Unterm Blick des Fremden: Theaterarbeit nach Laurent Chétouane [1. Aufl.] 9783839429136

The first anthology with essays, interviews, photographs, and a catalog of works on the opus of choreographer and direct

144 45 15MB

German Pages 296 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane
Ein Brief
Vom Fremden berührt – Sacré Sacre du Printemps
Fremdes denken – Fremdes tanzen
Fremde Welt
Von einem Sacre zum Anderen. Figuren der Fremdheit in Laurent Chétouanes. Sacré Sacre du Printemps
Gesten des Opfers (der Kunst). Zur Aufgabe des Tänzers in Laurent Chétouanes. Sacré Sacre du Printemps
Fremdes Hören. Resonanzen von Musik und Tanz
Gegen-Blicke – Noten zur Aufführung
Überschritte
Ethik des Zusammenseins
Diesseits der Exegese
Das Fremde bleibt aus
Im zynischen Blick der Kultur
Aggression
Wenn die Musik groovt, muss man tanzen
Abstand in der Nähe – der Nullpunkt des Tanzes im Theater
Theater der Frage, Befragung des Theaters
What time is it?. Wiederholung, Blick und Alterität im Theater Laurent Chétouanes
Wir spielen nicht – was tun wir denn dann?
Arbeit am Tanz – Choreographien Laurent Chétouanes
Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus. Zu Laurent Chétouanes Tanzarbeiten
Ohne Bild. Begegnungen mit Laurent Chétouane
Entlang eines begehrenden Widerstands. Zur choreographischen Arbeit von Laurent Chétouane
»… wie dieser Blick sie inszeniert«. Laurent Chétouane im Dialog über seine Arbeit mit Tänzern
Anhang
Werkverzeichnis
Auswahlbibliographie
Bildnachweise
Zu den Autorinnen und Autoren des Bandes
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Unterm Blick des Fremden: Theaterarbeit nach Laurent Chétouane [1. Aufl.]
 9783839429136

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Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden

Theater | Band 69

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.)

Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane

Diese Publikation und die ihr zugrunde liegende Reihe von Symposien (2012-2013) wurden ermöglicht durch eine Förderung der Kulturstiftung des Bundes und durch die freundliche Unterstützung von Ruhrtriennale 2012 / PACT Zollverein Essen, Tanzquartier Wien, Rencontres chorégraphiques internationales de Seine-Saint-Denis 2013 / Goethe Institut Paris, Kampnagel Hamburg / K3, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt und Goethe-Unversität Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sacré Sacre du Printemps, v.l.n.r.: Senem Gökçe Ogu˘ltekin, Charlie Fouchier, Joséphine Evrard, Kathryn Enright, Joris Camelin, An Kaler, Matthieu Burner. Foto: Oliver Fantitsch, Essen 2013, © Oliver Fantisch Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2913-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2913-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane Nikolaus Müller-Schöll/Leonie Otto | 9

Ein Brief Jean-François Peyret | 30

V om F remden berührt – S acré S acre du P rintemps Fremdes denken – Fremdes tanzen Bernhard Waldenfels | 37

Fremde Welt Ulrike Haß | 53

Von einem Sacre zum Anderen Figuren der Fremdheit in Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Cécile Schenck | 73

Gesten des Opfers (der Kunst) Zur Aufgabe des Tänzers in Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Nikolaus Müller-Schöll | 83

Fremdes Hören Resonanzen von Musik und Tanz Leonie Otto | 101

G egen -B licke – N oten zur A ufführung Überschritte Jurgita Imbrasaite | 125

Ethik des Zusammenseins Irmela Kästner | 129

Diesseits der Exegese Franz Anton Cramer | 132

Das Fremde bleibt aus Gerald Siegmund | 135

Im zynischen Blick der Kultur Helmut Ploebst | 140

Aggression Georg Döcker | 143

Wenn die Musik groovt, muss man tanzen Leo Schmidthals | 147

A bstand in der N ähe – der N ullpunk t des T anzes im T heater Theater der Frage, Befragung des Theaters Hans-Thies Lehmann | 159

What time is it? Wiederholung, Blick und Alterität im Theater Laurent Chétouanes Tim Schuster | 166

Wir spielen nicht – was tun wir denn dann? Sebastian Kirsch | 179

A rbeit am T anz – C horeographien L aurent C hétouanes Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus Zu Laurent Chétouanes Tanzarbeiten Marita Tatari | 197

Ohne Bild Begegnungen mit Laurent Chétouane Heike Albrecht | 212

Entlang eines begehrenden Widerstands Zur choreographischen Arbeit von Laurent Chétouane Krassimira Kruschkova | 215

»… wie dieser Blick sie inszeniert« Laurent Chétouane im Dialog über seine Arbeit mit Tänzern Nikolaus Müller-Schöll und Laurent Chétouane | 235

A nhang Werkverzeichnis  | 255 Auswahlbibliographie  | 273 Bildnachweise  | 286 Zu den Autorinnen und Autoren des Bandes  | 290

Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane »Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen. Das primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plötzlich tritt da ein Fremder ein. Die Frau war grade im Begriff, ein Kopfkissen zu ballen, um es nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. […] Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnteren Szenen des bürgerlichen Lebens sich nicht viel anders ausnehmen.« Walter Benjamin

Als Laurent Chétouane im Jahr 2007 sein Tanzstück #11 zur Aufführung brachte, gab er ihm den Untertitel »Unterm Blick von Laurent Chétouane«. Klingt dieser Untertitel auch zunächst etwas merkwürdig, so beschreibt er doch sehr gut, was es mit den Regie- und den Choreographie-Arbeiten von Chétouane auf sich hat: Es sind die Arbeiten von einem, der auf die Vorgänge blickt, sie kommentiert, analysiert und mit den Spielenden entwickelt und verändert. Dabei spielt eine große Rolle die Distanz, die Chétouane zu dem mitbringt, was sich vor ihm auf den Bühnen abspielt: Distanz des Franzosen, der aus einer anderen Theaterkultur kommend auf das deutsche Theater blickt, Distanz des gelernten Ingenieurs, der auf Bühnenabläufe blickt, Distanz des an zeitgenössischer Choreographie und Bildender Kunst geschulten Künstlers, der auf das Schauspiel blickt, Distanz des Sprechtheaterregisseurs, der auf den Tanz blickt, Distanz des Choreographen, der aufs Sprechtheater blickt …

1 | Vgl. für alle Inszenierungen das Werkverzeichnis am Ende dieses Bandes.

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Der Blick des Fremden, das soll jedoch auch verweisen auf den Blick des Zuschauers, der die Schauspieler und Tänzer auf Chétouanes Bühne anblickt und dabei bemerken wird, dass diese seinen Blick wahrnehmen, ihn als Teil auch ihres Spieles auffassen. Und unterm Blick des Fremden findet sich nicht zuletzt auch der Zuschauer2 wieder, der im Lauf von Chétouanes Arbeiten von den Schauspielern angeblickt wird. Niemals suggerieren sie ihm, er könne bruchlos mit ihnen verschmelzen, sich ihr Leid einverleiben, ihr Begehren zu seinem machen. In den Jahren seiner Arbeit im Sprechtheater und im Tanz hat Chétouane mit einer Reihe von Schauspielern, Tänzern, Performern und Laien einen Stil erst des Sprechens, dann der Bewegungsabläufe und zuletzt des Zusammenspiels entwickelt, der schon lange über seine eigene Arbeit hinaus wirkt und zu denken gibt. Im Dialog mit seiner Produktion Sacré Sacre du Printemps wurde im Rahmen einer Reihe von Symposien, die die Gastspiele des Stücks begleiteten, versucht, im Gespräch mit Philosophen, Theater- und Tanzwissenschaftlern, Künstlern, Kritikern, Dramaturgen und Kuratoren für diese in ihrer die Disziplinen, Sparten und Grenzen überschreitenden Art auf der zeitgenössischen Bühne einzigartige Produktion Begriffe zu finden und mit ihr und über sie vermittelt gegenwärtiges Geschehen in Theater und Tanz zu beleuchten. Der vorliegende Band dokumentiert einige der dabei gehaltenen Vor- und Beiträge und ergänzt sie durch kleinere und größere Essays zu Aspekten der Arbeit Chétouanes im allgemeinen und speziell zu Sacré Sacre du Printemps – seiner bisher wohl erfolgreichsten wie auch umstrittensten Produktion. Vor den Beiträgen, die dieser besonderen choreographischen Arbeit oder den Fragen, die sie aufwirft, gewidmet sind, soll hier zunächst eine kurze Vorstellung Chétouanes versucht werden, die – in groben, eher skizzierten Strichen – seinen Werdegang in Theater und Choreographie an einigen Stationen exemplarisch nachzeichnet und einen knappen Einblick in die Praxis seiner Proben gibt. * 2 |  Der Gebrauch von sowohl männlichen als auch weiblichen Formen in amtlichen Verlautbarungen, Stellenausschreibungen, theoretischen oder journalistischen Texten stellt eine wichtige Errungenschaft dar. Wir verzichten in diesem Band lediglich aus Gründen der Lesbarkeit auf die Verwendung des Binnen-I, der Unterstrich- oder der Asteriskenschreibform.

Unterm Blick des Fremden

Der gebürtige Franzose Chétouane kam erst spät zur Bühne. Zunächst absolvierte er ein Ingenieursstudium, beschloss dann aber, Theaterwissenschaft an der Sorbonne in Paris und kurz darauf Regie an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zu studieren. Bereits während des Studiums begann er selbst zu inszenieren und erwarb sich gleich mit seinen ersten Arbeiten reichlich Lob: Phaidras Liebe von Sarah Kane, eine Inszenierung mit Schauspielstudenten, brachte ihm im Jahr 1999 den Ensemblepreis beim Schauspielschultreffen in Rostock und eine Einladung zur Überarbeitung fürs Mannheimer Nationaltheater ein. Die Zofen von Jean Genet, eine Art Gesellenstück im Rahmen seiner Ausbildung, das im Studio des Wiesbadener Schauspielhauses gezeigt wurde, fand sich gleich fünf Mal auf den Hitlisten der Kritiker im Jahrbuch 2000 von »Theater heute«. Mit seiner Diplom-Inszenierung, der Uraufführung von Thyestes, dem von Durs Grünbein neu übersetzten schwarzen Stück Senecas, machte er überregional auf sich aufmerksam und spaltete, wie in allen folgenden Arbeiten auf den Sprechtheaterbühnen in Mannheim, Hamburg, Oldenburg, München, Weimar, Berlin, Essen und Köln, Publikum und Kritiker. Die drei ersten Inszenierungen steckten das Feld ab, in dem sich die Arbeit Chétouanes bis 2007 abspielte: Er suchte sich starke, sprachmächtige Texte, die den Schauspielern bereits auf der Ebene des Sprechens viel abverlangen. Thematisch lassen sich die meisten der von ihm inszenierten Stücke einer radikalisierten Aufklärung zuordnen, etwa jener schwarzen Traditionslinie, die in ihrem Kult des Bösen auf die Bühne bringt, was eine im Geist der bürgerlichen Aufklärung begründete deutsche Theatertradition seit dem 18. Jahrhundert zu vergessen und verdecken versuchte. Wie vor ihm die Surrealisten in Frankreich und Heiner Müller in Deutschland, bemühte er sich darum, im Theater die weißen Flecke zu besetzen, die eine über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung auf der Landkarte der Vernunft hinterlassen hatte. Sein Interesse galt den Abgründen der menschlichen Seele wie der Politik, die er ohne Verharmlosung, billigen Trost oder wohlfeile, die eigene Schuld und Irritation ausblendende Moral auf die Bühne brachte. Doch nicht so sehr seine Stoffe provozierten, faszinierten und spalteten Kritiker und Publikum, als vielmehr ihre Form: Chétouanes Augenmerk galt in ihnen und allen folgenden Arbeiten der Rhetorik auf dem Theater, der Sprache in allen ihren Nuancen. Das konnte beim ersten Mal als die vielleicht etwas überzogene Bemühung um einen möglichst

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sauberen Umgang mit dem Text erscheinen. Spätestens aber mit Thyestes wurde deutlich, dass hier jemand an die Versuche von Regisseuren wie Jean-Marie Straub, Josef Szeiler oder Einar Schleef anknüpfte, die Sprache in ihrer Medialität auszustellen, sie nicht als bloßes Instrument oder funktionales Mittel zum Zweck zu begreifen, sondern auch als eigenständiges und aberwitziges Material, das als Rest gegen das Kalkül der Dichtung wie der Inszenierung auf begehrt: Senecas Sprache etwa erschien als der utopische Gegenpol, die poetische Aufhebung einer Handlung, deren Grausamkeit anders kaum erträglich wäre. Wie grundlegend Chétouanes Arbeit mit dem Schauspieler in das Verständnis eines Textes eingreifen kann, machte in besonders eindrucksvoller Weise seine Hamburger Inszenierung von Sarah Kanes 4.48 Psychose deutlich. Ursula Dolls Spiel glich darin einer Spektralanalyse des vorgetragenen Textes. Hatte eine kurzsichtige Aufführungspraxis bis dahin den Text wiederholt auf das Thema des Selbstmordes reduziert, so brachte sie in ihrem Monolog Elemente des Hasses und der Aggression, aber daneben auch der Träumerei, des Sentimentalen und sogar der Komik zum Vorschein. Niemals transportierten die Worte in ihrer Artikulation nur die bloße Bedeutung. Am deutlichsten wurde dies, wenn sie ausgerechnet die im Text mehrfach auftauchenden Zahlenreihen als dessen emotionalste Partie sprach. So, wie die Worte in Chétouanes frühen Inszenierungen gesetzt wurden, mit Bedacht und Blick auf die Ober-, Unter- und Nebentöne, so setzten die Darsteller dort auch die Schritte. In der Mannheimer Inszenierung von Kanes Stück Phaidras Liebe war der Boden mit Kalk bedeckt, auf dem sich die geometrisch angeordneten Gänge der Spieler ebenso als schwarze Spuren abzeichneten wie die Momente, in denen die klare Geometrie verlassen wurde. Ein anti-illusionistisches Moment, das sich – weniger auffällig, aber in jedem Fall unverkennbar – durch alle Arbeiten Chétouanes zog. Die Gänge galten nicht der Illustration einer Handlung, sie vermaßen den Raum, kartographierten die Bühnenlandschaft. In seiner Oldenburger Inszenierung von Schillers Kabale und Liebe wirkte der Guckkasten des Theaters wie eine Riesenausgabe jener Spielbühnen mit waagerecht ein- und ausfahrbaren Figuren, die man für Kinder baut. Die Spieler bewegten sich auf festgelegten Bahnen, traten aus parallel angeordneten seitlichen Öffnungen auf und ab. Was Chétouanes Theater dem Betrachter vor Augen führte, war ein blinder Fleck der zeitgenössischen Sprechtheaterpraxis auf deutschspra-

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chigen Bühnen: Um Nähe zur geläufigen Seherfahrung bemühte Traditionalisten wie die mit dem Mittel des pointierten interpretatorischen Zugriffs aktualisierenden Regisseure treffen sich in der Ignoranz gegenüber dem Text als Landschaft – diese, weil sie auf der Bühne »Geschichten erzählen« wollen, jene, weil sie in ihrem jeweiligen Stoff wiederzufinden suchen, was sie zuvor hineinprojiziert haben. Gemeinsam ist ihnen die eher implizite Auffassung, Rhetorik sei in erster Linie Trug und Aufputz, die Bewegung auf der Bühne ein Element der Sinnproduktion. Dagegen begriffen Chétouanes Inszenierungen das Rhetorische als einen verführerischen und zugleich subversiven Teil jedes Sprechens, mit dem es zu arbeiten gilt, die Bewegung als Teil einer Raumanordnung, die niemals bloß der Vermittlung des vermeintlichen Sinns eines Textes dient. Fragt man, wie Chétouane zu dieser Eigenart seiner frühen Inszenierungspraxis gelangt ist, so scheinen drei Aspekte wichtig: Zum einen die kaum zu unterschätzende Fremdheit seines Blicks auf die deutsche Sprache und Bühne. Wer häufiger französische Theater besucht hat, der weiß, dass auf den Bühnen jenseits des Rheins nicht nur in einer anderen Sprache gesprochen wird, sondern auch mit einem anderen Sprachverständnis. Die französische Theaterpraxis steht noch immer unter dem Vorzeichen einer über Jahrhunderte hinweg gepflegten Tradition des stilisierten Sprechens auf der Bühne, einer Konvention, die seit der Zeit Racines und Corneilles beinahe ungebrochen gepflegt wird. Die Künstlichkeit der Darstellung wird als deren Reiz und nicht bloß als ihr Mangel begriffen. Für deutsche Ohren klingt das Sprechen auf französischen Bühnen meistens manieriert. Der Kunstton, der in Stücken wie Racines Phädra seinen Platz hat, erzeugt unbeabsichtigte Verfremdungseffekte in Texten, die nicht zum Kanon der französischen Klassik gehören. Nur wenige französische Schauspieler vermögen dem zu entkommen. Die Nüchternheit der brechtschen (oder der lutherschen) Sprache hat sich, wie es scheint, in der französischen Dramatik wie auf französischen Bühnen niemals ihren Platz erobern können, zumindest nicht auf Dauer. Wer umgekehrt aus der französischen Theatertradition nach Deutschland kommt, dem muss die Praxis des Sprechens auf deutschen Bühnen häufig kunstlos, ja schlampig erscheinen, und dies gerade dort, wo in den Inszenierungen angeblich die Schauspieler das Sagen haben sollen. Weil Rhetorik und Gestik dem Primat des Sinns untergeordnet werden, stellen sie nicht selten das Unbewusste des Schauspielens dar, werden zu ungewollten und mitunter geradezu komischen Konterkarierungen dessen, was die Schauspieler vermitteln wollen. Dieses

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Unbewusste nach Maßgabe des Möglichen zu erhellen und einzudämmen, könnte als regulative Idee von Chétouanes frühen Arbeiten mit den Schauspielern beschrieben werden. Im Verweis auf alles das, was im Sprechen mitschwingt, eröffnete sein Sprachtheater einen Raum der Möglichkeiten, ließ hervortreten, was unter dem Diktat der Interpretation mit ihrer Verkürzung der Sprache auf Mitteilung oder Ausdruck verloren geht. Was Chétouanes Arbeit mit den Schauspielern neu erschloss, ist aber zum zweiten vor allem das Singuläre jedes einzelnen Schauspielers – und später jedes Performers und Tänzers –, die A- und Polyphonie des Sprechens und überhaupt in seinem Spiel, dasjenige, worin ein Spieler mehr mitteilt, als er weiß, etwas von seiner Begehrensstruktur, wie man vielleicht sagen könnte, von dem, was ihn treibt und prägt. Im Mittelpunkt von Chétouanes Theaterarbeit stand insofern nicht länger das seiner selbst mächtige Individuum oder das Subjekt des 19. Jahrhunderts. Es erschien in seiner behaupteten Individualität vielmehr als Opfer von Ideologien, in denen suggeriert wird, man könne dem Allgemeinen der Sprache, der Gesellschaft und Gemeinschaft oder der Ökonomie schlicht das Besondere eines authentischen Sprechers, eines handelnden Akteurs oder eines zu Bewusstsein gekommenen Analytikers entgegensetzen. Gerade durch ihre vordergründige Tendenz auf ein reglementiertes, ja formalisiertes Sprechen ließ Chétouanes Arbeit im Reden und Handeln jedes Schauspielers etwas aufscheinen, was jeden einzelnen von ihnen als durch keinen anderen ersetzbaren ausweist: seinen Eigensinn, seinen Idiolekt oder kurz: die Spur seiner Andersheit. Mit dem Interesse an dieser Spur schloss Chétouane zum dritten bereits in seinen Arbeiten für das Sprechtheater an die von ihm häufig als prägend bezeichnete Begegnung mit der Arbeit des Choreographen William Forsythe an. Forsythe zufolge reicht es nicht aus, seine Choreographien einfach nachzutanzen. Vielmehr leite einen die Choreographie »dazu an, diesen Zustand des Tanzens zu erfahren. Es geht darum, sich von diesem Zustand des Tanzens faszinieren zu lassen.«3 Zwischen der Choreographie auf der einen Seite und der Anarchie einzelner Bewegungen auf der ande3 |  Vgl. Fischer, Eva-Elisabeth: »Hüpfburg für Rolexträger. Der Choreograph William Forsythe über die Perspektiven seiner neuen Company, die in Berlin gegründet wurde«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.3.2005, S. 17. Vgl. zu den nachfolgend skizzierten Überlegungen ausführlich: Müller-Schöll, Nikolaus: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Lenger, Hans-Joachim/

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ren Seite ist der Zustand des Tanzens für Forsythe dasjenige, was, wie man aus dem Zusammenhang eines Interviews folgern kann, in die Choreographie ein jeder Fixierung sich entziehendes Moment von Flüchtigkeit, in die flüchtige Flut einzelner Bewegungen eine Struktur einzeichnet. Zustand des Tanzens wäre also Forsythes Name für eine Erfahrung der kontrastatischen Flüchtigkeit in allem, was fixiert wird, die sich gerade und überhaupt erst bei durchkalkulierten Produktionen wie Endless House machen lässt, wo, wie er sagt, »alles bis ins kleinste Detail und auf die Sekunde festgelegt«4 ist. Und zugleich wäre es die Erfahrung einer kontrafluiden Fixierung, in der sich die Arbeit und der Körper des je spezifischen Tänzers in der vorgegebenen Choreographie allem Vorgegebenen widersetzt. Wobei das sich widersetzende zugleich zu flüchtige wie zu fixierte Moment im Grunde die Erfahrung einer körperlichen Schwäche, eines Randes oder einer Grenze seiner Formbarkeit wäre, das, was bei aller Formalisierung und gerade und überhaupt erst in ihr deshalb nicht formalisiert werden kann, weil es nicht länger dem Willen, der Kontrolle, der Kalkulation oder Souveränität des Tänzers unterliegt, sondern vielmehr deren Ausfransen, ihre Entgrenzung oder Auflösung markiert. Den Zustand des Tanzens kann man, da er nichts als die Auflösung jedes Standes, jeder Formalisierung und jeder Notation ist, in jeder Fixierung nur als das erfassen, was im Verzug bleibt, sie supplementär5 verfälscht, kontaminiert. Seit der eingangs erwähnten Bildbeschreibung aus dem Jahr 2007 gehen Chétouanes Untersuchungen auf der Bühne in eine neue Richtung, auch wenn dabei vieles, was ihn schon vorher interessiert hatte, in anderer Form weiterverfolgt und -erforscht wird. Es ist vielleicht kein Zufall, dass, wie seiner Bekundung nach am Ursprung seiner Entscheidung, sich vom Ingenieursberuf ab- und dem Theater zuzuwenden, auch am Beginn seiner Wende des Jahres 2007 eine intensive Begegnung mit dem Werk Heiner Müllers stand. Mit seiner retrospektiv als Tanzstück #1 bezeichneten ersten Arbeit mit und über Müllers Bildbeschreibung unternahm er einen ersten Versuch auf dem Gebiet des Tanzes im Theater, mit dem Tänzer Frank James Willens auf der Bühne. Wenn Müller seinen Text einmal als Tholen, Georg-Christoph (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld 2007, S. 187-207. 4 |  Vgl. Fischer, Hüpfburg, S. 17. 5 |  Vgl. zum Begriff des Supplements: Derrida, Jacques: »Dieses gefährliche Supplement…«, in: ders., Grammatologie. Frankfurt a.M. 1988, S. 244-282.

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Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder bezeichnete, so gab er damit zugleich das Leitmotiv einer jahrzehntelangen Praxis des Umgangs mit diesem Text vor: Theater mit diesem Text, so die Überzeugung derer, die mit ihm arbeiteten, musste auf die Bebilderung, die Illustration und Verdoppelung verzichten. Doch das Bildverbot lässt sich auch anders begreifen: In Chétouanes Inszenierung werden Bilder in geradezu provozierender Deutlichkeit erzeugt. Nur, dass sie mit unzähligen Mitteln und auf unzähligen Ebenen entstehen: Der Malstift auf seiner Bühne kann eine Kreide auf einer Tafel sein, doch auch der Körper des Performers oder aber bloß dessen Fuß oder dessen Hand. Die Überdeutlichkeit der Bilder im Detail lässt als Kehrseite die Bildlosigkeit im Ganzen bestehen. Daran knüpft die Inszenierungspraxis jenes Abends an, mit dem, ausgehend von der Metamorphosen-Szene des Faust II, Chétouanes FaustArbeiten in Weimar und Köln ihren Ausgangspunkt nahmen. Als Tanzstück #2 : Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und feierte der Abend mit drei Performern im Dezember 2007 Premiere. Wie Willens in der Bildbeschreibung, erkundeten hier neben Willens auch Sigal Zouk und Jan Burkhardt den Text und ihre mit ihm verbundenen Vorstellungen. Text und Szene entstanden gewissermaßen vor den Augen des Zuschauers, im Spiel mit dem wenigen, was auf der Szene dafür zur Verfügung stand, mit Mikrofonen, Scheinwerfern, einem Feuerwehrschlauch und Stühlen. Der Tanz wirkte so formal und kontrolliert, dass man nach seinen Ordnungsprinzipien zu suchen begann, war zugleich aber erkennbar keiner allgemeinen Regel unterworfen. Eher folgte er, wie der Tanz in den Choreographien William Forsythes, Vorgaben, die erahnbar, doch den Betrachtern unbekannt blieben, so verbindlich und spezifisch sie auch für die Formgebung der Tänzer waren; ein gleichsam kanonisiertes Repertoire von Gesten schien ihr Spiel zu bestimmen, ohne dass dieses Repertoire jemals offengelegt, für die Betrachter durchschaubar würde. Am Beginn des Abends stand die Erkundung des Raumes. In dem durch die Erkundung geschaffenen Raum wurde der Text dann im Sitzen und Gehen gesprochen, wobei Willens und Zouk mit starkem Akzent sprachen, der den Text zugleich interessant machte wie auch von den Betrachtern wegrückte, das Gewicht vom Was auf das Wie des Sprechens verlagerte. Es kam zu einer beständigen Verbindung und Ausschließung: zwei zusammen gegen einen Dritten. Die Betrachter wurden in einen spielerischen Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung gezogen, in ein beständiges Mit- und Gegeneinander der tänzerischen Bewegung. Dabei

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schien das unterliegende Thema des Abends, das ihn im Übrigen mit dem ersten und dem dritten Tanzstück Chétouanes verknüpft, die Frage der Bildwerdung zu sein: Wie erzeugt Tanz oder allgemeiner Bewegung Bilder und Vorstellungen und wie lösen sich diese wieder auf? Auf vielen Ebenen arbeiteten die drei Tänzer/Performer dabei neuerlich mit dem Erzeugen und Verwischen von Bildern. Häufig erschloss sich retrospektiv der Sinn einer Bewegung, wenn der Text der Metamorphosen-Szene diese gewissermaßen einholte und erklärte. Aus diesem Abend und seiner Logik heraus, so scheint es, entwickelte Chétouane dann zunächst den Faust II-Abend, mit dem er in Weimar im März 2008 Premiere hatte, danach seine Faust I-Produktion in Köln im Oktober 2008. Bedürfte es einer und nur einer einzigen Definition für die Faust-Arbeiten Laurent Chétouanes, so wäre es insofern diese: Es sind aus inhaltlicher wie – davon nicht abtrennbar – formaler Perspektive gesehen Reflexionen über, ja Elogen auf die Veränderbarkeit, drei Abende der Metamorphosen. Dabei glich der Abend in Weimar zunächst einer Party, dann einem multimedialen Spektakel aus Film, Musik und Spiel, um nach dem in seinem Zentrum in verkürzter Form integrierten Tanzstück #2 in einem zweistündigen Gruppenspiel über die letzten Akte des Faust II zu enden. Dieses Gruppenspiel konnte hier als Übertragung des Prinzips, welches das Tanzstück #2 bestimmte, auf das Sprechtheater begriffen werden. Der Kölner Faust I, nach einer Brechts Fatzer und Hölderlins Empedokles gewidmeten ersten Arbeit Chétouanes ebendort die zweite Arbeit, trug nicht nur Spuren der zwei vorangegangenen Beschäftigungen des Regisseurs und einiger der Mitspielenden mit Goethes Faust II und speziell mit dem zweiten Akt des Stücks, sondern in mindestens gleichem Maße auch solche der Beschäftigung mit Fatzer von Brecht und Der Tod des Empedokles von Hölderlin: Formulierte Heiner Müller einmal über den Fatzer, dass er Brechts Faust sei, ein Jahrhunderttext des 20. Jahrhunderts, in seiner Radikalität und Kompromisslosigkeit nur Goethes Faust im Verhältnis zum 19. Jahrhundert vergleichbar, so könnte man formulieren, dass Chétouane den Faust I gewissermaßen als Goethes Fatzer begreift: als einen Stoff, der, selbst wenn er letztlich in die Form eines Stückes gebannt und als solches klassisch geworden ist und kanonisiert wurde, weiterhin die Qualität eines großen, jede Form und jede Gattung sprengenden Fragments behalten hat – als eines der großen geschichtsträchtigen Bruchstücke der deutschen Literatur. Als den Satz, den er seinen Schauspielern zum Verständnis ihrer Auffassung von Rollen des

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Stückes auf der Kölner Bühne mitgab, bezeichnete er die Selbstdefinition Mephistos, der auf die Frage Fausts, wer er sei, sagt: »Ich bin ein Theil des Theils, der anfangs alles war, …«.6 Alle Spieler des Abends, sechs Schauspieler und zwei Tänzer, spielten mit dem Text der Rollen, imaginierten, was es mit ihnen auf sich hat. Insofern gab es nicht nur keine Lektüre des Ganzen, keine vorgängige Idee oder große Erzählung, die alles, was szenisch zutage trat, verband und in einem Referenten verankerte, sondern darüber hinaus auch keine vorgestellten Figuren und Charaktere, stattdessen einen Text, der als der eines anderen die Phantasie der spielenden und sich bewegenden Akteure beflügelte, die ihn im permanenten Mitund Gegeneinander vorführten, darstellten, umsetzten, ohne ihn dabei aber als Eigentum aufzufassen. Es war, als ginge es vielmehr darum, im Umgang mit einem von irgendwoher überkommenen unbekannten Textobjekt herauszufinden, was es überhaupt damit auf sich hat, was denn zum Beispiel Faust sein könnte, der Mann, das Stück, der Mythos. Ein Abend als Suche, szenische Forschung. Es ist, zumal im hochsubventionierten deutschen Theaterbetrieb, eine Seltenheit, dass ein erfolgreicher Regisseur gewissermaßen von Neuem an einen Nullpunkt geht und sich, ohne sich von seinen vorherigen Erfolgen einfach weitertragen zu lassen, wieder in die Lehre begibt. Was sich aus dem Wendepunkt des Jahres 2007 in jenen Arbeiten Chétouanes in Choreographie und Schauspiel entwickelte, die der Wendung zur Choreographie folgten, ist der Gegenstand des vorliegenden Bandes. Er untersucht insofern die einmalige Begegnung von Schauspielregie und Choreographie in der Arbeit eines Künstlers, der in beiden Bereichen eine ganz eigene Handschrift zu entwickeln vermochte. Dabei gibt er entsprechend der inhärenten Vielstimmigkeit der so entstandenen Arbeit einer Vielzahl von Stimmen Raum, welche die szenischen Arbeiten auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlicher Perspektive auf den Begriff zu bringen versuchen. Ausgangspunkt ist dabei, wie erwähnt, die im Jahr 2012 produzierte Arbeit Sacré Sacre du Printemps. Nikolaus Müller-Schöll *

6 |  Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt a.M. 2005, S. 65.

Unterm Blick des Fremden

Das zentrale Thema von Sacré Sacre du Printemps war der Umgang mit dem Fremden. Dieser Umgang bildete sich für Laurent Chétouane paradigmatisch in der Rezeptionsgeschichte von Le Sacre du printemps ab, von der verständnislosen Empörung, die der Uraufführung entgegengebracht wurde, zur späteren großen Bewunderung für die Komposition und die vielen Choreographien, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu entwickelt wurden. Die Frage, wie die sieben Tänzer und Tänzerinnen einander (und sich selbst) auf der Bühne als immer uneinholbar Anderen begegnen könnten, stand im Mittelpunkt der fünfmonatigen Proben zu Sacré Sacre du Printemps im DOCK 11 EDEN***** in Berlin-Pankow. Der Fokus der Probenarbeit lässt sich in der Formulierung zuspitzen, dass es darum ging, sich der Fremdheit gegenüber den anderen und gegenüber dem eigenen Selbst wieder bewusst zu werden – und sich mit diesem Bewusstsein vor einem Publikum zu exponieren. Vielleicht war dieses Wagnis nur deshalb möglich, weil es für den nicht als Tänzer und Choreograph ausgebildeten Laurent Chétouane kein bestimmtes Bewegungsrepertoire, keine bestimmte Methode der Generierung von Bewegung gab, auf die er als Leiter der Proben hätte zurückgreifen können. Vor den Proben zu Sacré Sacre du Printemps hatte Laurent Chétouane noch nie mit einer so großen Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern gearbeitet. Auch hatte er noch nie zu einer Ballettmusik und dem damit verknüpften Sujet choreographiert. Seit horizon(s) und Hommage an das Zaudern ging Chétouane zunehmend dem nach, was sich mit den Worten Philipp Gehmachers als die »Sehnsucht nach der fließenden Bewegung« 7 bezeichnen lässt. Sehen die Bewegungen in der Serie der Tanzstücke noch alltäglich, unaufgeregt und vereinzelt aus, zeigen die darauffolgenden Tanzstücke (die aber von Chétouane nicht mehr als solche betitelt und nummeriert werden) mehr Bewegungen im Fluss. Diese Choreographien arbeiteten mit Musik, mit stärkeren Tempiwechseln der Bewegungen und konzentrierten sich auf das gemeinsame Tanzen, auf Synchronizitäten oder klar erkennbare Formen der Körper miteinander oder ihrer Spuren im Raum. Selbst wenn Chétouane zunehmend eigene tanzpraktische Erfahrungen und Kenntnisse sammelte, arbeitete er als Choreograph ebenso wie 7 |  Gehmacher, Philipp: »Dem Denken eine Form geben«, in: SCORES N o1: touché 2010 Tanzquartier Wien Magazine 2010, S. 94-99.

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zuvor als Regisseur vor allem als sehr aufmerksamer und genauer Beobachter. Sigal Zouk, vielleicht die zu diesem Zeitpunkt am besten mit Laurent Chétouanes choreographischer Arbeitsweise vertraute Tänzerin, begleitete die ersten Probenmonate und vermittelte ihr (Körper-)Wissen an die anderen Tänzer. Um die Vorgänge im eigenen Körper genau wahrzunehmen, zum Beispiel um gewohnte Denk- und Bewegungsreaktionen unterbrechen und verändern zu können, wurden die Tänzerinnen und Tänzer von Patricia Brülhart trainiert, die von der Grinberg-Methode ausging. Im Verlauf der Proben begann sich die Arbeit mit einem Vorstellungsmodell zu entwickeln, das in Chétouanes folgenden Tanzstücken noch wichtiger werden sollte. Dieses beruht darauf, dass sich Möglichkeiten für die eigene Bewegung vor allem aus der Konstellation der anderen Tänzer im Raum ergaben. So können zum Beispiel zwischen den anderen Tänzern Korridore für den möglichen Verlauf einer eigenen Bewegung entstehen. Später wurde dieses Modell so weiterentwickelt, dass die Tänzer sich über den Boden verlaufende, von ihnen selbst und den anderen ausgehende Linien vorstellten, mit denen in der eigenen Bewegung gearbeitet werden konnte. Dadurch, dass die eigene Bewegung ausgehend von etwas Anderem, Äußerem erzeugt wird, verändert sich das eigene Verhältnis zum Raum. Versuche ich, mir eine Linie zwischen meinen Füßen vorzustellen, über diese zu springen, und von der erreichten Seite der Linie auf ihre andere Seite zu blicken, so setze ich mich in Relation zum Raum und setze nicht den Raum als etwas, das mich als seinen Mittelpunkt, als Zentrum meiner Wahrnehmung umgibt, in Relation zu mir. Die Kreation jeder einzelnen Bewegung griff also stark auf das, was im gesamten Raum passiert, zurück. Die einzelne Bewegung wurde als eine innerhalb des Gefüges der Gruppe gedacht, die zugleich aus dem eigenen Sich-Bewegen und dem Bewegt-Werden hervorgeht. Die Arbeit daran wurde ergänzt durch Laurent Chétouanes choreographische Entwicklung der räumlichen und zeitlichen Strukturierung des Stücks, die vor allem im Kombinieren und Zusammenfügen der in den Improvisationen entwickelten Sequenzen bestand. Es bildeten sich Stimmungen heraus, die von Chétouane in eine Gliederung des Stücks überführt wurden. Diese einzelnen Sequenzen, intern bezeichnet als: »Ritual, Duell, Hologramm, Foreignity, Diamant, Other in me, Wind, Nomadisme«, funktionieren über unterschiedliche, von den Bezeichnungen schon ein wenig angedeuteten Regeln des Sich-miteinander-Bewegens.

Unterm Blick des Fremden

In »Foreignity« beispielsweise, zum ersten Teil von Strawinskys Musik, reihen sich sieben Soli der einzelnen Tänzer vor der Gruppe der anderen aneinander. Jeder und jede wird einmal aus der Gruppe ausgeschlossen, Gejagter, Opfer, aber zugleich auch herausgehobene Solistin, Anführerin, oder einfach derjenige, der sich in den Vordergrund drängt. Auch wenn sich von Probe zu Probe aus den Improvisationen ein größeres und festeres Repertoire bestimmter Bewegungen für jeden Einzelnen ergab, war die wichtigste Regel für diesen Teil, dass sich die Reihenfolge der Soli in jeder Aufführung neu während des Tanzens entwickeln musste, wodurch alle Tänzer eine besondere Verantwortlichkeit für die Entwicklung der Choreographie trugen. Die mit dieser Ungewissheit über den Verlauf einhergehende Spannung wurde vor der Premiere dadurch verstärkt, dass weitestgehend unabhängig von der Musik geprobt wurde. Vor der Uraufführung wurden die Tänzerinnen und Tänzern kaum mit der Musik von Schmidthals und Stravinsky vertraut gemacht. Vielmehr sollte die Premiere für sie nicht nur zur Erfahrung einer neuen und fremden Art des Sich-Bewegens und Zusammen-Tanzens werden, sondern auch zu der einer mehr oder weniger erstmaligen Begegnung mit Musik und Publikum. Leonie Otto * Der erste Teil der nachfolgend gesammelten Beiträge kann als Resonanzraum der Sacré-Arbeit und der mit ihr untersuchten Fragestellungen begriffen werden: Wie geht eine heutige Generation mit den Werken des Kanons um? (Peyret) Was ist ein Fremder? (Waldenfels) In welcher geschichtlichen Konstellation erscheint Le Sacre du printemps und wie greift Chétouane die dabei aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen auf? (Haß) Wie steht die neue Arbeit ganz allgemein zu früheren und zeitgenössischen Sacre-Arbeiten? (Schenck) Was heißt es, im Theater wie im Denken das Stattfinden selbst zum Thema zu erheben? (Müller-Schöll) In welchem Verhältnis steht die Sacré-Arbeit Chétouanes zu derjenigen von Xavier Le Roy und wie führen beide zu einer neuen Hör-Erfahrung? (Otto) Ergänzt werden die längeren Auseinandersetzungen des ersten Teils im zweiten Teil durch pointierte Stellungnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven (Imbrasaite, Kästner, Cramer, Siegmund, Ploebst, Döcker). Der dritte Teil versammelt Beiträge, die sich dem Übergang vom Theater zum

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Tanz in der Arbeit Chétouanes widmen, mit Blick auf seinen Werdegang (Lehmann), das Verhältnis von Original und Wiederholung (Schuster) und den mit seiner Zürcher Publikumsbeschimpfung einhergehenden Richtungswechsel (Kirsch). Im vierten Teil werden mit unterschiedlichen Fragestellungen drei je spezifische Blicke auf die choreographischen Arbeiten Chétouanes geworfen (Tatari, Albrecht, Kruschkova). Ein im Zeitraum der Entstehung des vorliegenden Bandes geführtes Interview sowie ein ausführliches Werkverzeichnis, eine Auswahlbiographie und Kurzangaben zu den Beitragenden runden den Band ab. Soweit verfügbar und aussagekräftig, wurden die im Band besprochenen und weitere Arbeiten in mehreren Bildstrecken dokumentiert. Weiteres im Verlauf der Symposien gesammeltes Material findet sich auf einer in Ergänzung zu diesem Band angelegten Website, die unter der folgenden Adresse zu finden ist: www.untermblickdesfremden.com. Mithilfe des Passwortes ›Blick‹ können die dort aufgeführten Materialien gesichtet werden. Außerdem können dort das Werkverzeichnis sowie die Bibliographie auch elektronisch abgerufen werden. Am Zustandekommen des vorliegenden Bandes und der ihm zugrundeliegenden Symposien waren eine große Zahl von Personen und Institutionen beteiligt, denen an dieser Stelle zu danken ist: Zunächst und vor allem zu nennen sind hier alle Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes, die Photographen der abgedruckten Aufnahmen wie auch die weiteren Beteiligten der verschiedenen Gesprächsrunden und Symposien, deren Beiträge in diesem Band nicht enthalten sind, welche aber, soweit die Qualität der audiovisuellen Aufzeichnungen es zugelassen hat, auf der erwähnten Website zu sehen sind, namentlich in alphabetischer Reihenfolge Edith Boxberger, Matthieu Burner, Danielle Cohen-Lévinas, Kathryn Enright, Josep Caballero Garcia, Anja Klöck, Bojana Kunst, Mikael Marklund, Jean-Luc Nancy und Susanne Traub. Unser großer Dank gilt daneben allen Kulturinstitutionen, Produktions- und Spielstätten, die durch ihre tatkräftige organisatorische und konzeptionelle Mitarbeit das Zustandekommen und den Erfolg der Gesprächsrunden ermöglicht haben, dem Choreographischen Zentrum PACT Zollverein, namentlich Stefan Hilterhaus, sowie der Ruhrtriennale, namentlich Heiner Goebbels, unter dessen Intendanz die Sacré-Arbeit produziert wurde, dem Tanzquartier Wien, namentlich Walter Heun und Krassimira Kruschkova, weiterhin Kampnagel Hamburg, namentlich Amelie Deuflhard und Melanie Zimmermann, dem Goethe-Institut in Paris,

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namentlich Joachim Umlauf und Hannah Kabel, sowie dem Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt a.M., namentlich Marcus Droß, Niels Ewerbeck (†) und Matthias Pees. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir darüber hinaus Christine Kammer und Hendrik Unger, die uns jederzeit mit Rat und Tat unterstützt haben, sowie einer großen Zahl von hier nicht im Einzelnen aufführbaren Dramaturgen und Archivaren, die uns bei der Suche nach aussagekräftigem Bildmaterial zu den Inszenierungen Chétouanes behilflich waren. Für die Anlage der Website bedanken wir uns bei Joschka César. Für ihre akribische Endkorrekturlektüre sei Eva Döhne gedankt. Bernhard Siebert sei für die unermüdliche Mitarbeit in allen Phasen der Erstellung der Publikation sowie speziell für die dem Band beigefügte Bibliographie und das Werkverzeichnis gedankt. Ohne die großzügige Unterstützung durch die Kulturstiftung des Bundes wäre das mit diesem Band zum Abschluss gebrachte Begleitprojekt zur SacréProduktion nicht möglich gewesen. Last but not least bedanken wir uns beim transcript-Verlag, speziell bei Birgit Klöpfer und Christine Jüchter für die professionelle Betreuung des Buches.

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Ein Brief Jean-François Peyret

Lieber Laurent, Du wirst mir verzeihen, wenn ich zugegebenermaßen auf eine etwas rhetorische Weise auf die Form des ungezwungenen Briefs zurückgreife (oder der E‑Mail, in diesem Fall), statt mich in einer gelehrteren Sprache zu versuchen. Die Einladung von Nikolaus, mich zu Sacré Sacre zu äußern, bringt mich in Verlegenheit. Ich würde sehr gerne unserer Freundschaft frönen, und sei es nur, um von der Neugier zu erzählen, die ein Stück von Dir bei mir weckt, eine Neugier, für die man mit der Lust belohnt wird, etwas weiterzuverfolgen, nämlich das Theater-Machen. Es gibt solche Werke, sei es ein Buch, ein Gemälde, eine Musik, ein Film, manchmal eine Theateraufführung oder einfach Spaziergänge durch eine Stadt, die in dieser Hinsicht gewinnbringend sind. Ja, Deine Arbeit ist für meine gewinnbringend: Das interessiert vielleicht nur uns beide, aber ich wollte es dennoch loswerden. Meine Verlegenheit ergibt sich daraus, dass ich wegen einer Art Diskurshygiene ein Schweigegelübde abgelegt habe. Es ist mein Adieu an die Personensprache. Ich versuche zu schweigen und mich des Kommentars zu enthalten, da ich bei mir selbst, und nicht nur dort, den Abgrund, der sich zwischen den Diskursen und den Objekten (Werken) auftut, so schwindelerregend finde. Wenn man mich bittet, etwas zu denken, setze ich mir meinen Bartleby-Effekt entgegen und antworte: I would prefer not to. Das ist nicht allein Kapitulation oder Verzweiflung: Es gibt dahinter eine Art Wette, der folgend ich darauf setze, dass mein Gehirn unbewusst arbeitet, ohne mein Wissen, und dass es etwas hervorbringen muss, im Leben wie in der Arbeit.

Ein Brief

Vielleicht liegt das auch an der Obsoleszenz meiner intellektuellen Ausstattung, die mich daran hindert, das Neue und Singuläre eines Werks zu denken? Zum Beispiel, da es sich hier um eine Aufführung handelt, die abgeleitet (?) ist von Le Sacre du printemps, wäre ich geneigt, die Frage des Gebrauchs/Missbrauchs der Klassiker gemäß des alten Paradigmas zu denken, und damit wäre ich bei der alten Leier: Man muss mit ihnen Schluss machen, oder: Man muss sich ihres Materialwerts* bemächtigen, oder: man muss sie mit einer schelmischen Bearbeitung angehen. In ästhetischer Hinsicht waren wir alle Schumpeterianer, Anhänger der »schöpferischen Destruktion«, oder zumindest haben wir uns, mehr in der Art von Müller, in einen Kommentar* gestürzt, oder, mit einem Skalpell bewaffnet, die Anatomie des Meisterwerks in Angriff genommen. – Die Anatomie oder die Autopsie? Du wirst sagen, dass dies die Fragen von gestern sind: Von nun an leben wir in der Zeit der Großen Gedenkfeier, und jeder hat das Recht, sich seine Kunst vorzustellen und auf seine Art die Meisterwerke neu zu besichtigen und hat dabei nur den Auftrag, den Beweis zu führen, dass der fragliche Klassiker immer noch aktuell ist. Ah! Die Aktualisierung, alles nur Verbrechen …! Ja, die Meisterwerke, es scheint sich zu gehören, sie wieder zu besichtigen. Du wirst dir also vorstellen können, dass ich mich mit wenigen Erwartungen nach Montreuil aufgemacht habe und mich fragte, was du in der Galeere der Hundertjahrfeier machen würdest: damned, tu quoque! Dennoch muss ich um der Wahrheit willen sagen, dass diese bösen Gedanken von dem Moment an schnell weggefegt waren, als ich die leere Bühne mit ihren drei Leinwänden sah und gefesselt war von dem, was stattfand: Jemand trat ein, dann kamen andere hinzu, wie würden sie miteinander klarkommen, sich meiden oder sich treffen etc.? Ich vergaß Strawinsky; ich war in einem Chétouane: Körper, die sich mit einer Art von Evidenz bewegten, die plötzlich dem Erstaunen über diese Koexistenz im endlichen Raum der Bühne Platz machte. Erstaunen auch darüber, gemeinsam da zu sein und von einem Publikum angesehen zu werden. Zerbrechlichkeit eines Vertrags, der sich vor uns allen zwischen den Protagonisten erfindet, der sich aber auch mit uns schließt und aufkündigt. Schwierigkeit auch für das Publikum, das seine Probleme damit hat, das Kalkulierte vom Improvisierten zu scheiden, die Vorgabe des Choreographen vom Vorschlag des Tänzers. Unentscheidbar auch, wie anwesend der Choreograph ist, dessen radikale Autorität man empfindet, aber auch

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dessen Offenheit gegenüber dem Anderen, den Anderen, den Tänzern, die, wie man spürt, alle hinter dieser Arbeit stehen … Soweit die Gedanken, die mir sozusagen unbewusst während der Aufführung durch den Kopf gegangen sind. Tatsächlich war ich recht weit weg vom Sacre, weit weg von den Frühjahrs-Rundtänzen, vom Ritus, und der Auserwählten gegenüber gleichgültig. Nicht während der Aufführung, sondern erst, als ich wieder zu Hause war und vor meinem Rechner saß und den vergangenen Tag Revue passieren ließ, ist die Frage des Sacre zurückgekommen. Ich fand den Kniff ziemlich stark: Statt einer eitlen Polemik, statt in die üblichen Fallen zu tappen, in die gebräuchlichen sozusagen, nämlich das Meisterwerk entweder kaputtzumachen oder ohne eine Miene zu verziehen davon zu profitieren (der Zwerg auf den Schultern des Riesen) – eine Art Gleichgültigkeit. Denn während der Vorstellung (représentation ist im Französischen kein gutes Wort für diese Sache), hatte ich zwar die Musik von Strawinsky gehört, aber ich war damit beschäftigt, etwas anderes zu beobachten, etwas, das sich die Freiheit nahm, ihr nicht zu folgen. Stark. Aber diese Freiheiten, die da genommen wurden, mit einer anderen Musik zu beginnen (jener von S), das Vergnügen etwa dreimal so lang (?) wie die kanonische Zeit des Balletts dauern zu lassen, diese Gleichgültigkeit ist weder aggressiv noch polemisch. Es ist eine fast freundschaftliche Geste, eine Geste guter Nachbarschaft. Weder Respekt noch Respektlosigkeit, eine höfliche Art und Weise, nicht daran zu rühren. Nachträglich habe ich mir gesagt, dass es so ist, als ob man in einem Nebensaal das Sacre »gebe«, was nicht sonderlich gestört habe, und wobei es auch nicht darum gegangen sei, es seinerseits zu stören. Keinerlei Sakrileg in alledem. Der Klassiker, ein großer Nachbar. Nicht schlecht. Ein neues Haus errichten neben einem Schloss, das für Touristen zur neuerlichen Besichtigung geöffnet ist … Ein neues Haus oder ein Feldlager? Das ist nur ein Eindruck, da ich nichts darüber weiß, wie ihr das Sacre in eure Überlegungen mit einbezogen habt, wie es eure Arbeit kontaminiert hat. Bleibt eine weitere Sache, die ebenfalls der Ordnung der Erfahrung des Zuschauers angehört. Ich gebrauche ungern Begriffe, die auf -ismus enden, wie Minimalismus, Formalismus etc., da sie mir inadäquat erscheinen, um Aufschluss über die Erfahrung zu geben, von der ich spreche, und da sie zweifellos aus dem Lexikon der kritischen Periode (der Epoche der Kritik, der Ära des Zweifels etc.) stammen, aus der wir alle kommen. Es gibt da eine Art Hygiene, eine Art Reduktion des Ausdrucks,

Ein Brief

während doch das Ballett zur Überexpressivität drängen kann (alle, bis hin zu Sasha Waltz), eine Art der Vermeidung des Sinns, der Aussparung eher noch, die mir gesund erscheint; nein, »gesund« gehört noch in den Bereich der Moral; ich würde eher von einem Vergnügen sprechen, von einem Vergnügen, das spezifisch ist für ein Stück wie dieses. Eine trockene Ordnung oder eine Kur der Stille, notwendig (es ist ein bisschen zu viel Werturteil in dem, was ich da sage), ein privilegierter Moment, »heilig«, sacré, während uns die Neuen Medien mit Geschwätz übersättigen, zu dem sich das Vorliegende gesellt. Es gibt eine Radikalität der Insignifikanz, die einen zum Nachdenken bringt. Und die originell ist, verglichen mit denen aus Deiner Generation, die sich gerne als Sinn-Lieferanten sehen. Die Phrasendrescherei der Epoche hätte gerne, dass der Künstler ein Entzifferer wäre, ein Entschlüssler der Welt. Ach wo! Vielleicht sage ich damit eine Abscheulichkeit, aber das ist der Grund, weshalb Sacré Sacre für mich Theater ist, auf stille Weise vom Theater spricht. Es ist in dem Sinne Theater, wie Becketts Quad es ist; eine Theatererfahrung an der Grenze, um es anders zu sagen: Der Traum von einem Theater, das spräche, ohne etwas sagen zu wollen, etwas in der Richtung. Und das sagt einer, dessen Theater sehr geschwätzig ist (ich bin es, der das sagt) … Wie also arbeiten? Die Tänzer leise sich bewegen lassen (mit oder ohne Musik, gleichgültig, »Akte ohne Worte«) oder die Schauspieler sprechen lassen, indem man sie gleichzeitig so weit als möglich immobilisiert? Ich habe keine Ahnung. Bewegung oder Immobilität – die wahre Frage. Stress der letzten Minute, und wie ein coup de théâtre: Ich habe diese Mail unterbrochen, um einen Sprung nach Paris zu machen, wo ich Sacré Sacre sichten konnte, wie man so sagt. Das ist natürlich eine andere Erfahrung, die für mich auch eine riesige Überraschung bereithielt. Ich hatte mir diesen Vorgang als eine Gedächtnis-Stütze vorgestellt. Man sieht gut die Leere, von der ich sprach, und es ist die Trennung dessen, was man sieht (die Choreographie), von dem, was man hört (die Musik), die dies ermöglicht, weil die Bewegung erkennbar nicht der Musik folgt, weil die Bewegung sich selbst genügt (wie bewegt man sich?), weil hier nicht gilt: prima la musica, dopo il balletto (?), weil der Tanz hier nicht die Verdopplung der Musik ist, sondern ihr Anderes etc. Nicht ihr Anderes, das hört sich nach schlechter Philosophie an, sondern etwas, das in zwei verschiedenen Räumen koexistiert. Das ist es, was ich sagen wollte, als ich von der Nachbarschaft gesprochen habe; die Musik ist nicht einfach in

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der Zeit, sondern in einem Nebenraum. Die Überraschung ist diese: Vor meinem iPad habe ich im Unterschied zu der Zuschauererfahrung erkannt, dass ich bei der Betrachtung des Bildes die Musik von Strawinsky gehört habe, endlich befreit von ihrer ganzen unangenehmen Bedeutung, vom Opfer, von der Auserwählten, von diesem ganzen anthropologischen Kram, mit dem ich nichts am Hut habe, von dieser schmierigen Mythologie, die Musik, endlich rein, endlich bedeutungslos. Mehr noch, gereinigt durch ihre Tänzer, sogar. Sacré Laurent! Dein Jean-François

Aus dem Französischen von Nikolaus Müller-Schöll und Bernhard Siebert.

Vom Fremden berührt – Sacré Sacre du Printemps

Fremdes denken – Fremdes tanzen Bernhard Waldenfels

Das alte Wort ›Szene‹, griechisch skēnē, weist einen längst verblassten Hintersinn auf. Es leitet sich her von skiá, dem griechischen Wort für ›Schatten‹. Die Bühne bevölkert sich mit Schattenfiguren, in denen sich Leben spiegelt, entzieht und verfremdet. Wenn das Theater ein Schauplatz ist, so ein Schauplatz des Fremden.1 Es hat teil am Unbewussten, das in Freuds Traumdeutung als ein »anderer Schauplatz« vorgestellt wird.2 Die Bühne ist doppelbödig, hinterhältig, der feste Boden des Gewohnten gerät ins Wanken. Wo sind wir und wer sind wir, wenn wir uns mit Ödipus in der Fremde wiederfinden? »Antigone, Tochter eines blinden Alten, in welche Gegend und zu welcher Männer Stadt gelangten wir?« Der klassische Text beginnt mit einer Ortssuche. Die Antwort »Kolonos« kommt schon aus dem Mund eines Fremden, der schlicht als xenos eingeführt wird. Im Folgenden wird uns die ›Szene‹ als Losung dienen, die dem philosophischen Denken des Fremden einen Zugang öffnet zur leibhaftigen Darstellung des Fremden, wie sie in der neuartigen Inszenierung von Strawinskys Sacre du printemps durch Laurent Chétouane zum Vorschein kommt. 1 | Ich verweise auf meinen Salzburger Theatervortrag, in: Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010, S. 241-268; ferner auf meinen Text »Das Fremde denken«, in: Zeithistorische Forschungen 03/2007 (4), S. 361-368, den ich in Auszügen verwende. Im Hintergrund meiner Überlegungen steht die Phänomenologie des Fremden, wie sie hier entfaltet wird: Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Frankfurt a.M. 1997; ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006. 2 | Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (= GW II/III). London 1991, S. 541.

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I. F remdes im H erzen der E rfahrung Das Motiv des Fremden ist etwas Uraltes. Nicht nur trägt Zeus bei den Griechen den Beinamen xenios als Bezeichnung des Gottes, der über das Gastrecht wacht, schon der jüdische Jahwe gebietet in Exodus 22,20: »Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und drücken: denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.« Doch das Uralte ist zugleich das Vergessene und Verkannte. Fremdes kehrt wieder auf neue Weise, als Unheimliches, als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«.3 Die Fremdheitsvergessenheit tritt ans Licht, wenn wir zwischen einer radikalen und einer relativen Form der Fremdheit unterscheiden. Relativ nenne ich eine Fremdheit, die vom vorläufigen Zustand unseres begrenzten Wissens und Könnens abhängt. Ein Beispiel wäre die Fremdsprache, die wir erlernen können. Hierher gehört auch die normale Fremdheit der Passanten auf der Straße, die jederzeit ansprechbar sind. Die alltägliche Fremdheit kann allerdings ins Wanken kommen, so im Angesicht von Baudelaires Passantin, jener beauté fugitive, die wie ein Stern in der Nacht auftaucht und ebenso plötzlich wieder verschwindet, oder aber in der bedrohlichen Verwilderung verödeter Vorstädte. Die moderate Fremdheit kann sich jederzeit radikalisieren. Radikal nenne ich eine Fremdheit, die zur Sache selbst gehört und an die Wurzeln der Dinge rührt. Die Radikalität ruft Abwehrversuche hervor, die darauf abzielen, das Fremde durch Aneignung zu entschärfen. Als Aneignungsinstanzen bieten sich vornehmlich zwei Instanzen an, das Eigene und das Gemeinsame. Das Eigene, das als Resultat eines »possessiven Individualismus« in den Vordergrund drängt, tendiert dahin, Fremdes nur als Derivat des Eigenen gelten zu lassen. So wird das, was fremd ist, zunächst abgewehrt und bestenfalls einverleibt. Das Allgemeine, das als Gemeinsames auftritt, erweckt hingegen den Anschein, dem Fremden gerecht zu werden. Es verspricht, den Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem in gutem Sinne aufzuheben, nämlich durch Teilhabe an einem Ganzen oder durch die Unterwerfung unter allgemeinverbindliche Gesetze. Doch im Zuge einer ständig zunehmenden Technisierung ist es mehr und mehr die Integration in neutrale Netzwer3 | Ders.: »Das Unheimliche«, in: Werke aus den Jahren 1917-1920 (= GW XII). London 1991, S. 231.

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ke, die den Unterschied zwischen uns selbst und anderen nivelliert. Sozialität bedeutet dann Anschlussfähigkeit. Die Singularität des Fremden wird gleichsam verschluckt. Fremdheit, die sich nicht assimilieren lässt, tendiert zur Feindschaft, bis hin zur umfassenden Menschenfeindschaft, oder sie wandert als uncodiertes Geräusch in den kommunikativen Müll. Die Aneignung des Fremden stößt jedoch auf Grenzen, seitdem zwei Grundpfeiler unserer modernen Kultur ins Wanken geraten sind: die Autonomie eines zentralen Subjekts und die Geschlossenheit einer monolithischen Vernunft. Dezentrierung des Subjekts und Pluralisierung der Vernunft schaffen Raum für radikal Fremdes. Die Radikalität versteht sich allerdings nicht von selbst, sie beruht auf einer Reihe prägnanter Voraussetzungen. 1. Fremdes kündigt sich an in Form einer originären Fremderfahrung, die dem Erkennen, Beurteilen, Verstehen, Benutzen und auch der Anerkennung des Fremden vorausgeht. Die Radikalität der Fremderfahrung besteht darin, dass Fremdes uns angeht und anspricht, bevor wir unsererseits auf das Fremde zugehen und über das Fremde sprechen. Tonangebend sind affektiv getönte Widerfahrnisse wie das Erstaunen und Erschrecken, Störungen, die den gewohnten Gang der Dinge unterbrechen, und Anomalien, die von der Normalität abweichen. Dies können ungewohnte Naturerscheinungen sein, aber auch Auffälligkeiten eines abweichenden Verhaltens, neuartige Formen der Gewalt oder archaische Riten und Symbole, die uns sprach- und ratlos machen. Fremdes affiziert uns, bevor wir zustimmend oder ablehnend darauf eingehen. Fremdes gleicht einem Einfall, der uns kommt, oder einer Krankheit, die uns befällt; es entstammt nicht eigenen Entwürfen und Entschlüssen. Allzu gern würden wir das Überraschende entschärfen, indem wir es vorwegnehmen. Für Fremdes, das auf uns zukommt, wäre dann kein Platz. Doch wenn Platon die Philosophie mit dem Staunen beginnen lässt, so besagt dies, dass unser Denken anderswo, in der Fremde beginnt. Auf andere kulturelle Aktivitäten trifft ähnliches zu. Diese Sichtweise steht nicht zuletzt im Einklang mit der griechischen Tragödie, die vom Pathos getragen wird. Der Ödipus Rex beginnt in einer verhängnisvollen Lage. Theben wird von der Pest und von den Fangfragen der Sphinx heimgesucht, und der Held hat sich des Patrizids und des Inzests schuldig gemacht, ohne zu wissen, was er tat. Ferner ist daran zu erinnern, dass der Schauspieler auf Griechisch hypokritēs, also ›Antwortender‹ heißt und nicht etwa acteur, also ›Handelnder‹. Pathos und Response bilden den Doppelakkord einer

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Erfahrung, die nicht eigenmächtig bei sich selbst beginnt und nicht um sich selbst kreist. 2. Das Fremde bedeutet keinen behebbaren Mangel. Vielmehr zeichnet sich Fremderfahrung dadurch aus, dass eben das, worauf wir uns beziehen, sich unserem Zugriff entzieht, so wenn wir uns eines vergessenen Namens zu erinnern oder ein halbbekanntes Gesicht zu entziffern suchen. Es besagt, dass etwas leibhaftig abwesend ist, so wie der ferne Freund, die tote Freundin oder der zu erwartende Frühling. Es bezeichnet eine Ferne in der nächsten Nähe wie das Unheimliche im Sinne Freuds oder die Aura im Sinne Benjamins. Erst wenn wir den Boden der Erfahrung verlassen und die Erfahrung am Ideal einer vollendeten Gegenwart messen, erscheint die Erfahrung des Fremden als Entfremdung, die zu überwinden ist. 3. Radikal Fremdes lässt sich nur auf paradoxe Weise fassen als »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen«, wie Husserl formuliert.4 Wir stoßen hier auf eine gelebte Unmöglichkeit, da uns im Fremden etwas begegnet, das unsere eigenen Möglichkeiten herausfordert und sie zugleich übersteigt. Die gängige Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung greift zu kurz, wenn es um die Wirkung des Fremden geht, die einer Initialzündung gleichkommt. Auch dialogische Symmetrieforderungen wären verfrüht; das Verhältnis zwischen fremdem Anspruch und eigener Antwort ist strikt asymmetrisch. Wie Jacques Lacan bemerkt, sehe ich dich nie dort, von wo aus du mich siehst.5 Für die fremde Stimme gilt ähnliches. Blicke sind als Sehereignis unsichtbar, Stimmen als Hörereignis unhörbar. Es genügt, auf Merleau-Pontys Erkundung des Sichtbaren und des Unsichtbaren hinzuweisen. 4. Fremdheit verteilt sich auf verschiedene Dimensionen. Ich unterscheide zwischen der Fremdheit meiner selbst, der Fremdheit des Anderen, der Fremdheit einer anderen Ordnung und der Fremdheit unterhalb jeder Ordnung. Fremdes, das mein eigenes Sein in Unruhe versetzt, beginnt schon am eigenen Leib, im eigenen Haus, im eigenen Land. Stets ist Eigenes mit Fremdem durchsetzt. Der eigene Leib hat Züge eines Fremdkörpers, die 4 | Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (= Husserliana I). Den Haag 1950, S. 144. 5 | Lacan, Jacques: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Olten 1978, S. 109.

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sich in Fehlleistungen wie Stolpern, Hinken und Stottern oder in Ermüdungserscheinungen bemerkbar machen. So lesen wir bei Valéry: »In der Ermüdung wird der Körper zu etwas Fremdem. Schweigende, unmittelbare Botmäßigkeit gewährleistet, dass DIESER Körper mein Körper ist.«6 Unsere eigenen Bewegungen tragen die mimetischen Spuren fremder Bewegungen in sich. Die sogenannte Muttersprache lernen wir hörend als eine Sprache der anderen. Unseren Eigennamen haben wir als Rufnamen von anderen übernommen. Ähnliches gilt für den gesamten Bereich der Gewohnheiten, Sitten und Traditionen, der uns als kollektive Erbschaft und Erblast anhaftet. Daran zerschellen alle Reinheitsideale, die Fremdes als Makel abstempeln. Diese Fremdheit meiner selbst nenne ich ekstatische Fremdheit; sie besteht darin, dass ich immerzu außer mir bin, aus mir heraustrete, gemäß dem Rimbaudschen Diktum: »Je est un autre«.7 Die Fremdheit meiner selbst verschränkt sich mit der Fremdheit des anderen, die mich begleitet wie ein Schatten. Den anderen kann ich mir weder einverleiben, noch kann ich ihn von mir abschütteln. Er begegnet mir als eine Art von Doppelgänger. »Der Andere, einer meinesgleichen, oder vielleicht mein Doppelgänger, das ist der magnetischste Abgrund […] – ein Reflex, der dir antwortet, zuvorkommt, dich verblüfft.«8 Die Fremdheit des anderen bezeichne ich demgemäß als duplikative Fremdheit. Die Fremdheit meiner selbst und die Fremdheit des anderen sind nach Art eines Chiasmas ineinander verschlungen; ich finde Fremdes in mir, Eigenes im Anderen. Daraus resultiert, was Maurice Merleau-Ponty intercorporéité nennt. Das Ineinander eigener und fremder Schritte im Tanz oder das Ineinander von eigener und fremder Stimme im musikalischen Quartett liefern gute Beispiele, wenn man sich vor der Annahme einer fugenlosen Eurhythmie und Harmonie hütet. Die Fremdheit spielt sich nicht nur in uns und zwischen uns ab, sie durchdringt alle Ordnungen, die unseren Empfindungen, Kognitionen, Aktionen und Äußerungen und der raumzeitlichen Orientierung ihr Gepräge geben. Gemessen an normalen Ordnungen erscheint das Fremde 6 | Valéry, Paul: Cahiers/Hefte. Sechs Bände. Frankfurt a.M. 1987-93, hier Bd. 3, S. 325. 7 | Vgl. den Voyant-Brief von 1871, in: Rimbaud, Arthur: Briefe, Dokumente. Reinbek 1964, S. 22f. 8 | Valéry: Cahiers/Hefte, Bd. 2, S. 38.

