Gegen­ stand des Design, der Gestaltung und Optimierung (von Borries 2016, 95). Jeder Mensch ist Gegenstand von (Selbst-)Gestaltungsprozessen, die sich „bewusst oder unbewusst, willkürlich oder unwillkürlich, geplant oder zufällig“ (ebd. 94) abspie­ len, von der Körperpflege und -hygiene über die Reparatur bis hin zur Erweite­ rung und Modifikation des Selbst durch Bildung des Intellekts und Gestaltung des ­Körpers (ebd., 94–97). Heute, im 21. Jahrhundert, nehmen die Möglichkeiten und Erfordernisse – und damit auch die gesellschaftliche Bedeutung des Selbstdesign – jedoch fundamental neue Ausmaße an. Ein zentraler Grund ist hier die Zuspitzung allgemeiner Modernisierungsten­ denzen. Die Moderne war von Beginn an von Individualisierung, Autonomiever­ sprechen und Authentizitätserfordernissen geprägt. In der heutigen Spätmoderne

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können Subjekte ihren Lebensweg, anders als zuvor, mehr oder minder autonom wählen. Sie stehen entsprechend in starker Eigenverantwortung für ihre Lebens­ entscheidungen und sind mehr als je zuvor dazu gezwungen, ihr Leben zu planen und zu gestalten (Rosa et al. 2007, 21). Daraus ergibt sich für jeden Einzelnen die Frage danach, wer wir eigentlich sind, wer wir sein und wie wir leben wollen, da wir nur dann handlungs- und entscheidungsfähig sind, wenn wir „wenigstens implizit über eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben verfügen“ (Rosa 2016, 41). Hier tritt die Authentizität ins Spiel, welche sich als ein unverzichtbares modernes Korrelat zur Autonomie erwies: Verlangt Autonomie, dass wir uns selbst bestimmen, so soll der Maßstab der Authentizität gewährleisten, dass wir uns ‚richtig‘ zu bestimmen vermögen, nämlich so, dass wir uns selbst verwirklichen können. (Ebd., 42)

Selbstfindung und -verwirklichung sind also „sinnstiftende Elemente in einer Gegenwart, in der das Leben als Versuch der eigenen Vervollkommnung angese­ hen wird. Aber nicht nur das Leben, auch das eigene Selbst [...] wird gestaltet“ (von Borries 2016, 93). In unserer beschleunigten Gegenwartsgesellschaft sind die Le­ bensumstände und Weltpositionen moderner Subjekte fortwährend in Bewegung (Rosa 2005). Moderne Individuen befinden sich heute auf „rutschenden Abhängen“ (ebd., 176 f.) und müssen ihr Selbst dynamisch stabilisieren, in dem sie sich perma­ nent befragen, belauern, belauschen und gestalten, in der Hoffnung, die Person zu werden und zu sein, die sie sein wollen: sie selbst. Diese der Moderne zu eigenen Tendenzen werden gegenwärtig durch die neo­ liberale Ideologie sowie die Möglichkeiten technologischen Fortschritts enorm ­verstärkt. Der Neoliberalismus ist nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil er die wirtschaftliche Produktivität steigert, indem er sich auf die Authentizitätsbedürf­ nisse und -erfordernisse moderner Subjekte stützt und diese unter dem Deck­mantel der Freiheit ausbeutet. Die Freiheit zur Selbstgestaltung nimmt hierbei zunehmend den Zwangscharakter der Selbstoptimierung an, wobei es sich tatsächlich um inter­ nalisierte Fremdgestaltung handelt. Denn „Selbstdesign, das Selbstoptimierung ist, gehorcht der Wachstumslogik des Kapitalismus“ (von Borries 2016, 103), der sich das selbstoptimierende Selbst freiwillig unterwirft. Der technologische Fortschritt trägt seinen Teil zur Selbstoptimierung bei, in­ dem er uns immer mehr Möglichkeiten zur Selbstgestaltung eröffnet: Smartphones und andere wearables liefern die personenbezogenen Daten, auf deren Grundlage das technologieaffine quantified-self sich selbst diszipliniert. Genchirurgische ­Innovationen wie CRISPR/Cas ermöglichen die Gestaltung unserer eigenen DNA, und im Silicon Valley tüfteln die Apologetinnen und Protagonisten des Post- und Transhumanismus eifrig am Homo Deus (Harari 2017), dem Phantasma eines Gott-­ Menschen, dem mit Hilfe von Anthropotechniken des Selbstdesigns ein evolutio­ närer Sprung zu einer höheren Daseinsstufe prophezeit wird.

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Aus diesem Blickwinkel zeigen der design und political turn: Spätestens da, wo Selbstgestaltung beginnt die Grenzen dessen aufzulösen, was es bedeutet, Mensch zu sein, und was als gestaltbar oder nicht gestaltbar gilt, verschieben sich zwangs­ läufig auch die Grenzen dessen, was unter Design verstanden wird. 7.  Research through Design im Zeitalter transdisziplinärer Wissensproduktion

Der siebte Grund für den design und political turn ist die zunehmende Wertschät­ zung des Design als Vorbild alternativer Wissensproduktion. Da die Einsicht in die Komplexität globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und die Notwen­ digkeiten eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels wissenschaftlich be­ gründet sind, wird Wissenschaft auch bei der Realisierung eines solchen Wandels in der Verantwortung gesehen (Schneidewind und Singer-Brodowski 2013). Der Stellenwert, die Bedeutung und der Aufgabenbereich der Wissenschaft sowie die Vorstellung, wie Wissen idealerweise entstehen und welchen konkreten Nutzen es ­haben soll, ändern sich hierbei radikal. Wissenschaft soll die Welt nicht mehr nur verstehen und deuten, sondern aktiv dazu beitragen, sie zu verändern. Eine Wis­ senschaft, die zum Ziel hat, die Gesellschaft zu verändern, kommt nicht umhin, diese ihrerseits in die Wissensproduktion einzubeziehen und sich ebenso aktiv in gesellschaftliche Kontexte einbringen. Aus diesem Grund findet aktuell eine Neu­ erfindung der transklassischen Wissenschaft als sogenannte transdisziplinäre ­Wissenschaft, mode-2/3-Wissenschaft beziehungsweise transformative Wissen­ schaft statt (Jonas 2017, 80). Wissenschaft wird hierbei zunehmend inter- und trans­ disziplinär ausgerichtet und als normatives Projekt verstanden. Hier kommt das Research through Design ins Spiel (S. 94). Wissen entstand im Design schon immer durch reflektierte gestalterische Praxis (Schön 1993). Als transklassische Wissenschaft unterscheidet sich die Designforschung grundlegend von klassischer Wissenschaft. Designforschung versteht die Welt nicht als Objekt, sondern als Projekt (Findeli 2010). Design ist ein normatives und wertorientiertes Unterfangen, das darauf abzielt, bestehende Situationen in wünschenswerte zu ver­ wandeln (Simon 1996 [1969]). Es ist anwendungsbezogen und problemorientiert und untrennbar intentional in seinen Gegenstand und dessen Manipulation invol­ viert (Jonas 2004, 5). Der design turn kann somit als Zeichen dafür gedeutet werden, dass sich die Wissenschaft gegenwärtig selbst neu erfinden muss. Es ist ein Beispiel, wie sie hier­ bei vieles neu (er-)findet, was im Design längst bekannt ist. Der design turn ist auch ein Zeichen dafür, dass sich die Wissenschaft und das Design gegenwärtig annä­ hern und das Design hierbei zunehmend als wissenschaftliche Praxis anerkannt wird (­Jonas et al. 2013). Der political turn ist wiederum eine logische Konsequenz des design turn: Wenn Wissenschaft sich am Design orientiert, um politisch zu wer­ den, wird im Umkehrschluss notwendigerweise auch das Design politisch(er).

076 DESIGN

8.  Die ästhetische Kompetenz des Design in Zeiten beschleunigter Hyperkommunikation

Der achte und letzte Grund (insbesondere für den gegenwärtigen design turn), auf den hier hingewiesen werden soll, ist die zunehmende Wertschätzung der ästheti­ schen Kommunikationskompetenz des Design. Im datenorientierten Digitalkapitalismus gilt die Formel: mehr Kommuni­ kation = mehr Daten = mehr Profit. Globalisierung, Digitalisierung und das unauf­ haltsame Vordringen neoliberaler Marktgesetze führen zu einer Beschleunigung der globalen Kreisläufe von Kapital, Kommunikation und Information (Han 2016, 48). In der digitalen Wissensgesellschaft beschleunigen sich die Informationsund Datenströme infolge der Einführung neuer digitaler Kommunikationstech­ nologien exponentiell (Rosa 2005, 46). Die Menge der Informationen, die hierbei auf uns einwirken, übersteigt unser Aufmerksamkeitsvermögen um ein Vielfaches. ­Aufmerksamkeit ist heute eine knappe Ressource, begehrtes Einkommen, ökono­ misches Kapital und soziale Währung zugleich. Kommunikation wird hierbei zunehmend ein prekäres Unterfangen. Im Zeit­ alter der Hyperkommunikation drohen Nachrichten im white noise des omniprä­ senten Kommunikationslärms unterzugehen. Im Wettkampf um knappe Aufmerk­ samkeitsressourcen greifen Marktakteure der Aufmerksamkeitsökonomie (Franck 1998), wie Unternehmen, Regierungen, Medien, Terrororganisationen und „ganz normale“ Bürgerinnen und Bürger (beispielsweise auf Social-Media-Plattformen), aus kommunikationsstrategischen Beweggründen immer häufiger auf Strategien der Komplexitätsreduktion zurück. Klammheimlich vollzieht sich hierbei ein visual turn (Wein 2018), weg vom geschriebenen oder gesprochenen Wort, hin zu Bildern, Symbolen und Artefakten, die, wie es sprichwörtlich heißt, mehr sagen als tausend Worte. Visuelle Medien sind schneller kommunizierbar und universell verständ­ lich(er), was in einer multilingual-globalen Weltgesellschaft von besonderer Wich­ tigkeit ist. Gleichzeitig steigen mit der Übersättigung an hyperappetitlichen visu­ ellen Reizen seitens der Rezipierenden auch die ästhetischen Ansprüche, die das globale Publikum an Medien und Messages richtet. Dies geht wiederum mit stei­ genden Anforderungen an die ästhetische Qualität und Alleinstellungsmerkmale der gewählten Kommunikationsweisen einher. Seit den 2000er-Jahren kann daher ein steigender Bedarf an Gestaltung be­ obachtet werden. Das Design wird hier mit seinen konzeptionellen, technischen und ästhetischen Entwurfs- und Gestaltungsmethoden zunehmend wertgeschätzt (Mareis 2016, 37). Design macht die Dinge visuell. Design macht die Dinge hap­ tisch. Design macht die Dinge schön. Design ist daher zunehmend das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, Nachrichten dort zu platzieren, wo eigentlich kaum mehr Platz ist.

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Zum Schluss: Die Grenzen des entgrenzten Designbegriffs Abschließend ist zur hier umrissenen gesellschaftlichen Relevanz des Design zu sa­ gen, dass sich im Spannungsverhältnis von Design, Gesellschaft und Politik nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen und Anmaßungen des entgrenz­ ten Design zeigen (Mareis 2016, 202). Der Ansatz, Gesellschaft und Politik mit Design umzugestalten, mag verlo­ ckend sein und seine Berechtigung haben. Umstritten ist jedoch, wie weit die Er­ weiterung des Design sinnvollerweise getrieben werden und wo sie an ihre Grenzen stoßen sollte. Fraglich ist hierbei, welche Gegenstände und Aufgaben unter dem Begriff ‚Design‘ sinnvollerweise subsumiert werden sollen, ohne dass dieser der völligen Beliebigkeit verfällt. Die Offenheit des Designbegriffs, mehr noch aber seine gegenwärtige Omnipräsenz in Gesellschaft und Medien, werden [daher] durchaus auch kritisch gesehen. Kritisiert wird ein ‚inflationärer Gebrauch‘ des Designbegriffs (ebd., 13),

der alles umfassen will und dazu geführt hat, „dass dieser inzwischen ähnlich prä­ zise und aussagekräftig ist wie die Wörter ‚machen‘ und ‚tun‘“ (Löw 2013, 47). Ein zu weites Designverständnis riskiert demnach, dass wichtige Differenzen zwischen unterschiedlichen akademischen Disziplinen und praktischen Wissenskulturen unterschätzt oder unterschlagen werden (Mareis 2016, 194). Da unendlich viel Be­ deutung zu Bedeutungslosigkeit führt, kommt es bei der Bedeutungserweiterung des Design also auf das rechte Maß an (Bauer 2018, 50). Zudem ist das Design denselben Problemen ausgesetzt, die jeglichem poli­ tischen Handeln zugrunde liegen: Es wird, bewusst oder unbewusst, stets durch spezifische Interessenkonstellationen angeleitet und bildet somit zwangsläu­ fig neue hegemoniale Ordnungs- und Machtsysteme aus, die den angestrebten ­Wandel strukturieren und regulieren (Mareis 2016, 202 f.). Wobei Design nicht bessere (oder schlechtere) Politik ist. Es ist lediglich Politik mit anderen Mitteln (Fry 2011, 135). Im Anspruch, die Gesellschaft zu gestalten, liegt zwischen „Idealismus und Dogmatismus, Ganzheitlichkeit und Totalitarismus, Ermächtigung und Repres­ sion, Hoffnung und Resignation“ oft nur ein schmaler Grat (Mareis 2016, 216). An­ gebracht scheinen in diesem Kontext daher eine „Bescheidenheit im Design“, wie es der ­Designtheoretiker Horst Rittel formulierte (Reuter und Jonas 2013), sowie „eine reflektierte und differenzierte, multiperspektivische Sichtweise“ (Mareis 2016, 216). Zur Gewährleistung einer solchen Multiperspektive folgt hier mit dem Kom­ pendium politischer Designbegriffe eine Zusammenfassung solcher Designbe­ griffe, denen ein explizit erweitertes und politisches Designverständnis zugrunde liegt.

078 DESIGN

3.4  Kompendium politischer Designbegriffe Das Kompendium politischer Designbegriffe gibt uns einen Über- und Einblick in die Vielzahl an Versuchen, die bis heute unternommen wurden, Antworten darauf zu geben, was Design jenseits ästhetischer Formgebung im politisch-emanzipati­ ven Sinne sein kann. Das Kompendium wird uns dabei helfen, ein erweitertes und politisches Urban-Design-Verständnis zu entwickeln und Urban Design auf einen zeitgemäßen und zukunftsgewandten (Design-)Begriff zu bringen. Das Wort Kompendium stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Erspar­ nis; abgekürzter Weg. Das Kompendium geht nicht in die Tiefe, sondern gewährt stattdessen einen Überblick mit Breitenwirkung, ohne einen Anspruch auf Vollstän­ digkeit zu erheben. Die Grenzen zwischen politischen und nichtpolitischen Design­ begriffen sind unscharf und die Entscheidung über die Auswahl ist eine subjektive. Jeder Designbegriff ist auf die ein oder andere Weise politisch. Einen unpolitischen Designbegriff gibt es nicht. Mit politischen Designbegriffen sind daher solche ge­ meint, welche die ihnen inhärente Dimension des Politischen namentlich bezie­ hungsweise programmatisch reflektieren und explizieren und deren Herkunft die Motivation, mit Gestaltung aktiv zu einem progressiven und emanzipativen gesell­ schaftlichen Wandel beizutragen, zugrunde liegt. Solche Begriffe, die sich in ihrer Bedeutung ähneln oder genealogisch in Beziehung stehen, werden gemeinsam ­genannt und unter dem Eintrag des jeweils aktuellsten, allgemeinsten, einfluss­ reichsten Begriff aufgeführt.

KOMPENDIUM POLITISCHER DESIGNBEGRIFFE  079

A Advanced Design Adversarial Design Advertising Design Animal-Aided Design Anonymes Design Anormal Design Anti-Design Application Design Architectural Design Atomic Design Audiovisuelles Design Ausstellungsdesign Automobildesign Autorendesign Axiomatic Design B Banal-Design Bang Design Bel Design Big Design Body Design Brand Design Broadcast Design Bühnendesign Businessdesign C Character Design Cinematic Design Circular Design Citydesign Civic Design Clubdesign Co-Design Community Design Computerdesign Conceptual Design Corporate Design Cosmic Design Costume Design Critical Design Crowd Design

D Dark Design Datenbankdesign Death by Design Designaktivismus Design Art Design as Infrastructuring Design as Politics Design Austerity Design by Accident Design by Use Design Cybernetics Design Fiction Design for Debate Design for Good Design for Production Design for Social Change Design Futuring Design Governance Design Intelligence Design Intervention Design Methods Design Revolution Design Thinking Digital Design Discrimination by Design Discursive Design Disruptive Design Dissident Design Do-it-yourself-Design E Editorial Design Educational Design Elimination Design Emanzipatorisches Design Emergency Design Emotional Design Engineering Design Entwerfendes Design Event Design Expended Design Experience Design Experimentelles Design

3  Kompendium politischer Designbegriffe

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F Farbdesign Financial Design Flat Design Florales Design Food Design Forschungsdesign Fotodesign Fun Design Futuristisches Design G Game Design Gender Design Generative Design Genetic Design Gesellschaftsdesign Grafikdesign Grand Design Green Design Guerilla Design H Hair Design Haptik-Design Haushaltsgerätedesign Healthcare Design Heimatdesign Hightechdesign Home Design Human-Centered Design Humanitarian Design I Inclusive Design Industriedesign Infrastructure Design Innovation Design Installation Design Intelligent Design Interaction Design Interface Design Interior Design Interkulturelles Design Invention Design Investitionsgüterdesign

K Kognitives Design Kommunikationsdesign Konferenzdesign Kreidedesign Krisendesign Küchendesign L Landscape Design Lichtdesign Lifestyle Design Logodesign Lounge Design M Material Design Mechatronic Design Mediendesign Metadesign Möbeldesign Modedesign Multimediadesign N Nachhaltiges Design Nail Design Nature Design Next Design Neurodesign No-Design Non Intentional Design O Objektdesign Ökologisches Design Olfaktorisches Design On-Air-Design Ontologisches Design Open Design Organisches Design Organizational Design Orientierungsdesign Ostdeutsches Design

P Paradigm Design Parteiisches Design Participatory Design Planetarisches Design Plant Design Posterdesign Produktdesign Protestdesign Prozessdesign Public Design Public Interest Design R Radical Design Rebellisches Design Recyclingdesign Re-Design Reduktives Design Reflective Design Relational Design Retail Design Retro Design Research through Design Responsive Design Rural Design S Scenographical Design Schaufensterdesign Schmuckdesign Schuhdesign Screendesign Security Design Selbstdesign Service Design Set Design Shop Design Sicherheitsdesign Signage Design Slow Design Smart Design Social Design Social Innovation Design Softwaredesign Sound Design

Sozio-Design Spatial Design Speculative Design Spielzeugdesign Stage Design Strategisches Design Stromliniendesign Subversives Design (Öko-)Systemdesign T Textildesign Time-Based Design Title Design Total Design Town Design Traditional Design Transformation Design Transition Design Transportation Design TV-Design Type Design U Überlebensdesign Universal Design Unsichtbares Design Unterrichtsdesign Urban Design User-Centered Design User-Experience Design V Verpackungsdesign W Webdesign (Um-)Weltdesign Z Zoodesign

KOMPENDIUM POLITISCHER DESIGNBEGRIFFE  081

1.  Critical Design Dark Design, Radical Design Critical Design, zu deutsch „kritisches Design“, versteht es als Aufgabe, den gesell­ schaftlichen Status quo und die Rolle des Design kritisch zu hinterfragen. Es weist auf die Möglichkeit alternativer Realitäten hin, um zu einem gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Critical Design stellt Fragen, provoziert, problematisiert und rückt Dinge in ein anderes Licht. Es rüttelt wach, regt zum Diskutieren an, e­ röffnet neue Perspektiven, inspiriert zum Denken des zuvor Undenkbaren und ermutigt zum Handeln. Critical Design wird oftmals bedeutungsgleich mit Dark Design verwandt. Ent­ gegen des blinden Positivismus des konventionellen Design, das gefallen und funk­ tionieren möchte, legt dieses dunkle Design den Finger in die Wunde gesellschaft­ licher Missstände. Es vermittelt schmerzhafte Einsichten in die Dysfunktionalität und Negativität der gesellschaftlichen Realität, ohne dabei jedoch einem Nihilis­ mus, Pessimismus, Zynismus oder gar der Misanthropie anheimzufallen. Gutes ­Design ist demnach immer kritisch, da es das vermeintlich Gegebene nicht blind hinnimmt, sondern hinterfragt. Der Begriff Critical Design wurde in den 1990er-Jahren von dem Londoner Designer-Duo Anthony Dunne und Fiona Raby geprägt und geht historisch auf den Begriff des Radical Design zurück. Hierbei handelt es sich um eine avantgardisti­ sche Designströmung im Kontext der sozialen Bewegungen um 1968. Ausgehend von einer Kritik des Funktionalismus, zeigten die Vertretenden des Radical Design mit Manifesten, experimenteller Formsprache und neuen Arbeitsweisen auf, dass Designer nicht nur Produkte und Dienstleistungen anbieten, sondern sich auch kritisch mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinandersetzen können. Dunne und Raby verstehen Critical Design als materialisiertes kritisches Den­ ken. Critical Design sollte demnach vor allem physisches Design sein, also sich in Designobjekten manifestieren, da es nur so wirkungsvoll gesellschaftlich interve­ nieren könne. In der Designpraxis bedient es sich hierbei vor allem Fiktionalisie­ rungen und spekulativer Experimente (S. 97; Dunne und Raby 2013, 34–44). Literatur Dunne, A. (2008). Hertzian Tales: Electronic Products, Aesthetic Experience, and Critical Design. Cambridge, MA: MIT. Dunne, A. und Raby, F. (2013). Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming. Cambridge, MA: MIT. Malpass, M. (2017). Critical Design in Context: History, Theory, and Practices. London: Bloombury. Raby, F. (2008). „Critical Design“. In: Erlhoff, M. und Marshall, T. (Hrsg.). Wörterbuch Design: Begriffliche ­Perspektiven des Design, S. 80–32. Basel: Birkhäuser.

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2. Designaktivismus Design Intervention, Emanzipatorisches Design, Guerilla Design, Protestdesign, Subversives Design Designaktivismus bezeichnet eine politisch-aktionistische Gestaltungspraxis, die sich öffentlich gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse, Herrschaftsregime, Machtverhältnisse und Politiken richtet, die Kritik äußert, Protest ausagiert und zum gegenhegemonialen Handeln aufruft. Designaktivismus ist demnach politi­ scher Aktivismus mit anderen Mitteln. Aktivismus ist laut dem Philosophen Karl Popper die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen passives Hinnehmen (Popper 1974, 6). Das besondere Charakteristikum des Designaktivismus ist entsprechend der Anspruch aktiver ­Einmischung: Reden ist Silber, Designen ist Gold. Die Aktion wird hier der Kon­ templation vorgezogen. Zentrales Instrument des Designaktivismus ist die aktivistische (Design-)Inter­ vention, also der Versuch, mit Gestaltung unmittelbar in die Umwelt einzugreifen und diese zu verändern. Aktives Agitieren, Anstiften, Einmischen, Dazwischentreten, Irritieren, Sabotieren und Stören sind einige Grundeigenschaften der aktivistischen Intervention (von Borries et al. 2012, 7). Neben klassischen Formen des politischen Aktivismus, wie Demonstrationen und Besetzungen, wurden in den vergangenen ­Jahren und Jahrzehnten zunehmend kreative und künstlerische aktivistische Inter­ ventionsstrategien und Protestformen entwickelt (ebd., 8). Mit aktivistischen Inter­ ventionen, wie etwa Plakaten, Flyern und Kunstobjekten, wird versucht, Aufmerksamkeit für eine bestimmte Situation zu erzeugen, gezielte (Des-)Informationspolitik zu betreiben, Gegenöffentlichkeiten zu schaffen, Zustände zu verbessern oder gar zu beenden sowie Partizipation und Mitbestimmung zu erlangen. Die aktivistische Intervention hat einen engen Bezug zur Straße und zum öffentlichen Raum, ist aber nicht ­darauf begrenzt. Auch in Unternehmen, Universitäten und im virtuellen Raum finden aktivistische Interventionen statt. (Ebd.)

Als Instrument asymmetrischer Designpolitik richtet sich aktivistisches Design ­oftmals gegen Regierungen, Staaten, Unternehmen und sonstige hegemoniale Ak­ teure und Regime. Die Grenzen zwischen Kunst, Design, Aktion, Subversion und Emanzipation sind dabei fließend (ebd.). Literatur Scalin, N. und Taute, M. (2012). The Design Activist’s Handbook: How to Change the World (or at Least Your Part of It) with Socially Conscious Design. Palm Coast, FL: HOW Books. von Borries, F., Hiller, C., Kerber, D., Wegner, F. und Wenzel, A.-L. (2012). Glossar der Interventionen: ­Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff. Berlin: Merve.

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3.  Design as Infrastructuring Design as Infrastructuring, zu Deutsch „Design als Infrastrukturgestaltung“, ist eine Spielart des Participatory Design (S. 93), die mit der Gestaltung sozialräumli­ cher ­Infrastrukturen auf die Initiierung und Unterstützung von Prozessen der Ver­ gemeinschaftlichung abzielt und Gemeinschaften in die Lage versetzt, gemeinsame Probleme kollektiv zu lösen und eigenmächtig soziale und technische Innovationen zu gestalten. Das Konzept des Design as Infrastructuring wurde in den vergangenen Jah­ ren in enger Zusammenarbeit mit lokalen Nachbarschaften am MEDEA-Institut der Universität Malmö entwickelt. Man beruft sich dort auf die Erkenntnis der Design­ theoretiker Horst Rittel und Melvin Webber, dass es sich bei gesellschaftlichen Pro­ blemen, wie denen einer Nachbarschaft, immer um sogenannte bösartige Probleme handelt, die niemals endgültig gelöst werden können, da vermeintliche Lösungen immer neue Probleme hervorbringen (Rittel und Webber 1973). Wollen ­Designer auf lokaler Ebene auf nachhaltige Weise zur Bewältigung gesellschaftlicher Heraus­ forderungen beitragen, bedarf es daher weniger passgenauer Designlösungen, so die Einsicht. Erforderlich sind vielmehr der Aufbau lokaler Akteursnetzwerke und die kollaborative Gestaltung von bedarfsgerechten Infrastrukturen, die Gemein­ schaften in die Lage versetzen, ihre Probleme selbst zu lösen. Design as Infrastructuring ist somit gewissermaßen eine Art Designhilfe zur Selbsthilfe. An die Stelle fertiger, abgeschlossener Designlösungen mit geringer Halbwertszeit rückt die Gestaltung von nachhaltigen und belastbaren Infrastruk­ turen, die auf lokaler Ebene Handlungsspielräume öffnen, Menschen zusammen­ bringen und zur Interaktion einladen, um sich die Infrastrukturen anzueignen und den eigenen Bedürfnissen entsprechend anzuwenden und umzugestalten (Björg­ vinsson und Hillgren 2010; Hillgren et al. 2011). Die Infrastrukturdesigns können je nach Kontext verschiedenste Formen ­annehmen: von Werkzeugen und Methoden über Akteursnetzwerke bis hin zu Spra­ chen, Kommunikationstechniken und vielem mehr (Joost und Unteidig 2016). Literatur Björgvinsson, E., Ehn, P. und Hillgren, P.-A. (2010). „Participatory Design and ‚Democratizing Innovation‘“. In: Proceedings of the 11th Conference on Participatory Design, Sydney, Australia, 29.11. – 03.12.2010, S. 41–50. New York, NY: ACM. Hillgren, P.-A., Seravalli, A. und Emilson, A. (2011). „Prototyping and Infrastructuring in Design for Social ­Innovation“. In: CoDesign, Nr. 7(3–4), S. 169–183. Joost, G. und Unteidig, A. B. (2016). „Design and Social Chance: The Changing Environment of a Discipline in Flux“. In: Jonas, W., Zerwas, S. und von Anselm, K. (Hrsg.). Transformation Design. Perspectives on a New Design Attitude, S. 134–148. Basel: Birkhäuser.

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4.  Design as Politics Adversarial Design, Parteiisches Design, Public Interest Design Design as Politics, zu Deutsch „Design als Politik“, versteht Gestaltung als politi­ sche Praxis und hat zum Ziel, mit gestalterischen Mitteln gesellschaftspolitischen Einfluss auszuüben. Design as Politics bringt wie kein anderer den gegenwärtigen political turn des Design auf den Begriff, womit die Erweiterung des Gegenstands­ bereichs von Designtheorie und -praxis auf gesellschaftspolitische Fragestellungen gemeint ist (Mareis 2016, 202). Design as Politics ist, indem es die dem Design inhärente Dimension des Politischen expliziert, ein Gegenentwurf zu konventionellem Design. Indem es die eigene politische Dimension unterschlägt, sichert dieses bestehende Herrschaftsund Machtverhältnisse einer vom Menschen entworfenen Welt (Aicher 2015). Eine Welt, deren Gestalt von ideologischen, normativen Werturteilen geformt wurde. ­Design as Politics bringt daher, im Sinne Rosa Luxemburgs Aphorismus „unpoli­ tisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken“, zum Ausdruck, dass auch unpoli­ tisches Design, ohne es zu wollen, politisch ist. Es gibt kein Un-Parteiisches Design (Fezer 2018). Der Designtheoretiker Friedrich von Borries illustriert dies am Bei­ spiel des vermeintlich konventionellen Designprodukts eines Salzstreuers wie folgt: Auf den ersten Blick hat er keine politische Dimension. [...] Betrachtet man den Salzstreuer jedoch genauer, erscheint er nicht mehr als harmloses Objekt, sondern als eine, wenn auch kleine, Bedingung unseres Alltags. Er gibt uns die Freiheit, unser Essen so zu salzen, wie wir wollen, der Benutzer wird unabhängig von der Vorgabe des Koches. [...] Gleichzeitig gibt der Salzstreuer vor, wie schnell wir salzen; die Anzahl und Größe der Löcher bestimmt, wie viel Salz pro Bewegung auf den Teller kommt. Und der Salzstreuer grenzt uns ab von anderen Kulturen des Salzens. Wir nutzen nicht gemeinsam mit Mitreisenden ein offenes Schälchen, in das wir mit Daumen und Finger greifen, sondern den ummantelten, hygienischen Streuer, der nicht nur uns vom Salz, sondern auch die Mitglieder der Tischgemeinschaft voneinander entfernt. Der Salzstreuer ist also keineswegs nur ein funktionales Objekt, sondern schafft – oder löst – durch Design Beziehungen zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Ding. Auch der Salzstreuer ist ein durch und durch politisches Designobjekt. (von Borries 2016, 10) Literatur DiSalvo, C. (2012). Adversarial Design. Cambridge, MA: MIT. Fezer, J. (2018). „Parteiisches Design“. In: Förster, M., Hebert, S., Hofmann, M. und Jonas, W. (Hrsg.). Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, S. 161–172. ­Bielefeld: transcript. Höger, H. und Stutterheim, K. (Hrsg.) (2005). Design & Politik: Texte zur gesellschaftlichen Relevanz ­gestalte­rischen Schaffens. Würzburg: Querfeldein. von Borries, F. (2016). Weltentwerfen: Eine politische Designtheorie. Berlin: Suhrkamp.

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5.  Discursive Design Design for Debate, Paradigm Design Discursive Design und Design for Debate, zu Deutsch „Diskursdesign“ und „De­ batten-­Design“, sind Gestaltungsansätze, die zum Ziel haben, gesellschaftliche ­Diskurse und Debatten anzustoßen und auf diese einzuwirken. Hierfür werden De­ signprodukte und -prozesse entworfen, die als Kommunikationsmedien dienen. Diese sollen bei Rezipierenden Gefühle, Gedanken, Ideen und Fragen hervorru­ fen, die zur Reflexion und zur individuellen Auseinandersetzung mit sowie zum öffentlich-­kollektiven Austausch über Themen von gesellschaftlicher Relevanz an­ regen (Dunne und Raby 2013, vii). Die Gegenstände des Discursive Design haben die Funktion diskursiver Inter­ ventionen (S. 83), da sie auf die gesellschaftliche Meinungsbildung einwirken, ­thematische Impulse setzen und Debatten in bestimmte Richtungen lenken. Der ­Begriff des Discursive Design wurde, wie auch Critical Design (S. 82) und Speculative Design (S. 97), wesentlich von dem Designer Duo Anthony Dunne und Fiona Raby mitgeprägt und ist gleichermaßen mit dem Anspruch verbunden, zu gesellschaft­ lichem Wandel beizutragen. Bei den Diskursen, die Discursive Design evoziert und in die es interveniert, handelt es sich daher meist um soziale, kulturelle, psycholo­ gische, ethische und ideologische Themenkomplexe, die um die Frage kreisen, in welcher Welt wir leben wollen (Tharp und Tharp 2015). Die Prägung des Begriffs Discursive Design kann gewissermaßen selbst als eine Diskursintervention verstanden werden, indem er einen Beitrag zum political turn und zur Entgrenzung des Design in Richtung eines erweiterten Designver­ ständnisses leistet. Literatur Tharp, B. M. und Tharp, S. M. (2015). „What is Discursive Design?“. Verfügbar unter: http://www.core77.com// posts/41991/What-is-Discursive-Design [abgerufen am 26.11.2019]. Tharp, B. M. und Tharp, S. M. (2018). Discursive Design: Critical, Speculative, and Alternative Things. ­Cambridge, MA: MIT.