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als außer-ordentlich, als extra-ordinär. Keine Ordnung ruht völlig in sich selbst; sowohl die Stiftung wie die Aufrechterhaltung einer Ordnung gründen nicht in eben dieser Ordnung. Vergleichbar dem »verfemten Teil« bei Bataille drängt der fremde Anteil jede Ordnung über ihre eigenen Grenzen hinaus. Eine letzte Variante begegnet uns in Gestalt eines liminalen Fremden, das auf abgründige Weise unterhalb der jeweiligen Ordnungsschwelle auftaucht. Dazu gehören Traum, Rausch, Orgiastik und Ekstatik, die sich der bewussten Kontrolle entziehen und an das Chaotische rühren. Chaotisch ist das Woraus der Ordnung. Es lässt sich nicht integrieren; doch als Überschuss an Ungeordnetem unterscheidet es sich vom Unordentlichen, das der Negation von Ordnung entspringt.9 Das Fremde gerät so in ein Feld der Zweideutigkeit. Wie Nietzsche warnend feststellt, endet die Verleugnung des Chaotischen und Nächtlichen damit, dass die Vernunft selbst zum »Tyrannen« wird.10 Umgekehrt erzeugt die Verleugnung des »Tageslichts der Vernunft« eine Tyrannei der Gewalt; diese bleibt irrational, selbst wenn sie sich rational organisiert, sei es in traditionellen Opferriten oder in modernen Todesmaschinerien. Die Abgründigkeit des Fremden erweist sich als ein Schwellenphänomen, das in den mythischen und rituellen Zügen von Sacre du printemps auf zweideutige Weise hervortritt. 5. Es bleibt zu fragen, wie sich das Fremde fassen lässt, ohne dass es seiner unfasslichen Fremdheit beraubt wird. Jeder direkte Zugriff würde das Fremdartige domestizieren, es ein- oder unterordnen. Dies gilt selbst für die Xenophilie eines Exotismus, der im Fremden den Nervenkitzel oder das bloße Event sucht. Kommt es nur darauf an, dass etwas geschieht, so ist am Ende gleichgültig, was geschieht. Fremdes wird zum Füllsel. Fremdes, wovon wir getroffen sind, bevor wir wissen, wie uns geschieht, lässt sich nur indirekt fassen. Es kündigt sich an als Abweichung vom Normalen, in winzigen Differenzen oder als Überschuss, der normale Erwartungen und Forderungen überschreitet. Beispielhaft sind Glanz, Gabe, Geschenk, Vertrauen oder Vergebung, aber auch Exzesse von Hass und Gewalt sowie Schmerz und Traumatisierung. Solche Hyperphäno9 | Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt a.M. 2002, S. 273-285. 10 | Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, Kritische Studienausgabe (= KSA). Berlin 1980, Bd. 6, S. 72.

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mene begegnen uns auf der kritischen Schwelle zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem. Die Missachtung transkultureller Überschüsse lässt jede Kultur in einen bloßen Kulturalismus abdriften. Sucht man seinen Platz im Inneren der eigenen Kultur oder flüchtet man sich umgekehrt nach draußen, so schwindet die exzentrische Positionalität, die laut Helmuth Plessner die menschliche Situation kennzeichnet.11 Die Missachtung des Außerordentlichen bildet eine ständige Gefahr. Kulturelle Ordnungen verfestigen sich zu bloß noch funktionierenden Normalordnungen, wenn ihnen der Stachel des Fremden gezogen wird. Was nicht über sich selbst hinausgeht, überlebt sich. 6. Fremdes als Außer-ordentliches, das sich an die jeweilige Ordnung anlehnt, lässt sich nur als Differenz und im Plural denken. Wie das indexikalische ›ich‹ seine volle Bedeutung nur durch den empfängt, der ›ich‹ sagt, so gewinnt das Fremde seine volle Bedeutung nur für jene, die davon betroffen sind. Es gibt nicht eine einzige, allgemeine Fremdheit; es gibt so viele Fremdheiten, wie es Ordnungen gibt. Der Satz »Wir sind alle Fremde« ist ebenso richtig und leer wie der Satz »Wir sind alle Ich«; denn darin sprechen wir über »das Ich«, ohne »ich« zu sagen. Die Fremdheit durchdringt alle Lebens- und Berufsbereiche, indem sie spezifische Fremdheitsfiguren schafft. Dazu gehört nicht nur der Ausländer oder der Einwanderer, sondern auch der Patient, dessen persönliches Leiden in einen allgemeinen Krankheitsfall verwandelt wird; dazu gehören der Täter und das Opfer, deren Tun und Leiden als Rechtsfall behandelt wird auf die Gefahr hin, wie jüngst Gustl Mollath zwischen die Mühlen von Strafrecht und Psychiatrie zu geraten; dazu gehört der alltägliche Verbraucher, dessen Bedürfnisse marktgerecht verbucht werden. Selbst wenn es mit rechten Dingen zugeht, geht es niemals ausschließlich mit rechten Dingen zu. Jeder Sonderbereich hat eine Schwellenzone, die sich nur um den Preis einer Medikalisierung, Juridisierung oder Ökonomisierung des Lebens ins Innere der jeweiligen Ordnung verlagern lässt. Der homo oeconomicus und seine Nachfahren sind entweder bloße Konstrukte oder aber konkrete Menschen, denen man mit der Fremdheit auch die Eigenheit ausgetrieben hat. Was nottut, ist nicht eine Aufhebung der Entfremdung

11 | Vgl. zu diesem Kernmotiv von Plessners Philosophischer Anthropologie Die Stufen des Organischen und der Mensch (= Gesammelte Schriften IV). Frankfurt a.M. 2003.

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in einem »totalen Menschen«, sondern eine permanente Verfremdung des Menschen, zu der die Künste auf besondere Weise beitragen.

II. F remdes auf der B ühne Wenden wir uns nun dem speziellen Schwellenbereich des Theaters zu, so stoßen wir auf einen Balanceakt zwischen dem pathischen Fremdwerden, das sich mehr oder weniger spontan ereignet, und dem responsiven Fremdmachen, das als Verfremdung in die westliche Theatersprache eingegangen ist. Spuren einer solchen Verfremdung treten auch in der Choreographie von Laurent Chétouane zutage. Doch es fragt sich: Was wird wem auf welche Weise fremd? Wenn Fremdes nur differentiell und plural zu verstehen ist, so stoßen wir auch hier auf eine bewegliche Grenze zwischen Vertrautem und Fremdem. Ich begnüge mich hier mit einer Annäherung, die sich auf den sichtbaren Part konzentriert und die Analyse des hörbaren Parts Musikkennern überlässt. Ausschalten lässt er sich nicht. Tanzbewegungen können wir nicht sehen, ohne von Geräuschen, Klängen und Rhythmen animiert zu werden. Für das Hören der TanzMusik dürfte ähnlich gelten, dass wir in Bewegung versetzt werden. Das wechselseitige Übergreifen der Sinne aufeinander gehört in seiner Verbindung von Synästhesie, Heteroästhesie und Kinästhese zur internen Fremdheit der Sinne und der Künste. Ich werde eine Reihe von Schlüsselfragen formulieren, die sich aus der phänomenologischen Betrachtung des Tanzgeschehens ergeben und die in der speziellen Choreographie von Laurent Chétouane eine exemplarische, wenn auch keine abschließende Bedeutung gewinnen. Beginnen wir mit der Ortsfrage. Wo spielt sich das Geschehen von Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps ab? Streng genommen beginnt und endet die Tanzperformance wie jedes Theaterereignis nirgendwo. Das Hier bildet einen »Nullpunkt«,12 genauer gesagt einen Nullort, von dem aus Bewegungen in verschiedene Richtungen laufen und Positionen markiert werden, ohne dass dieser Ort sich seinerseits im Raum lokalisieren ließe. Dies passt zu dem »Null-Zustand«, den Chétouane für

12 | Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Bd. (= Husserliana IV). Den Haag 1952, S. 158.

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den Schauspieler als produktiven Ausgangspunkt reklamiert.13 Die Aufführung beginnt also keineswegs in einem Raum, der sich anfüllt wie ein Container, sie findet statt an einem Ort, der allererst entsteht, indem er sich bevölkert. Die sieben Tänzer dieser Performance tauchen einzeln auf wie Klang- oder Farbtropfen, die sich nach und nach zu Klangbildern oder Farbbildern konfigurieren. Aus wiederholten Bewegungen entstehen Bahnen, aus Bewegungspausen Plätze. Die Wo-Frage beantwortet sich im Zuge raumbildender Bewegungen. Sie beantwortet sich nie völlig, da das Woraus und Woher der Bewegung sich nur hinterdrein über eine bereits überschrittene Schwelle hinweg fassen lässt und da das kommende Hier nicht verbürgt ist. So hat jeder Eigenort, den jemand auf der Bühne einnimmt, etwas von einem Fremdort. Wann spielt sich das Geschehen auf der Bühne ab? Der Bewegungsraum ist kein bloßer Raum, sondern ein Zeit-Raum, der sich von einem Jetzt her entfaltet. Ortsverschiebungen verbinden sich mit Zeitverschiebungen. Wir sind zugleich dort, wo wir waren oder sein werden. Rimbauds egologischer Satz »Ich ist ein anderer« lässt sich topologisch abwandeln in den Satz »Ich ist anderswo«. Schattenorte und Schattenzeiten durchziehen das Schattenreich der Bühne und erzeugen eine ständige Unruhe. Auf der Bühne ist nichts und niemand einfach an seinem Platz, selbst das Stehen bedeutet ein Stehenbleiben. Der Ortswechsel, den die Tänzer und Tänzerinnen vollziehen, verläuft mitunter stürmisch in einem Laufschritt, der den Raum einnimmt, mitunter aber auch zögernd in Form eines tastenden Vor und Zurück, das jedem Beschleunigungskult Hohn spricht. Das Hier und Jetzt erscheint als ein verwischtes Hier und Jetzt, das zwischen dem Vor und Zurück, dem Auf und Ab, dem Geradeaus und Seitab der Körperbewegungen hin- und herwandert. Es fehlt nicht an Ansätzen tänzerischer Pirouetten; doch diese schießen nicht in eine einsame Höhe und kreisen nicht um sich selbst, sondern gleichen eher Wirbeln, die ringsum Bewegungswellen auslösen. Was geschieht mit den Tänzern und Tänzerinnen auf der Bühne? Das A und O des Tanzes besteht aus Körperbewegungen. Doch worauf zielen diese ab, und wonach richten sie sich? Welchen Zielen und Regeln folgen 13 | Müller-Schöll, Nikolaus: »›Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muss er bleiben.‹ Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielern«, in: Primavesi, Patrick/Schmitt, Olaf A. (Hg.): AufBrüche. Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag (= Recherchen 20). Berlin 2004, S. 284-291, hier S. 285.

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sie? Dies sind Verständnisfragen, die unseren normalen Alltagserwartungen entsprechen. Wer einfach nur herumgeht, herumsitzt oder herumhängt, scheint nicht zu wissen, was zu tun ist. Körperbewegungen geraten in den Verdacht bloßer Dienstleistungen eines Körperapparats, die uns erst interessieren, wenn der Körper seinen Dienst versagt und unser Leib sich in einen reparaturbedürftigen Fremdkörper verwandelt. Fremdheit wird zum Defizit. Doch werfen wir nur einen Blick auf normale Spielplätze, wo Kinder laufen, springen, rutschen, klettern und sich als natürliche Bewegungskünstler betätigen. Tun das nicht auch die Tiere? Wie steht es mit dem erforderlichen Ernst? »Reife des Mannes [und der Frau?]: das heißt den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.«14 Das Studium von Tanzbewegungen erteilt allzu sinn- und normfreudigen Theoretikern eine Lektion. Geltungs- und Verständnisfragen verpuffen angesichts einer durchgehenden Suspension der Semantik und der Pragmatik des Verhaltens, wie sie uns auf der Tanzbühne begegnet. Die kinetische Epoché, mit deren Hilfe Bewegungskünstler sich der normalen Bewegung enthalten, um die leibliche Bewegtheit als solche he­ rauszupräparieren, passt zur allgemeinen phänomenologischen Epoché, die als Urteilsenthaltung den gewohnten Lebenszusammenhang unterbricht und selbstverständliche Annahmen außer Kraft setzt. Was auf solche Weise zutage tritt, ist nicht einfach bedeutungslos. Manche Bewegungen und Gebärden erweisen sich als anhebende Zweckoder Ausdruckshandlungen, in denen sich ein Bedeutungspotential ankündigt, oder auch als Handlungsrelikte, in denen Bedeutungsreste fortleben. Manches, was uns hier auf der Bühne begegnet, sieht aus nach Flug- oder Schwimmversuchen in einem imaginären Element oder nach Gebärden des Flehens und Gebens, die sich an Andere wenden. Doch die Bewegungen biegen und brechen ab, bevor sich ein Ziel ausformuliert und eine Geschichte entwickelt. Es sind frei schwebende Bewegungen, die ihre Fühler ausstrecken und mit Bindungen spielen, darin ähnlich der freien Beweglichkeit der Affekte in der Psychoanalyse. Generell zeichnet sich der Tanz aus durch einen Überschwang an Bewegungsimpulsen, mit dem der Mensch als »nicht festgestelltes Tier« neue Feststellungen erprobt und Fixierungen durchbricht. In Chétouanes Bühnenstück korrespondiert dieser Überschwang mit Phasen der Ruhe, auch der hörbaren 14 | Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe (= KSA). Berlin 1980, Bd. 6, S. 90.

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Stille, so in einer Zwischenszene, in der sich Tänzer neben Tänzerin auf dem Boden ausbreitet, bevor sie zu neuem Leben erwachen. Die ›Pause‹, griechisch paūsis, bezeichnet wörtlich das Aufhören der Bewegung, das sich an manchen Stellen als sicht- und hörbare Atempause leibhaftig kundtut. Das Aufhören ist vom Anheben einer Bewegung nicht völlig zu unterscheiden, so wie es Herbstlüfte gibt, die Frühlingssehnsüchte wecken, und Augenblicke, in denen Leben und Tod, Erinnern und Begehren sich berühren wie in den Anfangszeilen von The Waste Land: »April is the cruellest month, breeding/Lilacs out of the dead land, mixing/Memory and desire […]«15, Körperbewegungen, die ihrer normalen Zweck- und Regelhaftigkeit entkleidet werden, entpuppen sich als multiple Proto­ bewegungen, die ganze Dimensionen und Felder der Erfahrung erschließen und durchziehen. Dies gilt für elementare Vorgänge wie Stehen, Liegen oder Sitzen, in denen sich die Vielfalt unserer Motorik artikuliert wie in einer Partitur. Sie sind uns aus der Metaphorik der Alltags- und Begriffssprache bestens vertraut, substantivisch als ›Sub-stanz‹, ›Unterlage‹ und ›Ge-setz‹ oder verbal als ›ver-stehen‹, ›unter-liegen‹ und ›festsetzen‹, ohne dass wir im normalen Sprachgebrauch darin die Unzahl verblasster Metaphern wiedererkennen. Die elementare Remobilisierung der Erfahrung, die auf der Bühne vor sich geht und, wenn es gut geht, auf die Zuschauer überspringt, zeigt mit aller Deutlichkeit, dass unsere schlichten leiblichen Bewegungen so schlicht gar nicht sind und dass sich in ihnen einiges mehr verkörpert, als wir auf den ersten Blick wahrhaben. Doch ähnlich wie das wiederholte Aussprechen eines Wortes zu einem Bedeutungsschwund führt, verfremdet sich eine Bewegung, die sich aus dem gewohnten Kontext herauslöst und eine Eigendynamik entfaltet. Wie sich schon ältere neurophysiologische Forschungen zeigen, realisiert sich in der Alternation von muskulären Beuge- und Streckbewegungen eine eher selbstbezogene oder eher außenbezogene Stellungnahme des Organismus zur Welt. Dies entspricht dem unterschiedlichen Bewegungsanreiz der Grundfarben; ähnlich wie wir »rot sehen«, führen wir gleichsam Rot- oder Grünbewegungen aus.16 Dass das Hören von Klängen und Rhythmen kinästhetisch geprägt ist, versteht sich ohnehin. Aber auch 15 | Eliot, T. S.: Waste Land and Other Poems. New York 1934, S. 29. 16 | Vgl. Goldstein, Kurt: Der Aufbau des Organismus. Neuausgabe des 1934 auf Deutsch in Den Haag und 1952 auf Französisch in Paris erschienenen Werkes, München 2014, S. 332-336.

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leibhaftige Bewegungen kommen mit Traumsymbolen wie Steigen, Fliegen oder Fallen und mit Körpersymptomen wie Waschzwang oder Zählzwang darin überein, dass sie im Freudschen Sinne »überdeterminiert« sind. Alltägliche »Fehlleistungen« wie das Stolpern, Hinken und Stottern führen auf die Bahnen einer »Heteroästhesie«, deren Anomalien sich einer programmatisch ablaufenden »Orthoästhesie« entgegenstellen.17 Hinzu kommen Anflüge tierischen Verhaltens, so etwa in den rudernden Armbewegungen, die an den Flügelschlag von Vögeln erinnern, in reptilienartigen Kriechbewegungen oder in einem staksigen Storchengang. »Es gibt […] ein Menschendoppel von jedem Tier. Es gibt ein Tierdoppel von jedem Menschen«, bemerkt Merleau-Ponty.18 Das Tierische im Menschen, das sich nicht nur phylogenetisch, sondern auch physiognomisch kundtut, gehört zu den verkannten Fremdheitsmustern. Wenn Darbietungen eines körperbetonten Theaters beim Publikum oftmals auf Widerstand stoßen, so könnte dies auch daran liegen, dass man lieber in Höheres flieht, als in den Niederungen des Alltags nach Abgründen des Unalltäglichen zu fahnden. Unser Leib bewegt sich nicht, ohne dass bestimmte Körperglieder eingesetzt werden. Die Hand bezeichnet schon Aristoteles als das »Werkzeug aller Werkzeuge«, und Marcel Mauss führt diesen Gedanken fort, indem er den eigenen Leib als Urwerkzeug ansetzt.19 Doch die Mobilität des Tanzes lässt Differenzen erkennen, die mit spezifischen Fremdheitszonen verbunden sind. – Dominant ist im Tanz die Arbeit der Beine und Füße. Ob die Tanzenden sich drehen, laufen, hüpfen, trippeln, ob sie hocken oder knien, kriechen oder rutschen oder über den Boden wischen, es stellen sich Bezüge zum Boden her, also auch zum Erdboden, der anzieht, abstößt und die Bewegung trägt, von dem also Wirkungen ausgehen, die sich nicht restlos aneignen lassen. Ähnliches gilt für Bodenschätze und Bodenfrüchte und also auch für die Wachstumskräfte, die in der Frühlingsfeier den Ton angeben. Die Fremdheit der gebenden, zurückhaltenden und verschlingenden Erde nimmt in kosmisch fundierten Lebensfor17 | Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Erster Teil: 1905-1920 (= Husserliana XIII). Den Haag 1973, S. 360-385. 18 | Merleau-Ponty, Maurice: Die Natur. Aufzeichnung von Vorlesungen am Collège de France 1956-1960. München 2000, S. 294. 19 | Mauss, Marcel: »Techniken des Körpers«, in: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. München 1975.

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men sakrale Züge an, sie ruft mythische und rituelle Antworten hervor. Parolen wie »Anbetung der Erde« oder »Bleibt mir der Erde treu« sind inzwischen allerdings mit der Zweideutigkeit des Fremden behaftet. Sie stellen uns vor die Frage, ob die Beweglichkeit des Tanzes sich mit forcierter Bodenständigkeit und die Verfremdung des Eigenen sich mit einer Umkehrung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem verträgt. Die fragwürdige rationale Aufhebung der Entfremdung droht in eine irrationale Überfremdung umzuschlagen, die wir aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nur zu gut kennen.20 – In eine andere Richtung deutet das Spiel der Arme und Hände. Vorgestreckte Arme, geöffnete Handflächen, die Tastatur der Finger nähern sich einer Gebärdensprache, die Andere zu Adressaten hat und in der Gestik des Anbietens und Hingebens opfernahe Züge annimmt. – Des Weiteren stellt sich die Frage, inwieweit die Zergliederung des Körpers durch eine leibliche Einheit und Ganzheit aufzufangen ist. Auch hier verlieren wir uns allzu schnell auf den Bahnen einer eingespielten Alltagspraxis. Der zerstückelte Körper, der corps morcelé, mag ein Phantasma sein; doch er spricht ebenso wie die Darbietungen des Körpertheaters für die Annahme, dass unsere Bewegungen sich niemals völlig koordinieren und die beteiligten Organe sich niemals völlig integrieren lassen. Die Performanz der Bewegungen ist reichhaltiger und widerspenstiger als ihre Ausdeutung und Nutzung. Klopfende oder stampfende Bewegungen, begleitet und verstärkt durch die Orchesterklänge, erzeugen ein rhythmisches Klangfeld, in dem der Auf-tritt hörbar wird wie beim steinernen Gast aus Mozarts Figaro. Durchgestreckte oder angewinkelte Arme und Beine, vorgestreckte Handflächen oder eine schräge Kopfhaltung deuten darauf hin, dass hier ver-körpert wird, was keine ein für allemal fertige Körperstruktur besitzt und nicht schon einer perfekten Körperdisziplin unterworfen ist. Das maschinenhaft anmutende Bewegungsstückwerk, das zeitweilig an die künstlichen Schemen Schlemmerscher Gliederpuppen gemahnt, kommt der lebendigen Leiblichkeit näher als ein voll integrierter und immunisierter Eigenleib, der alle Momente eines Fremdkörpers von sich abstößt. Unser Leib stellt sich dar als Leibkörper, als ein Amalgam aus lebendigem Leib und materiellem Körper und dies in wechselnder Mischung. Die restlose Einglie20 | Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad die Rage von Adornos Kritik an Strawinskys Musikwerk; in der vehementen Abwehr eines politisch desaströsen, neuheidnischen Naturkults trifft er sich mit Lévinas.

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derung aller Körperteile würde aus dem Menschen einen »Normalmenschen« machen, der sich an einem »Normalgott« misst und dem mit der Fremdheit auch die Offenheit für Andere und Anderes abhanden käme.21 So kulminiert die Fremdheit meiner selbst schließlich in der Fremdheit der Anderen, die in den wechselnden Gruppierungen und Vereinzelungen der Tänzer als Zwischenleiblichkeit zum Zuge kommt. Zwischenleiblichkeit besagt, dass jede Einzelbewegung Anteile einer Fremdbewegung einschließt und dass jeder Eigenort Züge eines Fremdortes in sich trägt. Dies gilt selbst für den Solotanz. Der Solotänzer, der auf seine eigenen Schritte zurückkommt, ist ebenso wenig allein wie jemand, der ein Selbstgespräch führt und dabei das Echo seiner eigenen Stimme vernimmt. Das eigene Hier ist bezogen auf fremde Dorts. In einem Raumnetz, das aus Eigenem und Fremdem geknüpft ist, gibt es kein pures Nebeneinander, sondern ein leiblich verankertes Miteinander. Dieses nimmt auf der Tanzbühne besondere Formen an. Wir begegnen weder einem organisch geschlossenen Wir noch einem zentralen Ich. Der Einzeltänzer, der sich immer wieder aus der Gruppe löst oder aus der Reihe tanzt, tritt nicht als großer Einzelner auf, sondern als ein sich Vereinzelnder, der kontrapunktisch auf die Gruppe bezogen bleibt. Mitunter tritt einer der Schauspieler an die Rampe, um einen engeren Kontakt zu den Zuschauern herzustellen.22 Es gibt Außenseiter, aber nur in Form einer ekstatischen Fremdheit, bei der jemand aus sich selbst und aus der Gruppe ausschert. Die Singularität, die den Einzeltänzern ihr besonderes, teilweise gefärbtes Antlitz verleiht, ist eine Singularität im Plural, die reihum geht und nicht einer Primaballerina oder einem Startänzer vorbehalten bleibt. Umgekehrt bestehen die Gruppen und Paare nicht aus festen, abzählbaren Mitgliedern, die den sozialen Raum ausfüllen bis zum letzten Platz. Die Tänzer spielen mit den Rändern der Bühne, sie lassen Orte frei, entschwinden augenblicksweise. Die Atopie, die Platon Sokrates zusprach, ist Teil der tänzerischen Topik. Die offene, locker gefügte Gruppe gelangt ebenso wenig zu einer völlig integralen Einheit wie unser Leib.

21 | Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (= KSA, Bd. 3), S. 490. 22 | Laurent Chétouane weist darauf hin, wie sehr es für den Schauspieler darauf ankommt, nicht nur gesehen zu werden, sondern zu wissen, dass er gesehen wird, so dass sich etwas zwischen Schauspielern und Zuschauern ereignet. Vgl. MüllerSchöll, Nikolaus: »Ein Schauspieler ist immer peinlich«, S. 290.

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Der soziale Zusammenhang ist prismatisch gebrochen und von Fremdheitsspalten durchzogen. Das verfremdete Miteinander findet seinen spezifischen Ausdruck darin, dass die Tanzenden in wechselnder Annäherung und Entfernung das Paradox einer Berührung des Unberührbaren umkreisen.23 Der Kontakt mit Fremdem besteht nicht darin, dass etwas etwas anderes berührt, gleich wie zwei Billardkugeln aufeinanderstoßen, sondern dass wir aus einer unüberwindlichen Ferne heraus aneinander rühren, so wie unsere Blicke sich kreuzen, ohne sich zu einer symmetrischen Figur zusammenzufügen. Etwas berühren und jemanden anrühren unterscheiden sich auf ähnliche Weise, wie wenn man über etwas spricht oder aber jemanden anspricht. Man kann nicht jemanden berühren, ohne sich berührt zu fühlen; diese Wechselseitigkeit ist ebenso wie der Wechselblick asymmetrisch angelegt. Es bildet sich ein Spannungsfeld, das – wie der erwähnte Doppelgänger – über magnetartige Kräfte verfügt, die verbinden, indem sie trennen, und trennen, indem sie verbinden. »Ich bin du, wenn ich ich bin. Im Quell deiner Augen treib ich und träume von Raub.«24 Auf der Tanzbühne entfaltet sich dazu noch eine künstlerische Akrobatik, die nicht zu unterschätzen ist. Man schaue, wie ein Kleinkind mit quasi-tänzerischen Gesten sein Körpergewicht ausbalanciert, ohne etwas von körperlicher Schwerkraft zu wissen. Das kunstvolle Spiel, mit dem Seiltänzer das normale Gewicht und Gleichgewicht außer Kraft setzen, gehört nicht umsonst zu den ältesten Erfindungen einer kinetischen Einbildungskraft.25 Dennoch bedeutet das zwischenleibliche Zueinander und Voneinander, das durch eine wechselseitige Alterität in Spannung gehalten wird, mehr als eine Akrobatik zu mehreren. Nähe und Ferne äußern sich in mannigfachen Tanzfiguren, die sich als Körpergespräche verstehen lassen. Die Tänzer umringen einander, kommen einander entgegen, lehnen sich aneinander, tragen einander; ihre Bewegungen überkreuzen sich und laufen durcheinander; sie schenken einander Seitenblicke. Es kommt zu 23 | Vgl. Kapust, Antje: Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Lévinas. München 1999; und Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, Kap. 2. 24 | Celan, Paul: »Lob der Ferne«, in: Ausgewählte Gedichte. Frankfurt 1974, S. 20. 25 | Vgl. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Frankfurt a.M. 1984, S. 355f.

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chiasmatischen Verschlingungen und zu diskreten Berührungen; aber was fehlt, sind Verschmelzungen, bei denen die Fremdheit in einer Gemeinsamkeit versinken würde. Die Diskretion, die eine letzte Unnahbarkeit des Anderen wahrt, streift die Gottesferne, auf die Arnold Schönberg als Antipode Strawinskys bedacht ist. Schließlich meldet sich die Thematik und Problematik des Opfers, um die Strawinskys Frühlingsopfer kreist, und die des Opfers des Opfers, auf das Chétouane abzielt. Im Opfer nimmt der Umgang mit dem Fremden eine rituelle, aber auch eine blutige Form an. Die Radikalität des Fremden schwindet, sobald man das Opfer als eine bloße Tauschhandlung zelebriert, mit der ein erneutes Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen hergestellt wird. Die Radikalität des Fremden schwindet auch, wenn das Fremde im neoarchaischen Exzess eines ganz Anderen kultiviert wird. Das Denken steht hier vor ähnlichen Herausforderungen wie das Tanzen. Der springende Punkt liegt in der Spannung zwischen den verschiedenen Instanzen des Opfers. Wer bringt wem was zum Opfer? Wie verträgt sich das Opfern mit dem Geopfertwerden, wie das Fremdopfer mit dem Selbstopfer? Ist der Opferkult nicht Brutstelle einer sakralisierten Gewalt? Umgekehrt fragt es sich, ob und inwiefern radikale Fremdheit mit Opfern verbunden ist. Opfern wir das, was sich uns entzieht? Ist das Opfer nicht schon geschehen, wenn wir es zu vollziehen meinen? Mir scheint, dass Laurent Chétouane eben diese Fragezeichen mit inszeniert, wenn er die Verwandtschaft zwischen sacre und sacré ausspielt. Mit dieser Vermutung endet mein Versuch, Denken des Fremden und Tanzen des Fremden einander anzunähern.

Fremde Welt Ulrike Haß

Mit einer gespenstig wirkenden historischen Pünktlichkeit setzt sich im Mai 1913 mit Le Sacre du printemps ein Werk in die Welt, das die zeitgenössische Unruhe mit seismographischer Genauigkeit in sich aufnimmt und künstlerisch formuliert. Das neue Jahrhundert geht mit dem Gefühl einher, den Boden unter den Füßen verloren zu haben und einem »taumelnden Kontinent«1 ausgeliefert zu werden. Es ist das Gefühl einer ganzen Epoche und außerordentlich quälend, weil es sich über Jahre hinweg einfach in kein anderes Thema transformiert, in kein anderes Schicksal und in keine Diagnose. Es mündet in die Sehnsucht, mit einem einzigen befreienden Schlag, einem Aufruhr oder Ausbruch, aus der Zeit entweichen zu können und sicheren Boden zu erreichen oder neu zu errichten. In diesem Gefühl reagiert etwas auf einen Weltformwechsel. Eine gigantische Welle der Deterritorialisierung durchtrennt die morsch gewordenen Fäden, welche die westlichen Gesellschaften bis dahin noch mit den vormodernen, letztlich agrarisch generierten Ordnungen verknüpfen. Die Bewegungen der Heimatsucher wollen den alten Boden retten und gegen das 20. Jahrhundert ins Feld führen. Die Bewegungen der Heimatlosen setzen auf Neuland oder Neugründungen, denen grobschlächtige, mythenplündernde Ideenkonstruktionen und Sammelbewegungen vorausgehen. Die Bewegung als solche wird zu einem Kennzeichen der neuen Zeit. Der Wille zur Bewegung, der einst Geschichte hervorbringen wollte, lässt tendenziell von seinem alten Gegenstand ab. Vorherrschend wird das Bewusstsein, bewegt zu werden. Bewegung führt zu Bewegung, die als Gegen-, Fremd- und Selbstbewegung auftritt und dabei stets mehr und 1 |  Vgl. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. München 2011.

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anderes mitführt, als diese Bewegungen selbst im Sinn haben. Jenseits von Geschichtsprojektionen, so die Ahnung, bieten sich auch die Natur oder der Kosmos nicht als Gegebenheiten dar, sondern nur als konstruierte und transformierte Objekte unseres Wissens. Als Nicht-Produzierte sind sie hingegen keine Objekte unseres Wissens, und wir stehen ihnen nicht als Subjekte gegenüber. Die großen Koordinaten der ins Rutschen und Stürzen geratenen Verhältnisse sind (1) Boden/Erde; (2) kinetische Realität (Bewegung) und ihr Surplus (Bewegt-Werden); (3) Natur/phýsis; (4) planetarische Perspektive/kósmos. Diese Koordinaten haben auf Seiten der darstellenden Künste ihre größte gemeinsame Schnittmenge im Tanz. So, als würde eine kinetische in eine kinästhetische Dimension überführt, handelt es sich um dieselben Aspekte, die im Tanz eine Rolle spielen. Von daher rühren nicht nur die großen Auf brüche im Tanz der Jahrhundertwende und den ersten zwei, drei Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts, nicht nur die Unruhe und Vielfalt seiner Formen, sondern auch die überbordende Rede von den Verhältnissen, die ›auf dem Vulkan tanzen‹, die nach der Pfeife oder den Melodien der neuen Zeit tanzen usw. Im Tanz bündelt sich Epochensignatur und umgekehrt. Die Zeitgenossen und eine anschwellende Literatur zum »Neuen Tanz«2 haben das bemerkt. Die Aufmerksamkeit von künstlerischen Avantgarden oder Theaterkünstlern wie Adolphe Appia und Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau richtet sich auf ein Phänomenbündel, in dem es um die Dynamisierung von Verhältnissen und Räumen geht. Die Darstellung selbst soll mit der Entfaltung von räumlicher Relationalität übereinkommen, während eine Abbildung äußerer Realität, wie Appias Studien zu Wagners szenischen Einrichtungen zeigen, künstlerisch konsequent verweigert wird.3

2 |  Vgl. u.a.: Brandenburg, Hans: Der moderne Tanz. München 1910; Schur, Ernst: Der moderne Tanz. München 1910; Thieß, Franz: Der Tanz als Kunstwerk. München 1919; Koebner, Franz Wolfgang: Das neue Tanzbrevier. Berlin 1920; Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers. Berlin 1920; Boehn, Max von: Der Tanz. Berlin 1925. 3 |  Vgl. Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters. Berlin 2005. Darin verschiedene Auszüge aus zentralen Schriften Appias, zusammenfassend insbesondere: Appia, Adolphe: »Erfahrungen mit dem Theater und persönliche Überlegungen«, S. 368-373.

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Tanzende V erhältnisse Aus Phänomenbündeln dieser Art lösen sich die Auf brüche, parallel und doch in Kenntnis voneinander. Der geniale Impresario Serge Diaghilew sammelt ab 1909 junge Künstler um die Tänzer der Ballets Russes und wirkt für sie zwischen St. Petersburg, Moskau und Paris als Katalysator. 1910 setzen die Arbeiten an Sacre ein, die sich insgesamt, unterbrochen von anderen Projekten, über drei Jahre hinziehen. Igor Strawinsky schreibt für die Darstellung eines Rituals, das sich als solches im Vollzug seiner rituellen Struktur verbraucht, eine Komposition, die sich auf Verfahren der Zusammenstellung, der Reihung, der Unterbrechung, der Imitation und Schichtung in zahlreichen, gleichzeitig und gegenläufig geführten musikalischen Bewegungen stützt. Darunter die Schläge mächtiger Ostinatogruppen, deren häufig extrem schnell wechselnde Metren gestisch wirken. Diese Musik will in die Körper fahren, dabei jedoch die Bewegungen weniger vorschreiben, als vielmehr unablässig das ›Aufspringen‹ der Bewegung evozieren. Die Bewegungen der Tänzer und der Musik müssen dazu keineswegs immer kongruent verlaufen. Bewegung kann sich ambivalent auf mehrtaktige Gruppen beziehen oder auch kontrapunktisch, das heißt selbständig und gegentaktisch zur Musik verhalten.4 Durch den früh hinzugezogenen Malerfreund Nikolas Roerich, der als ein Kenner skythischer Kulte und schamanistischer Traditionen beschrieben wird, wird die Ritual-Darstellung im heidnischen Russland angesiedelt. Die Choreographie wird Vaslav Nijinsky übertragen, der zeitweise mit Émile Jaques-Dalcroze und seiner Schülerin Marie Rambert zusammenarbeitet, um die Bewegungen verschiedener, gleichzeitig tanzender Gruppen einzurichten.5 Nijinskys Choreographie trägt entscheidend zur Sprengkraft dieser Uraufführung bei, indem sie mit einer konsequent geballten Geste, sozusagen ›auf einmal und vollständig‹, den Boden als Darstellungsfläche entdeckt. Dieser Boden hat nichts zu schaffen mit der Vertikale des Tableaus und nichts mit der illusionären Tiefe eines fiktiven Raumes. Er ist einfach der Ort, der die Körper trägt und an dem die Füße Halt finden. Deshalb wird er notwendig vom Tanz entdeckt. Die Choreo4 |  Vgl. Scherliess, Volker: Igor Strawinsky. Le Sacre du Printemps. München 1982. Analysen des Skizzenbuchs mit Hinweisen zur Choreographie, bes.: »Evocation des ancêtres«, S. 74f.; »Danse sacrale«, S. 77ff. 5 |  Vgl. ebd., S. 11.

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graphie von Sacre bricht konsequent mit dem Bewegungsvokabular aufrechter, frontal und einander gegenüber (facial) ausgerichteter Körper, mit ihrer Orientierung am Links-Rechts-Gegensatz (Spiegel oder Bild), mit ihren Symmetriegeboten für die Körperachsen und ihren hierarchisierten Bewegungsrichtungen, mit ihrer Idee von Grazie und ihrer Ideologie vermeintlicher Schwerelosigkeit tanzender Körper. In Sacre orientieren sich Stehen, Gehen, Laufen, Liegen, Fallen auf den Boden hin, der den Tänzern Halt einräumt und ihrem Stampfen widersteht. Die Beine behalten ihr Gewicht auf flachen Füßen, die nicht als Meisterstücke inszeniert werden. Die Tänzer verbinden ihre Bewegungen eher mit dem Rumpf – die Füße eingedreht, die Arme angewinkelt, die Köpfe abgeknickt. Abrupte Bewegungen, denen sich keine Bedeutung zuschreiben lässt, dann wieder in Reihen, Reigen, Kreisen, Haufen, vielen gleichzeitigen, die nur aus der Vogelperspektive, die hier niemand einnehmen kann, überschaubar wären. Der Boden trägt die beweglichen, lebendigen Körper. Er bietet ihnen Widerstand und ist ihre einzige Stütze. Bis heute befasst sich die Tanzmoderne mit der Sprengkraft dieser rudimentären Konstellation (allein in mehr als 250 choreographischen Versionen von Sacre). Der Musikkritiker Jean Marnold, Freund und Förderer von Maurice Ravel, aber auch der Übersetzer von Nietzsches Ursprung der Tragödie in das Französische, schreibt im Oktober 1913, dass er sich anhand der Uraufführung von Le Sacre du printemps »plötzlich« über den Abstand zweier Theater in der Geschichte des Tanzes bewusst geworden sei. Sacre rühre für ihn an ein verschüttetes und vergessenes Theater. Sacre erinnere an eine jener »legendären Epochen, die an Mythos grenzen, als die eben erst entstehende Menschheit über rudimentäre Theogonien mit der Natur kommunizierte, barbarische Riten vollzog und den Instinkt für symbolische Zeremonien entwickelte, als ganz allmählich die grundlegenden Ideen von Kunst keimten«.6 Die Erfahrung der Distanz zu jenen, wie Marnold schreibt, »albernen Konventionen«, die »unsere westliche Ballettkunst« kennzeichnen, habe ihn einfach »sprachlos« gemacht. Der 6 |  Jean Marnold in Revue de la quinzaine, 1913. Zit.n.: Lartigue, Pierre: »Les Réactions de la Presse«, in: L’Avant-Scène/Ballet–Danse: Le Sacre du Printemps, Oktober 1980, S. 48-51; Pierre Lartigue, »Die Reaktionen der Presse« [1980], deutsch von Franziska Widmann, in: Neweling, Dorothea/Otto, Leonie/Piekenbrock, Marietta (Hg.): Sacré Sacre du Printemps, Programmheft, Ruhrtriennale. Essen 2012, S. 9-13, hier S. 10.

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moderne, aus den Hof balletten im 17. Jahrhundert entstandene autonome Bühnentanz sei »aufgesetzt, egoistisch«. Erst jetzt würde ihm deutlich, »wie sehr diese sinnlosen Aufführungen die Stigmata ihres wahren Ursprungs im prunkvollen, oberflächlichen und mondänen Apparat der Ballets de Cour beibehalten haben«. Das westliche Ballett lasse »zugunsten der Virtuosität der Primaballerina, der alles untergeordnet wird [jede] menschliche und dramatische Glaubwürdigkeit außer Acht«. Marnold geißelt die »gleichmütige Virtuosität«, »die Konvention dieser pas«, die »austauschbaren Kombinationen«. In Sacre hingegen sei »der Tanz an sich rhythmisch stilisierte Handlung«. Nijinsky habe hier »mit der Bearbeitung eines außergewöhnlich geeigneten Themas aus Ballett erstmals Kunst gemacht.«7 Marnolds Rezension ist an dieser Stelle bedeutsam, weil sie ganz auf Seiten der Choreographie steht. (Während er im Mai 1914, nach dem Besuch einer weiteren Aufführung von Sacre, ein vernichtendes Urteil über die Musik Strawinskys fällt, die er als »bestenfalls dekorativ« bezeichnet: Anstelle von »Fluktuationen kontinuierlicher Sinneseindrücke, die sich in menschliche Emotionen verwandeln«, kenne sie nur »ruckartige Stöße«.8) 1913 reflektiert er ihre Sprengkraft, indem ihm die zweifache, antike und moderne Entstehung des Tanzes bewusst wird. Sein Erstaunen hat damit zu tun, dass er plötzlich die Epoche des modernen Tanzes, der aus der Académie Royale de Danse Ludwigs XIV. (1661) hervorging, als diejenige überschaubare und begrenzte Epoche wahrnehmen konnte, die sie mit ihren kaum zweieinhalb Jahrhunderten um 1913 tatsächlich darstellte. Er konnte diese Epoche in diesem Moment gleichsam von außen anschauen und ihr Ballett als eine Form wahrnehmen. Plötzlich fielen ihm diese leere Virtuosität auf, diese austauschbaren Kombinationen von routinierten Schritten und Gesten, die Abwesenheit von Drama und Handlung, die Gruppierung eines Ensembles um die Primaballerina, die Hierarchie einer Gliederung zwischen Protagonistin und Corps de ballet. Er sagt, dass Nijinsky »aus Ballett erstmals Kunst gemacht« habe, und dass ihm das mit der »Bearbeitung eines außergewöhnlich geeigneten Themas« gelungen sei. Hieran anknüpfend stellen sich vor allem zwei Fragen. (1) Wenn Nijinsky erstmals Kunst gemacht hat, was ist dann das moderne Ballett zuvor? Etwas, das der Kunst ähnlich sieht oder gewerblich mit ihr ver7 |  Ebd. 8 |  Ebd., S. 11.

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wandt ist? Offenbar keine genuine Kunst, soviel legt Marnold nahe, da sie vom höfischen Ballett und in Sonderheit von Ludwig XIV. ausgeht. Der Souverän verordnet den modernen Bühnentanz, indem er entscheidet, Tanz fortan nur noch von Tanzmeistern akademisch lehren zu lassen, denen er die völlige Autonomie über die Entwicklung des Bühnentanzes überträgt. Tanz ist demnach in der Folge von unendlich fehlbaren Körpern nur noch bei Meistern zu lernen. Dieser Umschwung mündet in eine Epoche, in der die Anschaulichkeit der Körper selbst zu einer schwierigen und gleichzeitig hochbewerteten Wechselmünze auf sozialem Terrain wird.9 (2) Inwiefern bildet ein Ritual vegetativer Gemeinschaften, das die Fruchtbarkeit der Erde beschwört und mit einem Menschenopfer den Frühling heiligt, ein für die Choreographie derart geeignetes Thema, wie Marnold es nahelegt? Was macht das Thema des jungen Mädchens, das zwei Mal ausgewählt wird und in einem finalen Tanz das große, von der Gemeinschaft verlangte Opfer schließlich ausführt, derart geeignet, nach dem Ballett zu einer Kunst des Balletts durchzudringen? Im Folgenden möchte ich mich ausschließlich der zweiten Frage widmen. Die Aufführung von Sacre bündelt die eingangs genannten Merkmale einer Epochensignatur, welche sicherlich nicht die einzige ist, die sich destillieren ließen, aber sicherlich sehr zentral. Die ersten beiden Merkmale (Boden, Bewegung bzw. Bewegt-Werden) finden ihre Übertragung in der rudimentären Konstellation von Boden und beweglichen, bewegten Körpern als dem alleinigen Material von Choreographie im modernen und zeitgenössischen Tanz. Das Thema von Sacre übersetzt das erste Merkmal des Bodens zusätzlich in einen Begriff von der Erde. Es geht um die Erde, ihre Fruchtbarkeit und ihren Auf bruch im Frühling. Das zweite Merkmal der Bewegung übersetzt Sacre in das Thema der tänzerischen Bewegung selbst, während sich das ›Bewegt-Werden‹ auf zweierlei abbildet. Zum einen auf das Thema des Opfers, zum anderen auf die im Tanz vorhandenen rituellen, vor allem musikalisch initiierten Anteile als solche. Das dritte Merkmal (Natur/phýsis) ist sowohl auf der Ebene des heidnischen Rituals als Thema von Sacre als auch auf der Ebene seiner Kunst der Choreographie ihrer Körper vorhanden, wobei sich die beiden Ebenen, das versteht sich, weder abbildend noch symmetrisch zueinander verhalten. Das vierte Merkmal der planetarischen Dimension/kósmos wird uns die entscheidenden Rätsel aufgeben. 9 |  Vgl. hierzu den Beitrag von Jurgita Imbrasaite in diesem Band.

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Die Künstler, die Sacre 1913 ins Werk setzen, sind sich bewusst, dass ihr Thema nicht die Rückkehr zu einer menschenopfernden Kommunikation mit der Natur bedeuten kann. Ebenso, dass es nicht um eine Revitalisierung ritueller Bräuche oder um die imaginäre Annäherung an ein heiliges Gefühl gegenüber der Erde geht. Sie sind sich, dies geht aus der extremen Artifizialität von Komposition und Choreographie hervor, über ihre Differenz zum Kultus in einem postkultischen Zeitalter völlig im Klaren. Es geht ihnen nicht um Gefühle, eher um künstlerisches Erkennen, Forschen, Entdecken. Mit ihrer Gestaltung einer Ritual-Darstellung suchen sie, so mein Eindruck, möglicherweise eine Berührung jener Zone, in der Rhythmen und Metren die Körper in Spannungen versetzen, aus denen Tanz allererst hervorgeht.10 Strawinsky betont das Keimende, eruptiv Auf brechende als den Impuls des Frühlings (Thema) und der Körper (musikalische Bewegung). Nijinskys Choreographie betont den (Tanz-)Boden und das unanschauliche Getragen-Werden im Zustand des Tanzes. Willentlich berühren sie mit ihrem Thema die Zone des Kultus, des Heiligen, des Opfers und somit eine Schwelle, an der im Tanz allmählich das »mimetische Feld«11 reift, aus dem sich die abendländischen Künste generieren. Zunächst der Chor, für den es Chordichtungen gibt, die älter sind als alle uns überlieferten antiken griechischen Tragödien. Dieser Chor war Tanz und Gesang bzw. Musik. Auf ihn geht das meiste im Theater zurück. Selbst die moderne Spartenteilung, die im 17. Jahrhundert Oper, Schauspiel und modernen Bühnentanz trennt, bedient sich noch einmal ausführlich bei dieser Figur des Chores. Sie erscheint für uns erstmals in der polis, am Ort der Tragödie. Da sie von anderswo, aus einer Welt des Opferkults, herkommt, geht es des Weiteren um den Chor als das Andere des Theaters und das ihm Fremde. Sodann soll es 10 |  Laurent Chétouane spricht in Bezug auf diese Spannungszone, die sowohl vor einer intendierten Tanzfigur als auch in ihr und in Form der Ablösung von ihr zum Tragen kommen kann, vom Zustand des Tanzes: In ihm würden nicht nur die intendierten Figuren, sondern auch die Intentionalität des Subjekts ausgesetzt. 11 | Vgl. Bailly, Jean-Christophe: Le Champ mimétique. Paris 2005. Die Repräsentationen, Aufführungen und Darstellungen der Künste (Malerei, Skulptur, Tanz, Theater, Dichtung), verdanken sich einer Bewegung, die sich, wie Bailly sagt, zugleich an die Leere des Raumes gewöhnt und die Figurationen hervorbringt. Die Einheit dieser Bewegung bezeichnet er, im Rekurs auf die chora Platons, als das »mimetische Feld«.

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um Laurent Chétouanes Frage gehen, wie dieses Fremde offen gehalten werden kann.

V om C hor -O rt im H orizont der Tr agödie Der Chor taucht in der pólis inmitten des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung als Migrant auf und erhält in den sogenannten Großen Städtischen Dionysien, die als Wettstreit der Tragödiendichter alljährlich im Frühjahr stattfinden, in der Orchestra seinen eigenen Ort. Dieser Chor am Ort der Tragödie ist der einzige, von dem wir Genaueres wissen. Daher ist zunächst mit der Topographie der antiken Bühnenanlage und mit den Topologiken der Figur des Chores zu beginnen. Ihnen sind sämtliche Strukturmerkmale und deren tendenzielle Verweise zu entnehmen. Zunächst ist auf die doppelte Anlage des griechischen Theaters aufmerksam zu machen. Das antike Amphitheater heftet zwei Bühnen aneinander, zwei Theaterorte, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Zum einen die rechtwinklige Skēnē mit dem anschließenden Bühnenhaus und seinen drei Türöffnungen für die Protagonisten, zum anderen die Bodenfläche der Orchestra als Bühne des Chores. Die Orchestra gibt zudem die Form für die mehr als halbkreisförmig aufsteigenden Zuschauerränge vor. Die verstörende Asymmetrie dieser Bühnenordnung verlangt eine eigene Aufmerksamkeit. In räumlicher Hinsicht bilden Bühnenhaus und Orchestra eine Kon-stellation oder auch Kom-position ohne irgendeine Überschneidung. In Bezug auf die Skene und das Bühnenhaus verhält sich die Orchestra anliegend, davor oder daneben. In zeitlicher Hinsicht wird diese besondere Lage der Orchestra noch deutlicher: Die Protagonisten der Tragödie zeichnen sich durch eine episodische Struktur aus (ihre Auftritte heißen Epeisodien). Genauso wenig jedoch wie eine Episode kann dieser Protagonist als etwas für sich allein daherkommen. Als Episode ist er vom Dichter aus dem unanschaulichen Kontinuum der mythischen Erzählungen herausgelöst worden.12 Herausgeschnitten aus den variationsreichen, rhizomatischen Zusammenhängen 12 |  Damit ist auch gesagt, dass Protagonisten der antiken Dramatiker als solche Episoden gleichkommen, denn sie verfügen – im Unterschied zum Mythos – über keine von ihren Auftritten ablösbare oder von diesen unterschiedene ›eigene‹ Existenz.

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eines vormals oralen Erzählkosmos, der ohne datierbaren Anfang oder bestimmbares Ende ist, stellt sich der Held und die mit ihm verknüpfte Handlung als ein Bruchstück dar. Um als Protagonist aufzutreten, benötigt er daher zunächst eine Fassung, einen Ort, den er als solchen und aus sich heraus nicht haben kann. Dieser Ort wird ihm in der Tragödie weder von der Orchestra noch von der Skēnē, sondern vom Chor eingeräumt. Der Chor berührt die Tragödie der Protagonisten, er erleidet, durchschreitet und erträgt sie kaum anders als jene. Dennoch unterscheidet er sich von ihnen vollständig in dem alles entscheidenden Punkt, dass sich die Tragödie nicht durch ihn vollzieht. Der Struktur nach eröffnet der Chor das Theater mit einem Lied, in dem er zusammenträgt, was sich zusammengebraut hat: Die Pest in Theben, der bevorstehende Angriff auf die Stadt, die drohende Rückkehr Agamemnons zum Beispiel. Die Struktur dieser Eröffnung von Theater und Schauplatz bedeutet indessen nicht, dass das Standlied des Chores zwingend am Anfang eines Tragödientextes stehen muss. Die Tragödiendichter haben mit dieser Struktur variantenreich gespielt. Sie eröffnen mit einer Rede des Protagonisten, die sich an die versammelten Bewohner der Stadt richtet. Sie setzen den Weckruf eines Wächters voraus, spielen mit dem Anbruch der Tageshelligkeit oder kennen das Vorspiel eines nahezu intimen Dialogs zweier Schwestern. Strukturen der Ankündigung, der Vorahnung, des Herbeirufens, die sich sozusagen im Schatten des Chores vollziehen. Denn der Chor ist schon da. Er hört all diese Reden, Ankündigungen und Anrufungen. Er erwartet, ahnt und zittert selbst vor Aufregung. Er weiß, worum es gehen wird. Niemals muss er ›zuerst informiert‹ werden. An diesem Chor-Ort setzt die Tragödie ein, die in ihrem Verlauf mit dem Protagonisten derart verschmilzt, dass sie schließlich seinen Namen tragen wird. Während der Chor als socius der Tragödie, daneben, am Rand und in Berührung, mitgeht. Erst im ›kon‹ dieser beiden Figurationen von Chor und Protagonist, erst in dieser Beziehung, erst in dieser Berührung entsteht in der griechischen Antike der Ort der Bühne. Der vielstimmige Chor bildet in jeglicher Hinsicht die Umgebung des Protagonisten. Er nimmt ihn auf. Er umfasst ihn nicht anders als ein Krug, der einen Schluck Wein umfasst, aufnimmt und bereithält – um hier das zentrale Beispiel anzuführen, das Aristoteles in seiner Vorlesung

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zum Begriff des topos verwendet.13 Der Chor-Ort selbst, dies lässt sich an der Vielgestaltigkeit griechischer Chöre ablesen, kann eine ganz unterschiedliche Ausdehnung aufweisen. Chöre können aus Alten, Kindern, jungen Frauen, jugendlichen Männern, Müttern, Greisen bestehen, also aus Leuten jeglichen Alters und Geschlechts. Als diese umfassende Figur, die verschiedenen Protagonisten das Mit einräumt, hat der Chor-Körper selbst auch einen Rand, ein Grenze. Nicht nur eine der Einzelfigur zugewandte, sondern ebenso eine, von der er sich aufmacht, um auf dem Schauplatz der Tragödie zu erscheinen. An seinem abgewandten Rand hat der Chor eine Mündung ins Unanschauliche und ins Unaussprechliche. Die Ränder des Chores kennzeichnet eine Ambiguität, die aus dem Theater, aus der Tragödie und aus der Stadt hinausweist. In der Stadt reguliert Artemis, die zugleich als Herrin der Ränder als eine in der Polis verehrte Göttin gilt, die Erfahrung der Grenze. Sie führt »von der äußersten Peripherie ins Zentrum, von der Differenz zur Ähnlichkeit«14, wie Jean-Pierre Vernant von ihr sagt. Aber am Rand jener Ränder, von denen aus Artemis noch in den Gesellschaftskörper zurückführen kann, berührt sich dieser Rand mit einer Fremdheit, die nicht mehr ins Zentrum zurückgelenkt werden kann und sich keiner Alternative mehr beugt. Der Chor interessiert hier als eine Figur, die an ihren äußersten Enden eine andere Erfahrung des Grenzens verwahrt, eine Erfahrung des Angrenzens an eine absolute, unverfügbare und verborgene Fremde. Diese Fremde spielt nicht in ›unserer Welt‹. Ebenso wenig liegt sie ihr als Alternative oder als negativer Grund gegenüber. Gleichwohl gibt es eine Erfahrung von ihr, die notwendig mit Differenz und Distanz einhergeht und die eine andere Bezugnahme – vor den Beziehungen, die in der Stadt/polis und in den Häusern/oikos eingegangen werden – darstellt. Diese andere Beziehung ist die des Opfers.

13 |  Aristoteles: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur, Bücher I – VIII. Üs.u. hg. v. Hans Günter Zekl, zwei Halbbände, Hamburg 1987 und 1988, hier erster Halbband, S. 149-237, darin S. 210 1, 14-24. 14 |  Vernant, Jean-Pierre: Tod in den Augen. Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo. Üs. v. Max Looser, Frankfurt a.M. 1988, S. 20.

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S acrum facere Damit sind wir beim Gegenstand von Le Sacre du printemps, von dem Marnold sagt, dass er so ein außergewöhnlich geeignetes Thema für die Frage nach dem Tanz als einer Kunst sei. ›Opfern‹ heißt lateinisch sacrum facere, das Heilige machen.15 Die Ambiguität des sacrum ist hier von Bedeutung, denn sie besagt, dass das Heilige nicht als solches vorliegt (wie eine andere Welt). Das Heilige wird gemacht, facere, in einer Bezugnahme, die nicht einfach ein sacrifice/ein Opfer darbringt, um damit eine andere, vermeintlich höhere Gewalt günstig zu stimmen, zu beruhigen oder zu versöhnen. In derlei Zweck-Mittel-Relationen würde das sacrifice zu einem bloßen victime degradiert, dessen Ermordung stets mit Zwecken, die außerhalb des Aktes liegen, legitimiert oder begründet wird. Eine Tochter auf höheren Befehl oder höheres Gebot hin zu opfern, ist Auftragsmord. Sie für das eigene Kriegsglück zu töten, bleibt Mord aus niederen Beweggründen. Ihren Tod zugunsten eines Gewinns für das Allgemeinwohl für notwendig zu erachten, bleibt die Schuld eines hybriden Feldherren- und Politiker-Egos. Jenseits solcher Relationen geht es mit dem sacrifice indessen um einen Bezug, der das Heilige sacrum macht, also heiligt. Um eine Bezugnahme, die abseits von Substantialisierungen agiert, die das Heilige vorstellt und somit herstellt und annimmt – im doppelten Sinn dieses Wortes. Sacrum facere meint zunächst eine Darstellung: mit dem kurzlebigen, animalischen Blut angrenzen und auf diese Weise eine erste große Differenz berühren, herstellen und anerkennen in einem. Es geht um eine paradoxe Berührung mit etwas, das jenseits des eigenen Identitätsrahmens verbleibt. Um eine Berührung mit etwas, das die Natur unbedingt zur Natur macht (wir kennen es nicht) und die Einrichtung einer human-geeigneten Welt bedingt hat. Das heißt, diese andere Beziehung wäre eine Bezugnahme oder Öffnung zu einem Leben, das den Menschen, wie Pascal sagt, ›unendlich übersteigt‹.16 15 |  Sacrum in beiderlei Bedeutung von Weihe oder Opfer bildet eine zentrale, zugleich soziale und religiöse Kategorien der modernen Soziologie, wie sie vor allem von den Gründern des Collège de Sociologie, Bataille, Caillois und Leiris, ausgearbeitet worden ist. 16 |  Eine »Chimäre« nennt Blaise Pascal »den« Menschen, eine »Kloake der Unsicherheit und des Irrtums: Herrlichkeit und Auswurf des Weltalls […] Begreife: der Mensch übersteigt unendlich den Menschen«. Vgl. Pascal, Blaise: Über die

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Opferrituale und schamanistische Praktiken gehören vielen, für unsere historisch rechnenden Zeitverhältnisse extrem lang andauernden Perioden der Hominisierung zu, in denen sich Menschen als solche noch nicht so bezeichnen, sondern sich allererst als Menschen herausstellen. (Dies macht eine Reflexion über den völlig anderen Status des sogenannten Menschenopfers und den Status des Geopferten im Opfer erforderlich, die hier jedoch nicht geleistet werden kann.17) Opferrituale berühren eine Fremdheit, indem sie sich von ihr abstoßen. Die Fremdheit verbleibt als solche fremd, aber der Einsatz der Abstoßung selbst zeitigt seine Wirkungen. Er erzeugt eine Verdichtung nach innen (Kompression). Elisabeth von Samsonow hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Opferkulturen (sie hat dabei vor allem Kulte der großen Mutterheit oder totemistische Rituale der geheiligten Tierheit vor Augen) mit einem starken Begriff von Alterität einhergehen und eine hoch entwickelte politische Fähigkeit aufweisen, mit dem Fremden Umgang zu haben. Im Vergleich zu ihnen seien patrilineare Aszendenzmodelle, die sich auf eine Fortsetzung und Ausbreitung des Ähnlichen konzentrieren, blind und unfähig im Umgang mit der Fremdheit. Sie entziehen dem Fremden seine Wirkung, »indem man ein total Fremdes am höchsten archimedischen Punkt in die größte Spannung gegenüber der Welt bringt«.18 Doch das »Fremde wirkt weniger in der Vertikalen«, wie von Samsonow hervorhebt, »als in der Horizontalen: auf der Ebene der Interaktion bilden sich rätselhafte Evidenzen, die nach ihrer Erklärung rufen«.19 In der Horizontalen, auf der Ebene der vielen, wechselnden, kommenden und gehenden Gestalten und ihrer zahllosen InteraktioReligion und einige andere Gegenstände. Üs. v. Ewald Wasmuth, Frankfurt a.M. 1987, Fragment 434, S. 191-204, hier S. 202. 17 |  Vgl. Calasso, Roberto: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia. Üs. v. Moshe Kahn, Frankfurt a.M./Leipzig 1993 [1988]. 18 |  Samsonow, Elisabeth von: Anti-Elektra. Totemismus und Schizogamie. Zürich/Berlin 2007, S. 83. So wird das Fremde im metaphysischen Zeitalter an diesem äußerten Punkt der Welt gegenüber festgemacht und abstrakt vergottet. Das hindert seine politische Theologie jedoch keineswegs daran, dieses totalisierte Fremde/Unsterbliche als Herkunft zu reklamieren, das die patrilinearen Genealogien aus sich entlässt und in scheinbar endlosen Vater-Sohn-Ketten fortpflanzt. Vergleichbar ist dieser Vorgang demjenigen bei Sigmund Freud, der in Totem und Tabu aus dem Totemtier den geliebten/gehassten Übervater der Horde macht. 19 |  Ebd.

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nen lässt sich, so noch einmal von Samsonow, »ein Einsatz von Fremdheit wahrnehmen, der im Sinne Gabriel Tardes zugleich soziale und mnemotechnische (genealogische) Bedeutung hat«.20 Genealogische Bedeutung würde sich demnach also eher an Partikel von Fremdheit inmitten kollektiver Gedächtnisse und passagerer Gemeinschaften knüpfen.

C horkörper Einar Schleef weist auf die Mitgift hin, die dem Chor, den es an den Ort der Polis verschlagen hat, eine spezifische Prägung verleiht. Er schreibt: dem Chor haftet noch immer etwas von seiner ursprünglichen, heilenden Bedeutung an, seiner Zugehörigkeit zur Landschaft, zu einer geographischen wie zu einer seelischen, als gingen beide Landschaften im Chor eine Verbindung ein, würden sich gegenseitig bedingen, als würde eine aus der anderen erwachsen. 21

Der Chor hat seine temporäre Raumstelle, eine gestampfte, ansonsten unbefestigte Tanzplatte in den ländlichen Dionysien, verlassen. Er nimmt von ihr den Namen mit, der fortan ihn, den beweglichen Chor, bezeichnet. Er zieht aus den vegetativen Zyklen der Landschaften in die Stadt, aus einer Welt, die das Opfer und die Bezugnahme des sacrum facere kannte, in eine Polis-Welt ohne Opfer. Er tut dies natürlich nicht, ohne sich zu verändern (er wird krank, sagt Schleef), aber auch nicht ohne Körper-Gedächtnis, wenn ich so sagen darf. Der Chor-Körper ist Ausdehnung, Körper im Plural. Was ermöglicht ihre vorübergehende Gemeinschaft, ihre Zusammensetzung als Chor? Die Teilung der Stimmen (Gesang), die Teilung der Körper (Tanz)? In der Polis ereignet sich der Chor am Rand der städtischen Feste und ihrem Theater, ohne diesen zuzugehören, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Seine Fremdheit und Flüchtigkeit sind außerordentlich. Sie besagen, dass er sich lokal, punktuell und nur für kurze Zeit (für die Dauer eines Festes, einer Aufführung) bildet. Seine Flüchtigkeit besagt aber auch, dass er sich immer wieder 20 |  Ebd.; vgl. a. Gabriel Tarde, einen der ersten philosophischen Soziologen des »mimetischen Feldes«, in: Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Üs. v. Jadja Wolf, Frankfurt a.M. 2003 [Paris 1921]. 21 |  Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt a.M. 1997, S. 12f.

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von neuem bildet und niemals sich selbst ähnlich werden kann. Er hat in der Orchestra einen Bühnenort, der an die vormalige Tanzplatte erinnert, aber dieser Ort behaust ihn nicht (während der Protagonist im Bühnenhaus, dem Palast, wohnt). Da er unbehaust ist, hat er auch keine Vertretung, er lässt sich nicht symbolisieren. Er bleibt grundlegend mit einem Außen verknüpft. Seine Unbeständigkeit besagt indessen, dass dieses Außen keine gegebene Angelegenheit ist und daher für die Innen-Bildungen von polis, Haus, Familie, Königreich, Staat etc. letztlich nicht zur Verfügung steht. Der Chor wohnt nicht. Sein Körper ist zu instabil, um wohnen zu können. Mit sich selbst unauflösbar uneinig, bringt er nicht genügend Einigkeit auf, um irgendwo einkehren zu können, noch nicht einmal temporär. Anders als die Körper der patrilinearen Genealogie, die Stammlinien pflanzen wollen, ist der Körper des Chores jeweils begrenzt, aber auch immer wieder von neuem ein anderer. Diesbezüglich ist er nicht in seinen Grenzen zu bestimmen, sondern als Grenzendes, das die Grenzen einfaltet und ausfaltet und auf diese Weise ins Spiel bringt. Dem Chor kommt noch nicht einmal das Aktivum der Aufteilung zu. Was er teilt, ist schon da als aufgeteilt, ist schon da als Teile in dieser Aufteilung von Stimmen und Körpern: ihr Zwischen, ihre Äußerung, ihre Ausdehnung, ihr Außerhalb. Daher kann die Figur des Chores nur fortfahren, sich zu teilen oder damit aufhören und zerfallen. Als in-sich-geöffneter Körper vermag der Chor Gegenwarten (im Plural) zu verräumlichen. Die »Offenständigkeit« (Heidegger) dieser Figur zeichnet sie gleichsam durch ein originäres ›Mit‹ aus, auf dessen anderer Seite, wenn wir es wie üblich mit einem Bindestrich versehen, sich jedoch keine ontologischen Gewissheiten einstellen: kein Sein, keine Allmacht, keine Essenz, kein gemeinsamer Nenner. Obwohl der Chor als Vielzahl von Körpern per se ein räumliches Phänomen darstellt, ist er, ohne Repräsentation und ohne Wohnung, unmöglich in einem Raum. »Wenn die Körper nicht im Raum sind, sondern der Raum in den Körpern, dann ist er Aufspannung, Spannung des Ortes«22, schreibt Nancy in Corpus. Aufspannung als Öffnung, als Spannung einer »multi-dimensionalen Konkavität« (Daniel Libeskind)23, die einem Ande22 |  Nancy, Jean-Luc: Corpus. Üs. v. Nils Hodas und Timo Obergöker, Zürich/Berlin 2007 [2000], 28f. 23 |  Libeskind, Daniel: »Über den Raum des Theaters und historische Umbrüche im Verständnis von Raum«, 1992, zit.n.: Sacré Sacre du Printemps, Programmheft, S. 29.

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ren Raum gibt, ihm einen passageren Ort mitteilt. Dieser Andere ist nicht unser Nachbar. Obwohl die Öffnung hier beim Nächsten beginnt, bezieht sich das ›Mit‹ des Chores nicht auf ihn im Sinne einer nachbarlichen oder intimen Nähe. Der Chor bezieht sich auf den Nächstbeliebigen, auf »ein Leben«24, ein beliebiges Leben, das uns nicht zusteht wie das individuell gestaltbare Leben, sondern jenes Lebendige meint, das uns als Lebewesen zukommt, zugeteilt von einer Kraft ohne Allmacht. Sie bleibt uns notwendig fremd (Xenokratie). Das ›Mit‹ teilen soll hier heißen, sich in der Berührung zweier Grenzen beliebiger Leben (mit)teilen. Nur so wäre die Teilung eines ›Gemeinsamen‹ vorstellbar, welche seine Erfahrung und vielleicht auch ihren Begriff ermöglich: dass es nämlich ›das‹ Gemeinsame ist, das auseinandertritt. Es setzt sich aus dem Gegeneinander beliebiger Gegenwarten zusammen. Das heißt, sein Zusammen ist aus Gegenübergestelltem gefügt. Es schließt Distanzen ein, die ihren trennenden Charakter nicht aufgeben. Das ›Gemeinsame‹ hat hierin seine richtungslose Öffnung, die als solche auf nichts hingeht, weder auf die abwesende Einheit, noch auf etwas Unnennbares am leeren Platz (als ob Plätze erhalten blieben, nachdem sie verlassen wurden). Nicht das Angrenzende, sondern dieses Hier wäre dann jene Fremdheit, die sowohl in den beliebigen Leben haust, als auch im Entlegensten ihrer Geschichte, die andauert.

S acre Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die historische Sacre-Aufführung als ein merkwürdiger Zwitter dar. Ihr Gegenstand ist die historisierende Darstellung einer vormaligen Gemeinschaft, die im ersten Teil horizontal (verschiedene Stämme, Tänze, Teilgruppen gleichzeitig) ausgebreitet erscheint, während sie sich im zweiten Teil um eine Zentralachse, die Auswahl des Opfers und dessen Verwirklichung im Todestanz, zusammenschließt. Dabei fallen der dargestellte Tod, die auf einen finalen Höhepunkt zustrebende Musik, die dargestellte Schließung der Gemeinschaft (ihre Verschmelzung zu einem Bild) und der Schluss der Aufführung in eins zusammen. Das Gemeinschaftsmuster, das diesem Bild zugrunde liegt, ist der langen Tradition einer gewaltsamen Miss24 |  Vgl. Deleuze, Gilles: »Die Immanenz: ein Leben«, in: ders.: Schizophrenie & Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995. Frankfurt a.M. 2005, S. 365-370.

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deutung des Chores entlehnt, die ihn als eine, sich um Namen oder Werke schließende Einheit betrachtet. Thematisch wird hier eine Gemeinschaft, die das Opfer des Einzelnen für ihr eigenes Überleben beansprucht: das Muster einer Verwirklichung von Gemeinschaft, die sich als einzige, unsterbliche behauptet, indem sie ihren Bezug zur Andersheit des Todes, zur Fremdheit zugleich okkupiert und löscht (und sich zerreißen wird, indem sie die anderen zerreißt). Die Aufführung von Sacre 1913 zeigt somit mindestens zweierlei: Sie entdeckt in oder unter dem Ensemble des corps de ballet eine Figur des Chores. Sie entdeckt den interkorporellen Körper des Tanzes, beziehungsweise dass es den Körper im Zustand des Tanzes nur im Plural vieler hervorkommender Körper gibt. Dass der Tanz »an sich« (Marnold) die rhythmische Konfiguration der Körper ist und dass seine Handlung mit dieser Konfiguration als solcher übereinkommt. Dass nur in diesem unüberschaubaren Ineinander-, Auseinandertreten eine Gegenwärtigkeit entstehen kann, die keinem der Beteiligten zugehört und dennoch jede und jeden von ihnen unabdingbar voraussetzt. Andererseits jedoch biegt der zweite Teil der Aufführung diese Entdeckung in das Bild einer sich kreisförmig um eine Vertikale schließenden Gemeinschaft um, die sich als kategorische Gemeinschaft neuerlich der Dualität von Möglichem und Unmöglichem beugt. Diese Schließung ist natürlich nicht nur auf der Ebene des Sujets, figurativer Ordnungen oder szenischer Bilder vorhanden, sondern auch in der Musik Strawinskys, die eine ähnliche Polarität aufweist. Solange die einzelnen Instrumentengruppen durch ihren klangfarblichen Eigenwert hervortreten, entsteht der Eindruck einer in sich distinkten Differenziertheit.25 Wenn sie indessen in den dynamischen Wettbewerb verfallen und dem Ende zu, vor allem in der Danse sacrale, von überfallartigen Stößen getrieben, sich zu einem finalen Schlusspunkt steigern, dann evoziert die musikalische Komposition eher Reflexbeziehungen, unausweichliche Wirkungen ohne Abstand: Auch hier ist ein unbedingtes Sich-verwirklichen-Wollen im Spiel.

25 |  Für die Sacre-Aufführung von Romeo Castelluccis Choreographie für vierzig Maschinen bei der Ruhrtriennale 2014 wurde eine historisch informierte, am Instrumentalklang des frühen 20. Jahrhundert orientierte Sacre-Einspielung von Teodor Currentzis/MusicAeterna verwendet, die diese Polarität besonders gut hörbar machte.

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Wiederum eine andere, gegenläufige Facette ergibt sich indessen, wenn diese Fragen nicht nur auf der Ebene des Sujets, der szenischen Bilder und der musikalischen Komposition bewegt werden, sondern auf die Ebene des choreographischen Bewusstseins und des Tanzes jenseits seiner Darstellungen bezogen werden. Dann wäre das finale Bild keine Darstellung von Opfer und Gemeinschaftsschluss, sondern Todestanz und Ausstoßung der Protagonistin des Balletts. Auch dies wäre jedoch wieder doppelt lesbar: zum einen als Stillstellung der Ballerina im oder als Emblem einer vormaligen Epoche, zum anderen als Ausstellung eines erschöpf baren Körpers, der keiner Choreographie mehr zur Verfügung steht oder ihr zu gehorchen vermag. Etwas von der verstörenden Wucht der Uraufführung von Le Sacre du printemps dauert an, was möglicherweise mit den divergierenden Darstellungsinteressen und Ausdrucksbewegungen der beteiligten Künstler zusammenhängt, die sich um das für sie Unlösbare herum nicht einig wurden.

S acré S acre Sacré Sacre du Printemps von Laurent Chétouane stellt die Frage, wie diese Schließung, auf die Sacre final zutreibt, abzustreifen oder durchzustreichen wäre. Und zwar am Ort oder an den Orten von Sacre selbst, also ohne zu behaupten, wir könnten einfach den Raum wechseln. Das scheint mit ein wichtiger Punkt, denn er besagt, dass wir die Immanenz alternativlos teilen und ebenso ihre Schichtungen und Geschichten, zu denen auch Sacre gehört, diese Zwittergeburt unter anderen, durch die im frühen 20. Jahrhundert erstmals der Horizont der Erschütterungen, in denen wir bis heute stehen, spürbar wird und durchdringt. Der Titel Sacré Sacre du Printemps lässt eine plakative Lesart zu, was sich mitunter sicherlich erschwerend auf die Rezeption ausgewirkt hat. Hier sei zunächst nur angemerkt, dass der Titel mit seiner verschiebenden Doppelung Sacré Sacre den Aspekt des Opfers nicht negiert, sondern betont. Zwischen zwei verschiedenen Worten, die einander sehr ähneln, führt er eine Kluft ein, die sich m.E. einer inhaltlichen Deutung entzieht, denn in striktem Sinn ist es unmöglich, ein Opfer noch einmal zu op-

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fern.26 Insofern handelt es sich eher um einen Titel, der auf eine etwas riskante Weise mit einer Kluft spielt, die zwischen dem Opfer und dem Geopferten, in sich, ambivalent auseinandertritt: schließend, öffnend. Chétouane interessiert jenes Grenzende der Opferfigur, das in sich, in der Berührung zweier Grenzen, selbst vielfältig ist. Sacré widmet sich einer Bewegung dieser Grenzen und ihrer differenzstiftenden Kräfte. Das Spiel mit diesem Grenzenden läuft auf die Bewegung sich ständig auseinander differenzierender Variationen hinaus und widerspricht dem Gedanken einer Konzeption, die die Aufführung an zentraler Stelle organisiert. Vielmehr ist ein weitestmöglicher Entzug strikter choreographischer Anweisungen verlangt, während die Eigenbewegung der einzelnen Tänzer gestärkt hervortritt. Während der Aufführung von Sacré individualisieren sich das jeweilige Bewegungsvokabular und die Körper der sieben Tänzerinnen und Tänzer in extremer Weise. Im Einzelnen scheinen sie von einer großen inneren Unabhängigkeit getragen, was jedoch keineswegs dazu führt, sie ›lesen‹ zu können, eher im Gegenteil. Sie riskieren ihre Lesbarkeit, setzen auch diese, übermütig oder mutwillig, so scheint es, aufs Spiel. Ihre Unabhängigkeit führt dazu, dass sie Momente der Groteske, der Ratlosigkeit, der Unruhe, des Unbeholfenen, der Freundlichkeit, der Schwere, des Drohenden, des Zarten usw. in großer Zahl hervorbringen, sodass der Eindruck eines Flackerns entsteht, unterstützt von einer spezifischen Verlassenheit ihrer Gesichter. Konzentriert auf das Moment einer entstehenden Bewegung, wird etwas in der Peripherie dessen, was jeweils für die Einzelnen spürbar, sichtbar oder hörbar ist, zu einer Herausforderung, die sich nahezu im selben Moment in eine Selbstherausforderung verwandelt. Anstoß oder Anspruch verwandeln sich in ein bewegungsstiftendes Geschehen. In dieser Zone mehrerer Körper, miteinander und zugleich einander entgegengestellt, ereignen sich Bewegt-Werden durch etwas (das sich nicht sagen lässt) und Bewegungen (ebenfalls nicht ›ich‹). Es scheint, als wür26 |  Wo die Rede vom ›Opfern des Opfers‹ geht, wird das Opfer transzendiert, in Sprache überführt, dialektisch aufgehoben (Hegel) und unkenntlich gemacht. Das Grenzende der Opferfigur wird metonymisch in einen Bereich außerhalb möglicher Erfahrung verschoben. Demgegenüber geht es m.E. in Sacré jedoch gerade um die (außersprachliche) Erfahrung eines vielfältigen Angrenzens, die nicht einem Außen gegenüber spielt, sondern in der Immanenz des endlichen, pluralen Vorhandenen.

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den die Tänzer auf das, was sie, notwendig unkenntlich und unbewusst, an der Stelle ihres Leibes durchzieht, horchen und auf etwas antworten, das sie nicht einholen können. Selbstbezug und Selbstentzug treten zeitlich auseinander. Hier, in einer Zone vielfältigen Grenzens, ereignet sich für alle Beteiligten, das Publikum eingeschlossen, ein »Fremdwerden der Erfahrung«27 im Sinne von Bernhard Waldenfels. Zusammen setzt sich ein ruhig-ruheloses Mobile aus Gesten, die als solche mäandern: Arme, weit ausgebreitet wie Antennen. Arme wie Zeiger, die nicht wissen, wo sie hinzeigen sollen und sich wie im Suchlauf drehen. Große, sehr hellhäutige Hände, die eine besondere Selbständigkeit erreichen und größer werden, während man ihnen zusieht. Arme, Beine zu mehreren, sachte pendelnd. Aufspringen, in mehrere Richtungen gleichzeitig. Ein dünner Körper, der sich mitunter fast zu einem Strich verjüngt und dem ein zartes, fast fliegendes Hüpfen gelingt. Dieses Mobile aus Gesten vermag sich vorübergehend in kleine Gruppen zu dividieren, die sich in sich selbst umeinander drehen, jedoch niemals symmetrisch zueinander verhalten. Die Außenperspektive, die Anschaulichkeit scheinen suspendiert – vielleicht bis auf die großen, gemeinsamen Kreisbewegungen, die sichtlich auf das historische Vorbild rekurrieren. Die Bewegungen im großen Kreis, der mehrfach aufgenommen wird, sind die dem Boden zugehörigen basalen Formen: gehen, laufen, trampeln, rennen, fallen. In einem langsamen großen Kreis gehen die einzelnen zu Boden, bis sie auf dem Rücken liegen. Alle. Der Eindruck gleitender Übergänge von einer Formation in die andere geht von den unruhigen Beinen aus und von den Füßen, die, meist auf halber Spitze, nie wirklich ruhen. In ihnen balanciert, so scheint es, ständig die Binarität von Gewicht und Bewegung. Indem sie balancieren, geben sie weder dem einen noch dem anderen einseitig nach. Wenn ein Grundgestus dieser Inszenierung erkennbar ist, so könnte man ihn vielleicht dahingehend beschreiben: Er versucht, das WederNoch zu transformieren in ein einfaches »weder« (neither). Beispielhaft scheint mir dafür eine Passage aus dem Mittelteil, in dem die Sacre-Musik von Strawinsky eingespielt wird – während für den ersten und dritten Teil der Aufführung Musik von Leo Schmidthals verwendet wird, die sich in 27 |  »Was Eigenes und Fremdes ist, bestimmt sich im Ereignis des Antwortens und nirgends sonst, das heißt, es bestimmt sich niemals völlig.« Vgl.: Waldenfels, Bernhard: Topographien des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a.M. 1997, S. 107-109, hier S. 109.

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freier Variation auf Strawinskys Komposition bezieht. Urheberrechtlich ist es verboten, Strawinskys Musik zu zitieren, sie darf nur ganz wiedergegeben werden. Seine Komposition betont, wie gesagt, in ihrem zweiten Teil die Vertikalität einer um ihr Opfer zentrierten Gemeinschaft. Es ist berührend zu sehen, wie diese Musik hörbar gegeben wird und sich die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer Chétouanes dennoch von ihr entfernen. Wie sie in gewisser Weise während und in dieser Musik einen weiteren Raum für sich öffnen, für sich und für etwas, das nicht antagonistisch und nicht kämpferisch auf Strawinskys Musik bezogen ist und das diese Musik dennoch als Meisterreferenten in bestimmter Weise ›einfach‹ hinter sich lässt. Diese undramatische Entfernung des Referenten geht über in ein Referenz-, aber keinesfalls Formloses. Eher werden die Choreographien aus dem ersten Teil vor der Einspielung der Musik Strawinskys fortgesetzt und entfaltet: das Auftreten unballetöser Körper, die Offenheit eines sich in seiner Pluralität mitteilenden Ensembles. Seiner bildlosen Mit-Teilung entsprechen die leeren Projektionswände, mit denen die Bühne bei Chétouane von drei Seiten umstellt ist. Sie nehmen kein Bild mehr auf, geben keines mehr her. Auf dieser Bühne geht es entsprechend auch nicht um einen fulminant neuen Versuch des Umgangs mit einer epochalen Choreographie. Anstelle eines ›neuen‹ Entwurfs widmet sich die Aufführung von Sacré dem lebens- und bewegungsstiftenden Grenzgeschehen in einem Ensemble von Körpern, die als solche für die Sprachen undurchdringlich sind. Choreographie, die versucht, diese Körper in Bewegung dennoch zu schreiben, kann dies nur, wenn sie sich in bestimmter Weise als »Topographie des Fremden«28 versteht. Hier tut sie es, indem sie sich zurückzieht, demütig und verspielt zugleich.

28 |  »Holt die Erfahrung das Fremde ein, so ist das Fremde nicht mehr, was es zu sein beansprucht«. Waldenfels, ebd.

Von einem Sacre zum Anderen Figuren der Fremdheit in Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Cécile Schenck

Was gibt es für einen bewährten Choreographen Näherliegendes, als sich früher oder später in seiner Karriere an der Partitur von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps zu messen, an etwas also, das gleichzeitig außerordentlich bekannt ist – eine Art Hit der gesamten Moderne – und unendlich fremd, aufgrund der Komplexität des musikalischen Werks und der obskuren Faszination, die es immer noch auf die Tänzer wie auf das Publikum ausübt? Seit der Inszenierung durch Vaslav Nijinsky im Jahr 1913 bis zu deren jüngst gefeiertem 100-jährigen Jubiläum sind zahllose unterschiedliche Versionen des Sacre entstanden, angefangen bei jenen von Leonid Massine (1920) und Serge Lifar (1935) bis hin zu jener von Dominique Brun, Sacre #197 (2013), dazwischen liegen die berühmten réécritures des Stücks, die nacheinander von Mary Wigman (1957), Maurice Béjart (1959), John Neumeier (1972), Pina Bausch (1975), Martha Graham (1984) und Mats Ek (1984) vorgelegt wurden, nicht zu vergessen die historische Rekonstitution von Millicent Hodson und Kenneth Archer1 (1987), darüber hinaus die zeitgenössischeren Interpretationen des Werks durch Marie Chouinard (1993), Angelin Preljocaj (2001), Xavier Le Roy (2007), Jean-Claude Gallotta (2011), Ginette Laurin (2011) 1 | 1987 haben die Amerikaner Millicent Hodson und Kenneth Archer versucht, mit dem Joffrey Ballet aus Los Angeles das Sacre so genau wie möglich wiederaufzuführen, indem sie viele ikonographische und textuelle Archive ebenso zu Hilfe genommen haben wie die wertvollen Erinnerungen von Marie Rambert, die eine enge Mitarbeiterin Nijinskys war.

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und schließlich Thierry Thieû Niang (2012). Bei diesen zuletzt genannten tendiert die Form des Solos dazu, die Gruppenformation in den Hintergrund zu drängen, und es werden sowohl hinsichtlich der ursprünglichen Erzählung Freiheiten genommen – die manchmal bis zum Verschwinden des zentralen Motivs der Opferung einer Jungfrau reichen – als auch hinsichtlich der musikalischen Partitur, zugunsten einer Montage von Auszügen oder unerhörter Neuarrangements der Töne. All diese Verfahren zur Abänderung einer Theaterarbeit, die umso legendärer wirkt, als ihre Original-Choreographie verloren gegangen ist (im Gegensatz zu jener von L’Après-midi d’un faune), schreiben sich in eine Logik der Entheiligung des Sacre du printemps ein, als der einzigen Möglichkeit, ein unvergessliches Werk am Leben zu erhalten. Das Opfer als solches – oder, im Französischen, das »massacre du printemps«, laut der ironischen Formel der Verrisse des Balletts von 1913 – scheint tatsächlich die beste Art und Weise zu sein, eine Form zum Vorschein kommen zu lassen, die zeitlichen Abnutzungserscheinungen ebenso widerstehen kann wie dem Vergessen.

D as A nti -A rchiv Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps (in dem der Titel bereits die ironische Distanz bezüglich des Quellen-Werks anzeigt) – bildet keine Ausnahme zu diesen neuen Tendenzen, weil Chétouane sich wie Dominique Brun2 entschieden hat, einen zeitgenössischen Komponisten zu beauftragen, Leo Schmidthals, dem er die Musik des ersten und des dritten Teils seines Stückes anvertraut, die die gesamte Partitur von Strawinsky einrahmen, welche in ihrer Mitte allerdings unterbrochen wird durch eine übermäßig lange Pause. Wie Gallotta oder Chouinard verzichtet er auch auf die Figur der Auserwählten (l’Élue), und jeder der sieben Tänzer wird reihum zum Opfernden und zum Geopferten, was selbstverständlich dazu führt, dass die Soli Vorrang haben. Die Massen-Effekte, mit welchen mehrere seiner Kollegen (Preljocaj, Laurin und Thieû Niang zum Bei2 | In Sacre #197 hat die Choreographin und Choreologin (Spezialistin in Labannotation) Dominique Brun den Musiker Juan Pablo Carreño beauftragt, ausgehend von den Fragmenten von Strawinskys Le Sacre du printemps eine neue Partitur zu schreiben. Auf der Bühne wird diese von der Mezzo-Sopranistin Isabel Soccoja zu elektronischer Musik gesungen.

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spiel) weiterhin arbeiten, treten hier hinter ein Nebeneinander einzelner Tänze zurück, die die Intimität ihrer Interpreten entblößen, indem sie sie frontal dem Blick der anderen, oder vielleicht des Anderen, aussetzen. Damit ist Sacré Sacre weniger eine Unternehmung zur Aktualisierung eines Gemeinplatzes des kollektiven Imaginären – jenes der »Barbaren«3, welche von den Ballets russes zu Beginn des 20. Jahrhunderts als regeneratives Symbol einer europäischen Zivilisation gefeiert wurden, die zuvor als dekadent verurteilt worden war – als vielmehr ein kühner Versuch, eine irreduzible Singularität in den westlichen Repräsentationen des Anderen zu erfassen. Hier findet sich zweifellos die hauptsächliche Originalität des Stücks von Laurent Chétouane, der sich vornimmt, alle Erwartungen der Wiederaufnahme-Übung eines großen Werkes der Vergangenheit zu durchkreuzen. Zunächst deswegen, weil er als ausgebildeter Regisseur die choreographische Praxis im Fremdsein angeht, mit ebenso viel Bescheidenheit wie Dreistigkeit. Dann deswegen, weil sein Stück auf keinen Fall eine Alterität feiern möchte, die man sich im Sinne eines Rituals der Domestizierung, der Besitzergreifung und letztendlich der Verkürzung der Differenz zu eigen machen könnte, sei es eine Differenz der Kulturen, der Epochen oder der Individuen einer gesellschaftlichen Gruppierung, sei es eine solche, die sich im Zentrum der Identität des Subjekts selbst auftut. In diesem Sinne wählt Laurent Chétouane bewusst eine Position des Außerhalb: außerhalb einer Geschichte und einer Tradition, die modern, aber nichtsdestoweniger gut etabliert sind, die vollauf angenommen und übernommen werden von der Gemeinschaft der Tänzer, außerhalb aber auch einer derzeit sehr zur Mode gewordenen Arbeit über das Gedächtnis des Tanzes, bei der es darum geht, sich rückzubesinnen und dabei die Lücken zu akzeptieren; außerhalb schließlich der aktuellen Forschungen zur Möglichkeit, ein Kollektiv und einen gesellschaftlichen Zusammenhang wiederherzustellen im Zeitalter des höchst übersteigerten Individualismus.In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass Sacré Sacre du Printemps bewusst gegen die Musik Strawinskys spielt und arbeitet, 3 | In der Lettre de jeunesse von Henri Vandeputte vom 18. Dezember 1897, in N.R.F., 1910, schrieb Charles-Louis Philippe in prophetischer Weise: »Jetzt braucht es Barbaren.« Diese Figuren des Fremden, der gleichzeitig von einem anderen Ort und aus einer längst vergangenen, größtenteils erfundenen Zeit her kommt, wird das Pariser Publikum der 1910er bis 1920er Jahre mit Freude in den Stücken der »Ballets Russes« wiederfinden.

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gegen ihre stark kollektiven Rhythmen und ihre Kraft der rituellen Zusammenkunft.4 Gegen den Ursprung also, sei er ethnographischer oder ästhetischer Art: anders gesagt, gegen die Idee des Repertoires, natürlich, aber auch gegen jene der Erinnerung, als sei sie etwas, das es erlaube, eine gewisse Solidarität und ein »Zusammen« mehrerer Künstler-, Tänzer- und Zuschauergenerationen zu schaffen. Das Stück würde somit als Teil einer Anti-Anthologie oder eines Anti-Archivs funktionieren, welches, ohne eine komplette Unterbrechung des Spiels der Referentialität, den Interpreten ein neues Feld des Möglichen sich selbst, den anderen und dem Publikum gegenüber eröffnet, in dem sich die Erfahrung einer neuen Weise, auf der Welt zu sein, machen lässt. Indem er sich ein wenig abseits der Interpretationen seiner Zeitgenossen bewegt, die zum Großteil auf die Vitalität, das Begehren, die Gewalt oder die Nostalgie des Zusammen-Seins abzielen, wenn auch die Idee der organischen Totalität zunichte gemacht wird, stellt sich Laurent Chétouane als jemand dar, der einen anderen Aspekt des Werks erforschen möchte, der, wenn er auch nicht weniger sichtbar ist, so doch zumindest relativ unbeachtet das vergangene Jahrhundert passiert hat: die radikale Fremdheit des Anderen. An der Stelle der engsten Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv, die auch in jüngsten Abwandlungen zu sehen ist – denken wir insbesondere an Xavier Le Roys Sacre du printemps, in dem der Chefdirigent eines Orchesters, allein vor dem Publikum, sich anstrengt, die Zuschauer untereinander zu verbinden, indem er sie in das sensorische Universum der Musiker im Graben eintauchen lässt5 – substituiert Laurent Chétouane tatsächlich einen weniger offensichtlichen Zusammenhang: jenen, der die Subjekte in ein Netz der nicht-hierarchisierten, undirigierten Blicke einschreibt, diesseits jeder Normativität und jedes Werturteils, das von einem Individuum oder einer Gruppe über andere gefällt wird. Darauf beruht vielleicht die politische beziehungsweise utopische Dimension des Sacré Sacre, das, indem es genau an den spielerischen und gleichzeitig kompromisslosen Geist der Kindheit anknüpft, 4 | Dies war übrigens bereits der Eindruck Strawinskys selbst gegenüber der Choreographie von Nijinski, die er als arhythmisch und plump empfand. 5 | Genauer gesagt kommt Strawinskys Musik aus Lautsprechern, die Xavier Le Roy in diesem für sein Sacre erdachten Dispositiv unter den Rängen angebracht hat, und sie wird dabei in der gleichen Weise wie bei einem Orchester aufgeteilt. Vgl. dazu den Beitrag von Leonie Otto in diesem Band.

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etwas zu sehen gibt, das eine Gesellschaft sein könnte, die endlich fähig wäre, »das Fremde in seiner Andersartigkeit bestehen zu lassen«6, ohne zu versuchen, es zu integrieren oder zu kolonisieren.

E in H auch von K indheit Bizarr geschminkt mit großen Farbflächen auf Gesicht oder Hals, scheinen die sieben Tänzer – vier Frauen und drei Männer in dunklem Sweatshirt, T-Shirt oder Unterhemd, kurzen Hosen und Socken – sich ganz zu Anfang Kinderspielen zu widmen, die sie zu gemeinsamen Läufen führen, zu Märschen in Gruppen, zu fröhlichen Rundtänzen, zum springenden Überqueren der Bühne oder kreisenden Duos, in denen sich flüchtige Kontakte andeuten, eigenartig arm an sexueller Konnotation. Gleichzeitig isoliert im eigenen Tanz und offen für die Begegnung mit dem anderen, scheint jeder Bewegungen zu wählen, die seine eigene Fantasie ausdrücken werden: pliés, pas chassés, Krebsgang, große Armrotationen, bei welchen die Arme an Flügelbewegungen denken lassen, Versteck-Spielen hinter den großen seitlich angebrachten Leinwänden usw. In einer Art Wiedererfindung der Einsamkeit zu mehreren entwickelt sich die Gruppe nach Art eines Vogelschwarms mit austauschbaren Anführern, und sie erkundet den Raum ohne bestimmten Plan, in einem Zusammenspiel, das ständig in Bewegung ist und in fortwährender Metamorphose. Wenn der erste Teil der Komposition zu seinem Ende kommt, unterbrechen die sieben Tänzer ihr Umherstreifen, um sich alle vorne an der Bühne einzufinden, wo sogleich eine irritierende Gesichts-Choreographie beginnt: Beunruhigende Grimassen, Wechsel von naiven und zugleich insistierenden Blicken, die sich an die anderen Interpreten ebenso richten wie an das Publikum, verbreiten ein leichtes Unwohlsein, das der Unlesbarkeit der Intentionen ebenso geschuldet ist wie der Opazität des Sinns dieser Gesichts-Ausdrücke, die gleichsam aus dem Unbewussten auftauchen und die deshalb auf kein unmittelbar wiedererkennbares Affekt-Repertoire verweisen. Indem sie einen irreduziblen Fremdheits-Kern präsentieren, trotz einer große Homogenität von Stilen und Formen, laufen diese körper6 | Vgl. den Ankündigungstext von Laurent Chétouane, online: www.transfabrik. com/Artistes-03/ zuletzt abgerufen am: 16.01.2015.

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lichen und seelischen Zustände auf reine Präsenz-Effekte hinaus, die tatsächlich jeglicher psychologischen oder neurobiologischen Interpretation kräftigen Widerstand leisten, die es erlaubte, sie auf Ekstase, Leid oder einfach auf die Idiotie unreifer Subjekte zurückzuführen. Sie aktualisieren nur, in den Worten Laurent Chétouanes, »das Verlangen […], sich zu bewegen«7, diesseits jeder Codierung. Anders gesagt, sie sind ganz einfach da, und sie machen Dinge, ohne dass sie jemals versuchen, etwas wirklich Wiedererkennbares zu bezeichnen oder zu repräsentieren, etwas Identifizierbares, etwas, das einem bestimmten psychologischen Zustand zugeordnet werden könnte. Im weiteren Verlauf des Stücks verstärkt sich dieser Eindruck der Entropie oder sogar der Anarchie im Bereich der Gesten und der Expressivität: Wackelnde Köpfe, Zittern, linkische Körper, unfreiwillig wirkende Bewegungen und solche, denen die Koordination fehlt, lautstarkes Atmen, raue Schreie an der Grenze des Menschlichen lassen an autistische oder behinderte Körper denken, wie sie in der Vergangenheit von Choreographen wie Mathilde Monnier oder Jérôme Bel auf die Bühne gebracht wurden, in Bruit blanc (1999) und Disabled Theater (2012). Im Unterschied zu Marie-France Cannaguier und den Schauspielern der Schweizer Compagnie Theater Hora allerdings leiden die Interpreten von Laurent Chétouane an keiner physischen oder mentalen Behinderung; im Gegenteil, sie sind im Vollbesitz ihrer Mittel und ihrer Kunst, und das sieht man. Denn es geht hier nicht mehr darum, auf provokative oder einfach verstörende Art und Weise die Singularität ungehemmter Körper oder Verhaltensweisen auszustellen, die sich der Norm und der sozialen Kontrolle entzieht, sondern eher darum, dass Tänzer, die uns ähneln, jenen Ort der Zerbrechlichkeit erarbeiten, wo das Subjekt sich anders entdeckt, sich selbst fremd, an den Rändern dieses Selbstbilds, das die szenischen Praktiken üblicherweise zu höchster Meisterschaft bringen. In einem Interview mit Gudrun Pawelke meint Laurent Chétouane dazu:

7 | Laurent Chétouane in Pawelke, Gudrun: »Laurent Chétouane und Jérôme Bel. Die Menschlichkeit des Menschen«, Interview vom 12. Dezember 2012, online: https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20364054.html zuletzt abgerufen am: 16.01.2015.

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Wie bei Jérôme [Bel] war die Auseinandersetzung mit der Naivität, der Unbekümmertheit wichtig. Schlichtheit allein ist für viele schon fremd und ungewohnt. Die größte Fremdheit aber, meine ich, findet man im eigenen Körper. Also nicht in der Suche im Außen, sondern in der Innenschau. Wo sind meine eigenen Minderheiten in mir? Genau dort haben wir angefangen. 8

Auf der Suche nach ihrer eigenen Fremdheit verlieren die Tänzer von Sacré Sacre dennoch nichts vom Bewusstsein des In-der-VorstellungSeins, vielleicht nicht so sehr nach der Art von Schauspielern, aber doch zumindest nach der Art von Kindern, die für sich einen multiplen Körper entdecken und sich daran erfreuen, ihn ohne Unterlass neu zu erfinden – ihn zu fiktionalisieren, könnte man sagen – unter dem Blick des Anderen. Hier findet man etwas von der »Jovialität des Teilens«9, mit welcher Lévinas etwas beschreibt, das bei Laurent Chétouane Form annimmt, eine paradoxe Gemeinschaft, die nicht mehr auf der Unterwerfung der Individuen unter die Notwendigkeit großer kollektiver Gefühle gegründet ist, die auf etwas Über-Persönliches zielen, sondern auf neuen Wahrnehmungen – vielleicht sogar kleinen Wahrnehmungen im Leibnizschen Sinne – des Selbst und des Anderen. Um diese neue Art der Gemeinschaft herzustellen, müsste man vor allem die Natur des Blicks auf die Singularität von Körpern und Gesichtern ändern. Diese Änderung des Blicks versteht Chétouane den Zuschauern aufzuerlegen, indem er ihnen sehr schnell jegliche Möglichkeit einer allzu einfachen Identifikation mit den ungewöhnlichen Figuren verweigert, die sie neugierig anstarren, indem er es ihnen aber gleichzeitig überlässt, sie zu observieren, zu mustern, abzusuchen mit den ungläubigen und medusenhaften Augen des Publikums. Meine Tänzer sind mehrheitsfähig, sie sind weiß und sehen aus wie Tänzer. Im ersten Ansehen scheint sich der Zuschauer also voll identifizieren zu können. Erst durch ihre Bewegungen verweigern sich die Tänzer der Identifizierung. Diese Be8 | Ebd. 9 | Vgl. frz. »jovialité du partage«, in Balla Avang, François: »La problématique de l’altérité dans Totalité et infini. Essai sur l’extériorité d’Emmanuel Lévinas«, als Habilitationsschrift eingereicht zur Erlangung des Diploms des Professeur de l’Enseignement secondaire en philosophie, Juli 2012, online: www.ens.cm/IMG/ pdf/MEMOIRE_BALLA_AVANG.pdf zuletzt abgerufen am: 16.01.2015.

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ziehung zum Publikum haben wir genau untersucht. Wir haben am Bewusstsein der Tänzer gearbeitet, wahrzunehmen, dass sie beobachtet werden. Dann haben wir erforscht, was das für die sich bewegenden Körper bedeutet. […] Ich zwinge meine Tänzer, wahrzunehmen, dass sie beobachtet werden. Vom Anderen. Vom Zuschauer. Wo genau nehmen wir Andersartigkeit wahr? Wo findet diese Andersartigkeit statt? Wie machen wir sie wahrnehmbar? Die Tänzer haben mir gesagt, durch das Bewusstsein, beobachtet zu werden, sei bei ihnen eine neue Wahrnehmung des Körpers entstanden. Die Tänzer haben sich wieder mit dem Verlangen verbunden, sich zu bewegen. Das hat eine immense Energie freigesetzt.10

Diese Hin-und-Her-Bewegungen des Blicks zwischen Bühne und Saal schaffen unbestreitbar eine Form buchstäblicher Spannung im Prozess der Darstellung. Indem sie mit der Verfügbarkeit der Körper und der Stimmungen auf das anspielen, was jeden Moment an Unerwartetem und Unvorhergesehenem beziehungsweise Zufälligem passieren kann, versetzen sie Interpreten und Zuschauer in einen besonderen Zustand der Aufmerksamkeit, der sie dazu bringen wird, sich eher für die diversen Erscheinungsformen der Andersheit zu öffnen als sich an Bekanntes zu klammern. Daher die Substitution des Motivs der Schenkung (offrande) an Stelle desjenigen des Opfers (sacrifice), welches in der Originalversion des Sacre du printemps exemplarisch seine Unterschiedlichkeit auf dem Altar der wiedergefundenen Einheit opferte.

E ine P oe tik des E mpfangens Man kann nur verblüfft sein darüber, wie konstant die Gesten über die ganze Länge des Sacré Sacre du Printemps auf die Idee der Schenkung verweisen, auf Geben und Aufgeben. In dieser Hinsicht stellt sich das Spektrum der Körperhaltungen, wie es von Laurent Chétouane bearbeitet wird, radikal gegen jenes von Nijinsky: kein en dedans, weder Zusammenbruch noch panische Trance, weder Raserei noch Überbietung im Primitivismus, sondern mehr eine Art entspannter Ekstase, mit weiten Gesten, die Handinnenflächen gen Himmel gedreht, die Arme und Knie weit auseinander, die Finger gespreizt, die Blicke in die weite Ferne gerichtet; wenige Unterbrechungen, kaum scharfe Kanten, kaum ein Verharren auf 10 | Vgl. Chétouane in Pawelke 2012.

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Bildern, sondern eine flüssige und kontinuierliche Bewegung, in welcher man ein wenig den einzigartigen Stil von Pina Bausch wiedererkennt, mit langen Armen, die den Rest des Körpers in ihre tiefen Arabesken mitnehmen. Also kein »carcan postural«11, keine Haltungs-Fessel, wie das in Sacre #197 von Dominique Brun oder in Noces/Quatuor (2012) von Aurélien Richard der Fall ist, sondern im Gegenteil eine Flucht zu einem Horizont der Bewegungs- und Vorstellungsfreiheit, wo diese Figuren der Abbitte, des Anrufens oder eben auch der naiven Verführung – im Sinne einer kindlichen oder animalischen Parade – sich allgemeiner einschreiben in eine Dynamik des Empfangens. Was da empfangen wird, dies- und jenseits der Rampe, ist vielleicht nichts anderes als das einfache Glück, inmitten anderer Körper und anderer Blicke zu existieren, die in idealer Weise von jeglicher Bürde befreit sind. Diese nietzscheanisch anmutende Hymne an die »unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, die die essentielle Unbeständigkeit der Dinge feiert, ist besonders sichtbar im zweiten Teil der Arbeit: Über den stark dramatischen Akkorden in Strawinskys Partitur löst sich jeder der sieben Tänzer reihum von der Gruppe, um die Haltung der/des Auserwählten einzunehmen, aber die Wahl des Opfers, unbestimmbar verzögert, gelangt nie zu einer tödlichen Stigmatisierung. Statt sich die Gemeinschaft zur Feindin zu machen, wie in der Originalversion des Sacre du printemps, setzt sich die Figur des austauschbaren Solisten ihr resolut aus und scheint auch nur über das überkreuzte Spiel der Blicke, deren Objekt sie ist, zur Existenz zu gelangen. Diese radikale Umkehrung der Perspektive scheint unterstrichen zu werden durch die Art und Weise, wie sich Laurent Chétouane der szenischen Anordnung bedient, die von Patrick Koch und Tomek Jeziorski entwickelt wurde. Ebenso wie die drei weißen Leinwände, die auf den Seiten und im Hintergrund aufgestellt sind, nach und nach helle Formen und unbestimmte Landschaften empfangen, reflektiert und verstärkt das vervielfachte Gesicht der Gruppe die Gefühlszustände des Solisten und behält dennoch dessen vage Konturen bei: ebenso vage wie jene der mediterranen oder nördlichen Sonne (wer weiß das schon?), deren zu große 11 | Aurélien Richard und Christine Caradec haben im April 2013 am Centre National de la Danse de Pantin einen Workshop mit dem Titel »Stratégies d’écriture et d’improvisation à partir du carcan postural des Noces de Nijinska« angeboten. Online: http://aurelienrichard.fr/aurelienrichard/archives.html zuletzt abgerufen am: 16.01.2015.

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Helligkeit dazu neigt, alle anderen Elemente einer überbelichteten Photographie zu verschlingen. Im Gegensatz dazu scheinen andere projizierte Bilder einer Vergilbung oder Schwärzung des Filmmaterials unterzogen worden zu sein und vermitteln so manchmal den Eindruck, als würde die Landschaft durch ein Verdeck mit Öffnung in Form eines Schlüssellochs betrachtet werden. All diese Vorgänge der Auslöschung des Bildes verweisen noch allgemeiner auf die Art und Weise, in der das gesamte Stück das Verschwinden des Ursprungs inszeniert: ein wirklich blinder Fleck in der Arbeit von Laurent Chétouane, auf den hin die auf diesen Seiten untersuchten Motive konvergieren: die Motive vom bewussten Vergessen des Quellen-Werks, von der Verdrängung der tieferliegenden Motivationen, die die psychologischen und körperlichen Zustände der Tänzer erklären könnten, und schließlich von der idealistischen Negation dessen, was in der Welt von gestern und von heute immer schon Hindernisse bereitet und weiterhin bereiten wird für die »Gesellschaft außerhalb der Rede«12, von der Mathilde Monnier mit Bezug auf ihr stummes Solo mit dem jungen autistischen Mädchen in Bruit blanc spricht. Bleibt zu klären, ob diese Wahl der Stille nicht auf ihre Weise eine Rückkehr zu einem bereits veralteten Glauben darstellt, der den Körper gerne von Natur aus eloquenter als die Sprache sähe und meint, er sei zum Auf bau einer menschlichen Gemeinschaft geeigneter als die Diskurse. Aus dem Französischen von Bernhard Siebert.

12 | Aussage von Mathilde Monnier während einer 2006 gegebenen Konferenz im Rahmen des Seminars von Claude Imbert, Professor an der École Normale Supérieure in der Rue d’Ulm.

Gesten des Opfers (der Kunst) Zur Aufgabe des Tänzers in Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Nikolaus Müller-Schöll

A ffiziert von einem A usserhalb Was heißt es, sich in der Darstellung von einem Außerhalb affizieren zu lassen? Von einem »Draußen«, einem »Anderen«, einer Grenze, von etwas, was nicht der Ordnung des Selben, des »Egos«, des »Ichs« angehört, sich nicht auf diese Ordnung reduzieren lässt und was selbst dann, wenn es ankommt, fern bleibt, im Selben ein Loch hinterlässt, eine Spur, die weder an- noch abwesend, weder ganz hier, noch ganz da, im Anwesenden das Abwesende anwesen lässt, wenngleich als eines, das immer noch nicht ganz da ist? Das von Hölderlin als »Undenkbares«, unter dem »wir« Modernen wandeln, bezeichnete,1 die Reste, die Hegel in der Buchstäblichkeit seiner Inszenierung des Gangs des Bewusstseins der Phänomenologie des Geistes wie auch vermutlich in den Passagen des Buches zur Komödie und zur Antigone mehr contre coeur denn bewusst verzeich-

1 |  Vgl. Hölderlin, Friedrich: »Anmerkungen zur Antigone«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16 (Historisch-kritische Ausgabe (Frankfurter Ausgabe)), hg. von D.E. Sattler, Frankfurt a.M. 1988, S. 409-421, hier S. 413. Vgl. auch Müller-Schöll, Nikolaus: »›unter Undenkbarem wandelnd…‹ Ödipus von Sophokles nach Hölderlin von Müller im Raum von Mark Lammert inszeniert von Dimiter Gotscheff am Hamburger Thalia-Theater«, in: Groß, Martina/Primavesi, Patrick (Hg.): Lücken sehen … Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Heidelberg 2010, S. 113-122.

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net,2 Reste, die in System und Subjekt nicht aufgehen, das namenlose, vom »Unrecht schlechthin« betroffene »Proletariat« des frühen Marx, die für Nietzsche formbestimmende Erfahrung der Grenze abendländischer Metaphysik, das in der Allegorie »leer« ausgehende Trauerspiel Benjamins, Heideggers in der Unverborgenheit abwesend anwesendes »Sein«, der in der Deutung und über sie hinaus, sie voraussetzend und doch zugleich zerschlagend, uns begegnende »Andere« von Lévinas – es sind Beispiele, die in der einen oder anderen Weise als Versuche erklärt werden könnten, das Denken einer auf keine Weise restlos revidierbaren Unterbrechung zu öffnen, ohne dass diese Unterbrechung dabei selbst als neues Telos, als Sinn, als Bedeutung oder neuerlich Bedeutung tragender »Mangel« erschiene. An der Grenze zu einem seine Arbeit, das Theater, die Kunst und damit auch den Tanz affizierenden Außerhalb spielen die Choreographien von Laurent Chétouane, spielt zumindest seine Tanz-Theater-Performance Sacré Sacre du Printemps, eine ebenso rätselhafte wie streitbare, ebenso Denkanstöße gebende, wie für das Denken, und zumal das des Tanzes, anstößige Arbeit, mit der die von Chétouanes Blick und Worten begleiteten Tänzerinnen und Tänzer, die, zum Teil schon lange, zum Teil erst seit dieser Arbeit, mit ihm gearbeitet haben und arbeiten, im Jahr 2012 an die Öffentlichkeit traten – zunächst an diejenige der Ruhrtriennale, dann an die unzähliger anderer Tanzzentren und Festivals, in Wien, Berlin, Hamburg, Paris, Frankfurt und anderswo. Ich möchte versuchen, etwas über diese Arbeit im Kontext eines Denkens der offrande, der »Opfergabe«, zu entwickeln, eines Denkens, welches der französische Philosoph Jean-Luc Nancy zunächst in einer ebenso kryptischen wie originellen Auseinandersetzung mit dem Erhabenen nach Kant zu Papier gebracht hat, um es später, auf Veranlassung von Véronique Fabbri, der Programmleiterin des Collège Internationale de Philosophie, auf den Tanz zu beziehen.3 2 |  Vgl. zu den hier nicht weiter ausführbaren Textpassagen, in denen Hegels Phänomenologie des Geistes an eine von Subjekt und System nicht länger meisterbare Grenze stößt: Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel. Frankfurt a.M. 1991; Derrida, Jacques: Glas. I und II, Paris 1981; Hamacher, Werner: »(Das Ende der Kunst mit der Maske)«. In: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a.M. 2000, S. 121-155. 3 |  Vgl. Nancy, Jean-Luc: »L’Offrande sublime«, in: Du Sublime. Paris 1988, S. 3775; Fabbri, Véronique: »Entretien avec Jean-Luc Nancy«, in: Rue Descartes 44,

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»L’O ffr ande sublime « – J e an -L uc N ancys D enken der G renze der D arstellung Affiziert von einem Außen beginnt Jean-Luc Nancy seinen Aufsatz über das Erhabene, den er Mitte der achtziger Jahre unter dem Titel »L’Offrande sublime« veröffentlicht: Mit Blick auf das Erhabene bei (Pseudo-)Longinus, Burke, Boileau, den Romantikern des 19. Jahrhunderts und Hegel, vor allem aber bei Kant, hatten bereits seit den siebziger Jahren Thomas Weiskel, Neil Hertz, Jacques Derrida und Paul de Man, aber auch, mit etwas Verzögerung, Louis Marin, Jean-Francois Lyotard, Gilles Deleuze, Michel Deguy und Werner Hamacher eine irreversible Grenzerfahrung erkundet, speziell den folgenreichen Bruch des kantischen Versuchs, die Einheit von Subjekt und System, der theoretischen wie praktischen Philosophie bzw. der Erkenntniskritik und der Ethik, in der dritten Kritik auf dem Gebiet des Ästhetischen herzustellen. In Absetzung von diesen, zumeist aus detaillierten Auslegungen der kanonischen Texte zum Erhabenen hervorgegangenen, Aufsätzen und Bücher fragt Nancy nach dem, was die verschiedenen Interpretationen teilen (partagent) und was die »Epoche«, wie er schreibt, einem Denken des Erhabenen aussetzt (offre). (OS 37) Dabei bezieht er das Erhabene von Beginn an auf die Kunst: Jedes zeitgenössische Denken der Kunst und ihres Endes, so führt er mit Zitaten von Benjamin, Heidegger, Adorno, Bataille und Blanchot (OS 40/41) aus, erweist in der einen oder anderen Weise dem Erhabenen seinen Tribut. Was es bezeichne, sei eine Infragestellung der Kunst in der Kunst, und diese Infragestellung als Werk oder Aufgabe der Kunst. Etwas von jenseits der Kunst stellt im Namen des Erhabenen in der Kunst die Kunst infrage. Sie zittert am Rande der Kunst und öffnet sich anderem als der Kunst. Im Unterschied zur Hegelschen Aufhebung der Kunst werde dabei die Kunst aber in ihrer Bestimmung untersucht, erscheine nicht länger als eine von der Philosophie erschöpfte Kategorie, sondern als sich selbst unterbrechende, unvollendete und unvollendbare, am Rande der Philosophie, die sie unterbrach. Ähnlich Lyotard4 Penser la Danse contemporaine. Paris 2004, S. 62-70. Diese Texte werden nachfolgend im Text in Klammern zitiert nach dem folgenden Schema: (OS Seitenzahl) bzw. (E Seitenzahl). 4 |  Vgl. Lyotard, Jean-Francois: »Le sublime et l’avantgarde«, in: Poesie 24, 1985, S. 97-105. Kein anderer Aufsatz hat im selben Maß die deutschsprachige Diskussion des Erhabenen bestimmt wie derjenige Lyotards, der im Jahr 1983 an der

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scheint Nancy das Erhabene dabei als Ankunft eines Ereignisses zu begreifen, das die Darstellung (présentation, représentation) unterbricht und den Charakter einer Auflösung, einer Zerstreuung des Randes auf dem Rand, einer Überschwemmung bzw. mit Kant: eines Ergusses hat. Was dabei aber statthabe bzw. ankomme, so Nancy, sei die offrande, die Opfergabe. Bekanntlich beschreibt Kant das Erhabene in den zwei Varianten seiner Analytik – dem Mathematisch- und dem Dynamisch-Erhabenen – als das »schlechthin Große«, »magnitudo« (nicht quantitas).5 Der Zusammenbruch der Einbildungskraft als des Darstellungsvermögens wird in der Erfahrung des Erhabenen bei Kant zur negativen Darstellung der Idee, zur Achtung für unsere eigene Vernunftbestimmung. Es ist verbunden mit dem Gefühl der Unlust, das aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft als des Darstellungsvermögens erwächst, wie auch mit demjenigen der Lust, das aus der Übereinstimmung des Urteils der Unangemessenheit mit Vernunftideen resultiert. In Jean-Luc Nancys Akzentuierung bezeichnet das Erhabene im Unterschied zum Schönen, bei dem es um die Form oder das Eigentliche dieses oder jenes Bildes geht, das »dass« eines Bilds, dessen Darstellung in ihrer Bewegung, die Totalität oder Verbindung (union), das Stattfinden selbst, im Verhältnis zu dem jede Darstellung klein sei. (Vgl. OS 57-60) Die so verstandene Grenze der Darstellung, ihr bildloser Umriss, in dessen gestaltloser Gestalt die Einbildungskraft auf sich selbst trifft, ohne sich spekulativ aufzuheben oder sich in der Präsentation der Undarstellbarkeit zu genügen, wird von ihm als gleichzeitige Be- und Entgrenzung der Grenze in ein und derselben Geste begriffen. Diese abstrakte Beschreibung präzisiert er mit Blick auf die Malerei als »le strict battement de la ligne contre elle-même dans la Hochschule der Künste in Berlin vorgetragen und ein Jahr später zunächst in deutscher Übersetzung in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht wurde. Darüber wurde allerdings die von diesem Aufsatz implizit vorausgesetzte französische und USamerikanische Diskussion, die sich dort speziell im Anschluss an Derridas BuchEssay La vérité en peinture und Paul de Mans Aufsätze zum Erhabenen bei Kant und Hegel entwickelt hatte, im deutschsprachigen Kontext bis Ende der achtziger Jahre übersehen. Vgl. im Überblick zur Forschungsdiskussion bis 1989 Sporbert, Peer: »Bibliographie«, in: Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 349-383. 5 |  Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1995, S. 10.

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motion de son tracé« (OS 59, das Klopfen der Linie gegen sich selbst in der Bewegung ihres Umrisses) oder auch auf die Darstellung selbst als »die momentane Teilung der Grenze« (OS 59). Soweit sie als »Umriss begriffen wird, geht es nicht um das, was durch den Umriss erstellt, produziert oder dargestellt wird, sondern um den Umriss selbst. Der Rahmen oder die Kontur präsentiert sich und unterbricht sich dabei zugleich in dieser Unterbrechung. Er ist, wie Nancy ausführt, dem Weißen des Papiers oder der Leinwand, der Bildung des Bildes, der Verräumlichung oder der synkopierten Zeit der Passage von der Grenze zur Grenze vergleichbar. Der im Erhabenen dem Gefühl oder im Gefühl dargebotenen (offerte) Totalität wird an dieser Grenze, wie Nancy, implizit Kant aufgreifend, entwickelt, die Einbildungskraft geopfert. Was an der Grenze passiert, bezeichnet Nancy, wie gesagt, als »Offrande« (OS 54ff.) und begreift es als Akt der Freiheit. Das Wort offrande, so führt er aus, bezeichne zugleich die Geste des Opferns wie auch das dargebotene Geschenk. Nancy setzt sich mit dieser Beschreibung der Grenze des Erhabenen von den von ihm zitierten und zum Teil kritisierten anderen zeitgenössischen Denkern des Erhabenen dadurch ab, dass er schreibt, dass es bei dem, was er als offrande bezeichnet, weder um Ethik, noch um Ästhetik gehe, sondern vielmehr um die Herausforderung dieser Differenz. Das Erhabene frage nach dem, was uns berührt, nicht nach dem, was uns gefällt: »An der Grenze der Kunst gibt es die Geste der offrande: die Geste, welche die Kunst opfert bzw. darbietet, und die Geste, durch welche die Kunst selbst ihre Grenze berührt.« (Vgl. OS 74) Er spricht dabei auch von einem Innehalten, einer geheiligten Unterbrechung. Nancys Denken der »Offrande sublime« bleibt im Kontext des zitierten Aufsatzes in vielerlei Hinsicht dunkel: So scheint Nancy einerseits das Erhabene speziell von Kant aus zu denken, andererseits aber über Kant hinaus als ein der Kunst als solcher eigenes, als deren Opfergabe schlechthin. Wobei die Opfergabe im Wort der offrande abgesetzt wird vom sacrifice bzw. von jenem Opferritual, das etwa René Girard analysiert hat, einer zugleich verbrecherischen wie heiligen Opferung, durch die sich Gemeinschaft im Ausschluss konstituiert,6 wie auch von der im Opfer stattfindenden Verausgabung im Sinne Batailles.7 Es stellt ein Beispiel 6 |  Vgl. Girard, René: La Violence et le sacré. Paris 1972. 7 |  Vgl. Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie. München, 2. Auflage, 1985.

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von Nancys riskantem Denken an den blinden Flecken der ihm vorausgegangenen Dekonstruktion dar, wenn er, den eigenen wie den vorausgehenden Warnungen trotzend, neuerlich einen Opferbegriff einführt und sich damit in die Nähe von Opferkult, faschistischer Rhetorik und Gemeinschaftsideologie begibt. Umso bedeutender erscheinen die von ihm später gemachten Präzisierungen. Im Interview mit Véronique Fabbri kommt Nancy auf Nachfrage erneut auf das Thema der offrande zurück, dieses Mal im Zusammenhang mit dem Tanz. Dieser erscheint dabei ein Wort zu sein für verschiedene Phänomene: Einerseits für den Tanz im engeren Sinne, einen künstlerischen Tanz, andererseits aber auch für etwas, das jedes Theater, ja jedes Sprechen begleitet, Tanz im Sinne des Körperlichen am Sprechen und Theater, desjenigen, was mitspielt, wenn gesprochen wird: »Man kann nicht in einer bestimmten, an jemanden gerichteten Weise eine Erklärung machen, sprechen, ohne dass der Körper unmerklich von einem Tanz erfasst wird, von seinen Schwingungen. Wenn im Theater etwas gelungen ist, spielt immer ein wenig davon mit.«8 Tanz, anders gesagt, scheint nun, schon bevor die Rede auf die offrande kommt, eine Bezeichnung für das zu sein, was einige als theatralité oder theatricality, andere als das »Performative« zu fassen suchen.9 Es geht Nancy um eine bestimmte Weise des Vortrags, einen sich in der Teilung von Gesten zeigenden, nicht notwendig an einen Gott gerichteten Kult, vor allem aber um das Zeigen »eine(r) Bühne als Bühne«, eines Schauspielers »als Schauspieler« (E 64). Und in der Tat ist es das, was Nancy zu antworten scheint, als Fabbri ihm vorschlägt, dass die Künste jene »besondere Qualität der Ausstellung oder Zurschaustellung« erforschen, die er im zitierten Aufsatz über die »Offrande sublime« untersucht habe. »Der Tanz«, so Nancy in seiner ersten Antwort, »hat in dieser Hinsicht ein ganz besonderes Privileg: er stellt die Zurschaustellung zur Schau.« (E 66) Er erscheint Nancy in dem 8 |  Vgl. E 63, hier und im folgenden Text wiedergegeben nach der deutschen Übersetzung: Fabbri, Véronique: »Gespräch mit Jean-Luc Nancy«, in: Berio, Luciano u.a. (Hg.): Allesdurchdringung. Texte, Essays, Gespräche über den Tanz. Berlin 2008, S. 60-88, hier S. 62. 9 |  Vgl. dazu speziell: Weber, Samuel: Theatricality as Medium. New York 2004; Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320.

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Maße, in dem er sich mit den Gesten des »Sich der Welt-Präsentierens« (E 68) beschäftigt, der Darbietung oder Zurschaustellung, als »Paradigma« der anderen Künste (E 68). Der Tanz, so hebt er zugleich hervor, sei »dieses ›Zusammen‹ […] weder eine Kommunion noch rein äußerlich« (E 69), ein Zusammen, das er mit und gegen Heidegger als das Mit-sein des Da-seins zu denken vorschlägt und mit der »Beziehung von Körpern untereinander beim Tanz« (E 69) in Verbindung bringt. Was Nancys Denken der offrande als der Grenze der Kunst dem Tanz zuschreibt – im engeren wie im allerweitesten Sinn – könnte vielleicht mit jener Bestimmung verglichen werden, die Benjamin von der obersten Aufgabe »epischer Regie« gibt, dem Zeigen derjenigen Handlung, die im »Aufführen überhaupt« gegeben ist.10 Doch Nancys Bestimmung dieser Qualität bleibt bei aller philosophischen Genauigkeit in der Beschreibung und Entwicklung der Kategorie des »Stattfindens« – bzw. des »Umrisses«, des »Ganzen«, des »Zusammen« usw. – letztlich ähnlich auf Distanz zu jeder möglichen Konkretisierung dessen, was man sich unter dieser Grenzerfahrung genauer vorstellen könnte, wie vor ihm Benjamin. Ich möchte deshalb eine Konkretisierung dieser Kategorie mit Blick auf die Arbeit Sacré Sacre du Printemps versuchen, eine Arbeit, die ich zunächst etwas ausführlicher vorstellen werde, um dabei und daran anschließend ihre Affinität mit der von Nancy entwickelten Fragestellung zu zeigen.

G renzerkundungen – L aurent C hé touanes S acré S acre du P rintemps Sacré Sacre du Printemps – der Titel verdeutlicht, dass etwas mit dem Klassiker des modernen Balletts, der in Laurent Chétouanes gleichnamiger 10 |  Vgl. Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, Band II/2, S. 519-531, hier S. 529. An anderer Stelle habe ich auszuführen versucht, dass das Erbe der Benjaminschen Theatertheorie in der Erkenntnis der Spaltung zwischen einem »Theater überhaupt« und einem Theater des Menschen liegen könnte. Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »On Theatre as Such and the Theatre of Man. Vortrag im Rahmen der Konferenz ›Thinking on/of the Stage‹«, in Frankfurt a.M. am 29.9.2013. Eine Publikation dieses Textes ist im Sammelband der Frankfurter Konferenz geplant.

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Choreographie herbeizitiert wird, geschehen ist. »Sacré« – geheiligt, aber auch, wie uns die Wörterbücher lehren, auf dem Wege einer im Französischen wie im Deutschen möglichen Antiphrasierung: »verflucht«11 – wird hier das Sacre du printemps, das selbst schon in sich jene Doppelung trägt. Vesna svjaščennaja, »Frühling, der heilige«, so die russische Bezeichnung, die Igor Strawinsky für seine Komposition im Jahr 1913 wählte,12 ersetzt bei Strawinsky von einem bestimmten Zeitpunkt an den Arbeitstitel »Das große Opfer«.13 Festgehalten wird hier, dass es im Grunde viel eher um den Frühling in einer übertragenen Form geht: um die, so Strawinsky, »Hauptidee« des Geheimnisses »des großen Impulses der schöpferischen Kräfte des Frühlings«.14 Wenn Strawinsky diese Anbetung der Kreativität als heidnisches Ritual darstellt, so ist er damit Kind seiner Zeit, einer Moderne, deren »Primitivismus«, wie Erhard Schüttpelz formulierte, »als janusgesichtige Gestalt einer illusionären Aneignung und realen Unterwerfung der außereuropäischen Fremden« zu sehen ist.15 In den englischen Übersetzungen The Crowning of Spring, Innocence of Spring und schließlich The Rite of Spring wird den zwei einander ablösenden russischen Arbeitstiteln entsprechend das Schwanken zwischen der Naturanbetung oder -segnung und dem dabei gebrauchten Ritual deutlich. Der französische Titel erst enthält die beiden Bedeutungen zugleich, Weihe, Krönung des Frühlings und, so der gebräuchliche deutsche Titel: Frühlingsopfer. Die deutsche Übersetzung, die den Anklang des sacre im französischen Titel an das sacrifice aufgreift, macht es deutlicher noch als der französische Titel, dass die Weihe oder Heiligung, hier wie in jedem Akt der Erhöhung, in dem Maße ambivalent ist, wie unentschieden bleibt, ob es dabei um die Opfergabe oder den Akt der Opferung, um die ausgeschlossene Frau oder den Akt ihres Ausschlusses geht. Nicht minder ambivalent bleibt dieser Akt selbst: Wird er hier vollzogen oder aber in seinem Vollzug vorgeführt und ausgestellt und dergestalt vor Augen geführt? Lassen die Komposition Strawinskys und mehr noch die Choreographie Nijinskys die Zuschauer, wie Adorno arg11 |  Vgl. dazu u.a. den Artikel: »Sacré«, in: Le Littré. Texte intégral. Paris 2002. 12 |  Vgl. Scherliess, Volker: Igor Strawinsky. Le sacre du printemps. München 1982, S. 8. 13 |  Vgl. ebd. 14 |  Ebd. 15 |  Vgl. Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Paderborn 2005, S. 12.

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wöhnte, sich ins barbarische Kollektiv der Opfernden einfühlen, sie wähnen, »in magischer Regression an der kollektiven Kraft teilzuhaben«16, oder konfrontieren sie die Zuschauer vielmehr im Bild des Fremden mit den unerkannten regressiven Tendenzen ihrer eigenen Zivilisation? Von einem die Tradition untersuchenden, mit ihr sich auseinandersetzenden Verfahren der Aneignung, das zugleich die Absetzung vorbereitet, zeugt nicht zuletzt das umfangreiche, von Leonie Otto zusammengestellte, an die großen Zeiten der Produktionsdramaturgie erinnernde Programmheft zur Inszenierung, das vieles über die Intentionen, die Überlegungen und die Beweggründe verrät, die in den Abend eingeflossen sind: Das bei der Uraufführung im Jahr 1913 mit großer Ablehnung und Unverständnis aufgenommene, zugleich aber Epoche machende Stück wird als eines begriffen, welches das Fremde, das es in die Gesellschaft hineinholt, zugleich seiner »eigentlichen Fremdheit beraubt«.17 Die Frage, die Chétouane von daher zum Gegenstand seiner Choreographie macht, lautet: Wie kann das Fremde fremd bleiben? Da liegt für mich die Problematik der Integration heute: Das Fremde darf nicht mehr fremd bleiben. Es muss sich so verändern, dass das Fremde nicht mehr als fremd erkennbar ist. Integration bedeutet eigentlich Vernichtung des Anderen in seiner Eigenartigkeit. Ich finde es reizvoll, sich heute anhand von Le Sacre du printemps der Frage des Umgangs mit dem Fremden […] zu stellen. […] Hieraus entsteht mein Grundgedanke im Umgang mit Le Sacre du printemps: Nicht eine Frau muss dem Frühling geopfert werden, sondern Le Sacre du printemps selbst. Eine Opferung von Le Sacre du printemps als Rückgewinnung, als Wiederbefreiung des fremden Potentials als etwas, das man nicht besitzen, zähmen, integrieren kann.18

An die Stelle des Frauenopfers der Vorlage soll also die Opferung des Opfers selbst treten – Opferung des Aktes des Opferns, aber auch Opferung

16 |  Vgl. Adorno, Theodor W.: »Strawinsky und die Reaktion«, in: ders.: Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften 12). Darmstadt 1998, S. 127-196, hier S. 147. 17 |  Vgl. Neweling, Dorothea/Otto, Leonie/Piekenbrock, Marietta (Hg.): Sacré Sacre du Printemps, Programmheft, Ruhrtriennale. Essen 2012. 18 |  Vgl. ebd. S. 6.