6.  Emergency Design Krisendesign, Überlebensdesign Emergency Design, auf Deutsch sinngemäß „Krisendesign“, meint eine Kulturtech­ nik des (Über-)Lebens im Kontext von Konflikten, Krisen, Katastrophen und pre­ kären Umständen jeglicher Art sowie „Formen des Widerstands gegen staatliche ­Biopolitik oder neoliberale Unternehmenspolitik“ (Milev 2011, 110). Der Begriff des Emergency Design geht zurück auf die Kulturtheoretikerin Yana Milev, „die Design als politische Erneuerungskraft, als existenziellen Hand­ lungsmodus in Zeiten von Umbruch, Chaos, Orientierungslosigkeit, Ausnahme und

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Krise“ versteht. „Gemeint sind hier meist Krisen globalen Ausmaßes wie Kriege, Flüchtlingsströme, Klimawandel oder Finanzkrisen“ (Mareis 2016, 210 f.). Emer­ gency Design stellt hierbei implizit eine Kritik des Krisenbegriffs dar, der, laut Milev, inflationär gebraucht wird und sinnentleert ist (Milev 2011, 7). Zugleich beruft sie sich mit einer Kritik der krisenhaften Gegenwartsgesellschaft auf die Schockstrate­ gie, die die amerikanische Publizistin Naomi Klein (2007) in ihrem gleichnamigen Buch analysiert. Dieser zufolge führen Staaten und Unternehmen im neoliberalen Katastrophenkapitalismus willentlich Krisen herbei (beziehungsweise inszenieren diese), um mit der Ausrufung von Ausnahmezuständen rechtsfreie Räume herzu­ stellen, welche die schockhafte, also plötzliche und umfassende Ausweitung von Märkten und eine Austeritätspolitik ermöglichen. In diesen Zonen des Überlebens stellt sich die Frage der Überlebensbedin­ gungen der Menschen auf historische Weise neu. Exemplarisch hierfür sind „die Problemfelder der Ökologie, der Arbeit und des Wohnens, die zu den größten Heraus­ forderungen des 21. Jahrhunderts gehören“ (Milev 2011, 14). Diese fordern die Mehrheit der Weltbevölkerung wiederum zu Emergency Design heraus, zu Überle­ benstechniken in Zonen der Ausnahme (ebd., 32). Als Voraussetzung für Emergency Design nennt Milev beispielsweise Kom­ petenzen wie Eigeninitiative, hohe Sozialkompetenz, Psychoimmunität und Resi­ lienz, die etwa Slumbewohnende in dysfunktionalen Megastädten trotz widrigster Umstände dazu befähigen, „Solidargemeinschaften, Versorgungs- und Recyclingsys­ teme, Wege- und Kommunikationssysteme, Kanalisationen und Habitate“ zu schaf­ fen und aufrechtzuerhalten (ebd., 50). Während Anthropotechniken des Emergency Design zunächst als Phänomene marginalisierter Raumordnungen zu beobachten waren (ebd., 14), rücken diese laut Milev zunehmend in den Brennpunkt der Debatten über den öffentlichen Raum. Als Designphänomene sozialen und künstlerischen Handelns im Rahmen des Über­ lebensmanagements wie auch von Wende- und Protestkulturen in Krisen- und Katastrophenräumen sind Emergency Designs heute maßgeblich an einer neuen Theoriebildung des Ästhetischen, des Politischen und des Öffentlichen, schließlich an einer kritischen Modifikation des Kunstbegriffs und des Begriffs der Arbeit beteiligt. (Ebd., 15) Literatur Milev, Y. (2011). Emergency Design. Berlin: Merve.

7.  Entwerfendes Design Gesellschaftsdesign, Selbstdesign, Sicherheitsdesign, Überlebensdesign Entwerfendes Design versteht das Entwerfen, im Gegensatz zur Unterwerfung, als einen emanzipatorischen Akt, der den „Ausgang des Menschen aus seiner

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­Unterworfenheit“ (von Borries 2016, 15) und somit die Umsetzung der Ideale der Aufklärung ermöglicht (ebd., 14). Dem Begriff des Entwerfenden Design entsprechend stellt die dem Design ­inhärente Dichotomie des Entwerfens und Unterwerfens das politische Wesen des Design dar (ebd., 10). „Alles, was gestaltet ist, entwirft und unterwirft “ (ebd., 9) demnach und vermehrt oder verringert Handlungsoptionen. Während Unterwer­ fendes Design bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse sichert, versucht entwerfendes Design Alternativen zum gesellschaftlichen Status quo aufzuzeigen und eine bessere Gesellschaft zu erschaffen, in der die Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt neu organisiert sind. Das entwerfende Design versucht deshalb, seinen Benutzern und Rezipienten echte Handlungsspielräume für ihr Leben zurückzugeben. Es ­stattet sie mit den Technologien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbst­ bestimmten Lebens aus. (Ebd., 25)

Der Begriff des Entwerfenden Design geht auf den Designtheoretiker Friedrich von Borries zurück. In seinem Manifest Weltentwerfen: Eine politische Designtheorie (2016) skizziert von Borries ein entwerfendes Design (des Überlebens, der Sicherheit, der Gesellschaft, des Selbst), „das sich der totalitären Logik des Kapitalismus ent­ zieht und gegen die Ideologie der Alternativlosigkeit neue Formen des Zusammen­ lebens imaginiert“ (ebd., 2). Die Kapitel des Manifestes enden, in Anlehnung an die vom Designer Dieter Rams in den 1980er-Jahren aufgestellten zehn Thesen für gutes Design, mit sechs Thesen zu gutem (entwerfendem) Design: Gutes Design ist nicht unterwerfend, sondern entwerfend. […] Gutes Design hilft beim Überleben. […] Gutes Design ermöglicht es, Unsicherheit auszuhalten. […] Gutes Design entwirft pragmatische Utopien. […] Gutes Design gibt dem Selbst Freiheit. […] Gutes Design entwirft die Welt. (Ebd., 37, 53, 74, 89, 115, 137) Literatur von Borries, F. (2016). Weltentwerfen: Eine politische Designtheorie. Berlin: Suhrkamp.

8.  Experimentelles Design Experimentelles Design versteht Gestaltung als ergebnisoffenen Prozess, bei dem in Versuchsanordnungen die Möglichkeiten und Grenzen des Design ausgelotet werden. Bei experimentellem Design steht weniger die Frage im Vordergrund, was gestaltet wird, sondern vor allem, wie gestaltet wird. Das Verfahren steht im Zent­ rum des Interesses, während die Ergebnisse in den Hintergrund rücken. Insofern

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sind das Prozessorientierte und Ergebnisoffene zentrale Charakteristika des experi­ mentellen Design. Diese Ergebnisoffenheit eröffnet die Möglichkeit (erfolgreichen) Scheiterns sowie Fehlertoleranzen, die es braucht, um zu wirklich neuen Ergebnis­ sen zu kommen – seien es Fragen, Problemstellungen, (Prozess-)Wissen, Produkte, Dienstleistungen oder soziale und technische Innovationen. Ein Beispiel für experimentelles Design ist die öffentliche Gestaltungsbera­ tung der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HFBK). Einmal wöchentlich treffen sich Lehrende und Studierende der HFBK in einem kleinen Raum im Stadt­ teil St. Pauli mit Anwohnenden, um auf Grundlage derer persönlichen Themen und Probleme Designprojekte zu entwickeln. In einem dialogischen Such- und Lernpro­ zess wird dabei versucht, gestalterische Lösungen für deren Fragestellungen zu fin­ den. Was hierbei am Ende herauskommt, ist zweitrangig. Es geht vielmehr darum, gemeinsam zu erfahren, wie man materiell, strukturell, kommunikativ, sozial ge­ stalten kann, um Probleme und Herausforderungen anders zu betrachten und zu lösen (Fezer und Banz 2016, 71–84). Experimentelles Design gewinnt gegenwärtig beispielsweise im Kontext der sogenannten Reallaborforschung an Bedeutung, bei der in lebensweltlichen Räu­ men Realexperimente gemeinsamen forschenden Lernens durchgeführt werden. Literatur Fezer, J. und Banz, C. (2016). „Experimentelles Design. Für einen engagierten Designbegriff“. In: Banz, C. (Hrsg.). Social Design: Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, S. 71–84. Bielefeld: transcript.

9.  Gender Design Gender Design, zu Deutsch „Gestaltung des sozialen Geschlechts“, beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Gestaltung und der sozialen (Re-)Konstruktion von Geschlechtlichkeit und sexueller Identität. Gender Design untersucht, wie Gestal­ tungsprozesse und -produkte von sozialen Zuschreibungen und Vorstellungen über Geschlechterrollen durchdrungen und geprägt sind und wie Gestaltung ihrerseits wiederum zur Konstruktion und Reproduktion von Geschlechtlichkeit beiträgt. Der Begriff Gender bezeichnet, in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht (sex), das soziale Geschlecht. Er wurde ursprünglich von der Medizin und Sexual­ forschung geprägt, um zu verdeutlichen, dass neben biologischen Faktoren auch die Sozialisation für die Geschlechtszugehörigkeit und -identität von Individuen mitverantwortlich ist. Später wurde der Begriff im Bereich der Geisteswissenschaf­ ten, insbesondere der feministischen Forschung, aufgegriffen, um zu zeigen, dass es sich bei Geschlechterrollen um keine unveränderbare biologische Tatsache, son­ dern um soziale Zuschreibungen handelt, die in sozialen Interaktionen und symbo­ lischen Ordnungen rekonstruiert werden – und somit veränderbar sind (­Universität Bielefeld o. J.).

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Die Auseinandersetzung mit Gender, oftmals als Gender Studies, Doing ­ ender oder Gender Mainstreaming bezeichnet, ist seit Ende der 1990er-Jahre G ­zunehmend in der Mitte der Gesellschaft angelangt. Im Design stellte Gender ­bisher allerdings einen weitgehend blinden Fleck dar. Der noch junge Begriff ­Gender Design ist nun Ausdruck der Bemühung, die Erkenntnisse sowie die poli­ tische Programmatik der Gender Studies auf den Bereich des Design anzuwen­ den und für dieses fruchtbar zu machen. Durch die Reflexion der Bedeutung von Gender im Design versucht Gender Design stereotypische, sexistische und in sons­ tiger Weise diskriminierende und unterwerfende Gestaltung zu vermeiden und einen Beitrag zu einer freiheitlichen und egalitären (Entwurfs-)Kultur zu leisten (Brandes 2017). Literatur Brandes, U. (2017). Gender Design: Streifzüge zwischen Theorie und Empirie. Basel: Birkhäuser.

10.  Human-Centered Design Humanitarian Design Human-Centered Design, zu Deutsch „menschenzentriertes Design“, ist ein Gestal­ tungsansatz, bei dem der Mensch mit seinen Eigenarten, Bedürfnissen, Interessen und Problemen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Human-Centered De­ sign ist Gestaltung mit Menschen für Menschen (Mareis 2016, 128 f.). Der Begriff des Human-Centered Design impliziert einen P ­ aradigmenwechsel, bei dem die Akteursrollen neu verteilt werden. Designer sollen demnach anderen nicht ihre eigenen subjektiven Vorstellungen von Gestaltung aufzwingen (Krip­ pendorff 2013, 94). Vielmehr sind sie aufgefordert, die Wünsche und Bedürfnisse all jener zu respektieren, die von ihrer Gestaltung betroffen sind (ebd.). „In mo­ ralisch-ethischer Hinsicht impliziert das Modell des human-centered design, dass Designschaffende mit ihren Produkten andere Stakeholder nicht ‚disziplinieren‘“ (Mareis 2016, 130), sondern „die Zahl wünschenswerter Optionen für andere erhöhen sollen“ (Krippendorff 2013, 107). Human-Centered Design zielt darauf ab, Stake­ holder (Teilhabende) in den Gestaltungsprozess einzubeziehen, ohne sie auf ihre Rolle als Konsumentinnen oder Benutzer zu reduzieren (Mareis 2016, 127). Der Ansatz des Human-Centered Design erlangte seit Beginn der 2000erJahre vor allem durch die Popularität des Design Thinking an Bedeutung (S. 72). Im Design Thinking werden von Beginn an Informationen über die Nutzerinnen und Nutzer generiert, um deren Sichtweisen in den Designprozess einfließen zu lassen. Durch das Testen von Prototypen und ein permanentes Feedback der Nut­ zerinnen und Nutzer entstehen – so das Versprechen – nutzernahe Produkte und Dienstleistungen. Daran ist das Selbstverständnis geknüpft, durch Design Thinking im Sinne der Menschen zu handeln, indem wahre Bedürfnisse befriedigt, Exzesse

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der Massenproduktion überwunden und so letztlich ein positiver gesellschaftlicher Beitrag geleistet wird (Seitz 2017, 9, 108). Es zeigt sich jedoch: Wo Human-Centered Design gesagt wird, ist oftmals Useroder Consumer-Centered Design gemeint. Will heißen, dass der Mensch, unter dem gutmenschlichen Deckmantel der Behauptung einer Befriedigung „wahrer Bedürf­ nisse“, lediglich als potenzieller Nutzer und Konsument angesehen wird, dessen vermeintlichen Bedarfe es herauszufinden (beziehungsweise zu erzeugen) gilt, um ihm Produkte und Dienstleistungen verkaufen zu können. So hehr die Ideale auch sind, mit denen der Begriff des Human-Centered Design sich anschickt, die (Pro­ dukt-)Welt im Sinne des Menschen zu verbessern (und so viele positive Beispiele es für Human-Centered Design geben mag), merke man sich jedoch daher: Wo es all zu sehr menschelt im Design, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Literatur Hofmann, M. L. (2017). Human Centered Design: Innovationen entwickeln, statt Trends zu folgen. Paderborn: Wilhelm Fink. Krippendorff, K. (2013). Die semantische Wende: Eine neue Grundlage für Design. Basel: Birkhäuser.

11.  Nachhaltiges Design Green Design, Ökologisches Design Nachhaltiges Design beschreibt eine Gestaltungsweise, die einen ökologisch, so­ zial und ökonomisch nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und Materialien be­ fördern will. Der Begriff des Nachhaltigen Design passt nur bedingt in dieses Kompen­ dium. Er soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, da es sich hierbei um einen – zumin­ dest ursprünglich – progressiven Designbegriff handelt, der historisch auf den An­ beginn der Umweltbewegung der 1970er-Jahre zurückgeht. Nachhaltiges Design unterscheidet sich jedoch insofern grundlegend von allen anderen hier ­genannten ­Begriffen, als dass ihm meist ein formal-ästhetischer Designbegriff zugrunde liegt, der die nachhaltige Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen meint. Und genau hierin liegt die Problematik des Begriffes: Wie der Nachhaltigkeitsbegriff im Allgemeinen, so ist auch der Begriff des Nachhaltigen Design heute zu wei­ ten Teilen seiner ursprünglichen Bedeutung entleert. Statt zu fragen, ob ein Pro­ dukt oder eine Dienstleistung wirklich notwendig ist, handelt es sich bei nach­ haltigem Design oft um end-of-pipe design am Ende der Wertschöpfungskette, bei dem bestenfalls durch Effizienzsteigerung, schlechtestenfalls durch Greenwash­ ing versucht wird, den Anschein von Nachhaltigkeit zu erwecken. Nachhaltiges ­Design fügt sich so nahtlos in die Ideologie nachhaltigen Wachstums ein, die sug­ geriert, wir könnten gesamtgesellschaftlich weitermachen wie bisher, wäre nur al­ les ein ­wenig nachhaltiger. Effizienzsteigerungen werden jedoch durch den soge­ nannten Rebound-Effekt zerstört: Effizienzgewinne werden, der kapitalistischen

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Wachstumslogik entsprechend, sofort in Mehrproduktion reinvestiert. Dies ist die schlichte Begründung für die Nichtnachhaltigkeit von vielem vermeintlich nach­ haltigen Design. Nachhaltiges Design ist somit oft symptomatisch für das, was die Sozialwissen­ schaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello den Neuen Geist des Kapitalismus (2003) nennen: Die Fähigkeit des kapitalistischen Regimes, Kritik (wie sie dem Begriff des Nachhaltiges Design ursprünglich innewohnte) zu internalisieren. Die Daseinsbe­ rechtigung des Begriffs in diesem Kompendium ergibt sich daher über die Lehre, die sich hieraus für gegenwärtig diskutierte, politische Designbegriffe ziehen lässt: Die Halbwertszeit der Wirksamkeit politischer Designbegriffe und Diskurse verhält sich umgekehrt proportional zur fortschreitenden Inwertsetzung durch die kapita­ listische Wachstumslogik. Literatur Bergman, D. (2012). Sustainable Design: A Critical Guide. Princeton, NJ: Princeton Architectural Press. Boltanski, L. und Chiapello, È. (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Fuhs, K.-S., Brocchi, D., Maxein, M. und Draser, B. (2013). Die Geschichte des Nachhaltigen Designs: Welche Haltung braucht Gestaltung?. Berlin: VAS.

12.  Open Design Open Design, auf Deutsch „offenes Design“, beschreibt (im-)materielle Designpro­ dukte, die öffentlich zugänglich sind, frei benutzt, weiterverwendet, geteilt und umgestaltet werden können. Mit Open Design können auch offene Gestaltungs­ prozesse gemeint sein, wobei hier in der Regel eher von Participatory Design die Rede ist (S. 93). Der Begriff des Open Design geht in seiner heutigen Bedeutung auf die Open-­ Bewegung zurück. Die von der Open-Bewegung entworfene Idealvorstellung einer Welt freien Wissens entwickelte sich vor dem Hintergrund des Bedeutungszu­ wachses des Internets und dem massenhaften Anstieg digitaler Daten zu einem Gegenentwurf zur gegenwärtig dominanten ökonomisch und politisch motivier­ ten ­Einhegung von Daten. Vertreter der Open-Source-Bewegung, wie die Open Knowledge Foundation, fordern, Wissen und Daten sollten stattdessen im Sinne einer Wissensallmende als Gemeingut verstanden werden und gemeinwohldien­ lich verfasst sein. Diese Forderung beruht auf der Annahme, dass freies Wissen Trans­parenz schafft, eine Voraussetzung zur aufgeklärten Meinungsbildung und Partizipation darstellt, soziale und technische Innovationen fördert und somit im digitalen Zeitalter eine tragende gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung hat (Open Knowledge International 2019). Mit dem Begriff des Open Design werden diese Ideen und Forderungen nun auf die Welt der Gestaltung übertragen. Angesichts der zunehmend neofeudalen Ver­ hältnisse im Digitalkapitalismus, in dem der ungleiche Zugriff auf Informationen,

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Wissen und Daten als Herrschaftsinstrument dient, handelt es sich bei Open De­ sign somit um nichts Geringeres als ein subversives und emanzipatives, da Gestal­ tungsssouveränität einforderndes Designverständnis. Literatur Open Knowledge International (2019). „What is Open?“. Verfügbar unter: https://okfn.org/opendata/ [abgerufen am 26.11.2019].

13.  Participatory Design Co-Design, Inclusive Design Participatory Design, zu Deutsch „beteiligendes Design“, ist eine inklusive, kol­ laborative und demokratische Designpraxis, die zum Ziel hat, möglichst alle von einem Designprozess betroffenen Akteure in einen kokreativen Gestaltungspro­ zess mit einzubeziehen (Beuker 2016, 39). Mit Participatory Design ist der Glaube verbunden, dass die Beteiligung an Designprozessen zu einer besseren Qualität, Ak­ zeptanz und Legitimation der Entwurfsergebnisse führt und dass durch Konflikt­ vermeidung ein höheres Maß an Effizienz, Wirksamkeit und Zufriedenheit erreicht werden kann. Participatory Design wird zugleich auch als Selbstzweck verstanden, der zu Prozessen der Vergemeinschaftlichung anregt und das Lernen demokrati­ scher Praktiken ermöglicht. Wichtige Impulse für das Participatory Design kamen in den 1960er-Jahren aus der Designforschung, die eine Systematisierung und Professionalisierung des De­ sign anstrebte und die Frage nach der Möglichkeit der Teilhabe an Expertendiskur­ sen stellte (Mareis 2016, 206). Während im Design über lange Zeit ausschließlich die Expertise und das Urteil professioneller Fachleute entscheidend ­waren, stellte sich zunehmend die Frage „Wer bestimmt, was geplant wird (und was nicht)?“ (Burck­ hardt 2004 [1974], 71–88). Planungs- und Designtheoretiker wie Lucius Burckhardt kritisierten, dass es beispielsweise bei der Gestaltung des urbanen Raums, die alle Bürgerinnen und Bürger betrifft, einen erheblichen Mangel an Mitgestaltungsmög­ lichkeiten gebe (Mareis 2016, 205). Der Planungstheoretiker Horst Rittel kommen­ tierte diese Problematik seinerseits mit den Worten: „Design is not the monopoly of those who call themselves ‚designers‘“ (Rittel 1988, 1). Der Ansatz des Participa­ tory Design strebte vor diesem Hintergrund „eine Neubewertung von Wissen sowie eine Umverteilung von Entscheidungs- und Handlungskompetenzen an“ (Mareis 2016, 206), das nicht zuletzt einem „Design von unten“ den Weg bereitete. Auf Grundlage der heutigen Konzeption des Design als Transdisziplin und eines governanceorientierten Politikverständnisses, einhergehend mit der Popula­ rität des nutzerorientierten Design Thinking, gestützt durch Trends wie do it yourself und dem Bewusstseinswandel des klassischen Konsumenten zum Prosumen­ ten, partizipieren Bürger und Laien als sogenannte Stakeholder gegenwärtig immer

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häufiger an der Gestaltungspraxis und der Designforschung – ohne dabei auf die ­unmündige Rolle eines Konsumenten oder einer Nutzerin reduziert zu werden (Krippendorff 2013, 94). Literatur Burckhardt, L. (2004 [1974]). „Wer plant die Planung?“. In: Fezer J. und Schmitz, M. (Hrsg.). Wer plant die ­Planung?: Architektur, Politik und Mensch, 71–88. Berlin: Martin Schmitz. Simonsen, J. und Robertson, T. (2013). Routledge International Handbook of Participatory Design. London: Routledge.

14.  Research through Design Reflective Design Research through Design, zu Deutsch „Forschung durch Design“, bezeichnet eine gestalterische und wissenschaftliche (Erfahrungs-)Wissensproduktion auf Grund­ lage entwerferischen Handelns. Research through Design erforscht Gestaltung mit wissenschaftlichen Mitteln und betrachtet Gestaltung seinerseits als Erkenntnis­ prozess, der Wissen hervorbringt. Research through Design bringt demnach Wis­ sen hervor, das aus praktischer Erfahrung resultiert (Mareis 2016, 185). Der Ansatz des Research through Design gewann in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund einer (Wieder-)Annäherung von Designdenken und System­ denken, einer Neuerfindung der transklassischen Wissenschaft als sogenannte transdisziplinäre beziehungsweise transformative Wissenschaft und dem relativ jungen Ansatz der Reallaborforschung an Bedeutung (Jonas 2017, 80). Dieser Be­ deutungsgewinn lässt sich, auf die kürzestmögliche Formel gebracht, wie folgt er­ klären: Da, wo im Feld der Wissensproduktion Grenzziehungen erodieren (Grenzen, die schon immer künstlich waren), gewinnt das Design in seiner Rolle als erfahre­ ner Grenzgänger an Relevanz. Diese zunehmende Wertschätzung des (Research through) Design kann laut Jonas als Zeichen dafür verstanden werden, dass sich De­ sign und Wissenschaft allgemein annähern beziehungsweise Design zunehmend als wissenschaftliche Disziplin anerkannt wird (Jonas et al. 2013). Neben Research through Design werden noch weitere Formen ­gestalterischer Wissensproduktion unterschieden, so etwa Research „about“ Design (Forschung über Design) und Research „for“ Design (Forschung für Design) (Frayling 1993). ­Research through Design entspricht auch in etwa dem, was der Philosoph Donald Schön (1993) „reflection-in-action“ nannte. Der Begriff bezeichnet das Vermögen, „über eine praktische Handlung zu reflektieren und sie zu verändern, während man diese ausübt“ (Mareis 2016, 192), eine Kompetenz, die „grundlegend für den ge­ konnten, professionellen Umgang mit unsicheren, unwägbaren Situationen“ ist (ebd., 191). Jemand, der Research through Design betreibt, kann nach Schön als reflective practitioner gelten, „eine Person, die eine Aktion in deren Vollzug reflek­ tieren könne“ (ebd. , 192).

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Literatur Buchert, M. (2014). Reflexives Entwerfen/Reflexive Design: Entwerfen und Forschen in der Architektur/Design and Research in Architecture. Berlin: Jovis. Jonas, W. (2004). „Forschung durch Design“. Verfügbar unter: http://8149.website.snafu.de/wordpress/ wp-content/uploads/2011/08/2004_Basel.pdf [abgerufen am 26.11.2019]. Jonas, W. (2010). „Research Through Design. E-mail-interview on design research for the Chinese journal Landscape Architecture and the website Youth Landscape Architecture“. Verfügbar unter: http://www. transportation-design.org/cms/upload/DOWNLOADS/20101220_Youthla-Interview_Jonas.pdf [abgerufen am 26.11.2019]. Schön, D. A. (1993). The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. London: Routledge.

15. Selbstdesign Ontologisches Design Selbstdesign und Ontologisches Design (sinngemäß „Philosophie des Seins“) mei­ nen die Gestaltung und Optimierung des menschlichen Körpers und Geistes. Das menschliche Selbst war schon immer Gegenstand des Design. Der Mensch wird, wie von Borries (2016, 11 f.) in Bezug auf den Philosophen Martin ­Heidegger (1986 [1927], 145) ausführt, indem er ungefragt geboren wird, in die Welt geworfen. Diese Geworfenheit ist laut Heidegger eine existenzielle Grundeigen­ schaft alles Seienden. „Der Mensch ist jedoch nicht allein durch die Geworfenheit bestimmt, sondern auch durch den ‚Entwurf‘“ (von Borries 2016, 12). Ein wesent­ licher Aspekt der Menschwerdung ist laut dem Designtheoretiker Vilém Flusser „das Entwerfen, der Weg vom Subjekt zum Projekt. Während das ‚Sub-jekt‘ (von la­ teinisch subjectum, das Daruntergeworfene) also unterworfen ist, wirft oder denkt sich das Projekt nach vorne“ (ebd., 13). Wenn wir uns selbst, unser Sein entwer­ fen und gestalten, befreien wir uns also von der Unterworfenheit durch weltliche Zwänge. Selbstdesign zielt laut von Borries daher auf Selbstbestimmung (ebd., 93). Jeder Mensch gestaltet sich selbst bewusst oder unbewusst, von der Körper­ pflege und -hygiene über die Reparatur bis hin zur Erweiterung und Modifikation des Selbst (ebd., 94–97). Im 21. Jahrhundert nehmen die Möglichkeiten und die Er­ fordernisse des Selbstdesigns aufgrund postmoderner Authentizitätserfordernisse, neoliberaler Dogmen der Selbstoptimierung und des technologischen Fortschritts solch ungekannte Ausmaße an, dass selbst die Grenzen dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, sich auflösen – womit sich parallel auch die Grenzen dessen, was unter Design verstanden wird, verschieben. Selbstdesign kann auch fremdbestimmt erfolgen (ebd., 103–115), wobei man in diesem Fall eher von zwanghafter „Selbstoptimierung“ oder social engineering spricht, die negativ konnotierte Varianten des Social Design darstellen (Rölli 2016, 30). Literatur von Borries, F. (2016). Weltentwerfen: Eine politische Designtheorie. Berlin: Suhrkamp.

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16.  Social Design Gesellschaftsdesign, Sozio-Design Der Begriff Social Design hat verschiedene Bedeutungen. Erstens bedeutet er, im zielorientierten Sinne, die Gestaltung des sozialen beziehungsweise Gesellschafts­ design, also „eine Gestaltung, die einen Anspruch hat, die Gesellschaft zu verändern“ (Fezer und Banz 2016, 81). Zweitens bedeutet er, im prozessorientierten Sinne, so­ ziale Gestaltung, also ein Design, das die Gestaltungsprozesse selbst als sozial rele­ vant betrachtet, die partizipativ gestaltet werden sollten (S. 93). Streng genommen ist natürlich jegliches Design soziales Design, wenn es von Menschenhand gestaltet wurde und Auswirkungen auf das soziale Leben hat. „Der Begriff des Social Design will diesem Relativismus jedoch entgegenwirken: Er ver­ langt, dass gutes bzw. legitimes Design gegen schlechtes bzw. illegitimes Design ab­ gegrenzt wird“ (Geiger 2016, 61). Dies erfordert eine Reflexion des Designers über die Wirkung seines Handelns auf den Menschen und die Gesellschaft. Social Design ist daher weniger als eigene Designkategorie anzusehen, sondern vielmehr als eine Haltung, die in jeder Designdisziplin anwendbar ist (Krohn 2016, 109). Die Ursprünge des Social Design gehen auf die Forderung zurück, Design sollte nicht nur schöne Formen gestalten, sondern auch gesellschaftliche Probleme lösen. Anstelle oberflächlichen Ästhetisierens ist Weltverbesserung das Ziel. Die Grundlagen dieses Denkens werden insbesondere auf die Designtheoretiker Vic­ tor Papanek und Lucius Burckhardt zurückgeführt, die sich von den sozialen Bewe­ gungen um 1968 zu einer Neuerfindung des Design inspirieren ließen (Geiger 2016, 62). Auch der Designtheoretiker Bazon Brock forderte in den 1970er-Jahren eine Er­ weiterung des Designbegriffs in Form eines Sozio-Design: Der Begriff Design muss eine Erweiterung erfahren. Wo bisher Design in erster Linie die Gestaltung von Industrieprodukten meinte, sollte hinkünftig unter Design auch Gestaltung von Lebensformen, Werthaltungen, sprachlichem Gestus bestimmbar sein. (Brock 2013, 75)

Eng verbunden mit der Idee eines Sozio-Design war schon damals der Wunsch nach einer gerechten, gemeinschaftlichen Teilhabe an gesellschaftsrelevanten Gestal­ tungsprozessen, wie er auch im Participatory Design zum Ausdruck kommt (S. 93) (Mareis 2016, 204). Social Design erlebt heute einen regelrechten Boom (Banz et al. 2016). Die­ ser korrespondiert mit den politischen Umbrüchen der Gesellschaft der vergange­ nen Jahre und den daraus entstandenen Krisen (Banz 2016, 7). Social Design ist „zu einem Containerbegriff geworden: genauso nebulös und dehnbar, wie beispiels­ weise der Begriff der Nachhaltigkeit, und genauso selbstverständlich kommerziell oder politisch instrumentalisierbar“ (Cleven 2016, 44).

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Literatur Banz, C. (Hrsg.) (2016). Social Design: Gestalten für die Transformation der Gesellschaft. Bielefeld: transcript. Brock, B. (2013). „Objektwelt und die Möglichkeit subjektiven Lebens. Begriff und Konzept des Sozio-­ Designs“. In: von Borries, F. und Fezer, J. (Hrsg.). Weil Design die Welt verändert …: Texte zur Gestaltung, S. 75–81. Berlin: Die Gestalten.

17.  Speculative Design Design Fiction, Design Futuring Speculative Design, zu Deutsch „Spekulatives Design“, gestaltet alternative Reali­ täts- und Zukunftsentwürfe, welche die Gegenwart spiegeln und zur Reflexion über ablehnens- und wünschenswerte gesellschaftliche Zukünfte anregen (Dunne und Raby 2013). Der relativ junge Begriff des Speculative Design geht auf das Designer-Duo Dunne und Raby zurück und steht dem Begriff des Critical Design (S. 82) nahe. Während je­ doch Critical Design, indem es den gesellschaftlichen Status quo infrage stellt, ein kritisches Designverständnis zugrunde liegt, steht Speculative Design für eine post-­ kritische Haltung, indem es Alternativen jenseits des Status quo zur Diskussion stellt. Hierin ähnelt es stark den Begriffen Design Fiction und Design Futuring (Fry 2009). In einer Zeit multipler Krisen, in der ein grundsätzlicher Wandel unseres ­Gesellschaftsmodells dringend notwendig wäre, Alternativen zum Kapitalismus jedoch kaum mehr denkbar sind, versuchen diese Spielarten eines explizit zukunfts­ orientierten Design alternative Zukünfte an konkreten Entwürfen sinnlich denkbar, wahrnehmbar und nutzbar zu machen. Die Zukunft soll so als Projektionsfläche zur Gestaltung der Gegenwart wiedergewonnen werden. Die wesentlichen Kompe­ tenzen, die hierfür erforderlich sind, sind Imaginationskraft und Fantasie. Hierfür nimmt sich Speculative Design Anleihen aus Bereichen wie Kino, Literatur, Wis­ senschaft, Politik und Kunst. Speculative Design verwischt die Grenzen von Kunst und Gestaltung, indem es Dinge entwirft, die nicht durch funktionalistische Krite­ rien der Nutzbarkeit bestimmt sind, sondern auf narrative, unterhaltsame, scho­ ckierende, nachdenkliche, spielerische und oft humorvolle Weise zur Reflexion ­anregen: „Wie wollen wir leben?“ (Dunne und Raby 2013, 3, 70). Literatur Dunne, A. und Raby, F. (2013). Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming. Cambridge, MA: MIT. Fry, T. (1999). A New Design Philosophy: An Introduction to Defuturing. Sydney: University of New South Wales.

18.  (Öko-)System Design Nature Design, Ökologisches Design, Planetarisches Design, (Um-)Weltdesign (Öko-)System Design beschreibt eine Wissenschafts- und Designkultur, die sich mit der Gestaltung der komplexen Interdependenzen zwischen anthropogenen und

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ökologischen Systemen und Subsystemen befasst. (Öko-)System Design beruht auf systemischem Denken, das sich für Beziehungen, Zusammenhänge und Kausali­ täten interessiert und versucht, einen angemessenen Umgang mit den komplexen ­Herausforderungen und bösartigen Problemen des 21. Jahrhunderts zu finden, das als Welt der Systeme und Subsysteme beschrieben werden kann (Stroh 2015). Die Reduktion von Komplexität ist eine gängige Bewältigungsstrategie, um mit dem Chaos umzugehen, mit dem uns die Realität konfrontiert. Während die Anthropotechnik der Komplexitätsreduktion für moderne Gesellschaften lange Zeit mehr oder weniger gut funktioniert zu haben schien und im 20. Jahrhundert als Vo­ raussetzung für Fortschritt und Prosperität diente, stoßen wir heute zunehmend auf die Grenzen dieses Ansatzes (Orr 2014). Angesichts der Interdependenzen zwi­ schen anthropogenen und ökologischen Systemen, wie sie sich beispielsweise im vom Menschen verursachten Klimawandel zeigen, wird deutlich, dass die Reduk­ tion von Komplexität, wie wir sie bisher betrieben haben, schlicht realitätsfern und gefährlich und keine angemessene Strategie zur Bewältigung der bösartigen Prob­ leme ist, die es im 21. Jahrhundert zu lösen gilt. Der Begriff des bösartigen Problems wurde in den 1970er-Jahren von den ­Designtheoretikern Horst Rittel und Melvin Webber geprägt. Im Gegensatz zu gut­ artigen Problemen, wie etwa die der Mathematik, handelt es sich bei bösartigen Prob­ lemen um solche, deren Lösungen aufgrund widersprüchlicher, unvollständiger und sich permanent ändernder Voraussetzungen äußerst schwierig, wenn nicht unmög­ lich ist (Rittel und Webber 1973). Bösartige Probleme sind komplexe Angelegenhei­ ten, denen man nicht mit konventionellen, auf Komplexitätsreduktion beruhenden Problemlösungsstrategien beikommen kann. Es gibt keine guten oder schlechten, richtigen oder falschen Lösungen auf bösartige Probleme, nur bessere und schlech­ tere, da die vermeintliche Lösung eines solchen Problems stets neue auf den Plan ruft. Probleme wie die des Klimawandels, sozialer Ungleichheit, Nachhaltigkeit und Gesundheit, mit denen Designer heute immer häufiger zu tun haben, sind aufgrund ihrer komplexen, systemischen Interdependenzen immer bösartige Probleme. Im Zeitalter des Anthropozäns erfordert der Umgang mit bösartigen Problemen daher eine systemische Designperspektive (Brown et al. 2010). Literatur Brown, V. A., Harris, J. A. und Russell, J. Y. (2010). Tackling Wicked Problems: Through the Transdisciplinary Imagination. London: Routledge. Orr, D. (2014). „Systems Thinking and the Future of Cities“. Solutions Journal, Nr. 5(1), S. 54–61. Rittel, H. W. J. und Webber, M. M. (1973). „Dilemmas in a General Theory of Planning“. In: Policy Sciences, Nr. 4 (2), S. 155–169. Stroh, D. P. (2015). Systems Thinking For Social Change: A Practical Guide to Solving Complex Problems, Avoiding Unintended Consequences, and Achieving Lasting Results. White River Junction, VT: Chelsea Green.