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von Sacre du printemps. »Sacré Sacre«, so lässt sich aus dieser Beschreibung folgern, das heißt hier zunächst einmal: geopfertes Opfer. Der Titel der neuen, von Leo Schmidthals komponierten und von Laurent Chétouane choreographierten Arbeit deutet auf ein zögerliches Umgehen mit dem übernommenen, dem geheiligten und verfluchten alten Stoff hin. Wie Stottern geht das »Sacré Sacre« von den Lippen, als sollte die Tradition gleichsam mit jener von Chétouane in einem früheren Stück ausgestellten Haltung des Zauderns übernommen werden, in der Schwebe gehalten, auf den Prüfstand gestellt, innegehalten. Wie der Titel geht auch die Musik von Leo Schmidthals mit der Vorlage Igor Strawinskys um. Diese wird hier aufgegriffen, mit Respekt analysiert, und scheint wie im Durchgang durch diese Analyse wieder zum Vorschein zu kommen, verschoben, in ihre Bestandteile zerlegt und dabei mitunter zur Kenntlichkeit entstellt. Erst nach einem langen Vorlauf kehrt sie in ursprünglicher Form zurück. Hörbar wird eine ihr inhärente Gewalttätigkeit wie eine ihr gleichzeitig innewohnende manipulative, die Imagination fördernde Kraft. So erscheint die Komposition von Schmidthals denn auch wie eine paläonymische Überschreibung der Vorlage: Schmidthals folgt ihr, um sie gleichsam von innen her aufzulösen, sie buchstäblich abzubauen, sie auszustellen und dann in verschobener Form wieder aufund auszubauen.19 Strawinskys Komposition wird geopfert, aber das Opfer wird ausgestellt, dargeboten, offeriert. Wenn der Abend beginnt, sehen wir sieben Tänzer, drei Männer und vier Frauen. Sie treten einzeln hervor, langsam, unaufgeregt, eher beiläufig, wenn die letzten Zuschauer ihre Plätze eingenommen haben. Sie sehen uns an, neugierig, zum Teil mit einer Art von spitzbübischer Miene, geradezu erwartungsvoll – so als seien wir es, auf die sie gewartet hätten. Ihre Gesichter tragen, unterschiedlich markant, Schminke, die an Bilder der Choreographie Nijinskys denken lässt, die deren Primitivismuskult aber eher im Modus der Parodie vorzuführen scheint, skizzen-, ja umrissartig. Sie stellen sich vor die zwei die Bühne an den Seiten begrenzenden weißen Wände, schauen sie an. Die Musik setzt mit Trommelschlägen ein, die von den Klängen eines Triangels, dann von Klanghölzern oder dem Schlagen auf ein hölzernes Xylophon begleitet werden. Die Tänzer 19 |  Vgl. zum hier gebrauchten Begriff der Paläonymie: Derrida, Jacques: »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt, 4. Auflage, 1979, S. 380-421.

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stehen einander gegenüber und scheinen einander zu begrüßen – mit weichen, fließend wirkenden Bewegungen, die in den Raum parallel zur Rampe Linien einschreiben. Es sind Bewegungen, die Archaismen durchzuspielen scheinen, vielleicht indianische Tänze, dann wieder wie Ausmessungen der Fläche in Höhe, Breite und Länge wirken. Es mischen sich bogenförmige und gerade Bewegungen. Ganz allmählich geht diese Begrüßungsszene in eine kreisförmige Bewegung und dann in einen die Diagonale bespielenden Tanz über, in dem die Performer beständig mit einander verbunden sind, ohne dass sich eine erkennbare Hierarchie erkennen ließe, es sei denn für kurze Momente. Bereits in dieser ersten, noch stark an die einfachen, minimalistischen Kompositionen von Cage oder Satie erinnernden Phase der Musik glaubt man Anklänge, Zitate, das ferne Echo der später einsetzenden Musik Strawinskys zu vernehmen, nicht nur in der Auswahl der Instrumente, auch in Rhythmen und Motiven scheint sie vorbereitet zu werden. Die Musik von Schmidthals scheint das vom Titel uns versprochene Stottern zu üben. Zugleich stellt sie durch die Dominanz des rhythmischen Klopfens eine Spannung her, die sich in die Bewegungen der Tänzer zu übertragen scheint, ohne dass diese jedoch den Rhythmus der Musik oder ihre Klänge illustrierten oder gar verdoppelten. Es ist eine zunehmend expressive, und vielleicht gerade darin an Strawinsky erinnernde Musik. Hetzend, latent gewalttätig wirken darin auftauchende Geigenklänge. Die Tänzer bewegen sich zu ihnen mit ausgestreckten Armen: Mal glaubt man in ihnen Kinder zu sehen, die die Bewegung des Fliegens spielen, mal glaubt man Tanzfiguren aus der Tradition von Ballett und Tanztheater auszumachen, die aber verwandelt in das Zusammenspiel eingehen, in ähnlicher Weise als Zitat auftauchen und verschwinden wie die Anklänge Strawinskys in der Musik von Schmidthals. Das Ballett, der Tanz, eine Geschichte der Formen wird schon hier zugleich vorausgesetzt wie auch ausgesetzt: geöffnet, zur Untersuchung freigegeben. An einem bestimmten Punkt bildet sich aus dem bis dahin gelösten Zusammenspiel eine kreisförmige Bewegung aus, in der die Tänzer/Performer sich nun zusammenrotten, die Kreisanordnung der Choreographie Nijinskys, wie sie aus Fotos und der Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer überliefert ist, aufzunehmen scheinen, um sie dann aber in eine Schlangenlinie zu überführen

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und aufzulösen.20 In einem Moment, in dem die Musik aussetzt, scheinen auch die Tänzer in eine Art von Zaudern zu verfallen, in die Vorbereitung der zweiten Phase der Choreographie. Diese zweite Phase setzt ein, wenn Strawinskys Le Sacre du printemps zu hören ist. Es findet nun ein deutlich unterschiedenes Spiel statt: die Übermalung, Überspielung, dabei auch die Ausstellung der alten Choreographie und ihrer Tradition. Wenn Nancy dem Tanz unter den Künsten das Privileg zuspricht, »die Zurschaustellung zur Schau« (E 66) zu stellen, das Zeigen der Bühne als Bühne, des Schauspielers als Schauspieler, dabei aber auslässt, wie und wann der solchermaßen privilegierte Tanz dies konkret vermöchte, so ließe sich in Chétouanes Choreographie eine Präzisierung dieser Qualität sehen. Sie blickt auf die alte Choreographie mit einer anderen Prämisse, aus anderer Perspektive, mit einem anderen Bewusstsein und stellt diese mit den Zitaten und also im Zitieren aus. Die neue Prämisse zeigt sich am deutlichsten darin, dass die Tänzer oder Performer nun, in dieser zweiten, mit Strawinskys Musik verbundenen Phase, den Tanz so zu verstehen scheinen, wie die Schauspieler in Chétouanes Inszenierungen, etwa in seinen Faust I- und Faust II- oder Dantons TodArbeiten ihr Schauspiel:21 Als gemeinsames Imaginieren, Variieren und Vorstellen dessen, was es mit dem alten Stoff, in diesem Fall: mit der alten, der legendären Choreographie auf sich hat. Das Gemeinsame des Imaginierens ist es, was sie, darin den Schauspielern Chétouanes folgend, von der Tradition des subjektzentrierten Balletts und des Tanzes, ja selbst noch von dessen Auflösung, etwa im Tanztheater Pina Bauschs, trennt. Sie sehen einander und spielen im ständigen Bewusstsein des Erblicktwerdens durch einander und durch das Publikum. Das Außen, das dergestalt in die Bewegungen einfließt, gibt den Bewegungen nicht nur die Impulse, sondern entgrenzt sie zu einer Art von Tanzen des Anderen. Dabei wechselt das Zentrum des gemeinsamen Spiels: Es trennt sich immer wieder einer der Tänzer von den anderen, beginnt etwas, das ihn, wie einen Solo-Geiger 20 |  Vgl. Hodson, Millicent: Nijinsky’s crime against grace. Reconstruction Score of the original choreography for Le sacre du printemps. Stuyvesant 1996. 21 |  Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Plus d’un rôle. Zusammen spielen in gegenwärtiger Tanz-, Theater- und Performance-Praxis«, in: Kreuder, Friedemann/ Bachmann, Michael/Pfahl, Julia/Volz, Dorothea (Hg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012, S. 545-557.

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seine Kadenz, für eine bestimmte Zeitspanne von den anderen aussondert, doch wird dadurch keiner zum Solisten oder Anführer, denn was eben noch der Ausbruch eines einzelnen war, seine offrande, seine Darbietung, die ihn zugleich aussondert und erhöht wie auch vereinzelt und geradezu, wenngleich nur für Augenblicke, stigmatisiert, wird im nächsten Moment schon der Gemeinschaft der mit ihm tanzenden anderen den Takt, den Rhythmus, die Form vorgegeben haben. Es wird deutlich, dass das gemeinsame Tanzen sich einer beständigen Aushandlung des Zusammenspiels und zugleich eines beständigen Bezugs auf ein Außerhalb bzw. auf die geteilte Grenze des Tanzes im hic et nunc der durch die Mit-Tanzenden eingeführten, je anderen Gesetze verdankt. Dieser Rahmen scheint hier das in ihm stattfindende Spiel immer von neuem zu affizieren und ihm als seine Begrenzung seine permanente Entgrenzung einzuschreiben. Anders gesagt: Man beobachtet hier das Ausstellen eines »Da«, das sich beständig vom Mitsein der Mitspielenden berühren lässt. Und wieder lässt sich ein neuer Abschnitt der Choreographie ausmachen, wenn die Tänzer, als die Strawinsky-Musik verklungen ist, in der Stille mit ausgestreckten Armen sich neuerlich in eine gemeinsame Kreisbewegung begeben, dieses Mal aber so weit am Rand, dass es wirkt, als vermäßen sie die Grenzen des architektonischen Raumes mit ihren Armen. In einer der Vorstellungen, die in einem kleineren Raum als sonst stattfand, im Frankfurter Mousonturm, ging diese Phase mit der klopfenden, stoßenden Berührung der Wände einher, prallte an ihnen buchstäblich ab. Die Szene geht wieder über in eine, in der bei verringertem Licht die Performer auf dem Boden liegen, fast regungslos, bis sich erst eine Tänzerin wieder erhebt, dann mit der wieder einsetzenden Musik auch die andern. Es folgt ein Tanz, der mit Pausen einhergeht, in denen die Performer schwer atmend vor dem Publikum stehen. Wir begreifen, dass hier die Tänzer an eine – immer andere, einem Ereignis gleich kommende, unkalkulierbare und doch unvermeidbare Grenze geführt werden, die den Körper selbst als einen erschöpften, atmenden, schwitzenden und ein eigenes, anderes Leben vor Augen stellenden hervortreten lassen. Der Körper, so könnte man sagen, genauer: das an ihm, was sich der Zucht, den Regeln, dem Graphierten der Choreographie entzieht, in ihr einen Freiraum nolens volens öffnet, die körperliche différance wird sichtbar als Öffnung oder offrande, die nicht mehr eröffnet als ein »Nichts geht«, ein Opfer oder eine Aufgabe der Kunst zum Vorschein bringt, die gleichwohl immer noch ein von der Kunst dargebrachtes Opfer ist.

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D ie B erührung des F remden – A ufgaben des P erformers Sacré Sacre du Printemps ist im Kontext von Chétouanes Arbeit als Choreograph und Regisseur kein Solitär. Die choreographische Arbeit knüpft an eine ganze Reihe von Arbeiten an, die seiner eigenen Aussage nach mit seiner retrospektiv als Tanzstück #0 bezeichneten Inszenierung von Büchners Lenz mit Fabian Hinrichs begann.22 Wie in allen vorangegangenen Schauspielarbeiten Chétouanes wurde darin der Text nicht als Eigentum angesehen, über das man nach Maßgabe des eigenen Verständnisses oder der eigenen Interpretation verfügen darf. Vielmehr sprach ihn Hinrichs im Bewusstsein seiner Vorgängigkeit, seiner Schriftlichkeit, gewissermaßen als Text eines Anderen. Mit dem Text von Büchners Lenz stellte Hinrichs das Spiel mit ihm aus. Beginnend mit einer Inszenierung von Heiner Müllers Text Bildbeschreibung entwickelte Chétouane eine choreographische Handschrift, in deren Zentrum stand, was er mit einer Formulierung Müllers für Bildbeschreibung als »Autodrama […], das man mit sich selbst spielt«23 bezeichnete, eine Form der Bewegung, die den Tänzer mit dem Tanz, etwas ausloten ließ, was man mit Nancy als offrande, mit einer von William Forsythe hergeleiteten Terminologie, die ich vor einigen Jahren vorgeschlagen habe, als den Zustand des Tanzens bezeichnen könnte:24 Beständig erhob der Tänzer über die einzelne Tanzproduktion hinaus die Produktion des Tanzens selbst zum Thema. Was dabei seine Tanzstücke mit seinen Sprechtheaterarbeiten verband, war, dass sie in jeder einzelnen Darstellung über diese hinaus zugleich Darstellungen des Vermögens der Darstellung, einer im Zustand des Möglichen verbleibenden Potentialität wurden. Hatten die Arbeiten am Schauspiel sozusagen das Fixierte des Sprechtheaters zum Tanzen gebracht, so erheben seine 22 |  Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Lenger, Hans-Joachim/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld 2007, S. 187-207. 23 |  Vgl. Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln 1992, S. 342f. Vgl. dazu ausführlicher Müller-Schöll, Nikolaus: »Raisonner sur scène. Über zwei Arbeiten Laurent Chétouanes«, in: Lichau, Karsten/Tkaczyk, Viktoria/Wolf, Rebecca (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur. München 2009, S. 291-306. 24 |  Vgl. Müller-Schöll, Denken auf der Bühne, S. 196.

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choreographischen Arbeiten eben jenes Moment des Tanzens der Fixierungen zum Prinzip. Das Erscheinen des Vermögens der Darstellung ist dabei daran gebunden, dass eine Art immanenter Spaltung oder Differenz in jedem Moment erkennbar wird. Der Tänzer zeigt in seinem Tanz, dass er mehr und anderes macht, als nur eine Choreographie auf die Bühne zu übertragen, dass die Übertragung immer auch heißt, in das Vorgegebene und Übernommene das Unvorhergesehene und Zufällige aufzunehmen, das durch den Körper wie durch den je anderen Raum und die anderen Körper in das Regelwerk der Choreographie eindringt, es von innen wie außen gleichermaßen de-reglementiert. Chétouane beschreibt, dass das Fremde »durch Konstellationen erlebbar gemacht werden« solle, die, wie er es formuliert, mathematischen Formen gleich »etwas öffnen, das sie nicht repräsentieren«, dem Realen Lacans gleich »spürbar und erlebbar« sind, ohne anwesend zu sein. »Ich versuche, auf der Bühne choreographische Formationen zu entwickeln, die nichts darstellen, sondern etwas zur Existenz bringen, etwas, das nur in dieser Veräußerlichung erlebbar wird.«25 Zumindest in den ersten beiden Aufführungen des Stückes zeigte sich dies am deutlichsten in der sehr auffälligen, ja auf (ver-)störende Weise sprechenden Mimik der Tänzer. Ihre Gesichter wirkten wie ein Lackmuspapier, das – den Tänzern entgehend – aufzunehmen schien, was sich in ihnen abspielte, etwa, wenn An Kaler frontal vor dem Publikum mit geöffnetem Mund und gefletschten Zähnen stand, sich den Zuschauern in einer Weise zeigend, die sie nicht ganz zu kontrollieren schien, und dabei etwas von sich ausstellte, was von anderem, den Zuschauern und vermutlich auch ihr Unbekanntem erzählte, ohne dass diese Erzählung sich zu einem neuen Sinn verdichtete. Eine körperliche Grenze des Tanzes wurde deutlich, die diesen in ein und derselben Geste des Opfers (der Kunst), des Aufgebens vor der Aufgabe, be- und entgrenzt, auf das hin öffnet, was ihm vorausgeht, auf die geteilte Fremde der Körper in ihrem eigenen, anderen Leben. Vielleicht ist es dies, was Chétouane beschreibt, wenn er von einer geteilten Blindheit, von einer »Demokratie der Blindheit« spricht: Dass sich hier etwas zeigt, das gleichsam zwischen Blick und Blick passiert. Etwas, das in jedem Fall der Kontrolle entgeht und doch ihrer bedarf, um in Erscheinung zu treten. Mit dem Tänzer Matthieu Burner könnte 25 |  Vgl. Sacré Sacre du Printemps Programmheft, S. 25.

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diese Dereglementierung des Tanzes frei nach Deleuze als »Intensität« beschrieben werden, bei der eine Leere im Zustand der äußersten Anstrengung und Erschöpfung zum Vorschein kommt und etwas sich zeigt, was weder von der Ordnung der Kunst, noch von der des stereotypischen »Natürlichen« ist, sondern dazwischen.26 Mit einer Formulierung, die Nancy in seinem Text »Das Darstellungsverbot« findet, könnte man sagen, dass es hier »um das Verhältnis zu einer Absenz und einem Absens geht, auf denen jede Präsenz gründet und welche die Präsenz aushöhlen, entleeren, atmen lassen und vergegenwärtigen«.27 Wenn Chétouane den Kommentar Jean-François Peyrets zitiert, der bemerkt hat, dass die Musik in dieser Choreographie wirkt, als sei es eine Musik aus dem Nebenraum, die von den Musikern übernommen wird, so könnte man entsprechend sagen, dass das berühmte Sacre du printemps, für viele der Beginn der modernen Geschichte des Balletts und des Tanzes, in solchen Momenten, an denen die Aufgabe (im Sinne einer Verpflichtung) der Tänzer in ein Aufgeben mündet, wie ein etwas in die Jahre gekommenes Erbstück dargeboten wird, mit dem man nach seinem eigentlichen Gebrauch noch anderes anfangen kann. Es wird dadurch zur Kenntlichkeit entstellt ausgestellt und vorgeführt, als Umrisszeichnung, als offrande.

N achbemerkung Was also heißt es, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, sich in der Darstellung – in Kunst, aber auch in Sprache, im Denken – von einem Außerhalb affizieren zu lassen? Was die komplexe Ausdeutung des Erhabenen durch Nancy ebenso nahelegt wie die Arbeit Laurent Chétouanes, ist, dass das Außerhalb nicht etwa irgendwo in einem Jenseits zu suchen ist, sondern inmitten der Darstellung selbst. Nancy bringt dies in den Überlegungen auf den Punkt, dass es beim Erhabenen um das »dass« der Darstellung gehe, beim Tanz um die Darstellung der Darstellung. In der Arbeit Chétouanes wird es darin deutlich, dass die Tänzer aller Mimikry an die ausgestellte und verschobene alte Arbeit zum Trotz das Fremde 26 |  Vgl. Matthieu Burner in der Veranstaltung »Unterm Blick des Fremden #1« in Essen, 28. 9. 2012, online: www.untermblickdesfremden.com 27 |  Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Das Darstellungsverbot«, in ders.: Am Grund der Bilder. Zürich/Berlin 2006, S. 51-90, hier S. 68.

Gesten des Opfers (der Kunst)

letztlich nicht im Stoff, sondern im hic et nunc ihres Tanzes suchen. Es teilt sich ihnen, wie mir scheint, auf nachgerade unheimliche Weise in der Körperlichkeit ihrer Körper, in den räumlichen Beschränkungen des Gegenwärtigen, allgemeiner gesprochen: in den Problemen der Präsentierung der Darstellung, in Gestalt der Vergegenwärtigung mit. Mit Jean Paul könnte man allerdings darauf hinweisen, dass eben jene Grenzerfahrung, die Kant im Erhabenen fasst, immer in größter Gefahr ist, umzuschlagen in anderes. Jean Paul nennt dabei das Lächerliche.28 Nancys Ausführungen verdeutlichen diese Nähe zum Lächerlichen, wenn er im zitierten Interview darauf hinweist, dass in jedem Vortrag auch eine Art von Tanz des Redners stattfinde, und dann bemerkt, dass die Rede vom Tanz allerdings mit Blick auf den für sein Denken zentralen Heidegger einen Saal zum Lachen bringen könnte. Mit Blick auf die Arbeit Sacré Sacre du Printemps scheint mir die Gefährdung darin zu liegen, dass aus dem einmal Gefundenen oder sich dem Tänzer im Tanz Mitteilenden ein Motiv, eine Technik, ein Trick wird. Die Fragilität der Arbeit scheint mir darin zu liegen, dass eben jenes sich vom Ereignis des je anderen Abends Affizieren-Lassen es erst ist, das aus einem immer hart an der Grenze zur Banalität sich bewegenden Tanzen eine Grenzerfahrung im beschriebenen Sinne macht. Die von mir beschriebenen merkwürdigen Gesichter der Tänzer etwa waren nach wenigen Vorstellungen mehr oder weniger verschwunden, schienen nun nur noch als Zitat aufzutauchen. So scheint denn diese Arbeit weniger noch als die ebenfalls äußerst fragilen Arbeiten Chétouanes im Sprechtheater eine zu sein, die sich konservieren oder zum Repertoire erheben lässt, eben weil es ihr letztlich in allem, was geplant, intendiert, choreographiert und strukturiert ist, um die Entdeckung des immer anderen ungeplanten Singulären geht. Sie steht – und in schwächeren Vorstellungen konnte man dies meiner Ansicht nach nicht übersehen – immer in Gefahr, in Mechanik und Grimasse zu enden. Kann irgendeine auf Grenzerfahrungen hin angelegte Arbeit aber dem entgehen? Darüber hinaus scheint mir die Arbeit eine zweite Frage aufzuwerfen: Das historische Sacre provozierte vor allem durch eine Konfrontation der Zuschauer mit der Inklusion des Exzentrischen, Primitiven, wozu nicht zuletzt das Opfer gehörte. Die Opferung des Opfers kann eine Form der 28 |  Vgl. Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik. München, 2. Auflage, 1974, S. 102-115.

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Auflösung falscher Harmonie vor dem museal gewordenen Skandalon werden, insofern sie das zum Eigenen erklärte Fremde neuerlich verfremdet – und die arrogant-indignierte Reaktion, mit der die Rezensentin einer großen überregionalen Zeitung die Arbeit kommentierte, könnte davon zeugen, dass diese Auflösung als neue Provokation begriffen werden kann. Doch die paradoxale, weil das verabschiedete Opfer zugleich anders neu wiederholende Opferung des Opfers kann auch dazu führen, dass die Darstellung in Ermangelung eines sichtbar gemachten Konflikts in der spannungslosen Harmonie des Schönen resultiert. Es könnte sein, dass ein Teil des großen Erfolgs dieser Choreographie nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass das Ensemble dieser Gefahr oder dieser Versuchung nicht immer zu entgehen vermochte.29

29 | Der vorliegende Text wurde zunächst auf Einladung von Gabriele Brandstetter im Rahmen der Tagung »Tanz über Gräben. 100 Jahre ›Le Sacre du Printemps‹« vorgetragen.

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Theater und Theorie sind auf das Sehen fokussiert. Das ist nicht allein begriffsgeschichtlich angelegt. Bei einer genaueren theaterwissenschaftlichen Betrachtung antiker Quellen fällt auf, dass das Hören im griechischen Theater weit wichtiger war als im Theaterdispositiv der Neuzeit, dessen Entwicklung sich als eine Geschichte des Optischen und der Repräsentation lesen lässt.1 Heute kritisieren sowohl einige theaterpraktische als auch theoretische Ansätze diese Fokussierung der westlichen Welt auf das Sehen. Aus dem Inneren der abendländischen »Licht- und Sichtphilosophie«2 begannen Friedrich Nietzsche und im Anschluss an diesen Martin Heidegger, die Vernachlässigung des Auditiven und die mit dem Primat des Sehens einhergehende Haltung zur Welt zu problematisieren: »Dieses Sehen ist von jener Art, daß es sieht, insofern es gesehen hat, indem es das Gesichtete als ein solches sich vor-gestellt und so gesetzt hat.«3 Dieses Vor-stellen erfasst die Umgebung nur in Relation zum eigenen Blickpunkt, meint nicht nur ein erblickendes Verhalten zum Seienden, sondern dessen Wahrnehmung allgemein: »Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als 1 | Vgl. dazu Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005. Siehe hier insbesondere das sich auf Michel Serres’ Überlegungen beziehende Kapitel »Hörende Körper« zum antiken Amphitheater, S. 125-133. 2 | Meyer, Petra Maria: »Minimalia zur philosophischen Bedeutung des Hörens und des Hörbaren«, in: dies. (Hg): Acoustic Turn. München 2008, S. 47-73, hier S. 51. 3 | Heidegger, Martin: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: ders.: Holzwege (= Gesamtausgabe 5). Frankfurt a.M. 1994 [7], S. 208-267, hier S. 228.

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ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesem Bezug zu sich als dem maßgebenden Bereich zurückzubringen.«4 Als Gegensatz zu dieser das Seiende objektivierenden, über es verfügenden, selbstbezogenen Haltung erinnert Heidegger an das Vernehmen des vorsokratischen Griechenlands, das nicht vom eigenen Standpunkt aus über das Seiende verfügt und es als Bild im Ganzen zu erkennen versucht, sondern sich der Mitteilung des Seienden und dessen, was sich ins Phantasma des Gesamtbilds nicht einordnen lässt, öffnet. Für die Theaterrezeption gilt es hiermit, nicht eine vom Werk ablösbare Bedeutung zu suchen, sondern sich für dessen Mitteilung zu öffnen, ihrem Klang und Rauschen zu lauschen. Konkreter auf das Hören bezogen, gälte es, das Denken des Theaters in vor allem visuellen Kategorien (wieder) um auditive Kategorien zu ergänzen. Dies würde einem derzeit vor allem von den sound studies ausgesprochenen Desiderat folgen, das Hören als dem Sehen gleichberechtigt aufzufassen. Die mitunter verwendete Bezeichnung acoustic turn wird dabei meist von dem Hinweis begleitet, dass es keinesfalls darum gehen könne, eine Hierarchie der Sinne beizubehalten und innerhalb dieser die Positionen auszutauschen, sondern dass die auditive Komponente in bestehende Diskurse einbezogen werden sollte.5 Besonders nötig erscheint dies angesichts jüngerer Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes. Nach der meist mit dem umstrittenen Begriff »Konzepttanz« (der mangels einer anderen bekannten Bezeichnung hier wiederholt wird) bezeichneten Phase der neunziger und nuller Jahre, in der eine analytische Auseinandersetzung mit dem eigenen Dispositiv stattfand, setzen sich in den letzten Jahren Künstler der freien Tanzszene vermehrt mit der (Choreographie von) Bewegung auseinander, häufig auch im Zusammenspiel mit Klang und Musik. Dies ist keinesfalls als neokonservative Bewegung zu verstehen, sondern als ein Weiterdenken der vom Konzepttanz angestoßenen Fragen in Bezug auf die von diesem ausgelassenen Bereiche.6

4 | Ders.: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders.: Holzwege (= Gesamtausgabe 5). Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113, hier S. 91. 5 | Vgl. Meyer: Acoustic Turn. 6 | Vgl. dazu den Vortrag der Autorin, Otto, Leonie: »Nach dem sogenannten Konzepttanz. Tanz als Denkweise in Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern«,

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Zwei Arbeiten zu Le Sacre du printemps lassen sich hier einordnen (was ihnen ihre große Unterschiedlichkeit nicht absprechen soll): Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps und Xavier Le Roys Le Sacre du Printemps. Sowohl für Chétouane als auch für Le Roy standen die Zusammenhänge von Musik und Tanz bis zu ihren Sacre-Stücken nicht im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit.7 Gemein ist ihren Herangehensweisen, dass sie Le Sacre du printemps, diese für die Bühne, für ein Ballett komponierte Musik, zu der in den letzten hundert Jahren eine Vielzahl von Choreographien geschaffen wurde, nicht neu interpretieren.8 Vielmehr ergeben sich aus ihrer kritischen Annäherung an das 1913 uraufgeführte Stück, sein Sujet und seine Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte szenische Kommentare, welche die für Le Sacre du printemps zentrale Frage der Gemeinschaft auf unterschiedliche Art und Weise mittels des Hörens thematisieren. Im vorliegenden Aufsatz soll in einzelnen Abschnitten auf miteinander verknüpfte und aufeinander verweisende Aspekte dieses Hörens, der Musik und des Klangs in den beiden Stücken eingegangen werden – wobei über das Hören im Speziellen hinaus die Frage der Rezeption im Allgemeinen zur Sprache kommt.

L e S acre du printemps als B ühnenstück Die leere Bühne und die schon besetzten Sitze im Zuschauerraum sind in einer bei Proben oft als Arbeitslicht bezeichneten Helligkeit ausgeleuchtet. Le Roy betritt in Jeans, Sneakers und leuchtend rotem Poloshirt unaufgeregt, in ruhigen Schritten die Bühne und positioniert sich mit dem Rücken zum Publikum in deren Mitte. Seine Arme sind leicht angehoben und gespannt, bereit zur Bewegung. Die spröde, getragene Fagottmelodie von Le Sacre du printemps mit ihrem hohen Wiedererkennungswert setzt ein wie ein Zitat und Le Roy hebt die Arme und lockt mit zarten Bewegehalten bei der Tagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Bochum im September 2014. 7 | Le Roys Stücke Mouvements für Lachenmann (2005) und Giszelle (2001) beschäftigten sich allerdings schon mit in die Arbeit übernommenen Kompositionen. 8 | Vgl. zu einem ausführlicheren Überblick über die zahlreichen Sacre-Choreographien die Auflistung Cécile Schencks in der Eingangspassage ihres Aufsatzes im vorliegenden Band.

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gungen die langsame Flötenmelodie hervor bzw. begleitet sie vielmehr, denn sie wird nicht von einem anwesenden Fagottisten produziert, sondern von einem Soundsystem – das auf den ersten Blick nicht zu sehen ist, weil es sich größtenteils unter den Stühlen der Zuschauer befindet. Die Besonderheit des Stückes ist hiermit bereits grob skizziert: Le Roy performt die von ihm entwickelte Choreographie eines Dirigats von Le Sacre du printemps. In einem Interview erklärt er, dass er generell mit Narration auf der Bühne nicht viel anfangen könne, auch oder gerade nicht mit dem von Igor Strawinsky und Nicolas Roerich knapp umrissenen Ablauf der »Bilder aus dem heidnischen Russland«9, bei denen ein jungfräuliches Mädchen dem (Gott des) Frühling(s) geopfert wird. Deshalb konzentriere er sich in seiner Arbeit auf die Musik und wähle einen »Weg der Ignoranz«10. Nach der bald abgesetzten Uraufführungsversion wurde Strawinskys Sacre-Komposition häufig konzertant aufgeführt; doch diese Musik als Konzertstück zu hören oder zu analysieren, bedeutet, wie Tamara Levitz und David Levin herausgearbeitet haben, sie misszuverstehen.11 Levitz verortet dieses Missverständnis insbesondere in Theodor W. Adornos Ideologiekritik an Strawinskys Stil, den dieser in der Philosophie der neuen Musik in der Gegenüberstellung mit Arnold Schönberg als regressiv einstuft. Adornos Urteil über die subjektfeindliche Haltung des Sacre, sein »antihumanistische[s] Opfer ans Kollektiv«12, dem die Auserwählte sich passiv füge, sei nur möglich, weil Adorno, für den komplexe Mu9 | Strawinskys Manuskript zit.n. Stravinsky, Vera/Craft, Robert: Stravinsky in Pictures and Documents. New York 1978, S. 78, zit.n. u. üs. v.: Scherliess, Volker: Igor Strawinsky. Le Sacre du printemps. München 1982, S. 9f. 10 | Cveijić, Bojana: »Ein Abenteuer von Ignoranz und Emanzipation. Xavier Le Roy im Gespräch über sein Tanzstück ›Le Sacre du Printemps‹«, in der Saisonvorschau der Alten Oper Frankfurt, Saison 2013/14, S. 191-194, hier S. 194. 11 | Monika Woitas weist darauf hin, dass Strawinskys Komposition sozusagen selbst schon choreographische Elemente enthalte, indem sie dem Tanzen Bewegungsstrukturen vorgebe. Vgl. Woitas, Monika: »Immanente Choreographie oder Warum man zu Strawinskys Musik tanzen muss«, in: Malkiewicz, Michael/Rothkamm, Jörg (Hg.): Die Beziehung von Musik und Choreographie im Ballett. Berlin 2007, S. 219-231. 12 | Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften 12). Frankfurt a.M. 2003, S. 135.

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sik den »Plan des Blattes«13 braucht, seine intensive Auseinandersetzung mit der Partitur Strawinskys bloß um die »visual fantasy«14 einer Choreographie ergänze. Denn in Nijinskys Choreographie sei eine körperliche und gruppendynamische Spannung zwischen der Auserwählten und ihrer Gemeinde angelegt, eine Widerwilligkeit und Abneigung, aus der heraus diese sich opfere, wie Levitz in der Auseinandersetzung mit dem, was von Nijinskys Choreographie erhalten ist – ihrer Rekonstruktion, Berichten Beteiligter, Notizen und Skizzen – nachvollziehbar analysiert. Obgleich Levitz eine choreographische Distanznahme der Auserwählten von ihrer Selbstopferung erkennt, betont sie, dass Nijinskys Choreographie Strawinskys Musik nicht wie das klassische Ballett mit erzählenden Bildern illustriere, sondern wesentlich für die Herausbildung des abstrakten Tanzes war: »Le Sacre abandoned the very notion of dance as mimesis. For this reason many reviewers defined it as abstract.«15 Auch Levin moniert im Anschluss an Levitz die verengte Sichtweise Adornos auf Sacre, die aus einem undifferenzierten konventionellen Verständnis der Bühne resultiere, das diese (als Teil der Kulturindustrie) nicht als dialektischen Ort denke.16 Diese beiden Ansätze erklären Adornos Vorwurf, dass Strawinskys Sacre-Musik »dem Greuel auf der Bühne«17 gegenüber haltungs- und kommentarlos bleibe, dass »der Nachdruck seiner musikalischen Darstellungsweise das Dargestellte verherrlichend«18 behaupte. Für Adorno kann Musik nicht »distanziert darstellen wie das Drama. Sie ist zunächst Vortrag des Dargestellten und dadurch 13 | Ders.: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei. Die Kunst und die Künste. Berlin 1967, S. 7. 14 | Vgl. Levitz, Tamara: »The Chosen One’s Choice«, in: Dell’Antonio, Andrew (Hg.): Beyond Structural Listening. Postmodern Modes of Hearing, Berkeley, Los Angeles/London 2004, S. 70-108, hier S. 78. 15 | Ebd. S. 84. Erst seit der Rekonstruktion von Nijinskys Choreographie der Uraufführung von 1913 durch Millicent Hodson und Kenneth Archer im Jahr 1980 ist uns bekannt, wie die Uraufführung ausgesehen haben könnte. 16 | Levin, David: »Adorno’s Spectacles. Strawinsky and the Place of Dialectics«, Vortrag bei der Tagung »Tanz über Gräben. 100 Jahre Sacre du Printemps«, 14.11.17.11.2013, Berlin. 17 | Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 136. 18 | Ders.: »Strawinsky. Ein dialektisches Bild«, in: Musikalische Schriften I-III (= Gesammelte Schriften 16). Frankfurt a.M. 1997, S. 382-409, hier S. 390.

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seine Affirmation.«19 Somit fehlt ihm zu dem »in Wahrheit irre[n] Mordritual«20, zu der »abscheuliche[n] Gewalttat des geheimnistuerischen Medizinmanns«21 eine Stellung- oder Distanznahme, die er der Choreographie offenbar ebenso wenig wie der Musik zutraut. Den Tanz versteht Adorno in diesem Zusammenhang nämlich bloß als »statische Zeitkunst, ein sich im Kreise Drehen, Bewegung ohne Fortgang«22. Bei Le Roy stellt sich die Frage der »Möglichkeit/Unmöglichkeit einer musikalischen Erzählung und/oder Aussage«23 gerade dadurch, dass er die Narration des Sacre im Abwesenden lässt, zum Beispiel in den Köpfen der Zuschauer und -hörer. Seine Entscheidung, kaum über das Dirigieren der Musik hinaus weisende Bilder bzw. Bewegungen zu zeigen, deutet einerseits an, dass viele Zuschauerinnen und Zuschauer (im europäischen Kontext) ohnehin ein Vorwissen mit dieser Musik verbinden und lässt andererseits überlegen, wieviel Erzählung die Musik und ihr Titel ohne Bebilderung durch Tanz und Szenographie beinhalten. Trotz seiner Konzentration auf das Dirigieren der Musik löst Le Roy das Stück keinesfalls von Bühnen- und Theaterraum, sondern kreiert in dessen Innerem eine Situation, in der sich gemeinsamer Raum und die Gegenüberstellung von Gruppe und Einzelnem (als Mächtigem oder als Ausgeschlossenem/Opfer) überlagern – wie im Folgenden näher zu erläutern ist –, womit das Thema der Gemeinschaft behandelt wird, ohne die Erzählung vom Frühlingsopfer aufzunehmen.

E in gemeinsamer K l angr aum Nach einigen Takten, wenn die Töne des Fagotts wieder erklingen, dreht Le Roy sich um und die Konzertbesuchern bekannte Perspektive auf den Rücken des Dirigenten wechselt zu der vor allem Orchestermusikern bekannten auf seine Vorderseite. Er wendet sich an die Person im Publikum, unter deren Sitz das Fagott am lautesten erklingt und dirigiert sie, als würde sie mit einem Instrument die erklingenden Töne produzieren. 19 | Ebd. 20 | Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 147. 21 | Ebd. S. 148. 22 | Ebd. S. 179. 23 | Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör. Zürich/Berlin 2010, S. 43.

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Die unter den Sitzplätzen der Zuschauer versteckten Lautsprecherboxen geben nicht einfach die Abspielung einer im Handel erhältlichen Aufnahme von Le Sacre du printemps wieder, sondern die 32 Aufnahmekanäle einer von Simon Rattle dirigierten Probe der Berliner Philharmoniker. Der Klangregisseur Peter Boehm richtet für jede Aufführung eine Klanginstallation aus dreißig bis vierzig unter den Stühlen verteilten Lautsprechern ein, in ihrer Platzierung einem klassischen Orchester nachempfunden. Und so hört nahezu jeder Zuschauer das Stück aus einer anderen Klangperspektive, sei es beispielsweise aus der der Fagottistin oder der der Geiger. Gleichzeitig bilden alle zusammen mit dem Dirigenten Le Roy ein fiktives Orchester. Die Tonaufzeichnung eines Orchesters, dirigiert von einem anderen Dirigenten, wird hier wieder abgespielt, allerdings unter der spielerischen Fiktion, die Zuschauer wären das Orchester, wozu Le Roy dirigiert/reagiert. Anstatt Instrumenten, die durch die als Reaktion auf den Dirigenten und die Partitur ausgeführten Bewegungen des Musikers erklingen, sitzen hier die Theaterbesucher als Resonanzkörper, zugleich zuhörend und selbst erklingend. Der Klang dringt bis ins Innere der Körper vor und versetzt dieses in Schwingung. Sichtbare räumliche Grenzen gelten für ihn nur bedingt. Le Roys Rolle des Dirigenten birgt die (Darstellung der) Ausübung von Macht auf die ihm gegenüber Sitzenden. Auf diesen Aspekt geht bereits Gabriele Brandstetter in ihrer Analyse des Stücks ein und betont, dass Adorno in der Figur des Dirigenten eine Figur der Macht sehe: »Nicht umsonst gemahnt die Herrschaft der arrivierten Dirigenten an die des totalitären Führers.«24 Le Roy erzählt, dass einmal tatsächlich eine Zuschauerin einen seiner Befehle ohne Instrument ausgeführt habe: Auf den von ihm gegebenen Einsatz habe sie passend zur Musik ihre Hände zu einem lautlosen Paukenschlag bewegt.25 Gerade diese Anekdote unterstreicht, dass Le Roys Dirigieren ohne die Konsequenz darauf 24 | Adorno, Theodor W.: »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Progression des Hörens«, in: ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. (= Gesammelte Schriften 14). Frankfurt a.M. 1980 [2], S. 14-50, hier S. 32. Vgl. hierzu Brandstetter, Gabriele: »Heteropolitics of Contemporary Dance. Xavier Le Roy’s ›Le Sacre du printemps‹«, in: Hölscher, Stefan/Siegmund, Gerald (Hg.): Dance, Politics & Co-Immunity. Current Perspectives on Politics and Communities in the Arts (= Thinking Resistances 1). Zürich/Berlin 2013, S. 145-162, hier S. 157. 25 | Beim Publikumsgespräch in der Alten Oper Frankfurt im September 2013.

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reagierender Musiker geschieht. Die Figur der Macht wird von Le Roy nur imitiert, eigentlich hat er keine Macht inne. Gebrochen wird seine Darstellung der Dirigentenfigur außerdem durch sein – noch näher zu beschreibendes – Scheitern an der Komplexität von memorierter Partitur und erklingender Musik. Zwar begibt sich Le Roy in eine räumlich-strukturelle Machtposition (die des Dirigenten vor einem Orchester und die des Performers vor einem Publikum), doch seine Performance lenkt die Aufmerksamkeit besonders darauf, dass alle Anwesenden sich in einem gemeinsamen Klangraum befinden, trotz der in der abendländisch-neuzeitlichen Theaterarchitektur etablierten, optisch bedingten Gegenüberstellung von getrenntem Bühnen- und Publikumsbereich. Auch wenn in dieser Architektur am hinsichtlich der zentralperspektivischen Ausrichtung des Theaterraums und insbesondere der Bühne besten Platz auch die beste Akustik ankommt, verteilen sich die Schallwellen, selbst wenn sie in eine bestimmte Richtung gesendet werden, mindestens im gesamten Raum. Auf die Überlagerung von optischer Gegenüberstellung und akustischer Erzeugung eines gemeinsamen Raums geht auch Jean-Lucy Nancy in seiner Annäherung an das Klangliche ein. Dieses sei »tendenziell methexisch (das heißt in der Ordnung der Teilnahme, des Teilens oder der Ansteckung)«26 erklärt er, »kein ›in Hinblick auf‹ und kein ›Visà-vis‹«, sondern »ein Kommen und ein Vorübergehen, ein sich Ausdehnen und ein Durchdringen«27: Etwas vom theoretischen und intentionalen Schema, das am Optischen ausgerichtet ist, gerät hier ins Wanken. Hören heißt in diese Räumlichkeit eintreten, von der ich zur selben Zeit durchdrungen werde: Denn sie öffnet sich in mir ebenso wie um mich herum, und von mir ebenso wie zu mir hin: Sie öffnet mich in mir ebenso wie draußen […]. 28 26 | Nancy, Zum Gehör, S. 19. 27 | Ebd., S. 22. 28 | Ebd., S. 22f. Die Öffnung durch das Hören erfordert nicht, dass ein Klang von außen auf den Körper zukommt. Schon oder gerade der Klang der eigenen Stimme erzeugt ein solches Wechselspiel von Innen und Außen und wird zum Phänomen der Fremdheit des eigenen Selbst. Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe bezeichnen diese das Selbst immer schon begleitende Resonanz der eigenen Stimme als das »Vormusikalische« oder die »Ur-Musik«, womit sie an das in anderen Zusammenhängen im Anschluss an Derridas archi-écriture als »Archi-Theater« oder

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Für Le Roys Performance wird innerhalb der traditionellen Theaterarchitektur eine andere akustische Architektur, angelehnt an die des Orchesters, aufgebaut, bei der der Klang im Zuschauerraum produziert wird und zugleich jeder Zuschauer etwas anderes hört. So wird hier das Gemeinschaftstiftende und darin die Gemeinschaft Zersetzende des Klangs verstärkt.

D ie M usik zum A usdruck bringen ? Le Roy tanzt seine Dirigentenperformance lebhaft und raumgreifend. Mit gespitztem Mund deutet er den Flöten eine leise Passage an, mit aufgeblasenen Backen und herausgestrecktem Brustkorb, die Hände zu Fäusten geformt, animiert er mit ausladenden Armbewegungen die Blechbläser zu einem lautstarken Einsatz. Das sehend und die Mehrkanal-Audioinstallation hörend, fallen sonst vielleicht überhörte Details des Rhythmus, der Metrik, der Tempi, Rollen der einzelnen Instrumente oder ihre Lautstärken genauer auf, wie zum Beispiel die Besonderheit, dass Strawinsky die Streicher weniger melodisch als vielmehr perkussiv, zupfend und schlagend statt streichend einsetzt. Je rasender die Rhythmen werden, desto wilder springt der hagere Le Roy, seine langen Arme in eckigen Bewegungen um sich schleudernd, einmal dreht er sich im Kreis um die eigene Achse, einmal reißt er den Arm mit geballter Hand empor. Scheinen Gesicht und Arme besonders der Kontaktaufnahme mit Orchester/Publikum zu dienen, reagieren seine Beinbewegungen eher auf die Musik. Sie erinnern an privates Tanzen, das die stampfenden Rhythmen der Musik aufnimmt. Gleichzeitig scheinen hier bekannte Sacre-Choreographien wie die Nijinskys, Pina Bauschs oder Maurice Béjarts auf. Diese Elemente fanden vor allem über das körperliche Gedächtnis Eingang in die Choreographie, erklärt Le Roy. Außerdem helfen sie ihm, die komplexe Komposition überhaupt dirigieren zu können: Ich erinnere mich daran, das Erscheinen dieser ›Phantome‹ zum Beispiel in dem ruhigen Abschnitt des ›Opfertanzes der Auserwählten‹ bemerkt zu haben, als ich »Tanz« bezeichnete Phänomen etwas immer Vorgängigen, nicht Hintergehbaren anknüpfen. Vgl. Nancy, S. 19, S. 47 und Lacoue-Labarthe, Philippe: Le sujet de la philosophie. Typographies 1. Paris 1979, S. 298.

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meine Handflächen als Fäuste geschlossen hielt, um die Akzente im Orchester zu setzen. Ich merkte dann, dass ich auch kleine Schritte machte, die dem Gang der Tänzergruppe um die Auserwählte in Nijinskys Choreografie entsprachen. Außerdem haben mir die kinästhetische Wahrnehmung und das Auffrischen der Erinnerungen an die Tänze des ›Sacre‹ durch verschiedene Aufzeichnungen […] dabei geholfen, die schwierigen Stellen der Partitur zu überbrücken, die ich einfach nicht dirigieren konnte. 29

Le Roy erzählt, dass er die Idee zu seiner Sacre-Version hatte, als er eine Aufzeichnung von Simon Rattle beim Dirigieren von Le Sacre du printemps sah. Dabei sei ihm aufgefallen, wie der für seine aktiven Dirigate bekannte Rattle nicht nur die Musiker in ihrem Spielen leitete, sondern auch in seiner Gestik und Mimik »selbst die Musik zum Ausdruck brachte«30. In der Auseinandersetzung mit dieser und weiteren Videoaufzeichnungen von Dirigaten und Choreographien zu Le Sacre du printemps, in intensiver Arbeit mit der Partitur sowie mithilfe von Unterricht beim Dirigenten Patrick Walliser entwickelte Le Roy seine Choreographie. Die Sacre-Partitur, die erklingende Musik sowie das Vorbild Simon Rattles werden gemeinsam zur choreographischen Vorschrift Le Roys. Sein Tanzen findet im Spannungsfeld der ihm gesetzten Aufgabe, den Dirigenten darzustellen und der ihm in ihrer Komplexität und Schnelligkeit immer wieder entgleitenden Musik statt. Es ist zu sehen, wie es Le Roy herausfordert, die Metren- und Taktwechsel einzuhalten, um die richtigen Einsätze zu geben. Gerade das Hin- und Herwandern seiner Augen weist daraufhin, wie er sich abwechselnd und/oder gleichzeitig auf die zu hörende Musik, das zu sehende Publikum und die verinnerlichten Informationen der Partitur konzentriert. In den Momenten der Stille wird er ruhig, entspannt seinen Körper und holt Luft. Im zweiten Teil von Sacre, wenn er schon schwitzt und die Rhythmen wieder schneller werden, verlässt er einmal einfach die Bühne; die Musik spielt weiter und das Zuschauer-Orchester sitzt ohne Dirigenten, bis er wiederkommt. Ein komplexes Spiel mit den Kausalitäten, mit der Differenz zwischen (Vor-)Schrift und Wiederholung entsteht aus der zunächst so simpel klingenden Ausgangskonstellation.

29 | Le Roy im Gespräch mit Cveijić, S. 192f. 30 | Ebd. S. 191.

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Igor Strawinsky erhoffte sich von Nijinskys Choreographie eine Visualisierung seiner Musik, die deren Verlauf folgte. Deren kontrapunktische Verdoppelungen der musikalischen Akzente fand er zu kleinteilig und äußerte sich enttäuscht: »Die Choreographie wirkte wie eine mühevolle Arbeit ohne Zweck und Ziel und nicht wie eine bildhafte Darstellung, die klar und natürlich den Vorschriften folgt, die sich aus der Musik ergeben.«31 Auch Le Roys Choreographie wird im Dirigieren der einzelnen Bestandteile der Komposition kleinteilig und ist allein aufgrund der Schwierigkeiten, die es ihm bereitet, der erklingenden Musik als Dirigent immer voraus zu sein, um die Einsätze rechtzeitig anzuzeigen, ebenfalls eher mühevolle Arbeit als »natürliche« Folge der musikalischen Vorschrift: Ich strebe immer noch an und übe daran, eine musikalisch korrekt dirigierte Darbietung dieser Musik zu zeigen, bei der ich den Instrumenten ihren Einsatz nicht zu spät anzeige (zum Beispiel der Oboe, bei Ziffer 26, drei Takte nach dem Ende der Flöte), oder nicht aus dem Takt komme (Ziffer 59), die Waldhörner im 5/4-Takt im zweiten Takt nicht vergesse, dann die Flöten und Englischhörner im dritten Takt im 4/4-Takt oder die Taktverschiebungen bei Ziffer 104 schlage (zweimal 5/8-9/85/8-7/8-3/8-4/8-7/4 usw.) 32

Durch das (bis jetzt) mit jeder Aufführung einhergehende, in der selbsterteilten choreographischen Aufgabe der Nachahmung eines Dirigenten angelegte Scheitern daran, musikalisch korrekt zu dirigieren, und durch die damit einhergehende körperliche und geistige (Über-)Anstrengung untergräbt Le Roy seine fiktive Macht selbst.

D ie Ö ffnung des R hy thmus Während Le Roy die Erzählung von Le Sacre du printemps außer Acht lässt, begibt sich Chétouane auf eine Metaebene zu der szenischen Darstellung eines vermeintlich archaischen Opferrituals und nimmt eine Verschiebung vor: Aus Le Sacre du printemps wird Sacré Sacre du Printemps, eine 31 | Strawinsky, Igor: Erinnerungen. Zürich 1937, S. 60ff., zit.n.: Motte-Haber, Helga de la/Rilling, Lydia/Schröder, Julia H. (Hg.): Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts. Bd. 1, Laaber 2011, S. 17. 32 | Le Roy im Gespräch mit Cveijić, S. 192f.

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choreographische und musikalische Opferung und Weihe des Epochenstücks selbst. Zwei Kompositionen von Leo Schmidthals rahmen Le Sacre du printemps, leiten seine Opferung ein und lassen sie ausklingen.33 Die zentrale These Chétouanes ist, dass die Moderne das, was an Le Sacre du printemps 1913 bei der Uraufführung so empörend, weil in seinem Bruch mit dem Ballett so fremd erschien, zu einem ihrer Klassiker machte und damit seiner eigentlichen Fremdheit beraubte. Sacré Sacre du Printemps soll die Möglichkeit einer Gemeinschaft ohne Opfer und eines Zusammenlebens mit dem Fremden gerade auf der Basis von dessen Uninte­ grierbarkeit und Unrepräsentierbarkeit untersuchen. Bühnen- und Zuschauerbereich sind kaum voneinander getrennt, denn der Tanzboden reicht so weit, dass die erste Reihe von Zuschauerstühlen auf diesem steht. Drei große Leinwände, eine rechts und eine links stehend, eine vor der Bühnenrückwand hängend, skizzieren eine lose Rahmung des Bühnenbereichs, der in ein bläuliches Licht getaucht ist. Kate Enright tritt als erste hinter der linken Wand hervor und stellt sich ihr zugewandt davor. Nach und nach tun ihr das auf beiden Seiten Matthieu Burner, Senem Gökçe Oğultekin, An Kaler, Charlie Fouchier, Joséphine Evrard und Joris Camelin nach, bis sie in zwei Reihen mit dem Rücken zueinander warten. Aufmerksam drehen sie sich um, betrachten sich und den Raum, und Kate Enright streckt beide Arme parallel zur gegenüber liegenden Wand aus und schreitet mit angewinkeltem hochgezogenen Knie in die so angezeigte Richtung, während die über Lautsprecher an beiden Seiten des Bühnenportals abgespielte Musik einsetzt. Einzelne sanfte Trommeln schlagen in regelmäßigen Abständen. Die Zeitspanne zwischen den Schlägen ändert sich; Xylophon, Triangel, Woodblocks und weitere Trommeln schichten sich polyrhythmisch dazu. Das Kompositionsprinzip von Le Sacre du printemps scheint auf. Doch Schmidthals’ Rhythmen sind zwar treibend, aber minimaler, heller und vorsichtiger. Im Gegensatz zu Strawinskys Komposition für das klassische Orchester ist die von Schmidthals eher Kammermusik und im Studio aufgenommen. Die sieben Tänzer und Tänzerinnen trippeln und stelzen vorsichtig von einer Seite zur anderen und bewegen sich auf den Spuren der vorher dort gewesenen. Sie beugen die Knie oder Oberkörper nach vorne, strecken die meist symmetrisch eingesetzten Arme wie Fühler in alle Körperrichtun33 | Vgl. dazu den Beitrag von Schmidthals selbst im vorliegenden Band.

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gen aus oder winkeln sie in Ellenbogen oder Handgelenken ab. Auf den Leinwänden taucht irgendwann, recht unbemerkt, das verschwommene Bild eines Mondes über einem See auf und fügt dem Bühnen- und Theaterraum eine blasse Ahnung von Natur oder Landschaft hinzu. Zögerlich verlassen alle die bekannten Wege und wagen sich weiter in den Raum hinein. Zwischen die Schläge der Instrumente mischt sich nach einer Weile eine kurze Folge von Flötentönen, die schon das berühmte Fagottmotiv von Le Sacre du printemps andeutet. Hinter den beschleunigenden, doch weiterhin zarten Rhythmen sind Rassel, Triangel und Pauke zu hören. Ein Gong sorgt für eine zelebrale Stimmung. Wieder erklingen die Flötentöne, vielleicht eines Fagotts, dann eine Xylophonklangfolge. Streicher intensivieren das Szenario. Immer mehr Tonhöhen und Klangfarben verschiedener Instrumente – Schlaginstrumente, Flöten, Streicher, manchmal ein Klavier – summieren sich. Sie erfüllen wie in Sacre eher eine rhythmische als eine melodiöse Funktion, spielen einzelne Töne, selten im Fluss. Dabei sind sie jedoch luftiger, leichter und zugleich dekonstruierter, weniger dicht und energetisch als die wuchtigen Sacre-Rhythmen. Hohe Streicherbewegungen schwellen an, dramatisieren, begleitet von Trommeln. Stille. Das Fagott und die weiteren ersten Flötentöne von Sacre erklingen. Die Dominanz und Intensität des Rhythmus – »die Massivität der Akkordrepetitionen, der kaum variierten melodischen Zellen«34 – sind sicherlich das meistherausgearbeitete Charakteristikum von Strawinskys Sacre-Komposition. Für Adorno arbeitet der Komponist dennoch mit einem verengten und statischen Rhythmus-Begriff, der diesen nicht aus einem »melodisch-harmonischen Denken«35 befreie. Strawinsky betreibe bloß eine Fetischisierung des Rhythmus, der »als Verschiebungen eines Immergleichen und ganz Statischen, ein auf der Stelle Treten, in dem die Unregelmäßigkeit der Wiederkehr das Neue ersetzt«36, das der Musik doch eigentlich eigene Werden verhindere: Musik ist, als Zeitkunst, durch ihr pures Medium an die Form der Sukzession gebunden und damit irreversibel wie die Zeit. Indem sie anhebt, verpflichtet sie sich bereits weiterzugehen, ein Neues zu werden, sich zu entwickeln. Was an Musik ihre Transzendenz heißen kann: daß sie in jedem Augenblick geworden ist ein Anderes, 34 | Boulez, Pierre: Anhaltspunkte. Stuttgart/Zürich 1975, S. 164. 35 | Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 143. 36 | Ebd.

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als sie ist: daß sie über sich hinausweist, ist kein ihr zudiktiertes metaphysisches Gebot, sondern liegt in ihrer eigenen Beschaffenheit, gegen die sie nicht ankann. […] So wenig Musik verbürgt, daß das Andere sei, so wenig kann der Ton davon sich dispensieren, daß er es verheißt. Freiheit selbst ist ihr immanent notwendig. Das ist ihr dialektisches Wesen. 37

Schmidthals greift die polyrhythmischen Prinzipien Strawinskys auf, versucht aber, dem maschinenartigen Voraneilen des Sacre, das die Spannung mit der Zeit nicht austrägt,38 eine Öffnung entgegenzusetzen und diese in seiner Komposition gerade aus der rhythmischen Wiederholung entstehen zu lassen, wobei dieses Verheiß des Anderen nicht allein eine Entwicklung meint wie bei Adorno, sondern zugleich etwas Ankündigendes und etwas melancholisch Erinnerndes hat, sich an die Vergangenheit und an die Zukunft richtet. In ihren Wiederholungen kommt die Musik nicht wirklich voran und bleibt trotzdem nicht gleich. Gerade durch den Rhythmus befreit Schmidthals die Zeit von ihrem linearen Fortschreiten, denn dieser ist, mit Nancy formuliert, »nichts anderes als die Zeit der Zeit, die Erschütterung der Zeit selbst im Schlag eines Präsens, das die Zeit vergegenwärtigt, indem sie sie von sich selbst abkoppelt […] Somit koppelt der Rhythmus die Folge von der Linearität der Sequenz oder der Dauer ab: Er faltet die Zeit, um sie der Zeit selbst zu geben.«39 37 | Adorno, Strawinsky, S. 386f. Dass Adorno dieses Werden in Sacre vermisst, mag vor allem an der ausgeprägten Vertikalen der Musik liegen, an ihrem vertikalen Sich-Aufspannen durch das Auffächern der verschiedenen instrumentalen Ebenen, das gegenüber ihrem horizontal-linearen Voranschreiten dominiert. Vgl. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 140. Isabelle Launay entdeckt eine solche Vertikalität in der Choreographie Nijinskys (bzw. deren Rekonstruktion). Sie beschreibt diese Vertikalität als Gemeinsamkeit der 47 Tänzer und Tänzerinnen, als Teilen einer gemeinsamen Orientierung aufgrund eines problematisierten Verhältnisses zu den Bezugspunkten Boden und Himmel. Vgl. Launay, Isabelle: »Communauté et articulations, à propos de la recréation du Sacre du printemps de V. Nijinsky«, in: Rousier, Claire (Hg.): Être ensemble. Figures de la communauté en danse depuis le XXème siècle. Paris 2003, zit.n. der Version publiziert auf www. danse.univ-paris8.fr, S. 9ff. 38 | Vgl. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 171ff, und ders.: Einige Relationen zwischen Musik und Malerei, S. 6ff. 39 | Nancy, Zum Gehör, S. 26.

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V om V erschwinden des G esichts Die Tänzerinnen und Tänzer tragen verschieden geschnittene einfarbige Pullover und T-Shirts, kurze Hosen und Socken in aufeinander abgestimmten Blau- und Grautönen. Eine unbekannte, wenngleich zeitgenössische Mode. Sie sind auffällig geschminkt, ohne dass ihre Gesichtsbemalungen konkret auf etwas verweisen, da sie dafür zu schattenhaft wirken, wie Reste von bereits halb verschwundener und verschmierter Schminke. An Kalers Hals ist vorne blau, Joséphine Evrards Stirn weiß, die komplette Mundpartie von Senem Gökçe Oğultekin schwarz, Joris Camelins Wangen blau verschmiert, Matthieu Burner hat grüne zackige Augenbrauen und auf Charlie Fouchiers und Kate Enrights Gesichtern lassen sich gerade noch blass-blau-rote traurige Masken erkennen. Zaghafte Erinnerungen an die Art, in der die beginnende Moderne das Fremde, Primitive, Archaische, Exotische zur Darstellung zu bringen versuchte. Nachdem alle im bereits beschriebenen Beginn des Stücks den Raum (und die darin befindlichen Personen) erkundet haben, positionieren sie sich unmerklich in einem horizontalen Kreuz, auf dessen zwei Diagonalen sie sich unaufhörlich aufeinander zu und voneinander weg bewegen. Sie holen Schwung in Pliés, strecken ihre Arme zu beiden Seiten des Körpers in den Raum hinein und einander entgegen, treffen aufeinander, reiben sich aneinander, stoßen Brust an Brust. Ihre Hälse schmiegen sich aggressiv-brutal oder zärtlich-schnuppernd aneinander, um wieder voneinander abzulassen und sich anderen zuzuwenden. Dabei fassen sie sich fast nie direkt mit den Händen an. Wenn nicht so körperlich wie gerade beschrieben, werden Kontakt und Konfrontationen vor allem durch Blicke hergestellt, selten durch kurze Rufe oder durch ein Sprechen, das nahezu unter der Musik verschwindet und nur an die anderen Tänzerinnen und Tänzer gerichtet ist. Diese Geräusche, auch die Laute ihrer Bewegungen, werden genauso wie die Musik Teil des Sounds von Sacré Sacre du Printemps.40 40 | Dieses innerhalb des Stücks unauffällige Detail ist von tanzgeschichtlicher Bedeutung. Bojana Kunst arbeitet heraus, dass der Tänzerkörper in der Geschichte des westlichen Bühnentanzes stumm geschaltet wurde, dass die Disziplinierung des Balletts alle Geräusche, die Bewegung zwangsläufig produziert – Schritte, Sprünge und Gleiten über den Boden, klatschende Berührungen, Reibungen, Atmen, Stöhnen – unter der Musik verdeckte. Vgl. Kunst, Bojana: »The Voice of the Dancing Body«, online: http://wp.me/p1iVyi-1V vom 5.6.2014, zuletzt abgerufen am 16.01.2015.

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Ihre Köpfe wackeln im Zusammenspiel mit ihren anderen Bewegungen zuweilen leicht auf den Hälsen, bei einigen mehr, bei andern weniger. Mitunter ist ihr tiefes Ein- und Ausatmen deutlich sicht- und hörbar (und für die ersten Sitzreihen spürbar). Das ist sowohl ein wegen der körperlichen Anstrengung nötiges Luftholen, als auch eine Methode, die eigene körperliche und/oder geistige Anspannung zu senken oder zu steigern und bestimmte Bereiche des Körpers zu lockern oder zu mobilisieren. So geht die Atmung mit geöffnetem Mund zum Beispiel oft mit einer lösenden Verschiebung von verkrampften Kiefern einher. Darüber hinaus lassen sich in den Gesichtern viele Bewegungen beobachten. Ein Zeigen oder Blecken der Zähne, ein Runzeln der Stirn, ein Verengen der Augen und Verziehen der Mundwinkel. Manche dieser Veränderungen erscheinen recht schnell lesbar: als Lachen, als beginnendes Weinen, als Aggression. Andere können zu der Frage führen, was diese Gesichter ausdrücken sollen und wollen. Doch vielleicht ist diese Frage falsch gestellt und sollte stattdessen darauf zielen, was es mit der Auffälligkeit dieser Gesichter auf sich hat. Diese Umlenkung der Frage deckt eine Rezeptionshaltung auf, die eher vorstellend als vernehmend ist, die das Gesichtete ins Verhältnis zum Bekannten zu setzen versucht. – Warum betrachten wir die Gesichter eigentlich als gesonderten Teil des Körpers? Eine grobe tanzhistorische Bestandsaufnahme verweist auf eine gewisse Spaltung zwischen Gesicht und (restlichem) Körper. Im Ballett zeig(t)en die Gesichter neben einem professionellen Strahlen eine einstudierte Mimik zwecks der narrativen pantomimischen Darstellung von systematisierten Gefühlszuständen. Im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, nach Nijinskys Bruch mit dem Ballett, war es im Ausdruckstanz besonders Valeska Gert, die, nicht nur laut Kurt Tucholskys Überlieferung, »mit dem Gesicht tanzte«, was sie durch starke Schminke – viel Puder, Lippenstift und Lidstrich – unterstrich.41 Für den weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts diagnostiziert Laurence Louppe dem Tanz einen Fokus auf die Materialität des Körpers und auf kulturell weniger geprägte Körperbereiche.42 Sowohl Merce Cunningham als auch Steve Paxton und Yvonne Rainer versuchten das Gesicht weitestgehend auszuschalten. Demzufolge kommt bei ihnen 41 | Vgl. Müller, Wolfgang: Valeska Gert – Ästhetik der Präsenzen. Berlin 2010, S. 123; sowie Suhr, Werner: Das Gesicht des Tanzes. Hamburg 1927, S. 24. 42 | Vgl. Louppe, Laurence: Poetik des zeitgenössischen Tanzes. Bielefeld 2009, S. 53.

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kaum Blickkontakt mit dem Publikum zustande: »[…] diese Weigerung, das Publikum direkt anzuschauen, ist durchaus vorhanden. […] Wie soll man blicken? Bei den Bewegungen des Körpers ist alles klar, aber was geschieht auf der Ebene des Gesichts?«43 Während bei Cunningham die Ausdruckslosigkeit zum szenischen Ideal wurde, mit dem paradoxerweise doch etwas ausgedrückt werden sollte, nämlich »eine Form von innerer Ruhe […] eine Art von seelischem Gleichgewicht, von Gelassenheit«44, wie die ehemalige Cunningham-Tänzerin Carolyn Brown beschreibt, probieren Paxton und Rainer sogar die für ihr Anliegen konsequente Lösung aus, die Gesichtszüge mit Farbe zu verbergen um größtmögliche Neutralität zu erreichen. Eine solche Weigerung, dem Publikum den eigenen Blick und die Bewegungen oder Regungen des eigenen Gesichts auf der Bühne zu zeigen, soll bei Chétouane ebenso wenig wie bei Le Roy erreicht werden, obgleich sich die Haltung der Performerinnen und Performer in ihren beiden Arbeiten sehr unterscheidet. Das Publikum wird nicht ignoriert, indem ihm der Blick verweigert wird, sondern es wird angeblickt. Und es wird zugelassen, dass das Publikum mitunter unkontrollierte Gesichtszüge sieht. Das eigene Sich-affizieren-Lassen, das eigene Vernehmen wird ausgestellt. Le Roy beschreibt seine Performance aufgrund dieser visuellen Konfrontation mit dem Publikum, das er die ganze Zeit sieht und in dem er einzelne Personen(gruppen) adressiert, als im Vergleich zu anderen Stücken sehr fragil und intensiv: I am affected by this – it can put me offtrack but it’s also what makes the performance so intense. You dive in. There are performances where there’s always a place for a certain kind of distance – you can step in and out, and the performance has its own rhythm depending on how you start it. With The Rite of Spring, that is impossible. You have to really go through it.45

43 | Rainer, Yvonne: »Öffentlicher Tanz und Gemeinschaft«, in: Berio, Luciano u.a. (Hg.): Allesdurchdringung. Texte, Essays, Gespräche über den Tanz. Berlin 2008, S. 7-30, hier S. 17. 44 | Ebd. 45 | Le Roy, zit.n.: Kourlas, Gia: »All the Rite moves. Xavier Le Roy faces the music (and sort of dances)«, online: www.timeout.com/newyork/dance/all-the-rite-moves vom 25.02.2014, zuletzt abgerufen am 16.01.2015.