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19.  Transformation Design Design for Social Change, Design for Good, Reduktives Design, Social Innovation Design Transformation Design ist ein Forschungs-, Praxis- und Diskursfeld, das zum Ziel hat, mit gestalterischen Mitteln zu einem grundlegenden Wandel unserer nicht­ nachhaltigen Gesellschaft in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit und Zu­ kunftsfähigkeit beizutragen. Der Begriff des Transformation Design geht zurück auf ein gleichnamiges ­Forschungspapier, das von der RED-Unit, einem Beratungsgremium des Design Council, 2006 veröffentlicht wurde. Hier wurde der Begriff erstmals geprägt und als neue Disziplin beworben (Burns et al. 2006). Der Ansatz stieß in Großbritannien je­ doch auf wenig Resonanz und wurde schon bald nicht weiterverfolgt. In Deutsch­ land hingegen wurde er zehn Jahre später vor dem Hintergrund der Diskussionen um eine sogenannte Große Transformation (wieder-)entdeckt und weiterentwi­ ckelt (Davey und Wootton 2016, 69). Der Begriff der Großen Transformation geht ursprünglich auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und sein Buch The Great Transformation (1973 [1944]) zurück. Polanyi beschrieb die Entstehung der kapita­ listischen Marktlogik und die Transformation von Gesellschaften mit Märkten in Marktgesellschaften als „Entbettung der Märkte“. Das Konzept der Großen Trans­ formation wurde in den vergangenen Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Nachhaltigkeitsforschung (WBGU) wiederentdeckt und auf­gegriffen. Der WBGU forderte in einem viel beachteten Gutachten im Jahr 2011 einen „Weltgesellschaftsvertrag zur Wiedereinbettung des Marktes in eine kli­ maverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung“ (WBGU 2011, 2). Transformation Design ist Design für die Große Transformation. Wenngleich es sich beim Transformation Design um einen noch relativ jungen und inkohären­ ten Begriff handelt, lässt die Vielfalt der behandelten Fragen, Antworten, Theorien, Methoden, Ideen und Projekte vermuten, dass es sich zu keiner eigenständigen Dis­ ziplin entwickeln wird, sondern Design unter den herausfordernden Bedingungen der Großen Transformation neu bedenkt und moralisch-ethische und gesellschafts­ politische Ansprüche an das Design richtet (Jonas 2018, 19). Transformation Design beruft sich auf die Auffassung der Designtheoretiker Horst Rittel und Herbert Simon, die primären Eigenschaften von Design seien die gezielte Änderung eines Istzustands in einen Sollzustand und die Veränderung be­ stehender Situationen in wünschenswerte (Simon 1996 [1969], 111). Das Transfor­ mation Design beansprucht daher, zugleich das allgemeinste, umfassendste und grundlegendste Designkonzept und „das neue normale Design“ zu sein (Jonas 2018, 19). Alle spezifischen Designbegriffe sind nach diesem Verständnis „Sub-Diszipli­ nen, begrenzt hinsichtlich Umfang und Haltung, die aus dem Grundkonzept [des Transformation Design] abgeleitet werden können“ (ebd.).

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Literatur Burns, C., Cottam, H., Vanstone, C. und Winhall, J. (2006). Transformation Design: RED Paper 02. London: ­Design Council. Förster, M., Hebert, S., Hofman, M. und Jonas, W. (Hrsg.) (2018). Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Bielefeld: transcript. Jonas, W., Zerwas, S. und von Anselm, K. (Hrsg.) (2016). Transformation Design. Perspectives on a New Design Attitude. Basel: Birkhäuser. Sommer, B. und Welzer, H. (2014). Transformationsdesign: Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom.

20.  Unsichtbares Design Unsichtbares Design beschreibt die Gestaltung von unsichtbaren, weil immateriel­ len Prozessen, Beziehungen, Atmosphären und Situationen sowie die Gestaltung durch Nichtgestaltung, also eine Form des Handelns durch Unterlassung, die zwar nicht unmittelbar als solche erkennbar ist, sich aber subtil – und doch entschei­ dend – auf unser Leben und unsere Umwelt auswirkt. Der Begriff des Unsichtbaren Design geht auf den Design- und Planungs­ theoretiker Lucius Burckhardt zurück. Burckhardt ging es um ein Gestaltungsver­ ständnis, „das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischen­ menschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist“ (Burckhardt 2004 [1980], 199). Als Beispiel für unsichtbares Design nennt Burckhardt die Nacht: Die Nacht also, die ursprünglich wohl einmal etwas mit Dunkelheit zu tun hatte, ist ein menschengemachtes Gebilde, bestehend aus Öffnungszeiten, Schließzeiten, Tarifen, Fahrplänen, Gewohnheiten und auch aus Straßenlampen. (Ebd., 190)

Gegenstand des Unsichtbaren Design sind also nicht nur Einzelobjekte, sondern ganze Infrastruktursysteme und Netzwerke, die auch im Hinblick auf ihre Nichtver­ wendbarkeit gestaltet werden (Mareis 2016, 11). Literatur Burckhardt, L. (2004 [1980]). „Design ist unsichtbar“. In: Fezer J. und Schmitz, M. (Hrsg.). Wer plant die ­Planung?: Architektur, Politik und Mensch, 187–199. Berlin: Martin Schmitz. Burckhardt, L. (2012). Design ist unsichtbar. Entwurf, Gesellschaft und Pädagogik. Berlin: Martin Schmitz.

3.5  Aktivierung: Transformation Design Mit dem Kompendium verfügen wir nun über ein umfassendes Spektrum an De­ signbegriffen, denen ein erweitertes und explizit politisches Designverständnis ­zugrunde liegt. Diese wertvolle Ressource soll uns als Grundlage dazu dienen, ein erweitertes und politisches Urban-Design-Verständnis zu entwickeln. Wir stehen

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also vor der Herausforderung, unter der Vielzahl der im Kompendium aufgeführ­ ten Begriffe einen einzelnen auszuwählen, der tragfähig ist, um Urban Design auf einen zeitgemäßen und zukunftsfähigen (Design-)Begriff zu bringen – ohne dabei jedoch die restlichen Begriffe aus den Augen zu verlieren. Das Kompendium gleicht einem Schlüsselbund, aus dem wir nun einen einzelnen Schlüssel zum Öffnen und Schließen des Urban Design auswählen wollen. Die Frage ist daher: Welchem der im Kompendium aufgeführten Designbe­ griffe wohnt das größte Potenzial zur Konzipierung eines erweiterten, politischen Urban-Design-Begriffs inne? Meine Antwort lautet: Transformation Design. Die Entscheidung beruht auf folgenden acht Gründen, auf die im nächsten Kapitel ausführlicher eingegangen wird:











1. Anschlussfähigkeit: Beim Begriff der Transformation handelt es sich um einen Schlüsselbegriff raumbezogener Diszipli­ nen, der Urban Designern – wenn auch in anderer Bedeu­ tung – vertraut ist. Er verfügt demnach über Anschlussfähig­ keit. 2. Zukunftsbezogenheit: Transformation Design ist zukunftsori­ entiertes Design, das auf einen grundlegenden gesellschaft­ lichen Wandel abzielt. Es entspricht somit dem in Kapitel 1 formulierten Anspruch an gutes Urban Design (S. 33). 3. Diskursmächtigkeit: Bei den im nachfolgenden Kapitel be­ handelten Transformationsbegriffen handelt es sich, wie sich zeigen wird, um wirkmächtige Diskurs-, Forschungsund Praxisfelder an der Schnittstelle von Wissenschaft, Poli­ tik und Gestaltung, die zunehmend an Relevanz gewinnen. Ein Urban Design, das sich auf die Eigendynamik des Trans­ formationsdiskurses stützt, hat daher Zukunft. 4. Institutionalisierung und Ressourcenausstattung: Die Transfor­ mationsdiskurse weisen im deutschsprachigen Raum einen zunehmenden Grad der Institutionalisierung auf, mit einem entsprechenden Zugriff auf wichtige Ressourcen wie beispiels­ weise Forschungsgelder – hierauf lässt sich aufbauen. 5. Raumbezug: Die Transformationsdiskurse haben einen star­ ken Raumbezug. Der Gestaltung von Räumen und der Rolle von Urban Designern werden hier eine Schlüsselrolle zuge­ schrieben. Die Theorien und Methoden der Transformation lassen sich daher problemlos auf Urban Design anwenden und sind zum Teil bereits auf dieses zugeschnitten. 6. Subsumierbarkeit: Der Begriff des Transformation Design ist spezifisch und generisch zugleich – unter ihm lassen sich all

AKTIVIERUNG: TRANSFORMATION DESIGN  101





die anderen Begriffe, die im Kompendium aufgeführt w ­ urden, widerspruchsfrei subsumieren. Der Begriff des Transforma­ tion Design erlaubt uns so einen einzelnen Begriff bevorzugt zu behandeln, ohne dabei die restlichen aus dem Blick zu verlieren. 7. Selbsttransformation: Die Konzeption eines zeit- und zu­ kunftsgemäßen Urban Design erfordert eine Selbsttransfor­ mation des Urban Design. Transformation Design umfasst Prozesse der Selbsttransformation, da eine Transformation by design nur erfolgen kann, wenn sich das Design selbst transformiert. Transformation Design stellt daher einen tragfähigen Ansatz zur Selbsttransformation des Urban De­ sign dar. 8. Diskursdesign: Der Transformationsdiskurs ist noch recht jung. Für junge, angehende (Urban) Designer gibt es hier Spielraum zur Diskursintervention und -gestaltung.

Um das dem Transformation Design innewohnende Affordanzpotenzial zu aktivie­ ren, werden wir im vierten Kapitel den Transformationsbegriff einer näheren Be­ trachtung unterziehen, bevor wir ihn im abschließenden fünften Kapitel in einer Synthese für das Urban Design fruchtbar machen. In diesem Sinne: Transformation Design – Aktivierung einleiten!

102 DESIGN

4 TRANSFORMATION: DISKURSE GESELLSCHAFTLICHEN WANDELS 4.1  Zum Transformationsbegriff des Urban Design Das Transformation Design führt uns nun zum Begriff der Transformation. Die­ ser avancierte in den vergangenen Jahren zu einem Leitbegriff wissenschaftlicher ­Debatten über Fragen gesellschaftlichen Wandels. So allgemein dieser Begriff ­daherkommt, so unterschiedlich und umstritten sind die Vorstellungen und Ver­ ständnisse, die mit ihm in Verbindung gebracht werden (Reißig 2015, 107). Urban Designern und anderen Angehörigen raumgestaltender Disziplinen, wie Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung, dürfte der Begriff ver­ traut sein. Denn Transformation ist das, was Urban Designer tun: Sie verändern Räume, in dem sie gestaltend auf diese einwirken. Wenn Urban Designer ein Ge­ bäude entwerfen oder ein Quartier gestalten, transformieren sie. In den Diskursen raumbezogener Disziplinen ist daher permanent die Rede von der „­Transformation von Räumen“ und „Räumen in Transformation“ (Ruby und Ruby et al. 2008). Das Wort ‚Transformation‘ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich ‚Umformung‘. Die Transformation bezeichnet allgemein die Veränderung von Gestalt, Form oder Struktur ohne Verlust der Substanz. (ESL 2008, 405)

Im Kontext des Urban Design beschreibt der Begriff Transformation eine zentrale Kompetenz: Die Fähigkeit, Räumen eine neue Form zu verleihen. Urban Designer transformieren Räume, indem sie bauliche und sozialräumliche Istzustände in Soll­ zustände überformen. Der Prozess der Transformation ist die Triebfeder der Raumproduktion. Um zu verstehen, was räumliche Transformation tut, müssen wir zunächst begreifen, was Raum ist: Räume sind (neben vielem anderen) immer Möglichkeitsräume, reich an widersprüchlichen, schon verwirklichten und noch verwirklichbaren Entwicklungs­ potenzialen. Jeder Raum birgt Spuren des Vergangenen und Zeichen des Kommenden. Räume sind charakterisiert durch eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch 1962, 104). Hinter der manifesten Fassade eines jeden sichtbaren Stadtraums verbirgt sich zugleich die Latenz der Unsichtbaren Städte (Calvino 1985), die gewesen sind und hätten gewesen sein können, die sein könnten und sein werden. Diese Eigenschaft wird in der Soziologie auch als Kontingenz bezeichnet, was „Möglichkeit“, „Offenheit“ und „Ungewissheit“ bedeutet. Räume sind also kontingent, sie sind Potenzialräume. Raum ist als soziales Produkt zugleich Objekt des Begehrens und Ergebnis der Durchsetzung und Realisierung widersprüchlicher Ansprüche, Begehrlichkeiten und Machtinteressen. Verschiedenste gesellschaftliche Akteure und Gruppen ringen um

ZUM TRANSFORMATIONSBEGRIFF DES URBAN DESIGN  103

die Entfaltung und Verwirklichung widersprüchlicher, dem Raum innewohnender Entwicklungspotenziale. Während bestimmte Raumpotenziale realisiert werden, verharren andere in ihrer Latenz und bleiben unverwirklicht und unsichtbar. Hier kommt die Transformation ins Spiel. Im transformativen Wirken des Urban Design verwirklicht sich die Dialektik der Raumproduktion. Wenn Urban Design transformiert, tut es das, was der Philosoph Hegel „dialektische Aufhebung“ nannte. Wenn Urban Designer Räume transformieren, heben sie, ob sie wollen oder nicht, auf die ein oder andere Weise die sozialräumlichen Verhältnisse und damit auch die ihnen innewohnenden widersprüchlichen Entwicklungspotenziale auf. Das geschieht auf dreierlei Weise: Erstens wird die räumliche Form aufgelöst. Der sozialräumliche Istzustand wird beendet (Aufhebung = negare; Auflösung der räumlichen Struktur). Die räumliche Substanz wird zweitens erhalten. Der Raum ist same but different, ein anderer und zugleich doch derselbe (Aufhebung = conservare; Erhalt der räumlichen Substanz). Der Raum wird drittens einem Sollzustand, einem seiner ihm innewohnenden Potenziale und (idealerweise) einer höheren, fort­geschritteneren, wünschenswerten Entwicklungsstufe, zugeführt (Aufhebung = elevare; Sublimierung der räumlichen Qualität) (Schwandt 2010, 38). Das ist die Dialektik der räumlichen Transformation. Diese transformative Kraft unterscheidet Urban Design von anderen wissen­ schaftlichen Disziplinen, die traditionell eine zurückhaltende Distanz zu ihren Untersuchungsgegenständen pflegen. Klassische Wissenschaft beschränkt sich in der Regel auf eine Beobachterrolle, um sich möglichst glaubwürdig auf eine (ver­ meintlich) neutrale Position objektiver Wissensproduktion berufen zu können. Raumgestaltenden Disziplinen fehlt diese wissenschaftliche Distanz. Urban De­ sign ist eine anwendungsbezogene und problemorientierte Transdisziplin an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gestaltung. Urban Design ist Kontaktsport. Das Eingreifen, der interventionistische Charakter der Transformation, unterscheidet Urban Design von anderen Raumwissenschaften wie etwa der Raumsoziologie oder Stadtgeografie. Urban Designer verfügen über ein breites Repertoire an Kompeten­ zen, Methoden und Werkzeugen, um ihr Wissen aktiv anzuwenden. Sie schaffen durch ihr Handeln unweigerlich Tatsachen on the ground. Urban Designer können daher nicht nichttransformieren. Die Transforma­ tion baulicher und sozialräumlicher Strukturen geht unweigerlich Hand in Hand mit der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Indem sie menschliche ­Lebensräume transformieren, transformieren sie zugleich die Gesellschaft. Urban Design ist transklassische Wissenschaft (Jonas 2017, 80). Die Wissensbasis des Urban Design unterscheidet sich hierbei grundsätzlich von klassischen wissen­ schaftlichen Disziplinen. Beim Gestaltungswissen von Urban Designern handelt es sich zu weiten Teilen um implizites Erfahrungswissen, tacit knowledge, das auf persönlichen wie kollektiv tradierten Erinnerungen und Überzeugungen darüber beruht, was als schön, wahr und gut gilt – und was nicht. Urban Design ist also ein höchst subjektives und normatives Unterfangen.

104 TRANSFORMATION

Man sollte daher meinen, auch der Transformationsbegriff raumgestalten­ der Disziplinen sei ein normativer. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das traditio­ nelle Transformationsverständnis des Urban Design ist charakterisiert durch zwei grundlegende Merkmale: • Das Transformationsverständnis des Urban Design ist ­deskriptiv: Die Normativität urbaner Transformation wird im traditionel­ len Transformationsbegriff des Urban Design unterschlagen. Er beschreibt in der Regel lediglich den Wandel baulicher und sozialräumlicher Strukturen, ohne jedoch Aussagen zur Entwicklungsrichtung, -art oder -qualität zu treffen oder die dem Transformationsbegriff inhärente Normativität zu re­ flektieren. • Das Transformationsverständnis des Urban Design ist oberflächlich: Der Soziologe Norbert Elias unterscheidet zwischen Trans­formationen, die durch tief greifende gesellschaftliche Strukturveränderungen gekennzeichnet sind, und solchen ohne grundlegende Veränderung ihrer Struktur (Elias 1997 [1939]a, 10). Der Transformationsbegriff des Urban Design meint in diesem Sinne in der Regel oberflächliche Verände­ rungen der baulichen und sozialräumlichen Verhältnisse, ohne auf einen tief greifenden, strukturellen gesellschaftli­ chen Wandel anzuspielen. Ganz anders jedoch im Transformation Design. Das Transformationsverständnis des Transformation Design, der sogenannten Großen Transformation, der transfor­ mativen Wissenschaft und der kritischen Transformationsforschung unterscheidet sich grundlegend vom Transformationsverständnis des Urban Design.

4.2  Die Große Transformation In Abgrenzung zum Transformationsbegriff des Urban Design hat sich unter dem Schlagwort der Transformation in den vergangenen Jahren ein neues Wissen­ schaftsparadigma entwickelt, das sich mit der Frage befasst, „wie sich moderne Gesellschaften, die sich in einem Zustand struktureller Nicht-Nachhaltigkeit be­ finden, in Richtung Nachhaltigkeit transformieren können“ (Sommer und Welzer 2014, 14). Dieser tief greifende Strukturwandel, den auch das Transformation De­ sign zum Ziel hat, wird als Große Transformation zur sozialökologisch-nachhalti­ gen Gesellschaft verstanden (WBGU 2011).

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Der Begriff der Großen Transformation geht auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und sein gleichnamiges Buch The Great Transformation (1973 [1944]) zurück, in dem die Entstehung der industriekapitalistischen Marktlogik und die Transformation von vorkapitalistischen Gesellschaften mit Märkten in kapitalisti­ sche Marktgesellschaften beschrieben wird. Polanyi rekonstruierte, wie eine ­zuvor sozial eingebettete Marktsphäre sich mit der Entwicklung des Kapitalismus zu­ nehmend „von kulturellen, politischen und moralischen Bezügen löste und so zur Ökonomisierung immer größerer gesellschaftlicher Bereiche führte“ (Sommer und Welzer 2014, 85). Aus der Marktwirtschaft wurde eine aus ihren sozialen und lebens­ weltlichen Bezügen entbettete Marktgesellschaft. Im Zuge dieses Prozesses wurden – so Polanyis Diagnose – die Arbeit, die Politik und die natürliche Umwelt zunehmend der kapitalistischen Marktlogik unterworfen, mit all jenen ökologischen und sozia­ len Folgen, die in Kapitel 1 bereits ausführlich benannt wurden. Vor dem Hintergrund insbesondere von Klimawandel und globalen Umwelt­ zerstörungen wurde Polanyis Konzept der Großen Transformation in den vergan­ genen Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Um­ weltveränderungen (WBGU)1 wiederentdeckt und aufgegriffen. Der WBGU forderte 2011 in einem viel beachteten Gutachten einen Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, einen „Weltgesellschaftsvertrag zur Wiedereinbettung des Marktes in eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung“ (ebd., 2) – bis heute einer der wichtigsten Referenzpunkte der deutschsprachigen Transforma­ tionsdebatte (Brand und Wissen 2017, 35). Um gefährliche Klimaveränderungen und soziale Verwerfungen zu v­ ermeiden, muss laut WBGU schnellstmöglich ein fundamentaler Wandel zur klimaverträgli­ chen Gesellschaft erfolgen. Die hierfür notwendige Reduktion von Treibhausgas­ emissionen erfordert einen tief greifenden Wandel unseres Wirtschafts- und Gesell­ schaftsmodells. Hierfür bedarf es laut WBGU der Entwicklung eines nachhaltigen Ordnungsrahmens, „der dafür sorgt, dass Wohlstand, Demokratie und Sicherheit mit Blick auf die natürlichen Grenzen des Erdsystems gestaltet“ werden können (WBGU 2011, 1). Die Große Transformation von der fossilen zur postfossilen Gesellschaft wird vom WBGU hinsichtlich der Eingriffstiefe und -tragweite mit den beiden grund­ legenden Transformationen der Menschheitsgeschichte verglichen: Der neolithi­ schen Revolution, also dem Übergang zur Agrargesellschaft, der mit der Sesshaft­ werdung der Menschheit und der Entstehung erster dauerhafter Siedlungsgebiete einherging, sowie der industriellen Revolution, die Polanyi als Great Transformation 1

„Der WBGU wurde 1992 im Vorfeld des Erdgipfels von Rio de Janeiro von der Bundesregierung als unabhängiges, wissenschaftliches Beratergremium eingerichtet. Der Beirat hat neun Mitglieder, die vom Bundeskabinett für eine Dauer von vier Jahren berufen werden. Der WBGU wird federführend gemeinsam durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung betreut. Er wird durch einen Interministeriellen Ausschuss der Bundesregierung begleitet, in dem alle Ministerien und das Bundeskanzleramt vertreten sind“ (WBGU 2019, 32).

106 TRANSFORMATION

beschrieben hat und die den Übergang zur heutigen Industriegesellschaft bedeu­ tete – und ihrerseits ebenfalls einen massiven und anhaltenden Urbanisierungs­ prozess auslöste (ebd., 5). Entwickelten sich die beiden großen Transformationen der Vergangenheit weitgehend ungeplant, evolutionär und in Etappen, muss die Menschheit heute laut WBGU erstmals einen globalen zivilisatorischen Systemwechsel aktiv initiieren und beschleunigt gestalten (ebd., 29). Da eine solche Nachhaltigkeitstransformation nur durch das Zusammenwirken zufälliger „Häufigkeitsverdichtungen von Verän­ derungen“ (Osterhammel 2009, 115) und zielgerichtetes, strategisches und planvol­ les ­Handeln gelingen kann (Wright 2017, 406–418), braucht es hierfür ein möglichst umfassendes, Orientierung gebendes und handlungsweisendes Framework. Weil uns aktuell noch keine systematischen Theorien und Methodologien zur Analyse und Gestaltung gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Nachhal­ tigkeit vorliegen (Wright 2017, 411; Schmelzer und Vetter 2019, 207), bleibt uns laut WBGU (2011, 9) nichts anderes übrig, als die Große Transformation als einen offenen Such-, Experimentier- und Lernprozess zu begreifen. Der WBGU versteht sein Gut­ achten von 2011 als Beitrag und Auftakt zu einem solchen Suchprozess. Er zeigt die grundsätzliche Machbarkeit der Transformation auf, macht zugleich jedoch deut­ lich, dass hierfür ein radikaler Wandel „von Infrastrukturen, Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen [...] sowie ein neue[s] Zusammenspiel von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft“ notwendig sein werden (ebd., 1). Zentrale Bestandteile des Vorstoßes des WBGU für eine Große Transforma­ tion sind die Forderungen eines neuen Vertrags zwischen Wissenschaft und Ge­ sellschaft und einer transformativen Forschung. Diese stießen in der deutschen Wissenschaft auf große Resonanz und wurden nachfolgend im Bereich der Nach­ haltigkeitsforschung unter dem Schlagwort der transformativen Wissenschaft auf­ gegriffen und weiterentwickelt.

4.3  Transformative Wissenschaft Der Begriff der transformativen Wissenschaft bezeichnet das Ideal einer For­ schung, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Richtung sozialökologischer Nach­haltigkeit aktiv befördert. Er knüpft an den vom WBGU geprägten Begriff der transformativen Forschung an. Dieser wurde im Umfeld des 2012 gegründeten Verbunds für Nachhaltige Wissenschaft (NaWis o. J.) aufgegriffen und um 2013 unter der Bezeichnung transformative Wissenschaft mit einer gleichnamigen ­Publikation (Schneidewind und Singer-Brodowski 2013) in den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs eingebracht. Seitdem wird der Begriff als Synonym für einen wissen­schaftspolitischen Paradigmenwechsel verwendet, der auf einen Wandel des ­Wissenschaftssystems in Richtung transformativer Wissensproduktion abzielt.

TRANSFORMATIVE WISSENSCHAFT  107

Normatives Wissenschaftsverständnis Transformative Wissenschaft beruht auf der Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Forschung und Lehre betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaft­ liche Veränderungsprozesse hat. Sie steht für die Haltung, dass sich gesellschaft­ lich verantwortungsvolle Wissenschaft im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund von Klimawandel, globalen Umweltproblemen und sozialen Verwerfungen stär­ ker als bisher an gesellschaftlichen Herausforderungen ausrichten und der Auf­ gabe einer Großen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit widmen sollte (Schneidewind 2016). Sie sollte sich laut WBGU stärker als zuvor mit transforma­ tionsbezogenen Themen und dem neuen Feld der Transformationsforschung befassen, zur Entwicklung sozialer und technologischer Innovationen beitragen, diese untersuchen und Möglichkeiten für ihre globale Verbreitung erforschen (WBGU 2011, 25).

Inter- und transdisziplinäre Ausrichtung Aufgrund der Komplexität globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Vielfalt der kausalen Verknüpfungen, die bei gesellschaftlichen Transformatio­ nen wirken, ist transformative Wissenschaft inter- und transdisziplinär ausgerich­ tet (Schneidewind 2014, 1). Eine aktiv angestrebte gesellschaftliche Transformation erfordert „wissens­ basierte Handlungsansätze, die über den Erkenntnishorizont einzelner Fachdis­ ziplinen hinausreichen“ (Schmidt 2016, 3). Sie kann nur bewältigt werden, wenn ökologische, sozioökonomische und technologische Aspekte zusammengedacht werden. Transformative Wissenschaft will daher Natur- und Ingenieurwissenschaf­ ten mit Sozial- und Geisteswissenschaften verbinden und bestehendes sowie neues Wissen verknüpfen und weiterentwickeln, „sowohl zwischen Disziplinen als auch zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung“ (WBGU 2011, 343). Wissenschaft, die zum Ziel hat, die Gesellschaft zu verändern, muss die Ge­ sellschaft ihrerseits in die Wissensproduktion einbeziehen und sich aktiv in soziale Kontexte einbringen. Transformative Wissenschaft will daher kollaborative und ­kokreative Formen der Wissensproduktion fördern, bei denen frühzeitig, das heißt bereits bei der Problemdefinition und der Festlegung von Forschungsfragen, ­-zielen und -designs, nichtwissenschaftliche Akteure und außerwissenschaftliches Wis­ sen einbezogen werden (Schneidewind 2016). Diese Verbindung von wissenschaft­ lichem und praktischem (Erfahrungs-)Wissen erfordert weitreichende partizipative Elemente im Forschungsprozess wie auch in der gesellschaftlichen Umsetzung. So soll letztlich Wissen entstehen, das handelnden Akteuren Orientierung und Hand­ lungsfähigkeit zur Transformation verleiht (WBGU 2011, 341–346).

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Forschung und Bildung über/für die Transformation Um die unterschiedlichen Bedeutungen und Aufgaben von Forschung und Bildung im Kontext der Großen Transformation zu beschreiben, unterscheidet der WBGU (2011, 23) zwischen Transformationsforschung und -bildung über die Transforma­ tion und transformativer Forschung und Bildung für die Transformation: • Transformationsforschung ist beobachtender Natur. Sie un­ tersucht Transformationsprozesse und die Möglichkeitsbe­ dingungen gesellschaftlichen Wandels (ebd.). Transformati­ onsforschung befasst sich mit der Erkundung von „Faktoren, Mechanismen und kausalen Zusammenhängen der Trans­ formation“ (WBGU 2016, 30) und versucht verallgemeiner­ bares Systemwissen zu generieren (siehe unten). • Transformationsbildung ist unterrichtender Natur. Sie „stellt der Gesellschaft die Erkenntnisse der Transformationsfor­ schung zur Verfügung“ (WBGU 2011, 24). Transformations­ bildung vermittelt ein wissenschaftlich fundiertes Verständ­ nis des Handlungsdrucks und globaler Verantwortung sowie ein systematisches Verständnis möglicher Handlungsoptio­ nen und Lösungsansätze (ebd.). • Transformative Forschung ist interventionistischer Natur. Sie begleitet und befördert Transformationsprozesse aktiv durch spezifisches Wissen, Strategien, Methoden und Werkzeuge sowie soziale und technische Innovationen (WBGU 2016, 30). • Transformative Bildung ist anstiftender Natur. Sie vermittelt transformative literacy, Transformationskompetenz, die es zivilgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Ak­ teu­­ren ermöglicht, die Voraussetzungen für nachhaltigkeits­ orientierten Wandel aktiv zu befördern (Schneidewind 2014, 1). Transformative Wissenschaft unterscheidet sich also von traditioneller Nachhal­ tigkeitswissenschaft, indem sie den gesellschaftlichen Wandel mit Forschung und Bildung nicht nur über, sondern auch für die Transformation aktiv befördert. Das eine Forschungs- und Bildungsverständnis wird dem anderen jedoch nicht vor­gezogen. Indem beide Ansätze miteinander korrespondieren, „befruchten sie sich gegenseitig und bieten in Wechselwirkung mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik eine größtmögliche Unterstützung der Transformation“ (WBGU 2011, 24).

TRANSFORMATIVE WISSENSCHAFT  109

Die drei Wissensdimensionen transformativer Wissenschaft Die Wissensproduktion transformativer Wissenschaft lässt sich in drei unterschied­ liche Forschungsbereiche und Wissensdimensionen einteilen: Systemwissen über den systemischen Istzustand, Zielwissen über den gesellschaftlichen Sollzustand und Transformationswissen dahin gehend, wie wir vom Ist- zum Sollzustand gelan­ gen können (De Flander et al. 2014, 284): • Systemwissen ist Wissen darüber, was der Fall ist. Es zielt auf handlungsweisende Problemanalysen ab. Beim Systemwis­ sen geht es darum, die hochkomplexen Interdependenzen der natürlichen und anthropogenen Systeme und Subsys­ teme unseres Planeten verstehen zu lernen, Wissen über die „Zusammenhänge lebensweltlicher Probleme auf sozialer, ökologischer und ökonomischer Ebene und zwischen den Di­mensionen“ (Dubielzig und Schaltegger 2004, 6, 26) her­vor­ zubringen und Auswirkungen unseres Handelns nachzuvoll­ ziehen. Systemwissensproduktion hat beispielsweise Theorien und empirische Daten zum Ergebnis, verdichtet in Problemund Gegenwartsanalysen (ebd.). • Zielwissen ist Wissen darüber, was künftig sein soll, was nicht sein soll und in welche Richtung wir uns verändern wollen. Es formuliert Ziele zum besseren Umgang mit den durch das Systemwissen identifizierten Problemen. Zielwis­ sen zielt darauf ab, mögliche, plausible, wahrscheinliche und vor allem wünschenswerte gesellschaftliche Zukunftsvi­ sionen zu entwickeln und zur gesellschaftlichen Debatte zu stellen. Zielwissensproduktion hat beispielsweise Szenarien, Leitbilder und Narrative zum Ergebnis (Transdisziplinarität o. J.). • Transformationswissen ist Wissen darüber, wie wir uns in die Richtung verändern können, in die wir uns verändern wollen. Es zielt auf Wissen darüber ab, wie sich die Ziele zum besse­ ren Umgang (Zielwissen) mit identifizierten Problemen (Systemwissen) praktisch erreichen lassen (Dubielzig und Schalt­ egger 2004). Transformationswissen hat die Identifikation transformationsfördernder und -hemmender Faktoren und die Entwicklung praktischer Mittel (technische, soziale, recht­ liche, kulturelle etc.) zum gesellschaftlichen Wandel zum Ziel. Transformationswissensproduktion hat beispielsweise transformationsorientierte Strategien, Methoden und Werk­ zeuge zum Ergebnis.

110 TRANSFORMATION

Die Gestaltung von Transformationsprozessen erfordert laut transformativer Wis­ senschaft ein Zusammenspiel von Systemwissen, Zielwissen und Transformations­ wissen (CASS/ProClim 1997).

Reallabore als Schlüsselkonzept transformativer Wissenschaft Ein weiteres Schlüsselkonzept transformativer Forschung ist der Ansatz des Reallabors. Ein Reallabor bezeichnet einen lebensweltlichen Experimentierraum zur Durchführung von Realexperimenten. Realexperimente sind hybride Formen der Wissensproduktion an der Schnittstelle zwischen Wissenserzeugung und Wissens­ anwendung (Groß et al. 2005). Transformative Forschung interveniert in gesell­ schaftliche Kontexte (Reallabore), um, ausgehend von konkreten realweltlichen Problemen, gemeinsam mit nichtwissenschaftlichen Akteuren in einem interund transdisziplinären, problem- und anwendungsorientierten sowie kokrea­ti­ ven Prozess gemeinsamen forschenden Lernens System-, Ziel- und Transforma­ tionswissen zu generieren, soziale und technische Innovationen zu entwickeln und auszutesten (Realexperimente), um so aktiv zur Transformation in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit beizutragen (De Flander et al. 2014, 285). Die Idee des Reallabors überträgt laut Schneidewind (2014, 3) die naturwissenschaft­ liche Laborsituation auf die Untersuchung und Gestaltung gesellschaftspoliti­ scher Prozesse. Sie knüpft hierbei an die sogenannte experimentelle Wende in den ­Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an, die die zunehmende Durchführung wissenschaftlicher Interventionen „in reale politische, soziale und gesellschaftli­ che Kontexte“ bezeichnet (ebd., 2). Diese Kontextgebundenheit ermöglicht „eine ­kontinuierliche (Selbst-)Reflexion und Evaluierung, um die Forschungsprozesse immer wieder infrage zu stellen“ und an neue gesellschaftliche Bedingungen an­ zupassen (De Flander et al. 2014, 285). So soll „sozial robustes” Wissen (Scholz 2011, 379) entstehen, das der Lebenswirklichkeit lokal handelnder Akteure ent­ spricht, über gesellschaftliche Legitimation und Anerkennung verfügt, leicht von nicht­wissenschaftlichen Akteuren aufgegriffen und weiterentwickelt werden kann und der ­Gesellschaft Handlungsfähigkeit im Hinblick auf Fragen der nachhalti­ gen Entwicklung verleiht.

4.4  Kritische Transformationsforschung Neben dem Transformationsverständnis der Großen Transformation, auf das sich das Transformation Design und die transformative Wissenschaft beziehen, hat sich in den vergangenen Jahren parallel ein weiteres Transformationsparadigma he­ rausgebildet, das sich mit dem Begriff der kritischen Transformationsforschung

KRITISCHE TRANSFORMATIONSFORSCHUNG  111

zusammen­fassen lässt: Ein Transformationsverständnis aus dezidiert kapitalis­ mus- und wachstumskritischer Perspektive (Brie 2015, 19). Die kritische Transfor­ mationsforschung lässt sich am verständlichsten anhand einer Kritik des gegen­ wärtigen Mainstreams der Transformationsdebatte erläutern.

Kritik der Großen Transformation Der starken Rhetorik zum Trotz erweist sich das Transformationsverständnis des WBGU bei näherem Hinsehen als weniger radikal, als die begrifflichen Anleihen bei

Polanyi erwarten ließen. Über die grundlegenden Dynamiken des Kapitalismus, die sich in der von Polanyi untersuchten Great Transformation entwickelt haben und das „Epizentrum der gegenwärtigen Krisendynamik bilden, schweigt sich die Debatte jedenfalls vielsagend aus“ (Brand und Wissen 2017, 30). Die Kritik wurde von den Politikwissenschaftlern Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) gut auf den Punkt gebracht und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Erstens werden die Herausforderungen, die einer Großen Transformation im Weg stehen, häufig unterschätzt, dies betrifft insbesondere die Tatsache, dass zwei Drittel der Menschheit noch nicht einmal in einer Industriegesellschaft leben und ein erheblicher Teil davon enorme Anstrengungen unternimmt, damit ihre Gesellschaften sich industrialisieren – und zwar auf einer fossilen Energiebasis. (Ebd., 31)

Zweitens stehen die verhältnismäßig radikalen Problemanalysen zum ökologi­ schen Zustand des Planeten in starkem Kontrast zu recht zahmen politischen Vor­ stellungen darüber, wie die Große Transformation erfolgen sollte (ebd.). So zeigt sich der WBGU zwar kritisch gegenüber dem politischen Status quo, bleibt aber „selbst auf das bestehende Institutionensystem fixiert und vertraut auf die Einsicht der Eliten“ (ebd., 37). Es scheint hier die – meist implizite – Einschätzung vorzuherr­ schen, „dass Veränderungen angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse und Institutionen von eben diesen ausgehen müssen“ (ebd.). Die Große Transforma­ tion wird demnach vor allem als ein Top-down-Projekt verstanden, dass institutio­ nelle Steuerung von oben verlangt (Reißig 2015, 109). So scheint es dem WBGU da­ rum zu gehen, vor allem Politik und Wirtschaft davon zu überzeugen, dass es eines Wandels bedarf. „Statt sich mit den Eliten anzulegen, ihnen ihre Privilegien zu neh­ men und ihre Macht einzuhegen, sollen sie davon überzeugt werden, das Richtige zu tun“ (Brand und Wissen 2017, 32). Dies täuscht jedoch über eines hinweg: Soll die Große Transformation nicht als dirigistisches Elitenprojekt enden, das uns in die Sackgasse einer „Ökodiktatur“ führt, sondern im Gegenteil mit den freiheit­ lich-demokratischen Prinzipien einer offenen Gesellschaft vereinbar sein, muss

112 TRANSFORMATION

sie vielmehr als soziale Bewegung verstanden werden, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wird und die gesamte Gesellschaft umfasst (Welzer 2016, 16). Drittens wird kritisiert, dass die Große Transformation zu sehr als rein öko­ logisches Reformprojekt der Industriegesellschaft verstanden wird (Reißig 2015, 109). Ein solches Transformationsverständnis greife jedoch zu kurz. Es fokussiert zu sehr auf den Aspekt der Ökologie, während es sozioökonomische ­Dimensionen gesellschaftlichen Wandels vernachlässigt (ebd.). Der WBGU sieht im Klimaschutz eine conditio sine qua non, ohne die eine Transformation zur Nachhaltigkeit nicht möglich ist, frei nach dem Motto „Die Umwelt ist nicht alles, aber ohne die Um­ welt ist alles nichts“ (WBGU 2011, 2). Die Große Transformation sollte laut ­Sommer und Welzer jedoch vor allem „auch wenn das zunächst kontraproduktiv erscheint – auf der Ebene des Sozialen ansetzen und nicht bei Themen wie Energie, Umwelt­ schutz etc.“ (Sommer und Welzer 2014, 68). Die Vergangenheit zeige nämlich, dass soziale Gerechtigkeitsbewegungen wirkmächtiger sind als reine Umweltbewegun­ gen: Hier konnten die sozialen Verhältnisse tief greifend verändert werden (ebd.). Für rein ökologische Bewegungen galt dies in der Vergangenheit nur begrenzt, weil diese bislang selten „die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse der Gesell­ schaft adressieren. [...] Erst auf der Ebene des Sozialen entscheidet sich [jedoch] die Frage, wie eine Gesellschaft eigentlich aussehen soll, in der man leben will“ (ebd.). Viertens wird dem Mainstream der Transformationsdebatte daher vorge­ halten, dass er auf eine kritische Analyse der kapitalistischen Wachstumswirtschaft und der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse weitgehend ver­ zichtet (Brand und Wissen 2017, 149) und Fragen „nach Gerechtigkeit, einem gu­ ten Leben für alle und der Zurückdrängung von Macht und Herrschaft“ deutlich zu unterbelichtet bleiben (ebd., 33). Es geht zwar darum, den Kapitalismus zu ver­ ändern – „aber eben nur halb: sein Industrialismus und dessen energetische Basis sollen dabei im Zentrum stehen, nicht seine politische Ökonomie“ (Rilling 2011, 3). Infrage gestellt wird hierbei, ob es zulässig ist, „von ökologischer Nachhaltigkeit zu sprechen und vom Kapitalismus zu schweigen, eine ökologische Revolution […] ­einzufordern und politisch, ökonomisch, sozial fast alles beim Alten zu lassen“ (Alt­ vater 1996, 84). Denn es reiche nicht, einen neuen Gesellschaftsvertrag einzufor­ dern und die politische Ökonomie unangetastet zu lassen (Brand und Wissen 2017, 15), da Umwelt- und Gesellschaftspolitik unter kapitalistischen Bedingungen einen grundlegenden sozialökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht erreichen können (ebd., 154). Brand und Wissen bringen ihre Kritik der Transformationsdebatte auf den ­Begriff, indem sie von einer „neuen kritischen Orthodoxie“ sprechen: Die ‚neue kritische Orthodoxie‘ ist ohne Zweifel ein kritischer Diskurs. Er versucht auf Höhe der Zeit die Bedingungen für einen Übergang in ein postfossiles Zeitalter zu formulieren. Was ihm jedoch meist fehlt, ist der Blick auf die Verankerung der kritisierten

KRITISCHE TRANSFORMATIONSFORSCHUNG  113

Phänomene in den gesellschaftlichen Strukturen und Kräfteverhältnissen und auf mögliche Dynamiken, die ebendiese Strukturen und Kräfteverhältnisse transzendieren. Es fehlt ihm mit anderen Worten eine Perspektive der Emanzipation [eigene Hervorhebung]: eines guten Lebens für alle, das die Zumutungen und Ausgrenzungen, die Ansprüche der Mächtigen und Reichen, aber eben auch die vielfältigen Privilegien großer Bevölkerungsteile in den wohlhabenden Ländern kritisch reflektiert. (Brand und Wissen 2017, 37)

Grundrisse einer kritischen Transformationstheorie Hier kommt nun die kritische Transformationsforschung ins Spiel, die auch eman­ zipative Transformationsforschung genannt wird und eine Überwindung der kapi­ talistischen Wachstumswirtschaft anstrebt (Brie 2015, 12). Unter Transformation wird hier also ein gesellschaftlicher Wandel verstanden, der zugleich sozialökolo­ gisch und emanzipativ ist und auf eine grundlegende Veränderung der Herrschafts-, Macht-, Eigentums- und Vermögensverhältnisse sowie die Herausbildung neuer Vergesellschaftungsformen abzielt (ebd., 17). Der bisher umfassendste theoretische Beitrag zur kritischen Transformations­ forschung stammt vom amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright, der in seinem Buch Reale Utopien: Wege aus dem Kapitalismus (2017) erste Grundlagen einer sozial­ wissenschaftlichen Transformationstheorie entwickelte.2 Wright bezeichnet seine Transformationstheorie als „emanzipatorische Sozialwissenschaft“ (ebd., 50), die einem zentralen moralischen Zweck dient: der „Aufhebung von Unterdrückung und der Herstellung der Bedingungen menschlicher Entfaltung“ (ebd.). Er sieht in seiner Transformationstheorie drei Aufgaben: erstens die „Ausarbeitung einer systemati­ schen Diagnose und Kritik der Welt, wie sie existiert“, zweitens den „Entwurf gang­ barer Alternativen“ und drittens „das Verständnis der Hindernisse, Möglichkeiten und Dilemmata der Transformation“ (ebd.). Er stellt sich emanzipative Sozialwis­ senschaft als eine Reise vor, die von der Gegenwart in die Zukunft führt: Diagnose und Kritik der Gesellschaft sagen uns, warum wir die Welt, in der wir leben, verlassen möchten. Die Theorie der Alternativen sagt uns, wo wir hinwollen. Die Theorie der Transformation sagt uns, wie wir von hier nach dort gelangen – wie wir gangbare Alternativen erreichbar machen. (Ebd., 70) 2

Der Begriff der kritischen Transformationsforschung – der im deutschsprachigen Raum vor allem im Umfeld des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung geprägt wurde – wird hier als Synonym für eine Vielzahl ganz unterschiedlicher kapitalismus- und wachstumskritischer Diskurs-, Forschungs- und Praxisfelder verstanden, die auch unter Degrowth und Postwachstum subsumiert werden. Da uns eine eingehendere Betrachtung der vielfältigen Strömungen und Stränge, Kritikformen und Konzepte vom Begriff der Transformation wegführen würde, wird hiervon an dieser Stelle abgesehen. Für weiterführende Literatur siehe: Degrowth/Postwachstum zur Einführung (Schmelzer und Vetter 2019).

114 TRANSFORMATION

Eine emanzipatorische Theorie gesellschaftlicher Transformation muss laut Wright vor allem die Risse im Gebäude analysieren, die Widersprüche und Leerstellen im Prozess gesellschaftlicher Reproduktion, die Arten und Weisen, auf die gesellschaftliche Reproduktion versagen kann – kurzum: die verschiedenen Weisen, auf die der Prozess gesellschaftlicher Reproduktion Räume eröffnet, innerhalb derer kollektive Kämpfe um neue Möglichkeiten stattfinden können. (Ebd., 72)

Anstatt danach zu streben, den Kapitalismus durch Reformen zu bändigen oder mit Revolutionen zu überwinden, sollte emanzipative Wissenschaft laut Wright dazu beitragen, ihn schrittweise zu erodieren und in den Freiräumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften emanzipative Alternativen aufzubauen, und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Realen Utopien kämp­ fen (ebd., 11). Bei diesen Räumen handelt es sich um „Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt wer­ den können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voranbewegen“ (ebd.). Der Ansatz einer schritt­weisen Untergrabung des Kapitalismus geht davon aus, dass es möglich ist, diese alternativen Räume langfristig bis zu dem Punkt auszuweiten, an dem eine grundsätzlich andere Gesellschaft möglich wird (ebd., 12). Wrights Transformationstheorie stellt als theoretische Blaupause für Ent­ würfe zur „Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer demokratischen, ega­ litären, solidarischen Wirtschaft und Gesellschaft“ (ebd.) somit ein kritisches ­Korrektiv des Konzepts der Großen Transformation des WBGU dar.

4.5  Urban Designer: Pioniere des Wandels So verschieden die jeweiligen Transformationsverständnisse auch sein mögen, sie haben mindestens eines gemein: Die Gestaltung urbaner Räume spielt diskursüber­ greifend eine zentrale Rolle, vom Transformation Design über die Große Transfor­ mation und die transformative Wissenschaft bis hin zur kritischen Transformations­ forschung.

Zum Raumbezug der Transformationsdiskurse Die drei wichtigsten literarischen Referenzpunkte im deutschsprachigen Dis­ kurs, die sich explizit und umfassend dem Transformation Design widmen, füh­ ren als konkrete Beispiele hierfür überwiegend solche mit Raumbezug an. In der

URBAN DESIGNER: PIONIERE DES WANDELS  115

­Publikation Transformationsdesign: Wege in eine zukunftsfähige Moderne (Sommer und Welzer 2014) werden etwa, neben wichtigen urbanen Handlungsfeldern wie dem Wohnen und der Mobilität, Formen der Kunst und des Aktionismus im öf­ fentlichen Raum wie Guerilla Gardening, die Transition-Town-Bewegung, das Ber­ liner Flussbad-Projekt und die Anti-Villa des Architekten Arno Brandlhuber ge­ nannt (ebd., 111–209). Ähnlich auch in den Sammelbänden Transformation Design: Perspectives on a New Design Attitude (Jonas et al. 2016) und Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen (Förster et al. 2018), in denen der Begriff einer umfassenden Betrachtung aus designtheoretischer und -praktischer Perspektive unterzogen wird. Die zwei bisher einzigen wissenschaft­ lichen Institutionen im deutschsprachigen Raum, die sich namentlich mit Trans­ formation Design befassen, gestehen räumlichen Fragen in Forschung und Lehre ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. So entwickelte etwa ein Studierendenpro­ jekt des ersten, im Jahr 2015 gegründeten Masterstudiengangs Transformation ­Design3 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) Zukunfts­ visionen für die Städte Perleberg und Wittenberge, während ein zweites Projekt sich mit der Entwicklung von Zukunftskonzepten für ein ehemaliges Betonwerk im Dorf Stolpe, einem Ortsteil der Kleinstadt Angermünde, befasste. Das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) an der Europa Universi­ tät Flensburg räumt urbanen Räumen in der Forschung und Lehre innerhalb des dort angesiedelten Masterstudiengangs Transformationsstudien ebenfalls einen wichtigen Platz ein (NEC 2019). Auch der Zukunftsalmanach 2017/18 der Stiftung Futurzwei, die personell, institutionell und ideell sowohl mit dem NEC als auch mit der HBK (und damit auch dem Transformation Design) eng verbunden ist, wid­ mete sich in seiner jüngsten Ausgabe dem Schwerpunkt Stadt (Giesecke et al. 2016). Im Konzept der Großen Transformation des WBGU wird der Gestaltung von Städten ebenfalls eine Schlüsselrolle zum tief greifenden gesellschaftlichen Wandel in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit zugeschrieben. Im Haupt­gut­achten von 2011 benennt der WBGU drei Hauptfelder für die Große Transformation. Eines der Hauptfelder: die urbanen Räume. Die anderen beiden: die Energie- und die Landnutzungssysteme – deren Transformation wiederum ohne raumgestaltende Akteure, Institutionen und Instrumente, wie etwa die Landschafts- und Flächennut­ zungsplanung sowie die Raumordnung, undenkbar wäre (WBGU 2011, 5). Auf das Gutachten von 2011 folgte ein weiteres Hauptgutachten im Jahr 2016, das der WBGU ausschließlich einem der drei zuvor identifizierten Hauptfelder widmete: wieder den urbanen Räumen. Das Gutachten Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte (WBGU 2016) macht deutlich, dass die Große Transformation we­ sentlich von den richtungsweisenden Entscheidungen abhängt, die in den nächs­ ten Jahren in urbanen Räumen getroffen werden, und dass die Transformation 3

Im Wintersemester 2019/2020 startete an der Hochschule Augsburg ein zweiter Masterstudiengang Transformationsdesign (Hochschule Augsburg 2019).

116 TRANSFORMATION

ohne eine möglichst schnelle und radikale Umlenkung der Urbanisierung auf kli­ maverträgliche Pfade nicht gelingen kann (ebd., 3). Der WBGU sieht in der Urbani­ sierung „einen wirkmächtigen Hebel, der so hoch wie möglich auf der Agenda der internationalen Politik gesetzt werden sollte“ (WBGU 2011, 312). Die Große Trans­ formation kann demnach nur dann gelingen, wenn die Urbanisierung weltweit als Chance zur Klimastabilisierung genutzt wird. „Vor diesem ­Hintergrund sollte das Thema nachhaltige Stadtentwicklung international aufgewertet werden“ (ebd.). Auch die transformative Wissenschaft widmet sich intensivst der Erforschung von stadträumlichen Fragen, insbesondere im Kontext der Reallaborforschung. Städte als Reallabore spielen eine wichtige Rolle, sie sind ein wichtiger und schon länger etablierter Reallabortypus und gelten als Laboratorien für ­klimaverträgliche Entwicklung und die theoretisch-methodische Weiterentwicklung der Reallaborfor­ schung selbst (Nevens et al. 2013; Schneidewind und Scheck 2013; Schneidewind 2014). Dies hat mehrere Gründe: Zunächst haben soziale Experimente eine lange Tradition in der Stadtforschung. Städte sind Zentrum und Schauplatz vieler kultu­ reller Entwicklungen „und damit per se sozialer Experimentierraum. In ihnen las­ sen sich gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ‚im Reagenzglas‘ beobachten und Erkenntnisse auf höhere Ebenen skalieren“ (Schneidewind 2014, 3). Städte­­­haben den Vorteil, dass sich in ihnen die Aspekte moderner Gesellschaften fast vollstän­ dig wiederfinden lassen. Im Kontrast zur Landesebene sind sie dabei als Untersu­ chungsgegenstände in ihrer Komplexität vergleichsweise beherrschbar (ebd., 5). Dass über die Wissenschaft hinaus auch die Politik städtischen Räumen eine her­ vorgehobene Rolle zur Transformation beziehungsweise Reallaborforschung ein­ räumt, zeigt sich in dem ersten umfassenderen Reallaborforschungsprogramm, das 2014 vom baden-württembergischen Forschungsministerium ins Leben gerufen wurde und dessen Förderrichtlinien speziell auf das Thema Stadt zugeschnitten sind (MWK o. J.; Singer-Brodowski 2015). Die kritische Transformationsforschung greift zur Illustration dessen, was mit Transformationen und realen Utopien gemeint sein kann, ebenso immer wie­ der auf Referenzen mit Raumbezug zurück. So verweist Wright in seiner emanzi­ pativen Transformationstheorie beispielsweise auf lokale Commons-Bewegungen, Community-Aktivisten, partizipative städtische Haushaltsplanungen, urbanes Gärt­ nern, gemeinschaftliche Wohnprojekte und anderes mehr (Wright 2017).

Zur Rolle der Transformation in raumbezogenen Disziplinen Es zeigt sich: (Städtischer) Raum wird diskursübergreifend als analytische und ge­ stalterische Schlüsselkategorie zur gesellschaftlichen Transformation in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit angesehen. Stellt sich die Frage: Wie sieht es an­ dersherum aus? Kommt den Transformationsdiskursen eine ebenso große Bedeu­ tung im Urban Design zu? Die Antwort lautet: „Jein.“

URBAN DESIGNER: PIONIERE DES WANDELS  117

Ja – Urban Design war, wie Kapitel 2 zeigte (S. 35 ff.), von Beginn an mit dem Anspruch verbunden, mit der Gestaltung von städtischen Räumen auch die gesell­ schaftliche Entwicklung in eine wünschenswerte Richtung zu lenken – seit dem Erstarken der Umweltbewegung ab den 1970er-Jahren zunehmend auch verbun­ den mit dem Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit. Weitere zentrale Konzepte der Transformationsdiskurse, wie beispielsweise die der Inter- und Transdisziplinari­ tät sowie der gesellschaftlichen Partizipation, gehören ebenfalls schon lange zum Selbstverständnis des Urban Design. Nein – in den Diskursen raumgestaltender Disziplinen ist permanent die Rede von der „Transformation von Räumen“ und „Räumen in Transformation“. Dennoch unterscheidet sich das traditionelle Transformationsverständnis hier, wie oben gezeigt wurde (S. 103 f.), meist grundsätzlich von dem der transformati­ ven Wissenschaft. Anders als beispielsweise im Transformation Design wird unter Transformation im Urban Design in der Regel kein normativer und tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel verstanden, sondern, im deskriptiven Sinne, lediglich ein Wandel der sozialräumlichen Strukturen. Zudem mögen die Grundgedanken, die beispielsweise den drei Wissensdimensionen System-, Ziel- und Transforma­ tionswissen oder auch dem Reallaboransatz zugrunde liegen, implizit durchaus eine Bedeutung für raumbezogene Disziplinen haben (nicht ohne Grund spielen sie ihrerseits eine so große Rolle im Transformationsdiskurs), sie werden jedoch bisher selten explizit so benannt und berücksichtigt. Sie sind dementsprechend in der Regel diskursiv entbettet und werden nicht im Kontext der Großen Transfor­ mation gedacht. Will Urban Design zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel bei­ tragen, muss sich das Transformationsverständnis raumbezogener Disziplinen ­daher seinerseits wandeln, in die normativen und tief greifenden Transformations­ diskurse eingebettet und im Kontext der Großen Transformation, der transforma­ tiven ­Wissenschaft, der kritischen Transformationsforschung – und als Trans­for­ mation Design gedacht werden. Indessen verdichten sich bereits Anzeichen, dass diese normativen Transfor­ mationsbegriffe langsam, aber sicher tatsächlich Einzug in die raumbezogenen ­Disziplinen erhalten (Hahne und Kegler 2016; Knieling 2017). Besonders umtrie­ big zeigte sich hier in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum vor al­ lem die Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) (ARL 2016, 2017, 2018a, 2018b, Abassiharofteh et al. 2019), die seit 2015 gemeinsam mit dem Forschungszentrum TRUST Räumliche Transformation – Zukunft für Stadt und Land der Leibniz Universität Hannover nicht zuletzt ein interdisziplinäres Promotions­kolleg zur Nachwuchsförderung im Themenbereich dem räumlichen Transformation geschaffen hat (TRUST 2019).

118 TRANSFORMATION

Urban Designer: Pioniere des Wandels Der Transformationsbegriff raumbezogener Disziplinen befindet sich also im ­ andel. Es ist daher zu erwarten, dass sich früher oder später auch das Transforma­ W tionsverständnis des Urban Design wandeln wird und sich zum gegenwärtig domi­ nanten, konventionellen, deskriptiven und oberflächlichen Transformationsbegriff des Urban Design noch ein weiterer, normativer und tiefenstruktureller gesellen wird. Dies wäre jedenfalls eine wünschenswerte Entwicklung. Denn Urban Design­ ern werden im Kontext des Transformationsdiskurses eine enorm große Verant­ wortung zugeschrieben. Urban Designer gelten in der Transformationsdebatte als „Pioniere des Wan­ dels“ (WBGU 2016, 336) und „Change Agent[s]“ (ebd., 338). Erkenntnisse der Trans­ formationsforschung zeigen, dass individuellen Akteuren – Urban Designer werden hier explizit hervorgehoben – bei der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse eine große Bedeutung zukommt (WBGU 2011, 256). Urban Designer stehen in dem Ruf, als Protagonistinnen und Protagonisten einer „Transformation von unten“ (ebd., 277) mit Pioniergeist voranzuschreiten und neue Wege der Vergesellschaf­ tung und Urbanisierung zu erproben. Sie „verbreiten Innovationen, indem sie eine Politik des ‚Weiter-so-wie-bisher‘ hinterfragen, eine alternative Praxis schaffen und somit etablierte Weltbilder und Pfade in Frage stellen“ (ebd., 257). Sie entwickeln neue Leitbilder und Visionen, an denen sich die Große Transformation orientie­ ren kann (ebd., 287). Sie fungieren als Rollenmodelle und Trendsetter, die früh­ zeitig ein Bewusstsein sowie Strategien zur Transformation verbreiten. Sie fordern mit ihrem Handeln zur Hinterfragung bestehender Einstellungs- und Verhaltens­ muster heraus und schaffen bei Gleichgesinnten eine dauerhafte Motivation zum selbsttragenden Wandel (ebd., 257). Urban Designer agieren hierbei „zunächst als Nischenakteure, können dann aber zunehmend Wirkungskraft entfalten und die Transformation entscheidend befördern“ (ebd., 7). Sie wirken als Treiber des Wan­ dels, „die über ausreichend Macht, Ressourcen, Kreativität sowie Innovations- und Reformbereitschaft verfügen, um etablierte Blockadekräfte zu überwinden“ (ebd., 90). Aus diesen Gründen ist laut WBGU ohne Pioniere des Wandels, wie Urban De­ signer, keine Transformation möglich (ebd., 100). Hier treten nun das Defizit der Transformationsdebatte und das Dilemma des Urban Design offen zutage: Während Urban Designern im Kontext der Transforma­ tionsdiskurse einhellig eine enorme Bedeutung und Verantwortung zum gesell­ schaftlichen Wandel zugeschrieben werden, bleiben diese bis heute eine Antwort dahin gehend schuldig, wie genau zu transformieren sei. Wie also können Urban Designer der ihnen zugeschriebenen Verantwortung zur Transformation gerecht werden? Urban Designern fehlt es sowohl an Bewusstsein dafür, welche Bedeutung und Macht ihnen im Kontext der Transformation zukommt, sowie an ausreichenden Kompetenzen, der ihnen zugeschriebenen Verantwortung wirksam Taten folgen

URBAN DESIGNER: PIONIERE DES WANDELS  119

zu lassen. Sie mögen bereits heute – mal bewusst, mal unbewusst – als Pioniere des Wandels in Erscheinung treten und einen bedeutenden Beitrag zur Transfor­ mation leisten, tun dies jedoch weit weniger wirkungsvoll, als sie es tun könnten, würden sie über entsprechendes Problem- und Selbstbewusstsein und Kompeten­ zen verfügen. Positiv formuliert bedeutet dies: Sollen Urban Designer tatsächlich dazu be­ fähigt werden, das ihnen innewohnende Transformationspotenzial auszuschöpfen und aktiv, zielgerichtet und wirkungsvoll zur Transformation beizutragen, m ­ üssen zwei Dinge geschehen: Erstens bedarf es eines Prozesses der (Selbst-)Bewusstseinswerdung. Die Fremdzuschreibung „Pioniere des Wandels“ muss zur Selbstwahrnehmung werden. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, sagte der Philo­ soph Ludwig Wittgenstein (1999 [1921]). Sprache schafft Bewusstsein. Wir müssen der Mission der Transformation im semantischen Bauwerk des Urban Design Spra­ che verleihen, um die urbane Transformation zu befördern. Zweitens braucht es eine möglichst umfassende und systematische Theorie und Methodologie urbaner Transformationsgestaltung, die Urban Designer mit dem Wissen, den Theorien, Strategien, Methoden und Werkzeugen ausstatten, die sie zur Transformation befähigen. Für diese zwei Herausforderungen gibt es eine Lösung: Wenn Urban Design gut sein soll (Prolog), wenn Urban Design eine gesellschaftlich verantwortungsvolle, zeitgemäße und zukunftsgewandte Disziplin sein soll (Intro), wenn Urban Design dazu beitragen soll, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hinzuwirken (Kapitel 1), wenn Urban Design sich öffnen soll, wo es zu geschlossen ist, und sich schließen soll, wo es zu offen ist (Kapitel 2), wenn Urban Design auf einen erweiterten und poli­tischen Designbegriff gebracht werden soll (Kapitel 3), wenn Urban Design ein ­Pionier der urbanen Transformation sein soll (Kapitel 4), dann muss es als Urban Transformation Design verstanden werden (Kapitel 5). Im fünften und abschließenden Kapitel werde ich die Grundrisse einer solch zukunftsgewandten Raumpraxis skizzieren.

120 TRANSFORMATION

5  URBAN TRANSFORMATION DESIGN: GRUNDRISSE EINER ZUKUNFTSGEWANDTEN RAUMPRAXIS 5.1  Urban Transformation Design: Begriffsdefinition „Urban Transformation Design“ ist meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage: „Was ist gutes Urban Design?“ Es ist die systematische, theoretisch begründete und wissenschaftlich fundierte Formulierung eines erweiterten, politischen und somit guten, da zeitgemäßen und zukunftsgewandten Urban-Design-Verständnisses. Urban Transformation Design ist eine Wortschöpfung aus Urban Design und Transformation Design, und somit zweierlei: Urban Transformation Design ist Urban Design für die Große Transforma­ tion. Es ist eine Raumpraxis, die mit der Gestaltung urbaner Räume aktiv zu einem grundlegenden Wandel unseres nichtnachhaltigen und sozial ungerechten Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells in Richtung sozialökologischer Nachhaltig­ keit und Zukunftsfähigkeit beiträgt. Urban Transformation Design ist urbanes Transformation Design. Es ist Transformation Design, das den urbanen Raum als analytischen und gestalteri­ schen Schlüssel­zum gesellschaftlichen Wandel versteht und sich der Gestaltung urbaner Räume widmet. Urban Transformation Design ist gutes Urban Design, weil es mit dem Begriff der Transformation namentlich gesellschaftspolitische sowie moralisch-ethische Dimensionen des eigenen Handelns reflektiert und auf den Begriff bringt. Es ist zeitgemäßes Urban Design, weil es der großen gesellschaftlichen Herausforderung unserer Zeit entspricht: dem Erfordernis eines change „by“ design, das nur mit einem change „of urban“ design gelingen kann. Es ist eine zukunftsgewandte Raumpraxis, weil es dazu beiträgt, Vorstellungen über alternative, wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln und durch gestalterische Mittel aktiv auf diese hinzuwirken. Urban Transformation Design ist kein Vorschlag für eine neue Designdisziplin. Es gibt bereits genügend Designbegriffe (S. 58 f.). Es ist eine theoretische Denkfigur, ein heuristisches Konzept, eine Haltung, eine Art, Urban Design zu denken. Es ver­ mittelt uns das Problem- und (Selbst-)Bewusstsein und stattet uns mit den Theorien, Begriffen, Strategien und Werkzeugen aus, die wir brauchen, um Räume zielgerich­ tet und wirkungsvoll transformieren zu können. Hierin liegt die Daseinsberechti­ gung – und die Notwendigkeit – des Urban Transformation Design begründet. Der Begriff Urban Transformation Design ist die Neuschöpfung eines Be­ griffs, der in dieser Form bisher noch nicht existierte. Es gibt, abgesehen von einer Nennung im Futurzwei Zukunftsalmanach 2017/18 (Hebert 2016, 339) und den hier geschaffenen Grundlagen keine wissenschaftlichen Quellen, die sich explizit mit

URBAN TRANSFORMATION DESIGN: BEGRIFFSDEFINITION   121

Urban Transformation Design befassen. Die hier vorgenommene Skizzierung der Grundrisse eines Urban Transformation Design kann somit als Research through D ­ esign (S. 94 f.) verstanden werden. Es ist Forschung und Gestaltung zugleich. Es ist der forschende, reflektierende und lernende Entwurf eines neuen Urban-Design-­ Verständnisses. Es handelt sich hierbei unweigerlich um einen vorläufigen Ent­ wurfsstand, um erste Grundrisse einer zukunftsgewandten Raumpraxis.

5.2  Urban | Transformation | Design: Theoretisch-begriffliche Grundlagen Zum Begriff des Urbanen Urban Transformation Design beruht auf einem erweiterten Urbanitätsverständ­ nis. Wir leben heute im Anthropozän, im urbanen Erdzeitalter des Menschen. Das Urbane ist heute ein weltumspannender Zustand. Der Planet lässt sich nicht grenz­ scharf in Natur und Kultur, Land und Stadt aufteilen. Das unaufhaltsame Wachs­ tum des Urbanen und die zunehmende Verdickung globaler Kapital-, Informations-, Waren- und Personenströme führen zu einer sukzessiven funktionalen Integration des Hinterlandes und einem Ende der Wildnis. Das, was wir die Natur nennen, ist heute maßstabsübergreifend mit den sozioökonomischen Transformationen der weltweiten Urbanisierung verknüpft und in operationalisierte Landschaften über­ formt. Die gesamte Welt ist urbanisiert und von den Prozessen der Urbanisierung betroffen (Brenner 2014, 14–31; Brenner und Schmid 2014, 160–163). Urban Trans­ formation Design ist daher genau genommen Weltdesign, das auch den ländlichen Raum umfasst. Ein solch weites Urbanitätsverständnis ist nicht unumstritten. Ähnlich wie der erweiterte Designbegriff ist es dem Vorwurf ausgesetzt, es sei zu beliebig, infla­ tionär und unpräzise. Zudem, so die Kritik, blende es unleugbare Differenzen aus, in dem es alles gleichmache. Die Vorwürfe sind nicht unberechtigt. Wo stößt der erweiterte Urbanitätsbegriff an seine Grenzen? Was sind die Grenzen des Urban Transformation Design? Fest steht: Die „Vermischung von Kategorien [im Anthropozän] erfordert ein Nachdenken über die Bezugssysteme unseres Wissens und Handelns“ (Wieck und Giseke 2018, 363). Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Wissensproduk­ tion an die geomorphologischen Umwälzungen anzupassen (ebd., 365). „Notwen­ dig ist ein planetarisches Bewusstsein“ (Han 2018, 27). „Das Ohr an die Erde zu legen“ und die Aufmerksamkeit auf urban-rurale Beziehungen zu richten, „bleibt dabei eine räumliche und entwerferische Aufgabe“ (Wieck und Giseke 2018, 367). Die Fragen, ob Grenzen des Urbanen existieren, ob es sie braucht oder nicht, und wenn ja, wo sie verlaufen, müssen daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt als offene

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Fragen verstanden werden. Sollte der Begriff des Urban Transformation Design auf Resonanz stoßen, aufgegriffen und genutzt werden, wird sich nicht zuletzt in der Gestaltungspraxis zeigen, ob und inwiefern sie relevant sind.