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Chétouane arbeitet schon lange damit, dass sich die Schauspieler, Schauspielerinnen, Tänzer und Tänzerinnen ihres Angeschautwerdens auf der Bühne bewusst werden und immer wieder ins Publikum zurückblicken. Außerdem schauen sich die sieben Tanzenden in Sacré Sacre vor allem gegenseitig an, konzentrieren sich auf das, was innerhalb der Gruppe passiert. Wie Le Roy wählt Matthieu Burner den Begriff Intensität, um zu erklären, dass die Aufmerksamkeit und Konzentration sich während des Tanzens einfach auf andere Körperzonen und Aspekte der Choreographie richte und die Gesichter, nicht als gesonderter Körperteil gedacht, deshalb von den Tänzerinnen und Tänzern tatsächlich wenig reflektiert oder kontrolliert würden.46

V err äumlichung (en), V erzeitlichung (en) Nachdem der erste Teil von Strawinskys Sacre verklungen ist – wir befinden uns zeitlich in der Mitte von Sacre und von Sacré Sacre – gehen die sieben Tänzer und Tänzerinnen in kleinen Schritten. Sie kreisen, die Arme zu einer schrägen, senkrechten oder waagerechten Linie ausgestreckt, um die eigene Körperachse, bewegen sich dabei auch umeinander herum und verlassen diese Ballung letztendlich einer nach dem anderen, um in einer langgezogenen Reihe den imaginierten Umriss einer Raute abzuschreiten. Es ist still, nur die leisen Geräusche ihrer Bewegungen und ab und zu ein Räuspern der Zuschauer sind zu hören. Sie strecken Arme und Beine aus, halten, ohne sich zu berühren, den Kontakt zu Vorgänger und Nachfolgerin. Wie in Zeitlupe schleichend und kriechend, lassen sie mehrere Runden lang ihre Körper diesen Umriss formen. Sie verwinkeln ihre Körper in seinen Ecken und strecken sie in den Längen aus, zeichnen die Linien mit den Fingerspitzen auf den Boden und in die Luft. Derartige klar erkenn- und benennbare Formen lassen sich immer wieder innerhalb der ansonsten fließenden, nur schwer in festen Positionen oder Posen erinnerbaren Choreographie feststellen. Sie mischen sich mit Sequenzen, in denen zwar Abläufe, Strukturen oder Regeln (wie dass jede und jeder beim ersten Teil von Le Sacre du printemps einmal Solist oder Solistin – aus der Gruppe Heraustretende bzw. Ausgeschlossener – 46 | In den Proben fand keine Beschäftigung mit den Gesichtern statt; Videos oder Spiegel wurden nicht benutzt.

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wird) mehr oder weniger festgelegt sind, jedoch die einzelnen Bewegungen aus dem jeweiligen Moment und dem Körpergedächtnis entstehen. Kompositionen und Choreographie sind hier nicht genau aufeinander abgestimmt. Obwohl die Tänzerinnen und Tänzer versuchen, autonom von der Musik zu bleiben, können sie (wie Le Roy) nicht immer dem Einfluss des Rhythmus auf ihre Bewegungen widerstehen. Bisweilen ergeben sich zufällige Übereinstimmungen. Es ist ein lockeres und vor allem gleichwertiges Verhältnis, wie es John Cage beschreibt, wenn er über das Aufeinandertreffen seiner Kompositionen und der Choreographien Merce Cunninghams spricht: »The two arts take place in a common place and time, but each art expresses this Space-Time in its own way. The result is an activity of interpenetrations in time and space, not counterpoints, not controlled relationships, but flexibilities […]«.47 Wenn alle sieben die Form der Raute verlassen, suchen sie sich Positionen auf dem Boden, um sich hinzulegen. Nachdem einige Zeit der Stille und des Liegens verstrichen ist, steht An Kaler mit emporgestreckten Armen auf und durchwandert den Raum. Die dunklen nächtlichen Streicher der Introduktion des zweiten Teils von Le Sacre du printemps setzen ein. Laut ist die Einspielung von Sacre nicht, was den Eindruck entstehen lässt, dass die Musik von weit weg kommt.48 Langsam, der Reihe nach, erheben sich die anderen. Die beginnende Musik dehnt die gerade vollzogene räumlich-zeitliche Ausdehnung noch weiter aus, zieht sie mit in den nächsten Teil des Stücks, oder, mit Nancy gesprochen: »trägt die Form fort«49. Während Nancy den Klang als Verräumlichung versteht, der Außen und Innen der Körper durchdringt und tangiert, meint für Adorno, der Musik bloß als Zeit- und nicht als Raumkunst verstanden wissen möchte, der Begriff Verräumlichung eine stilistische Schwäche der Musik Stra47 | Cage, John: »A Movement, a Sound, a Change of Light (1964)«, in: ders.: John Cage. Writer. New York 1993, S. 91f. zit.n. Motte-Haber, Helga de la/Rilling, Lydia/ Schröder, Julia H. (Hg.): Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts. Bd. 2, Laaber 2011, S. 78. 48 | Es wird eine Aufnahme des Columbia Symphony Orchestra New York, in der Strawinsky selbst dirigiert, verwendet. Die Musik wird in einzelnen Abschnitten eingespielt, so dass sie an den zeitlichen Ablauf einer jeden Aufführung angepasst werden kann. 49 | Nancy, Zum Gehör, S. 9.

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winskys, hervorgerufen durch ihre »immanente Zeitlosigkeit«50. Strawinsky unterliege mit seiner »räumlich-flächenhafte[n] Konzeption der Musik«51 einer Tendenz der Verräumlichung der Zeit, womit die Beschaffenheit der Musik als Zeitkunst verschwinde und die Musik die Malerei nachahme. Vielleicht hat Adorno Recht und die gerade beschriebene, für die Angaben von Strawinskys Partitur zu lange Pause, die Chétouane und Schmidthals zwischen ihre beiden Teilen setzen, ist nötig, um zwischen den rücksichtslos treibenden Rhythmen die Spannung mit der Zeit austragen zu können. Mit dieser Öffnung in der Mitte von Strawinskys Komposition und in der Mitte von Sacré Sacre du Printemps befreien Chétouane und Schmidthals die Zeit wieder vom linearen Fortschreiten von Sacre, so wie es zu Beginn und Ende des Stücks die beiden rahmenden Kompositionen Schmidthals’ versuchen. Doch hinsichtlich der so ermöglichten Entfaltung der Choreographie, ihrer räumlich-zeitlichen Ausdehnung in der doppelten Mitte, lässt sich die Zeit nicht vom Raum getrennt betrachten. Eine Gegenüberstellung von Raum- und Zeitkunst, wie sie Adorno vornimmt, wäre hier, im Zusammenspiel von Musik und Tanz, also, wie es nicht nur die Äußerungen Nancys, sondern auch Cages andeuten, obsolet zu nennen. Die erste Seherfahrung, so legen die hier akzentuierten Aspekte der zwei Choreographien nahe, sollte, gerade in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Theater und Tanz, um die Erfahrung eines Hörens ergänzt werden, das auch auf vermeintliche Marginalien der Aufführungen achtet. Wichtige Setzungen in den beiden untersuchten Stücken transportieren sich erstens nicht allein optisch und zweitens eher beiläufig, am Rande dessen, was zunächst die Aufmerksamkeit gefangen nehmen mag. Aber gerade eine Konzentration auf das vordergründig Wesentliche, Bedeutsame gerät in Gefahr, die Stücke als Ganzes aus den Augen zu verlieren – oder aus den Ohren.

50 | Adorno, Strawinsky, S. 386. 51 | Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 175.

Gegen-Blicke – Noten zur Aufführung

Überschritte Jurgita Imbrasaite

S acré S acre Eine sanfte unregelmäßige Bewegung durchzieht den Mund, den Kiefer, die Zunge eines jeden der sieben Tänzer in Sacré Sacre du Printemps. Glaubt man sich erst versehen zu haben, so tauchen diese Regungen doch wie eine Krankheit immer wieder auf, parallel und scheinbar unabhängig von den Bewegungen der Körper. Manchmal gehen sie in einen Schrei oder Laut über, bis sie allmählich an einen Artikulationsversuch oder die Vorstufe einer Mitteilung erinnern. Als ob hier die geheime Wahrheit eines Diskurses auf dem Weg wäre, sich zu offenbaren. Das Epochenwerk Le Sacre du primtemps (1913) selbst mit einer Opferung zu versehen, bedeutet bei Laurent Chétouane keineswegs eine Absage an ein ›veraltetes Material‹. »Das Opfer ist die Öffnung und Überschreitung der Welt«1, so der Philosoph Jean-Luc Nancy. Die Opferung der Opferung ist somit ein Appell zu einer (verlorenen) Öffnung. Es ist der Versuch einer Gemeinschaft, das auszulöschen, wodurch sie zur Gemeinschaft geworden ist. Statt ein Opfer auszustoßen, um seinen Zusammenhalt zu begründen, opfert hier ein Chor diese Form von Begründung, in der Hoffnung, ein Mit-Sein2 zu evozieren, in dem der oder das Fremde fremd bleiben kann. Sacré Sacre verzichtet auf beinahe provokative Weise darauf, das Ballett so zu opfern, wie dies der zeitgenössische Tanz bereits per definitionem tut. Im Unterschied dazu begeben sich die Tänzer in einen immer wie1 | Jean Luc-Nancy im Gespräch mit dem Forschungskolloquium der Bochumer Theaterwissenschaft in Straßburg am 25. September 2014. 2 | Vgl.: Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Zürich/Berlin 2004.

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derkehrenden Flirt mit dem Vokabular des Balletts: mit einer Beständigkeit und untypisch für andere Tanzarbeiten Chétouanes bewegen sich die Darsteller in relevé durch den Raum, tragen die Arme in der zweiten, dritten oder fünften Position – ohne diese jedoch zu erfüllen. Der Lauf mit ausgedrehten Füßen in demi-plié wirkt schwerelos, obwohl die kurzen Hosen der Darsteller die starke Muskelanspannung entblößen. Die Choreographie birgt ebenfalls zahlreiche jetés; vereinzelt oder teilweise synchron erheben sich die Tänzer elegant vom Bühnenboden und kombinieren den Sprung mit einer halben pirouette. Hier wird mit der Elevation des Körpers und anderem Bewegungsmaterial gespielt, mit dem das 20. und das 21. Jahrhundert zu brechen suchten. Nichtsdestoweniger öffnet sich Sacré Sacre auch hin zu den schweren Stampfschritten, der »Verbundenheit mit der Erde«3 und der reigenartigen Bewegungsanordnung des Sacre von 1913. Weder dem einen noch dem anderen verpflichtet, ermöglicht Sacré Sacre einen ästhetischen Zwischenraum, in dem ein Tanz jenseits seiner heutigen Verpflichtung zum Fortschritt stattfinden kann, und erlaubt dadurch eine Dezentrierung4 der tanzhistorischen Perspektive.

Tanz nach dem B alle t t Trotz eines großen Unbehagens in Bezug auf das Ballett und wiederholter Überwindungsversuche seiner Dominanz im Tanz seit Beginn des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt durch Le Sacre du printemps – befinden wir uns heute, historisch gesehen, noch lange nicht nach dem Ballett. Der

3 | »Ich möchte der ganzen Komposition das Gefühl der Verbundenheit des Menschen mit der Erde geben, und das versuche ich in lapidaren Rhythmen auszudrücken. Die ganze Sache muß von Anfang bis Ende im Tanz ausgedrückt werden, kein Takt pantomimischer Darstellung.« Aus Briefen von Igor Strawinsky, in: Scherliess, Volker: Igor Strawinsky. Le Sacre du Printemps. München 1982, S. 10. 4 | »Subversion can not occur either through revolution (in the sence of simply changing the center arround which our world revolves) or throuht that which, in our postmodern times, we like to call the ›absent center‹, or the absence of any center. In Lacan’s view, the subverting point is a center which is not a the center, subsisting in its decentering.« Zupančič, Alenka: The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two. Massachusetts 2003, S. 114.

Überschritte

Gründung dieser Kunst liegt eine episteme5 zugrunde, die bis heute an Aktualität nicht verloren hat. Mit dem Ballett erscheint im 17. Jahrhundert nicht eine unter vielen möglichen Tanzformen, sondern die Bedingung des Tanzes als autonome Bühnenkunst überhaupt. Wenn Louis XIV 1661, direkt nach der Erlangung seiner Alleinherrschaft, die Académie Royale de Danse gründet, so legt er den Grundstein für den Tanz als frühmodernen Wissensdiskurs und als akademische Disziplin. In den Gründungsbriefen der Académie befiehlt er, alle Entscheidungen in Sachen Tanz in die Hände der ernannten 13 Akademiker zu übergeben, ohne dass diese durch irgendeine Autorität eingeschränkt werden sollten. Diese Geste stellt ein frühes Symptom für die mannigfache gesellschaftliche Verschiebung vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität dar.6 Das Ballett wird somit nicht in einer herrischen vormodernen Ordnung zur Kunstform, sondern als eine Disziplin, die einen gelehrigen Körper 7 anruft, welcher Foucault zufolge einen Grundstein der neuzeitlichen Biopolitik darstellt.8 Das Ballett als moderne episteme des Tanzes ist tief eingelassen in unsere Gesellschaft der Wissenshegemonie und schreibt sich jenseits vermeintlicher Revolutionen bis heute fort. Als Diskurs der Wissenschaft liegt der Körper auch dem zeitgenössischen Tanz immer noch zugrunde: Heute ist der Körper ein Untersuchungslabor für seine Inskriptionen, seine Grenzen, für gesellschaftliche Projektionen und Manipulationen.9 Die künstlerische Tätigkeit rückt selbst näher an die des Wissenschaftlers heran. Nicht zufällig sind Analyse, Lecture(-Performance) und Recherche zu geläu5 | Hier beziehen wir uns auf die Foucaultsche Verwendung des Begriffes. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1974. 6 | Vgl. Lacan, Jacques: »Seminar XVII. The Other Side of Psychoanalysis«, in: Miller, Jacques-Alain (Hg.): The Seminar of Jacques Lacan: Book XVII: The Other Side of Psychoanalysis. New York 2008, S. 11ff. Der Diskurs des Herrn im historischen Sinne steht für monarchische Souveränität; der Diskurs der Universität für die moderne Wissensgesellschaft. 7 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1994, S. 173ff. 8 | Vgl.: Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a.M. 1983, S. 129ff. 9 | Vgl.: Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld 2006; Lepecki, André: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Berlin 2008.

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figen Begriffen im Tanz geworden. Genau das, was so oft als die erfolgreiche Überwindung des Balletts ausgelegt wird, scheint doch im Gegenteil in die Fußstapfen der frühmodernen akademischen Determination des Tanzes zu treten und zwar in einer gouvernementalisierten Gestalt. Den fiktiven Bruch zwischen Ballett und dem Tanz der Gegenwart auf eine minimale Differenz zu reduzieren, bedeutet eine Verschiebung10 zu denken, die nicht mehr darauf zielt, das alte Zentrum (Ballett) durch ein neues (Modern Dance oder zeitgenössischer Tanz) zu ersetzen, sondern vielmehr die Möglichkeit eröffnet, das Phänomen Bühnentanz, seinen zeitgenössischen Diskurs und seine Geschichte unter einer unzeitgemäßen analytischen Perspektive neu zu analysieren. Die Opferung der Opferung in Sacré Sacre könnte ein anderer Name für diese Verschiebung sein.

10 | Die hier gemeinte Verschiebung ist die explizite Verschiebung der Dezentrierung: »It is possible to think of it as discourse, yet it is constructed around a fundamental decentering on account of which it is also always an awry perspective on discursivity as such. It is a perspective on discursivity from within discursivity. One could also say that analytic discourse is the Lacanian matheme for the discursivity of the event as that which appears as the reverse side of any discourse or discursivity.« Zupančič, The Shortest Shadow, S. 115.

Ethik des Zusammenseins Gedanken zu Sacré Sacre du Printemps von Laurent Chétouane Irmela Kästner

Vaslav Nijinsky hatte 1913 mit der Konvention gebrochen. Das Ballett in seiner mathematisch konstruierten Sinnhaftigkeit von Raum und sich darin bewegenden Körpern war seinem Tanz nicht angemessen. Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit stampfte er den Boden – und blieb damit nicht allein. Le Sacre du printemps: ein Jahrhundertwerk. Warum arbeiten sich Choreographen bis heute in weitgehend gleicher Weise an der Musik, vor allem aber an dem Thema und dem Motiv des erdverbundenen Opferkults ab? Bezeichnend ist, dass die Hingabe des Körpers an die Schwerkraft die gesamte Entwicklung des modernen wie des zeitgenössischen Tanzes durchzieht und dabei sinnstiftendes Motiv und existentieller Zustand ist. Schleudern, stoßen, fallen: Bis Ende der neunziger Jahre ist es der geschundene Körper, der virtuos ausgestellt die Szene dominiert. Hoc est enim corpus meum. Für den französischen Philosophen JeanLuc Nancy offenbaren sich Angst, Sinn und Begehren unserer abendländischen Kultur in der einen rituellen Formel: Dies ist mein Leib. „Für uns ist der Körper stets geopfert: Hostie“1, schreibt er in seinem Text Corpus. Das Opfer ist fest eingeschrieben – in unsere Körper, die Gesellschaft und Kultur gleichsam widerspiegeln. Der Zwang zur Wiederholung erscheint als psychologische Notwendigkeit und hemmt doch jeglichen Fortschrittswillen. Wir stecken fest, drehen uns im Hamsterrad. Ästhetisch wie auch ethisch.

1 | Nancy, Jean-Luc: Corpus. Berlin 2003, S. 11.

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Irmela Kästner

O pfer S inn U topie Laurent Chétouane weiß um die Einschreibungen der Körper. Deren ungemein beredte Präsenz auf der Bühne verschränkt er mit dem bewussten Blick seitens seiner Tänzer zurück ins Publikum. Mehr als der moderne Tanz inspiriert ihn das Ballett. Als Möglichkeitsraum. Ästhetisch und sozial. Als Konstrukt, das Bewegung, Begegnung, Formation, Isolation, Zusammensein weniger vor- oder festschreibt als anbietet. Und diesem Angebot spürt er in allen erdenklichen Weisen nach. Dabei steht weniger der Auf bau einer Figur oder einer Formation auf einen möglichst perfekten Endpunkt hin im Fokus als vielmehr deren Auflösung. Der Zerfall birgt erst die Möglichkeit für neue Sichtweisen. Somit stellt sich bei Chétouane die Frage nach einer zuvor angesprochenen Sinnhaftigkeit aus umgekehrter Perspektive. Einer Perspektive der Auflösung und nicht der Anhaftung. Sinn, wie ihn Choreographie in einem herkömmlichen Duktus durch die Tanzgeschichte hindurch bislang vorschreibt, beginnt vor den Augen des Zuschauers förmlich zu zerbröseln. Das ist keineswegs sinnlos, sondern verströmt etwas ungemein Tröstliches. Sein Tanz mag auf den ersten Blick irritieren. Doch im Zögern und Zaudern liegt das Potential eines weniger festgeschriebenen als spielerisch suchenden Miteinander-Seins auf der Bühne, in dem sich Emotionalität im Tanz neu und unbefangen zeigt. Braucht es einen Konflikt, eine Ausgrenzung, damit eine Gruppe sich als zusammengehörig identifiziert? Sacré Sacre: Für Chétouane ist es an der Zeit, den ewigen Kreislauf zu durchbrechen, die Opferung zu opfern.

E nsemble als I dee von G emeinschaf t Der Choreograph reißt Fenster und Türen auf – ganz konkret, wenn ein Theaterort die Möglichkeit dazu bietet – und lässt den Wind hinein fegen. Er durchbricht damit die Abgeschlossenheit des Bühnenraums und macht die Luft zu seinem Element. Als Metapher, um das Zusammensein zu untersuchen. „Die Luft ist etwas, das du nicht kontrollierst, das du nicht besitzt, das keine Grenze kennt, [...] das uns alle verbindet in einer höchst demokratischen Weise“2, sagt Chétouane. Und die Luft kennt kei2 | Laurent Chétouane im Interview mit Irmela Kästner, Hamburg, 1.12.2012.

Ethik des Zusammenseins

ne Zeit. Vielmehr: Sie bewegt sich nicht in einer Zeit. Zeitläufe schieben sich ineinander. Die Zeit bekommt in der Arbeit von Laurent Chétouane eine besondere Funktion und Bedeutung. Sie durchdringt den Raum in Schichten. Auf ein Hier und Jetzt zu beharren, wäre pure Illusion, eine simplifizierte Behauptung. Chétouanes Tänzer lassen den Moment zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft oszillieren. Jede Wiederholung ist ein Neu-Denken, ist Neuanfang und Déjà-vu gleichermaßen, ist Kontinuität. Ist fremd und weckt gleichsam Erinnerungen. Ist Vision und Geschichte.

I m S inne des T änzers Laurent Chétouane stellt sich den großen Fragen und Themen des Theaters, des Tanzes, der Bühne. Dabei durchbricht er herkömmliche Gefüge von Raum und Zeit. Vor allem aber hat er den Tänzer neu entdeckt, hat ihm im Innern seines Denkens, Fühlens und Handelns Räume geöffnet, durch die Choreographie existentiell erlebbar wird. Die Tänzer erschaffen ihre Idee von Gemeinschaft. Und genau darin liegt für den Choreographen der Kern für die Entwicklung einer eigenen Sprache, einer choreographischen Handschrift. „Als Modell des Zusammenseins. Als ein Angebot, als strukturierendes Element, als eine Utopie“.3 Innerhalb und nicht dazwischen ist die radikale Alterität angesiedelt, so formuliert sinngemäß die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak. Chétouanes Entwurf von Tanz zelebriert in seiner Durchlässigkeit in lustvoller Weise das Unabgeschlossene. Darin lebt eine emanzipatorische Verheißung auf, die das heutzutage weitgehend redundante Motiv der Opferung ob als Ausschluss, als Grenzziehung oder als Selbstvergewisserung hinter sich gelassen hat.

3 | Ebd.

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Diesseits der Exegese Notizen für ein Gespräch über Sacré Sacre du Printemps 1 Franz Anton Cramer

Die choreographischen Projekte von Laurent Chétouane scheinen sich einem herkömmlichen exegetischen Zugriff auf merkwürdige Weise zu entziehen. Seit der Tanzstück-Reihe (2007 bis 2009) gelingt es Laurent Chétouane, jeweils das Spezifische von Bewegung insgesamt, aber auch das Idiosynkratische des einzelnen Tänzers und seiner eigenen Bewegung ansichtig zu machen. Dies ist zweifellos ein »choreographisches Verfahren«, das sich vom »darstellerischen Verfahren« des Theaters unterscheidet. Die Tänzer legen nicht »etwas« dar, das entschlüsselt werden müsste. Dennoch ist diese Arbeitsweise nicht auf sich selbst bezogen, denn es geht eben nicht nur um das kinetische Potential des Körpers/ Tänzers, sondern auch um den Raum des Künstlerischen in der Bewegung als Raum des Austauschs, der Gemeinsamkeit und der Bruchstellen, die sich im Sozialen auftun. Drei Themen bieten sich an, um die Diskussion zu orientieren: Temporalität, Theatralität, Individualität.

Tempor alität Die Erkundung des Unvorhersehbaren ist spätestens seit Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen) und Hommage an das Zaudern in den Vordergrund 1 | Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf die einleitenden Worte zum Abschlusspanel mit Jean-François Peyret, Cécile Schenck und Danielle Cohen-Lévinas während des Symposiums Sous le regard de l’étranger. Le travail de Laurent Chétouane am 14. Juni 2013 im Goethe Institut Paris.

Diesseits der E xegese

der choreographischen Arbeit gerückt. In Sacré Sacre ist das Thema womöglich noch deutlicher benennbar. Das Stück umgibt sich einerseits mit einem musikalischen Mythos, andererseits ist die Anzahl der Tänzer vergrößert.2 Die tänzerische Bewegung wurde von aller technischen Strukturiertheit entkleidet. Tanz, so die traditionellen Definitionen, zeichnet sich neben anderen Eigenschaften vor allem durch die Erkennbarkeit in den Bewegungen aus. Gemeint ist damit die Zergliederung des Bewegungsbildes in zeitliche Mikroeinheiten; sie stützen sich auf eine vorgegebene Abfolge von Formen, die vom Technischen her gedacht und damit weitgehend vorhersehbar ist. Technik verstehe ich dabei nicht notwendig als Virtuosität, sondern als Künstlichkeit: eine beständige Mitteilung darüber, wohin die Bewegung führen, welches der nächste Schritt sein, wie die Sequenz enden wird. Durch diese Selbstverpflichtung des Tanzes auf eine Art der Sichtbarkeit, die immer nur erfüllt, was bereits angekündigt wurde, bleibt der Tanz unweigerlich der »klassischen« Zeitauffassung verhaftet. Anstatt die Bewegung als autonomen, der Zeitstruktur gleichsam enthobenen Moment zu präsentieren, hüllt der Tanz im herkömmlichen Sinne die Bewegung nur in eine zeitliche Artikulation. Dabei kann wahrhafte Präsenz als Gegenwärtigkeit – als Epiphanie vielleicht – doch nur da entstehen, wo die Gegenwart ihre Zukunft nicht voraussehen lässt, weder in der Form noch in der Energie. Sacré Sacre realisiert einen großen Schritt hin zu einer reinen Gegenwartsbewegung ohne Rekurs auf eine Zeitstruktur, die dem Tanz und seinem Begehren nach dem Jetzt zuwiderläuft.

The atr alität Die (Tanz-, Theater-)Dramaturgie konstruiert in der Regel auf die eine oder andere Weise eine Art Handlungsvorgabe im weitesten Sinne, um die Zwangsläufigkeit der Handlungsentscheidungen zu begründen bzw. herzustellen. Dieser Logik folgt Sacré Sacre nicht. Auch wenn nichts beliebig wirkt oder im Ungefähren verbleibt, lässt doch auch nichts auf eine vorhergehende Rahmenhandlung oder Handlungsstruktur schließen. Man erkennt eine Stimmigkeit im Ablauf, aber keine Zwangsläufigkeit. 2 | Sacré Sacre ist mit sieben Tänzern besetzt, die anderen Stücke mit maximal fünf.

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Franz Anton Cramer

Angemessener scheint der Terminus »Begründung«: ein »Grund«, aus dem das künstlerische Handeln sich herleitet und speist, ohne ein Struktursystem auszustellen. Die Praxis des Aufführens als gemeinsamer Augenblick – als moment de partage – obsiegt über das Konstruktive.

I ndividualität Individualität wird fast immer als zentrales Thema des Tanzes bezeichnet. Sacré Sacre scheint einen Ausweg aus diesem Paradigma zu weisen. Nicht als Auszug aus dem Paradies, sondern eher als ein Auszug aus der platonischen Höhle. Die Tänzer sind im gleichen Augenblick damit beschäftigt, »ein Ensemble« zu formen und »solistisch« zu agieren; sie scheinen aber niemals davon beklemmt zu sein, »sich selbst darstellen«, ihre Eigenheit zeigen oder hervorkehren zu müssen. Das bedeutet nicht, sie seien als Individuen unkenntlich und figurierten bloß als Agenten ihrer Bewegungswege. Vielmehr scheinen sie von einer darstellerischen Umhüllung befreit, um einen ganz erstaunlichen Zustand der Abwesenheit von Bedeutung zu erreichen. Die Choreographin Wanda Golonka sagte einmal im Gespräch: »Wir sind niemals frei, weil wir immer wir selbst sind.« Bei Sacré Sacre wird eine paradoxe Freiheit sichtbar, weil es kein »man selbst« mehr gibt.

Das Fremde bleibt aus Gedanken zu Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Gerald Siegmund

In Laurent Chétouanes choreographischer Arbeit Sacré Sacre du Printemps steht die Frage nach dem Opfer und der auf dem Opfer basierenden Vorstellung einer Gemeinschaft im Raum, die das Stück mit seinen drei Tänzern und vier Tänzerinnen zu beantworten sucht. Das Fremde im Theater zu artikulieren und aufscheinen zu lassen, ihm inmitten bekannter Formen einen Platz einzuräumen, ist ein schwieriges Unterfangen. In Chétouanes Version bleibt das Opfer überraschenderweise aus. Damit bleibt aber auch die Vorstellung eines der Gemeinschaft Heterogenen, Fremden und nicht in die Gemeinschaft integrierbaren Moments aus, das im Inneren ihre Immanenz bedrohte und die Gemeinschaft teilte.1 Hatte Pina Bausch in ihrer Sacre-Version von 1975 die aggressive Sexualität und die brutale, die Körper zerreißende Gewalt wie ein offene Wunde fragend in den Raum gestellt, herrscht in Chétouanes Choreographie ein friedvolles Treiben von vordergründig nicht sexualisierten Körpern.2 Das Fremde bleibt aus. Es findet nicht statt. Welche Gründe gibt es dafür und wo ist das Fremde in der Choreographie vielleicht doch noch zu finden?

1 |  Girard, Réne: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a.M. 1992. 2 |  Siegmund, Gerald: »Rot und Tot: Der Körper als Fragezeichen in Pina Bauschs Le sacre du printemps«, in: Brandstetter, Gabriele/Klein, Gabriele (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps«. Bielefeld 2007, S. 59-71.

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Gerald Siegmund

E ine einheitliche B e wegungsspr ache Der erste Grund für das Ausbleiben des Fremden ist sicher die Bewegungssprache der Tänzerinnen und Tänzer. Sie folgt zunächst keiner tradierten Tanztechnik mit daraus abgeleiteten Bewegungscodes, sodass sich hier auf den ersten Blick sicher ein Moment der Störung ausmachen ließe, obwohl das Hybride, Noch-Nicht-Codierte seit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Credo des modernen Tanzes geworden ist. Obwohl die Bewegungen also keinem etablierten Code folgen, gibt es dennoch ein Bewegungsvokabular. In Sacré Sacre initiieren Chétouanes Tänzer ihre Bewegungen überwiegend aus den Schultern und den Knien heraus, wobei das Becken nur manchmal unterstützend eingreift. Dagegen wird der Rückenbereich so gut wie nicht benutzt. Die Bewegungen sind stets am Umraum des Körpers und hier an der horizontalen und vertikalen Achse vor dem und seitlich vom Körper orientiert. Damit verlassen sie das achsensymmetrische Modell des klassischen Balletts nicht. Hinzu kommen einige wenige Bewegungen wie die in verschieden Winkeln ausgestreckten Arme, das Gehen in den Knien oder auf Halbspitze, leichte Drehungen, um Richtungsänderungen zu initiieren. Immer wieder fallen die Bewegungen auf den einzelnen Körper zurück, die die Körper merkwürdig in sich ruhend und zentriert erscheinen lassen. Auf der inhaltlichen Ebene wird uns also nahegelegt, dass die Einzelnen den Anderen niemals erreichen können, mithin nie zu einer ungeteilten Gemeinschaft kommen können. Dass die Choreographie auf jegliche Synchronizität in den Bewegungsabläufen verzichtet, wiewohl sie Einsätze durch Atmung strukturiert, unterstreicht den Charakter der Tänzer als Singularitäten.3 Chétouane vermeidet die choreographische Gleichschaltung. Da aber alle sieben Tänzer und Tänzerinnen den gleichen Prinzipien folgen, entsteht unweigerlich das Bild einer auf sich abgestimmten und homogenen Gemeinschaft, die ihr Telos, das befriedete Zusammenleben ohne Gleichschaltung, längst erreicht hat und in ihrem Tun abbildet. Das, was die Choreographie inhaltlich verhandelt, hat sie auf der formalen Ebene also längst widerspruchsfrei eingelöst.

3 |  Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Berlin/Zürich 2004.

Das Fremde bleibt aus

D as kulturelle G edächtnis der Z uschauer Ein Körper kommt selten allein. Die Choreographie zeigt auch, dass alle Körper immer schon plurale, aus fremden Körpern bestehende Körper sind. Das Eigene und das Fremde lassen sich nicht voneinander trennen. Das lässt sich neben dem Gedächtnis der Tänzerkörper, die immer auch andere Sprachen tanzen, außerdem am Blick der Zuschauer festmachen, der gar nicht umhin kann, mögliche Referenzen und Zitate aus anderen Bewegungssprachen zu erkennen und diese der Aufführung als Bekannte zu unterstellen. So lassen sich in Sacré Sacre du Printemps in den kleinen Hüpfern und den Sprüngen der Tänzerinnen und Tänzer leicht Verweise auf Trisha Browns oder Anne Teresa de Keersmaekers Varianten des postmodernen Tanzes erkennen. In seiner Abwesenheit ebenso präsent ist der Stil Merce Cunninghams mit seinen aufrecht gehaltenen Torsi, die lateral abkippen oder seinen schreitenden Schritten, mit denen die Tänzer flink den Raum durchmessen. Und wer zu Beginn genau hinschaut, wird unweigerlich die angewinkelten Arme und abgeknickten Hände aus Vaslav Nijinskys Choreographie L’Après-midi d’un faune erkennen.

D ie A rbeit am V orbild Überhaupt scheint die Choreographie auch Reflexion auf und Bearbeitung von Nijinskys fremder und zur Zeit der Uraufführung 1913 befremdender Bewegungssprache zu sein. Auch hier gibt es also Vorbilder für das Fremde. Die Flächigkeit der Tänzer, ihre Bildhaftigkeit, die mit jeder Wendung ihrer Körper nur mehr die Rückseite eines Blattes Papier zeigt, ihre Raumlosigkeit, knüpft nicht nur an Nijinskys Experimente mit der Fläche im Faun an. Vielmehr folgen auch seine zu regelrechten Blöcken verdichteten Gruppen in seiner legendären Sacre-Arbeit einem Bildprinzip, das sie wie ausgeschnittene Kartonteile im Bühnenraum gegeneinander stellt. Hinzu kommen bei Chétouane die auffälligen Auf- und Abwärtsbewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, die Arbeit an der vertikalen Linie im Senken und Heben der Körper, die Nijinskys legendäres Stampfen aufgreifen und in bedächtige Schönheit überführen. Weil die Körper in Chétouanes Arbeit überwiegend ihre Vorder- und Rückseite als Flächen zeigen, gewinnen sie – im Gegensatz etwa zu William Forsythes multizentrischen Körpern – kein räumliches Volumen. Wie leichte Blät-

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ter im Wind trudeln die Tänzer im Bühnenraum umeinander, vereint in einer gemeinsamen, in ihren wenigen Elementen immer wiederkehrenden und dadurch zum Stil gewordenen Bewegungssprache, die die Körper im Laufe der Aufführung in bekannte Körper überführt. Sind die Körper choreographisch in den Raum hineinplatziert, so öffnen sie diesen doch immer wieder für einzelne Momente. Fragend richten die Tänzer, dicht vor dem Publikum stehend, ihre Blicke in den Saal. Dies ist kein tänzerisches Moment, sondern ein Moment, in dem das Theater den Tanz unterbricht, der Theaterraum den choreographischen Raum aussetzt, um die Frage nach der Gemeinschaft im Hier und Jetzt ans Publikum zu stellen. Doch was das Theater anscheinend nicht weiß, hat uns der Tanz als Form längst gezeigt. Die Frage ans Publikum ist eine rhetorische Frage.

A usser sich sein und doch G leich sein Trotzdem gibt es in Laurent Chétouanes Sacré Sacre kleine Verstörungsmomente, welche die geschlossene und homogene Form als Bild einer um sich selbst kreisenden, sich einander zuneigenden Gemeinschaft von Singularitäten in Bewegung versetzen. Die Tänzer sind außer sich. Ihr Fokus, ihre Wahrnehmung, ihr ganzer Körper ist auf die anderen Tänzer im Raum gerichtet. Bis in die Bewegung ihrer verzerrten Gesichtsmuskeln hinein versuchen die Tänzerinnen und Tänzer die Kontrolle über ihre Bewegung an den anderen im Raum abzugeben. Das, was die Tänzerinnen und Tänzer tun, orientiert sich mithin an den anderen. Das Eigene, Individuelle wird abgestreift, es wird geopfert. In einer Verkehrung des Opfergedankens wird hier das Eigene, Charakteristische, das eigentlich das Resultat einer doppelten Opferung ist, nicht durch das Opfer erzeugt. Es wird im Ausbleiben des (zweiten) Opfers selbst geopfert. Die Tänzer verzichten darauf, sich das, was ihnen die symbolische Ordnung im ersten Opfer an Lust und Triebbefriedigung gestohlen hat, wiederzuholen, um in diesem antagonistischen Akt zu Individuen zu werden.4 Bei Chétouane bleiben sie stattdessen dem Symbolischen überschrieben. Ohne zumindest den Versuch einer Individuation (und nicht des Singulären) 4 |  Žižek, Slavoj: Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus. Frankfurt a.M. 1998, S. 117-153.

Das Fremde bleibt aus

also gibt es kein Fremdes. In solchen prekären Momenten des Kontrollverlusts jedoch, die aufgrund der mimetischen Fähigkeit des Köpers zu lernen mit jeder gezeigten Vorstellung immer bedrohter werden, gehen Formsetzung und Formauflösung Hand in Hand. Zwischen Zerstörung und Setzung, weder ganz bei sich noch ganz außer sich, bewegen sich die Körper gleichzeitig auf einander zu und von einander weg in einem Zwischenraum, der unentscheidbar macht, wer die Kontrolle über ihr Tun besitzt. In diesen Momenten der Destabilisierung liegt das größte Potential der Aufführung. Doch das Fremde, Andere, dem die Tänzerinnen und Tänzer sich überlassen, ist auch hier im Prinzip nicht das Fremde, weil es auf der ontologischen Ebene der Fürsorge im Mitsein nur Gleiches gibt. Der Agon findet nicht statt. Das Fremde bleibt aus.

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Im zynischen Blick der Kultur Thriller der Untoten in Sacré Sacre du Printemps Helmut Ploebst

Vertraut und bedrohlich zugleich erscheint der Andere aus der Ferne.1 In der Annäherung verstärkt sich einer dieser Eindrücke: Das Gegenüber wird klassifiziert. Die Wahrnehmung löst einen unheimlichen Prozess aus: Zwei, die einander mustern, erzeugen in sich jeweils ein virtuelles Modell des Anderen, einen Perzeptions-Avatar, der sein reales Vorbild parasitiert.2 Dieses Modell ist die Basis dafür, dass der körperliche Andere, der nach Jean-Luc Nancy »[s]ein ganzes Leben lang […] auch ein toter Körper«3 ist, durch digitale Avatare oder analoge Puppen ersetzbar sein kann – auch, wenn es ihn in Fleisch und Blut gar nicht gibt. Mit dieser Objektlibido4 spekuliert etwa Spike Jonze in seinem Film Her (USA 2013), der von der Liebe eines Mannes zu einem sprechenden Computerprogramm namens Samantha handelt. Er transformiert die Körperlose in sein Libido-Objekt. Diesen von seinen Erzeugern als Illusion des Lebendigen 1 | Merleau-Ponty spricht von der »Wahrnehmungserfahrung des anderen«, in der »die Bedrohung wachgerufen wird, die die Vielheit der bewussten Wesen ihr auferlegt«. In: Merleau-Ponty, Maurice: Das Primat der Wahrnehmung. Frankfurt a.M. 2003, S. 52. 2 | Der »auf mich gerichtete Blick« des Anderen »beraubt mich […], mich seinem Felde einverleibend, eines Teils meines Seins«. In: Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 409. 3 | Nancy, Jean-Luc: Corpus. Berlin 2003, S. 18. 4 | Zur Objektlibido vgl. u.a.: Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: Gesammelte Werke, Bd. V. Hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, S. 118f.

Im zynischen Blick der Kultur

gelieferten, an die Hoffmannsche Olimpia erinnernden Automaten vereinnahmt der Mann als untote Andere. Kulturelle Gemeinschaften wiederum neigen dazu, ihre Mitglieder in Objekte zu verwandeln. In Strawinskys und Nijinskys Ballett Le Sacre du printemps beispielsweise wird ein Mädchen über ihr virtuelles Modell als einem Frühlingsgott gefällige Jungfer in das Objekt eines Ritus verwandelt. Als »Auserwählte« wird die Todgeweihte noch »verherrlicht«, und Tote (»Ahnen«) werden beschworen. Erst jetzt beginnt die finale ἔκστασις, das »aus sich Heraustreten« des tanzenden Objekts, der willenlosen, untoten Sklavin von Sklaven eines kulturellen Phantasmas. Diesen Diskurs weitergeführt zeigt John Landis’ Musikvideo von Michael Jacksons Hit Thriller (1983). Die Frau in dem Plot geht mit ihrem von Jackson dargestellten Freund, der den Song singt, nächtens an einem Friedhof vorbei. Aus den Gräbern steigen die Toten und formieren sich zu einer Tanzgruppe. Auch Jackson verwandelt sich in einen Zombie. Die Frau flüchtet sich in ein Haus. Die Monstren dringen ein, greifen nach ihr und … sie wird von ihrem liebevollen Freund aus diesem Albtraum geweckt. Er legt ihr den Arm um die Schultern, doch als die beiden weggehen, dreht er sich um und blickt die Zuschauer an: grinsend und mit den aufgerissenen Augen eines Untoten. Anstatt nun aber der Spur der danse macabre zu folgen, scheint es im Hinblick auf Laurent Chétouanes Arbeit Sacré Sacre du Printemps sinnvoller, auf eine zeitgenössische Beobachtung zu referieren. In dem Video Dancing Inmates tanzen 1.500 Insassen eines Gefängnisses zu Jacksons Song die Formation in Landis’ Thriller-Video nach. Die Kulturwissenschaftlerin Michaela Wünsch streicht den hier unvermeidlichen »Eindruck des Fremdgesteuerten« hervor und schließt auf Jacksons Clip zurück, den sie »als Allegorie darauf« liest, »dass man im Musikbusiness zu einer_m Untoten wird, die_der nur noch mechanisch und ohne eigenen Antrieb und Leidenschaft tanzt«.5 Die Gefangenen tanzen wie die Massen im nordkoreanischen Arirang-Festival: entindividualisiert unter einem totalitären Regime. Willenlos folgt die Gemeinschaft in Le Sacre du printemps dem kulturellen Zwang, die Frau zu töten. Chétouane lässt diese Figur, die auch im 5 | Wünsch, Michaela: »Zombies unter Einfluss des Todestriebs«, in: Fürst, Michael/Krautkrämer, Florian/Wiemer, Serjoscha (Hg.): Untot. Zombie Film Theorie. München 2011, S. 188.

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Gefangenentanz fehlt, weg. Dafür zeigt sich nun die Gemeinschaft auf der Bühne als eine Gruppe von Zombies. Als Willenlose, die einem systemischen Diktat folgen – wie die Zombies in William Buehler Seabrooks Buch The Magic Island (1929), die als Sklaven auf einer Zuckerrohrplantage arbeiten. Die Untoten bei Chétouane symbolisieren deren Kadavergehorsam gegenüber ihren kulturellen Maximen, die sie zu Mördern werden lassen. Was dies für das Publikum der Aufführung bedeutet, lässt Landis Michael Jackson vorspielen. Das weibliche Opfer im Thriller-Video ist die einzige Figur, die nicht mittanzt, sondern vom zombifizierten System gegängelt, gejagt und mit falscher Zuwendung umarmt wird. Als Repräsentantin des Publikums gelesen, verweist die letzte Szene darauf, dass die zombiehafte Popindustrie auch ihre Endverbraucher in willenlos ekstatische Mittänzer zu verwandeln sucht. Sobald sie ihren zynischen Verführungen vertrauen, werden sie gefressen und verwandeln sich selbst zu Untoten. In Jacksons Blick zurück stellt sich also das totalitäre Spektakel selbst als der zynische Blick einer gefängnishaften Kultur vor.

Aggression Eine Notiz zu Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps Georg Döcker

In den acht Jahren seiner Tätigkeit als Choreograph hat Laurent Chétouane eine Schrift des Körpers entwickelt, die weniger eine ästhetische als vielmehr eine anthropologische ist, oder insofern eine ästhetische, als sie die anthropologischen Aspekte des Ästhetischen hervorkehrt: In beinahe all seinen Choreographien ist er bestrebt, durch die Bewegung des Körpers das Menschliche, das nicht im Subjekt aufgeht, in dessen Erfahrung einzuschreiben. Wie er selbst oft sagt und wie der Titel seiner Arbeit 15 Variationen über das Offene anklingen lässt, ist es eine Öffnung des Subjekts, die er mit seinen Choreographien erreichen will, eine Öffnung, an deren Horizont Lust oder auch Glück, vielleicht auch Schönheit, wenn nicht sogar eine Grazie erscheinen soll.1 Spätestens seit Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen) von 2009 sprechen seine Aufführungen davon, dass der Schlüssel zu dieser Öffnung in der Auseinandersetzung mit dem anderen Körper liegen könnte. Es ist der Kontakt, die Herstellung einer räumlichen Spannung zwischen den Körpern, die gegenseitige Beeinflussung der Bewegungen oder die konkrete Berührung, mit denen auch in den auf Tanzstück #4 folgenden Choreographien wie horizon(s) oder M!M die Öffnung gesucht wird. Eine Sonderstellung nimmt allerdings Chétouanes Sacré Sacre du Printemps ein, das 2012 Premiere hatte. Dort 1 | Vgl. Döcker, Georg: »Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s)«, in: Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina: Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. München 2014, S. 249-266.

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offenbart sich, dass das körperliche Zusammenspiel auch von Aggression bestimmt sein kann, dass die Körper nicht nur das Menschliche, sondern auch das Unmenschliche oder das Unmenschliche als das Menschliche hervorbringen können, und es ist dieser Aspekt, dem ich in dieser Notiz nachgehen will.2 Die Ursache für die Ausnahmeposition von Sacré Sacre ist meiner Meinung nach der Ausgangspunkt dieser Choreographie. Zum ersten Mal in seinem choreographischen Schaffen hat Chétouane, indem er sich Strawinskys Partitur angenommen hat, eine fremde Schrift zur Grundlage seiner Körperschrift gemacht, und es ist dieses fremde Element oder genauer: Chétouanes choreographische Auseinandersetzung mit diesem fremden Element, die den Körpern eine bei ihm bisher nicht zu vernehmende Aggressivität verliehen hat. Dabei erscheint es zunächst, als würde Chétouane jedes Moment von Unmenschlichkeit von Sacre abziehen. Das Opfer, das Urverbrechen der Gewalt, das die Gemeinschaft konstituieren soll und von dem Strawinsky mit dunklen wie schrillen Motiven auf so einzigartige Weise künden lässt – es wird von Chétouane ausgesetzt. In Sacré Sacre soll kein einzelnes Subjekt für das Wohlergehen des kollektiven Subjekts geopfert werden. Die Dynamik, die sich stattdessen zwischen den Körpern entfacht, ist aber nur umso mehr von Aggression geprägt. So ist zu sehen, dass sich die Körper immer und immer wieder annähern, um mit den Formen ihrer Bewegungen, insbesondere mit Gesten ihrer Arme eine Verbindung zwischen einander zu stiften, um also auf der symbolischen Ebene eine Gemeinschaft herzustellen; dass die vielen Versuche aber nicht zum erhofften Zusammenhalt führen und aus dem Unvermögen umgekehrt eine Aggression entsteht, die sich gewissermaßen unter der Form der Bewegungen aufstaut. Es ist also gerade das Streben nach einer gewaltlosen Gemeinschaft, das die Körper der Subjekte wider Willen gewaltwillig werden lässt und die Gemeinschaft verhindert. Nachdem die Aggression nicht in Gewalt umschlagen, das heißt im Opfer abgeführt werden soll, setzt sie sich im Verlauf der Aufführung und der immer weiter und zusehends verzweifelt betriebenen Anstrengungen als Erschöpfung in den Körpern ab. Wenn die Körper im Aus2 | Meinen Ausführungen liegen Eindrücke aus der Aufführung vom 28.9.2012 auf PACT Zollverein in Essen zugrunde, was bedeutsam ist, weil Chétouane in der Folge kontinuierlich an der Choreographie weitergearbeitet hat. Spätere Aufführungen mögen also einen gänzlich anderen Eindruck hervorgerufen haben.

Aggression

gang dieser Erschöpfung mit langsamen Schritten die Bühne verlassen, und zwar nicht gemeinsam an einem Ende des Raums, sondern in drei verschiedene Richtungen, dann bleibt am ehesten die Erfahrung von der Unmöglichkeit der Gemeinschaft zurück. Vielleicht aber ist im verstreuten Abgang auch eine Gemeinschaft angedeutet, die die Trennung und das Unmenschliche durch die Erschöpfung als konstitutiv in sich aufgenommen hat. Vielleicht ist der Abgang auch nur ein Abgang, der keine Erkenntnis in sich trägt, jedenfalls lässt sich sagen, dass es an diesem Abend trotz allem ein Opfer gegeben hat, nämlich das, das Chétouane selbst erbracht hat. Er hat es zugelassen, dass Strawinskys Schrift etwas Fremdes in sein Schaffen eingetragen hat.

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Wenn die Musik groovt, muss man tanzen Einige Erläuterungen zu meiner Komposition für Sacré Sacre du Printemps Leo Schmidthals

Die innovativsten Kompositionstechniken in Le Sacre du printemps sind meiner Meinung nach die polyrhythmischen Erfindungen. Neben dem amerikanischen Komponisten Charles Ives entwickelte niemand außer Igor Strawinsky zu dieser Zeit derart komplexe polyrhythmische Strukturen, die sich zudem als zukunftsweisend erwiesen haben. In Anlegung hieran bestimmen zwei unterschiedliche rhythmische Konzepte, zu welchen ich in den vergangenen Jahren geforscht habe, die Form meiner Komposition. Es gibt drei Abschnitte: Teil 1 besteht aus meiner Komposition, die unter anderem die Kompositionstechnik der Tempo-Modulation nutzt. Teil 2 ist Strawinskys Le Sacre du printemps in der Originalfassung. Teil 3 besteht wieder aus meiner Komposition, bei der eine andere rhythmische Kompositionstechnik mit sich überlagernden, geloopten Mustern zum Einsatz kommt.

E rster Teil Neben der Methode der Rhythmus-Überlagerung durch Pulsaddition, die bereits von Strawinsky genutzt wurde, benutze ich hier eine Kompositionstechnik, um unter bestimmten Regeln von einem Tempo zu einem anderen zu modulieren. Diese sogenannte Tempo-Modulation, die meines Wissens nur vom amerikanischen Komponisten Elliott Carter ab dem Jahr 1951 angewandt wurde, kommt in Ansätzen in Jazz, Jazzrock, Pop-

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musik und klassischer indischer Musik vor, allerdings meist nur als spannungsreiches Ornament am Ende eines sogenannten Chorus. Der erste Teil meiner Komposition von Sacré Sacre du Printemps beginnt mit archaischen Trommelschlägen: Ein Rhythmus entsteht. Ein hinzutretendes Trommelensemble ermöglicht nun die Modulation von einem Tempo zum anderen. Das Wichtigste für meine Art der TempoModulation ist die Überlagerung von Start- und Zieltempo. Wie in der harmonischen Modulation benötigt man eine Referenz: Von welcher Tonart geht man aus? Wenn wir keine Überlagerung haben, wie das in Elliott Carters Stücken der Fall ist (wenn zum Beispiel eine Viertelnote zu einer punktierten Achtelnote wird), dann liegt keine Modulation vor, sondern nur ein abrupter Tempowechsel. Den Moment, in dem das neue Tempo während der Überlagerung der beiden Tempi dominant zu werden beginnt, finde ich äußerst interessant. Diese Dominanz ist von verschiedenen Faktoren abhängig: neben der Art des Geräuschs, der Tonhöhe oder Frequenz vor allem von der Lautstärke. Die beste Methode, diesen Moment zu erzeugen, ist das Einfaden, das langsame Crescendo aus dem Nichts. Wie bei der Rubinschen Vase, dem berühmten Vexierbild, bei dem man entweder die Vase oder die zwei Gesichter im Profil erkennt, kann man in diesem Moment den einen oder den anderen Rhythmus hören. Im ersten Abschnitt dieses ersten Teils gibt es viele solche Tempo-Modulationen. Ich habe nach dem schnellsten Weg gesucht, um von einem Tempo zu einem anderen zu wechseln. Allerdings gibt es eine zeitliche Untergrenze: Zu schnelle Wechsel funktionieren nicht, da wir eine bestimmte Zeit brauchen, uns in das neue Tempo »einzugrooven«. Dieses »Eingrooven« ist eigentlich etwas sehr Körperliches, vielleicht sollte ich also besser von einer Modulation des Grooves sprechen. Der Begriff Groove ist ein Fachausdruck in Soul-, Funk- und Jazzmusik, der, soweit ich weiß, in der Neuen Musik überhaupt nicht genutzt wird – und der eine große Nähe zum Tanz hat. Wenn die Musik groovt, muss man tanzen. Andersherum habe ich bei Jazz-, Rock-, oder Popproduktionen oft gehört, dass der Beweis, dass eine Musik nicht groovt, sei, dass man nicht gut darauf tanzen kann. Der Übergang von einem Groove zum anderen vermittelt ein bestimmtes Gefühl. Jeder kennt das Phänomen des sich wiederholenden Schlags von frühester Kindheit an: als Herzschlag, als Rhythmus des Gehens oder des Ein- und Ausatmens usw. Wenn wir also diesen Puls wegnehmen und auf den nächsten übertragen, ist es, als ob wir von einem Plateau zu einem anderen wechseln

Wenn die Musik groovt, muss man tanzen

würden. Erstaunlicherweise gibt es Analogien der Modulation des Tempos zu der Modulation von einer Tonart zu anderen in der harmonischen Funktionslehre, weil wir in beiden Systemen den einfachsten Weg für eine Modulation in einem Verhältnis 3:4 oder 2:3 finden (Dominante : Tonika oder Triole : Hauptschlag). Im weiteren Verlauf taucht neben den Trommeln eine Flöte mit einer Melodie auf, später ein Klavier, und diese Instrumente definieren einen Ton, der wiederholt wird und damit einen anderen Groove beginnen lässt, der wiederum ständig geändert wird. Hier handelt es sich um eine andere Art der Groove-Modulation, die auf György Ligeti zurückzuführen ist und Pulsaddition genannt werden kann. Der Groove entsteht hier, indem in einer Sechzehntel-Notenkette regelmäßige Akzente gesetzt werden, beispielsweise auf jeden dritten Ton. Wird dann stattdessen jeder vierte Ton akzentuiert, ändert sich der Groove, er verlangsamt sich. Was mich an diesem Modulieren des Tempos interessiert, ist, wie Zeit hier gestreckt und gestaucht wird. Vielleicht könnte man sagen, dass dadurch die Zeit in gewisser Weise dehnbar wird. Am Ende des ersten Teils kommen nach Auftauchen der musikalischen Parameter Rhythmus und Melodie sieben Akkorde hinzu, die alle den obersten Ton gemeinsam haben. Ganz am Schluss hören wir eine Solo-Violine, die den musikalischen Parameter der Virtuosität ergänzt.

Z weiter Teil Als zweiter Teil, wird, wie gesagt, Strawinskys Komposition Le Sacre du printemps eingebettet. In Sacré Sacre du Printemps wird eine Aufnahme des Columbia Symphony Orchestra New York von Le Sacre du printemps aus dem Jahr 1960 verwendet, in der Igor Strawinsky selbst dirigiert.

D rit ter Teil Es gibt hier sieben Akkorde mit verschiedenen Mustern für das Streichsextett – entsprechend den sieben Tänzern auf der Bühne –, die bereits am Ende von Teil 1 erklungen sind. Jedes Streichinstrument spielt ein sich wiederholendes rhythmisches Muster in einem Loop in einem eigenem Tempo. Die Tempi sind nicht allzu unterschiedlich und müssen unbe-

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dingt durchgehalten werden, sodass sich komplexe Rhythmusstrukturen ergeben, die sich laufend und allmählich verschieben und verändern. Notenbeispiel – Akkord 1 aufgeteilt in sechs sich wiederholende Muster:

Zusammengenommen bildet sich ein Gewebe oder »Flirren«, sodass sich die rhythmische Spannung zu einem Teppich oder einer Fläche der einzelnen Mikroereignisse auflöst (ähnlich wie um 1900 in der Harmonik die erstarkten Dissonanztöne bei z.B. Alexander Skrijabin zu einer schwebenden Harmonik führten). Bei den Aufnahmen meiner Komposition improvisierten wir live mit diesen Mustern. Diese Aufnahmen habe ich im Studio geschnitten, kombiniert, übereinander gelegt, Übergänge zwischen den Akkorden komponiert und ein siebtes Instrument, das Klavier, hinzugefügt.

Wenn die Musik groovt, muss man tanzen

Im ersten Teil wird also der Rhythmus gestreckt und gestaucht. Verschiedene Tempi gewinnen abwechselnd die Oberhand. Das könnte man zu einem imaginären durchlaufenden Grundpuls in Beziehung setzen und also auch auf herkömmliche Weise notieren. Im dritten Teil löst sich der Rhythmus durch die Gleichzeitigkeit und Gleichberechtigung verschiedener Tempoebenen auf.

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Abstand in der Nähe – der Nullpunkt des Tanzes im Theater

Theater der Frage, Befragung des Theaters Hans-Thies Lehmann

1 Als ich vor vielen Jahren die Gelegenheit hatte, bei einer vom Pariser Louvre veranstalteten Vorlesungsreihe über Tragödie in der Gegenwart zu sprechen – ich wählte damals Einar Schleef und Klaus Michael Grüber als Thema –, fand die Veranstaltung unter dem wohlklingenden Titel Sous le regard des dieux statt. Es will mir als ein Zeichen der Zeit erscheinen, dass ein solcher Titel inzwischen Patina angesetzt hat, aber das Motto Unterm Blick des Fremden sogleich einleuchtet für die Lage der Gesellschaft, des Staats, der Kunst und ihrer Institute, zumal also des Theaters und seiner Produktion. Ungeachtet des traditionellen Respekts, den Theater als approbierte Kunstleistung genießt, steht es der mediatisierten Kultur und allgemeiner der auf Effizienz geeichten Praxis mehr und mehr wie ein Fremdkörper gegenüber. Es wird von einem fremden Blick betroffen, der ihm zu Recht oder (in der Regel) zu Unrecht eine Legitimierung abverlangt. Umgekehrt ermöglicht Theater, wo es gelingt, einen fremden, einen entfremdenden Blick auf die Zustände zu werfen, in denen seine Besucher leben. Wir wissen: Alle Erfahrung, die den Namen verdient, ist Widerfahrnis von Fremdem. Wo Theater das vergisst und sich als Service anbietet, Fremdheit gerade zu vergessen, hat es seine Chance schon verspielt. Um dies zu leisten muss aber, davon bin ich überzeugt, gegenwärtig Theater sich selbst fremd werden. Es darf nichts, was in ihm geschieht, mehr als selbstverständlich gelten lassen. Im zähen Dauerkrieg gegen den Konformismus einer Kultur, die erfahrende Wahrnehmung kaum mehr kennt und achtet, ist eine Art von Selbstentfremdung des Theaters,

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dass es sich unter einem genauen Blick fremd wird, die beste Chance seiner produktiven Weiterentwicklung. Tief ist die sehr besondere und auch besonders stark umstrittene Praxis Laurent Chétouanes von einer solchen, durchaus vielschichtigen Erfahrung des Fremdseins durchdrungen. Zuallererst kommen darin zur Geltung: die Fremdheit des Wortes gegenüber dem Körper, die Fremdheit zwischen Sprache und Sprechakt, zwischen Geste und Sinn, zwischen Präsenz und Spiel. Kein Wunder mithin, dass dieses Theater auch die Fremdheit zwischen Akteuren und Zuschauern bewusst und betont nicht nur in Rechnung stellt, sondern geradezu ausstellt. Daher der Streit darum. Die falsche, weil nur vordergründig eingespielte Vertrautheit zwischen den Partnern des Theatervertrags kommt nicht auf, weil es um ein Theater geht, das ein ganz anders geartetes Sich-Vertragen zwischen ihnen anstrebt – vielleicht eine »Freundschaft«, die den Abstand nicht hastig überbrücken will, der im Theater stets erhalten bleibt und den man gewöhnlich durch raschen Konsens und/oder reflexartig sich einstellendes Sentiment wegzaubern will. Vielmehr geht es darum, den Abstand in der Nähe, die Fremdheit im Vertrauten, die Unzugänglichkeit des Vorgestellten allererst als Lücke, als »Zäsur« auf- und anzunehmen.

2 Ich hatte das Glück, besonders Laurent Chétouanes frühe Arbeiten nach der Abschlussarbeit seines Regiestudiums in Frankfurt von Senecas Thyestes in Mannheim und Phaidras Liebe von Sarah Kane über Schillers Kabale und Liebe, später seinen Don Karlos und Sarah Kanes 4.48 Psychose mehr oder weniger verfolgen zu können. Von Anfang an erschien er mir als ein Regisseur, dessen Theater in jedem Sinne zugleich als Theatererforschung definiert werden kann, als Recherche an den Grundlagen des Theaters, später auch des Tanzes als Kunstform. Die Aufführung in der Spannung zwischen Zuschauern und Akteuren konstituiert erst Theater, das zulänglich nur als Theatersituation analysiert werden kann. Chétouane interessiert an dieser Sachlage, wie der Erfahrungsprozess sich dadurch bestimmt, dass alle Darstellung selbst stets auf das Nichtanwesen des Dargestellten, dadurch aber zugleich auf die Frage nach dem Verhältnis des Nicht-Darstellbaren zum Dargestellten führt. Die Überschreitung dessen, was man im kulturellen Raster der Auslegung einfangen kann,

Theater der Frage, Befragung des Theaters

vermag sich, wie sein Beispiel zeigt, nicht nur in greller Störung, sondern auch in einem leisen Entzug zu manifestieren. Auffallend war von Anfang an, dass die extrem sprachbezogenen Abende »schwere« klassische Texte (Seneca, Hölderlin, Schiller, Brecht, Büchner, Kleist) und eher »schwarze« moderne Texte (Kane, Müller) ins Zentrum stellen, aber regelmäßig die gewohnten und erwarteten unterhaltsamen Elemente der Theaterinszenierung verweigern zugunsten einer hypertrophen Konzentration auf das Grundphänomen des sprechenden und sich bewegenden Schauspielers. Auch in den Tanz und Schauspiel verbindenden Arbeiten wie Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, Empedokles//Fatzer, Das Erdbeben in Chili oder Dantons Tod setzt der Regisseur radikal den authentischen Akt des Sprechens in Szene, verweigert sich seiner Verwässerung durch die »Verbesserung« mit Hilfe von Theatereffekten. Ich hatte einmal Gelegenheit, seine Probenarbeit mit Studierenden in Frankfurt zu beobachten. Es war überaus bewegend zu beobachten, wie er mit dem feinsten kritischen Gespür heraushörte, ob sie einen Text wirklich im Moment denkend sprachen oder ihn nur re-zitierten. Ob ihr Textsprechen ein forschendes Fragen war oder nur die Reproduktion einer vorformulierten Antwort. So auch in den Aufführungen: Das gewohnte Repertoire szenischer Ausschmückung entfällt zugunsten der »Präsenz« von Sprechen und Gesten, einer Anwesenheit, mit der es freilich, wie sogleich zu erörtern sein wird, eine eigene Bewandtnis hat. Auf minimalistische Weise werden die Basiselemente des Theaterspiels – körperliche Präsenz, Bewegung, Sprache als Sprechen/Aussprechen/Ansprechen, der Körper als ein Medium, das den Text durch sich hindurch zu seinem Wort kommen lassen will – als solche exponiert. Exponiert wird so das Sagen gerade in seinem Versagen. Das Sagen scheitert daran und es verbietet (sich) zugleich, das in der Rede stets nur Vorgestellte gleichsam beschwörend in die Anwesenheit zu rufen. Es zeigt nur dorthin, wo es wäre. Walter Benjamins abgründige Formel von der uralten Möglichkeit des Theaters: der »Exponierung des Anwesenden«1, wird darin plastisch. Das Insistieren auf der Erfahrung des Fremden sorgt dafür, dass in allem, was da ist,

1 | Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent«, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.2. Frankfurt a.M. 1980, S. 698.

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in der »Da-Stellung«2, die Theater ist, immer ein Fehlen spürbar bleibt. Mit Unruhe, mit Ungeduld, mit Wut manchmal wird das von Zuschauern registriert. Chétouane arbeitet mit dem Entzug, der Enttäuschung, der Frustration des unverbindlichen Zuschauens. Alles bleibt in diesen Aufführungen sozusagen knapp »davor«: knapp vor dem erwarteten Schauspielen, knapp vor der Verkörperung von Figuren, knapp vor der emotional interpretierenden Auslegung des Textes, knapp vor der Kontaktaufnahme mit dem Publikum. Obwohl sie beinahe »nichts tun«, nicht wirklich »Schauspielen« darbieten, wirken die Akteure immer hochkonzentriert, sie scheinen was sie sagen im Moment des Sagens zu denken und tun dies in den starken Momenten dieses Theaters auch wirklich. Sie drängen, ein wenig wie Texte Kafkas (von denen ich mir schon lange eine Version Chétouanes wünsche), mit aller Dringlichkeit eine Deutung auf, die sie doch hartnäckig verweigern.

3 Auf dem Hintergrund dieser physisch durchgeführten Selbstreflexion des Theaters beginnen die »schweren«, meist tragischen Texte, die Chétouane bevorzugt, anders hörbar zu werden. Die Szene wird zum Medium eines anderen Lesens. Als Zufluchtsort eines anderen, nicht nur solipsistischen Lesens hat Theater heute eine Option, die von wenigen, so von Laurent Chétouane, wachgehalten wird. Ein solches Theater des Lesens vermag in den Texten mit erneuerter Kraft die Dekonstruktion der Trugbilder des Kommunizierens, der Verständigung, der zwischenmenschlichen Rede hervortreten zu lassen, die Lücke, den Zwischenraum, den Bruch zwischen Wort und Antwort, Sinn und Zeichen, der aller Darstellung eingeschrieben bleibt, aber in der üblichen Theaterpräsentation immer wieder vergessen oder übertüncht werden soll. Man kann dieses Theater insofern auch als die Version einer fortwährend intermittierenden »Zäsur« verstehen, die freilich nicht mehr wie bei Hölderlin den Vorgang und den Rhythmus seiner Darstellung unterbricht, sondern das Modell der im Theater immer gleichsam automatisch behaupteten Möglichkeit 2 | Vgl. Lehmann, Hans-Thies: »TheaterGeister/MedienBilder«, in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München 1999, S. 137-145, hier S. 144.

Theater der Frage, Befragung des Theaters

der Darstellung oder Vorstellung selbst. Vielleicht ist diese Radikalisierung der Zäsur, die nicht mehr die künstlerische Darstellung bewusstmachend unterbricht, sondern das künstlerische Darstellen als solches, das Signum einer Epoche, die dem altvertrauten Institut Theater nicht mehr wirklich vertrauen kann.

4 Spätestens seit seiner Arbeit mit Heiner Müllers Bildbeschreibung erarbeitet sich Laurent Chétouane durch die Einbeziehung des Tanzes eine Dimension, die das zunächst vorherrschende falsche Bild vom auf den Text fixierten Regisseur verändert hat. In dieser Aufführung entwickelte er mit einem Tänzer eine neue Bewegungsweise, ein Ausdrucksrepertoire, das dem tänzerischen Dispositiv zugehört, ohne doch Tanz und Reflexion voneinander abzulösen, während andererseits das schauspielerische Repertoire durch eine Körperlichkeit neu definiert wird, die jenseits der Textarbeit eine eigene Dimension (und Faszination) entfalten kann. Weil, wie gesagt, die Schauspieler nicht »ganz« spielen, die Tänzer nicht »ganz« tanzen, wird eine eigentümliche Spannung erzeugt: der Wunsch, mehr zu sehen. Die Szene manifestiert den Gedanken daran, dass das, was wir sehen wollen, am Ende doch niemals zu sehen sein wird. Es kann so zu einer Rückwendung der enttäuschten Erwartung auf den Sehenden kommen, der darauf gestoßen wird, dass er soeben dabei ist, sich nicht einer offenen – und mithin selbst verantworteten – Wahrnehmung zu stellen, sondern ein vordefiniertes kulturelles Paradigma einzufordern, ohne antworten zu müssen. Nennen wir es schlagwortartig vereinfachend: ein Theater der Repräsentation. Es wäre dieses Verfahren einer buchstäblichen Re-Flexion im genauen Sinn einer Rückbiegung der erfahrenden Wahrnehmung auf sich selbst, das die eigentümlich »philosophische« Anmutung dieses Theaters zu dechiffrieren erlaubt. Nicht zu begründen ist diese Anmutung mit den bewussten Bezugnahmen auf Philosophie bei diesem Regisseur, der sich immer wieder auf Denker wie Derrida (Politik der Freundschaft3) oder Nancy beruft. Angesichts einer heute im Kunstbetrieb geläufig geworde3 | Vgl. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Üs. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000.

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nen Hypertrophie vordergründiger Diskursfabrikation aus jeweils gerade als aktuell geltenden Philosophemen ist die Bemerkung am Platz, dass philosophische oder sonstige Theorie, vollkommen legitim als Inspirationsquelle des Künstlers, in Gefahr ist, die Kunst an der Kunst gerade zu verneinen, wenn sie sie durch philosophische Aufladung erst legitimieren zu müssen meint und darüber versäumt, die konkrete Erfahrung von Kunst, an der alles gelegen ist, zu erläutern und zu reflektieren.

5 Man kann nicht sagen, dass Chétouanes Theater bei Publikum und Kritik auf einhellige Begeisterung stößt. Das ist angesichts seiner Verweigerung eingeübter Ausdrucksgesten kein Wunder. Wenn er aber Recht hat, dann besteht genau darin ein enormes Zukunftspotential für die szenisch-tänzerische Bühnensprache. Es geht um eine hyperbolische Konzentration auf nichts als den als mental und zugleich ganz körperlich verstandenen Sprech-Akt als eine Geste in dem von Agamben skizzierten Sinn: als ein Tun, in dem es nicht um den Sinn einer Mittel-Zweck-Relation zu tun ist, sondern das Mittel als solches hervortritt. Ich habe vorgeschlagen, von einem Theater des Sprech-Akts zu reden, da es nicht so sehr das Ausgesagte sondern das Sprechen selbst in den Mittelpunkt rückt.4 Sofern aber die tänzerische Bewegung im gleichen Sinne als eine Geste zu denken ist, besteht kein Gegensatz zwischen den primär textbezogenen Stücken (da geht es um die Geste des Sprechakts, nicht um Textrezitation) und den Tanzstücken (da geht es nicht um die Virtuosität des Tanzes, sondern die Geste, die wie das Sprechen auf die immer auch abwesende Anwesenheit des Artikulierten hindeutet). In manchen Arbeiten wie Empedokles//Fatzer oder Dantons Tod werden neben dem tänzerischen Kommentar der Raum und die Objekte in den Vordergrund gerückt. Es zeigt sich daran die fortschreitende Entwicklung eines sich entfaltenden Theateridioms, in dem der Tanz der Sprache zunehmend durch einen Tanz der Gesten der Körperglieder, beide aber durch spezifische Verfahren einer theatralen Raumerkundung ergänzt werden. Worum es in diesen Arbeiten geht, ist die auf neuartige 4 | Vgl. u.a. Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2013, S. 597.

Theater der Frage, Befragung des Theaters

Weise intensivierte Beziehungsform zwischen Bühne und Zuschauern, die alle Sinne beansprucht und dabei einen geistigen Raum der Reflexion und Selbstreflexion des Theaters wie auch der Selbstbeobachtung eröffnet. Gestützt wird sie durch die hochkonzentrierte »Adresse« der Performer an die Zuschauer. Der Darsteller, Schauspieler oder Tänzer verschwindet nicht in einer Rolle, sondern tritt als die reale idiosynkratische Person hervor, die er ist. Was sonst nur als beiherspielende Darstellungsbedingung unbeachtet mitläuft, tritt ins Bewusstsein: die Zeit (durch oft extreme Ruhe); der Raum (durch das Verfahren, dass die Akteure selbst sich immer wieder gleichsam orientierungssuchend an den realen Theater- oder Bühnenraum richten, ihn ausschreiten, mit Blicken und Gesten seine Dimensionen zu vermessen scheinen); das Sprechen (indem es sich drastisch nicht als interpretierend darstellt) werden zum Gegenstand einer theatral organisierten Reflexion auf den Theatervorgang selbst. Es ist, als sollte die Theaterpraxis mit all ihren Mitteln nicht mehr Medium einer Darstellung, sondern als solche Gegenstand einer Befragung, einer denkenden Aufmerksamkeit werden und damit das theoretische Problem des Undarstellbaren mit den eigenen Mitteln stets aufs Neue reflektieren. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass darin auch der durchaus politische Gehalt dieser Theaterarbeit gelegen ist. Nur die Zukunft kann weisen, ob die Überschreitung des Theaterrahmens, die Chétouane betreibt, indem er Theater als den Ort eines Lesens, einer Konzentration, als einen Denkspielraum behauptet, zu neuen Ansätzen im Theaterbetrieb ermutigen wird (was zu wünschen wäre) oder ob der Betrieb die Herausforderung verweigert. Auch in diesem Falle aber wird man ihm, um noch einmal ganz äußerlich zu reden, seinen Platz in der Theatergeschichte des beginnenden 21. Jahrhunderts als eine ganz eigentümliche Version anspruchsvollen »Sprechtheaters« – auch, wie dargelegt, in seinen choreographischen Arbeiten, die man als gestische Sprech-Akte erfährt – nicht streitig machen können.

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What time is it? Wiederholung, Blick und Alterität im Theater Laurent Chétouanes Tim Schuster

The ater //Tanz Ich möchte im Folgenden versuchen, die Arbeit Laurent Chétouanes unter dem Aspekt der Wiederholung verschiedenartiger, der Aufführung vorausgehender Skripte zu betrachten. Im Wandel dessen, was unter diesen Skripten jeweils zu subsumieren ist, möchte ich die auf den ersten Blick merkwürdige Entwicklung Chétouanes vom minimalistischen Sprechtheater zum Tanz als die in sich konsequente Entfaltung einer hartnäckig verfolgten Auseinandersetzung skizzieren. Diese gilt der Suche nach einem Theater der Alterität, dem es in seinen unterschiedlichen Formen jeweils um die Darstellbarkeit und zugleich Undarstellbarkeit eines Anderen geht und das dieses Andere gerade in der Wiederholung und also Verdoppelung1 des in diesen Skripten Gegebenen sucht.2 Die frühen Arbeiten, die sich mit dem Sprechtheater auseinandersetzen, reduzieren das zu wiederholende Skript zunächst einmal auf eine sprachliche Vorlage, welche in den meisten Fällen aus einem Dramentext hervorgeht. Wenn diese Arbeiten von der Kritik vielfach verächtlich als 1 | Zum Zusammenhang zwischen Wiederholung und Verdoppelung vgl. Derrida, Jacques: »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976, S. 351-379. 2 | Der vorliegende Aufsatz enthält ausführliche Passagen aus meiner Dissertation; vgl. Schuster, Tim: Räume, Denken. Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes. Berlin 2013.

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ein auf die Spitze getriebener Textpurismus bezeichnet wurden, so enthält dieser Vorwurf immerhin einen wahren Kern: Sie fokussieren sich mit einer zumindest in der jüngeren Theatergeschichte beispiellosen konzeptuellen Strenge auf den zugrunde liegenden sprachlichen Text. Präziser ausgedrückt stellen sie die – ebenso simple wie weitreichende – Frage: Was passiert, wenn ein Darsteller diesen Text auf der Bühne wiederholt? Es geht ihnen nicht wie gemeinhin üblich um die Entfaltung eines dramatischen logos im Konflikt zwischen Figuren, sondern vielmehr um die »Differenz zwischen Aussagen und präsentierendem Körper.«3 Das Theater vollzieht sich hier in der Kluft zwischen Darstellern und dem von ihnen wiederholten Text. Dieser »Text« lässt sich jedoch noch allgemeiner denn als jenes im engeren Sinn sprachliche Gefüge fassen, und diese Erweiterung bietet einen Ansatz, von dem aus sich die Entwicklung von Chétouanes Ästhetik über die Grenzen der Gattungen hinweg beschreiben lässt. Die Frage, wie Körper einen vorgegebenen Text wiederholen, transzendiert nämlich die offensichtlich sprachlichen Aufführungen und lässt sich in allgemeinerer Form auf jede Art der Wiederholung eines Skripts ausdehnen. Auch Tanz ist in diesem Sinne immer die Wiederholung eines vorgängigen Textes, nämlich einer Choreographie. Scheint dies zunächst noch eine triviale Erkenntnis zu sein, so wird in der Radikalität, mit der Chétouanes Tanzstücke bewusst machen, dass jedes Erscheinen eines Körpers ein Skript wiederholt, das der Gegenwart dieses Körpers vorausgeht, deutlich, wie stark die spezielle Sprache, die er in den Tanz einbringt, von seiner Auseinandersetzung mit dem Sprechtheater geprägt ist. In der Betonung dieses Wiederholungscharakters zeigt sich der »distanzierte Blick des Sprechtheaterregisseurs, der auf den Tanz blickt«, von dem im Ankündigungstext zum Symposium Unterm Blick des Fremden die Rede ist. Eben in diesem sehr konkret verstandenen Blick liegt vermutlich der Schlüssel zum Theater Chétouanes. Er bringt ein weiteres zu wiederholendes Skript ins Spiel: Denn neben dem die zeitliche Struktur einer Aufführung organisierenden Skript, von dem bisher die Rede war, ist in das 3 | Laurent Chétouane in »Die eigene Vergänglichkeit im Auge des Anderen. Ein Gespräch mit dem Regisseur Laurent Chétouane über Schatten«, in: Programmheft zur Inszenierung von Jon Fosses »Schatten« an den Münchner Kammerspielen, Spielzeit 2006/2007, S. 12.

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Theater auch ein räumliches Skript eingeschrieben. Dieses organisiert die in jeder Aufführung darstellender Kunst noch in ihrer rudimentärsten Form gegebene Trennung von Darstellern und Zuschauern, also die spezifisch theatrale Schauanordnung. Das Entscheidende an den Arbeiten Chétouanes ist nun, dass sie von Beginn an immer auch diese dem Theater zugrunde liegende Schauanordnung als räumliches Skript lesbar machen und im Raum des Theaters selbst wiederholen. Und erst in der Wiederholung dieses Skripts zeigt sich, so meine These, die besondere Qualität der Wiederholung im Theater Chétouanes, die es ermöglicht, eine Alterität zum Vorschein zu bringen. Die hier zunächst nur kurz angerissenen Aspekte möchte ich im Folgenden verdeutlichen anhand der Eingangsszenen der Kölner Inszenierung von Dantons Tod und der Berliner Version des Tanzstücks #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller. Mit der Schilderung dieser Szenen, die sowohl schauspielerische als auch tänzerische Praktiken betreffen, möchte ich zeigen, dass zwischen den frühen minimalistischen, ganz dem Sprechtheater verbundenen und auf den ersten Blick statischen Stücken und den aktuellen Tanzstücken eine größere Kontinuität liegt als gemeinhin angenommen.

W ie beginnen ? Während es in der überwiegenden Anzahl der Produktionen im Sprechtheater im Wesentlichen um die Wahl der richtigen Darstellungsmittel für die Repräsentation einer dramatischen Handlung geht, tritt Chétouane einen Schritt zurück und interessiert sich für die szenische Erforschung der aller Darstellung zugrunde liegenden Repräsentationslogiken. Die Ausgangsfragen sind dabei im Grunde denkbar einfach: Was ist ein Körper, wenn ich ihn anblicke? Was geschieht mit diesem Körper, wenn er sich der Sprache aussetzt und was passiert mit der Sprache, wenn sie in einem gemeinsamen Raum auf diesen Körper trifft? Anhand der Eingangsszene von Chétouanes Kölner Inszenierung Dantons Tod möchte ich diese Fragen anschaulich machen. Nach und nach treten dort fünf Schauspieler und Schauspielerinnen und drei Tänzerinnen von hinten auf die Bühne, deren Wände und Portal in einen weißen, halbtransparenten Stoff eingepackt sind, der die Bühnenauf bauten zum Verschwinden bringt und ihre Konturen zugleich

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doch deutlich hervorhebt. Während sie einen Platz im Bühnenraum einnehmen, werfen sie einander Blicke zu, die Vertrautheit verraten und doch um die Öffentlichkeit der Situation wissen. Dann blicken sie in den noch mit Einlasslicht erleuchteten Zuschauersaal. Zwei der Tänzerinnen, Lisa Densem und Anna McRae, treten an die Mikrofone. Eine von ihnen begrüßt die Zuschauer, die andere stellt die zunächst banal erscheinende Frage: »Do you know what time it is?«, und fährt mit einigen allgemeinen Bemerkungen zum Probenprozess fort. Fast unmerklich beginnen beide noch während dieser Sätze mit alltäglichen, eher beiläufigen Bewegungen, die ebenso noch Aufwärmübungen sein könnten wie bereits Tanz. Schließlich tritt die dritte Tänzerin, Sigal Zouk, an das verbleibende Mikrofon, grinst eine Weile frech ins Publikum und fragt dann: »Glaubst du an mich?« Ihr antwortet die Stimme Devid Striesows, und jetzt sind wir bereits mitten drin im Text des von Georg Büchner verfassten Revolutionsdramas, das an diesem Abend auf der Bühne verhandelt werden wird. Diese Szene evoziert so etwas wie den Nullpunkt des Theaters: Jemand steht auf einer Bühne und wird angeschaut. Auch er schaut seine Betrachter an und signalisiert darin sein Wissen um das eigene Angeblickt-Werden. Ein anderer tritt womöglich hinzu, noch einer, und nach und nach kommt so eine Gruppe von Darstellern zusammen. Sie verkörpern über das bloße Da-Sein hinaus keine bestimmte Haltung, es wird kein Als-Ob behauptet – und doch findet bereits Theater statt. Wer möchte, kann etwa bereits in besagter Szene die missliche Situation des Kollektivs rund um den Führer Danton erkennen, das auf ein Signal zum Handeln wartet, das dem Schicksal die entscheidende Wendung gibt. Und doch geht das, was man als Zuschauer wahrnimmt, nicht in dieser Lesart auf. Die einfachen, alltäglichen Handlungen, die eben gerade nicht unter den logos einer Fabel oder eine verkörperte Rolle subsumierbar sind, haben vielmehr mindestens ebenso viel mit dem Darsteller zu tun wie mit einer möglicherweise von ihm herbeizitierten Figur. Sie sind kein Theater im geläufigen Sinn, aufgrund ihrer Einbettung in dessen symbolische Ordnung, jedoch auch keine alltäglichen Verhaltensweisen mehr, sondern vielmehr eine Theatralisierung des alltäglichen Körpers. Figuren ergeben sich hier allenfalls nachträglich, und zwar aus der Verkettung jener alltäglichen Zustände des Körpers im Verbund mit einem mit dem Dramentext verknüpften, an den Rändern der symbolischen Ordnung des Theaters entstehenden Imaginären.

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Spätestens ab dem Moment, in dem der Text des Dramas einsetzt, werden die Tänzerinnen beinahe automatisch als fiktive Figuren lesbar, zum Beispiel als die darin vorkommenden Grisetten. Doch vielleicht, so denkt man unweigerlich als Zuschauer, kommt diese Interpretation auch zu früh, denn ihre Bewegungen bleiben ambivalent und könnten weiterhin Aufwärmübungen sein – was in den Reaktionen des Publikums übrigens sicher nicht zufällig ein häufig wiederkehrender Hauptkritikpunkt an der Inszenierung war. Die hier erzeugte Unsicherheit legt es nahe, die Frage nach der Zeit aufzugreifen, die in der geschilderten Szene wie nebenbei aufgeworfen wird. Wenn eine der Tänzerinnen gleich zu Beginn die Zuschauer nach der Zeit fragt, dann stellt sie damit zugleich die Frage nach der Zeit des Theaters, welche sich als paradox erweist: Zum einen scheinen das Stück und die darin erzählte Geschichte bereits beendet zu sein. Hierfür spricht das Setting, das sich den Zuschauern zu Beginn des Abends bietet. Die von Tüchern bedeckte Bühne und der als Publikumsgespräch inszenierte Einstieg signalisieren: Das Stück ist bereits gespielt, seine Geschichte ist schon zu Ende erzählt. Zum anderen geschieht, kaum dass die Performer die Bühne betreten haben, etwas, das weder als Ende noch als Anfang von etwas Bestimmtem lesbar ist. Die Ambivalenz der Bewegungen der Tänzerinnen zwischen einem der Trainingsroutine verhafteten und doch freien Gebrauch der Gliedmaßen und deren ästhetischem Zur-Schau-Stellen entzieht sich der Einordnung. Sie scheinen zunächst vom semantischen Inhalt des Gesprochenen abgekoppelt zu sein. Indem sie unterhalb der Schwelle der Lesbarkeit bleiben, setzen sie nicht die Zäsur des Beginns von etwas, also zum Beispiel von einer Handlung oder einem Drama. Aus ihnen ist nicht ersichtlich, wann genau das »Stück« nun wirklich anfängt. Hat es vielleicht längst begonnen? Beginnt es überhaupt irgendwann? Ist es nicht immer schon vorbei? Diese Optionen umreißen den Fluch, aber auch die verborgene Möglichkeit des Theaters, welche Chétouane wie mit dem Seziermesser bloßlegt: Es ist dazu verurteilt, stets nur die Wiederholung eines immer schon Vergangenen zu sein, und kann sich doch trotzdem auch in jedem Augenblick gänzlich neu ereignen. Die zentrale Frage, welche seine Inszenierungen an das Theater stellen, lautet in diesem Sinn: Wie anfangen, wenn aller Anfang bereits Wiederholung ist? Jener Einstieg ist dann lediglich die exponierte Formulierung für eine Frage, die

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sich eigentlich in jedem Moment aufs Neue stellt: Gibt es in dieser unvermeidbaren Wiederholung die Möglichkeit zu einem alternierenden Neuanfang, einem Anderen? Die Antwort von Chétouanes Inszenierungen lautet: ja – aber. Die keineswegs selbstverständliche Voraussetzung für diese Möglichkeit ist, dass man sich der Unhintergehbarkeit der Wiederholung bewusst ist. Während im Theater normalerweise viel dafür getan wird, den Wiederholungscharakter der Szene hinter der Illusion der Präsenz eines dramatischen Geschehens zu verdecken, sucht Chétouane konsequent nach einer szenischen Praxis, welche ihren eigenen Wiederholungscharakter jederzeit mitdenkt und wahrnehmbar macht. Anstelle des falschen Eindrucks von Spontaneität stellen seine Aufführungen deutlich heraus, dass sie immer die Wiederholung eines vor Aufführungsbeginn bereits vorliegenden Skripts sind und arbeiten daran, in der Wiederholung diese als solche kenntlich zu machen. Sie versuchen, den »Ursprung« der Wiederholung, d.h. ihre Herkunft aus der Szene oder vielmehr als Szene, zu markieren und zu exponieren. So stellen sie die Szene als das heraus, was für die Wiederholung von Anbeginn verantwortlich ist. Das Bewusstsein des Wiederholungscharakters betrifft das Verhältnis der Darsteller zum von ihnen gesprochenen Text ebenso wie jenes zum eigenen Körper: Die besondere Art des Sprechens im Theater Chétouanes stellt die Fremdheit des gesprochenen Textes heraus und hält die Kluft zwischen dem präsentierenden Körper und der Sprache offen. Die Darsteller stellen den Text in Distanz zu ihrem eigenen Körper in den Raum. Indem sie diese Distanz zu ihrem Sprechen selbst noch in den Momenten beibehalten, die wahrnehmbar mit der Verkörperung spielen, verhindern sie, dass der Text von ihrem Körper Besitz ergreift. Anstatt die Illusion zu erwecken, die Wörter kämen quasi »natürlich« und spontan aus ihnen herausgesprudelt, holen sie einen auswendig gelernten Text aus ihrer Erinnerung hervor und folgen sprechend und denkend der Spur des darin vorgegebenen Skripts. Für die Tänzerinnen gilt nun der gleiche Anspruch wie für die Schauspieler, nämlich in jedem Moment das Bewusstsein zu bewahren, dass ihr Körper bereits mit seinem Erscheinen auf der Bühne ein vorgegebenes Performance-Skript, d.h. eine bestimmte Choreo-Graphie, wiederholt und in eine Schrift des Körpers übersetzt. Dies verlangt ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum eigenen Körper und dessen Schriftlichkeit. Die darin implizierte Distanz des Tänzers oder Performers zu dem, was seinen

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Körper erst hervorbringt, markiert die ursprüngliche Spaltung und Verdopplung des Erscheinens und stellt so die Wiederholung als Wiederholung heraus. Dabei verhindert gerade ein geschärftes Bewusstsein für den Wiederholungscharakter, dass die Wiederholung zur Routine wird und ermöglicht, dass stattdessen in jedem Moment in der Wiederholung die Möglichkeit eines Anderen aufscheint. Obwohl alles geskriptet ist, also einem festgelegten Ablauf folgt, verfügt der ausführende Darsteller derart über eine Autonomie jenseits subjektiver Intention. In der Wiederholung des vorgegebenen Skripts geschieht etwas, das über dieses hinausgeht und als singuläres Ereignis an die konkrete Situation seiner einmaligen Aufführung gebunden ist. Diese Distanz in der Wiederholung eines vorgegebenen Skripts ermöglicht es, neben oder jenseits dieses Skripts eine Ebene der alltäglichen, in ihrer Singularität in Szene gesetzten Körperlichkeit wahrzunehmen. Diese erhält sich auf der Grenze zwischen Realem und Imaginärem, ihre Existenz bleibt »Anfang des Sichtbaren, das noch keine Figur und noch keine Handlung ist«.4 In diesem Sinne sprechen die Bewegungen der Tänzerinnen in der geschilderten Eingangsszene von Dantons Tod von etwas, das nicht in der Darstellung aufgeht, sondern dieser vielmehr – wie die alltägliche Trainingsarbeit – vorausgeht und deren Grundlage bildet. Die immer auch auf der Bühne zu beobachtenden alltäglichen Körper erheben von vorneherein Einspruch gegen ihre Subsumption unter eine Figur oder ein bestimmtes Körperbild. Sie stehen immer unmittelbar vor dem Handeln, vor der Verkörperung und vor der Bildwerdung, in einem Zustand, in dem zwar Möglichkeiten aufscheinen, sich jedoch niemals restlos aktualisieren. Ihre Anwesenheit auf der Bühne dient nicht primär dem Fortgang einer Handlung, sie setzt nichts, sondern stellt sich jeder möglichen Setzung entgegen. Sie unterbrechen jede Performanz oder Produktion von Sinn.

4 | Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M. 1997, S. 244-262, hier S. 260.

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D en B lick aufs S piel se t zen Was die oben geschilderte Szene von einem Aufwärmtraining unterscheidet, sind die Zuschauer. Deren Blick in Szene zu setzen und auf der Bühne verhandelbar zu machen ist der besondere Kniff von Chétouanes Theater. Erst dadurch, dass die Darsteller um ihr Angeblickt-Sein wissen und sich auch selber bei ihren Handlungen beobachten, bleibt zwischen ihnen und ihrer Handlung ein Spalt, der diese zur zitierbaren Geste werden lässt. Der erscheinende Körper markiert so die eigene Verdopplung und exponiert die Distanz, die seinen Körper in der Wiederholung von sich selber trennt. Diese Spaltung des Körpers wiederholt, wie ich im Folgenden abschließend anhand der sehr kurzen Eingangsszene aus Tanzstück #1 veranschaulichen möchte, die konstitutive Aufteilung in Zuschauer und Darsteller und setzt sie im Raum der Aufführung aufs Spiel. Für Chétouanes Inszenierung von Heiner Müllers Text ist der Raum der Sophiensaele zum größeren Teil mit hellem Tanzboden ausgelegt, während an den Rändern schwarze Streifen bleiben, so dass eine große, hellere Fläche seitlich von schmaleren schwarzen Flächen gerahmt wird. Diese Gestaltung betont die in Grundriss und Oberflächenstruktur des Raums vorgefundene Struktur. Zugleich interveniert sie über subtile Gesten verfremdend in diesen und nutzt ihn geschickt als Spielfläche, um Heiner Müllers Text in Szene zu setzen. Der Tänzer Frank James Willens bewegt sich zu Beginn in einer Ecke des helleren Innenbereichs dieses Raums. Er lässt seinen Körper in alle Richtungen pendeln und ertastet mit Händen und Füßen in immer neuen Positionen den Raum um seinen Körper. Dann erhebt er sich mit einer seitlichen Drehung und wechselt in den äußeren, dunkleren Randbereich der Bühne. Auf seinem kurzen Weg macht er noch einige seitliche Schritte entlang der Kante zwischen den unterschiedlich schattierten Bodenbelägen und federt dabei auf den Zehenspitzen, wie um diese Kante auf ihre Festigkeit zu testen. Seine Arme messen den Raum vor und hinter seinem Körper aus, gerade so, als hielte er in einem Schritt inne, nur um ihn schließlich doch auszuführen. Schließlich spricht er das erste Wort des Textes: »Bildbeschreibung«. Ehe er fortfährt, tritt er zurück in den helleren Innenbereich des Raums, nicht ohne dabei abermals, kaum merklich, auf der nun bereits als solcher markierten Schwelle innezuhalten.

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In dieser Schilderung zeichnet sich bereits deutlich das Grundprinzip der Inszenierung ab: Sie ist ein Spiel mit dem Verhältnis von Innen und Außen der Darstellung. Der Tänzerkörper erforscht dieses Verhältnis in einer sehr konkreten Auseinandersetzung mit dem Raum. Zugleich erzeugt er es erst auf bestimmte Weise, indem er gewisse Möglichkeiten hervorhebt und andere zunächst unbeachtet lässt. Seine Bewegungen beschreiben den Raum im doppelten Sinn: Zum einen ahmen sie mimetisch dessen vorgefundenes Muster nach, zum anderen schreiben sie bestimmte Begrenzungen überhaupt erst in ihn ein. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Bodenbeläge lenken, markieren sie deren Differenz und versehen sie mit Bedeutung. Damit aktualisieren sie eine bislang nur virtuell vorhandene Struktur und bringen den Raum der Aufführung als bestimmte Anordnung hervor. Indem Willens Titel und Gattung des im Folgenden gesprochenen Textes von jenseits der eben erst markierten Begrenzung benennt, markiert er die Distanz zu diesem und schreibt sie in den Raum der Aufführung ein.5 Seine Geste gibt dem in Müllers Text beschriebenen Rahmen des Bildes eine räumliche Konkretisierung, mit der ein körperlicher Umgang gefunden werden kann. Sie setzt jedoch keine unverrückbaren Bedeutungen, sondern hebt Möglichkeiten hervor, die weiter verhandelbar bleiben. Die Topographie des Aufführungsraums bleibt ambivalent und übersetzt das im Text angelegte Spiel mit Positionen und Rahmen in eine heterotopische räumliche Anordnung. Willens’ Geste wiederholt zugleich das räumliche Skript des Theaters und nimmt dessen Schauanordnung von Darstellern und Zuschauern in den Bühnenraum hinein. Was eigentlich durch den Rahmen um das Gezeigte aus diesem ausgegrenzt ist, nämlich die Sehvorrichtung des Theaters, wird so sichtbar gemacht und in die Darstellung re-integriert. Auf sehr konkrete Weise nimmt Willens den eigentlich nicht darstellbaren Blick des Zuschauers in den Raum der Darstellung hinein, um ihn dort aufs Spiel zu setzen:6 Mit seinem Schritt aus dem Rahmen heraus ima5 | Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Raisonner sur scène. Über zwei Arbeiten Laurent Chétouanes«, in: Lichau, Carsten/Tkaczyk, Viktoria/Wolf, Rebecca (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur. München 2009, S. 291-305. 6 | Vgl. Haß, Ulrike: »Das Gesehene und das Gelesene: Die unendliche Kreuzung. Laurent Chétouane inszeniert Heiner Müllers Bildbeschreibung mit dem Tänzer Frank James Willens«, in: Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner,

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giniert er sich am Ort des Zuschauers, d.h. an dem Platz in der symbolischen Ordnung, an dem er als Darsteller gerade nicht ist und niemals sein kann. In dem Versuch, sich in dieser eigentlich ortlosen Ordnung zu verorten, der hier räumlich konkret wird, inkorporiert er sich den Blick des Zuschauers auf das Dargestellte und nimmt so ein Außen des Bühnenraums in dessen Inneres hinein. Zugleich bleibt er aber, wie im folgenden Schritt zurück anschaulich wird, Angeblickter und lässt seinen Körper vor den Augen der Zuschauer als Bild entstehen. Als Zuschauer und Darsteller in einer Person wird er folglich zum Beobachter seiner selbst.7 Die Markierung der räumlichen Grenze stellt so zugleich eine Trennung im Körper des Tänzers aus. Im Abstand von sich selbst hält er in sich den Spalt zwischen sich als wahrnehmendem Subjekt und sich als Objekt in der Welt offen. Im Hier und Jetzt bringt sein Körper sich vom Hier in Abstand und erfährt so eine Verräumlichung. Die Bewegung des Textes zwischen Bild und Betrachter schreibt sich in den Körper ein und versetzt ihn in einen ständigen Auf bruch, welcher die vom Text vollzogene fortlaufende Neubestimmung dieser Relation am eigenen Leib verhandelt. Aufgespannt zwischen beiden Polen artikuliert sein Körper in einer unaufhörlichen Bewegung den Raum der Aufführung, in dem Bild und Betrachter erst entstehen.8 Dabei produziert er immer neue Bilder, deren Rahmung jedoch durch ständige Perspektivwechsel fortlaufend kollabiert. Indem er sich jederzeit der Stillstellung im Bild entzieht, wird das optische Dispositiv des Theaters, welches die Körper »zur Sistierung in ihrer Kontur zwingt« und auf ein geschlossenes Körperbild reduziert, radikal unterlaufen.9 In der Auseinandersetzung mit diesem Dispositiv Evelyn (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Bielefeld 2010, S. 298-309. 7 | Vgl. Thielmann, Friederike: »Beschreibung der ›Bildbeschreibung‹. Unter dem Blick von Laurent Chétouane«, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Goebbels, Heiner (Hg.): Heiner Müller Sprechen. Berlin 2009, S. 152-162. 8 | Vgl. Birkenhauer, Theresia: »Bild-Beschreibung. Das Auge der Sprache«, in: Haß, Ulrike (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin 2005, S. 93-111, hier S. 104. 9 | Vgl. Haß, Ulrike: »Horizonte. Bestimmen und Bestimmtwerden. Mit einem Blick auf die Bild-Beschreibung von Laurent Chétouane«, in: Brandstetter, Gabriele/ Wiens, Birgit (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szeno-

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sprengt die Inszenierung die Totalität des Rahmens und eröffnet einen Raum mannigfaltiger Relationen jenseits des zentralperspektivischen Fluchtpunkts, welcher sich erst in der Interdependenz von Körper, Bewegung und szenischen Orten denken lässt. Tanzstück #1 macht etwas explizit, das entscheidend ist für das Theater Chétouanes. Die Körper exponieren sich hier mit einer ganz bestimmten Art der gespaltenen und darin verdoppelten Präsenz, die darin gründet, dass sie den Raum auf der einen Seite von innen, aus der Vertikalität des eigenen Körpers im Hier und Jetzt heraus wahrnehmen, und sich auf der anderen Seite in diesem Raum – über die Internalisierung eines anonymen externen Blickes – selber von außen beobachten. Dieser Außenblick überschreitet die eigenen Körpergrenzen ebenso wie die Grenzen des Bühnenraumes und positioniert sich in einer Distanz jenseits von dessen Rändern. In diesem Blick von außen auf den eigenen Körper nehmen sie sich als Bild wahr und machen sich zum Bild, als welches sie sich den Zuschauern präsentieren. Auf diese Weise überlagern sich die realen Körper und ihr Bild; die Körper sind zugleich »Bild und Leinwand, auf die ein Bild projiziert wird«.10 Die Überlagerung dieser beiden Raumwahrnehmungen schließlich öffnet ihren Körper als Zwischenraum, in dem eine fortlaufende Übersetzung der einen in die andere stattfindet. Dieser Moment der Übersetzung wird zugleich zum Impuls für die Bewegungen und ist vermutlich der Punkt, von dem aus sich Chétouanes Hinwendung zum Tanz begreifen lässt. Der Körper erweist sich darin selbst als heterotopisch, also als ein Ort, der sich über die verschiedensten, in Bewegung begriffenen Aufteilungen konstituiert und darin Orte des Eigenen und des Fremden in ein fortlaufend neu auszuhandelndes Verhältnis setzt.11

graphie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin 2010, S. 106129, hier S. 127. Vgl. dies.: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. Paderborn 2005. 10 | Gronemeyer, Nicole/Kirsch, Sebastian: »Die Stille hinter den Bildern. Der Regisseur Laurent Chétouane im Gespräch mit Nicole Gronemeyer und Sebastian Kirsch«, in: Theater der Zeit 3/2008, S. 22-27, hier S. 26. 11 | Vgl. Siegmund, Gerald: »Körper, Heterotopie und der begehrende Blick. William Forsythes Preisgabe des Fluchtpunkts«, in: Brandstetter, Gabriele/Wiens, Birgit (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin 2010, S. 130-152.

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Nicht zuletzt setzt er damit die in der symbolischen Ordnung des Theaters angelegte optische Ansicht des Raums aufs Spiel und ermöglicht es, ein eigentlich abstraktes und im Theater in der Regel verdecktes Dispositiv zu verräumlichen und konkret auf der Bühne zu verhandeln. Dabei bleibt diese Ordnung bestehen: Die Rahmung der Bühne und damit die Trennung vom Zuschauer wird sichtbar gemacht und untersucht, aber nicht aufgehoben. Erst die Distanz, die das Theater als »reservierten Raum« auf Abstand zum Raum der Umgebung hält, ermöglicht es, dessen topologisches Skript, das im Miteinander und zugleich Gegenüber von Darstellern und Zuschauern besteht, im Raum der Darstellung zu wiederholen, d.h. zu re-exponieren und also zu verräumlichen.12 Indem die Arbeiten Chétouanes das jedem Theater zugrunde liegende Skript im Raum des Theaters selbst zur Verhandlung stellen, begeben sie sich auf die Suche nach einem aus seinem eigenen Innern erzeugten Raum. Dies heißt gerade nicht, den Raum von der Wiederholung abzukoppeln und ihn von einer einfachen Präsenz her zu verstehen. Es heißt vielmehr, ihn von der die Szene konstituierenden ursprünglichen Spaltung und Verdoppelung her zu begreifen. Insofern dieser Raum durch die Wiederholung einer ihm vorausgehenden Schrift konstituiert wird, ist er immer schon von der Spur eines Außen, d.h. einer irreduziblen Andersheit durchsetzt. Das Hier und Jetzt einer solchen Bühne bezeichnet keine reine Gegenwart an einem punktuellen Ort mehr, sondern eine von vorneherein gespaltene und verräumlichte Präsenz an einem »Hier«, das zugleich ein »Dort« ist. In dem scheinbaren Paradox einer ursprünglichen, sich zeigenden Wiederholung wird das jeweilige Skript einer Aufführung erst auf der Szene hervorgebracht, und zwar nicht trotz, sondern gerade durch und in der Wiederholung, die nun jedoch als eine produzierende Wiederholung denkbar wird, welche immer die Möglichkeit birgt, dass sich in ihr etwas Unerwartetes ereignet. Die Arbeiten Chétouanes zeichnen sich also dadurch aus, dass sie nicht nur die Wiederholung jenes Skripts herausstellen, das in einem gegebenen sprachlichen Text oder einer Choreographie der Aufführung vorangeht, sondern auch jenes andere, räumliche Skript, welches dem Theater als Schauanordnung von Darstellern und Zuschauern zugrunde liegt. Erst in der markierenden 12 | Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: »Dialog über den Dialog«, in: Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin 2006, S. 20-42, hier S. 31.

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Wiederholung dieses Skripts schreibt sich die entscheidende Differenz in die Darstellung ein und öffnet sich ein Raum für die Alterität.

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Laurent Chétouanes Zürcher Publikumsbeschimpfung (2010), die den Ausgangspunkt des auf den folgenden Seiten abgedruckten Gesprächs geboten hat, ist insgesamt weniger beachtet worden als andere seiner Inszenierungen.1 Das ist schade, denn die Arbeit verhandelt jene Fragen und Verschiebungen, die mir Chétouanes ästhetische Praxis seit seiner Entdeckung der Choreographie insgesamt zu prägen scheinen, mit einem Fokus, der in anderen Inszenierungen nicht mit derselben Deutlichkeit zu Tage tritt: Publikumsbeschimpfung ist auch und vor allem eine Reflexion des Datums 1968, seines Erbes, seiner Gegenwart, seiner Entfernung. Hervorstechendes Merkmal ist dabei – ähnlich wie etwa in Dantons Tod oder Faust – eine Öffnung des Sprechtheaters auf choreographische Elemente, hier bewerkstelligt durch die Erweiterung des Schauspielensembles um die Tänzerin Sigal Zouk. Man kann sagen, dass damit an Handkes Text und nicht zuletzt auch an seiner Uraufführung durch Claus Peymann zwei entscheidende Operationen vorgenommen werden: Zum einen eine Rücknahme der konfrontativen Anordnung (was sich etwa in dem durchweg »freundlichen« Tonfall dieser »Beschimpfung« anzeigt) und zum anderen die Aufwertung einer Umweltlichkeit, eines vorgängigen Außen, in das jede Konfrontation, jede Beschimpfung eingebettet ist und das mit Blick auf die Geschichte des Theaters vielleicht als chorisch zu bezeichnen wäre. Die Geste der Inszenierung ähnelt damit dem, was Michel Serres zu Beginn seines Büchleins Der Naturvertrag einmal am 1 | Das Gespräch wurde ursprünglich veröffentlicht in: Lerch, Daniel/Weber, Barbara/Sanchez, Rafael/Müller, Harald (Hg.): Neu:Markt. Arbeitsbuch zum Theater Neumarkt Zürich. Direktion Barara Weber und Rafael Sanchez 2008 bis 2013. Berlin 2013, S. 108-111.

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Beispiel der beiden Riesen eingefordert hat, die auf Goyas Gemälde miteinander kämpfen und dabei immer weiter im Schlamm versinken: Man darf niemals den Treibsand, den sumpfigen Grund, kurzum: die Landschaft vergessen, die allen etwaigen Duellen, Kämpfen oder Beschimpfungen notwendig vorangeht und die Freund wie Feind, Herr wie Knecht, Spieler wie Zuschauer nicht nur als gemeinsame Umgebung, sondern am Ende als fragile Lebensgrundlage umschließt.2 Der gedankliche Hintergrund einer solchen Verschiebung ist freilich komplexer, als dieses einfache Beispiel vielleicht vermuten lässt. Er führt auf schwierige ästhetische Probleme, die derzeit in Chétouanes Theater (und nicht nur dort) mit großer Konsequenz bearbeitet werden, und zugleich verweist er auf grundsätzliche Streitfragen, vielleicht sogar Unvereinbarkeiten, die heutige Theoriedebatten durchziehen. Ich möchte hier kurz skizzieren, um welche Figuren es dabei in beiden Fällen gehen könnte, gewissermaßen als eine Randnotiz zu Publikumsbeschimpfung (eine ausführlichere Analyse der Inszenierung findet sich in meinem Essay »Wie man einen Quantensprung tanzt«3). In einem Artikel mit dem Titel »Zwei Systeme von Verrückten« hat Gilles Deleuze eine knappe, aber weitreichende Charakteristik von Kleists berühmtem Aufsatz »Über das Marionettentheater« gegeben.4 Für Deleuze ist wichtig, dass Kleist strukturell ein Dreiersystem beschreibt, demzufolge das geschilderte Marionettensystem aus dem Zusammenspiel dreier Linien besteht. Zunächst gibt es die Linie des Puppenspielers, der »nicht gemäß Bewegungen [handelt, S.K.], die bereits die gewünschten Figuren darstellen würden.«5 Vielmehr tut er etwas anderes: »Er bewegt seine Marionette gemäß einer vertikalen Linie, auf der sich der Schwerpunkt oder besser der Leichtigkeitspunkt der Marionette verschiebt.« Deleuze charakterisiert diese vertikale Linie des Spielers als eine

2 | Vgl. Serres, Michel: Der Naturvertrag. Frankfurt a.M. 1994, S. 11-12. 3 | Vgl. Kirsch, Sebastian: »Wie man einen Quantensprung tanzt, oder: Bühne des Begehrens, Bühne des Triebes. Versuch über Laurent Chétouanes Zürcher Publikumsbeschimpfung«, in: Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. München 2013, S. 207-226. 4 | Deleuze, Gilles: »Zwei Systeme von Verrückten«, in: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995. Frankfurt a.M. 2005, S. 12-17. 5 | Dieses und die folgenden Zitate: ebd., S. 12.

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vollkommen abstrakte, nicht figurative Linie, die ebenso wenig symbolisch wie figurativ ist. Sie mutiert, weil sie ebenso viele Singularitäten wie Ruhepositionen enthält, die dennoch die Linie nicht zerlegen. Weder gibt es ein binäres Verhältnis noch ein-eindeutige Beziehungen zwischen dieser abstrakten, aber um so realeren vertikalen Linie und den konkreten Bewegungen der Marionette.

Dieser nicht figurativen Linie stehen zwei weitere Linien gegenüber. Zum einen das Gestenmaterial der Marionetten, das Deleuze als »gekrümmte, sinnlich wahrnehmbare, repräsentative Bewegungen« charakterisiert: »ein Arm, der sich rundet, ein Kopf, der sich neigt. Diese Linie ist nicht mehr durch Singularitäten gekennzeichnet, sondern vielmehr durch überaus biegsame Segmente – eine Geste, dann eine andere Geste.« Und zum anderen eine »dritte Linie von weit stärkerer Segmentarität, die den vom Puppenspiel dargestellten Momenten der Geschichte entspricht.« Deleuze legt größten Wert darauf, die abstrakte Linie des Puppenspielers als ein umweltliches Außen der beiden anderen Linien zu kennzeichnen – ihr Ort ähnelt insofern stark der Position, die Chétouane im folgenden Gespräch Sigal Zouk und den tänzerischen Elementen seiner Publikumsbeschimpfung zuschreibt. Die widerstreitende Beziehung der beiden inneren Linien hingegen, die von der abstrakten Linie gewissermaßen umsäumt werden, bildet Deleuze zufolge das Material, von dem »die Strukturalisten sprechen«. Es sind, mit anderen Worten, die ihrerseits abgründigen Verhältnisse zwischen Signifikanten (sinnlich wahrnehmbare Gesten) und Signifikaten (narrative Linie). Das differenzierte und primordiale Außen, das diesem Doppel in der Topologie des Kleist’schen »Marionettentheaters« vorangeht, könnte man hingegen mit einem weiteren Begriff Deleuzes/Guattaris als die Sphäre der »asignifikanten« Semiotiken oder Ströme charakterisieren.6 Kleists poetologische Konstruktion führt damit tatsächlich auf einen der zentralen Einsätze des Denkens Deleuzes/Guattaris, das immer nach den Rückkopplungseffekten dieses asignifikanten Außen und den beiden anderen Linien gesucht und dabei darauf beharrt hat, dass mit dem Außen anzufangen ist. Dasselbe Motiv scheint mir nun aber auch exakt Chétouanes Interesse am Tanz zu bezeichnen – an einem Tanz allerdings, der kein »Konzepttanz« sein möchte, kein »Tanz, der nicht tanzt«, und 6 | Vgl. zu diesem Begriff vor allem: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin 1992.

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der sich insgesamt deutlich von ästhetischen Praxen der Unterbrechung oder der Ausnahme fortbewegt hat, um sich zunehmend einer Entfaltung der Kräfte des Außen und des Werdens sowie anderen denn symbolisch strukturierten Umweltlichkeiten zuzuwenden: »horizon(s)«. Freilich: Die große Frage, die bei alledem auf dem Spiel steht, die in Nachpremierendebatten mit verlässlicher Regelmäßigkeit auftaucht und über die man nicht vorschnell wird entscheiden wollen, lautet, wie sich dieses Interesse für das Außen wohl zu der Abarbeitung an »ästhetischer Ideologie« verhalten mag, der sich Ästhetiken und Ansätze beispielsweise im Gefolge Paul de Mans verpflichtet fühlen. Chétouane selbst beschreibt seine Entwicklung jedenfalls als ein Abrücken von den damit verbundenen Fragestellungen: »Verbringen wir unsere Zeit damit, zu dekonstruieren, was schon dekonstruiert ist, oder wagen wir einen Quantensprung?«7 Das alles würde natürlich ausführliche Diskussionen und Lektüren erfordern – aber einen Hinweis möchte ich hier doch geben (er ähnelt dem, was Marita Tatari 2011 schon einmal, wenn auch aus anderer theoretischer Perspektive, in einer Hamburger Vorlesung über »Kleist und die Ideologie des Ästhetischen« ausgeführt hat): Vergleicht man etwa de Mans Lektüre von Kleists »Marionettentheater« mit der Deleuzes, dann fällt in der Tat auf, dass hier zwei wesenhaft verschiedene theoretische Gesten vorliegen, schon weil de Man überall dort das Scheitern, den Fehler, die Unlesbarkeit in den Vordergrund rückt, wo Deleuze das Fluide, die Werdensprozesse und auch das Glücken fokussiert.8 Vor allem jedoch findet sich im Zentrum der Unvereinbarkeit das Thema der Technik. Denn für de Man ist die »Ideologie des Ästhetischen« letztlich immer das Problem einer bestimmten – nämlich symbolisch strukturierten – Technik, eines Apparates, der sich in der Produktion imaginärer Effekte als solcher nicht ausweist. Kleists Maschinenwesen, insbesondere der im »Marionettentheater« einmal erwähnte tanzende Kriegskrüppel mit Prothese, erscheinen in seiner Lesart darum als Opfer des Ausblendens jener disziplinierenden institutionellen Matrizen, die dem Erscheinen »schöner« Körper vorangehen, wie auch als Einspruch gegen dieses Ausblenden. Gänzlich konträr 7 | Zit. n. Hüster, Wiebke: »Im Konzept-Schutzgebiet. Laurent Chétouanes ›Hommage an das Zaudern‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 2011, S. 38. 8 | de Man, Paul: »Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater«, in: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1988, S. 205-233.

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dazu zeigt sich für Deleuze gerade in solchen Figuren und Figurationen ein »Maschine-Werden« an (das zugleich ein weiteres Moment der Chétouane’schen Tanzsprache bezeichnen könnte). Zur Debatte steht damit letztlich ein anderer Technikbegriff, eine grundsätzliche Konaturalität von Natur und Maschine, die sich etwa von der Form des »Supplements« unterscheidet, und die speziell in heutigen Diskussionen um technische Umwelten und Koexistentialgefüge eine immer größere Rolle spielt. Zwischen dieser Kluft verläuft am Ende aber auch die Kluft zwischen den »zwei Systemen von Verrückten«, die dem besagten Artikel Deleuzes den Titel geben: zwischen den »Paranoikern«, die sich unaufhörlich an symbolischen Milieus und Texturen, an disziplinierenden Strukturen, an ästhetischen Ideologien abarbeiten müssen, und den berüchtigten »Schizos«, die ihr beständiges Maschine-Werden betreiben. Wie immer man nun zu dieser Polarität stehen mag – sowohl mit Blick auf die ästhetische Arbeit Chétouanes wie auch mit Blick auf heutige technische und institutionelle Umbrüche – schiene es mir wichtig, sie neu zu befragen. Vielleicht wäre darum auch ein Titel wie »Unterm Blick des Fremden« – der deutlich auf das paranoische System verweist – um den Pol des Werdens zu ergänzen: »Unterm Blick des Fremden – in der Blindheit des Werdens«. Handelt es sich um dieselbe Ergänzung, die Chétouane an einem Text wie Handkes »Publikumsbeschimpfung« vornimmt, wenn er Sigal Zouk mit den Schauspielern mitgehen, mittanzen, eine verzweigte Umwelt bilden lässt? * Sebastian Kirsch: Deine Publikumsbeschimpfung ist eine Inszenierung, die mich sehr beschäftigt; ich habe auch eine ganze Reihe von Anläufen gebraucht beim Versuch, über sie zu schreiben. Darum würde ich gerne mit einer ganz simplen Frage anfangen. Wie bist du eigentlich zu diesem Text von Peter Handke gekommen? Laurent Chétouane: Eigentlich habe ich versucht, mit dem Text zu spinnen. Mich interessierte zu zeigen, dass hinter seinen Verneinungen immer noch etwas anderes abläuft, das man eigentlich nicht benennen kann, von dem man nicht sagen kann, was es ist, und das gerade darum mit dem Theater zusammenhängt. Denn Theater ist etwas, dass sich der Kontrolle der Machenden wie des Publikums grundsätzlich entzieht, und

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ich wollte, dass man gerade in denjenigen Momenten über dieses Unkontrollierbare nachdenken kann, in denen der Text so entschieden behauptet, dass etwas »nicht getan« wird – dass zum Beispiel »nicht gespielt« oder »nichts dargestellt« wird. Ich hatte den Eindruck, dass die Inszenierung den Handke-Text in gewisser Weise umkehrt oder umfaltet. Was mich daran besonders interessiert, ist die Umfaltung des negativen Moments, die du gerade schon angedeutet hast. Publikumsbeschimpfung ist ja von einer ungeheuren Negativität, ständig heißt es: »Wir spielen nichts«, »Wir tun nichts«, »Hier gibt es nichts zu sehen«. Dieser zerschmetternde Gestus ist in deiner Inszenierung zwar erahnbar, aber zugleich ist sie von einer großen Leichtigkeit, sogar Freundlichkeit. Wie verhält sich dieser »positive« Aspekt zur Negativität der Textvorlage? In der Uraufführung von Claus Peymann, die ich auf Video gesehen habe, spielen die Schauspieler, dass sie nicht spielen. Wenn sie sagen: »Wir spielen nicht«, dann machen sie trotzdem Theater. Wenn man nun aber wirklich versucht, etwas anderes als Theater zu machen, dann stellt sich die Frage: »Was tun die Spieler denn dann, wenn sie sagen, dass sie nicht spielen?« Letztlich benutze ich die Negativität des Satzes also, um die Leute auf diese Frage zu bringen. Sie ist wie ein Sprungbrett und ermöglicht es, auf etwas anderes zu sehen, für etwas anderes Aufmerksamkeit zu entwickeln. Mich hat aber auch das Problem der revolutionären Geste interessiert. Ich wollte ihre Theatralität zeigen, und auch ihre Zweck- und Sinnlosigkeit. Das betrifft wieder speziell die Art und Weise, wie Publikumsbeschimpfung bei der Uraufführung inszeniert worden ist. Ich wollte gerade kein direktes Anschimpfen, wie es dort der Fall war. Stattdessen habe ich nach einer viel radikaleren Beschimpfung gesucht, die weniger frontal verläuft, sondern an der Frage des Pakts oder des Vertrags zwischen Publikum und Schauspieler arbeitet. Vielleicht geht es dabei auch gar nicht mehr so sehr um eine Beschimpfung, sondern um Widerstand; um eine Widerstandsbewegung anstelle einer Revolution. Ich würde jedenfalls sagen, dass die Performer permanenten Widerstand leisten. Dabei würde ich auch nicht eine so starke Trennung zwischen Performern und Publikum ziehen, selbst wenn es diese Trennung gibt. Doch es ist wichtig, dass der Performer sich auch immer selbst zu seinem eigenen Publikum macht. Es geht also nicht mehr darum, zu sagen: »Wir sind hier, und ihr

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seid dort, und wir machen euch fertig«, sondern um ein »Wir sind hier zusammen, und was machen wir hier eigentlich?« Wenn es bei Handke heißt: »Sie hören hier nicht das falsche Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür«, dann fällt bei dir gleich darauf mit lautem Knall eine Tür ins Schloss. Im nächsten Moment bemerkt man allerdings, dass diese Tür ein fixer Bestandteil des Zürcher Theatersaales ist und nicht zu illusionistischen Zwecken aufgebaut wurde – der Türknall ist also tatsächlich kein »falsches Geräusch«. Insofern wird der Handke-Satz gleichzeitig verneint und bejaht. Genau, und gleichzeitig stellt sich die Frage, auf welcher Ebene man dieser Tür eigentlich zuschaut. Sie bekommt plötzlich eine doppelte Lesbarkeit: Sie ist real, aber sie ist ebenso Teil einer Illusion. Damit öffnet sich ein Spannungsfeld, in dem man nicht mehr weiß, was inszeniert ist und was nicht. Tatsächlich fragen mich Zuschauer immer wieder: »Ist das nun improvisiert, oder ist es inszeniert?«, auch nach Publikumsbeschimpfung war das wieder so. Es lässt sich nicht mehr unterscheiden. Dabei liegt natürlich die Schwierigkeit darin, wie es gelingen kann, dass man als Zuschauer nicht denkt: »Ah ja, der Performer macht jetzt die Tür zu«, sondern dass man wirklich darüber überrascht ist, dass eine Tür zuknallt. Du hast vorhin von einer Umfaltung gesprochen, ich würde vielleicht auch noch einen anderen Begriff nennen: Es handelt sich um eine Öffnung. Diese Öffnung darf sich nicht schließen. Für die Performer stellt sich daher ständig die Frage: Welche Bewegung kann man machen, um die Öffnung weiter zu erhalten, wenn man sich in ihr bewegt? Es ist dieses Moment, das mich auch so sehr am Tanz interessiert. Wie verhält sich denn die Öffnung zum Geschriebenen, das ja immer fixiert? Und warum arbeitest du überhaupt mit solchen Textvorlagen wie Publikumsbeschimpfung? Es sind für mich Texte auf dem Weg zu dieser Öffnung. Ich habe ja immer wieder mit Texten gearbeitet, in denen dieses »Nicht« behauptet worden ist – zum Beispiel Sarah Kanes Psychosis, oder Heiner Müllers Bildbeschreibung. Es sind Texte, die für mich immer die Frage stellen: »Was ist von diesem ›Nicht‹ aus möglich?«, und die am Rand des Territoriums spielen. Bildbeschreibung etwa bleibt beim Pathos des Verlusts, am Ende

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heißt es »Ich, der gefrorene Sturm«. Und ich weiß noch, wie ich bei den Proben sagte: »Wir müssen die Frage stellen, wie man den Sturm antauen kann.« Man kann nicht dort bleiben, sonst bleibt man immer in der Bewegung der Negation. All diese Texte werden darum nicht inszeniert, sondern benutzt, um etwas anderes zu finden. Aber es ist keine Zerstörung. Die Texte selbst sind konstitutiv für das, was man findet. Was mir daran wichtig erscheint, ist ein Beharren darauf, dass wir zwar in ein Jenseits der Negation vordringen müssen, um die Öffnung zu finden, dass wir dieses Jenseits aber nicht einfach als einen Zustand voraussetzen können. Wir müssen uns schon mit der Negativität herumschlagen, müssen ihre Gesten wiederholen oder auch durcharbeiten … Ich verstehe genau, was du meinst: Es geht nicht darum, ein Nirwana zu erreichen. Ich glaube, das Positive hinter dem Negativen ist immer eine aktive Geste. Es ist nie gegeben, sondern man muss es immer wieder neu schaffen, ich würde fast sagen: jeden Tag. Schon wenn ich aufwache, muss ich es vorbereiten. Die Öffnung ist nie per se offen, sie ist immer zu öffnen. Das betrifft auch die Vulnerabilität oder Fragilität des Subjekts: Sie ist gerade als offene Fragilität immer aktiv zu halten. Ich finde, dass der Begriff der »Öffnung« noch einen anderen wichtigen Aspekt berührt: In einer Inszenierung wie Publikumsbeschimpfung, aber auch in vielen anderen deiner Arbeiten, wird plötzlich sehr viel geschichtliches Material sichtbar, allerdings nicht in einem historistischen Sinn. Stattdessen werden Stoffe und Materialien in ihrer historischen Offenheit anders und neu lesbar. Über Publikumsbeschimpfung etwa kann man nur sprechen, wenn man auch über 1968 spricht, aber man kann das nur unter der Prämisse, dass 1968 hier und jetzt stattfindet. Denn 1968 selbst ist nichts Abgeschlossenes. Das hat auch wieder mit der Frage der Negativität und ihrer Umfaltung zu tun: Der Historismus setzt ja das Prinzip der Negation insofern voraus, als er beständig teleologische Verabschiedungsgesten produziert: »Wir spielen nicht mehr Hamlet, Hamlet ist passé«. Solche Gesten finden sich aber auf deiner Bühne gerade nicht. Es geht nicht darum, sich von etwas zu verabschieden, aber auch nicht darum, es einfach weiter zu machen. Stattdessen bewegt man sich in einem Zwischenbereich. So ist es auch jetzt wieder, bei Sacré Sacre du Printemps:

Wir spielen nicht – was tun wir denn dann?

Wir tanzen dort nicht Sacre, aber wir tanzen trotzdem mit Sacre. Sacre ist da, es existiert, und wir wollen es nicht verneinen. Wir wollen aber auch keine neue Interpretation liefern. Es ist vielmehr wie eine Koexistenz: Plötzlich entstehen Verbindungen, die zwar nicht zufällig sind, die aber auch wieder weggehen. Wie ein offenes Verhältnis mit der Welt, nah und fern. Ein Kritiker schrieb in diesem Sinn einmal über meine Jelinek-Inszenierung in Hamburg: Chétouane zerstört Jelinek nicht, sondern er nimmt sie an die Hand und geht mit ihr spazieren. Das ist eigentlich sehr schön. Ich habe zwar meine eigene Position, aber wir können schauen, welche Konversation und Kommunikation zwischen uns entsteht – ich werde dir nicht zusagen, und ich werde dich nicht zerstören. Gerade den Text von Handke wollte ich auf keinen Fall passé oder lächerlich finden, sondern ich wollte ihn einfach nutzen, ihm begegnen. Du hast vorhin gesagt, dass die Öffnung mit dem Tanz zusammenhängt. Welche Rolle spielt denn der Tanz in Publikumsbeschimpfung, wo er ja vor allem mit Sigal Zouk ins Spiel kommt? Ich glaube, Sigal ist all das, was in der Peymann-Aufführung fehlt. Wenn sich mit der Behauptung »Wir spielen nicht« die Frage »Was tun wir denn dann?« stellt, dann verkörpert Sigal genau dieses andere. Auch die Schauspieler versuchen, den Weg dorthin zu gehen, bleiben aber trotzdem in ihrem schauspielerischen Tun verhaftet. Deleuzianisch gesprochen, ist Sigal wie die Fluchtlinie, das Element der Deterritorialisierung, obwohl sie immer auch ein eigenes Territorium hat. Sie ist ein Dasein, eine Existenz im Raum, die die Wahrnehmung schärft: Alles wird durch Sigal so aufgeladen, dass man es plötzlich anders anschaut. Dieses Dasein ermöglicht darum auch, dass der Text eine Resonanz bekommt. Sigal negiert ihn nicht, aber sie benutzt ihn auch nicht direkt. Es ist eine ständige Kluft oder eine Schere, die sich öffnet und schließt, und Sigals Bewegung ist dazu da, diese Schere offenzuhalten. Ich hatte auch den Eindruck, dass sich mit Sigal ein Widerstreit zwischen zwei Organisationsprinzipien auftut, die die Inszenierung strukturieren. Auf der einen Seite nimmt man sehr stark eine »3 + 1«-Konstellation wahr – drei Schauspieler und eine Tänzerin – und dann sieht man wieder eine einzige

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Gruppe, also mindestens vier. Interessant finde ich, dass diese beiden widerstreitenden Prinzipien fast immer gleichzeitig sichtbar sind. Ich glaube, Sigal kann zu den dreien gehören und trotzdem aus ihnen heraustreten. Dadurch entsteht dann das Gefühl von »3 + 1«. Umgekehrt würde es nicht funktionieren, denn das Prinzip Sigal oder auch das Prinzip Tanz ist den anderen drei inhärent. Sigal ist aber auch das Element, das alle anderen umhüllt. Vielleicht würde ich darum auch nicht so sehr von »3 + 1« sprechen, sondern »Sigal und der Rest« sagen. Zu diesem Rest gehören auch die Objekte der Bühne, die Gegenstände, der Tisch, die Fenster. Ich würde den Moment »3 + 1« trotzdem ein wenig verteidigen wollen, denn ich glaube, dass er eine wichtige politische Dimension enthält. Nicht umsonst taucht ja die »3 + 1«-Konstellation häufig bei Brecht und Müller auf. In Fatzer und in vielen anderen Brecht-Texten sind es immer wieder drei, die einen Vierten opfern oder töten. Bei Müller setzt sich das fort, etwa mit den vier Soldaten in Stalingrad. Noch den Titel seines letzten Stückes kann man nicht nur als Germania 3 lesen, sondern auch als »Germania – 3 Gespenster am toten Mann«. Für mich öffnet sich mit dieser Figur letztlich auch das Thema der nationalsozialistischen Schuld, ohne das ja auch Handkes Publikumsbeschimpfung nicht zu denken ist. Ich habe nun das Gefühl, dass dieses Thema durch das »3 + 1«-Moment in deiner Inszenierung beständig anwesend ist, aber niemals mit direkten Behauptungen angegangen wird. Dabei bringt Sigal diese Ebene speziell als israelische Tänzerin mit – obwohl sie gerade nicht als Repräsentantin auftritt. Es hat vielmehr mit ihrer deutschen Bühnengeschichte zu tun. Man muss ja nur an deine Inszenierung von Faust II in Weimar denken, wo das deutsche Publikum Sigal von der Bühne brüllen wollte, weil es durch ihren Akzent den Goethe-Text nicht wiedererkannte. Auch in anderen Fällen haben Zuschauer schon darüber diskutiert, ob »so jemand« auf einer »deutschen Bühne« sprechen dürfe. Diese Vorgeschichte habe ich jedenfalls in Publikumsbeschimpfung gesehen. Dass ich in Tanzstück #2, das ja ein Teil von Faust II war, neben Sigal mit einem amerikanischen und einem deutschen Tänzer gearbeitet habe, hatte tatsächlich schon damit zu tun: Es waren Hauptelemente der Situation des Zweiten Weltkriegs. Es handelt sich um etwas sehr Konkretes:

Wir spielen nicht – was tun wir denn dann?