Zum Begriff der Transformation Urban Transformation Design beruht auf einem normativen Transformationsver­ ständnis. Mit Transformation ist hier nicht das konventionelle Transformations­ verständnis raumgestaltender Disziplinen gemeint. Dieses ist, wie bereits erläutert wurde (S. 105), deskriptiv und oberflächlich und meint in der Regel lediglich den Wandel baulicher und sozialräumlicher Strukturen, ohne Aussagen zur Entwick­ lungsrichtung, -art oder -qualität zu treffen oder ohne die dem Transformationsbe­ griff inhärente Normativität zu reflektieren. Im Urban Transformation Design ist mit Transformation hingegen ein grundlegender, tief greifender systemischer Struktur­ wandel nichtnachhaltiger Gesellschaftsverhältnisse in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit gemeint. Das Transformationsverständnis des Urban Transformation Design knüpft daher an die Diskurse des Transformation Design, der Großen Transformation, der transformativen Wissenschaft und der kriti­ schen Transformationsforschung an und bettet Urban Design diskursiv in diese ein.

Zum Begriff des Design Urban Transformation Design beruht auf einem politischen Designverständnis. Urban Transformation Design ist urbanes Transformation Design. Es schlägt eine Brücke zwischen den disziplinären Enklaven und ist das Interface zwischen den zwei Schnittstellendisziplinen des Urban Design und des Design. Urban Transfor­ mation Design ermöglicht es, eine Errungenschaft der Designwissenschaft – den erweiterten und politischen Designbegriff – für Urban Design fruchtbar zu machen. Dieser begriffsmethodische Kniff gibt uns eine theoretisch begründete und wissen­ schaftlich fundierte Möglichkeit, Gestaltung auch im Urban Design erweitert und politisch zu verstehen. Transformation Design versteht unter Design die gezielte Änderung eines Ist-­ zustands in einen Sollzustand. Nach diesem Verständnis kann alles als Design an­ gesehen werden, wo Handlungsoptionen vermehrt werden, um bestehende Situa­ tionen willentlich in wünschenswerte verwandeln zu können (Simon 1996 [1969], 111). Der Designtheoretiker Wolfgang Jonas schlägt daher vor, Transformation De­ sign als das allgemeinste, umfassendste und grundlegendste Designkonzept und als „das neue normale Design“ zu begreifen (Jonas 2018, 19). Alle spezifischen De­ signbegriffe sind diesem Verständnis nach „Sub-Disziplinen, begrenzt hinsichtlich Umfang und Haltung, die aus dem Grundkonzept abgeleitet werden können“ (ebd.).

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Bemerkenswert ist, dass tatsächlich alle übrigen, zuvor im Kompendium auf­ geführten politischen Designbegriffe (S. 79–100) relativ w ­ iderspruchsfrei in das Kon­ zept des Urban Transformation Design integrierbar sind. Das in Kapitel 3 formu­ lierte Versprechen, mit der Priorisierung des Transformation Design als Grundlage zur Entwicklung eines erweiterten und politischen Urban-Design-Verständnisses die restlichen 19 politischen Designbegriffe des Kompendiums nicht aus den A ­ ugen zu verlieren, kann daher nun eingelöst werden. Nachfolgend wird, zur Beschreibung dessen, was die Bedeutung des Design im Urban Transformation Design ist, mit 19 Thesen zum Urban Transformation Design auf die Gesamtheit der politischen Designbegriffe des Kompendiums zurückgegriffen:













1. Urban Transformation Design ist kritisches Design: Es versteht urbane Räume als Spiegel gesellschaftlicher Herrschafts-, Macht- und Eigentumsverhältnisse und legt den Finger in die Wunde sozialräumlicher Missstände. 2. Urban Transformation Design ist aktivistisches Design: Es agiert Subversion und gegenhegemonialen Protest aus, interveniert unmittelbar in den urbanen Raum, um ihn zu verändern, und ruft zum emanzipativen Handeln auf. 3. Urban Transformation Design ist Infrastrukturdesign: Es zielt mit der Gestaltung sozialräumlicher Infrastrukturen auf die Initiierung und Unterstützung von Prozessen der Vergemein­ schaftlichung und ermöglicht lokalen Gemeinschaften, ge­ meinsame Probleme kollektiv zu lösen und eigenmächtig soziale und technische Innovationen zu gestalten. 4. Urban Transformation Design ist politisches Design: Es versteht die Gestaltung von urbanen Räumen als politische Praxis und will hiermit aktiv gesellschaftspolitischen Einfluss ausüben. 5. Urban Transformation Design ist Diskursdesign: Es trägt mit (Diskurs-)Interventionen zur Bewusstseinswerdung und zum öffentlichen Austausch über Themen von gesellschaftlicher Relevanz bei, stößt Diskurse an, wirkt auf die Meinungsbil­ dung ein, setzt neue thematische Impulse und lenkt Debat­ ten in wünschenswerte Richtungen. 6. Urban Transformation Design ist Krisendesign: Es gestaltet mit (Über-)Lebensräumen und Schutzzonen im Kontext von Krisen, Katastrophen und Konflikten richtige Räume im Fal­ schen. 7. Urban Transformation Design ist entwerfendes Design: Es ge­ staltet (Handlungsspiel-)Räume, die die ­Handlungsoptionen der Menschen vermehren, bestehende (Raum-)Situationen in wünschenswerte zu verwandeln.

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8. Urban Transformation Design ist experimentelles Design: Es ­begreift urbane Räume als Reallabore zur Durchführung von Realexperimenten: problemorientierte, anwendungsbe­ zogene und ergebnisoffene Prozesse gemeinsamen forschen­ den Lernens. 9. Urban Transformation Design ist Gender Design: Es gestaltet egalitäre Räume, die frei von stereotypischen, sexistischen und in sonstiger Weise diskriminierenden Geschlechtszu­ weisungen sind und eine freie Entfaltung von geschlechtli­ cher Identität, Sexualität und Begehren ermöglichen. 10. Urban Transformation Design ist Human-Centered Design: Es gestaltet urbane Räume, in denen die Eigenarten, Bedürfnis­ se und Probleme der Menschen im Mittelpunkt stehen. 11. Urban Transformation Design ist nachhaltiges Design: Es ge­ staltet Räume, die Zukunft haben. 12. Urban Transformation Design ist offenes Design: Es gestaltet urbane Räume, die für alle zugänglich sind und von allen mitgestaltet, frei genutzt und angeeignet werden können. 13. Urban Transformation Design ist partizipatives Design: Es ge­ staltet urbane Räume gemeinsam mit denen, die in ihnen leben. 14. Urban Transformation Design ist reflexives Design: Es ist For­ schung über/für/durch die Gestaltung von urbanen Räumen und versteht dies als eine reflexive Tätigkeit, die Wissen her­ vorbringt. 15. Urban Transformation Design ist Selbstdesign: Es betrachtet das Verhältnis von Mensch und urbaner Lebenswelt dialek­ tisch – die Gestaltung zukunftsfähiger Lebensräume bringt zukunftsfähige Subjekte hervor, die wiederum zukunftsfähi­ ge Lebensräume gestalten. 16. Urban Transformation Design ist soziales Design: Es gestaltet gerechte und gesellige Räume, die die Gesellschaft verändern. 17. Urban Transformation Design ist spekulatives Design: Es ent­wirft mögliche, plausible, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukunftsbilder, Narrative und Räume, die die Gegenwarts­ gesellschaft spiegeln und zur Reflexion über ablehnens- und begehrenswerte Zukünfte anregen. 18. Urban Transformation Design ist (Öko-)System Design: Es ge­ staltet urbane Räume, die der Komplexität und Interdepen­ denz der ökologischen und anthropogenen Systeme und Sub­systeme unseres Planeten entsprechen und zu ihrer Sta­ bilität beitragen.

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19. Urban Transformation Design ist unsichtbares Design: Es ge­ staltet immaterielle Prozesse, Beziehungen, Erfahrungen, At­ mosphären und Situationen, die nicht unmittelbar als solche erkennbar sein mögen, sich aber subtil – und doch entschei­ dend – positiv auf unsere urbanen Lebensräume auswirken.

5.3  Wie gestalten? Die moralische Landkarte der Transformation Will man als Urban Transformation Designer gestalterisch tätig werden, brütet man etwa mit dem Stift über einem dürstenden Blatt, steht man inmitten eines Quar­ tiers, das gestaltet werden soll, oder findet man sich in hitziger Diskussion mit An­ wohnenden wieder, stellen sich die Fragen: „Urban Transformation Design schön und gut – aber was soll ich jetzt eigentlich gestalten? Wie genau soll ich gestalten? Wo fange ich an? Und wie gehe ich vor?“ Die Definition des Begriffs Urban Transformation Design und seiner theore­ tisch-begrifflichen Grundlagen mag zwar eine ungefähre Stoßrichtung vorgeben, bleibt jedoch bisher noch reichlich abstrakt. Die Definition allein vermag nicht hin­ reichend Orientierung zu vermitteln, um Handlungsfähigkeit zu verleihen. Schon bald zeigt sich: Ein explizit normatives Urban Design muss die eigene Normativität explizieren. Ein Urban Transformation Design, das namentlich die gesellschafts­ politischen Dimensionen sowie die ethisch-moralische Normativität des eigenen Handelns explizit macht, muss ebenso explizit machen, was die ethisch-morali­ schen Normen sind, auf denen es beruht. Was also sind die gestalterischen Ideale des Urban Transformation Design?

Die fünf Gestaltungsideale des Urban Transformation Design Die ethisch-moralischen Normen und gestalterischen Ideale des Urban Transfor­ mation Design leiten sich vom normativen Transformations- und politischen De­ signbegriff ab. Auch wenn sie in ihren Zielsetzungen, Prioritäten und Vorgehensweisen nicht immer übereinstimmen, gibt es bei genauerem Hinsehen in der Vielfalt der Prämis­ sen und Forderungen der im Kompendium vorgestellten politischen Designbegriffe und den genannten Transformationsdiskursen manche Übereinstimmungen, die sich in etwa wie folgt zusammenfassen lassen: „Respekt gegenüber der Natur, so­ ziale Gleichheit in der Gesellschaft, demokratische Mitsprache und Mitentschei­ dung auf allen Ebenen, individuelle Selbstverwirklichung bei solidarischem Mitei­ nander“ (Reißig 2015, 135). Es zeichnen sich, mal implizit, mal explizit – und doch sehr deutlich –, fünf ethisch-moralische Ideale ab:

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1. ökologische Nachhaltigkeit 2. soziale Gerechtigkeit 3. politische Teilhabe 4. kulturelle Vielfalt 5. solidarische Gemeinschaftlichkeit

Die Gestaltung ökologisch nachhaltiger Räume meint einen weitsichtigen und zu­ kunftsorientierten Umgang mit natürlichen Ressourcen, zur Gewährleistung des langfristigen Erhalts planetarer Lebensgrundlagen (WBGU 2016, 10). In sozial gerechten Räumen haben alle Menschen vergleichbaren Zugang zu den materiellen und immateriellen Ressourcen, die zur persönlichen Entfaltung und zur Führung eines erfüllten Lebens erforderlich sind. Dazu gehören beispiels­ weise Dinge wie Sicherheit und Gesundheit, angemessene Unterkunft, Ernährung, Kleidung sowie die Möglichkeit zur Entwicklung intellektueller, körperlicher und ­sozialer Fähigkeiten durch Zugang zu Bildungs- und Arbeitskontexten, Einkom­ mensmöglichkeiten sowie Gemeinschaften (Wright 2017, 53–60). In Räumen politischer Teilhabe haben alle Menschen vergleichbare Mög­ lichkeiten, an Entscheidungen teilzuhaben, die ihr Leben betreffen. Das beinhal­ tet ­sowohl die Fähigkeit von Individuen, private Entscheidungen zu treffen, die ihr persönliches ­Leben betreffen, als auch die Möglichkeit, sich an kollektiven Ent­ scheidungen teilzuhaben, die sich auf ihr Leben als Teil der Gesellschaft auswir­ ken (ebd., 53). Räume kultureller Vielfalt sind erstens Räume baulich-räumlicher (bau­ kultureller) Diversität, die zweitens eine soziokulturelle Diversität der Lebens­ formen und drittens eine daraus erwachsende „Pluralität der urbanen Transfor­ mationspfade“ ermöglichen (WBGU 2016, 4). Räume müssen sich entsprechend ihrer Eigenart auf ihre eigene Art entwickelt können. Diese Eigenart ist wichtig für die Herstellung urbaner Identität und eine wichtige Ressource zur Entfaltung orts­ spezifischer Kreativitäts- und Innovationspotenziale (ebd.). Die Gestaltung von Räumen, die solidarische Gemeinschaftlichkeit ermögli­ chen und fördern, ist der Schlüssel zu allen anderen vier Gestaltungsidealen. Öko­ logische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, politische Teilhabe und kulturelle Vielfalt erfordern allesamt ein Mindestmaß an Gemeinwohlorientierung, kultu­ reller Integration und eine Kultur reziproken Verantwortungsbewusstseins. Auch politische Bewegungen – wie das Projekt einer Großen Transformation – erfordern ­Kooperations- und Kollektivierungsprozesse sowie kollektive Identitäten. Von diesen fünf ethisch-moralischen Normen leiten sich die Gestaltungs­ ideale des Urban Transformation Design ab, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Als Urban Transformation Designer aktiv, zielgerichtet und wirkungsvoll zur Großen Transformation unseres nichtnachhaltigen Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells in Richtung sozialökologischer Nachhaltigkeit und Zukunfts­

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fähigkeit beizutragen, bedeutet konkret, Prozesse und Räume zu untersuchen und zu gestalten, die ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, politische Teil­ habe, kulturelle Vielfalt und solidarische Gemeinschaftlichkeit ermöglichen und fördern. So vage diese fünf Gestaltungsideale sind und als so widersprüchlich und un­ vereinbar sie sich in der Praxis erweisen mögen – sie helfen uns doch, zu verstehen, was Urban Transformation Design ist, worauf es abzielt und wie es von einem Urban Transformation Designer zu gestalten ist.

Die moralische Landkarte der Transformation Die fünf Gestaltungsideale werden in der Moralischen Landkarte der Transforma­ tion kartografiert (siehe Abb. 4). Laut dem Philosophen Charles Taylor sind Men­ schen nur dann fähig, eine stabile Identität zu entwickeln und handlungsfähig zu sein, wenn sie eine Vorstellung davon haben, wer sie sind und worauf es im Leben ankommt. Ein Mensch muss sich daher nicht nur im geografischen Raum zurecht­ finden. Er ist zugleich in einen moralischen Raum gestellt, in dem er für sein Leben und seine Handlungen Orientierung gewinnen muss. In diesem Raum findet er sich „mit Hilfe einer kulturell konstituierten und teils sprachlich, teils implizit in sozia­ len Praktiken vermittelten ‚moralischen Landkarte‘ zurecht“ (Rosa 2012, 68), in der die möglichen Selbstbilder, Ideale und Handlungsoptionen verzeichnet sind. Diese Topografie des Selbst beschreibt, worin ein gutes Leben besteht, was eine gerechte Ordnung darstellt, was wichtig und unwichtig, gut und schlecht ist. Es sind dabei nach Taylors Konzeption immer die ‚Berge‘, welche als grundlegende Markierungen der moralischen Landkarte dem menschlichen Leben Sinn, Richtung und Orientierung geben, weil sie die erstrebenswerten Güter oder ‚das Gute‘ bezeichnen. Die ‚höchsten Berge‘ bzw. die architektonisch zentralen Güter bilden dabei die handlungsmotivierenden und inspirierenden Zentren, die Taylor auch als moralische Quellen bezeichnet. (Rosa 2012, 71)

Zu wissen, wie zu gestalten ist, setzt für Urban Transformation Designer voraus, sich nicht nur im geografischen, sondern auch im moralischen Raum a­ uszukennen. Man kann sich die Transformation wie eine Reise vorstellen. Die moralische Land­ karte sagt uns nicht nur, wohin wir wollen, sondern auch, wie wir dorthin gelangen. Sie gibt als verräumlichtes inneres Leitbild gestalterische Orientierung auf dieser Reise, sowohl hinsichtlich der Wege als auch der Ziele der urbanen Transformation. Die fünf Gestaltungsideale sind das Hochgebirge der moralischen Landkarte. Als big five markieren sie die normativen Ideale der urbanen Transformation. Sie wei­ sen uns auf der Reise der Transformation den Weg und zeigen an, wie wir von der Gegenwart in die Zukunft gelangen.

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Kuppe der solidarischen Gemeinschaftlichkeit

Kamm der kulturellen Vielfalt

Massiv der politischen Teilhabe

Krone der sozialen Gerechtigkeit

Gipfel der ökologischen Nachhaltigkeit 4  Die moralische Landkarte der Transformation (Abb.: Anne Gunia)

Die moralische Landkarte ist eine Psychogeografie. Der Begriff der Psychogeografie geht auf den Situationisten Guy Debord zurück und bezeichnet eine Forschung, die analysiert, welche Wirkung die sozialräumliche (gebaute) Umwelt auf die Wahrneh­ mung, das Empfinden und das Verhalten des Menschen hat, also den Einfluss der Geografie auf die Psychologie. Die moralische Landkarte der urbanen Transforma­ tion stellt Debords Psychogeografie vom Kopf auf die Füße. Sie zeigt, welchen Ein­ fluss die Psychogeografie des verinnerlichten moralischen Bedeutungsraums auf die Gestaltung der urbanen Transformation hat, also den Einfluss der Psychologie auf die Geografie.

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Manch Lesende mögen an dieser Stelle enttäuscht die Nase rümpfen: „Das ist alles? Diese moralische Landkarte ist jetzt wirklich nichts Neues!“ Man kann mit Recht behaupten, dass die fünf in der Karte verzeichneten Ideale, mal implizit, mal explizit, so oder in ähnlicher Form schon lange zum Selbstverständnis, Phrasenre­ pertoire und Sprachjargon raumgestaltender Disziplinen gehören. Ich halte es je­ doch für eine Erkenntnis für sich, dass die normativen Transformations­diskurse und die 20 politischen Designbegriffe des Kompendiums mehr oder minder die gleichen Ideale teilen beziehungsweise auf ähnlichen normativen Prämissen be­ ruhen. Diese Erkenntnis ist wichtig, um selbige Ideale und Normen kritisch hin­ terfragen und überprüfen zu können. Den Idealen, Diskursen und Begriffen liegt nämlich implizit eine politische Agenda zugrunde, vielleicht sogar ein latenter Dog­ matismus, den man auf den ersten Blick grob als linksliberal umschreiben könnte, der sich bei genauerer Betrachtung jedoch dem gängigen Links-rechts-Schema ent­ zieht, mit Sicherheit aber in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus steht und damit auf einem okzidentalen Universalismus beruht. Die moralische Landkarte versetzt uns als Urban Transformation Designer daher nicht zuletzt in die Position zu fragen: „(Inwiefern) Ist das richtig? Will ich das wirklich? Wie genau sollten diese Ziele erreicht werden?“ Es braucht einen zusätzlichen (inneren) Kom­ pass, um souverän im moralischen Bedeutungsraum navigieren zu können – an­ sonsten hilft einem selbst die beste Karte nicht. Genau hierauf soll die moralische Landkarte hinweisen.

5.4  Bruch, Freiraum, Symbiose: Urbane Transformationsstrategien Wir bewegen uns geradlinig voran auf dem Vektor vom Luftigen zum Handfes­ ten. Werden wir nun noch konkreter: Um als Urban Transformation Designer wir­ kungsvoll in Aktion zu treten, bedarf es transformativer Gestaltungsstrategien. Die emanzipative Transformationstheorie Wrights wird uns hier weiterhelfen. Wright unterscheidet zwischen drei verschiedenen Strategien der Transformation, durch die ein grundlegender Wandel unserer Gesellschaft erreicht werden kann: Strate­ gien des Bruchs, des Freiraums und der Symbiose (Wright 2017, 412–418).

Transformation durch Bruch Strategien des Bruchs beruhen laut Wright auf der Annahme, dass jede sich gegen den Kapitalismus richtende und über ihn hinausweisende gesellschaftliche ­Entwicklung notwendigerweise einen revolutionären Bruch mit dem Status quo ­beinhalten muss. Der Glaube hierbei ist, mit politischen Kämpfen und direkter Kon­ frontation könne ein radikaler Bruch herbeigeführt werden, durch den bestehende

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hegemoniale Herrschaftsverhältnisse niedergerissen und alternative Verhältnisse relativ schnell herbeigeführt werden können: „Erst zerschlagen, dann aufbauen“ (ebd., 414). Angesichts der tragischen Folgen der sozialistischen Revolutionen im 20. Jahr­ hundert mag es fragwürdig erscheinen, sich im 21. Jahrhundert mit der Trans­ formation des Kapitalismus durch Strategien des Bruchs zu befassen. Abgesehen von moralischen Bedenken und der Wünschbarkeit des Ergebnisses revolutionärer ­Umbrüche scheint die Vorstellung, eine Strategie des Bruchs könne in unserer heu­ tigen Zeit tatsächlich gelingen, laut Wright recht abwegig (ebd., 419). Der letzte glo­ bal relevante Versuch einer Strategie des Bruchs dürfte die Protestbewegung Occupy Wall Street aus dem Jahr 2011 gewesen sein, die sich erst hoffnungsvoll aufbäumte, um bald vom kapitalistischen Empire (Hardt und Negri 2003) niedergerungen (be­ ziehungsweise wegignoriert) und letztlich auf dem Friedhof der Geschichte geschei­ terter Revolutionen begraben zu werden. Die Zeit der großen Revolutionen und der bewegenden Klassenpolitik scheint (vorerst) der Vergangenheit anzugehören. Beispiele für Akteure, Räume und Strategien des Bruchs in unserer heutigen Zeit sind entsprechend relativ rar gesät. Zu nennen wären hier zunächst Modelle der Vergangenheit, wie etwa die Pariser Kommune, der revolutionäre Stadtrat, der 1871 versuchte, die französische Hauptstadt gegen den Willen der Zentralregierung nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten. Auch zeitgenössische Beispiele wie besetzte Häuser, die mit zivilem Ungehorsam gegen staatliche Gewalt vertei­ digt werden, oder etwa Brandanschläge auf die Verkehrsinfrastrukturen der Deut­ schen Bahn können als raumpolitische Strategien des Bruchs interpretiert werden (siehe Tab.1, S. 136 f.). Eine Alternative zur Strategie des Bruchs sind Strategien der Metamorphose, die auf eine schrittweise Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen abzielen, bei der sich, gemäß des sprichwörtlichen steten Tropfen, der den Stein höhlt, ver­ gleichsweise geringfügige Veränderungen summieren, um langsam, aber sicher eine Transformation des Gesellschaftssystems herbeizuführen (Wright 2017, 435). Wright unterscheidet zwischen zwei Strategien der Metamorphose: Metamorphose durch Freiräume und symbiotische Metamorphose.

Transformation durch Freiraum Strategien der Metamorphose durch Freiräume erproben neue Möglichkeiten ge­ sellschaftlicher Emanzipation in den Nischen und Rissen der kapitalistischen Ord­ nung – „oft dort, wo sie keine unmittelbare Bedrohung der herrschenden Klassen und Eliten darzustellen scheinen“ (ebd., 415). Freiraumstrategien beruhen auf der Annahme, dass hegemoniale Regime niemals so allumfassend und lückenlos sind, dass sie sämtliche Räume durchdringen und Tätigkeiten bestimmen (ebd., 437). Freiräume sind demnach Zwischenräume und Risse innerhalb der h ­ errschenden

BRUCH, FREIRAUM, SYMBIOSE: URBANE TRANSFORMATIONSSTRATEGIEN  131

Machtstruktur, sie sind beziehungsweise ermöglichen richtige Räume im Falschen. Freiraumstrategien sind „die am tiefsten in der Zivilgesellschaft verankerten Stra­ tegien zur Entwicklung von Institutionen der gesellschaftlichen Ermächtigung“ (ebd., 415). Beispiele für Akteure, Räume und Strategien der Freiräume im urbanen Kon­ text sind etwa das Mietshäuser Syndikat, das sich für eine Dekommodifizierung des Wohnraums einsetzt, urbane Gärten, in denen transformative Bildungsarbeit ge­ leistet wird, und Praktiken des Urban Commoning, die Prozesse der solidarischen Gemeinschaftlichkeit auf nachbarschaftlicher Ebene anstoßen (siehe Tab.1, S. 136 f.). Freiraumstrategien stehen in der Kritik, die bestehenden Macht- und Herr­ schaftsverhältnisse nicht ernsthaft gefährden zu können. Weil es sich um Freiraum-Tätigkeiten handelt, wird ihnen unterstellt, nur Räume besetzen zu können, die der Kapitalismus ihnen „überlässt“ (ebd., 441). Sie laufen demnach sogar Ge­ fahr, bestehende gesellschaftliche Strukturen zu festigen, indem sie suggerieren, die Menschen könnten einfach aussteigen und sich in einem alternativen Umfeld einrichten, wenn sie mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind (ebd.). Letztlich, so die Kritik, stellen Freiraumprojekte also einen Rückzug vom politischen Kampf um radikalen gesellschaftlichen Wandel dar und nicht etwa eine gangbare Strategie zur Herbeiführung solchen Wandels. Bestenfalls können sie manchen Menschen das Leben in der Welt, wie sie heute beschaffen ist, ein wenig angenehmer machen; schlimmstenfalls ziehen sie Kräfte von der wirklichen politischen Herausforderung ab, die Welt zum Besseren zu ändern. (Ebd.)

Natürlich ist es möglich, dass sich Freiraumstrategien letztlich als Sackgasse er­ weisen und auf immer ein Nischendasein fristen. Möglich ist laut Wright unter be­ stimmten Voraussetzungen jedoch auch, dass sie langfristig einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel leisten. Strategien des Freiraums können zusam­ mengenommen nicht nur im Lebensalltag der Menschen einen wesentlichen Unter­ schied machen, sie haben das Potenzial, eine Schlüsselrolle bei der Erweiterung transformativer Möglichkeiten zu spielen (ebd., 415).

Transformation durch Symbiose Strategien symbiotischer Metamorphose unterscheiden sich laut Wright von Meta­ morphosen durch Freiraum vor allem im Hinblick auf ihre Beziehung zum Staat. Beide zielen darauf ab, Räume schrittweise zu transformieren. Während Freiraum­ strategien hierbei jedoch weitgehend am Staat vorbei arbeiten, versuchen symbio­ tische Strategien den Staat einzubeziehen und systematisch zum eigenen Vorteil zu nutzen (ebd., 436).

132  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

Strategien der Symbiose gehen davon aus, dass Bemühungen, die auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel abzielen, sich auf die ein oder andere Weise mit hegemonialen Strukturen auseinandersetzen und sie für ihre Zwecke zu nutzen wissen müssen (ebd., 452). Strategien sind demnach wirksamer und der Wandel wird wahrscheinlicher und nachhaltiger, wenn sie wichtige Interessen „herrschender Gruppen bedienen und reale Probleme lösen, denen das System als Ganzes gegenübersteht“ (ebd., 453). Symbiotische Strategien zielen laut Wright also gewissermaßen auf eine Win-­ win-Situation ab, die an historische Formen des Klassenkompromisses ­zwischen Arbeit und Kapital erinnert (ebd., 481). Die Demokratisierung des ­Kapitalismus hatte diesen Charakter: Die Demokratie ist das Ergebnis des Drucks sozialer ­Bewegungen, die anfangs als Bedrohung für die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft wahrgenommen wurden, obwohl die liberale Demokratie letztlich zur Bewältigung einer ganzen Reihe systemischer Probleme und damit zu besagter Stabilität beigetragen hat. Der Zugewinn an Emanzipation war real und trug zu­ gleich zu Problemlösungen bei, die im Interesse der herrschenden Klassen waren. Symbiotische Strategien sind also ambivalenten Charakters: Einerseits erweitern sie gesellschaftliche Macht, andererseits tragen sie zur Stabilität des Kapitalis­ mus bei (ebd., 415). Beispiele für Akteure, Räume und Strategien der Symbiose im urbanen Kontext sind etwa städtische Zukunftsräte, in der die Politik und Verwaltung gemeinsam mit einer breiten Öffentlichkeit Aktivitäten und Prozesse der nachhaltigen Stadtent­ wicklung fördert und entwickelt; der soziale Wohnungsbau, der eine Reaktion auf die sozialen Fragen darstellte, die Industrialisierung und Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts mit sich brachten; sowie Bürger- und Volksentscheide, mit denen die Zivilgesellschaft versucht, die Stadtpolitik auf Grundlage bestehenden Rechts vor sich herzutreiben (siehe Tab. 1, S. 136 f.). Diese Beispiele zeigen: Auch symbiotische Strategien haben das Potenzial, Handlungsspielräume für gesellschaftliche Emanzipation auszuweiten und wir­ kungsvolle Formen konstruktiver Kooperation zu schaffen (ebd., 484).

Strategischer Pluralismus als Königsweg der urbanen Transformation Welche der drei Transformationsstrategien ist die richtige? Kann überhaupt eine der drei Strategien von Erfolg gekrönt sein? Der pessimistischen Ansicht zufolge sind laut Wright ernst zu nehmende Brü­ che heute extrem unwahrscheinlich, während Freiraumstrategien Nischenphäno­ mene bleiben und symbiotische Strategien im Erfolgsfall die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus aufrechterhalten (ebd., 484 f.).

BRUCH, FREIRAUM, SYMBIOSE: URBANE TRANSFORMATIONSSTRATEGIEN  133

Der optimistischen Ansicht zufolge wissen wir nicht, welche systemischen Herausforderungen und transformativen Möglichkeiten sich in Zukunft ergeben werden: Heute angewandte Freiraumstrategien können in der Bevölkerung das Bewusstsein stärken, dass eine andere Welt möglich ist [...]; symbiotische Strategien haben das Potenzial, umfassendere Räume für das Wirken von Freiraumstrategien zu eröffnen; und die kumulative Wirkung eines solchen, an gesellschaftlicher Ermächtigung ausgerichteten Aufbaus von Institutionen könnte darin bestehen, unter unvorhergesehenen Zukunftsbedingungen Transformationen, die auf Brüchen basieren, zu ermöglichen. (Ebd., 485)

Laut Wright wird wahrscheinlich keine dieser Strategien für sich allein genom­ men den Herausforderungen einer Transformation genügen. Entscheidend ist es daher, dreierlei Dinge zu tun: bestehende Strukturen zu bekämpfen, dezentrale Strukturen von unten aufzubauen und zentralstaatliche Strukturen so zu transfor­ mieren, dass eine Große Transformation wahrscheinlicher wird (Scheidler 2017, 221). „Jeder plausible langfristige Transformationsverlauf wird auf Elemente al­ ler drei zurückgreifen müssen“ (Wright 2017, 492). Urban Transformation De­ sign sollte daher den Weg eines flexiblen strategischen Pluralismus verfolgen (ebd., 494).

5.5  Reale Utopien: Inventur urbaner Transformationen Eines wurde bereits deutlich: Das Rad wird hier nicht neu erfunden. Wie zur Illus­ tration der Transformationsstrategien durch Bruch, Freiraum und Symbiose gezeigt wurde, gibt es bereits zahlreiche Praxisbeispiele für das, was hier als Urban Trans­ formation Design bezeichnet wird. Gesellschaftlichen Transformationen gingen und gehen meist zahlreiche kleinteilige, molekulare Veränderungen voraus. Potenziale einer anderen Zukunft reifen langsam in der Gegenwart heran (Reißig 2015, 128). So lässt sich in urba­ nen Kontexten bereits heute ein unüberschaubares Patchwork heterogener Ansätze transformativer Orte, Akteure und Projekte mit unterschiedlichsten Bezeichnun­ gen finden: Einstiegsprojekte, kleine Transformationen, Nowtopias, Heterotopien, Transtopien, Mikro-Utopien, konkrete Utopien, reale Utopien, Reallabore, urbane Labore, Kiez-Labs, Living Labs, soziale Experimente … und einige mehr. Sie sind meist praktisch orientiert, erproben neue Formen des Wohnens, Arbeitens oder Wirtschaftens und dienen als Testfelder für die Erkundung alter­ nativer Lebensstile und sozialer Philosophien (Harvey 2014, 198). Sie wenden sich gegen die verantwortungslose Fortschreibung des business as usual und zeigen, wie Gegenentwürfe zur Leitkultur des kapitalistischen Wachstums auf der Grundlage von ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, politischer Teilhabe, kul­ tureller Vielfalt und solidarischer Gemeinschaftlichkeit schon heute praktiziert

134  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

werden können. Sie stützen sich auf „Pioniere des Wandels“, die helfen, neue Stra­ tegien zu entwickeln, an denen sich die gesellschaftliche Transformation orien­ tieren kann (WBGU 2011, 7). „Sie vermitteln zwischen Lokalität, Regionalität und Globalität – sind zugleich im Hier und Jetzt situiert und beziehen sich dabei auf übergreifende Zusammenhänge und langfristige Folgen“ (Brie 2015, 21). Urbane Transformationen und Pioniere des Wandels lassen sich auf allen räumlichen Ebe­ nen und in den verschiedensten Handlungsfeldern finden: von der Haushaltsebene über Nachbarschaften bis hin zu gesamtstädtisch-regionalen Raumbezügen; von Einzel­personen über zivilgesellschaftliche Initiativen, sozialen Protestbewegun­ gen, ­Stiftungen und ­Forschungsinstituten bis hin zu Regierungs- und Nichtregie­ rungsorganisationen (WBGU 2011, 261). „Oft beginnen sie als einzelne Individuen oder als kleine Gruppen in Nischen, wo sie zunächst kleinräumig und häufig nicht besonders sichtbar agieren“ (Reißig 2015, 129). Beispiele solcher urbanen Transformationen sollen nun exemplarisch sicht­ bar gemacht werden. Nachfolgend wird daher eine (unvollständige) Inventari­ sierung bestehender urbaner Transformationen vorgenommen (Tab.1, S. 136 f.). Die Bestandsaufnahme orientiert sich an Wrights Unterscheidung zwischen Transformationen durch Bruch, Freiraum und Symbiose, die sich gegen hege­ moniale Strukturen richten, sich in den Nischenräumen zwischen hegemonialen Strukturen einrichten, oder mit hegemonialen Strukturen zusammenarbeiten. Unterschieden wird hierbei zwischen Akteuren, Institutionen und Netzwerken; Räumen, Orten und Infrastrukturen; sowie Strategien, Praktiken und Technolo­ gien urbaner Transformation. Die Inventarisierung vermittelt einerseits einen Eindruck dessen, was Urban Transformation Design konkret sein kann und was für Beispiele hierfür bereits existieren. Sie bietet außerdem einen Fundus an Akteuren, Orten und Praktiken, die es im Sinne einer empirischen Fundierung und Weiterentwicklung der hier umrissenen Grundrisse des Urban Transformation Design begleitend zu untersu­ chen und gestaltend zu fördern gilt. Die Auswahl und Einordnung der urbanen Transformationen erfolgte intuitiv, auf Grundlage persönlichen Erfahrungswissens und be­ansprucht keine Vollständigkeit. Zu beachten ist, dass sich die „Fund­stücke“ nicht immer eindeutig und widerspruchsfrei einordnen lassen, da ihre Bedeutun­ gen und Eigenschaften oft mehrdeutig und die Grenzen der Inventur-Tabelle selbst fließend sind.