Wenn man zum Beispiel Stücke der israelischen Batsheva Dance Company schaut, dann kann man letztlich gar nicht anders, als die geopolitische Situation dieses Landes in den Körpern zu sehen. Man sieht einfach die Reaktivität, die Gewalt, die Kraft und die Erschütterung, die sie in sich tragen, und man merkt, wie die alltägliche Gefahr immer da ist. Natürlich lebt Sigal seit langem nicht mehr in Israel, aber sie ist dort aufgewachsen, und sie trägt in ihrem Körper eine gewisse Gewalt in der Präsenz. Es ist eine Mischung aus einem Kampf gegen etwas, auch einem Kampf um das Territorium gegen die Palästinenser, und einem Moment der Verteidigung gegen einen möglichen Angriff. Es bewegt sich also zwischen Passivität und Aktivität, und Sigal bringt genau diese Ambivalenz mit. Sie ist ein sehr fragiles Wesen, und gleichzeitig kann sie unglaublich stark sein und ihren Körper stehenlassen wie ein Stück, an dem nicht zu rütteln ist. Darum sind Schauspieler in Arbeiten mit Sigal sofort immer sehr beeindruckt von ihrer Fähigkeit, einfach da zu sein. Bei Handke interessierte mich im Besonderen, wie sich diese Kraft oder sogar Gewalt zu diesem Text verhält, der sehr deutsch ist. Denn man hört in ihm die deutsche Sprache sehr deutlich, man muss an Schiller, Goethe oder Hölderlin denken – noch in der Negation sind all diese Autoren präsent. Und ich finde es schön, durch Sigal darin diese Fremdheit zu haben. Bei Faust II war das übrigens ähnlich. Ich habe den Spielern dort immer gesagt: »Ihr müsst diesen Text nehmen wie Fremde, vielleicht wie Chinesen, die in fünfzig Jahren Weimar gekauft haben und es geil finden, in einer solchen Stadt ein bisschen auf der Bühne zu stehen und Goethe zu spielen.« Natürlich ist es eine gespielt naive Situation, aber sie ermöglicht eine ganz neue Freiheit im Umgang mit dem Stoff. Darum fand ich es auch phänomenal, wie Sigal in Weimar Goethe sprach – aber ich habe schon drei Wochen vor der Premiere gespürt, dass es ein Skandal würde. Nach fünf Aufführungen hat ja sogar der Bürgermeister selbst darum gebeten, dass die Inszenierung abgesetzt wird … Einer Israelin vorzuwerfen, dass sie die deutsche Sprache zermalmt, das ist schon irre. Ich glaube im Übrigen, dass das ohnehin auf uns zukommt. Unsere Kultur, die wir so pflegen oder zu pflegen glauben, an der wir noch festhalten wie an einem riesigen Vater, an einem Ursprung – in fünfzig oder hundert Jahren wird sie überhaupt keine Bedeutung haben, außer dass sie vielleicht zwischendurch für eine kleine Show taugt. Und ich finde es im Moment sehr wichtig, die Leute ein bisschen mit diesem Gedanken zu kitzeln, damit sie ein wenig lockerlassen. Lockerlassen heißt aber nicht,

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dass man nicht mehr reflektieren oder sich nicht mehr für Sachen engagieren soll, sondern nur, sich ein bisschen identitätsloser zu verstehen. Genau diese Aufforderung zum Lockerlassen scheinen viele Zuschauer wirklich als »Publikumsbeschimpfung« zu empfinden … Worin liegt denn deiner Meinung nach das Unaushaltbare dieser Form? Ich glaube, es hat viel mit Freiheit zu tun; mit einer Freiheit, die auch für die Performer sehr schwer zu erlangen ist. Denn sie müssen immer versuchen, gleichzeitig für mich als Zuschauer da und nicht da zu sein. Auf der einen Seite repräsentieren sie mich nicht, ich kann mich nicht in ihnen spiegeln. Und gleichzeitig sind sie ganz konkret da, vor mir, und zwingen mich, etwas anzuschauen, das ich eigentlich nicht sehen will. Pathetisch könnte man sagen: Es ist der Tod. Aber es ist eben nicht der Tod als Ende des Lebens, sondern es ist dasjenige, was uns am Leben hält und jeden Tag begleitet. Vielleicht ist der Tanz durch den Zugang zum Körper darum auch todesbewusster als das Schauspiel. William Forsythe sagt das wunderschön: »Jede Bewegung ist eigentlich das Ende einer Bewegung.« Schauspiel lebt demgegenüber noch von der Illusion der Ewigkeit … Ich arbeite gerade am Thema der Demokratie und der Freundschaft. Wenn Derrida von der Freundschaft spricht, dann sagt er: Vielleicht ist gerade das Wort »Vielleicht« das Eigentliche der Freundschaft. Es verweist immer auf eine mögliche Zukunft, von der man aber nicht weiß, wie sie sein wird. Die Zukunft ist zwar immer da, aber sie ist nichts, was man planen oder organisieren kann. Vielleicht geht es auf der Bühne nur darum, verantwortlich für ein solches »Vielleicht« zu sein. In diesem Rahmen entsteht darum auch eine ethische Haltung für mich: Ich bin als Performer dazu da, Öffnungen anzubieten oder zu ermöglichen, und euch in diese Öffnungen mitzunehmen, teilhaben zu lassen, das Zwischen erleben zu lassen. Aber die Öffnung wird nicht mit einem festen Inhalt betoniert oder zementiert. Sie ist da.

Arbeit am Tanz – Choreographien Laurent Chétouanes

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus Zu Laurent Chétouanes Tanzarbeiten Marita Tatari »Es gibt einen Raum, der von allen Seiten her einem Draußen zugekehrt ist, das er nicht vor sich hat und das ihn eher bewohnt, als dass er ihm begegnete. Das ihn eher durchzieht, als dass er es umgäbe.« Jean-Luc Nancy1

Laurent Chétouane ist vom Theater zum Tanz gekommen. Ein neuer Zugang zur Problematik der so genannten Krise der Repräsentation, die eine ganze Generation von Theatermachern prägt, hat seine künstlerische Suche hin zum Tanz und in diesem selbst gebahnt. Anders nämlich als eine Reihe von Theaterarbeiten, die sich als Bruch, Unterminierung oder Aussetzung des darstellenden Theaters verstehen, hat sich Chétouane einen anderen Zugang zur Darstellung erarbeitet. Die Einsicht, dass auf der Bühne die Darstellung nicht vorrangig Darstellung von etwas ist, weder Nachahmung noch Hervorbringen, »Da«-stellen, scheint mir der Punkt zu sein, an dem Chétouanes Tanzarbeit anfängt.2 1 | Nancy, Jean-Luc: Die Anbetung – Dekonstruktion des Christentums 2. Üs. v. Esther von der Osten. Zürich/Berlin 2012, S. 118. 2 | Philippe Lacoue-Labarthe arbeitet den Begriff der »Imitation« in der Neuzeit nicht als Nachahmung sondern als Da-stellen heraus und verweist damit auf den deutschen Idealismus und die Romantik, in der die Darstellung als Hervorbringen [rendre présent] dessen, was sie darstellt, gedacht wird und damit als eine primäre Sekundarität [secondarité originaire] fungieren möchte. Lacoue-Labarthe dekonstruiert diesen Begriff der Darstellung und argumentiert für die Notwendigkeit, die doppelte Bewegung der Darstellung, ihre Selbst-Verabgründung in Betracht zu ziehen. Zu einer Analyse dieses Begriffs bei Lacoue-Labarthe und einer Ausein-

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In seiner ersten Tanzarbeit, Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, spricht der Tänzer Frank James Willens einen Text: Bildbeschreibung von Heiner Müller. Dieser Text wird in der Forschungsliteratur mit der Problematik der Gewalt bzw. der konstitutiven Unmöglichkeit der Darstellung als Verbildlichung verbunden.3 Das Neuartige an Chétouanes Umgang mit diesem Text besteht darin, den Schwerpunkt von der Gewalt und dem notwendigen Scheitern der Darstellung als Darstellung von etwas hin zur Darstellung als Öffnung von Raum, als Entfaltung des stattfindenden Sprechens und der stattfindenden Bewegung zu verschieben.4 Statt mit der Verbildlichung zu kämpfen, sie zu unterminieren, erarbeitet er die Darstellung nicht als Entfaltung einer fiktiven Welt, sondern als reale Verräumlichung eines Sprechens, eines Gestus, einer Bewegung, eines Sich-Zeigens und eines Sich-Beziehens-auf. Am Anfang von Chétouanes Tanzarbeiten scheint mir also die Entdeckung zu stehen, dass das Entscheidende im Sprechen, im Stehen oder im Sitzen, im Sich-Bewegen oder Schauen, im Auf-der-Bühne-Sein nicht darin besteht, etwas darzustellen, sondern darin, dass Sprechen, Sitzen, Sich-Bewegen, Schauen als solches adressiert und erfahrbar wird; dass das, was das darstellende Sprechen und den darstellenden Körper kennzeichnet, darin besteht, das Sprechen, Sich-Bewegen und Da-Sein durch ihre Bedeutungen, durch die sie treibenden Zwecke und Richtungen hindurch als Praxis, Gestus oder Entfaltung aufscheinen zu lassen. Es geht also bereits in Tanzstück #1 nicht darum, die Darstellung zu unterminieren, ihren Anspruch als unmöglichen bloßzustellen; es geht nicht darum, das Undarstellbare erfahrbar zu machen. Denn das Undar-

andersetzung mit der Frage, ob diese Dekonstruktion der Darstellung notwendigerweise – wie bei Lacoue-Labarthe – im Ausgang von dem, was darin scheitert, stattfinden muss, oder ob auch eine andere Art von Dekonstruktion möglich ist, vgl. Tatari, Marita: »L’extime du drame«, im Dossier Lacoue-Labarthe in: Europe 2010 (973), S. 105-112. 3 | Zu Heiner Müllers Text vgl. Haß, Ulrike (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin 2005. 4 | Für eine Analyse von Chétouanes Tanzstück #1 unter diesem Gesichtspunkt vgl. Tatari, Marita: »Le drame révolu et le drame de la présence«, in: Théâtre/ Public 10-12/2012 (206), S. 26-30.

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

stellbare setzt die Darstellung als Darstellung von etwas voraus.5 Tanzen fängt in diesem Theater erst jenseits der Dualität von Darstellung und Undarstellbarem oder von Darstellung und Realität, Spiel und Leben an; es fängt an mit der Erforschung jener Qualität von Präsenz, die ein darstellender Körper ermöglicht, das heißt, mit der Erforschung der Raumund Zeiterfahrung, die dieser Körper ermöglicht und die die gewöhnliche Wahrnehmung von Raum und Zeit auf den Kopf stellt.6 5 | Zu einer solchen Kritik des Begriffs des Undarstellbaren vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe: »A Jean-François Lyotard – Où en étions-nous?«, in: ders.: L’imitation des modernes. Paris 1986, S. 257-285, hier S. 282-285. 6 | Jean-Luc Nancy legt in mehreren seiner Texte das Präfix »Re« in dem Wort »Repräsentation« als Intensivierung der Präsenz aus (vgl. u.a. »Theaterkörper«, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, André/Zimmermann, Mayte (Hg.): Performing politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 158-171, hier S. 160). Das Wort »Intensivierung« entnimmt Nancy aus Schaeffner, André: Origine des instruments de musique. Introduction à l’histoire de la musique instrumentale. Paris 1936. Nancy analysiert dieses Wort als ein »Fürsich-nehmen« der sich gegenwärtig entfaltenden sinnlichen Intensitäten (JeanLuc Nancy: »Theater als Kunst des Bezugs 2«, in: Tatari, Marita (Hg.): Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich/Berlin 2014, S. 101-107). Dieses Für-sich-nehmen der Intensitäten als abgelöst aus allen sie tragenden Schemata bedeutet stricto sensu eine radikale Dekonstruktion der metaphysischen Voraussetzungen, die als selbstverständlich und evident im Alltagsgebrauch der Sprache gelten, wie der eines Körpers als Einheit, eines »Ich«, das zuschaut und empfindet usw. (Für eine andere Analyse der Herkunft und der Bedeutung des Wortes »Intensivierung« in und aus einem anderen theoretischen Kontext heraus vgl. Hörl, Erich/Tatari, Marita: »Die technologische Sinnverschiebung – Orte des Unermesslichen«, in: Tatari, Marita (Hg.): Orte des Unermesslichen, S. 43-64). Nancy analysiert die Sinnlichkeit bzw. den Affekt als elementare Bezugnahme, d.h. als eine Bewegung, die die in der Umgangssprache als evident geltenden Voraussetzungen (eines »Ich«, eines Raums, der vor mir steht usw.) durchzieht und beschreibt somit eine primordiale Bewegung, die zugleich das, durch das sie hindurchgeht, hervorbringt, ihm vorausgeht und es aussetzt: Sie gibt das, durch das sie hindurchgeht, als »Mit«, als Bezugnahme, als Öffnung hin zum Anderen (vgl. Nancy, Anbetung). Bei dieser Analyse von Nancy handelt es sich um eine Radikalisierung des heideggerschen Begriffs des Mit-seins. (Für eine frühere Analyse Nancys des heideggerschen Begriffs und eine Kritik an Heideggers Ge-

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Diese konkrete Arbeit an den Bedingungen der szenischen Darstellung, die ein ganzes Feld im Bereich des Tanzes aufzeigt, setzt körperlich und räumlich Fragen jenseits eines Denkens des Subjekts fort, wie sie die französische Phänomenologie und Dekonstruktion, aber auch etwa Bergson oder Deleuze gestellt haben. Heiner Müller, der am Ende einer Form von Theater steht, nämlich an einem Ende, das mit der Notwendigkeit der Erfahrung der konstitutiven Unmöglichkeit des Subjekts bzw. der Geschichtsteleologie verbunden ist, ist für diese Arbeit nicht zufällig wichtig gewesen. Die Verabgründung des Glaubens an eine Verwirklichung des Menschen als Subjekt der Geschichte ist als eine politisch-historische Forderung formuliert worden, die, von den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts diktiert, im Theater nicht bloß thematisch, sondern ästhetisch als Frage der Darstellung selbst hervorgetreten ist. An diesem Punkt setzt die künstlerische Suche von Laurent Chétouane ein, sie nimmt aber eine eigene Richtung, die auch als Position gegenüber heutigen Bedingungen verstanden werden kann: Bedingungen eines Jahrhunderts, das nicht nur den Glauben an eine Geschichtsteleologie, sondern auch noch die Orientierung an einem zu sprengenden geschichtlichen Zweck hinter sich lässt. Der vorliegende Text formuliert die These, dass die Entwicklung von Laurent Chétouanes Arbeit seit 2007 auf eine bestimmte körperliche, szenische Weise eine Suche formt, die sich theoretisch mit einer heute stattfindenden Verschiebung innerhalb der Denkrichtung dessen, was man Dekonstruktion nennt, erschließen lässt.7 Da es keineswegs um die Anwendung einer Theorie geht, sondern um einen Umgang mit dem Raum, den Körpern, der Bewegung, der nicht mit vorausgesetzten theoretischen Kategorien operiert, möchte ich – vor einer Analyse seines Sacré Sacre brauch des Mitseins vgl. Nancy, Jean-Luc: »Das Mit-sein des Da-seins«, in: ders.: singulär plural sein. Üs. v. Ulrich Müller-Schöll, Zürich/Berlin 2004, S. 151-172.) 7 | Zu einer Analyse der Verschiebung einer Dekonstruktion, die ihren Ausgangspunkt in einer Gemeinschaft bzw. in etwas nimmt, das verabgründet werden soll, hin zu einer Dekonstruktion, die die Bewegung eines Bezugs voranstellt, vgl. Tatari, Marita: »Zur Einführung: Theater nach der Geschichtsteleologie«, in: dies. (Hg.): Orte des Unermesslichen, S. 7-22. Zu einer kritischen Auseinandersetzung Nancys mit Blanchots Begriff der Gemeinschaft und einer Kritik an seinem eigenen früheren Umgang mit diesem Thema vgl. Nancy, Jean-Luc: La communauté désavouée. Paris 2014.

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

du Printemps – einige der Fragestellungen vorstellen, die aus Chétouanes Erforschung der Darstellung meiner Ansicht nach entstanden sind. So möchte ich zunächst drei der Schwerpunkte seiner künstlerischen Suche und Entwicklung besprechen, um damit die Art meiner Annäherung an ihn zu erläutern.

V err äumlichung In Tanzstück #1 lässt das Sprechen des Texts die gesprochenen Worte in ihrem Entspringen wahrnehmen: dass Worte, bevor oder indem sie etwas bedeuten, ein Auftreten sind. Indem die Worte sich nicht wie im gewöhnlichen Sprechen in Bedeutungen, Stimmungen und Intentionen verlieren, sondern indem sie sich selbst fremd werden, beziehen sie sich auf sich, halten sie sich in ihrem Auftreten auf, machen sie sich selbst hörbar, ihre Entfaltung spürbar. Dieses hervortretende Entspringen der gesprochenen Worte macht durch ihre Verflechtungen mit anderen Worten hindurch die Praxis der Entfaltung dieser Zusammenhänge erfahrbar. Durch die sich verflechtenden Bedeutungsnetze hindurch wird die Entfaltung des Beziehens wahrnehmbar. Wenn der Text von Heiner Müller ein Bild beschreibt, das sich radikal entzieht, wenn diese Bildbeschreibung die Entfaltung der Sprache als Entfaltung – aus einer Destruktion des Dargestellten heraus – erfahrbar macht, dann hat Laurent Chétouane diese Entfaltung als Sprechen und Sich-Bewegen erarbeitet. Das Auftreten dieser Entfaltung setzt unsere Vorstellung davon, was ein Körper, eine Person, ein Darsteller, ein Raum ist, aus und öffnet das Feld einer tänzerischen Suche. Der darstellende Körper in Tanzstück #1 verkörpert nicht die Bedeutungen des Texts, sondern gesprochener Text und sprechender Körper koexistieren. Wie der Text in keinem Bild und keiner Bedeutung erstarrt, so lässt der darstellende Körper diesseits eines Dargestellten seine räumliche und zeitliche Entfaltung erfahren. Die Praxis dieser Entfaltung ist das Werden, das Entspringen eines Raums, erzeugt von der Präsenz des darstellenden Körpers – weder Verräumlichung einer fiktiven Welt noch Erkundung eines vorhandenen Raums. Dieser darstellende Körper ist nicht ein vorgegebener Körper, er ist nicht der Körper des Darstellers, oder vielmehr: Der Körper des Darstellers zieht sich als solcher zurück, um die sich im Zustand der Darstellung entfaltende Präsenz – das szenische

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Stehen, Schauen, Sprechen, Sich-Bewegen – als Raumwerden erfahrbar zu machen. Der Raum wird nicht als vorhandener behandelt, sondern der szenische Raum und der Raum der Zuschauer sind vielmehr ein Raumentzug, sie werden nur als die Bedingung vorausgesetzt, die die Erfahrung der szenischen Darstellung als Entfaltung einer Bezugnahme ermöglicht (eines Sich-zur-Schau-Stellens oder Zu-empfinden-Gebens, das folglich ein Bezug auf sich wie auf andere ist) und damit auch als Entfaltung eines Raums. Das heißt, dass diese Arbeit dort ansetzt, wo die Zuschauenden erst durch den darstellenden Körper als Zuschauende oder Empfänger hervorgebracht werden: dort, wo die Zuschauenden keine vorausgesetzten Individuen, sondern diejenigen sind, die die sich entfaltenden Intensitäten als Intensitäten verräumlichen. Es geht dabei also nicht darum, als Subjekt zuzuschauen, sondern es geht um eine Erfahrung, die sich nicht auf die Innerlichkeit eines »Ich« stützt, sondern die sich als das Stattfinden dieser Intensitäten, als Bezugnahme auf dieses Draußen ohne Innen erschließt. Die Fragestellung, die sich tänzerisch in Chétouanes Arbeit entfaltet, fängt dort an, wo Körper und Raum aufhören, Gegebenheiten zu sein: wo der Körper nicht der Körper und nicht im Raum ist. Wo der Körper des Darstellers sich als solcher zurückzieht, wo er also keine Einheit und kein Instrument, sondern raumwerdende Intensitäten ist: der Trieb des Werdens als plastische, sich auf sich selbst beziehende, sich selbst fremd werdende, sich umformende, sich selbst begegnende und sich in sich selbst trennende, Mehrzahl werdende, fließende Materialität.

D ie Z eit des Z usammen Aus der Erforschung der Mikrobedingungen der szenischen Präsenz ist ein weiteres Thema entstanden, das in Chétouanes Serie der Tanzstücke explizit erarbeitet wird. Wenn ein Körper auf einer Bühne seine Präsenz zur Schau stellt (oder zu empfinden gibt), ohne sich selbst und den Raum vorauszusetzen, wenn die Bühne diese Nicht-Voraussetzung, diese Aushöhlung des Raums und des Selbst ermöglicht, dann wird der Raum erst als diese Adressierung, als dieses Zur-Schau-Stellen oder Zu-empfindenGeben erzeugt. Körper und Sprechen auf der Bühne sind die Praxis dieser Erzeugung. Indem der Tanz in dieser Arbeit mit der Frage des Bezugs anfängt, des Bezugs auf sich (des Sich-Zeigens) und des Bezugs auf andere

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

(als Bewegung, Sprechen und Aus- bzw. Zur-Schau-Stellung), fängt der Tanz gleichwohl mit der Frage des Zusammen, des »Mit«, des Ensembles an. Dieser Punkt hat in der Entwicklung von Chétouanes Tanzstücken allmählich Kontur gewonnen: Weil Tanz nicht als Bewegung eines Körpers im Raum aufgefasst wird, sondern das Körpersein als Raumwerden auftritt, ist der Körper für die Fragestellung dieses Tanzes schon in sich ein Gefüge. Nicht das Gefüge von vorausgesetzten Bestandteilen, sondern das Fließen des Fügens. Tanzen heißt hier: Ort sein für das Fließen des Fügens. Das, was in unbegrenzter Zahl und Art von Beziehungen zusammengefügt wird, ist nicht vorgegeben, sondern wird im jeweiligen Sich-Beziehen-auf etwas anderes. So ist der tanzende Körper nichts Gegebenes, nichts mit sich Identisches, sondern er ist schon in sich eine unbestimmbare Vielzahl. Mit dem einen tanzenden Körper ist schon die Frage des Zusammenseins gestellt, die sich dann explizit als Tanzen mit anderen ausbreitet. Die Frage: Wie bewegt man eine Schulter, wenn die Bewegung aus keiner Geometrie, die sie berechnen könnte, vorbestimmt ist?, und die Frage: Wie ist man zusammen, wenn das Zusammensein nicht die Zusammenfügung gegebener Personen, Subjekte, Körper ist?, sind ein und dieselbe Frage. Wie findet der fügende Trieb statt? Wie werden die Bestandteile, die Körperteile, die Körper, zum Ort für das, was in ihnen nicht gegeben, sondern mehr und anders als sie ist? Wie werden sie eine Öffnung hin zu anderen Körpern? Hier ist das Zusammensein als Tanz nur die Intensivierung oder die Steigerung der Komplexität dessen, was schon in einem tanzenden Körper geschieht. In der Fragestellung, mit der diese Arbeit meiner Ansicht nach operiert, ist »Körper« das Knüpfen eines Zusammen, das keine gegebenen Dinge verbindet. Vielmehr geht es um die Ausstellung eines Zusammen, einer treibenden Bezugnahme, die die Körper in ihrer Existenz, in ihrer Entfaltung als Raumzeit sind. In diesem Sinn ist schon das DaStehen, das Auftreten, Atmen, wenn es sich selbst ausstellt, ein Tanzen: wenn das Sich-auf-Draußen-beziehen sich so selbst ausstellt, wenn es jede vorausgesetzte Innerlichkeit aushöhlt und dadurch als ein »Mit« erfahren wird, als ein Gefüge, das nichts außer die Praxis dieses Bezugs selbst ist. Zusammensein als Tanz, zusammen tanzen, heißt hier vielfache Bezugnahme sein, sich den Körpern selbst als über sich hinausgehende, als Bewegung des »mit«, »in«, »zum« hingeben.

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In dem Maß, wie der Körper sich selbst als sich entgehender, anders werdender, mehr als einer seiender hingibt, wie er zu einer Materialität wird, die auf das Unermessliche der Materialität selbst hinweist, formen sich Konstellationen einer Konfiguration. Konfiguration ist eine Form; sie ist das Zusammenhalten der Verschiedenen. Aber diese Verschiedenen unterscheiden sich zuallererst in sich von sich selbst, trennen sich in sich, beziehen sich auf sich als andere. So wird die Konfiguration vom fortwährenden Beziehen, vom durch die Körper hindurchgehenden Trieb des Werdens (dem Trieb, der »Sein« als Verb ist) ausgemacht.8 Der zweite hier besprochene Schwerpunkt, der als Fragestellung Chétouanes Entwicklung prägt, ist die Konfiguration als Sich-Beziehen-auf, das Entspringen der Zeit, die Zeit als Raumwerden. Die Konfiguration wird vom Rhythmus ausgemacht, verstanden weder als Organisation der Dauer noch als Einrichtung von Einheiten, sondern als immer wieder raumgreifender Trieb des Werdens. Werden die Konfiguration und der Rhythmus so verstanden, dann impliziert dieser Rhythmus, dass immer wieder das stattfinden muss, was nicht im Raum, sondern Öffnung des Raums ist. Es muss immer wieder dem ein Ort gegeben werden, was im Raum und im Körper Öffnung hin zu anderen ist. Diese Zeit, die Zeit in ihrem Entspringen, unterbricht die Konzeption des Raums als gegebenem: Diese Zeit verläuft nicht im Raum. Sie ist Raumwerden als Synkope jedes gegebenen Raums. Und diese Zeit unterbricht zugleich die lineare Konzeption der Zeit als Abfolge von Gegenwarten. Im Zusammenhang der tanzenden Konfiguration mit dieser nicht-linearen Zeit lässt sich das Kommende als tanzender Gestus und das Vergangene als tanzende Spur erfahren: eine Gegenwart von Zukünften und Vergangenheiten als das Entspringen von Bezügen.

8 | Zum Begriff des Triebs vgl. Nancy, Jean-Luc: Die Anbetung, S. 78: »Der Trieb ist nicht zuerst der Bezug eines ›Subjektes‹ auf irgendein ›Objekt‹ – sondern er ist Bedingung oder Natur des ›Seins‹. ›Sein‹, verstanden als Verb, bedeutet ›treiben‹, ›sprießen‹, oder ›Impulse geben‹, ›in Schwung bringen‹ und auch ›erschüttern‹, ›erregen‹. Sein ist Trieb und Pulsieren des Seienden allgemein«.

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

D ie B edingung des Tanzes Das dritte Merkmal, auf das ich eingehen möchte, baut auf den ersten beiden auf und hat sich mit der Weiterentwicklung dieser Merkmale in Chétouanes Arbeit bis hin zu Sacré Sacre du Printemps allmählich herauskristallisiert. Indem die Darstellung, auch die Darstellung von etwas, als Raumwerden, als Praxis des Beziehens erfahren wird, und indem diese schon die Alterität und Vielheit des Einen ist, gestaltet sich dieser Tanz nicht durch die Sprengung älterer Tanzformen. Er findet nicht durch einen Bruch mit alten Konventionen zu sich. Es geht nicht darum, sie zu sprengen. Die Bezugnahme, das Raumwerden, das Fügen, das dieser Tanz entdeckt, hat schon die Virtuosität des Balletts, die Geometrie seines Raumes, wie auch die Expressivität des Ausdruckstanzes bedingt. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass es keine oder dass es nicht sogar große Unterschiede zwischen diesen Tanzformen gibt, sondern, dass Chétouanes Ansatz gegenüber anderen Formen nicht die Unterminierung, sondern ein Wiederaufgreifen dieser Bedingung ist. Es geht also nicht vorrangig darum, das souveräne Subjekt des Balletts oder die sich ausdrückende Interiorität des Ausdruckstanzes einer Alterität auszusetzen, die nicht angeeignet werden kann. Es gibt nicht das sich aneignende Subjekt des alten Tanzes auf der einen Seite und das seinen Abgrund bejahende und ausstellende »Subjekt« eines gegenwärtigen Tanzes auf der anderen Seite, sondern der Ausgangs- und der Schwerpunkt von Chétouanes tänzerischen Forschungen ist eine immer schon am Werk seiende Bedingung des Tanzes. Statt die Selbstbeherrschung der Virtuosität, die Souveränität als das, was das Wesentliche bzw. was die Eleganz des Balletttanzes ausmacht, zu sehen, geht es also in der Fragestellung dieser Suche darum, das Wesentliche oder die Eleganz des Tanzes – und das heißt auch, aber nicht notwendig, des Balletttanzes – im Raumwerden des Fügens, des Beziehens neu zu entdecken und eigens auszuarbeiten. Das macht eine Denunzierung oder Unterminierung älterer Tanzformen als in der Subjektivität gefangene hinfällig. Es macht jene Denunzierung älterer Formen hinfällig, die eine Reihe von Tanzarbeiten prägt, wenn sie das Tänzerische jenes Tanzes in seinem Produkt sehen: im selbstbeherrschten oder ausgedrückten Subjekt, einem Produkt, das von ihnen ausgesetzt, abgebaut wird. Dagegen gilt es bei Chétouane, das Tun, das Raumwerden des Beziehens als das Tanzende zu erarbeiten.

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Man könnte diese drei besprochenen Merkmale – die Verräumlichung, die Zeit des Zusammen und die immer schon am Werk seiende Bedingung des Tanzes – so zusammenfassen: Das Andere (oder das Fremde) und das Eigene sind nicht zwei unterschiedliche Zustände, sondern das Andere, das Fremde ist das Eigene, indem dieses, bevor oder indem es irgendetwas ist, bevor oder indem es es selbst ist, Bezug, Hinweis, Gestus, Raumwerden, mehr als Eins und mehr als Selbst ist.

O pfern Im Ritual des Menschenopfers bildet sich eine Gemeinschaft (eine archaische Gemeinschaft), indem durch dieses Opfer Bezug auf die absolute Alterität eines Göttlichen genommen wird, das heißt Bezug auf das, was nicht angeeignet werden kann. Durch das Opfer hat die Welt der Sterblichen das bejaht, was ihr entgeht, was diese Welt übersteigt und dadurch hat sie ihre eigene Grenze gefeiert und zu sich gefunden. Anders als in Strawinskys Fabel von Le Sacre du printemps wird in Chétouanes Sacre niemand geopfert – so kündigt er es im Programmheft an. Durch diese Verschiebung des erzählerischen Stoffs, der der ersten Choreographie zu Strawinskys Sacre zugrunde lag, stellt sich Chétouane explizit einer Frage, die vielleicht schon Strawinskys Sacre, wie vielleicht alle Kunst nach der archaischen Welt bedingt: Was ist Opfern, wenn wir uns nicht mehr in der Welt des Menschenopferns befinden, oder: Was passiert mit der Kunst nach dem Entzug des Göttlichen? Der Entzug des Göttlichen in einer Welt, in der es nicht möglich ist, durch das Menschenopfer einen Bezug zum Göttlichen herzustellen, lässt nicht nur die Säkularisierung des Göttlichen als einzige Alternative übrig. Er lässt nicht nur den Willen einer Aneignung der Alterität als einzige Alternative übrig – einen Willen, den die totalitären Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts vollzogen. Der Entzug des Göttlichen hat uns nicht nur eine immanente Welt ohne Alterität, ohne Draußen überlassen. Chétouanes Verschiebung wirft die Frage auf, ob Tanzen selbst ein Opfern ist, in dem es weder darum geht, durch das Opfern Bezug zur Alterität eines Jenseitigen herzustellen, noch darum, durch die vermeintliche Aneignung der Alterität des Todes Bezug zu sich herzustellen, sondern um ein Opfern, das eine nicht aneigenbare Alterität in dieser Welt bejaht. Sie wirft die Frage nach einer Transzendenz auf, die nirgendwo hingeht,

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

in kein Jenseits, nach einer endlichen Transzendenz, die die Selbst-Differenz oder Alterität des Hierseins ist, die Praxis seiner Entfaltung selbst. Diese Entfaltung kann der Tanz ausstellen. Tanzen als ein so gedachtes Opfern wäre also die Praxis einer Bezugnahme, die jeglichen Halt aufgibt, von keinem tragenden Boden ausgeht und auf keinem Boden endet. In ihr ginge es darum, die radikale Alterität, die früher als das Göttliche gedacht wurde, in keinem Jenseits, sondern hier zu bejahen. Das Hiersein ist diese Alterität selbst, indem es mehr und anders als es selbst Bezug und Bewegung ist. Tanzen kann diese Alterität ausstellen, indem es Körper, Raum und Zeit bzw. Bewegung nicht als Bewegung eines Körpers in einem Raum erfahrbar macht, sondern aus dem Entzug der Voraussetzung des Raumes, der Zeit, des Körpers, das Werden des Raums, die Verräumlichung und die Zeit des Zusammen ausstellt. In einem solchen Tanz ginge es nicht darum, durch die Erfahrung der Alterität zu sich zu kommen und man selbst zu werden, sondern das Draußen als die Entfaltung dieser Welt selbst zu erfahren.

S acré S acre du P rintemps Sacré Sacre du Printemps fängt mit einer Komposition von Leo Schmidthals an, die in meinen Ohren wie ein Aufruf klingt, hin zu einer sich entziehenden, sich verschiebenden Fremdheit, einer radikalen Fremdheit, die an das, was man früher Heiliges nannte, erinnert und somit als Vorbereitung, als Konzentration auf die Hingabe an eine Fremdheit anklingt. Der Tanz fängt mit dieser Musik an oder, genauer gesagt, diese Musik fängt mit dem Tanz an. Denn als erstes gehen und stehen die Tänzer mit den Gesichtern zu den leeren seitlichen Projektionswänden, die einen Bühnenraum zusammen mit einer dritten, höher gestellten Projektionsfläche bilden, auf die die Spur einer Landschaft projiziert wird. Zuerst geht es darum, sich von diesen Wänden wegzudrehen und sich in den Abstand zwischen den leeren Flächen auf der Bühne zu bewegen. Von der ersten Tänzerin aus, die sich von der Wand abdreht und zum Raum öffnet, geht die aufrufende Musik aus. Sie erkundet nicht den Raum der Bühne. Sie bewegt sich nicht im Raum. Wie kann man nicht von A nach B gehen, sondern wie ist man, transitiv, A und B und somit nicht ein X am Punkt A des Raums, sondern Öffnung hin zu A und zu dem hin, was anders als A ist? Wie kann man nicht ein geöffnetes Etwas-zu-Etwas

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im Raum sein, sondern die Gleichzeitigkeit der möglichen Richtungen, die Aktualität der Vielfalt der sich verändernden Bezüge, die jeweils einen Punkt ausmachen, offenhalten? Mit dieser Frage ist die Bewegung Tanz, der sich allmählich als nicht im Raum ablaufender zeigt, sondern als das Raumwerden, die Bezugnahme, die Tanzende und Zuschauende sind. So überschreiten bald die Tänzer den von den Projektionswänden geformten Bühnenraum. Die Spannung, die sie sind, indem sie Hinwendung zu etwas anderem sind, indem sie von anderem in sich aufgerufen sind, weiter als zu sich selbst zu gehen, in einem Zug, einer Bewegung hin zu etwas anderem zu sein, setzt sich allmählich frei. Mit dem Hervortreten der Nicht-Gegebenheit des Raums, des Rahmens, der Körper, fängt das Miteinandersein an sich zu suchen. Es tritt als Frage hervor. An- und Zurückziehungen, Anstöße und Abstoßungen. Und dabei einander anschauen und die Fremdheit des Blickes zulassen. Denn das Fremde wird in Spannung versetzt zwischen den Tänzern und den Zuschauern, und zwar als das Draußen, das durch sie hindurch- und von einem zum anderen übergehende Sinnliche. In Spannung versetzt zwischen ihnen, intensiviert sich das Draußen als ihre eigenen Bezüge, Gesten, Bewegungen. Die Spannung tritt eigens als durch sie hindurchgehender Trieb hervor, bis die Tänzer anfangen, im Kreis zu rennen und dadurch über den vorhandenen Bühnenraum hinaus einen anderen Raum öffnen. Dann hört die Musik auf, die Tänzer stehen auf dem hinteren Teil der Bühne mit dem Gesicht zur projizierten Landschaftsspur, zur Spur eines Draußen. Und von dort, ohne Musik, drehen sie sich um und kommen nach vorne zu den Zuschauern. Erst eine Tänzerin, mit offenen Händen. Sie schaut zu ihnen. Sie atmet die Intensität ein und aus. Dann gehen alle Tänzer nach vorn, atmen, schauen einander und die Zuschauenden an. Das Ein und Aus des Atmens, des Blickes, der Intensität, tritt eigens hervor und erzeugt einen anderen Raum als jenen von zuschauenden Subjekten und angeschauten Objekten. Zuschauer und Tänzer schauen einander nicht mehr als Subjekte zu, sondern erfahren sich selbst als Bezugnahme. Über ihre Gegebenheiten und Gewissheiten hinaus ist das Fremde, um das es hier geht, ein »wir«, das kein kollektives Subjekt bezeichnet, sondern reine Bezugnahme ist. Das Fremde, das am Anfang erwartet wird, erweist sich allmählich als nichts anderes als die Körper selbst. Nicht die Körper als Gegenstand einer zuschauenden Betrachtung, sondern als der Gestus, der alle sind,

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

indem sie sich als Bezug auf die eigens hervortretenden ein- und ausgehenden Intensitäten erfahren. Der Tanz enthüllt sich als Gestus einer Hingabe an das Fremde, das Andere, das Draußen, Hingabe an eine Bewegung, die die Körper als sich umformende Intensitäten aufscheinen lässt. Nach der musikalischen Einführung Schmidthals’ fängt Strawinskys Le Sacre du printemps an und mit ihm tritt das Gemeinsame des Zusammentanzens als Frage hervor. Was ist dieses »Mit«, dieses Zusammentanzen aller? Einer nach dem anderen gleiten die Tanzenden an der Möglichkeit entlang, das Opfer zu sein, durch das eine Verbindung für das Ensemble etabliert und das Ensemble zu sich finden würde. Das Fremde jedoch, das als der Trieb selbst ihres tänzerischen Miteinanders allmählich an Spannung und Intensität gewinnt, macht bei niemandem Halt, wird durch niemanden zum verfügbaren Bestand für den Zusammenhalt des Ensembles. Das Fremde manifestiert sich als die Kraft, die durch sie hindurchgeht, wie ein Schlag an der Wand. Es manifestiert sich als ihre Bewegung selbst. In der minutenlangen Stille, die Chétouane zwischen dem ersten und zweiten Teil von Strawinskys Le Sacre du printemps öffnet, geht es nicht mehr um eine Gruppe, die ihr Zusammensein sucht. Weder Einzelne noch ein Kollektiv, sind die Tänzer vielmehr wie Elementarteilchen ihre wechselnde drehende Zusammenwirkung. Die Beine sind der forttreibende Stoß, der Antrieb aus jeder immanenten Form heraus, diese Kraft, die den Rhythmus ausmacht. Und die Hände breiten sich aus wie die Strahlung von Photonen, von Teilchen, die in einem Bezugssystem keine gegebene Masse haben. Sie breiten sich aus als ihr wirkendes »Mit«. In dieser Stille, in der die Tänzer drehend schließlich am Boden unter der nun auf alle Wände projizierten Landschaftsspur liegend einen Kreis formen, scheint das Ritual des Todes bzw. das Opfer die Zugehörigkeit von jedem, das Aufgeben der Einschreibung einer jeden in ein Bezugssystem zu sein. Dieser Tod und diese Opferung bringt aus dem Entzug jeder Gegebenheit heraus die Praxis der Beziehung in den Vordergrund und lässt sie eigens aufscheinen, als die sich wandelnde Zusammenwirkung aller. Der anschließende zweite Teil von Strawinskys Sacre entfaltet sich tänzerisch als Freiheit der Musik gegenüber. Der Tanz stellt nicht Bezüge zur Musik her, er drückt sie nicht aus, sondern Tanz und Musik koexistieren. Es wird mit und auch über Strawinskys Musik hinaus getanzt, indem das Raumwerden über die Musik hinaus hervortritt. Mit der abschließen-

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den Neukomposition von Leo Schmidthals weitet sich das Tanzen sanft als diese Freiheit über jede Immanenz, jede Gegebenheit eines Bezugssystems aus, in einer Art zusammen zu sein, die selbstverständlich und unauffällig ist.

E in F eld für den Tanz Es sind nicht die Fragen, wie die Bedeutung oder die Schönheit eines Bildes unterminiert wird, wie sich der Körper von der Virtuosität und der Geometrie des Balletts emanzipiert, die in Chétouanes Arbeiten von Interesse sind, sondern Fragen wie diese: Wie wird die Öffnung des Raums, die eine Bewegung ist, offen gehalten? Wie wird die Bewegung nicht von einem Ausgangs- und einem Zielpunkt aus definiert, sondern wie aktualisiert sie die unermessliche Fülle von Möglichkeiten, die sie als Raumöffnung ist? Nach Sacre sind diese Fragen nicht mehr auf zögernde, zaudernde Weise in Bezug auf etwas, das dekonstruiert wird, erarbeitet, sondern sie sind ein dynamischer Tanzfluss geworden, Genuss am Tanzen. So wie beispielsweise das heitere Duo von Matthieu Burner und Mikael Marklund, M!M: Die beiden Tänzer tanzen zu Beethovens Violinkonzert op. 61, ohne irgendetwas ostentativ zu dekonstruieren. Ihre Bewegung jedoch sucht die Praxis eines »Mit«, eines Zusammen, das die Körper und den Raum nicht voraussetzt. Bei dieser Bewegung geht es darum, dem Fluss des Beziehens freien Lauf zu lassen, sich nicht von einer Gegebenheit heraus auf den anderen zu beziehen, sondern aus einem Nichts, einem Entzug heraus Hingabe an die vielfachen Modalitäten des Beziehens zu sein. In 15 Variationen über das Offene, einem Quartett mit Livemusik von Nico Muhly, konkretisiert sich diese Fragestellung als Erforschung der Fläche weiter. Die Vielfalt von Möglichkeiten, die ein Körper als Raum ist, das Zusammentanzen, das die Körper selbst als Mit-Sein hervorbringt, die Öffnung von Möglichkeiten als Raumrichtungen werden nicht als Auswahl aktualisiert, die in der Bewegung, in der der Körper sich unentschlossen verhält, offen bleibt. Die Entfaltung der Bewegung nicht aus einem gegebenen Punkt und ohne aus einem Ausgangs- hin zu einem Fluchtpunkt zu gehen, ist nicht mehr bloß als Vielfalt möglicher Richtungen belebt, sondern als Fläche, in der das Gewicht, die Schwerkraft und das Volumen aus einem sich entziehenden Punkt heraus gespürt werden:

Ein Tanzfeld, aus dem Theater heraus

aus einem Punkt heraus, der kein bestimmter räumlicher Punkt ist, aus einer Distanz heraus, die nicht messbar ist. So werden die Kräfte, die eine Fläche durchziehen, aus einer festgelegten Perspektive befreit. Die Bewegung ist dann nicht Hingabe an einen verschobenen Endpunkt, sondern sie wird zu einem Sich-durchdringen-Lassen durch die plastisch werdenden Kräfte und Volumen der Fläche. Körper und Bewegung werden durch diese Kräfte erzeugt und Tanzen wird die Leidenschaft dieses Empfangs. Am Anfang verflochten mit der Forderung der Verabgründung der Repräsentation, hat Chétouanes tänzerische Suche mit Sacré Sacre du Printemps eine Dynamik erreicht, die diese Forderung hinter sich lässt. Die Entfaltung des Zusammen, die Öffnung und der Rhythmus der Raumzeit sind in den nachfolgenden Arbeiten im Unterschied zu seinen ersten Tanzstücken nicht mehr ausgehend von der Notwendigkeit einer Unterminierung des Dargestellten artikuliert. Obwohl die Notwendigkeit dieser Verabgründung eine Prämisse seiner Fragestellung ist, bleibt die Erforschung des sich darin öffnenden Tanzfelds, die Erforschung der Dimensionen, die sich für den Tanz in der Praxis der Darstellung öffnen, nicht mehr an etwas orientiert, das gesprengt werden muss. Die Verschiebung der Problematik einer Krise der Darstellung, bzw. einer Sprengung des Dargestellten im Theater, die Erforschung der Praxis des Darstellens diesseits eines Dargestellten, die Arbeit mit dem Körper als Raumentfaltung hat Chétouanes Suche ausgelöst. Sein Weg im Tanz kann als Antwort auf die Frage gesehen werden, was ein darstellender Körper ist, wenn wir jenseits oder diesseits einer Orientierung an einem Dargestellten und auch jenseits oder diesseits einer Orientierung an seiner Verabgründung sind.

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Ohne Bild Begegnungen mit Laurent Chétouane Heike Albrecht

Nach seinem späten Hauptstadtdebüt im März 2007 an den Sophiensaelen mit Studie 1: Bildbeschreibung von Heiner Müller und dem HamletTry-Out Hinrichs, Prinz von Dänemark mit Fabian Hinrichs bezeichnete Chétouane die Arbeit an Bildbeschreibung als Beginn einer konsequenten Arbeit im Tanz. Er skizzierte sein Interesse am tänzerischen Kreationspotential nicht als Loslösung vom Text mit seinen linearen Ausdehnungen, sondern eher als Gestaltung von Verhandlungen, die von den Tänzern oder Tänzerinnen miteinander und für das Publikum geführt werden. Das vorrangige Interesse an der Auseinandersetzung mit dem choreographierten Tanz rührte für Chétouane als Regisseur daher, dass er Anordnungen von sozialen Aktionen verdeutlichen und den stetig entstehenden Beziehungsräumen einen möglichen Ausdruck verleihen wollte, um damit Zeitgeschehen zu verhandeln. Zu dieser Zeit wurden Definitionen des künstlerischen Tanzes im Rahmen des zunehmenden wissenschaftlichen, bildungs- und kulturpolitischen Interesses am Tanz viel diskutiert. Mit den Erfahrungen eines Regisseurs im Sprech- und Stadttheater galt es für Laurent Chétouane, die Prinzipien der Produktion und Distribution der in Berlin (auch 2014 immer noch) rein projektgeförderten Arbeit im zeitgenössischen Tanz kennenzulernen. Vor allem aber galt es für ihn herauszufinden, was es heißt zu tanzen und den choreographischen Raum im Tanz zu erkunden und für sich zu erschließen. Die Choreographie ging bei ihm immer damit einher, dass er allmählich selbst zu tanzen begann, um sich mit den so gewonnenen Erfahrungen prozesshaft den eigenen choreographischen Anordnungen zu nähern und um die philosophischen Überlegungen, die den Stücken zugrunde lagen, mittels der Bewegung weiterzuführen.

Ohne Bild

Ab diesem Zeitpunkt hießen die folgende Arbeiten auch Tanzstück #. In der Zeit meiner künstlerischen Leitung der Sophiensaele entstanden dort Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und, Tanzstück #3 : Doppel/Solo/ein Abend und Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen). Im Nachhinein sind die Tanzstücke #1 und #2 als Recherche zu sehen, in der bestimmte Bewegungsqualitäten und ihre Entstehungsprozesse für eine körperliche Praxis erprobt wurden: so die Öffnung und Nutzung entstehender Zwischenräume und die Reibung daran oder die einer auffordernden Blicköffnung; so die Art und Weise, in der sich #3 wie #4 als Serie choreographischer Arbeiten zusammenfügen, die »der szenischen Erforschung bestimmter Repräsentationslogiken von Körpern, Sprache, Sichtbarkeit sowie Bildlichkeit von Räumen und Körpern im Zustand des Tanzes« galt.1 Zugunsten eines sichtbar werdenden Bewegungssystems wurde die Einbeziehung von Stücktexten ab Tanzstück #2 immer weiter reduziert. Als Zuschauer wurden wir Zeugen einer Response zwischen den Tänzerinnen und Tänzern, etwa zwischen Sigal Zouk oder Matthieu Burner, und der Suche Chétouanes nach einer Körperpraxis, die die Gegenwärtigkeit der Bewegung von Körpern im Moment ihres Stattfindens ständig (neu) verhandelt, aushandelt und so in Beziehung zu sich selbst, den weiteren Akteuren, dem Publikum oder zum Raum setzt.

D en K örper szenisch entdecken Warum entsteht eine Bewegung? Wodurch? Gibt es eine Intention, und wenn ja: welche? Die Notwendigkeit der Bewegung (oder ihrer Unterlassung) zu benennen und diese in Beziehung zu setzen, zu sich selbst, den weiteren Akteuren, dem Publikum, zum Raum, das ist ein sich wiederholendes Thema bei Chétouane: Wie entstehen Beziehungen, wie verlieren sie sich, wer ist wann wie beteiligt? Welche Aktion setzt etwas oder

1 | Haß, Ulrike: »Verzweigte Gegenwarten. Zu den Tanzstücken #3 und #4 von Laurent Chétouane«, in: Groß, Martina/Primavesi, Patrick (Hg.): Lücken sehen … Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehman. Heidelberg 2010, S. 291-302, hier S. 296f.

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Heike Albrecht

jemanden in Bewegung? Über diesen Beziehungskosmos wird ein politisches Anliegen verhandelt, dasjenige der Frage des Zusammenlebens. Ablehnung und Anerkennung liegen bei Chétouanes Arbeiten dicht beieinander. Er stellt sich der Uranstrengung, im Theater Sprache mit dem Körper zusammenzubringen, mit dem Körper selbst Sprache zu sein. Er weiß um die Bedeutungen, die eine Sprache aktiviert, die eine Körperbewegung bedingt. Wo befindet sich der Köper, wenn dieser spricht und rezitiert, ausspricht und weglässt? Es bleibt für mich eine romantische Anlage, den uns umgebenden Raum wieder und wieder zu durchmessen, ihn in dieser Weise in Beziehung zur Welt zu setzen und daraus entstehende Rhythmen durch ein wiederholendes Überlagern von Präsenz in Bewegung zu überführen. Bei Chétouane wird »[d]er Körper […] gleichzeitig thematisiert und erfahren«.2 Chétouane ordnet der Herausforderung, die Präsenz des Körpers zu aktivieren, der seine eigene Anwesenheit thematisiert, alles unter. Fast ist es zweitrangig, welche Bewegungen als Form entstehen, und dennoch wird jede Bewegung separiert, im Entstehen seziert und in Beziehung gesetzt – das wird sichtbar gemacht. Daraus ist heute eine Bewegungsqualität entstanden, in der etwas aufscheint, das sich auch schon vor sieben Jahren andeutete, als Chétouane in den Sophiensaelen daran ging, für sich den Begriff des Tanzstücks zu erfinden: »… es ist unmöglich, zu einem Bild zu gelangen«.3

2 | Ebd. S. 293f. 3 | »… it is impossible to have a picture«, so Chétouane im Künstlergespräch am Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a.M. am 25. September 2014. Einzusehen über den YouTube-Kanal der Alten Oper Frankfurt, online: www.youtube.com/ watch?v=2EWIN8gSGTA, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015.

Entlang eines begehrenden Widerstands Zur choreographischen Arbeit von Laurent Chétouane Krassimira Kruschkova

»Es kommt darauf an, wie lange man anhalten kann«, sagte Laurent Chétouane in einem öffentlichen Gespräch, als ich ihn nach dem Modus des Widerstands seiner Arbeiten fragte.1 Aber wie lange kann man anhalten, innehalten – entlang einer Bewegung? Wie lange nicht tun, wie lange nichts tun? Wie die Zäsur ausdehnen? Wie dem Akt, wie seiner Begründung widerstehen? Wie der Macht des Begründbaren und des Ausführbaren trotzen? Ein ästhetischer, ethischer, politischer Wiederstand prägt Chétouanes choreographische Arbeit, ein zugleich zäher und zärtlicher Widerstand der Gesten in seinen frühen Tanzstücken #0 bis #4 und auch – in allem Unterschied – in seinen späteren Tanz-Arbeiten. Es sind zugleich verhaltene und haltlose Gesten – zu sichtbar und zu wenig sichtbar zugleich, zu klein, als ob noch nicht da; zu groß, als ob bereits anderswo. Unabsehbare Gesten sind es, die, was es zu sehen gibt oder dass es zu sehen gibt, nicht verraten, die sich selbst ausblenden, Gesten, in deren Auftauchen sich ein Verschwinden vollzieht, die keine Repräsentation stützt, die hinter ihrer Zeichnung, hinter ihren Zeichen zurückbleiben.

1 | Die meisten Gedanken von Laurent Chétouane zitiere ich, wenn nicht anders angegeben, aus einem Gespräch mit ihm am 26. März 2010 unter dem Titel Nicht alles an uns heranholen im Rahmen der Redereihe Die Metaphern des Tanzes am Tanzquartier Wien.

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»… abgel assen zu haben von seinem B egehren …« Diese als ob beiläufigen, unvorsätzlichen, unbeabsichtigten und zugleich demonstrativen, ostentativen Gesten bleiben unersichtlich inmitten ihrer sichtbaren Figuralität, als könnten sie »zeichenlos«2 sein, so Hölderlins Wort für Antigones Tat. Chétouane inszeniert 2003 Hölderlins AntigoneÜbertragung, die später auch seine Choreographie horizon(s) als eine Suche nach dem noch möglichen Tanz inspiriert. Es sind unbedingte, unabdingbare und zugleich durchlässige, poröse, fast noch gar nicht umgesetzte, noch nicht stattgefundene und zugleich bereits entschwundene Gesten in dieser Choreographie, sofern sie ihren Gründen stets neu widerstehen – und gerade so in ihrem Begehren nicht nachlassen. Jacques Lacans Imperativ in seiner Antigone-Lektüre, im eigenen Begehren nicht nachzugeben, ist eine der Inspirationsquellen für Chétouanes unnachgiebige, unergiebige, nicht gegebene Gesten.3 Es sind Gesten wie ohne Hand und Fuß und ohne Halt, mit einer niemals eindeutigen, aber stets klaren Haltung, die – gerade im Sinne der Klarheit – szenisch allmählich verfertigt wird, wie Kleists Gedanken beim Reden. Diese Verfertigung ist zugleich von einem ständigen Widerstand geprägt, Widerstand gegen die Textur, die entsteht, gegen ihre Geschlossenheit und Festigkeit. Denken wir hier an Heiner Müller, einen anderen, neben Hölderlin und Kleist, wichtigen Autor nicht nur für Chétouanes Theaterarbeiten, sondern auch für seine Choreographien, explizit für sein Tanzstück #1: Bildbeschreibung

2 | Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. D. E. Sattler, darin Bd. 16., Sophokles, Frankfurt a.M. 1988, S. 289. 3 | Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychonalayse. Das Seminar, Buch VII. Hg. v. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, üs. v. Norbert Haas nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text. Weinheim/Berlin 1996, S. 380: »Ich behaupte, daß es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren.«

Entlang eines begehrenden Widerstands

von Heiner Müller; denken wir an Müllers Schreiben als »Kampf gegen den Text, der entsteht«4, einen Text, gegen den sich »die Feder sträubt«.5 Diese Auflehnung regt auch Chétouanes Tanz-Texturen an, die sich in aller konzeptuellen Strenge gegen die intentionale Stabilität sträuben und die Interpretationszäsuren ausdehnen, um keine glatten, keine ideologisierenden Deutungen zu produzieren. Deshalb so behutsam vertrackt, so sacht widerspenstig auch die rückbezügliche Verfertigung des Sagbaren und des Sichtbaren, z.B. in Chétouanes Erdbeben in Chili. Es ist eine Verfertigung, die sich gegen die gegenseitige Vereinnahmung von Text und Bewegung sträubt – gerade in den Bewegungen eines Tänzers, Philipp Gehmacher, der neben einer Schauspielerin, Marie Rosa Tietjen, und einem Schauspieler, Jan-Peter Kampwirth, Kleist spricht. Interessant ist der Weg der wechselseitigen Inspiration zwischen Chétouane und Gehmacher, dessen kurzer Text vom ich in Chétouanes Tanzstück #3 : Doppel/ Solo/ein Abend gesprochen wird. In Erdbeben in Chili, einer Inszenierung für das Schauspiel Köln, ist es das gegenseitige Aufschieben von Text- und Bewegungsmaterial, das die szenische Ich-Bezüglichkeit und Mimesis erschüttert, da es nachzuahmen scheint, ohne zu vereinnahmen: eine Mimesis ohne Nachgeahmtes, Mimesis von Bewegungen, die die Haut des Textes sträuben – wie Gänsehaut. Und so wirkt der Text wie in Gänsefüßchen gesetzt, fremd. Sprache und Bewegung proben hier stets ihre gegenläufige Verfertigung, indem sie einander zu buchstabieren scheinen. Und gerade in dieser paradoxen Wörtlichkeit entzieht sich beides doppelt – einerseits dem verfestigten, konsumierbaren Bild; andererseits der Illustration des Textes – und führt gerade so die gegenseitige Begründung von Sagbarem und Sichtbarem ad absurdum. Denn es handelt sich um eine Darstellung, die das Dargestellte nicht einfach illustriert, vielmehr verunmöglicht und zugleich exakt und explizit vermisst, in jedem Wortsinn vermisst: abmisst, absteckt und zugleich entbehrt, ermangelt. Tietjen, Gehmacher und Kampwirth in musikalischer Begleitung des Komponisten Leo Schmidthals sprechen und tanzen Kleists Text konzentriert, ekstatisch und nüchtern zugleich. Wir lauschen ihnen beim Arbeiten. Sie führen den Text aus und zugleich 4 | Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln 1992, S. 295. 5 | Müller in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Leipzig 1989, S. 38.

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scheint ihre Mnemotechnik nichts zu wiederholen, vielmehr holt die Bewegung den Text wider seinen Willen, gegen den Strich heraus, nicht heran. Keine Annäherung an den Text, eine Entfernung hin zum Text, mit nach ihm ausgestreckten Armen. Zugleich intim und distanziert sind die choreographierten Gesten hier in ihrer gespenstischen, widerspenstigen Klarheit. Es ist ein sinnlicher, kein sensorischer choreographischer Widerstand: Man muss das Sinnliche vom Sensorischen unterscheiden. Das Sensorische definiert – oder könnte definieren – eine reine Information oder einen reinen, von einem Sinn produzierten Stimulus. Das Sinnliche ist ein aufgeteilter Sinn (sens): Sinn in Verbindung mit Bedeutung (sens), Sichtbares als Sagbares artikuliert […]. 6

Diese Artikulierbarkeit wird in Chétouanes Choreographien stets zum Problem – da es gerade um sie geht. Aber wie viel Verzögerung verträgt die Artikulation des Kinästhetischen, wie viel Unentscheidbarkeit hält eine choreographische Struktur aus? Inwiefern geht es um Improvisation in den so präzisen Arbeiten von Chétouane, die meistens einen Pool von Bewegungssequenzen bereithalten, deren Reihenfolge in jeder Aufführung etwas anders erfolgt, auch wenn die Struktur klar markiert ist? Wenngleich nicht immer: Die Ausführung mancher geprobten Sequenzen erfolgt gar nicht, wird angehalten, abgehalten, sie warten umsonst auf ihren Auftritt. Chétouane: »Man muss sich von Lieblingsmomenten verabschieden können, wenn sie manchmal während der Aufführung einfach nicht entstehen.« In diesen Arbeiten lässt sich nichts forcieren. Aber wie viel Passivität verträgt die choreographische, wie viel die choreographierte Aktivität? Wie sich entlang der Passivität bewegen? Wie die Bewegung nicht stoppen oder verlangsamen, vielmehr ihre Linearität beim Innehalten des Inhalts irritieren? Was macht also Chétouanes Choreographie aus? Ausmachen in jedem Wortsinn: Was macht ihr etwas aus, woraus ist sie gemacht, was macht sie aus, was verabredet sie und mit wem, und was macht sie aus, was schaltet sie aus? Was den Geist ausmacht, sei, so Nietzsche, »auf einen Reiz nicht sofort [zu] reagieren.«7 Diese nicht sofortigen Reaktionen, diese Restreaktionen sind aufregend und in Chétouanes Arbeit immer wieder auszumachen, indem sie dekonst6 | Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? Berlin 2008, S. 43. 7 | Nietzsche, Friedrich: »Götzen-Dämmerung«, in: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hg.): Kritische Studienausgabe. Band 6. München/Berlin u.a. 1988, S. 108.

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ruktiv die Ursache-Wirkung-Ketten aufschieben, verzögern, irritieren, ja ausschalten: Unruhig, nicht verbindend, vielmehr trennend, nicht repetierend, vielmehr gegenläufig aufeinander folgend sind die Bewegungsketten in seinen choreographischen Anordnungen. Wie funktioniert also die Haltung des Abhaltens in einer choreographischen Arbeit, die immer ein Arbeiten am Rest bedeutet? Arbeiten am Rest – als an einer Wunde, an dem, was nie zu schließen, nie anzuschließen, nie zu wiederholen, nie heranzuholen ist. Nicht alles zu uns heranholen lautet der Titel von Chétouanes Ankündigungstext zum zitierten Gespräch, in dem er schreibt: Und entsteht auf der Bühne nicht unvermeidlich die Kluft zwischen dem Geschriebenen, dem Gesagten und dem Gesehenen, die auf ein Scheitern der Performance verweist? Auf ein »dichterisches« Scheitern? Auf eine »Wunde«, hätte Heiner Müller gesagt. Eine Wunde, eine Kluft, die uns nicht erlaubt, alles zu uns heranzuholen. Kann man dann in dieser Wunde tanzen und dabei eine Ethik der Performance entwickeln bzw. eine Ethik des Subjekts, in einer Zeit, in der jegliche Position gegen die scheinbar unvermeidliche Realität nicht relevant scheint?8

Diese Ethik der Performance als ein »dichterisches« Scheitern – Chétouane zitiert in diesem Zusammenhang Hölderlins Formel »dichterisch wohnet der Mensch« – ließe sich als eine Art Realitätskrise denken, oder mit Heiner Müller als ein Unmöglich-Machen der Wirklichkeit.9 Und wiederum anders berührt Chétouanes Ethik der Performance, des Subjekts, der Kluft die Ethik eines profanierten noli me tangere, um die Lesart eines anderen für Chétouane wichtigen Denkers, Jean-Luc Nancy, anzuführen: »Berühre mich nicht, denn ich berühre dich, und diese Berührung ist derart, dass sie dich auf Abstand hält.«10 Eine Ethik der unmöglichen Berührung prägt Chétouanes Theater- und Tanzarbeit, die an den Sinn nicht gerührt haben wird: 8 | Nicht alles an uns heranholen, TQW-Gespräch 26. März 2010, online: www. tqw.at/de/node/7533 zuletzt geprüft am 16.01.2015. 9 | Vgl. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2: Interviews und Gespräche. Frankfurt a.M. 1990, S. 13: »Und die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.«; oder S. 64: »Politik ist Kunst des Möglichen, Kunst hat mit dem Unmöglichen zu tun.« 10 | Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere. Zürich/Berlin 2008, S. 49.

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The cinema is the room where people leave their tragic situation, where they are no longer aware of their constantly failing situation. In contrast, the theatre could become the place where the impossible touching, our impossible but desirable signlessness, our repeated failing as a person between the image and reality, might be repeated or touched. The theatre could become a crime scene where an ethics of touching might be developed, an ethics of the movement that does not lead to death, which touches the impossible touching.11

Womöglich eine Ethik der »Lücke im Ablauf«, des »vielleicht erlösenden Fehlers«12, könnte man mit Heiner Müller sagen. Eine Ethik der verbindlichen Entfernung, des sinnlichen – auch im Sinne eines aufgeteilten Sinns – Verlangens nach Abstand, nach einem ebenso intimen wie irreduziblen, auratischen Abstand: In seiner »Ferne, so nah sie auch sein mag«13, könnte man hier vorsichtig Benjamin anführen, um Lesehorizonte zu öffnen – gerade um den Preis ihrer Entfernung, womöglich ihrer Irreführung: Sofern unsere singulären (Lese-)Horizonte einander stets verschieben und mehrere (szenische) Landschaften streifen, anführen, irreführen, konfrontieren. »Es geht immer um eine Konkurrenz der Landschaften, auf keinen Fall die Landschaft des Anderen zerstören, trotzdem sagen – ich will eine andere«, sagt Chétouane – denken wir auch an seine horizon(s).

»… er sieht mit den F üssen …« Auch in Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller choreographiert Chétouane eine Figur der Landschaft. Der Tänzer und Performer Frank Willens führt in minimalistischer Präzision die Instruktionen des Tex11 | Vgl. Chétouane, Laurent: »touching the touch«, in: Heun, Walter/Kruschkova, Krassimira/Noeth, Sandra (Hg.): SCORES N°1: touché. Tanzquartier Wien Magazine 2010, S. 94-99. 12 | Müller, Heiner: »Bildbeschreibung«, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller Material. S. 13. (Im Folgenden wird »Bildbeschreibung« (B) im Text mit den entsprechenden Seitenzahlen immer nach dieser Ausgabe zitiert.) 13 | Vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I. Frankfurt a.M. 1972, S. 471-508.