REALE UTOPIEN: INVENTUR URBANER TRANSFORMATIONEN  135

Akteure, Institutionen und Netzwerke Transformation durch Bruch gegen Markt und Staat

Rätedemokratien Stadtguerilla stadtpolitische Aktivistinnen urbane Protestbewegungen

Beispiele Deutsche Wohnen & Co enteignen! Ende-Gelände-Bündnis Extinction Rebellion Gelbwesten-Bewegung Recht-auf-Stadt-Bewegung Transformation durch Freiraum zwischen Markt und Staat

Aktionsbündnisse, Bürgerinitiativen Asambleas Bürgerplattformen/Nachbarschaftsräte Consejos Comunales gemeinnützige Stiftungen (Produktions-/Wohn-)Genossenschaften Juntas Vecinales Mieter(schutz)vereine, Mieterinnenberatung Netzwerke solidarischer Landwirtschaft Raumpioniere, Neulandgewinnerinnen Stadtmacher, City-/Change-Maker Smart Citizen Beispiele Arbeitskreis Kritische Geographie Mietshäuser Syndikat Peng! Collektive Stiftung trias Transition-Town-Bewegung

Transformation durch Symbiose mit Markt und Staat

kommunale infrastrukturelle Institutionen kommunale Verwaltung politische Parteien Public Private Partnerships Quartiers-/Stadtteilmanagement Sozialunternehmen/Social Startups städtische Wohnungsbaugesellschaften städtische Zukunftsräte städtische Zwischennutzungsagenturen Stadtteilparlamente

Beispiele AKS Gemeinwohl, Berlin C40-Netzwerk UN-Habitat

Urbane Liga ZwischenZeitZentrale, Bremen Tab. 1  Reale Utopien: Inventur urbaner Transformationen; angelehnt an Wright 2017, 413

136  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

Räume, Orte und Infrastrukturen

Strategien, Praktiken und Technologien

besetzte Häuser und Plätze blockierte Verkehrsflächen Protestcamps Wagenburgen

An- und Enteignung Besetzung und Blockade Demonstration und Protest Sabotage technischer Infrastrukturen Straßenkampf ziviler Ungehorsam

Beispiele Hambacher Forst Pariser Kommune Rigaer Straße, Berlin Stuttgart 21

Beispiele Parking Days

(temporäre) autonome Zonen Bioenergiedörfer, Ökodörfer Do-it-yourself-/Repair-Cafés Fab-Labs, Makerspaces Haus- und Wohnprojekte Nachbarschafts- und Straßenfeste Null-/Plus-Energie-/Öko-/Tinyhäuser Open Airs, Festivals, Straßenfeste Straßenuniversitäten/-küchen/-theater Umsonst-/Tauschläden urbane Gärten/Farmen Zwischennutzungen

Bauen mit alternativen Baustoffen Civic Tech Critical Mass Crowdfunding Urbanismus energetische Gebäudesanierung Kunst im öffentlichen Raum lokale Tauschringe/ -Währungen Nutzung des Umweltverbunds Recycling und Upcycling transformatives Community Organizing Urban Commoning urbanes Imkern

Beispiele Can Decreix, Frankreich El Campo de Cebada, Madrid Prinzessinnengärten, Berlin PlanBude, Hamburg WikiHouse

Beispiele CUCULA e.V.

freifunk.net Smart Citizen Kit Tauschmobil, Berlin Torekes

Fahrrad-Schnellstraßen Landschaftsschutzgebiete Nationalparks Öko-Städte Park & Ride-Stationen Shared Spaces Sozialwohnungen städtische Geflüchteten-Unterkünfte Wächterhäuser

(Bau-)Moratorien, Enteignungen Bürgerbegehren, Volksentscheide Bürgerhaushalt, partizipative Budgets Entsiegelung, Nachverdichtung Erbbaurecht/Erbpachtverträge konzeptgebundene Vergabeverfahren Kooperationsvereinbarungen Milieu-/Gewerbeschutzgebiete ÖPNV, multimodale Verkehrskonzepte Open Government Data Rekommunalisierung Rück-/Umbau städtische Leitbilder, IBAs

Beispiele Cirkelbroen, Kopenhagen Flussbad, Berlin Grandhotel Cosmopolis, Augsburg Haus der Statistik, Berlin High Line, New York

Beispiele Cities Coalition for Digital Rights, Berlin Lokale Agenda 2030 Runder Tisch Liegenschaftspolitik, Berlin Skybrudsplan, Kopenhagen Zukunftsstadt-Programm

REALE UTOPIEN: INVENTUR URBANER TRANSFORMATIONEN  137

5.6  (Nicht-)Intendiert | (Un-)Bewusst: Vier Arten des Urban Transformation Design Der Begriff der Strategie suggeriert, urbane Transformationen würden ausnahms­ los zielgerichtet und planvoll erfolgen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Viele haben es eigentlich nicht auf eine Große Transformation abgesehen und werden dement­ sprechend auch nicht als solche wahrgenommen. Viele der entsprechenden Akteure begreifen sich auch nicht als Urban Designer, als Urban Transformation D ­ esigner schon gar nicht. Was veranlasst mich trotzdem dazu, zu behaupten, es handele sich hierbei um Urban Transformation Design(er)? Weil es möglich ist, dass Akteure nicht da­ rauf abzielen zu transformieren, sich nicht bewusst sind, dass sie transformieren, und nicht wissen, dass so etwas wie ein Urban Transformation Design existiert – und doch das tun, was hier unter Urban Transformation Design verstanden wird. Urban Transformation Design kann auf vier unterschiedliche Arten erfolgen: nichtintendiert, intendiert, unbewusst, bewusst. Gemeinsam ist diesen Raum­ praktiken, dass sie das Potenzial haben, zur urbanen Transformation beizutragen. Sie unterscheiden sich erstens darin, ob Akteure die potenzielle transformative ­Wirkung ihres Handelns beachsichtigen oder ob es sich um eine unbeabsichtigte Folgeerscheinung handelt; zweitens ob sie sich der potenziellen Wirkungen ihres Handelns bewusst sind oder nicht; und ob sie sich drittens selbst als Urban Trans­ formation Designer verstehen und sich aktiv der Theorien und Methoden des Urban Transformation Design bedienen und diese weiterentwickeln oder nicht.

(Nicht-)Intendiertes Urban Transformation Design Nichtintendiertes Urban Transformation Design ist eine Art der Raumgestaltung, der unbeabsichtigterweise das Potenzial innewohnt, zur Transformation in Rich­ tung sozialökologischer Nachhaltigkeit beizutragen. Das Transformationspoten­ zial der jeweiligen Tätigkeit ist hierbei nicht das eigentliche Ziel des Handelns. Die Transformation ist nicht Teil einer umfassenden Strategie, die auf gesellschaftli­ chen Wandel abzielt, sondern schlicht ein Nebenergebnis der Tätigkeit handelnder Akteure, die eigentlich auf andere Ziele ausgerichtet ist. „Ups, transformiert!“ ist der Sound des nichtintendierten Urban Transformation Design. Es folgt nicht der Logik eines change by disaster or change by design, sondern ist ein design by ­accident. Nicht­ intendierte Transformationen sind Kollateraltransformationen, sie sind Begleit­ erscheinungen. Dies muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die mögliche trans­ formative Wirkung nicht erwünscht ist, sondern vielmehr, dass die umfassenderen Wirkungen des Handelns „nicht Bestandteil der Absichten und Strategien waren, aufgrund derer die Handlungen begangen wurden“ (Wright 2017, 407). In diesem Fall „führen Menschen bestimmte Handlungen aus, nicht im Bemühen, die Welt

138  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

zu ändern, sondern um bestimmte Probleme zu lösen, mit denen sie sich konfron­ tiert sehen“ (ebd., 406 f.). Das grundlegend andere, das hierbei entstehen kann, ent­ springt keinem bewussten Vorhaben, sondern schlicht dem, was Menschen fühlen, denken und tun, während sie im Alltag nach Sinn suchen. Der nichtintendierten Transformation diametral entgegengesetzt ist das in­ tendierte Urban Transformation Design. Akteure handeln hier aktiv, zielgerichtet und planvoll mit der bewussten Absicht, grundlegend andere Räume zu gestalten beziehungsweise mit der Gestaltung von Räumen zu einer grundlegenden Verän­ derung der Gesellschaft beizutragen. Die bewusste Absicht zu transformieren be­ fähigt handelnde Akteure dazu, ihre Tätigkeiten gezielt an die angestrebten Ziele anzupassen und planvoll vorzugehen. Es versetzt sie in die Lage, all die Dinge ab­ zustecken, die für strategisches Handeln notwendig sind: „Was ist das Problem? Was sind mögliche Lösungen? Was sind meine Ressourcen? Wer sind meine Part­ ner? Was sind die Hindernisse? Wie kann ich diese überwinden?“ (siehe Tab. 2).

(Un-)Bewusstes Urban Transformation Design Neben der Frage, ob Akteure Räume zielgerichtet transformieren oder nicht, kann man unterscheiden, ob sie unbewusst oder bewusst transformationsorientiert ­handeln. Hiermit sind zwei Dinge gemeint: Transformationsorientiert handelnde Ak­ teure können realisieren, ob ihre Handlungen ein transformatives Potenzial haben oder nicht.1 Sie können sich also dessen bewusst sein, was sie tun, oder nicht. Dies ist die erste Bedeutung der Unterscheidung zwischen unbewusst und bewusst. Im Sinne Rosa Luxemburgs Aphorismus „unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken“ kann dies für das Handeln in urbanen Kontexten bedeuten: Auf so­ zialräumliche Kontexte einzuwirken kann bedeuten zu transformieren, ohne es zu merken. Manche dieser intendierten oder nichtintendierten, bewussten oder unbewus­ sten Transformationen sind „an systematisch ausgearbeitete Theorien gesellschaft­ licher Transformation gekoppelt“, andere nicht (Wright 2017, 439). Hier kommt die zweite Bedeutung des Begriffspaars unbewusst/bewusst ins Spiel. Transformations­ orientiert handelnde Akteure können sich der Existenz des hier skizzierten Kon­ zepts eines Urban Transformation Design bewusst sein, sich entsprechend selbst als Urban Transformation Designer verstehen und sich der hier umrissenen Theo­ rien und Methoden eines Urban Transformation Design bewusst bedienen und sich 1

Hier ist bewusst die Rede von „transformationsorientiertem Handeln“ und Akteuren, deren Handeln ein „Transformationspotenzial“ innewohnt (anstelle von „transformierenden Akteuren“ und „transformativem Handeln“ zu sprechen), weil sich eine transformative Wirkung (wenn überhaupt) nur retrospektiv nachvollziehen und beurteilen lässt – und zwar erst wenn und nachdem ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel tatsächlich stattgefunden hat.

(NICHT-)INTENDIERT | (UN-)BEWUSST: VIER ARTEN DES URBAN TRANSFORMATION DESIGN  139

auf diese berufen oder nicht. Tun sie dies nicht, würde ich behaupten: Sie mögen unabsichtlich transformationsorientiert handeln, sich dem transformativen Wir­ kungspotenzial ihres Handelns womöglich nicht bewusst sein und auch von Urban Transformation Design nie etwas gehört haben – und doch sind sie, nach meinem Verständnis, Urban Transformation Designer. Denn sie wissen nicht, was sie tun – und tun es doch.

unbewusst

nichtintendiert

intendiert

nichtintendiert-unbewusstes Urban Transformation Design

intendiert-unbewusstes Urban Transformation Design

„Meinem Handeln wohnt ein Transformationspotenzial inne, ohne dass ich es ­ursprünglich darauf abgesehen habe und ohne dass ich mir dessen bewusst bin.“

bewusst

nichtintendiert-bewusstes Urban Transformation Design „Ich bin mir bewusst, dass meinem ­Handeln ein Transformationspotenzial innewohnt, ohne dass ich es ursprünglich ­darauf abgesehen habe.“

„Ich handle gezielt transformationsorientiert, ohne mir bewusst zu sein, dass das, was ich tue, Urban ­Transformation ­Design ist, und ohne mich der Theorien, ­Strategien und Werkzeuge des Urban Transformation Design zu bedienen.“ intendiert-bewusstes Urban Transformation Design „Ich handle gezielt transformationsorientiert, verstehe mich als Urban Transformation Designer und nutze bewusst die Theorien, Strategien und Werkzeuge des Urban Transformation Design.“

Tab. 2  (Nicht-)Intendiert | (Un-)Bewusst: Vier Arten des Urban Transformation Design

Durch die Unterscheidung zwischen nichtintendiert, intendiert, unbewusst und bewusst ergeben sich vier unterschiedliche Arten des Urban Transformation De­ sign: nichtintendiert-unbewusstes, nichtintendiert-bewusstes, intendiert-unbewusstes und intendiert-bewusstes Urban Transformation Design (siehe Tab. 2). Diese Unter­ scheidung mag auf den ersten Blick kompliziert, gar paternalistisch erscheinen. Tatsächlich, so behaupte ich, ist diese Unterscheidung für das Projekt einer urba­ nen Transformation sehr wichtig. Paternalistisch ist sie nicht, weil sie nicht darauf abzielt, handelnden Akteuren von außen eine bestimmte Sicht darüber aufzudrän­ gen, wie sie sich selbst und ihr Handeln wahrzunehmen haben. Es ist vielmehr ein Angebot dahin gehend, wie sie das, was sie tun, und die Bedeutung, die ihnen durch ihr Handeln zukommt, – wenn sie wollen – in einem neuen Licht sehen: durch die Brille eines Urban Transformation Design. Durch die Unterscheidung ergeben sich drei Vorteile: Erstens, so glaube ich, stiftet sie Mut und Hoffnung. Die Unterscheidung ermöglicht uns wahrzunehmen, dass es in urbanen Räumen bereits die unter­ schiedlichsten Beispiele für erfolgreiches Urban Transformation Design gibt, die vor ­alternativen Möglichkeiten nur so strotzen (Harvey 2014, 21). Die konzeptio­ nelle Entwicklung eines Urban Transformation Design muss demnach nicht bei

140  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

null anfangen, sondern kann bereits auf einen reichen Fundus an transformations­ orientierten Orten, Akteuren und Projekten zurückgreifen, von denen es zu lernen gilt. Diese Erkenntnis ist auch deshalb so wichtig, weil, wie der WBGU richtiger­ weise feststellt, global und lokal die Wahrnehmung der Stärke all jener Akteure fehlt, „die sich an der Transformation längst bewusst oder unbewusst beteiligen“ (WBGU 2011, 255). Dies führt uns zum zweiten Vorteil, denn die Unterscheidung kann Identität und Gemeinschaftssinn stiften. Sie ermöglicht einer Vielzahl ganz unterschiedli­ cher Akteure, zwischen deren Handeln auf den ersten Blick kein Zusammenhang zu bestehen scheint, zu erkennen, dass sie etwas Grundlegendes gemeinsam ha­ ben: Ihrem Handeln wohnt ein Transformationspotenzial inne. Das Bewusstsein um diese Gemeinsamkeit kann, bei aller Differenz, wiederum das Gefühl kollek­ tiver Identität stiften und stärken, das, wie vergangene Transformationen zeigen, fundamental wichtig für soziale Bewegungen ist, die die Triebfeder gesellschaftli­ chen Wandels sind. Aus einer transformativen Klasse an sich kann so eine Klasse für sich erwachsen. Aus Einzelkämpferinnen und -kämpfern kann sich so eine kri­ tische Masse bilden. Neben Mut, Hoffnung und kollektivem Selbstbewusstsein kann die Unter­ scheidung drittens zu einer wirkungsvolleren und beschleunigten Transformations­ praxis beitragen. Dass Zuversicht und Wir-Gefühl positiv zu einer Transformation beitragen, liegt auf der Hand. Darüber hinaus bietet uns diese Unterscheidung eine weitere Grundlage zur Identifikation und Untersuchung bestehender Transforma­ tionspraktiken und hilft uns herauszufinden, unter welchen Umständen transfor­ mationsorientiertes Handeln effektiver und wirkungsvoller ist.

Für ein intendiert-bewusstes Urban Transformation Design Meine These, die es durch die Untersuchung von transformationsorientierten ­Orten, Akteuren und Projekten zu prüfen gilt, lautet, dass intendierte Transformationen letztlich zielführender sind als nichtintendierte und bewusste Transformationen in der Regel wirkungsvoller als unbewusste (siehe Abb. 5). Die vier Arten des Urban Transformation Design sollen hier keineswegs gegen­ einander ausgespielt werden. Jede dieser vier Transformationsweisen hat ihre Da­ seinsberechtigung. Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen sind immer das Ergebnis der Interaktion zweier unterschiedlicher Prozesse: erstens der Anhäufung unbeabsichtigter Nebenergebnisse der Handlungen von Menschen, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wirken; zweitens der ­Anhäufung beabsichtigter Wirkungen jener bewusst betriebenen Projekte gesellschaftlicher ­Ver­änderung, die von Menschen vorangetrieben werden, die strategisch handeln. (Wright 2017, 406)

(NICHT-)INTENDIERT | (UN-)BEWUSST: VIER ARTEN DES URBAN TRANSFORMATION DESIGN  141

bewusst

5  Für ein intendiert-­ bewusstes Urban ­Transformation Design

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unbewusst

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nichtintendiert

intendiert

Dieses Zusammenwirken nichtintendierten und unbewussten gesellschaftlichen Wandels mit intendierten und bewussten Strategien der Transformation „hat jede größere zeitgenössische Episode emanzipatorischer Transformation ausgezeich­ net“ (ebd., 408). Alle vier Transformationsweisen sind für die urbane Transforma­ tion wesentlich. Mit den vier Arten des Urban Transformation Design verhält es sich also ähnlich wie mit dem vorgeschlagenen flexiblen strategischen Pluralismus der drei Transformationsstrategien: Jeder plausible langfristige Transformations­ verlauf wird auf alle vier zurückgreifen müssen. Und doch, so meine These, ist intendiert-bewusstes Urban Transformation Design auf lange Sicht das wirkungsvollste. Je intendierter und bewusster transfor­ mationsorientiert gehandelt wird, desto wirkungsvoller und schneller die Transfor­ mation. Denn nennenswerte Schritte in Richtung Transformation sind „nichts, was sich einfach zufällig einstellen wird, als Nebenprodukt eines an anderen Zwecken ausgerichteten gesellschaftlichen Handelns“ (ebd., 407). Einfach gesagt: Die Trans­ formation fällt nicht vom Himmel, die Welt transformiert sich nicht von allein. Zu­ mindest nicht in die hier gewünschte Richtung. Sie erfordert vielmehr … eben, ein Urban Transformation Design.

142  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

5.7  Die 20 transformativen Antihelden: Typologie urbaner Transformation Designer I want to build a team of some very bad people who I think can do some good.  Geheimagentin Amanda Waller (Ayer 2016)

Urban Transformation Design erfordert eine Selbsttransformation des Urban De­ sign. Die Selbsttransformation des Urban Design wiederum bedarf eines Selbst­ designs von Urban Designern. Aus Urban Designern müssen Urban Transforma­ tion Designer werden. Wer oder was aber ist ein Urban Transformation Designer? Und wie könnte ein Selbstdesign zum Urban Transformation Designer aussehen? Einen Hinweis gibt uns hier die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias. Laut Elias stehen die Sozio- und Psychogenese, also die Veränderung von ­Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen, in einer wechselseitigen Beziehung (Elias 1997 [1939]a, b). Demnach sorgen nicht nur sozialräumliche Verhältnisse für Transformationshemmnisse und Pfadabhängigkeiten der gesellschaftlichen Ent­ wicklung, sondern auch die mentalen Infrastrukturen2 der Menschen (Welzer 2011). Die Transformation des Urbanen erfordert daher nicht nur die grundlegende Veränderung der äußeren, sozialräumlichen Infrastrukturen menschlicher Lebens­ räume, sondern auch einen tief greifenden Wandel der mentalen Infrastrukturen derer, die sie gestalten (Sommer und Welzer 2014, 106). Ohne inneren Wandel kann es keinen äußerlichen Wandel geben. Die Selbsttransformation des Urban D ­ esign geht also Hand in Hand mit der Suche nach neuen Selbstverständnissen, Rollenund Berufsbildern. Doch sind solche Selbstdesigns überhaupt frei gestaltbar? Die Transformation mentaler Infrastrukturen entzieht sich weitgehend unserer Kontrolle. „Da sie aus vorwiegend unbewussten Praktiken, Routinen, Gewohnheiten, Wahrnehmungs­ mustern etc. bestehen, muss ihre Veränderung vor allem praktisch vorgenommen werden“ (ebd.). Eine Veränderung der Haltungen und Handlungen von Urban De­ signern kann also nicht einfach so mit dem Entwurf eines Selbstdesign postuliert oder eingefordert werden, sondern nur mit der Etablierung neuer sozialräumlicher Strukturen gelingen (ebd.). Mit der Inventarisierung urbaner Transformationen (S. 136 f.) verfügen wir ­bereits über Beispiele, die zeigen, wie die Etablierung neuer sozialräumlicher Struk­ turen im Kontext urbaner Transformation konkret aussehen kann. Diese neuen ­sozialräumlichen Strukturen implizieren wiederum neue mentale Verhältnisse de­ rer, die für ihre Gestaltung verantwortlich sind. (Nicht-)intendiert oder (un-)bewusst 2

Der Begriff der mentalen Infrastrukturen wurde von dem Sozialpsychologen Harald Welzer geprägt und in die Transformationsdebatte eingebracht, um die Rolle von historisch gewachsenen kulturellen Prägungen und Denkmustern für gesellschaftliche Veränderungen zu beleuchten, die (oft unbewusst) in die Innenwelt der Menschen eingeschrieben sind und ihre Wünsche, Entscheidungen und Handlungen prägen (Welzer 2011).

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  143

liegen den inventarisierten Akteuren und Institutionen, Räumen und Orten, Strate­ gien und Praktiken urbaner Transformation vermutlich auch transformative Selbst­ designs zugrunde. Auf Grundlage und mithilfe der Inventarisierung soll daher nun experimentell und spekulativ eine Typologie urbaner Transformation Designer ent­ wickelt werden: die transformativen Antihelden.

Transformative Antihelden: Versuch eines Selbstdesigns Die Bewältigung gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen und der kol­ lektive Kraftakt, den ein tief greifender Wandel erfordert, scheinen nahezu unmög­ lich zu sein – mission impossible. Um diese scheinbar unmögliche Mission möglich zu machen, braucht es Personen, die imstande sind, Außergewöhnliches zu leisten. Man könnte sage: Wir brauchen Heldinnen und Helden. Helden sind Personen, die Heldentaten vollbringen, also besondere, außeralltägliche Leistungen. Indem Pio­ niere des Wandels Räume transformieren und außeralltägliche Möglichkeitsräume schaffen, vollbringen sie, wenn man so will, Heldentaten. Der ein oder andere selbstgerechte Pionier mag sich in humanistischer Hyb­ ris tatsächlich als heroischer Weltenretter gebaren – vom Gros der Gesellschaft wird er jedoch mitnichten als solcher betrachtet. Die Transformationsforschung zeigt im Gegenteil, dass Pioniere des Wandels vielmehr von einer „sozialen Außensei­ terstellung“ (WBGU 2011, 258) und „sozialer Marginalität“ geprägt sind (ebd., 259). Der WBGU spricht hier von einem „marginalen Milieu der Außenseiter und ‚Quer­ denker‘“ (ebd., 277). Der Transformationsforscher Michael Brie (2010, 15) bezeich­ net mit dem „Transformations-Paradoxon“ passenderweise das Phänomen, dass all jene, die Wege jenseits bestehender Herrschaftsstrukturen und konventioneller Entwicklungspfade betreten, sich gleichsam ins soziale Abseits bewegen und ent­ sprechend an Wirkmacht und Einfluss einbüßen. Macht und Einfluss jedoch, den sie bräuchten, um die Verhältnisse wirklich ändern zu können. Wenn man genau hinschaut, kündigt sich das Dilemma bereits im Namen an. Pioniere des Wandels heißen, wie sie heißen, weil sie vorangehen und einen Wan­ del anstoßen. Das Anstoßen eines Wandels provoziert Widerstand, gegen den es transformative Kraft aufzuwenden gilt. Bei diesem Widerstand handelt es sich um die Trägheit des Status quo. Der Widerstand kann als Widerstreit verstanden wer­ den, als ein Antagonismus zwischen jenen, die wollen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändern, und jenen, die wollen, dass sie bleiben, wie sie sind. Sto­ ßen Pioniere des Wandels mit ihrer transformativen Kraft gegen die Trägheit des Status quo, stoßen sie zugleich, ob sie wollen oder nicht, in einen Konflikt mit dem common sense. Vom hegemonialen Standpunkt aus betrachtet handelt es sich bei Pionieren des Wandels daher weniger um Helden, sondern vielmehr um outlaws, agent provocateurs und personae non gratae, die es erst zu ignorieren, dann zu belächeln und

144  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

schließlich zu bekämpfen gilt. Angesichts dieser wenig ruhmreichen Außenseiter­ stellung muss man als kleiner Pionier wohl entweder sehr mutig oder sehr dumm sein, um sich an die undankbare Aufgabe einer Großen Transformation zu wagen … Oder aber man verfügt über ein Alter Ego, das es einem ermöglicht, mit den eigenen Widersprüchen und den Ambivalenzen positiver wie negativer Selbst- und Fremd­ wahrnehmung auf spielerische Weise umzugehen. Genau dies ermöglicht uns der Habitus des transformativen Antihelden. Die ­Figur des Antihelden stammt aus der Literaturwissenschaft und stellt einen Gegen­ entwurf zur traditionellen Figur des Helden dar. Das „Anti-“ bezieht sich nicht auf den Helden, sondern auf die nicht vorhandenen heroischen Eigenschaften. Wäh­ rend Helden positiv besetzte Charaktere mit übermenschlichen Fähigkeiten und Tugenden sind, handelt es sich bei Antihelden um zutiefst menschliche underdog-Figuren, die durch eine humanitäre, (selbst-)kritische und nonkonforme Hal­ tung gekennzeichnet sind. Antihelden werden vom Gang der Dinge getrieben. Sie sind den E ­ inflüssen ihrer Umwelt ausgesetzt und kaum in der Lage, Entwicklungen und ­Ereignisse aktiv zu beeinflussen. Der Anschein ihres unabwendbaren Schei­ terns macht sie zur tragikomischen Figur. Es sind jedoch gerade diese allzu mensch­ lichen Schwächen, die den Antihelden sympathisch machen und zur Identifikation einladen (Bücher Wiki o. J.; Lexikon der Filmbegriffe 2012). Das cape des Antihelden scheint Pionieren des Wandels wie auf den Leib ­geschneidert. Es ist der ideale Habitus zur spielerischen Exploration möglicher Selbstdesigns urbaner Transformation Designer. Die affirmativ-empathische Iden­ tifikation mit dem Habitus des Antihelden und die Bejahung der ihnen zu eigenen Negativität ist Understatement und Statement zugleich. Als Understatement nimmt es dem bierernsten Idealismus, dem Pathos und dem latenten Größenwahn, den man als Urban Transformation Designer zu brau­ chen scheint, die moralische Schwere. Es erlaubt eine ironische Distanz – ohne da­ bei jedoch die Sache selbst aus den Augen zu verlieren. Das Statement wiederum, gerne und mit Spaß daran, ein enfant terrible und ein Querulant zu sein, kann den fremdbestimmten Blick umkehren und das Schick­ sal als Pionier des Wandels im Gegenteil als etwas Attraktives und Begehrens­wertes erscheinen lassen. Es handelt sich gewissermaßen um einen rhetorisch-strategi­ schen Schachzug. Wie der Philosoph Hegel sagte: Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst angreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht. (Hegel 1986 [1841], o. S.)

Minus mal minus gleich plus. Die Koketterie mit der Negativität verkehrt das ­ursprünglich Negative ins Positive und nimmt ihr so ihren Schrecken. Mit der lustvollen Identifikation mit dem underdog- und Nischendasein, einem offe­ nen und­­humorvollen Umgang mit den eigenen Schwächen, Ambivalenzen und

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  145

­ mbiguitäten, hebt man die Widersprüche gewissermaßen auf und entkräftet so die A Negativität des hegemonialen Urteils. So bietet das Alter Ego des Antihelden Pionie­ ren des Wandels letztlich die Möglichkeit eines selbstbestimmten Selbstentwurfs. Das Alter Ego des Antihelden ist der archetypische Habitus des Urban Trans­ formation Design. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung verstand unter Arche­ typen „die im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher ­Vorstellungsmuster“, die er auch als „Kategorien der Imagination“ und „représen­ tation collectives“ bezeichnete (Jung 2015, 55 f.). Jung war der Meinung, man solle sich, wenn man überhaupt anders kann, nie mit einem einzelnen Archetypus iden­ tifizieren (ebd., 126). Der Habitus des transformativen Antihelden ist daher ein „gespaltener Ha­ bitus“ (Eribon 2016, 12). Urban Transformation Designer haben einen Schizo­ charakter. Er ist in verschiedene Rollen aufgespalten. Kontextabhängig kann man als Urban Transformation Designer in Personalunion verschiedene Rollen inne­ haben, die sich durchaus überlagern und widersprechen können. Es gibt nicht den einen Antihelden. Es gibt ein ganzes Team an Antihelden. Die Frage, die man sich als Urban Transformation Designer stellen kann, lautet daher: „Welcher Antiheld bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Die Möglichkeiten verschiedener Selbstbilder und Rollenangebote als Urban Transformation Designer werden nachfolgend auf spielerische und explorative Weise anhand einer Typologie 20 transformativer Antihelden (Abb. 6) veranschau­ licht. Da die Gestaltung der Antihelden intuitiv erfolgte und eine Synthese der ge­ samten Arbeit darstellt, handelt es sich hierbei um eine Entwurfsleistung. Die Anti­ helden verfügen über Namen, Eigenschaften und Werkzeuge. Die Namen werden bewusst durch meist negativ konnotierte Begriffspaare bezeichnet, die einen asso­ ziativen Bedeutungsraum aufspannen und die Leserinnen und Leser einladen, sich auf Grundlage der eigenen Erfahrung deutend in Beziehung zu setzen. Die Eigen­ schaften beschreiben charakterliche Werte, Haltungen und individuelle Persönlich­ keitsmerkmale. Die Werkzeuge umfassen exemplarische Kompetenzen, mit denen die Antihelden ihre Werte und Haltungen in die Tat umsetzen.

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6  Die 20 transformativen Antihelden

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  147

1.  Agitatorinnen & Anstifter

Eigenschaften Agitatorinnen und Anstifter sind Multiplikatorinnen und Katalysatoren einer trans­ formativen Raumpraxis. Sie vermitteln komplexe Sachverhalte wie die Einsicht in die Notwendigkeit und die möglichen Wege und Hindernisse der Transformation auf verständliche Weise. Sie regen zu neuen Diskursen an, stimmen nachdenklich, informieren und ermächtigen und ermutigen zum Handeln. Als agent provocateur reizen sie zum konstruktiven Konflikt und stellen ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Erfahrung anderen Teilen der Gesellschaft zur Verfügung, um diese ihrerseits zur Agitation anzustiften.

Werkzeuge bauliche Intervention Counter-Mapping Infografik kritische Lehre und öffentliche Rede Manifest, Streitschrift und Pamphlet Werkzeugkasten/Toolbox

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2.  Amateure & Dilettantinnen

Eigenschaften Amateure und Dilettantinnen sind „einfache Leute“, die mit der Lösung von All­ tagsproblemen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld einen Beitrag zur Transfor­ mation leisten. Als individuelle Stadtmacherinnen, Raumpioniere und Neuland­ gewinnerinnen und gemeinschaftlich organisiert in Mieterräten, bürgerschaftlichen Initiativen und stadtpolitischen Vereinen tragen sie informell und lokal zum Wan­ del von unten bei. Diese Bürgerwissenschaftler und Do-it-yourself-Gestalterinnen haben verstanden, dass ihr Recht auf Stadt mit einer Verantwortung für Stadt ein­ hergeht und dass die Welt sich nicht von alleine transformiert, sondern aktive change­ maker braucht. Doch auch Leute vom Fach schlüpfen im Kontext der Trans­ formation zwangsweise in die Rolle von Amateuren und Dilettantinnen. Da, wo sie von konventionellen ­Entwicklungspfaden abweichen, betreten sie unweigerlich­ ­wissensterritoriales Neuland.

Werkzeuge Bürgerbeirat/-gutachten Bürgerinnenplattform Crowdfunding Urbanismus transformatives Community Organizing urbanes Gärtnern urbane Tauschringe

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  149

3.  Bastlerinnen & Tüftler

Eigenschaften Bastlerinnen und Tüftler sind lebende Schweizer Taschenmesser. Mit handwerk­ lichem Geschick, Improvisationsvermögen und Lust am Selbermachen sind sie ­äußerst erfindungsreich im Umgang mit begrenzten Mitteln. Wie Wünschelruten­ gänger nehmen sie den Angebots- und Aufforderungscharakter ihrer Umwelt war und wissen so vorhandene Ressourcen ausfindig zu machen und deren Möglichkei­ ten auszuschöpfen. Nach dem Motto reduce, reuse, recycle sind sie als bricoleurs be­ sonders spitzfindig darin, den präfabrizierten Angeboten der urbanen Lebenswelt in Bastel- und Reparaturarbeit neue Bedeutung zuzuweisen. Sie gehen hierbei nach Suffizienzkriterien vor und streben nach dem kleinstmöglichen Eingriff im Bestand. Aus Nöten der Austerität und Ressourcenknappheit machen sie so eine Tugend.

Werkzeuge Handwerk/Bauworkshop Inventarisierung Kartierung/Mapping Leerstandsmanagement/Zwischennutzung Urban Coding Urban Prototyping

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4.  Deserteure & Dissidentinnen

Eigenschaften Deserteure und Dissidentinnen sind transformative Vigilanten. Als impulsive Hitz­ köpfe mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn machen sie ihrem Frust an den gesell­ schaftlichen Verhältnissen auf unmittelbarem Wege Luft. Sie fackeln nicht lange und ziehen die Aktion der Kontemplation vor. Ihr plebejischer Zorn richtet sich hierbei gegen unrechtmäßige Eliten und jegliche Form von Obrigkeit. Recht und gerecht sind für sie zwei verschiedene paar Schuhe, Selbstjustiz ein probates Mit­ tel. In Robin Hood’scher Manier stellen Deserteure und Dissidentinnen das sozial­ ökologische Gleichgewicht wieder her, indem sie hier nehmen und dort geben, hier in Schutz nehmen und dort preisgeben. Mit ihrer radikal-subversiven Haltung ste­ hen sie in anarchistisch-revolutionärer Tradition und befürworten daher Transfor­ mationsstrategien des Bruchs. Mal mag ihr Wirken von Erfolg geprägt sein, nicht selten stehen sie sich mit ihrem Kohlhaas’schen Gerechtigkeitsfuror jedoch selbst im Wege.

Werkzeuge An- und Enteignung Besetzung und Blockade Demonstration und Protest Intervention im öffentlichen Raum Sabotage technischer Infrastrukturen ziviler Ungehorsam

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  151

5.  Emanzen & Hysteriker

Eigenschaften Emanzen und Hysteriker sind die Speerspitze der geschlechtspolitischen Transfor­ mation. Der Wandel der Geschlechterverhältnisse ist für sie Bedingung für das Ge­ lingen grundlegender gesellschaftlicher Veränderung. Sie entlarven, wie Räume von unfreiheitlichen Geschlechterrollen durchdrungen sind und zur (Re-)Konst­ ruktion von unterwerfender Geschlechtlichkeit und sexueller Identität beitragen. Sie gestalten offene Räume, frei von geschlechtlichen Diskriminierungen, Stereo­ typisierungen und Sexismen, die im Gegenteil einen spielerisch-experimentellen Umgang mit den Ambivalenzen sexueller Identität ermöglichen. In ihrem missio­ narischen Eifer drohen Emanzen und Hysteriker erfolgreich zu scheitern, wenn sie mehr Feinde finden, als Schulterschlüsse suchen.

Werkzeuge Gender Design Spatial/Data Feminism

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6.  Faulpelze & Schnarchnasen

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Eigenschaften Für Faulpelze und Schnarchnasen ist das Private politisch. Als konsequente Idealis­ ten versuchen sie die Ziele der Transformation in ihre persönlichen Lebens­entwürfe zu integrieren und als Trendsetter mit gutem Vorbild voranzugehen. Um zu zeigen, dass das richtige Leben im falschen möglich ist, finden und schaffen sie Nischen jenseits des Leistungsdogmas, in denen sie gemeinsam mit Gleichgesinnten mit alternativen Wohn-, Arbeits- und Konsummodellen experimentieren. Je behagli­ cher sie es sich in ihren Wohlfühloasen einrichten, desto größer wird hierbei die Gefahr, sich selbstgerecht ins Private zurückzuziehen und das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

Werkzeuge Arbeitszeitverkürzung Demokratisierung von Arbeitsverhältnissen Einkommens-Sharing Gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitsmodelle Job-Sharing Prosuming

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7.  Hackerinnen & Geeks

Eigenschaften Hackerinnen und Geeks sind Experten für die digitale Transformation. Als techno­ logieaffine Nerds mit transformativer Aufklärung distanzieren sie sich entschieden von den technotopischen Smart-City-Visionen der Gegenwart. Genauso weltfremd erscheint ihnen aber auch die technologiefeindliche Zurück-auf-die-Bäume-­­Men­ talität mancher Links-Lokalisten. Hackerinnen und Geeks begreifen die Digitalisie­ rung als eine Tat-Sache, deren Potenziale es im Sinne der Transformation in Rich­ tung sozialökologischer Nachhaltigkeit optimistisch und gestaltend zu nutzen gilt. Als Smart Cit­izen verfügen sie über eine ausgeprägte Digitalkompetenz, die sie be­ fähigt, digitale Vorgänge zu verstehen, kritisch zu hinterfragen und selbst zu entwi­ ckeln, zu nutzen und zu verändern. Sie orientieren sich hierbei an bereits existenten Ansätzen emanzipativer Digitalisierung wie Open Data, Civic Tech, E-Partizipation und anderen mehr.

Werkzeuge Civic Technology/ -Hacking Digital/Data Literacy E-Partizipation Gestaltung digitaler öffentlicher Infrastrukturen Open (Government) Data Programmierkenntnisse

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8.  Komödiantinnen & Witzfiguren

Eigenschaften Komödiantinnen und Witzfiguren begegnen dem Ernst unserer krisenhaften Gegenwart mit einer gesunden Portion Humor. Dieser ist mal Selbstzweck, mal stellt er sich in den Dienst einer transformativen Agenda und wird tendenziös. Der tendenziöse Witz ist Waffe und Medizin, Auflehnung und Befreiung zugleich. Als Waffe richtet er sich frech und provokant gegen Missstände, Unrecht und unrecht­ mäßige Eliten, die er auf entblößende Weise karikiert und persifliert. So ermöglicht er es auf lustvolle Weise, kritischen, zynischen und feindseligen Neigungen nach­ zugehen. Als Medizin hingegen ermöglicht der Witz eine Linderung des Leids an den Verhältnissen. Er ist ein lustvolles Ventil für den Frust am Status quo und am enttäuschten Begehren nach einer anderen Welt. Der Witz ist Rebellion und Resi­ gnation zugleich. Er kann subversive Energien freilegen oder aber lahmlegen und den Willen zum Wandel im Gelächter ersticken.

Werkzeuge Slapstick-Praktik Theorie-Parodie

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  155

9.  Kulturbanausen & Vagabundinnen

Eigenschaften Kulturbanausen und Vagabundinnen sind kulturphilosophische Weltenbummler. Die Probleme, die unserer Zivilisationskrise zugrunde liegen, müssen für sie an der Wurzel gepackt werden. Für sie stehen daher die dualistischen Grundlagen unse­ res europäisch-okzidentalen Denkens in Sein und Nicht-Sein, Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Stadt und Land, die auf die Philosophen der Antike und die Apo­ logetinnen der Aufklärung zurückgehen, ultimativ auf dem Prüfstand. Als wich­ tigste Ressource zum Wandel des eigenen Denkens und Handelns gelten ihnen alte Texte und fremde Kulturen, von denen es zu lernen gilt. Die größten Gefahren für das Scheitern der Transformation sind in ihren Augen der universalistische westli­ che Kulturimperialismus und die homogenisierende Wirkung der kapitalistischen Moderne, die alles gleichmachen.

Werkzeuge Best-/Worst-Practice-Referenzen doing universality multi-/transkulturelle Philosophie Reisen und Lesen Sprachkenntnisse

156  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

10.  Kuppler & Brokerinnen

Eigenschaften Kuppler und Brokerinnen sind gesellige Partizipationskünstler. Ihrer Überzeugung nach muss eine Raumpraxis, die die Welt verändern will, die Gesellschaft einbezie­ hen. Niemand beherrscht es so gut, Leute ab- und mit ins Boot zu holen. Kuppler und Brokerinnen agieren im Spannungsfeld zwischen Top-down und Bottom-up, Formalität und Informalität, Kooperation und Konflikt. Sie gestalten dialogische Foren politischer Entscheidungsfindung, in denen sie – mal forsch, mal mit Rä­ son – moderieren und mediieren, verbinden und verhandeln. Als Kontaktsportler gehen sie auf Tuchfühlung mit Stadtpolitik und Verwaltung, Baugesellschaften und Planungsbüros, stadtpolitischen Initiativen und Tante Erna. Ihr Skillset reicht von ­Information über Mitmachen(lassen) und Gemeinsam-Machen bis hin zum Selber­ machen(lassen). Kupplern und Brokerinnen fällt es schwer einzusehen, dass Poli­ tik manchmal auch Hinterzimmer und Intransparenz erfordern soll.

Werkzeuge Begehbares Modell crossmediale Kommunikation Dialogforum Ideenmarkt Moderation und Mediation Stadtsafari

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  157

11.  Lobbyistinnen & Manipulatoren

Eigenschaften Lobbyistinnen und Manipulatoren sind sozial hochintelligente Netzwerker. Sie ­wissen um die Bedeutung von Sozialkapital, sind geschult im Umgang mit Ver­ treterinnen des Establishments und halten Kontakt zu Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, den Medien und anderen einflussreichen Akteuren. Sie missionieren hierbei mal offensichtlich, mal klammheimlich und leis­ ten Überzeugungsarbeit in Sachen Transformation. Informationsbeschaffung, Ein­ flussnahme, Hinterzimmerpolitik und Öffentlichkeitsarbeit sind ihr täglich Brot. Mit Charisma, Eloquenz und rhetorischer Gewandtheit sind sie besonders talentiert und spitzfindig im Taktieren, wobei sie als Pragmatiker auch instrumentelle Part­ nerschaften und strategische Bündnisse mit der „anderen Seite“ eingehen.

Werkzeuge Akteur-Netzwerkanalysen crossmediale Kommunikation Policy-Analysen Prozessgrafiken Renderings Trendscanner

158  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

12.  Märchenonkel & Tratschtanten

Eigenschaften Märchenonkel und Tratschtanten sind weit gereiste Geschichtenerzählende. Wie die Gebrüder Grimm ziehen sie durchs Land und sammeln Berichte des Gelingens und Scheiterns der Transformation. Diesen wertvollen Wissensschatz geben sie in Form von Erzählungen in Wort und Bild an Dritte weiter, damit er nicht in Verges­ senheit gerät und Rezipierende die Geschichten ihrerseits weiter tradieren können. Ob es sich bei den Erzählungen um tatsächliche Begebenheiten oder transforma­ tives Seemannsgarn handelt, kann man sich bei Märchenonkeln und Tratschtan­ ten nicht immer ganz sicher sein. Wichtiger ist jedoch, dass sie den Menschen ins Gedächtnis rufen: Was gestern anders war, kann auch morgen anders werden, und was gegenwärtig an anderen Orten anders ist, kann auch hier und jetzt anders sein.

Werkzeuge Berichte des Gelingens und Scheiterns der Transformation Investigation und Recherche Interviews narrative Zukunfts- und Leitbilder Storymaking (Digital) Storytelling

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  159

13.  Öko- & Systemfreaks

Eigenschaften Öko- und Systemfreaks sind sozialökologische Netzwerknerds. Die Große Transfor­ mation erfordert ihrer Meinung nach eine systemische Gestaltungspraxis. Als ra­ tionale Romantiker und emotionale Analytiker untersuchen und gestalten sie die hochkomplexen Interdependenzen ökologischer und anthropogener Systeme und Subsysteme. Sie interessieren sich für Beziehungen, Zusammenhänge und Kausa­ litäten und suchen einen angemessenen Umgang mit den komplexen Herausfor­ derungen und bösartigen Problemen des 21. Jahrhunderts. Mithilfe analytischer Modelle untersuchen sie die metabolischen Wechselwirkungen und Stoffströme zwischen urbanen und ruralen Systemen. Öko- und Systemfreaks stehen im Ruf ex­ zentrischer Sonderlinge. Sie finden leider zu selten Gehör für ihre klugen Einsich­ ten, weil sie den Menschen zu alltagsfern und abstrakt erscheinen oder schlicht ihr Verständnis überfordern.

Werkzeuge Akteur-Netzwerk- und Assemblage-Theorie Metabolismus- und Stoffstromanalysen (Öko-)Systemtheorie Untersuchung und Gestaltung von Urban/Ruralen-Beziehungen

160  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

14.  Opportunistinnen & Trittbrettfahrer

Eigenschaften Opportunistinnen und Trittbrettfahrer sind pragmatische ­Gelegenheitstäterinnen und zielsichere Interventionisten. Ihre Grundhaltung lautet: Transformation ja, aber nicht zu jedem Preis. Die Erfolgsformel ihres transformativen Taktierens lau­ tet: maximale Wirksamkeit durch minimalen Reibungswiderstand. Im Alltag mö­ gen sie konventionellen gestalterischen Tätigkeiten nachgehen. Opportunistinnen und Trittbrettfahrer haben jedoch einen hypersensiblen Sinnesapparat und ein fei­ nes Gespür für stille Wandlungen. Machen sie Haarrisse im System ausfindig, in denen sie ein Potenzial zur Transformation angelegt sehen, packen sie die Gelegen­ heiten beim Schopf. Sie legen mit leichter Hand den Finger in die Wunde, weiten die Risse zu Spalten und Brüchen auf. Sie stützen sich hierbei auf den natürlichen Gang der Dinge, lassen sich von der Neigung der Entwicklung tragen und gelangen so wie von allein an ihr Ziel, ohne je besondere Kraft aufgewandt zu haben.

Werkzeuge Antragstellung Finanzakquise Medienkompetenz Networking

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  161

15.  Schläferinnen & Maulwürfe

Eigenschaften Schläferinnen und Maulwürfe sind klandestine Doppelagenten im Auftrag der Transformation. Sie begeben sich auf den langen Marsch durch die Institutionen und sind der stete Tropfen, der den Stein höhlt. Sie schleusen sich in Institutio­ nen des Establishments wie Stadtverwaltungen und Immobilienentwickler ein und unterwandern, nutzen und transformieren deren Strukturen mit einem ant­ agonistischen Reformismus von innen heraus. Sie gehen hierbei mit Camouflage und Tarnung, Finten und Mimikry vor, um Interna an Transformationskomplizen weiterzugeben. Ihre Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind Stärke und Schwä­ che zugleich, da sie der permanenten Gefahr einer Vereinnahmung und Umkeh­ rung ausgesetzt sind.

Werkzeuge Arbeit in staatlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen Institutionenanalyse Identifizierung von Transformationshemmnissen und Pfadabhängigkeiten Cultural Hacking

162  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

16.  Schmugglerinnen & Schleuser

Eigenschaften Schmugglerinnen und Schleuser sind universalinteressierte Transferleistende. Die Welt ist für sie ein einziger Steinbruch der Ideen. Sie begeistern sich für eine Viel­ zahl ganz unterschiedlicher Wissensbereiche – auch solche, die auf den ersten Blick nichts mit räumlichen Themen zu tun zu haben scheinen. Schmugglerinnen und Schleuser befinden sich immer am Puls der Zeit und sind stets im Bild über neue Diskurstrends. Sie saugen autodidaktisch fachfremdes Wissen auf und schleusen dieses in raumbezogene Diskurse ein. Sie sehen und erinnern jede noch so kleine Querverbindung, betreten unbekanntes Terrain, entdecken, begründen und bege­ hen verborgene Schleichwege des Denkens und Handelns. Durch die assoziative und eklektische Verknüpfung verschiedenster Denktraditionen und Gestaltungs­ praktiken lassen sie neues Wissen entstehen und tragen so zu einer beständigen Erneuerung der eigenen Profession bei.

Werkzeuge Autodidaktik Eklektizismus Synthese Theorie-, Diskurs- und Begriffskompetenz Wissenstransfer

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  163

17.  Schöngeister & Ästhetinnen

Eigenschaften Schöngeister und Ästhetinnen sind gestalterische Pedanten. In ihren Augen muss das Gute schön sein, da nur das Schöne wirklich gut ist. Ethik und Ästhetik gehen für sie Hand in Hand, da die Transformation nur gelingen kann, wenn sie Verstand und Sinne anspricht. Als moralische Hedonisten sind sie der Überzeugung, dass Nachhaltigkeit Spaß machen muss. Schöngeister und Ästhetinnen setzen sich da­ her vehement dafür ein, dass die Ästhetik nicht dem Diktat der Transformation unterworfen wird. Mit geschultem Auge und kreativer Potenz sind sie auf der Su­ che nach einem ästhetischen Programm für transformative Formsprache und dem utopischen Potenzial von Schönheit. Sie kreieren neue ästhetische Strategien, die die Hässlichkeit von heute entblößen, einen Mangel an Lieblichkeit erkennen las­ sen, Begehren nach einer schöneren Zukunft wecken – und so letztlich transforma­ tives Streben erzeugen.

Werkzeuge CAD-Kenntnisse Entwurfskompetenz Fotografie Gestaltung von matters of concern Modellbau Zeichenkenntnisse

164  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

18.  Seelenklempner & Quacksalberinnen

Eigenschaften Seelenklempner und Quacksalberinnen sind die Sozialpsychologen der Transfor­ mation. Um zu begreifen, was sie tun, muss man verstehen: Sozio- und Psycho­ genese verhalten sich dialektisch. Ohne Wandel mentaler Infrastrukturen kein ­Wandel sozialer Verhältnisse. Seelenklempner und Quacksalberinnen tun daher vier Dinge: Erstens kanalisieren sie die mit gesellschaftlichem Wandel einhergehen­ den kollektiven Ängste, damit diese in gesellschaftspolitisch angemessener Weise ausagiert und produktiv gemacht werden können. Zweitens verführen sie die Gesell­ schaft dazu, sich ihres unbewussten transformativen Begehrens bewusst zu werden. Drittens verhelfen sie unbewussten Transformationdesignern zu transformativem (Selbst-)Bewusstsein. Viertens tragen sie dazu bei, die in neuen soziomateriellen Infrastrukturen zum Ausdruck kommenden neuen mentalen Infrastrukturen und psychosozialen Selbstdesigns sichtbar zu machen.

Werkzeuge (Küchen-)Psychologie moralische Landkarten und Kompasse Psychogeografien Persona Typologien

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  165

19.  Träumer & Spekulantinnen

Eigenschaften Träumer und Spekulantinnen sind fantasiereiche Utopisten. Als hoffnungslose Idealisten haben sie eine postkritische und zukunftsgewandte Haltung und sind stets getrieben von der Frage nach dem guten Leben. Sie leiden (im besten Sinne) unter Realitätsverlust und Weltfremdheit und haben ein ziemlich buntes Vorstel­ lungsvermögen. Träumer und Spekulantinnen weisen manische Züge auf und schwanken auf der Suche nach alternativen gesellschaftlichen Realitäten und Zu­ künften zwischen krasser Depression und grenzenloser Euphorie. Sie demaskieren die dystopische Fratze des Hier und Jetzt, verweisen auf die bereits in der Gegen­ wart angelegten Pfade in eine bessere Zukunft und zeigen mit mal abschrecken­ den, mal verlockenden Zukunftsspekulationen Alternativen zum gesellschaftlichen ­Status quo auf.

Werkzeuge real-utopische Raumintervention spekulatives Design und Social Fiction spekulative Forensik, Visionmapping, Zukunftsarchäologie Szenario-Workshops und Zukunftswerkstätten Trendanalysen und Zukunftsforschung Zukunftsbilder und Zukunftssafaris

166  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

20.  Winkeladvokatinnen & Rechtsverdreher

Eigenschaften Winkeladvokatinnen und Rechtsverdreher sind die Anwälte der Transformation. Sie stehen in der Tradition verschiedener Strömungen wie advocacy planning und kritischer Rechtswissenschaft, sind aber nicht zwangsläufig ausgebildete Juristen. Winkeladvokatinnen und Rechtsverdreher agieren je nach Sachlage defensiv, of­ fensiv oder präventiv. Sie verteidigen, klagen und mediieren zwischen Konflikt­ gruppen und verstehen sich als Interessenvertretung der Armen und Schwachen. Durch die investigative Anwendung sozialräumlicher Untersuchungsmethoden be­ weisen sie gesellschaftliche Miss- und rechtliche Tatbestände. Hierfür visualisieren sie im Raum manifestierte Machtmissbräuche. Sie nutzen das bestehende Recht, um Transformationshemmnisse zu überwinden, und versuchen zugleich, neues transformatives Recht zu schaffen. Ihre wichtigste Forderung ist hierbei (neben einem Recht auf Stadt) das Recht auf Zukunft.

Werkzeuge Enteignungen investigativ-forensische Untersuchungsmethoden (Milieu-/Gewerbe-)Schutzgebiete Moratorien rechtliche Expertise Rechtsberatung

DIE 20 TRANSFORMATIVEN ANTIHELDEN: TYPOLOGIE URBANER TRANSFORMATION DESIGNER  167

5.8  Himmelsscheibe der Transformation: Der transformative Diskurskosmos Müsste einer der 20 Antihelden Pate für die Himmelsscheibe der Transformation stehen, wären es die Schmugglerinnen und Schleuser. Als universalinteressierte Transferleistende würden sie zustimmen: Ein change „of urban“ design erfordert einen Perspektivenwechsel dahin gehend, welches Wissen und welche Erfahrun­ gen wir für die zukünftige Gestaltung von urbanen Räumen als wichtig erachten. Urban Transformation Design ist das Ergebnis der eklektischen Verknüpfung von Gedanken und Ideen, Begriffen und Diskursen ganz unterschiedlicher Art und Her­ kunft, die auf den ersten Blick zum Teil weder mit räumlichen Fragen noch mit dem Projekt einer Großen Transformation in Beziehung zu stehen scheinen – und da­ für doch ungemein relevant sind. Die Himmelsscheibe der Transformation (Abb. 7) gibt einen exemplarischen Überblick über den Kosmos solch transformativer Dis­ kurse. Damit ist ein facettenreiches Spektrum ganz unterschiedlicher, teils älterer, teils jüngerer Denkansätze und Theorieströmungen, Praktiken und Bewegungen, Begriffe und Schlagworte, Visionen und Zukunftsmodelle gemeint, auf die sich das hier entwickelte Verständnis von Urban Transformation Design beruft und in denen zugleich ein Potenzial für die zukünftige Weiterentwicklung des Urban Transforma­ tion Design vermutet wird. Die Himmelsscheibe zeigt also an, in welcher Gedanken­ welt das Urban Transformation Design verortet ist und in welche Sphären die Reise künftig vorstoßen könnte. Das Firmament der Anschauungen teilt sich in die vier Sektoren Denken, Visionieren, Sagen und Machen. Je zentraler die Begriffe v­ erortet sind, desto naheliegender sind sie gegenwärtig, wenn über Raum und Transforma­ tion gesprochen wird. Je weiter sie vom Pol entfernt sind, desto weiter scheinen sie hergeholt – desto fremder sind sie also dem konventionellen Urban Design. In der Umlaufbahn kursieren derweil die Trabanten denkwürdiger Autorinnen und Den­ ker, die darauf warten, entdeckt zu werden …

5.9  Praxisbeispiel: Die Transformative Zelle Zurück auf den Boden der Tatsachen: Anhand des Methoden- und Praxisbeispiels der Transformativen Zelle soll nun exemplarisch illustriert werden, wie angewand­ tes Urban Transformation Design konkret aussehen kann.

Das Forschungsprojekt Land*Stadt Transformation gestalten Das Konzept der Transformativen Zelle wurde im transdisziplinären Forschungs­ projekt Land*Stadt Transformation gestalten: Die Transformative Zelle als praxis-

168  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

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(Große) Transformation

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7  Himmelsscheibe der Transformation: Der transformative Diskurskosmos; in Anlehnung an studio amore in BBSR, 2017

taugliches Modell zur Förderung sozialräumlicher Innovationen entwickelt, das von 2017 bis 2021 vom Programm SPIELRAUM – Urbane Transformationen gestalten3 der Robert Bosch Stiftung gefördert wird (RBS 2019). Ausgangspunkt des Projekts ist die Feststellung, dass sich die Transformationsforschung, wenn räumlich, dann 3

Mit dem inter- und transdisziplinären Programm SPIELRAUM – Urbane Transformationen gestalten fördert die Robert Bosch Stiftung Vor- und Querdenkende und ungewöhnliche Allianzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und zwischen Wissenschaft und Praxis, die neue Visionen für die nachhaltige Transformation unserer Lebensräume entwickeln und die Transformationsforschung um neue Perspektiven bereichern (RBS 2019).

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  169

­entweder (und meist) auf die Stadt oder (seltener) das Land bezieht. Diese dua­ listische Betrachtung von Teilräumen – so die Hypothese – ist mitursächlich für gegenwärtige Transformationserfordernisse und -hemmnisse, da komplexe so­ zialräumliche Beziehungen, translokale Zusammenhänge und systemische Inter­ dependenzen zwischen ruralen und urbanen Räumen aus dem Blick geraten (LSTG 2019). Als mögliches Korrektiv wird mit dem im Forschungsprojekt geprägten Begriff der Transformativen Zelle daher ein neuer Ansatz entwickelt und erprobt, der dar­ auf abzielt, die komplexen Verknüpfungen von ländlichen und städtischen Räumen und translokalen transformationsorientierten Akteursnetzwerken systematisch zu erfassen, und dazu beitragen soll, den Stadt-Land-Dualismus zu überwinden. Zentraler Bestandteil des Forschungsprojekts ist die Untersuchung von vier Reallaboren:

1. Reallabor Zürichsee: ein schweizerisches Netzwerk zur ­Förderung einer regenerativen Ernährungskultur 2. Reallabor Malchin: eine mecklenburg-vorpommersche ­Zukunftsregion 3. Reallabor Stolpe: ein ehemaliges Betonwerk in der ­Uckermark 4. Reallabor Bonn: ein nordrhein-westfälisches Netzwerk ­solidarischer Landwirtschaft

Diese vier Reallabore werden während der Projektlaufzeit von einer interdisziplinä­ ren Forschungsgruppe aus den Bereichen der Agrar-, Sozial- und Politikwissenschaf­ ten, Ökonomie, Kunst und Urban Design forschend und mitgestaltend begleitet, auf ihre transformative Kraft hin untersucht und in dieser befördert. Der folgende Arbeitsstand zur Transformativen Zelle wurde hierbei in einem iterativ-zirkulären Prozess aus theoretischem Konzeptdesign, empirischer Feldarbeit und ­Reflexion entwickelt (LSTG 2019).

Die Transformative Zelle: Ein neuer Leitbegriff der rurbanen ­Transformationsforschung (?) Neben dem bereits benannten Stadt-Land-Dualismus, der den Ausgangspunkt des Forschungsprojekts markierte, stellt das Konzept der Transformativen Zelle eine Reaktion und Antwort auf folgende drei weitere blinde Flecken, Leerstellen und Forschungsbedarfe der gegenwärtigen Transformationsdebatte dar: Erstens ist die transformative Wissenschaft noch verhältnismäßig jung und wenig systematisiert. Zu ihrer Weiterentwicklung braucht es daher neue Leitbegriffe zur Untersuchung und (Mit-)Gestaltung räumlicher Transformationen, die nicht

170  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

durch künstliche Grenzziehungen, sondern durch komplexe Beziehungen zwischen r­ uralen und urbanen Räumen geprägt sind, die an aktuelle Forschungskontexte anknüpfen und möglichst anschlussfähig sind, auch und vor allem für die lokale Praxis zivilgesellschaftlicher Transformationsakteure (De Flander et al. 2014, 284). Zweitens fehlen der Transformationsforschung bislang Worte für Transfor­ mationsprozesse jenseits des Reallabors. So umstritten die Definition des Real­ laborbegriffs ist, in einem Punkt besteht in der Debatte weitgehend Konsens: Ein (Real-)Labor ist eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung (Schäpke et al. 2017; Rose et al. 2018). Nun gibt es in der Praxis jedoch de facto eine Vielzahl an Akteu­ ren und Projekten, die zwar transformationsorientiert handeln, jedoch nicht in die w ­ issenschaftliche Förderinfrastruktur eines Reallabors eingebettet sind, in Er­ mangelung begrifflicher Alternativen von der Wissenschaft aber oft ebenfalls als „Reallabor“ bezeichnet werden. Diese falsche und inflationäre Nutzung droht den Begriff seiner eigentlichen Bedeutung zu berauben und inhaltlich auszuhöhlen. Es stellt sich also die Frage, wie wir transformationsorientierte Orte, Akteure und Pro­ jekte nennen, die bisher nicht wissenschaftlich begleitet werden. Hier bedarf es der ­Einführung einer neuen Terminologie, die Transformationen jenseits des Real­ labors Sprache verleiht und diesem zugleich kontrastierend Form verleiht. Drittens gibt es, wie oben bereits deutlich wurde (S. 138 ff.), viele Akteure, die nichtintendiert transformationsorientiert handeln, deren Handeln aber ein Trans­ formationspotenzial innewohnt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Ist man der Überzeugung, dass intendierte und bewusste Transformationen wirksamer sind als nichtintendierte und unbewusste, braucht es daher auch ein neues begriffli­ ches Handwerkszeug, um bisher verborgene Transformationen sichtbar zu machen.

Die Transformative Zelle: Begriffsdefinition Hier kommt nun die Transformative Zelle ins Spiel: In der Biologie, Systemtheorie und Kybernetik wird unter einer Zelle die kleinste funktionale Einheit eines über­ geordneten Organismus bzw. Gesamtsystems verstanden. In der Soziologie bezeich­ net die Zelle eine relativ geschlossene, dezentral organisierte und zu einem grö­ ßeren Netzwerk gehörende Gruppe von Personen, die bestimmte (politische oder ideologische) Ziele verfolgt und durch weitgehend autonomes Handeln zu errei­ chen sucht. Die sprichwörtliche Keimzelle wiederum beschreibt einen Ausgangs­ punkt, von dem aus sich ein größeres Ganzes entwickelt. In diesem Sinne beschreibt die Transformative Zelle Orte, Akteure und Projekte, die im Kleinen zur Großen Transformation beitragen. Im Forschungsprojekt Land*Stadt Transformation gestalten wird unter einer Transformativen Zelle (TZ) „ein trans-lokales (rurbanes) und sozial-dingliches Wir­ kungsgefüge mit potenziell transformationsfördernder Wirkung“ verstanden, „ein dynamisches System mit multiplen funktionalen Einheiten und ebenso variablen

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  171

wie durchlässigen Systemgrößen und -grenzen“ (LSTG 2019) – so die gemeinsame Arbeitsdefinition. Im Bezug auf die oben genannten Forschungslücken gegenwärtiger Transfor­ mationsforschung lässt sich die Transformative Zelle und der mit ihr verbundene (erhoffte) Gebrauchswert wie folgt zusammenfassen: Die Transformative Zelle ist erstens ein Begriffs- und Diskursbeitrag zur ­Weiterentwicklung der urbanen Transformationsforschung. Sie zeigt implizit (oben ­genannte) blinde Flecken und Leerstellen der gegenwärtigen urbanen Transfor­ mations- und Reallaborforschung auf und bereichert die Transformations­debatte, indem sie zu ihrer Systematisierung beiträgt. Die Transformative Zelle dient zweitens der Überwindung der Stadt-Land-­ Dichotomie. Sie soll helfen, die Fixierung der Transformations- und Reallabor­ forschung auf städtische Räume zu überwinden. Als (an-)greifbare Denkfigur soll die Transformative Zelle einen sprachlichen und gedanklichen Spielraum dafür öffnen, Land*Stadt-Beziehungen stattdessen als komplexe translokale und sozial-­ dingliche Zusammenhänge zu verstehen und im Sinne einer rurbanen Transfor­ mation gestalten zu lernen. Die Transformative Zelle kann drittens eine fundierte Grundlage zur Auswahl und Eingrenzung von rurbanen Reallaboren darstellen. Sie dient der systemati­ schen Identifikation, Beschreibung, Untersuchung und (Mit-)Gestaltung von Or­ ten, Akteuren und Projekten, in denen ein Transformationspotenzial vermutet wird. Die Transformative Zelle ergänzt und schärft viertens das Konzept des Real­ labors. Sie ermöglicht die Beschreibung von lebensweltlichen Transformations­ kontexten jenseits des Reallabors, ohne auf den Reallabor-Begriff zurückgreifen zu müssen und diesen weiter zu verwässern. Die Transformative Zelle hat fünftens ein (selbst-)bewusstseins-, identitätsund gemeinschaftsstiftendes Potenzial. Die Identifizierung nichtintendierter und unbewusster transformationsorientiert handelnder Akteure mit dem Konzept der Transformativen Zelle ermöglicht ihnen, (Selbst-)Bewusstsein als Transformations­ akteure zu gewinnen. Sie eröffnet somit die Chance, dass sich neues transforma­ tives Bewegungsbewusstsein entwickelt.

Prototyp der Transformativen Zelle: Die Stammzelle Wie genau sieht so eine Transformative Zelle aus? Im Forschungsprojekt Land*Stadt Transformation gestalten habe ich, als Hauptverantwortlicher des Arbeitspakets „Transformation Design in Practice: Räumliche Strategien für neue Stadt-Land-Ver­ bindungen“, teils auf Basis von Erkenntnissen aus den vier Reallaboren, teils auf Grundlage wissenschaftlicher Literatur, teils als intuitive Gestaltungsleistung, den Prototyp einer Transformativen Zelle entworfen – die Stammzelle: ein Tool zur Ana­ lyse und Entwicklung von Typologien der Transformativen Zelle (siehe Abb. 8).

172  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

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SUPRANATIONAL / GLOBAL

ART DER TRANSFORMATION UNBEWUSST / NICHTINTENDIERT

BEWUSST / INTENDIERT

TRANSFORMATIONSSTRATEGIE BRUCH

FREIRAUM

SYMBIOSE

8  Prototyp der ­Transformativen Zelle: Die Stammzelle

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  173

Da es nichts Theoretischeres gibt als eine gute Praxis (Jonas 2001), habe ich die Stammzelle als Canvas zur Durchführung angeleiteter, interaktiver Workshops konzipiert, um sie im Feld gemeinsam mit Praxisakteuren anwenden und erpro­ ben zu können. Die Idee war hierbei folgende: Praxisakteure sollen das großfor­ matige Stammzellen-Canvas anhand eines speziell angefertigten Fragenkatalogs Schritt für Schritt ausfüllen, um systematisch (und teils wissenschaftlich fundiert) ihre Rolle und die Beziehungen ihres Handelns im Hinblick auf Land-Stadt-Ver­ knüpfungen sowie gesellschaftliche Transformationsprozesse zu reflektieren. Die hierbei entstehenden Typologien der Transformativen Zelle (das Arbeitsergebnis der Workshops) sowie das im Rahmen einer gemeinsamen Reflexionsrunde hin­ zugewonnene (Selbst-)Bewusstsein, Wissen (oder auch Fragen) sollen die Praxis­ akteure letztlich dabei unterstützen, ihr Handeln bewusst(er), zielgerichtet(er) und wirkungsvoll(er) an Transformationsziele anzupassen. Zugleich sollen die hierbei gewonnenen Anwendungserfahrungen helfen, das Konzept der Transformativen Zelle (TZ) kritisch auf seine Nützlichkeit hin zu überprüfen und den Prototyp der Stammzelle empirisch fundiert weiterzuentwickeln. Das Stammzellen-Canvas teilt sich in zwei Teilbereiche auf: das Wirkungsgefüge (oben) und die Eigenschaften (unten) der Transformativen Zelle. Das Wirkungsgefüge dient der Veranschaulichung der Beziehung und Wirkung transformativer Projekte im Spannungsfeld ruraler und urbaner Räume. Es zeigt die Be­ ziehungsmuster zwischen zentralen Orten, Akteuren und Projekten, aus denen sich die TZ zusammensetzt (1. Transformative Zelle), zwischen dem Engagement und den Res­ sourcen, die von Seiten urbaner und ruraler Räume in die TZ eingebracht werden (2. Inputs), zwischen den kurz- und mittelfristigen Aktivitäten und Ergebnissen (3. Outputs), zwischen und den mittel- und langfristigen sozialräumlichen Auswirkungen (4. Outcomes), die durch das Wirken der TZ entstehen, sowie den langfristigen gesellschaft­ lichen Transformationspotenzialen, die dem Wirken der TZ innewohnen (5. Impacts). Das Wirkungsgefüge der Stammzelle orientiert sich an folgenden grundlegenden ­Achsen: urban – rural und immateriell/sozial – materiell/technisch. ­ ienen der Beschreibung der Lage der TZ (rural – urban), der Die Eigenschaften d räumlichen Verteilung (monolokal – multilokal), der Zellgrenzen (geschlossen/exklusiv – offen/inklusiv), des Wirkungsradius (Haushalt/Nachbarschaft – supranational/ global), der Art der Transformation (nichtintendiert/unbewusst – intendiert/bewusst) und der Transformationsstrategie (Bruch/Freiraum/Symbiose). Der Stammzellen-Prototyp wurde im Mai 2019 auf dem Concrete Transformation Festival (CTF)4, im Workshop Die Transformative Zelle: Wie transformativ ist dein 4

Das CTF war ein Forschungsfestival, das vom 13. – 26. Mai 2019 im Kontext des Forschungsprojekts Land*Stadt Transformation gestalten im Reallabor Stolpe stattfand und zugleich einen Rahmen für das Forschungscamp des Forschungsprojekts bot. Ziele des Forschungscamps waren der Wissens- und Erfahrungsaustausch der Forschungsgruppe, die Öffnung des Forschungsprozesses, die gemeinsame Diskussion und Reflexion der bisherigen Forschungsergebnisse mit externen Expertinnen und P ­ raxisakteuren sowie die kokreative Weiterentwicklung des Konzepts der Transformativen Zelle (www.transform-stolpe.de).

174  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

Projekt? erstmals erprobt. Ziele des Workshops waren die Entwicklung von Typo­ logien der Transformativen Zelle anhand von konkreten Praxisbeispielen und das Sammeln von Anwendungserfahrungen, um die Stammzelle empirisch fundiert weiterzuentwickeln. Neben eigenen Projektbeispielen, die die Teilnehmenden ein­ brachten, wurde das Stammzellen-Canvas auch auf das Reallabor Stolpe angewandt, in dem der Workshop stattfand. In Ergänzung zu Abbildung 15 (S. 181) wird das Er­ gebnis des Workshops daher nachfolgend kurz zusammengefasst.

Test: Reallabor Stolpe Beim Reallabor Stolpe handelt es sich um ein ehemaliges Betonwerk im Dorf Stolpe, einem ländlich geprägten Ortsteil der brandenburgischen Kleinstadt Angermünde. Das Betonwerk war während der DDR einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Re­ gion. Nach der Wende wurde der Betrieb jedoch sukzessive nach Polen verlagert und zurückgefahren, bis die Arbeit Ende 2018 schließlich komplett eingestellt wurde. 2016 wurde das Areal von den Partnern Saliq Savage und Uli Kaiser entdeckt und ­gekauft – zwei Künstlern und Unternehmern, die bereits seit vielen Jahren im Nach­ barort Stolzenhagen im Wohnprojekt Gut Stolzenhagen leben und den Tanzverein Ponderosa sowie die Seminarhäuser Stolzenhagen und Taubenblau mitbetreiben (Burke et al. 2019, 227 f.). Das 4,5 Hektar große Betonwerk grenzt an den Nationalpark Unteres Odertal, den Oder-Neiße-Radweg und unmittelbar an das 400-Einwohner-Dorf Stolpe. Es ist am Oderkanal gelegen, hat direkten Wasserzugang und ist über den Wasserweg von Berlin erreichbar. Die riesige versiegelte Fläche verfügt über eine funktionstüch­ tige Betonmischanlage, ein Sozialgebäude mit Küche, Sanitäranlagen, Schlaf- und ­Büroräumen sowie elf große, weitgehend leer stehende Produktionshallen – eine vielseitige Raumressource mit vielfältigen Entwicklungspotenzialen (ebd.). Saliq und Uli kauften das Betonwerk zunächst, ohne genau zu wissen, was dar­ aus werden soll. Fasziniert vom Kontrast zwischen der Natur des Nationalparks und der Industrielandschaft des Betonwerks festigte sich bald die Vision, dem Ort neues Leben einzuhauchen und ihn in einen neuen Wohn-, Arbeits-, Bildungs-, Kulturund Freizeitort für das Dorf Stolpe und die Region zu verwandeln. Sie sind zunächst bewusst offen in das Projekt eingestiegen, was das konkrete Nutzungsprogramm, Betriebskonzept, Managementstrukturen oder Kooperationspartner betrifft. Als Katalysator und Träger des offenen Such- und Findungsprozesses, der unterschied­ lichste lokale und (über-)regionale Akteure aus Stadt und Land einbinden soll, grün­ deten Saliq und Uli die Kulturpark Stolpe GmbH – langfristig suchen sie jedoch nach einer anderen Organisations- und Betriebsform, die „eine Balance aus gemeinwohl­ orientierten Ansätzen und wirtschaftlicher Tragfähigkeit“ ermöglicht (ebd., 228). Seit 2016 befindet sich das ehemalige Betonwerk in einer mehrjährigen Pilotphase, in der es möglich sein soll zu experimentieren, aber auch Ideen zu verstetigen, wenn

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  175

9  Stolpe, Angermünde (Foto: Mathias Burke/ studio amore)

10  Reallabor Stolpe (Foto: Mathias Burke/ studio amore)

11  Reallabor Stolpe (Foto: Kilian Schneider)

176  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

12  Concrete Trans­ formation Festival (Foto: Anne Freitag)

13  Workshop „Die ­Transformative Zelle: Wie transformativ ist dein Projekt?“ (Foto: Anne Freitag)

14 Öffentliches ­Dialogforum (Foto: Anne Freitag)

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  177

sich Erfolg einstellt (ebd., 227). Seitdem finden auf dem Gelände sowohl temporäre Zwischennutzungen statt (beispielsweise die Art-Residency betOnest, Veranstaltun­ gen des Tanzvereins Ponderosa) als auch dauerhafte Mieter eine Bleibe (beispiels­ weise das Fahrradcafé Fuchs & Hase, eine Fahrradwerkstatt und ein Bühnenbauer). Zudem befassten sich mehrere Studierendenprojekte mit dem Betonwerk, so bei­ spielsweise das Projekt UN/REAL ESTATES, eine Kooperation des Masterstudien­ gangs Transformation Design der HBK Braunschweig und der Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder (Transformazine 2017). Seit 2017 wird der Kulturpark Stolpe vom Forschungsprojekt Land*Stadt Transformation gestalten als mögliches Beispiel für eine Transformative Zelle forschend und mitgestaltend begleitet und unterstützt, um das Vorhaben in seiner transformativen Kraft zu fördern und Erkenntnisse zur theoretisch-konzeptionellen Entwicklung der Transformativen Zelle selbst zu gewinnen. Zentrale Fragestellung des Reallabors ist hierbei zum einen, wie die Entwicklung des Betonwerks dazu beitragen kann, ein in der Nachwendezeit verloren gegangenes Gemeinschaftsgefühl und Begegnungsorte in Stolpe und der Region wieder zu beleben. Zum anderen wird der Frage nachgegan­ gen, wie angesichts neuer Lebensstile Arbeits- und Produktionsformen, gemeinwohl­ orientierte und nachhaltige Wertschöpfungsmodelle im ländlichen Raum entwickelt werden können, die bisher vor allem von Entwicklungen im urbanen Kontext getragen werden – und wie diese wiederum zur Großen Transformation in Richtung sozialöko­ logischer Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit beitragen können. In einer Reihe von partizipativen und kokreativen Formaten wie Nachbar­ schaftsforen, Werte-Workshops, Zukunftswerkstätten, Design-Charrettes und bau­ lichen Pilotprojekten entstanden so eine erste Vision sowie ein grobes Nutzungs­ programm für das Betonwerk. Den Höhepunkt der bisherigen Aktivitäten stellte das Concrete Transformation Festival (CTF) dar, ein Forschungsfestival, das in Koopera­ tion des Kulturpark Stolpe und der Forschungsgruppe Land*Stadt Transformation gestalten organisiert wurde. Zwei Wochen lang ging es um die Fragen: Was passiert in Zukunft mit dem alten Betonwerk? Wie kann die Gestaltung von Land-Stadt-­ Beziehungen zum gesellschaftlichen Wandel in Richtung Zukunftsfähigkeit bei­ tragen? In mehreren Werkstätten und an zwei open days wurden gemeinsam mit Anwohnenden, Dorf, Region und Interessierten aus dem Berliner Umfeld kreative und konkrete Antworten gesucht – und gefunden (CTF 2019): Die etwa 200 Teilneh­ menden haben dem Betonwerk allein mit ihrer Anwesenheit und Geschäftigkeit, mit interaktiven Designinstallationen und Soundperformances neues Leben einge­ haucht und ein Gefühl dafür vermittelt und selbst bekommen, zu welch anderem Ort es in Zukunft werden könnte. Der Beton wurde stellenweise aufgebrochen, ein regeneratives Agroforstsystem gepflanzt und, symbolisch wie f­ aktisch (so das Ziel), im Kleinen zur Großen Transformation beigetragen. Ein begehbares Modell des Betonwerks und ein Dialogforum wurden gebaut, Ausstellungen zu Stadt-Land-Be­ ziehungen, zur Region Uckermark, zum Dorf und zum Betonwerk Stolpe wurden gestaltet, die von der Öffentlichkeit auch in Zukunft zur gemeinsamen Diskussion

178  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

und Ideenfindung besichtigt und genutzt werden können. Mit einer Website (www. transform-stolpe.de), Newslettern, Social Media Funk, Fernsehen und Wurfsendun­ gen wurden viele neue Menschen über das Betonwerk informiert und dafür begeis­ tert. Neue Partnerschaften wurden geschlossen und spannende Folgeprojekte rund ums Betonwerk geplant. Neue Bekanntschaften und Freundschaften wurden ge­ schlossen, die räumlich wie zeitlich über das Betonwerk und das CTF ­hinausreichen. Und: Neue wissenschaftliche und gestalterische Erkenntnisse und Erfahrungen zur räumlichen und gesellschaftlichen Transformation und zur Weiterentwicklung der Transformativen Zelle wurden gewonnen. All dies oben beschriebene, bisher in den Kulturpark Stolpe eingebrachte ­Engagement, die investierten Ressourcen, die entstandenen Aktivitäten und Er­ gebnisse, die möglichen sozialräumlichen Auswirkungen und Transformations­ potenziale ­wurden im Workshop Die Transformative Zelle: Wie transformativ ist dein P ­ rojekt? in Form der Transformativen Zelle Stolpe als großformatiges Plakat festge­ halten (siehe Abb. 15, S. 181). Dieses floss noch während des CTF in eine interak­ tive, schrittweise anwachsende Ausstellung ein, die als Diskussionsgrundlage für ein öffentliches Dialogforum diente, in dem Transformations-, Nachhaltigkeitsund Regional­expertinnen und -experten aus der örtlichen Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft anhand des Beispiels Stolpe über die Chancen und Herausforderungen gemeinsamer Regionalentwicklung diskutierten.

Laborergebnisse: Urban Transformation Design in Practice Fassen wir also zusammen: Im Rahmen eines transdisziplinären Forschungspro­ gramms (SPIELRAUM – Urbane Transformationen gestalten), das buchstäblich groß­ zügige Spielräume und ungewohnte Freiheiten zum Experimentieren bietet, fand sich eine bunt gemischte Forschungsgruppe im Grenzbereich von Wissenschaft, Politik und Gestaltung zusammen (Land*Stadt Transformation gestalten), um neue Ansätze für eine rurbane Transformationsforschung zu entwickeln. Auf Basis einer breit angelegten Reallaborforschung, einem iterativ-­zirkulären Prozess aus theoretischem Konzeptdesign (Transformative Zelle), empirischer Feldund kontinuierlicher Reflexionsarbeit – sowie der in diesem Kapitel ­entwickelten theoretischen Grundlagen des Urban Transformation Design – wurde der anfangs noch recht abstrakten Idee der Transformativen Zelle mit einem Proto­typ (Stammzelle) exemplarisch Form verliehen. Dieses Tool zur Analyse und Entwicklung von Typologien Transformativer Zel­ len wurde schließlich in einem der vier Reallabore des Forschungsprojekts (Real­ labor Stolpe), im Rahmen eines öffentlichen Forschungs­formats (Concrete Transformation Festival) und in einem interaktiven Workshop (Die Transformative Zelle: Wie transformativ ist dein Projekt?) eingesetzt und ausgetestet, um es empirisch fundiert weiterzuentwickeln.

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  179

Welche Erkenntnisse konnten nun für die Weiterentwicklung der Stammzelle und der Transformativen Zelle gewonnen werden? Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass das Konzept der Transformativen Zelle auf großes Interesse stieß und die Visualisierung und methodische Ausarbei­ tung in Form der Stammzelle sehr dabei half, die Idee der Transformativen Zelle zu vermitteln. Der Stammzellen-Prototyp – so das kritische Resümee des ersten Pilot-Work­ shops – vermag die tatsächliche Komplexität urban-ruraler Verknüpfungen jedoch noch nicht hinreichend darzustellen. Er ist noch zu schematisch-abstrakt, beinhal­ tet zu viele Fachbegriffe und erfordert im Rahmen eines Workshop-Formats noch zu viel Vorwissen seitens der Teilnehmenden. Es stellte sich heraus, dass sich nicht alle Orte, Akteure und Projekte, Engagements und Ressourcen, Aktivitäten und Er­ eignisse sinnvoll im Spannungsfeld zwischen rural und urban verorten lassen. Zu­ dem fehlten Möglichkeiten zur Beschreibung der zeitlichen Dimension sowie von transformationsfördernden beziehungsweise -hemmenden Kontextbedingungen und Handlungsrahmen. Außerdem ergab sich aus der Analyse einer Transformati­ ven Zelle nicht notwendigerweise neues Handlungswissen. Ungeachtet dieser „Kinderkrankheiten“ erwiesen sich die Transformative Zelle und der Stammzellen-Prototyp jedoch als sehr hilfreiche Instrumente zur Einführung in die Transformationsdebatte. Sie regten zur Diskussion an, halfen dabei, Beziehungen zwischen Handeln und Wirken im Spannungsfeld zwischen länd­lichen und städtischen Räumen sichtbar und vergleichbar zu machen sowie Ansprüche und Wirklichkeiten persönlichen Engagements zu reflektieren. Die im Workshop gestalteten Typologien Transformativer Zellen eignen sich nach Anga­ ben der Teilnehmenden zudem hervorragend als Kommunikationstool zur Vermitt­ lung bestehender sowie zur Planung neuer Vorhaben. Last but not least – um den Kreis zu schließen – veranschaulichen die Labor­ ergebnisse und die Typologie des Reallabors Stolpe beispielhaft, wie die hier skiz­ zierten theoretischen Grundlagen des Urban Transformation ­Design methodisch angewandt und wie Urban Transformation Design in Practice konkret aussehen kann.

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RÄUMLICHE VERTEILUNG MULTILOKAL

MONOLOKAL

ZELLGRENZEN GESCHLOSSEN / EXKLUSIV

OFFEN / INKLUSIV

WIRKUNGSRADIUS HAUSHALT / NACHBARSCHAFT

SUPRANATIONAL / GLOBAL

ART DER TRANSFORMATION UNBEWUSST / NICHTINTENDIERT

BEWUSST / INTENDIERT

TRANSFORMATIONSSTRATEGIE BRUCH

FREIRAUM

SYMBIOSE

15 Anwendungsbeispiel: Reallabor Stolpe

PRAXISBEISPIEL: DIE TRANSFORMATIVE ZELLE  181

5.10  Zusammengefasst: Relevanz und Perspektive Die Reise von Urban Design zu Urban Transformation Design hat hiermit ihr vor­ läufiges Ende erreicht. Die eingangs gestellte Frage „Was ist gutes Urban Design?“ wurde mit „Urban Transformation Design“ beantwortet. Ausgehend von der be­ haupteten und im Rahmen einer Gegenwartsdiagnose begründeten Notwendigkeit eines change „of urban“ design wurde mit einer Bestandsaufnahme zum Urban De­ sign und seiner Einbettung in aktuelle diskursive Wendungen im Spannungsfeld von Design und Transformation ein theoretischer und wissenschaftlich begründe­ ter Vorschlag für ein neues Urban-Design-Verständnis entwickelt. Nachdem ich auf einer 182 Seiten langen tour de force, wie Niklas Luhmann (1982) sagte, den Umweg über die Abstraktion wählte, um zum Konkreten zu kom­ men, stelle ich mir nun an der Zielgeraden selbst die Frage, was – unterm Strich – der Mehrwert dieser Arbeit ist. Anders gefragt: Worin liegen Relevanz und Perspektive des Urban Transformation Design? Urban Transformation Design ist in der Form, in der es hier vorgestellt wurde, Selbstdesign und Diskursdesign zugleich. Einerseits ist es der Versuch, mich selbst zu entwerfen. Diese Arbeit beginnt nicht ohne Grund mit dem Wort „Ich“. Urban Transformation Design ist meine persönliche Antwort auf die Frage „Was ist (gutes) Urban Design?“, die ich mir als junger Urban Designer, im Rückblick auf Jahre der Ausbildung und im Ausblick auf Jahrzehnte der beruflichen Tätigkeit stelle. Sie ist Ausdruck und Ergebnis einer mehrjährigen identitäts- und fachpolitischen Suche nach einer Haltung als Urban Designer. Sie ist somit Begriffs- und Identitätskonstruktion zugleich. Urban Trans­ formation Design verleiht mir Orientierung, Problem- und Selbstbewusstsein ­sowie Handlungsfähigkeit. Es stattet mich mit Theorien, Begriffen, Strategien, Rollen­ bildern und Werkzeugen aus, die mich in die Lage versetzen, meine Profession gesellschaftlich verantwortungsvoll ausüben zu können. Dies ist die persönliche ­Relevanz der Arbeit. Urban Transformation Design ist zugleich eine Diskursintervention, ein De­ sign for Debate. Hierin liegt die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz begründet. Es ist mein Versuch, mit dem Entwurf eines Begriffs in die Diskurswelt raumbezogener Disziplinen zu intervenieren, um diese zum Positiven zu verändern. Es ist ein Vorschlag, mehr noch ein Plädoyer dahin gehend, wie Urban Design heute idealerweise kollektiv wahrgenommen, verstanden und ausgeübt werden sollte. Dieses Angebot stelle ich mit der vorliegenden Arbeit öffentlich zur Diskussion, in der Hoffnung, einen Beitrag zu einer Debatte darüber zu leisten, in welcher Welt wir heute leben, wie wir zukünftig leben wollen und wie wir, als Urban ­Designer, dazu beitragen können, Zukunft zu gestalten. Eine solche Debatte – mit entsprechenden Folgen für die Lebenswirklichkeit – ist der Werdegang, den ich mir für das Urban Transformation Design wünsche.

182  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

OUTRO: DER STILLE WANDEL Wünschen kann man sich viel. Was aber ist möglich, plausibel und wahrscheinlich? Was ist die Zukunft des Urban Transformation Design? Wie geht es weiter mit der urbanen Transformation? Angesichts der gegenwärtigen politischen Großwetterlage mag es weltverges­ sen und unzeitgemäß wirken, hier mit Urban-Transformation-Design-Hokuspokus zu versuchen, gut Wetter zu machen. Das Klima (das Beziehungsklima zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur) wird nicht angenehmer, es wird rauer und stürmt mit zunehmender Offensichtlichkeit in eine bedenkliche Richtung. „Mig­ rationskrise“, „Populismus“, „Fake News“, „Alternative Fakten“, „America First“, „AfD“, „Wir sind das Volk“, „Abschied der USA vom Pariser Klimaabkommen“, „Bre­ xit“, „Mauern“, „Protektionismus“, „Handelskriege“ und „nukleare Aufrüstung“ – das ist der Sound der Gegenwart. Er spricht für sich und verheißt nichts Gutes. Der rasende Rückschritt, die große Regression nach vorne (Geiselberger et al. 2017), hin zur globalen Gated Community, erscheint heute anziehender, „der Rückfall ­hinter ein für unhintergehbar erachtetes Niveau der ‚Zivilisiertheit‘“ (ebd., 9) als wahrscheinlicher als die Vision einer wie auch immer gearteten Großen Transfor­ mation. „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ So beschrieb der Philosoph Antonio Gramsci die Zeit des Über­ gangs nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs (Gramsci 2003). „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, so Gramsci weiter (1992). Diese Worte erscheinen heute, knapp 100 Jahre später, erschreckend aktuell. Ist Urban Transformation Design also ein naives und aus der Zeit gefallenes Hirngespinst? Hat Urban Transformation Design Zukunft? Ich sage: „Nein.“ Ich sage: „Ja.“ Die Forderung nach Urban Transformation Design hat etwas Unzeitgemäß-­ Zeitgemäßes. Vergegenwärtigen wir uns den Stand der Dinge, mögen wir zunächst einen Planeten sehen, der zerrissen zwischen obszönem Reichtum und extremem Elend, „mit einem riesigen Atomwaffenarsenal, zusammenbrechenden Megastäd­ ten und einem durchgedrehten Finanzsystem in die ökologische Katastrophe rast“ (Scheidler 2017, 197). Wenn wir aber unsere Sinne schärfen und genau hinsehen, können wir merken, dass sich zugleich ein stiller Wandel in eine ganz andere Rich­ tung vollzieht. Dieser Wandel findet unablässig und ganz offen vor unseren Augen statt. Er ist kaum wahrnehmbar, weil er sich langsam, meist unauffällig und im Kleinen vollzieht und

OUTRO 183

weil wir das, was nur ganz allmählich und im unendlich Kleinen geschieht, nur im Großen und deshalb im Nachhinein und grob erfassen können; weil unser Blick nicht scharf genug und unser Gehört nicht fein genug ist, um dieses Winzigkleine auszumachen. (­Jullien 2010, 23)

Die Kräfte der Transformation mögen an der Oberfläche verborgen sein (WBGU 2011, 1). Aber sie sind da (siehe S. 136 f.). Eine weitere, nicht weniger zeitgemäße Aussage Gramscis lautete, wir bräuch­ ten einen Pessimismus des Intellekts und einen Optimismus des Willens. Für einen Optimismus des Willens brauchen wir jedoch zumindest auch ein wenig Optimis­ mus des Intellekts. Ich verstehe Urban Transformation Design als optimistischen Intellekt. Tatsächlich gibt es neben den vielen bereits in Kapitel 5 genannten Bei­ spielen existierender urbaner Transformationen weitere berechtigte Gründe, opti­ mistisch zu sein. So sollte beispielsweise die Dynamik der sich gegenwärtig intensivierenden Transformationsbewegungen nicht unterschätzt werden. Die seit den 1970er-Jah­ ren anhaltenden Diskussionen um die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 2000 [1972]) und die Suche nach Wegen der nachhaltigen Entwicklung haben heute die Mitte der Gesellschaft erreicht (WBGU 2011, 3). In der Bevölkerung ist die Be­ reitschaft für Alternativen bereits viel größer, als das gegenwärtige politische Klima den Anschein erwecken mag. „Es gibt einen relativ breiten, kulturübergreifenden Konsens, die vorherrschende Wirtschaftsweise zu transformieren und in den nach­ haltigen Umgang mit der Umwelt einzubetten“ (ebd., 8). Mit der schwindenden Fähigkeit der kapitalistischen Wachstumswirtschaft, den Menschen eine glaubwürdige Zukunftsperspektive zu bieten, zerfällt zugleich „der Glaube an ihren Mythos. Der ideologische Zusammenhalt – das, was Gramsci die ‚kulturelle Hegemonie‘ nannte – bekommt immer deutlichere Risse“ (Scheid­ ler 2017, 13) und eröffnet nicht geahnte Potenziale für Veränderungen, wie es sie schon seit langer Zeit nicht mehr gegeben hat. Je weiter das System aus dem Gleich­ gewicht gerät, „desto größere Wirkungen können unter Umständen selbst kleine Be­ wegungen hervorbringen, wie der berühmte Schmetterling, der einen Tropensturm auslöst“ (ebd., 205). Sogar der kleinste Funke kann eine überproportional starke Wirkung haben. „Das kleinste Ereignis kann ein Loch in den grauen Vorhang limi­ tierender Handlungsmöglichkeiten reißen, die bisher den Möglichkeitshorizont des kapitalistischen Realismus markieren“ (Fisher 2013, 95). Die weltweit beobachtbaren molekularen Veränderungen in urbanen Räumen „können sich zu Ereignissen verdichten, in denen fundamentale Weichenstellungen möglich sind“ (Brie 2015a, 21). Die Vergangenheit zeigt, dass stille „Häufigkeitsver­ dichtungen von Veränderungen“ (Osterhammel 2009, 115) historische Umbrüche und umfassende gesellschaftliche Wandlungsprozesse anstoßen können.

184  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

Je mehr kleinskalige Maßnahmen greifen und je mehr Pioniere des Wandels aktiv werden, sich vernetzen und beginnen, Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen im Sinne der Transformation anzustoßen, desto eher werden Entscheidungsträger ermutigt, auch ­vermeintlich unpopuläre, große Weichenstellungen anzupacken. (WBGU 2011, 9)

Wenn der Druck steigt, bricht irgendwann der stärkste Damm. Aus einer Situation, in der nichts passieren kann, ist somit wieder eine gewor­ den, in der alles möglich ist. Im Negativen wie im Positiven. Selbst wenn wir vom Negativszenario ausgehen: Sollten die gegenwärtigen zivilisatorischen Krisen es­ kalieren, wird alles davon abhängen, wie wir vorbereitet sind, welche Auseinander­ setzungen und Diskussionen wir in den Jahren zuvor geführt, ob wir Netzwerke gebildet und welche Visionen und Strategien wir entwickelt haben. Solange das Sys­ tem einigermaßen stabil erscheint, mag ein Urban Transformation Design wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheinen, „doch sobald es in chaotische Phasen ge­ rät – und genau das zeichnet sich derzeit ab“ (Scheidler 2017, 219) – werden unsere vorherigen Lernerfahrungen entscheidend sein. Progressive Kräfte, die zuvor in Le­ thargie verharren und in Selbstmitleid baden, werden mit Gelegenheitsfenstern zur Veränderung und einem womöglich als plötzliches Ereignis hereinbrechenden „Machtvakuum nichts anzufangen wissen und es dem nächstbesten Demagogen überlassen“ (ebd.). Verstehen wir uns als Urban Transformation Designer, haben wir hingegen, so hoffe ich, eine reelle Chance, Systemkrisen als Ausgangspunkt für einen sozialräumlichen Umbau zu nutzen, der uns aus der destruktiven Logik des Status quo herausführt (ebd.). Schließen wir also mit einer moderat-optimistischen Diagnose des Transfor­ mationsforschers Rolf Reißig: Wir stehen am Anfang einer historisch herangereiften neuen Gesellschafts-Transformation, die trotz der ungebrochenen Dominanz von Finanzmarktkapitalismus und globaler Vermarktlichung sich in molekularen evolutionären Wandlungen sowie in Diskursen, sozialen Bewegungen, praktischen Beispielen und Projekten auch partiell und punktuell abzeichnet, zugleich jedoch weiterhin auf enorme strukturelle und kultur-mentale Hindernisse stößt und deren letztendlicher Ausgang aus heutiger Sicht offen ist. (Reißig 2015, 137)

Diese Offenheit sollte von Urban Designern als Potenzial und Chance begriffen ­werden, um die Welt mit der Gestaltung des Urbanen zum Positiven zu verändern. Hierfür müssen wir laut dem Designtheoretiker Wolfgang Jonas „eine ‚bescheidene Hybris‘ kultivieren“ (Jonas 2018, 19). Ich verstehe Urban Transformation Design als Angebot einer solchen Kultur bescheidener Hybris für Urban Designer.

OUTRO 185

EPILOG: WEITER … MIT AMORE Für mich persönlich geht die Reise mit Urban Transformation Design wie folgt wei­ ter: Bis 2021 werde ich die hier skizzierten Grundrisse des Urban Transformation Design im Rahmen des Forschungsprojekts Land*Stadt Transformation gestalten weiter ausbauen. Hierzu gehören, neben der Weiterentwicklung des Konzepts der Transformativen Zelle, auch die Entwicklung eines Praxisleitfadens sowie die Ent­ wicklung einer Toolbox zur urbanen Transformationsgestaltung. Im September 2019 habe ich an der Habitat Unit des Instituts für Architek­ tur an der TU Berlin ein Promotionsvorhaben mit dem Arbeitstitel „Urban Trans­ formation Design: Grundlagen einer praxisorientierten Theorie und Methodologie urbaner Transformationsgestaltung“ angemeldet. Ziel des Dissertationsprojekts ist die theoretische Vertiefung und empirisch fundierte Überprüfung und Weiter­ entwicklung der hier skizzierten theoretischen Grundrisse des Urban Transfor­ mation Design, um erste Grundlagen einer sozial robusten und praxisorientierten Theorie und Methodologie urbaner Transformationsgestaltung zur lokalen Um­ setzung globaler Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln, die sowohl für die transforma­ tive ­Wissenschaft als auch für transformationsorientierte Praxisakteure anschluss­ fähig ist. Seit 2017 bin ich zudem bei studio amore tätig, ein Denk- und Designbüro an der Schnittstelle räumlicher und gesellschaftlicher Transformation, das meine ehe­ maligen Kommilitonen und heutigen Freunde und Kollegen Mathias Burke, Eleo­ nore Harmel und Leon Jank 2015 gründeten (www.studioamore.de). Gemeinsam mit Städten, Organisationen, Unternehmen und Menschen vor Ort entwickeln und kommunizieren wir Wissen und Gestaltung auf allen Maßstabsebenen und ver­ mitteln Komplexes einfach, damit Menschen daran teilhaben können. Unsere Pro­ jekte nehmen hierbei die Form von baulichen Interventionen, Workshopformaten, ­Publikationen, Raumstrategien und Informationsgrafiken an. Damit möchten wir zur Reflexion und zum öffentlichen Austausch darüber beitragen, wie wir unsere räumliche und gesellschaftliche Zukunft gestalten wollen. Es geht also auch hier weiter, mit Urban Transformation Design … mit amore.

EPILOG 187

DANKSAGUNG Dies ist eine wissenschaftliche und zugleich sehr persönliche Arbeit, an der verschiedene Personen über einen langen Zeitraum auf unterschiedlichste Weise Anteil hatten und denen ich meinen Dank aussprechen möchte. Ohne Max Welch Guerra und Harald Kegler, meine ehemaligen Professoren im Bachelorstudium der Urbanistik an der Bauhaus Universität Weimar, die mich in meiner Überzeugung prägten, dass der fachpolitischen Reflexion große Bedeutung zukommt, hätte ich diese Arbeit vermutlich nie verfasst. Ich danke Cosima Speckhardt für den folgenreichen Hinweis auf den Begriff des Transformation Design. Undine Giseke und Wolfgang Jonas ließen mir während der Betreuung meiner Masterarbeit viele Freiräume und standen mir stets mit Rat zur Seite. Folgende Personen haben diese Arbeit aufmerksam gegengelesen und mit kritischen Korrekturen, Änderungs- und Ergänzungsvorschlägen bereichert und mich motiviert: Anne Gunia, Mama und Peter, Malte Lensch, Ibo Bakari, Andrea Dieck, Edo Lübbing-von Gaertner, Nora von Gaertner, Frederik Springer, Eleonore Harmel, Leon Jank, Mathias Burke und Lucas Kuster. Ich danke Anne Gunia für die Zeichnung der moralischen Landkarte der Transformation, Mathias Burke, Anne Freitag und Kilian Schneider für die großzügige Bereitstellung ihrer Fotos des Reallabors Stolpe. studio amore bin ich sehr dankbar für die Möglichkeit, das Thema meiner Masterarbeit nach Abschluss meines Studiums beruflich weiterverfolgen und vertiefen zu können – auf das noch viele gemeinsame Jahre folgen werden! Besonderer Dank gilt Frank Werner Pilgram für die berührenden, inspirierenden und transformierenden Gespräche. Ich danke der Robert Bosch Stiftung für die großzügige finanzielle Förderung des Forschungsprojekts Land*Stadt Transformation gestalten, ohne die die in Kapitel 5.9 beschriebenen Ergebnisse nicht möglich gewesen wären. Nora Kempkens, Ulrike Hollmann und Sven Schrape, Amelie Solbrig und Heike Strempel vom Birkhäuser Verlag und dem Herausgeberrat der BIRD-Reihe danke ich für die Unterstützung der Publikation ­sowie die freundliche und hilfreiche Betreuung. Besonderer Dank gilt hierbei erneut ­Wolfgang Jonas: für das entgegengebrachte Vertrauen, das wohlwollende und zugleich kritische Interesse – und die stets zuverlässigen, postwendenden Antworten. Mein abschließender und größter Dank gilt meiner Familie, die mich in die privilegierte Position gebracht hat, dieses Buch verfassen zu können.

188  URBAN TRANSFORMATION DESIGN

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AUTOR Hişar Schönfeld, geboren 1990 in Bremen. B. Sc. Urbanistik, Bauhaus Universität Weimar; M. Sc. Urban Design, Technische Universität Berlin. Studentische Mitarbeit bei Urban Catalyst GmbH und am Fachgebiet Planungstheorie und Analyse städtischer und regionaler Politiken des Instituts für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.V., freie Mit­arbeit im Designbüro studio amore. Seit September 2019 Doktorand an der Habitat Unit des Instituts für Architektur der TU Berlin, Promotionsvorhaben mit dem Arbeitstitel „Urban Transformation Design: Grundlagen einer praxisorientierten Theorie und Methodologie urbaner Transformationsgestaltung“. Studienstipendiat (2012–2018) und Promotionsstipendiat (2020 – laufend) der Heinrich Böll Stiftung, Themencluster „Transformationsforschung“. Forschungsschwerpunkte: (Urban) Designtheorie und -methodenforschung, urbane Transformationsforschung, Reallaborforschung, Urban Transformation Design ([email protected]).

AUTOR 199

Projektkoordination: Nora Kempkens Herstellung: Amelie Solbrig Layout und Satz: Sven Schrape Design-Konzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithografie: bildpunkt Druckvorstufen GmbH, Berlin Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Library of Congress Control Number: 2020933077 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der ­Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungs­ anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine ­Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Wenn nicht anders angegeben, liegen die Rechte für die Abbildungen beim Autor. ISBN 978-3-0356-2050-4 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2057-3

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