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tes aus, oft in expliziter und gerade so nicht bebildernder vielmehr zugleich entzogener Buchstäblichkeit. Wie »FREMD IM EIGNEN KÖRPER« (B 14) oder auch wie »ein Fremder, aber in der eigenen Sprache«14 wirkt Frank Willens mit seinem amerikanischen Akzent und seinem stotternden Bewegungsvokabular. Er scheint Sprache und Bewegung zu lernen und zugleich zu verlernen. Seine singuläre Bewegungssprache zwischen Gestikulieren und Zucken scheint selbstverloren, fremdgesteuert. Sie hinterfragt den Impuls, den Motor der Bewegung, die den Körper dezentriert, entschreibt, virtuos analphabetisiert. So ist jenes theatralische Jenseits, das Müller als »fleckiges blaues Brett mit der willkürlichen Bezeichnung HIMMEL« (B 8) markiert, hier tatsächlich eine große schwarze Tafel, eine Türfüllung, auf die Willens in Schreibschrift mit Kreide himmel klein schreibt – um im Weiteren die Tafel als Podest, Tür, Baum, Frau, Tisch, Grabstein, Bildrücken zu benutzen: Eine anthropomorphe Bühnenlandschaft der Verschränkung von Dingen und Figuren. Der Stuhl wird nach vorn umgeworfen, als es im Text heißt: »wenn die Frau nach vorn fällt« (B 11), der Performer ist zugleich Mann, Frau, Stuhl und Vogel, er fährt mit der Hand durch die Haare, »streichelt das Gefieder, das die Todesangst gesträubt hat« (B 10). Ein kleingeschriebener Himmel – »der vielleicht erlösende Fehler« (B 13)? Die vom Text soufflierten szenischen ›Zeichen‹ werden immer wieder verwischt, natürlich auch der (Schriftzug) himmel. »Der Arm ist am Handansatz vom Bildrand abgeschnitten« (B 9), Willens streicht seine Hand mit der weißen Kreide an, amputiert sie, streicht sie aus, gerade indem er sie anstreicht. In seiner Bewegungssprache wirken die Gliedmaßen oft wie abgeschnitten, fremd, eine Auseinandersetzung mit dem Körper, eine Auseinander-Setzung des Körpers, »ein gebrechlicher Unterarm hebt eine Hand« (B 9). Die angestrichene Hand wird später ihren Abdruck auf den Wänden, dem Stuhl, dem Boden, auf der anderen Hand hinterlassen, einer Hand mit Vorgeschichte: »weiß wie Papier […] bei der Arbeit im Freien scheint er Handschuhe zu tragen, warum im Augenblick des Bildes nicht« (B 10). Eine kriminelle Energie der Spuren-Lektüre, »ein 14 | Deleuze, Gilles: Die Logik des Sinns. Frankfurt a.M. 1993, S. 391: »Wie soll man sich einen solchen fortwährend variierenden Sprachgebrauch vorstellen? Man könnte es verschieden ausdrücken: zweisprachig sein, aber in ein- und derselben Sprache, ein Fremder sein, aber in der eigenen Sprache stottern, aber so, daß die Sprache selbst zu stottern beginnt und nicht nur das Sprechen.«

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BÖSER FINGER […] gegen die Polizei des Himmels« (B 12) scheint die Kreidespuren zu hinterlassen, die der Schweiß dann fast verwischt, aber nicht restlos. Ein heftiger Verkehr mit der Tafel anfangs, »eine unaufhörliche Bewegung« (B 9), beim beschriebenen Geschlechtsakt später gehen die Figuren ineinander: Der Tänzer sitzt am Stuhl wie der Mann in dieser Text-Sequenz, markiert wird allerdings die Bewegung der fehlenden, wörtlich verlangten Frau, bis »er sich in ihrem, sie in seinem Hals verbeißt (B 10) […] Der MORD ist ein Geschlechtertausch« (B 14). Willens stampft mit dem ganzen Körper, dann nur mit den Füßen auf den Boden, richtet sich auf, geht stampfend die Treppe ins Auditorium hoch, stumm. Die Füße skandieren anstelle des Textes, der auf der Stelle tritt. Die Schritte protestieren – vielleicht gegen den Text, gegen das Publikum, vielleicht gegen die Trennung/Einigung von Text und Publikum. Der Tänzer lässt eine Zuschauerin überprüfen, ob »am Hals keine Narbe« (B 11) ist. Dann arbeitet sich die Bewegung an den Wänden des Raums ab, als bräuchte sie den Widerstand des Bildrandes. Eine Choreographie als Verkehr mit dem Tanzboden. Willens stampft auf das himmel-Brett, auf die Bretter, die Himmel bedeuten, eine Bewegung zwischen Stampfen und Steppen in dieser »Landschaft zwischen Steppe und Savanne« (B 8). Er stampft sie ein, vernichtet sie, »vielleicht ist er blind […] er sieht mit den Füßen« (B 10), sitzend hebt er die Füße in Augenhöhe und bewegt sie, schaut sich mit den Füßen um. Als vom Schließen der Augen die Rede ist, klappt der ganze Körper zusammen, wie ein Taschenmesser, der ganze Auge gewordene Körper senkt den Blick. Willens streicht mit der Kreide das Mikro an, stellt das Gerät, das die Stimme verlautbaren sollte aus, expliziert die Instanz und das Instrument des Sprechens. »Angst, daß der Fehler beim Blinzeln passiert […] an welchem Gerät ist die Linse befestigt« (B 14), hämmert er den Text. Was blinzelt, ist ein Diaprojektor. Willens löst eine bildlose Selbstportraitserie aus, »IM SPIEGEL WOHNEN« (B 14), drückt auf die Fernbedienung, zusammengekauert an der Bühnenwand, die zur Leinwand der dialosen Projektion wird, die zuerst mehrmals ihn, dann uns anstrahlt, leer übermalt. Der Mann im Licht der fehlenden Dias und wir auch werden zum fehlenden Bild der Beschreibung, die er gerade beschritten hat. Sprechen ohne Interpunktion, als Falle, damit der »vielleicht erlösende Fehler« (B 13), das Fehlen, jederzeit Wort für Wort möglich bleibt. Sprechen gegen den Rhythmus des Klickens des Projektors, gegen sein wimpernloses Blinzeln. Am Ende kommt anstelle der polyphonen Dia-Leerstelle die leere Ablichtung des

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Publikums: als ein Abzug, eine Fotographie unserer Abwesenheit, während der Projektor, nach dem Mikrophon ein weiteres ausgestelltes Gerät, kurz klickt. Denken wir an Roland Barthes’ Sehnsucht: Diese mechanischen Geräusche liebe ich auf eine fast wollüstige Art, als wären sie an der Photographie genau das eine – und nur dies eine –, was meine Sehnsucht zu wecken vermag: dies kurze Klicken, das Leichentuch der Pose […].15

»… D enn Ü berflüssiges zu thun , ist sinnlos …« Zurück zur Ethik der Performance, zur Ethik der Kluft, zu Hölderlin, zu einer anderen Geschichte des Leichentuchs, der Pose, der Pause, der Zäsur. Eine von Chétouane gern zitierte Stelle, wenn es um die Ethik von Performance geht, ist Ismenes Einwand gegen Antigones Vorhaben: »Denn Überflüssiges zu thun, ist sinnlos […] Gleich Anfangs muß Niemand Unthunlichs jagen.«16 Denkt hier Ethik ein Untunliches, ein überflüssiges, sinnloses Handeln, das im eigenen Begehren nicht nachgibt und wofür es keinen Grund gibt, so ist die paradoxe Korrespondenz zum szenischen Nicht(s)tun17 interessant, das nach dem gegenseitigen Vermessen und Vermissen von Beweg- und Bewegungsgründen fragt. Es ist eine Korrespondenz zum Sich-Tummeln des Nichtstuns, aber auch zum Tumult des Nichtsttuns: Geht es um schöpferische Gründe, so verweist Nietzsche auf die Bewegungen des blinden Seekrebses, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt: er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen.18 15 | Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M. 1989, S. 24. 16 | Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg.v. von D. E. Sattler, Bd. 16, darin: Sophokles. Frankfurt a.M. 1988, S. 271ff. 17 | Vgl. Kruschkova, Krassimira: »Das szenische Nicht(s)tun oder der blinde Seekrebs«, im Tanzquartier-Supplement der Zeitschrift Theater der Zeit, Mai 2014, S. 1-5. 18 | Nietzsche, Friedrich: Fragmente 1880-1882, Kritische Studienausgabe. Hg.v. Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino, München/Berlin u.a. 1988, S. 17.

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Wenn sich Glieder zweckfrei, unnütz, müßig tummeln, rühren, regen, tanzt eine ungerufene, nicht adressierte Sehnsucht, und ihr Tanz sehnt sich zugleich nach einem Versäumnis – am Saum des Körpers. Ein Nichtsnutz-Tanz, good for nothing, der sich in unserem nutzbesessenen Heute gegen metaphysische Spekulation auf Rückerstattung und Symmetrie sträubt. Auch in diesem Sinne ist Chétouanes Arbeit am Rest relevant – eine Arbeit gegen symmetrische Rückübersetzbarkeit, mit Restdistanzen, mit Textresten. Denn nie behauptet hier die Bewegung, die Distanzen unter den Tanzenden restlos aufzugeben, ganz gleich wie nah sie einander kommen. Und stets sind es Textreste, die in diesen Choreographien aufblitzen, auf- und untertauchen: Tanzstück #1 arbeitet mit einem der wohl am wenigsten restlosen Texte, mit Müllers Bildbeschreibung. Im Zusammenhang mit Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und stellt sich der Künstler vor, wie es wäre, wenn in vielen Jahren Reste von Goethes Text ausgegraben würden, und setzt sie in Korrespondenz zu Artauds Textresten. Und in den nächsten Tanzarbeiten gibt es immer weniger Text, der übriggebliebene Text wirkt, überlebend und verworfen zugleich, kaum ausgesprochen, gerade im Entstehen begriffen: Text, der dem von ihm Unausgesprochenen lauscht, Tanz, der Ungeschehenes rekonstruiert. Und fragt man ihn nach Tanz und Emotion, spricht Chétouane von den »Resten, die in jeder szenischen Emotion keine Emotion mehr sind«. So sträuben sich – als Reste eben – Geste, Text und Emotion in Chétouanes Choreographien, sie sträuben sich gegen die Vereinnahmung: Um nicht verbraucht zu werden, um die eigene Fragwürdigkeit zu vollziehen, die im Begriff ist, die geschlossene Ökonomie der Repräsentation, des Zeichentausches »zeichenlos«19 zu brechen. Es sind Choreographien, die der Bewegung die Intentionalität auszutreiben scheinen, ausharrend im Modus der Kontingenz, in der Aporie der Unentscheidbarkeit: Denken wir an Chétouanes Hommage an das Zaudern mit Joseph Vogls Über das Zaudern, zumal die Inspirationsquellen eines Künstlers in all der Problematik des Anschlusses, der immer schon ein Kurzschluss gewesen sein wird, interessant sind, sofern das Zaudern selbst an den Anschlüssen [operiert], an den Fugen, an den Synapsen und Scharnieren, die über die Kohärenz von Weltlagen entscheiden, oder genauer: an denen 19 | Vgl. Fußnote 2.

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der Aggregatzustand dieser Welt, ihre Festigkeit und ihre Verlaufsform auf dem Spiel stehen.20 Die Tanz-Welt von Chétouane ringt stets um die Festigkeit und Verlaufsform ihrer, unserer Welt: Ein wechselnder Aggregatzustand, eine simultane Entfesselung und Hemmung, disjunktive Gegenläufigkeit als Prinzip der choreographischen Handlungsketten, ihrer entspannten Gespanntheit nach Außen, die innehält, unterbricht, bevor sie auf bricht. Die interne Wiederholungsfigur des Zauderns choreographiert einen Zirkel, der im anfänglichen Setzungsakt, im zornbewegten Verhängnis DES Gesetzes eingeschlossen liegt. […] Wo Taten sich manifestieren und wo Handlungsketten sich organisieren, wird ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung markiert. 21

Dies könnte auch als ein zaudernder Blick auf Antigones Gesetzverhängnis gelesen werden. Chétouane setzt sich mit der prekären Temporalität und ungleichmäßigen Temperiertheit des Zauderns auseinander, ohne festen Aggregatzustand, ohne Konjunktur, unzeitgemäß in unserer Zeit vollständiger Ökonomisierung. Statt Konjunktur Konjunktiv – um was nicht ist im Möglichkeitsmodus aufscheinen zu lassen. Das Zaudern überführt die szenische Setzung ins Problematische, Kritische, Komplexe, Plurale. Wenn sich da was zeigt, dann nur, wie es anders hätte sein können. In Hommage an das Zaudern verweilen die Tänzer Rémy Héritier und Joris Camelin und der Pianist Jan Burkhardt spielerisch in den Leerräumen zwischen den Entscheidungen, um immer mehrere Optionen – und so auch mehr als Optionen – gleichzeitig nebeneinander schweben zu lassen, ohne sie zu verraten: Als würden sie nach einer Ethik grundloser, nämlich tanzender Mehr-als-Optionalität, Mehr-als-Variabilität performen, die auch für Chétouanes jüngste Arbeit 15 Variationen über das Offene gemeinsam mit Matthieu Burner, Senem Gökçe Oğultekin, Mikael Marklund und Sigal Zouk prägend ist und weitere choreographische Horizonte zugleich zu öffnen und zu schließen versucht.

20 | Vogl, Joseph: Über das Zaudern. Zürich/Berlin 2007, S. 23. 21 | Ebd. S. 23f.

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»… and here we would be toge ther …« Choreographische Horizonte grundlos öffnen und schließen – wie man Augen öffnet, wie man Freundschaften schließt. Auch in diesem Sinne unmöglich, an Chétouanes Choreographie zu denken, ohne sehr stark an die Tänzer und Tänzerinnen zu denken, die sie ermöglichen – an alle und ganz besonders, auch weil vom Anfang an dabei, an Sigal Zouk und Matthieu Burner. Freundschaft als Öffnung und Perspektivierung ist Thema in Chétouanes M!M mit den Tänzern Matthieu Burner und Mikael Marklund, ausgehend – und das Zaudern, wie viel diskursiven Ausgang Choreographie verträgt, darf auch hier nicht fehlen – von Jacques Derridas Politik der Freundschaft. Derridas Denken der Freundschaft jenseits der Brüderlichkeit, diesseits der Demokratie als Ort, an dem jeder in gleicher Weise ganz anders zu sein vermag, ist für Chétouanes Ethik der Performance, für sein Interesse an den Ökonomien der Gemeinschaft wichtig: Ökonomien, in denen die Tanzenden einander ausgesetzt sind und in denen ihr Zusammenhalt gerade über sein Aussetzen, über seine Lücke figuriert wird: Als wären sie zusammen, gerade weil sie ihren Zusammenhalt vermissen. Es ist ein vermisster Zusammenhalt, der rein im Modus des Sehnsüchtigen die Szene betritt, als »Gemeinschaft derer, die keiner Gemeinschaft angehören«.22 Es geht um die Kontingenz des Zusammenhalts, um seinen instabilen Widerstand, um seine Haltung I would prefer not to, die gerade jede Beliebigkeit außer Gefecht setzt, die lieber nicht mittut, um eines potenziellen Mitseins willen: Ein Mitsein im Konjunktiv, als Realitätskrise. Ein Ausharren immer im Konjunktiv bereits in Tanzstück #4: leben wollen (zusammen), in dem Text und Bewegung nur Optionen markieren, nichtgegebene Optionen: And here there would be a house […] and here there would be a little river […] and here we would be together, setzen die Tanzenden an, indem sie während jeder Aufführung – und das ist das Wagnis dieser Arbeit, die in jedem Moment in präziser Unschärfe verweilt – ihre Bewegungs- und Textsequenzen immer neu an- und umordnen, anagrammatisch.23 Eine vermessene und versäumte Optionalität. Ein Nicht(s)tun, ein 22 | Bataille, Georges, zit.n. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M.2002, S. 67. 23 | Zur Szene des Anagramms vgl. Kruschkova, Krassimira: »Actor as/and Author as ›Afformer‹ (as Jérôme Bel as Xavier Le Roy)«, Frakcija 2001, S. 58-65; oder

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Nicht-mit-tun, um mit-zu-sein. Die Tanzenden formulieren immer neue imaginäre Bühnenlandschaften, buchstabieren diese gestisch, statt sie zu illustrieren, sofern das explizite Buchstabieren zur Nachahmung wird, die das Nachgeahmte unmöglich macht. Die konjunktiven Versuchsanordnungen der Konjunktion, der Verbindung zwischen den Tanzenden in Tanzstück #4, die den Sinn ihrer gefundenen Bewegungs- und Textsequenzen immer neu, kontingent untereinander aufteilen, fokussieren eine paradox überschwängliche Ökonomie der Bewegung, jenseits ökonomischer Konjunktur, als ökonomischen Überschwang im Sinne von Marcus Steinweg: Ich würde das eine präzise Überschreitung nennen, einen nahezu ökonomischen Überschwang […] Ökonomie und Anökonomie – Kalkül und Leidenschaft, Vernunft und Unvernunft, Verstand und Emotion (oder das, was man so nennt) – kooperieren, in der Liebe wie anderswo. Es ist eine Unschärferelation. Ich bin immer entweder zu kalkulatorisch oder zu verschwenderisch. Zu keinem Zeitpunkt hält sich das die Waage. Zur Liebe gehört die Affirmation dieser Unschärfe und der ihr korrelativen Aporie. Ihre Rechnung geht nur im Scheitern auf. Deshalb ist es gut, mit dem Scheitern zu rechnen, das Nichtkalkulierbare ins Kalkül einzubeziehen. 24

Wie in Chétouanes Ethik der Performance als »›dichterisches‹ Scheitern«, auch indem jeder geprobte Moment während der Aufführung das richtige Momentum abwarten muss. Und wenn es manchmal nicht kommt, dann nehmen die Tanzenden dieses »›dichterische‹ Scheitern«, diese ins Kalkül einbezogene, verfehlte Option untereinander sicherlich umso schärfer wahr: Und es geht wohl erst über ihre mögliche Gemeinschaft als Gruppe um unsere, auch mit ihnen. Das Momentum des Mitseins lässt sich nicht festgelegen. Das Zusammen-Leben ist nicht gegeben, in der Liebe schon gar nicht, es ist am Kommen, künftig, es könnte immer nur entstehen, wie der Tanz, im Konjunktiv. »Das Zusammen verschwindet im selben Moment, damit es nicht erstarrt«, sagt Chétouane. Und wie diese Fragilität proben? Die Tänzerin Sigal Zouk dazu:

dies.: »Defigurationen. Zur Szene des Anagramms im zeitgenössischen Tanz und in Performance«, online: www.corpusweb.net/defigurationen-3.html, zuletzt abgerufen am 16.01.2015. 24 | Vgl. Steinweg, Marcus: Philosophie der Überstürzung. Berlin 2013, 149ff.

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Indem man seine Gewohnheiten und Muster ganz und gar aufgibt […] Meg Stuart z.B. hilft mir dabei, ein Vokabular zu generieren und es zu transformieren. Aber Laurent kommt nicht vom Tanz. Er kann mir nicht sagen, was ich tun soll. Aber er hat einen guten Blick. Er sieht etwas und ich versuche, es zu wiederholen und herauszufinden, was es ist […]. 25

Vielleicht hat gerade die Tatsache, dass Chétouane nicht vom Tanz kommt, mit dem Status des Erinnerns in seinen Choreographien zu tun, mit dem Erinnern dessen, was nicht war. Eine gewagte Korrespondenz zu Sigal Zouks Gedanken: »Der einzige Weg, herauszubekommen, welchen Film Michelangelo im Kopf hatte, war diesen Film nun tatsächlich zu machen«26, schreibt Wim Wenders über seine Zusammenarbeit mit Michelangelo Antonioni, die von Antonionis Handicap gezeichnet war. Ein künstlerische Kollaboration inspirierendes Handicap – sei es a priori oder a posteriori –, das Arbeitsprozesse und das Medium selbst neu denken lässt. Während seiner Zusammenarbeit mit den Tänzern und Tänzerinnen in den Proben27 spricht Chétouane vom Arbeiten an Zuständen, vom Üben grundverschiedener Präsenzen zur Zeit und zum Raum, von einer Bewegung aus einer Erinnerung heraus, einem déjà-vu. Und es sind, könnte man sagen, zugleich kontingente Zustände in seinen Arbeiten, von einem vielmehr umgekehrten déjà-vu gezeichnet, die vielmehr vorläufigen und nicht nachträglichen Spuren nachspüren. Hierzu interessanterweise wieder das Zaudern als

25 | Kästner, Irmela: »Sigal Zouk. Poetische Vermessung des Tanzes. Ein Portrait«, online: www.corpusweb.net/sigal-zouk.html, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. 26 | Wenders, Wim: Die Zeit mit Antonioni. Frankfurt a.M. 1995. Michelangelo Antonioni bekam einen Schlaganfall, der eine Aphasie verursachte. Mit dem Verlust des Sprechvermögens war auch die Fähigkeit des Buchstabierens verlorengegangen, so dass er weder sprechen, noch korrekt schreiben und sich nur durch Zeichnungen verständigen konnte, und zwar mit der linken Hand, weil der Schlaganfall auch die rechte betroffen hatte. Über diese Umstände, unter denen der Film Jenseits der Wolken gedreht wurde, berichtet Wim Wenders, der zusammen mit Antonioni Regie führte. 27 | Am Tanzquartier Wien, wo die meisten Tanzarbeiten von Chétouane uraufgeführt wurden, hatte ich die Gelegenheit, mehrere Proben zu sehen.

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ein Gedächtnis des Nie-Gewesenen, die Erinnerung an ein Vergangenes, das niemals Gegenwart war, eine Vorerinnerung an jene Handlungen und Aktionen, die nicht oder noch nicht geschehen werden. 28

Im Probeprozess geht es Chétouane darum, »Tableaus mit verschiedenen Zuständen zu generieren, zwischen denen momenthafte Wechsel stattfinden – immer im Wissen um den Blick des Zuschauers, der nach Dynamik, Rhythmus, Sinn verlangt.« Auch in diesem Sinne wird gerade der Tanz als Figur des Zusammenseins geprobt, kein rhythmisches, synchrones Zusammen als Gemeinschaftsutopie wie im frühen modernen Tanz, sondern ein, so wiederum Chétouane, »idiorhythmisches«, um Zusammensein nach Roland Barthes’ Comment vivre ensemble als Idiorythmie zu denken, als gelegentliche Synchronisierung von Handlungsrhythmen, die divergierend bleiben. Was es bedeutet, sich synchron zu bewegen, zusammen eine Bewegung auszuführen und nicht bloß Virtuosität zu zelebrieren, ist eine Frage, die den Künstler stark beschäftigt: Er fragt danach, ob »das Können etwas mit dem Zuschauer teilt oder ihn dadurch vielmehr vom Tanzenden trennt. Interessant ist die Simultaneität des Nicht-Gleichzeitigen, wie in einer Simultanübersetzung doch immer etwas verschoben wird.« Eine höchst berührende Szene in Tanzstück #4 gerade als Problematisieren einer Übersetzung, Überbrückung, Überschreitung: Jan Burkhardt, Matthieu Burner, Joris Camelin, Lisa Densem und Sigal Zouk überqueren einzeln über eine imaginäre Brücke einen imaginären Fluss, um zusammenzufinden: And here we would be together, sagt einer schließlich, diesmal ist es Matthieu Burner, entzückt und verunsichert zugleich, in der gemeinsamen melancholisch-minimalistischen, zögerndpathetischen, exponierten Verlegenheit. Als wäre die imaginäre Brücke Wittgensteins figurative Leiter: 6.54. Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinaufgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf sie hinaufgestiegen ist.) 29 28 | Vogl, Joseph: Über das Zaudern, S. 24. 29 | Wittgenstein, Ludwig: »Tractatus logico-philosophicus«, in: ders.: Werkausgabe. Band 1, Frankfurt a.M. 1984, S. 85.

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Eine virtuelle Brücke zum Anderen, als konjunktive Konjunktion, eine Brücke, die man nur einzeln, in aller Singularität betreten kann, als überschwängliche Selbstüberschreitung, als ökonomischer Überschwang. Und extrem exponiert, ausgesetzt: Auch den Zuschauerblicken explizit ausgesetzt, die Teil des Theater-Zusammenseins sind, der Aufteilung des Sinnlichen, zusammen erst im gemeinsamen Ausgesetztsein. Und damit der And here we would be together-Moment nicht erstarrt, sogleich wieder die diagonale Verschiebung der szenischen Versuchsanordnung in einer Choreographie der feinen Unterschiede und Übergänge zu immer neuen Konstellationen. In dieser anderen Bildbeschreibung im Konjunktiv möglicher Landschaften buchstabieren die Tanzenden ein mögliches Leben mit Häusern, Flüssen, Bäumen, aber ohne Äste, einem Verweilen, but not too long, wie die Tanzenden sagen. Damit sich kein konsumierbares Bild verfestigt: eine idiosynkratische und dadurch politische künstlerische Geste. Leben – Zusammen: vielleicht nur, um der Traurigkeit des Abends zusammen zu trotzen. Sich gegenseitig fremd sein ist unausweichlich, notwendig, begehrenswert sogar, aber nicht, wenn der Abend graut, lautet der Schriftzug von Roland Barthes, der an der Bühnenhinterwand auftaucht. Chétouane dazu: »Es geht nicht um den endgültigen Abend, der Tag kommt wieder, man geht auseinander, um einander zu begehren, aber man fürchtet auch die Nacht, das Dunkle des Zusammenseins.« Womöglich eine Sehnsuchtswarnung? Eine Warnung vor der Sehnsucht, der man trotzdem nicht nachgibt, um vom Begehren nicht abzulassen?

»… als müsste er sich freuen .« There would be many possibilities, lautet einer der Konjunktivsätze in dieser präzise offenen Struktur, die in Tanzstück #4 immer Mehr-als-Möglichkeiten offen lässt. Nachdem es scheint, als hätten sie die Bühne bereits verlassen, kommen die Tanzenden zurück und stellen sich hin in einer Linie frontal zum Publikum, fröhlich, fast. »[…] so war ihm fast, als müsste er sich freuen«, lautet, um einen weiteren Anschluss/Kurzschluss zu wagen und zugleich auch den Blick zum Anfang dieses Textes zu riskieren, das Finale von Das Erdbeben von Chili, dieser verblüffendsten und erschütterndsten Geschichte der Gemeinschaft. Fast am Ende von

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Tanzstück #4 halten also die Tanzenden inne, schauen uns einfach an, proben das Zusammen. Chétouane dazu: »Das ertragen viele nicht. Das Objekt, das man anschaut, blickt auf einmal zurück – unverschämt.« Irgendwann sagt eine, diesmal ist es Sigal Zouk: It’s good to be alone. Danach ziehen sich die, die uns ansehen, zurück, bilden einen Kreis, sitzen mitten auf der Bühne, als wäre dies noch eine Probensituation, als wäre nichts passiert, proben sie wieder das Zusammen. Ein leeres Zentrum mitten im Kreis dieser Gruppe, die nichts Zentrales zusammenhält. Das Zusammensein stellt sich vielmehr als ein Echo-Effekt dar: Immer wieder verfertigen die Tanzenden Ketten, Diagonalen, deren Bewegungsmaterial besonders redselig ist, allerdings wirkt die Weitergabe der Bewegung wie eine Art ›Stille Post‹-Spiel mit gestischen Singularisierungsoperationen, durch die die weitergegebene Bewegung – stets auseinander- und neu zusammengesetzt – der Wiederholung widersteht. Widerstand wider den Stand, gegen das Verharren im reproduzierbaren Bild, wider die Wiederholung und den symmetrischen Tausch. Auch wenn es zunächst scheint, als wiederholten die Tanzenden simultan Bewegungen, sind dies vielmehr wieder Übersetzungen, gegenläufige, mal nur verspielte, mal einander verratende Bewegungsübersetzungen. Oder die Tanzenden dehnen gegenseitig ihre Bewegungen unaufholbar aus, in einem immer neu entstehenden Rhythmus, und ihre Reihenfolge innerhalb der Diagonalen ändert sich stets – wie anagrammierte Buchstaben, immer anders geordnet: Eine Re-Kontextualisierung der Gesten innerhalb dieser losen Reihen, innerhalb dieser verschachtelten ›Manufakturen‹ (vom lat. manus: Hand) der Gespanntheit zum Anderen, mit zu ihm hin und zugleich von ihm weg ausgestreckten Händen. Die trotzige Potentialität dieser Miteinander-Versuche, in denen die Tanzenden die Bewegungen untereinander aufnehmen, um sie umzuformulieren, lässt etwas innehalten, damit es zugleich widerhallen kann – ein umgekehrtes Echo, das wörtlich Unerhörtes nachklingen lässt. Diagonalen kreuzen die Bühne chiastisch, markieren sie dadurch explizit und streichen sie zugleich durch. In einer Szene mit Lisa Densem sagt Matthieu Burner: Did you see me coming? Did you wait a long time? Ob das Zusammen-Kommen in all seinen ethischen, ästhetischen, erotischen Konnotationen nachvollziehbar ist? Die Bewegungen der beiden, mit eigenem Rhythmus, doch koexistent, scheinen nicht von einem Zentrum zu kommen, vielmehr von außen, als Antwort auf den Anderen, der aber nicht wirklich fragt. Chétouane dazu: »Passivität, die aktiv

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ist, als Moment der Reflexion. Um das Außen zu sehen, bereit sein, zunächst selber passiv zu sein. Zulassen der anderen Position, die mich erst hervorbringen könnte – blind sein, aber weder nur auf der Bühne, noch nur im Auditorium, sondern auf beiden Seiten der Rampe. Demokratie der Blindheit, ohne Idee, ohne Ideologie. Bereit sein, sich zu verlieren. Deshalb ist jeder Versuch umsonst, die Zukunft vorauszusagen, denn da wäre sie keine. Vielmehr Unsicherheit kultivieren.« Vielleicht folgt deshalb auf horizon(s), das Stück über die Zukunft des Tanzes, Hommage an das Zaudern, in dem etwas Ausdruck wird erst in der Abwendung, Abwehr, Ablehnung des Ausdrucks. Diese Widerständigkeit der Bewegung, die nicht in einen Akt aufgeht, nicht aktuell wird, sondern potenziell bleibt, richtet sich gegen die Reduktion auf ein geschlossenes Werk, als eine Art Ent-werken, als Désœuvrement, als Nichtstun. Ein Bruch, eine Zurückhaltung, die den Tanz zu seiner Möglichkeit zurückführt – und zu den Aporien seiner Kontingenz: Mehr-als-Optionieren statt eines behaupteten Nicht-mehr-Repräsentierens. Und wieder sind wir beim Innehalten, beim Widerstand, der versucht, die unlesbaren Figurationen von Sinn und Sinnlichkeit zu defigurieren – und im Wissen um ihre referentielle Unentscheidbarkeit, um die Unberührbarkeit des Sinns auszuharren. In zeitgenössischer Choreographie – als eine punktuelle Temporalisierung und Verräumlichung von Berührungen – schreibt sich vielmehr das Unberührbare ein, das Unberührbare in Figuren des Berührens, Figuren ohne Gestalt, die Ungeschehenes erinnern. Choreographie lässt sich als Technik der Grenzen denken; und die Grenzen – als Figuren des Berührens. Wo Choreographie die szenischen Körper und Blicke mit ihrem Takt- und Tastsinn spaltet, wird kein Körper und kein Blick mehr intakt gewesen sein. Im Spalt dieses versehrten und sehnsüchtigen Sehens und Tastens tritt das Haptische mit dem Optischen in Kontakt, kontaminiert, ohne dass beide jemals eines werden. Das Berührende der choreographierten Berührung wird ihr eigenes Potenzial gewesen sein, zu berühren, ohne Limits zu überschreiten, ohne Oberflächen zu vermischen, vielmehr die Grenzen berührend, tangierend: tangential, kontingent, in all der Kontingenz eines Kontakts, der sich ereignet, zufällt, zuteil wird – erst in der Teilung, erst im Nicht-Intakten der taktilen Erfahrung, die keine unversehrten Subjekte betrifft, die keine Unmittelbarkeit als gegeben hinnimmt, die ästhetisch, ethisch, politisch dem ›Berühren‹ die Anführungszeichen öffnet und schließt.

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Im Ankündigungstext seines Statements über Tanz und Demokratie im Rahmen eines Parcours’ zum Thema Chaos am Tanzquartier Wien schreibt Chétouane: Heute scheint es ein Begehren zu geben, sich der Frage des Zusammenseins erneut zu stellen. Im Tanz bedeutet das eigentlich die Frage nach der Kompagnie wieder aufzugreifen – nach all den Jahren, in denen die (Ko)Produktionsstrukturen den ›hyperindividualisierten‹ Performer generiert und unterstützt haben. Die Frage wäre, wie man eine Tanzsprache so entwickeln könnte, dass eine Gruppe von Tanzschaffenden sich zwar um sie sammeln und gleichzeitig aber das Offene, das Chaotische, das nicht Repräsentierbare dieser Gruppe selbst mitdenken könnte: Einen Tanz des Offenen zu denken, für eine Gesellschaft, die das Offene, Undefinierbare als ihre Zukunft ansehen sollte. 30

Ein Tanz über das Problem Gemeinschaft, vollzogen am Problem Gruppentanz und Kompanie auch in Sacré Sacre: Das immer schon zugleich geweihte und verfluchte Versprechen einer Gemeinschaft, einer Erlösung – aus dem Ort eines intimen Abstands von Le Sacre du printemps, aus dem Ort eines Gemeinschaft begehrenden Widerstands. Nochmals: Wie lange kann man anhalten, innehalten? Wie sich entlang eines affirmativen Widerstands bewegen, wie sich längs des Anhaltens bewegen, längs eines zaudernden Innehaltens, längs déjà-vu-Erfahrungen dessen, was nie war?

30 | Laurent Chétouanes Statement Tanz und Demokratie im Dialog mit Michael Hagners Statement Wissenschaft und Demokratie, 12. April 2012 im Rahmen von SCORES N°5: Cháos, Künstlerisch-theoretischer Parcours zu gesellschaftlich-choreografischen Un-/Ordnungen, Tanzquartier Wien. Mein Dank gilt beiden Dialogpartnern sowie den Herausgebern des vorliegenden Bandes für die präzise Lektüre dieses Textes.

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»… wie dieser Blick sie inszeniert« Laurent Chétouane im Dialog über seine Arbeit mit Tänzern*

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Nikolaus Müller-Schöll und Laurent Chétouane

Nikolaus Müller-Schöll: Wenn man sich die Konzeption und das Programmheft von Sacré ansieht, dann wird schnell deutlich, dass eine sehr umfassende Vorarbeit der Arbeit mit den Tänzern vorausgegangen sein muss. Der Stoff, den Du aufgreifst, ist selbst in so vielerlei Weise komplex (die Musik, die erste Choreographie, die später rekonstruiert wird, der Skandal um die Uraufführung, der Mythos, der sich mit Nijinsky verbindet, die Deutungstradition, die späteren Varianten, die Übermalung, die Opferthematik …), dass ich vermute, er müsste jeden zunächst vor allem auch einschüchtern. Wie hast Du, beladen mit all dem, was dieser Stoff und seine Übermalung Dir aufgeladen haben, die Arbeit mit den Tänzern begonnen? Gab es Konzeptionssitzungen mit ihnen, bei denen Du vorab etwas zu Idee und Konzept erzählt hast? Habt ihr mit Improvisationen auf der Bühne begonnen? Hast Du zu Anfang vor allem Vorschläge für Motive, zu denen etwas zu entwickeln wäre, gegeben? Um es konkret zu formulieren: Wie sah die erste Probe oder das erste Treffen mit den Tänzern aus? Laurent Chétouane: Am ersten Tag habe ich kurz erzählt, warum ich mit den Tänzern gerne über Le Sacre du printemps arbeiten würde. Es war mir dabei wichtig, zwei Dinge zu erklären: 1. Dass es nicht darum gehen wird, eine Choreographie für Le Sacre du printemps zu entwickeln, dass wir also nicht darauf tanzen werden. 2. Dass mich die Thematik des Umgangs * Das nachfolgende Interview wurde in unregelmäßigen Abständen zwischen 2012 und 2014 geführt.

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mit dem Fremden, Unbekannten interessiert bzw. die Frage, wie man sich mit der Unintegrierbarkeit und der tiefen Unverständlichkeit des Anderen auseinandersetzen kann. Ich sprach viel darüber, dass die Politik seiner Integration damit beginnen sollte, dass sie die Unmöglichkeit der Integration als Grenze des Politischen versteht und von diesem Punkt aus zu denken beginnt und nicht vom Wunsch aus, dass ein Fremder nicht mehr fremd ist. Dann habe ich versucht, dem Ensemble zu erklären, wie ein gewisser Umgang mit Le Sacre du printemps genau das ermöglichen könnte. Wir haben aber nicht erst einmal nur theoretisch gesprochen und dann praktisch angefangen. Ein Teil der Praxis in den Proben besteht vielmehr darin, dass regelmäßig Theorie und Praxis verknüpft werden. Eine Improvisation der Tänzer wird immer reflektiert und von allen Beteiligten im Verhältnis zum ausgewählten Thema diskutiert. Dadurch teilt man sozusagen die ganze Zeit Theorie mit. Es gibt darüber hinaus auch Grundelemente dieser Bühnendenkform, welche die Tänzer von Beginn an verstehen bzw. praktizieren müssen, unabhängig vom speziellen Stück. Es wurde also schon am ersten Tag auch improvisiert, es wurden Momente pointiert, Situationen kommentiert. Das war jetzt ziemlich viel auf einmal und ging sehr schnell. Ich würde gerne bei einigen Punkten einhaken: Was meinst Du mit »Grundelemente(n) dieser Bühnendenkform«? Was ist es, was die Tänzer am Beginn bereits verstehen bzw. praktizieren müssen? Wieso hast Du diese Praxis – ich vermute, es ist die Fortsetzung dessen, was Ihr in früheren Arbeiten, etwa in Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen) oder horizon(s) bereits entwickelt habt – nun auf einen der meistbesetzten Momente der Tanzgeschichte zurückbezogen? Es geht zuerst um ein Grundverständnis der Situation auf der Bühne als einem Ort, an dem Blicke aufeinander geworfen werden. Die Performer müssen sich zuerst dieser Situation bewusst werden und lernen, damit umzugehen. Denn es dauert lange, bis ein Performer den Einfluss spürt, den der Blick des Publikums und der Kollegen auf der Bühne auf ihn hat, auf seinen Körper, und bis er dann in ein konkretes spürbares Verhältnis dazu eintritt. Es ist eine kleine Revolution für alle Performer, die zum ersten Mal mit dieser Form konfrontiert sind. Es ist, als ob sie Zugang zu einem anderen Körper finden müssten, dem Körper, der blickt und auf den zurückgeblickt wird. Dieser Körper wird in dieser Form zum Tan-

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zen gebracht. Und es ist ein anderer Körper als derjenige, mit dem der Tänzer normalerweise auf der Bühne operiert. Dieser andere Körper existiert erst durch den Raum, der ihn umgibt. Nur durch das Wahrnehmen des Außen bzw. das Wahrnehmen der eigenen Konstitution durch das Außen gelangt man zu diesem anderen Körper. Und er ist völlig konträr zu einem Körper, der sich aus einem Zentrum heraus versteht, und von dort aus in die Welt hinein geht. Ein solches Verständnis hat viele Konsequenzen, was die Wahrnehmung des Raums, der Zeit und des eigenen Körpers betrifft, der sich bewegt. Interessant ist, dass Nijinsky mit seinem Le Sacre du printemps eine Vorstellung von Ballett geopfert hat. Diese Geste schien mir wichtig: Die Opferung einer Vorstellung von Tanz. Genau darum geht es auf eine Art auch hier, wenn wir auch nicht beanspruchen, eine Revolution zu realisieren, die derjenigen Nijinskys vergleichbar wäre. Es geht mir darum, dass etwas hier mit Bezug auf den Tanz radikal neu begriffen werden muss. Es geht um die Behauptung einer anderen Art, mit dem Körper zu denken. In diesem Sinne hatte die Kritikerin der FAZ Recht, die schrieb, dass ich den Tanz opfere. Das Problem ist allerdings, dass sie den Tanz als etwas Geschlossenes, Fertiges sieht und nicht als etwas, das immer von Neuem definiert werden muss, jeden Abend, bei jeder Vorstellung. Sie schreibt genauso wie die Kritiker 1913, die den Tanz verteidigten, und kolonialisiert dabei Nijinskys Arbeit, als ob diese selbstverständlich Tanz wäre.  Sacre gilt vielen ja als Beginn des modernen Balletts, und ob Ihr es wollt oder nicht, natürlich wird sofort alles, was Ihr, von einem solchen Bezugspunkt ausgehend, macht, im Kontext dieser Geschichte und dieser Zäsur in ihr gesehen. Warum dieser »Stoff« für die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden? Le Sacre du printemps erzählt die Geschichte einer Opferung, die eine Gemeinschaft zusammen vollzieht: Es geht darum, eine auszuwählen, damit die Gemeinschaft weiter zusammenbleiben kann. Dieses Auswählen und Ausschließen ist die Behauptung eines Fremden innerhalb der geschlossenen Gemeinde, die Herstellung eines Außen. Es schien mir wichtig, zu untersuchen, wie man das Fremde in der Gemeinschaft bewahren kann, das heißt eigentlich, wie man die Opferung selbst so darstellen kann, dass sie sich nicht mehr vollzieht. Es ging also um eine Opferung der Opferung. So könnte vielleicht ein neuer Umgang mit dem Fremden gedacht werden. Wie stabilisiert sich eine Gesellschaft ohne Opfer, d.h. wenn alle

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einander fremd bleiben und sich die Kultur der Gruppe nicht dadurch ausbildet, dass sie das Fremde ausschließt oder benennt? Wie begegnet denn das »Fremde« bei einer solchen Arbeit den daran beteiligten Tänzern oder Performern? Kennen sie es schon vorab? Ist der Stoff, von dem Ihr ausgeht, das Fremde? Ist das Fremde etwas, was sie in sich entdecken sollen? Zunächst einmal glaube ich nicht, dass das Fremde den Tänzern als etwas begegnet, das außerhalb von ihnen existiert. Das Fremde existiert nicht an sich, für sich, alleine, als eine Wesenheit, die einen Platz, einen Ort besetzen würde und zu uns kommen könnte. Jeder Mensch ist an der Konstitution des Fremden beteiligt und hat an seiner Existenz und seiner Produktion teil. Ich glaube, dass die Erfahrung des Fremden eine Begegnung mit etwas Eigenem ist, das wir aber nicht als zum Eigenen Zugehöriges wahrnehmen. Etwas, das wir nicht als zu uns gehörend einordnen, das aber doch Teil unseres Selbst ist. Vielleicht ist gerade der Körper das Fremde innerhalb und außerhalb von uns – etwas, das wir scheinbar zu kontrollieren, zu meistern und auf eine Art zu kultivieren gelernt haben und als Bild begreifen. Der Körper ist aber etwas, das uns grundsätzlich fremd ist. Und vielleicht geht es darum in der Arbeit mit den Tänzern: sich der Fremdheit des Körpers bewusst zu werden und dadurch ein spezielles Verhältnis zum Körper zu erlangen. Ein Körper, der unbeherrschbar Raum greift. Ein Körper, mit dem man in einen Dialog tritt. Vielleicht ist jegliche Reaktion auf den Fremden eine Frage des Körpers, des Körperlichen. Das Andere ist der Körper, wie Lacan am Ende seines Lebens zugegeben hat, nicht die Sprache. Deswegen kennt der Tänzer das Fremde nicht vorab. Er begegnet ihm im Moment des Sich-Veräußerlichens, im Moment der Wahrnehmung seines Körpers als etwas mit eigenen Gesetzen und eigener Logik. Das Fremde ist dadurch etwas ganz Eigenes, das man aber nicht als zum Eigenen gehörend empfindet, sondern als Außerhalb unserer selbst, das seinen Ursprung in uns hat, bevor wir es in den Anderen projizieren. Das ist natürlich angenehmer, aber eine gefährliche Täuschung. Unheimlich, in der Tat, erscheint ja etwa, was wir von den Performern im Laufe des Abends sehen, wenn man etwa an den Gesichtsausdruck denkt. Mir scheint, dass sie hier etwas zu sehen geben, was unter der Ordnung des Balletts

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ebensowenig zutage treten könnte wie im überkommenen Tanztheater. Das Ballett würde gewissermaßen auch hier auf der Bienséance bestehen, die uns, was immer an körperlicher Anstrengung gerade gefühlt werden könnte, nicht sichtbar werden ließe. Ein Tanztheater – im Geiste der 80er-Jahre – würde eher auf Ausdruck eines eigenen, subjektiven Gefühls Wert legen. Dagegen scheint mir bei dieser Arbeit eine Erscheinung zutage zu treten, die man vielleicht mit dem Begriff des »Singulären« belegen könnte: eher von der Ordnung des Mangels, des Nicht-Könnens oder der Schwäche als von der des Handelns, der Meisterschaft und der Souveränität. Aber nun stellt sich mir natürlich als nächstes die Frage: Wird nicht etwa ein solcher sich zeigender Gesichtsausdruck – die Tänzer mit gefletschten Zähnen, geradezu entstelltem Gesicht – im Nu zum Spiel eines solchen Gesichtsausdrucks? Also anders gefragt: Wenn das Fremde, wie Du zu umschreiben versuchst, im Un-heimlichen entgegentritt, wird es dann nicht spätestens im Moment seiner Wiederholung zu einem neuerlich Bekannten? Ist also vielleicht die Begegnung mit dem Fremden in einer solchen Arbeit nur in der Probe möglich, da, wo etwas zum ersten Mal erscheint? Das Fremde ist fremd, da es trotz Wiederholung immer fremd bleibt. Das ist das Besondere dieser Arbeitsform, würde ich sagen. Die Performer öffnen sich immer dem Unbekannten, in jeder Vorstellung. Das ist mindestens das Ziel. Was aber nicht heißt, dass dahinter keine Technik, keine Meisterschaft, keine Virtuosität stünde. Man trainiert sozusagen die Öffnung selbst, die aber immer auf etwas Unbekanntes verweist. Eine Praxis des Fremden. Und es ist gerade dies, was die Performer so nervös macht vor jeder Vorstellung: sich diesem Fremden zu überlassen. Ohne es gibt es keine Vorstellung, da alles um diese Frage herum gebaut ist. Die Choreographie macht nur Sinn als eine Struktur, die die Öffnung gleichzeitig beinhaltet und produziert. Der Rede vom Singulären würde ich zustimmen, aber nur aus dem Gedanken heraus, dass das Singuläre nur durch die Öffnung zum Anderen zu spüren ist. Durch meine Verbindung zum Anderen kann ich etwas Singuläres hervortreten lassen. Ein Singuläres, das dadurch mir selbst immer fremd bleibt, da ich den Anderen niemals kenne und er für den Prozess der Entstehung des Singulären konstitutiv ist. Zwei gewissermaßen philosophische Einwände: Wenn ich sicher sein kann, dass ich den »Anderen« nicht kenne: Warum dann überhaupt danach streben,

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ihn zu erreichen? Und auf der anderen Seite: Wenn das »Unbekannte« oder die »Öffnung« zum Ziel erklärt wird, schleicht sich dann nicht auf diesem Weg eben das wieder in Eure Praxis ein, was ja doch erklärtermaßen verlassen werden soll: eine quasi-teleologische Ordnung, eine künstlerische Praxis, die auf ein Ziel hin gerichtet ist, das von Beginn an gesucht wird? Ich glaube nicht, dass man den Anderen erreichen kann. Genau darum geht es. Sich etwas Unerreichbarem auszuliefern, etwas Unkontrollierbarem, das im Bereich des Zwischen passiert, ohne irgendwo anzukommen bzw. ohne im Vorfeld etwas benennen zu können, was zu erreichen wäre. Die Öffnung als Ziel kann nicht teleologisch gedacht werden, da sich im Moment der Begegnung mit der Öffnung immer etwas Neues, etwas Unbekanntes, Unberechenbares öffnet. Die Form kann nie festgehalten werden. Sie verlangt immer eine neue Formation, und das Begehren danach ist sich selbst immer unbekannt bis zum Moment seiner Entdeckung in der Öffnung. Es geht dadurch um die unbegrenzbaren Formen, denen man in der Öffnung begegnen kann, und dadurch können sie nie auf ein einziges Ziel reduziert werden. Es ist auch so, dass die Tänzer morgens auf der Probe nie wissen, wann und wie der Zustand der Öffnung sich heute einstellt bzw. wann sie körperlich bereit sind, damit zu tanzen. Man kann sich so vorbereiten, dass die Öffnung leichter passieren kann. Aber neu bleibt sie auf jeden Fall jedes Mal. Wenn es ein Ziel gibt, dann das Ziel, dass es 1000 Ziele gleichzeitig gibt innerhalb der Öffnung. Da liegt für mich ein sehr interessantes Potential im Verhältnis zwischen der fixierten Choreographie und der Realität der Aufführung, die diese Choreographie nicht wiederholt, sondern wieder schreibt. Diese Entdeckung geschieht nun allerdings ja unter Deinem Blick und auf Deine Initiative hin. So, wie Du sie beschreibst, müsste aber die beschriebene Öffnung, wenn sie nicht doch innerhalb eines Kalküls bleiben soll, auch mit dem Verschwinden des Choreographen einhergehen – also der kontrollierenden, disziplinierenden, dirigierenden Instanz. Ich habe aber den Eindruck, dass davon nicht die Rede sein kann. Täusche ich mich? Ich glaube, dass diese Form immer mehr in diese Richtung gehen wird. Es geht auch darum, ob ein Tänzer alleine die Disziplin bringen will, um dieser Öffnung Raum zu geben, oder ob jemand da sein muss, für den

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er das tut, durch den er das tut. Ich habe als Choreograph (als Regisseur auch) bezüglich dieser Frage in den letzten Jahren ein gewisses Wissen gesammelt, und ich helfe den Performern natürlich, diese Öffnung zu entdecken. Ich begleite sie dahin, wenn sie es wollen. Idealerweise fangen sie dann ab einem gewissen Punkt an, damit alleine zu spielen, damit selbst zu kreieren, miteinander diese Form zu teilen. (Sigal Zouk, Matthieu Burner, Jan Burkhardt geben alle Workshops, in denen sie frei mit dieser Frage der Öffnung umgehen.) Als Tanzstück geht es in M!M (dem Duo mit Matthieu Burner und Mikael Marklund) genau um diese Frage: Wie konstituieren zwei Tänzer zusammen im Moment des Tuns die Choreographie selbst? Wie schreibt man so, dass es in der Gegenwart des Schreibens, im Sinne von Entdecken, zu einem schon Geschriebenen wird? Viele Improvisationen hinterlassen kein Geschriebenes, keine Spuren, keine Choreographie. Hier geht es aber darum, dass das Choreographieren ein Akt der Neu/schreibung des Geschriebenen ist, das heißt, dass die Choreographie nicht außerhalb der Öffnung selbst existiert. Das ist sehr schwer für die Performer zu verstehen. Denn die Öffnung heißt nicht Improvisation – vielleicht kommen wir später noch darauf zu sprechen. Was Deine Frage zu meiner Rolle als Choreograph, als Machtinstanz, betrifft, glaube ich, dass die Frage des Choreographen nicht die wichtigste ist. Sondern diejenige nach dem Blick bzw. dem Blickenden. Da sind die Instanzen, die mit dieser Öffnung unmittelbar zu tun haben, die aber nicht nur durch den Choreographen vertreten sind: Der Zuschauer, die Kollegen, der Intendant, der Freund oder die Freundin, das Portal, die Architektur des Theaters, wo man gerade spielt etc. … Das sind die konstituierenden Elemente. Nicht der Choreograph alleine. Aber es ist sicher sehr bequem für viele im Theater, es so zu sehen … Es gibt immer einen Blick, auch wenn man alleine ist! Das ist eigentlich die unauslöschbare Machtinstanz. Die Referenz im Theater, die zählt. Und eine Änderung bzw. eine Entwicklung der darstellerischen Formen geht nur durch eine Auseinandersetzung mit dem realen Choreographen des Ganzen: dem Blick. Meine Aufgabe, wenn ich sie sehr drastisch auf einen Satz reduzieren müsste, ist: die Performer des Blickes bewusst zu machen, ihnen ins Bewusstsein zu rücken, wie dieser Blick sie inszeniert, bzw. choreographiert. Und wie man damit umgehen kann, um durch Verräumlichungen eine Idee der Freiheit zu empfinden.

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Ich würde gerne, wie von Dir vorgeschlagen, auf den Unterschied zwischen »Öffnung« und »Improvisation« genauer zu sprechen kommen. Unter dem Begriff der »Improvisation« verbirgt sich ja in heutiger Tanz- und Theaterpraxis nicht selten eine höchst ideologische Angelegenheit: Es wird so getan, als sei das, was in einem Moment ohne Vorschrift passiert, ganz spontan, also im Wortsinne »unvorhersehbar«, tatsächlich aber passiert gerade dann das am meisten Vorhersehbare, weil man eben das sieht, was ein Tänzer oder eine Tänzerin gewissermaßen als Repertoire oder Habitus mitbringt bzw. bei Schauspielern, weil man dann sieht, was sie als »Technik« mitbringen, in jedem Fall also eher ein Klischee als eine tatsächliche Überrumpelung durch das Hier und Jetzt eines Ereignisses, die ja voraussetzen würde, dass noch der damit verbundene Erwartungshorizont durchbrochen wird. Welche Techniken habt Ihr entwickelt, um dieser Falle bzw. der Ideologie der Improvisation zu entgehen? Die Improvisation ist ein weites Feld und viele Künstler (Steve Paxton zum Beispiel) haben sich ihr Leben lang nur damit beschäftigt als Praxis, als ethische Antwort auf die generelle Frage der Vorstellung, als Möglichkeit, der Autorschaft des Choreographen gegenüber dem Performer zu entgehen. Die Bewegungen und ihre Reihenfolge werden in einer Improvisation nicht im Vorfeld von einem Choreographen festgelegt, sondern werden von den Performern im Moment des Tuns selbst entdeckt, entwickelt, ausgeführt. Es geht letztendlich um die Frage des »festgeschriebenen Textes« – des Ur/textes sogar, der Komposition, der Logik der Reihenfolge. Das ist es, was einen Autor ausmacht: die Gabe der Komposition. Wer ist der Autor von dem, was man sieht? Gibt es einen Autor im Vorfeld, oder ist der Performer selbst im Moment der Entfaltung seiner Kunst Autor, »Kreateur«? Oder ist er nur Interpret? »Ausführer«? Darum geht es, glaube ich, wenn die Leute fragen, ob es improvisiert ist oder nicht – was auch dem entspricht, was Du mit dem »Hier und Jetzt« meinst. Ein Autor ist jemand, der gerade nicht mit dem schon Bekannten arbeitet, im Zentrum von dessen Tun vielmehr das Ereignishafte steht und der dabei neue Ketten, neue Kombinationen entdeckt. Deswegen ist sein Tun spannend. Das Werk speichert etwas von diesem Ereignis, das er selbst hat entstehen lassen. Man ist aber bei der Improvisation nicht unbedingt Autor eines Textes – eines Stücks Tanz, Musik, Performance etc. … Das ist für mich das Problem mit dem Wort »Improvisation«. William Forsythe zum Beispiel redet gerne von der Autorschaft seiner Tänzer. Ich würde ihm da widersprechen. Seine Tänzer dürfen zwar viel improvisieren – im

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Rahmen seiner/ihrer Techniken, oder ausgehend von »Regeln«, die für eine Szene als Parameter für die Improvisation gelten, und man weiß, dass bei William Forsythe diese Parameter sehr komplex sein können, so komplex, dass sie oft zu einer Überförderung des Performers führen, und ihn dadurch »zwingen«, im Hier und Jetzt seines Tuns zu sein – aber zu Autoren werden sie deswegen nicht. Sie schreiben selbst meiner Meinung nach noch keinen eigenen Text. Sie produzieren viele Bewegungen, sehr komplexe sogar. Aber zur Autorschaft selbst fehlt ihnen die Distanz, durch die erkennbar würde, dass sie sich in jeder Sekunde über den Akt des Produzierens bewusst sind, d.h. extrem gedacht, dass sie in jeder Sekunde die Macht besäßen, mit dem »Schreiben« aufzuhören. Das ist vielleicht das Ereignis, das den Erwartungshorizont durchbricht: das Ende des Schreibens. Das Nicht-Weitergehen-Können. Wenn man das sehen könnte, dann würden sie auch zu Autoren. Sie wären dann keine Ausführenden mehr, die für eine bestimmte Zeit in eine gewisser Verräumlichung – die von William Forsythe selbst bestimmt ist – eine Szene ausfüllen müssen. Um einen Autor auf der Bühne zu sehen, muss man in dem Performer gleichzeitig zwei Personen sehen: denjenigen, der etwas tut, und denjenigen, der sich vom Tun distanziert, um es zu reflektieren, »anzuschauen«, sich davon überraschen zu lassen. Autor sein heißt, noch keine Ketten parat zu haben, sondern sich im Jetzt seiner Ausgesetztheit der doppelten Position als Ausführender und »Betrachter« bewusst zu sein, um immer in den Übergängen zwischen davor und danach das noch Kommende zu entdecken, man muss den Nicht-Wissenden im Wissenden sehen. Das heißt, dass man auf eine Art außerhalb von sich sein muss. Sich von außen betrachten muss. Es ist übrigens das, was viele Performer beschreiben, wenn sie vom Idealzustand der Improvisation reden. Sie sagen alle, dass sie einen Überblick des gesamten Raums haben, dass sie sich selbst außerhalb von sich anschauen konnten, dass Entscheidungen von sich alleine kommen etc. … Jeder Performer kennt dieses Glücksgefühl und diesen Idealzustand des Performens. Aber selbst da muss man die Distanz gegenüber den »Einfällen«, die auf einen zukommen, bewahren. Autor sein bedeutet nicht, sich dem Überfall der Einfälle hinzugeben, sondern beim Tun aus der Distanz heraus entscheiden. Es geht letztendlich um das Gleichgewicht zwischen sich bewegen und bewegt werden. Das Gleichgewicht zwischen Inspiration und Begleitung der Inspiration, Elan und Bremse, sich fallen lassen und sich nicht dabei verlieren. Alles, was ich hier beschreibe, hat für mich mit dem Begriff der

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»Öffnung« zu tun. Und wir haben körperliche Techniken entwickelt, um auf der Bühne in dieser Situation der Öffnung zu sein, zu bleiben, sich zu entfalten. D.h., dass der Performer nicht da ist, um etwas aufzuführen (einen fertigen Text, oder einen gerade entstehenden Text), sondern um den Akt des Schreibens selbst zu zeigen, d.h. immer im Übergang zu sein, zwischen einem Davor und einem Danach, und dabei einen Text ohne Ursprung zu schreiben, ohne Vergangenheit außer den Spuren, die er gerade hinter sich lässt, wenn er sich dem noch zu Kommenden öffnet. Mit der Öffnung zu arbeiten heißt, kein Ziel zu haben außer dem Verweilen in den Übergängen. Ein Sinn scheint mir sehr wichtig dafür: das Hören. Tänzer oder Schauspieler bevorzugen normalerweise das Sehen. Immer noch lernt man Tanz sehr oft vor dem Spiegel, viele Choreographen verfilmen die Proben und zeigen den Performern, was gut ist oder nicht. Theaterregisseure auch. Ich habe es oft getan. Habe Nächte vor dem Computer verbracht, um zu verstehen, was die Tänzer machen, Gesetze in der verfilmten Improvisation zu erkennen, unsichtbare Strukturen zu entdecken, die das Wiederholen dessen vereinfachen würden. Für M!M habe ich sogar die ganze Choreographie gebaut, indem ich Hunderte von aus den Videos ausgewählten Ketten zusammen montiert habe, und die Tänzer haben sie gelernt. Ich war sehr unzufrieden damit, dass der Tänzer – selbst wenn er sich immer im Jetzt der Ausführung der festen Choreographie neu erfinden muss – doch kein Autor im Moment der Aufführung ist, da er die Kette schon kennt, er weiß, wo es hin geht. Ein gewisser Text muss produziert werden, als ob er einen Sinn für sich hätte, eine Wahrheit beinhalten würde. In seiner Fertigkeit. In seiner Geschlossenheit. Es müsste heute im Tanz wie im Schauspiel darum gehen, das Schreiben eines »Textes« (mehrerer!) zu zeigen, vor den Augen des Publikums eine noch nicht existierende Choreographie bzw. Regie zu entfalten. Es sollte aber keine Improvisation sein, da der Performer uns immer zeigen würde, und sich selbst auch, dass er gerade am Schreiben ist, das heißt offen für das Unbekannte, gebannt zwischen dem Davor und dem Danach, in einem Raum, in dem die Wahrheit der Aufführung darin bestünde, dass die Produktion eines festen, abgeschlossenen Sinns suspendiert ist. Wie kann der Performer sich besser wahrnehmen (das Hören ist da hilfreicher als das Sehen!), sich selbst besser im Raum organisieren, sich seines Körpers und seiner Ausgesetztheit gegenüber den anderen Performern und dem Publikum besser bewusst werden? Das muss man als Feld öffnen, um der Ideologie der Improvisation zu entgehen.

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Vergleicht man Deine Art des Arbeitens in der Choreographie mit den im Sprechtheater üblichen Produktionsweisen, dann drängt sich der Eindruck auf, dass sie aufs Engste an die Möglichkeiten gebunden ist, die das freie Produzieren eröffnet. Gleichwohl inszenierst Du weiterhin auch im Sprechtheater. Wie geht Deiner eigenen Beobachtung nach die Erfahrung, die Du in Arbeiten wie Sacré oder zuletzt in Bach/Passion/Johannes gemacht hast, in die Art und Weise Deines Inszenierens im Schauspiel ein, also zum Beispiel in die Antigone, an der Du gerade in Stuttgart arbeitest? Man könnte die Frage stellen, ob es die freie Szene überhaupt noch gibt. Strukturell ja. Aber inhaltlich? Es lässt sich ja beobachten, dass immer mehr Gruppen der freien Szene in die Stadt- und Staatstheater hinüberwechseln. Man kann diese Offenheit der großen Häuser gegenüber der freien Szene loben. Vielleicht ist der Grund dafür, dass die freie Szene immer mehr mit den festen Häusern kompatibel wird, auch darin zu sehen, dass immer seltener jene kritische Position gegenüber den Institutionen eingenommen wird, durch die sich die freie Szene lange Zeit ausgezeichnet hat. Eine gewisse Freiheit der Performer gegenüber der Institution, in der sie arbeiten, ist mir sehr wichtig. Diesen Wunsch bringe ich mit: dass sie ein Bewußtsein davon entwickeln, in welcher Struktur sie da funktionieren müssen und wie sie dabei häufig ihre eigene Kreativität zugunsten des Betriebs opfern, damit dieser funktionieren kann. Vielleicht geht es darum, sie wieder ins Zentrum des theatralen Geschehens zu stellen und nicht die Institution. Ich kann mich daran erinnern, dass mich eines Abends eine Schauspielerin anrief und mir erzählte, dass sie, seitdem wir zusammen gearbeitet haben, Schwierigkeiten damit habe, gewisse Rollen zu spielen, die sie nicht mag. Ich antwortete ihr, dass sie nur daran denken müsse, dass sie ihre Tochter zu ernähren hat, und dass das ein Grund sei, das zu tun. Am nächsten Tag rief sie mich wieder an und sagte, dass sie so einen Spaß auf der Bühne gehabt hätte, obwohl sie diese bestimmte Rolle nicht mochte. Ich glaube, es geht darum, dass man weiß, warum man etwas tut, und sich dabei so wenig wie möglich belügt. Alles andere entwickelt sich dann daraus: Die Art zu spielen, der Umgang mit einander, der Umgang mit dem Publikum etc. … Ich glaube, ich gehe mit den Schauspielern im Theater anders um, seitdem ich Tanzproduktionen mache. Ich sehe sie nicht als Angestellte, sondern als freie Künstler. Und

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sie fangen an, darüber nachzudenken, warum sie an einem festen Haus sind. Könnte man sagen, dass Du damit auch schon die Frage nach Deinem Interesse an der Antigone beantwortet hast? Ganz genau.

Anhang

Werkverzeichnis Laurent Chétouane 1999-2015 Bernhard Siebert

1999 Phaidras Liebe von Sarah Kane. Übersetzung von Sabine Hübner Mit: Moritz Brendel, Martin Bross, Florian Lange, Katharina Quast, Julia Ribbeck Dramaturgie: Matthias Dreyer Premiere: 26. Mai 1999, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a.M.

2000 Die Zofen Tragödie der Mitwisserinnen von Jean Genet. Übersetzung von Simon Werle Mit: Evelyn Faber, Sascha Icks, Ragna Pitoll Bühne und Kostüme: Patrick Koch Musik: Iakovos Steinhauer Dramaturgie: Matthias Dreyer Premiere: 15. April 2000, Hessisches Staatstheater Wiesbaden

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Phaidras Liebe von Sarah Kane. Übersetzung von Sabine Hübner [Wiederaufnahme und weitere Bearbeitung der Inszenierung von 1999] Mit: Christian Baus, Martin Bross, Britta Hübel, Sebastian Krähenbühl, Florian Lange, Wolf-Christian Puchner, Katharina Quast, Julia Ribbeck, Stephan Szász Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Licht: Wolfgang Schade Dramaturgie: Annette Hunscha de Cordero Premiere: 27. Oktober 2000, Nationaltheater Mannheim

2001 Thyestes von Lucius Annaeus Seneca. Übersetzung für das Nationaltheater Mannheim von Durs Grünbein Mit: Barbara Bauer, Christina Andreas Domanski, Ragna Guderian, Sebastian Krähenbühl, Florian Lange, Rubruck, Stephan Skász, Wolf-Christian Puchner, Tobias Randel, Heiner Stadelmann, Sebastian Weber, Statisterie des Nationaltheaters Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Iakovos Steinhauer Licht: Nicole Berry Ton: Oliver Sachs Dramaturgie: Franziska Kötz, Matthias Dreyer Premiere: 12. Mai 2001, Nationaltheater Mannheim

Werkverzeichnis

Der Kleine Köchel von Normand Chaurette Mit: Marlen Diekhoff, Urlsula Doll, Ilse Ritter, Edith Adam Bühne: Patrick Koch Kostüme: Monika Cleres Licht: Andreas Juchheim Dramaturgie: Andreas Beck Premiere: 28. Oktober 2001, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

2002 Kabale und Liebe von Friedrich Schiller Mit: Thomas Birklein, Elif Hoppe, Alexander Kalouti, Lisa Karlström, Uwe Kramer, Julia Ribbeck, Guido Wachter Bühne: Patrick Koch, Patricia Talacko Kostüme: Sanna Dembowski Dramaturgie: Dirk Olaf Hanke Premiere: 19. Januar 2002, Oldenburgisches Staatstheater

4.48 Psychose von Sarah Kane. Übersetzung von Durs Grünbein Mit: Ursula Doll Licht: Andreas Juchheim Dramaturgie: Andreas Beck Mitarbeit: Wolf-Christian Puchner Premiere: 12. April 2002, Deutsches Schauspielhauses Hamburg

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Philoktet von Heiner Müller Mit: Florian Lange, Andreas Schröders, Stephan Szász Bühne und Kostüme: Patricia Talacko Licht: Wolfgang Schade Video: Patricia Talacko, Wolf-Christian Puchner Dramaturgie: Hans-Peter Frings Dramaturgische Beratung: Nikolaus Müller-Schöll Premiere: 25. Mai 2002, Nationaltheater Mannheim

Prinzessinnendramen Der Tod und das Mädchen I-III (Schneewittchen, Dornröschen, Rosamunde) von Elfriede Jelinek Uraufführung Mit: Martin Bross, Marlen Diekhoff, Ursula Doll, Florian Lange, Ursina Lardi, Sebastian Weber Bühne: Thomas Schuster Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Licht: Andreas Juchheim Ton: Michael Ziesmer Dramaturgie: Matthias Dreyer Premiere: 22. Oktober 2002, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

2003 Antigone von Sophokles. Übersetzung von Friedrich Hölderlin

Werkverzeichnis

Mit: Thomas Birklein, Elif Hoppe, Stefan Kiefer, Lisa Karlström, Uwe Kramer, Julia Ribbeck, Guido Wachter, Norbert Wendel Bühne: Thomas Schuster Kostüme: Patricia Talacko Musik: Leo Schmidthals Dramaturgie: Andreas Frane Sprecharbeit: Wolf-Christian Puchner Premiere: 18. Januar 2003, Oldenburgisches Staatstheater

Erde und Asche von Atiq Rahimi. Übersetzung von Susanne Baghestani. Bühnenfassung für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg von Laurent Chétouane und Jan Hein Mit: Hans Diehl Kostüme: Patricia Talacko Musik: Leo Schmidthals Licht: Andreas Juchheim, Rebekka Dahnke Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 25. April 2003, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Splendid’s von Jean Genet. Übersetzung von Laurent Chétouane und Stefan Grießhaber Mit: Nicolas Boy, Christoph Gerzymisch, Alexandra Härtel, Shirley Heuschkel, Daniel Imboden, Max Landgrebe, Torsten Lauer, Malte Scholz, Klaus-Jürgen Trabant, Angela Waller, Naneci A. Yurdagül Mitarbeit: Stefan Grießhaber Technischer Support: Pit Schmidt

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Erarbeitung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Oktober 2003

2004 Don Karlos von Friedrich Schiller Mit: August Diehl, Hans Diehl, Marlen Diekhoff, Ursula Doll, Myriam Schröder, Andreas Schröders, Devid Striesow Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Licht: Andreas Juchheim Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 05. März 2004, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Hermes in der Stadt von Lothar Trolle Mit: Martin Butzke, Gundi Ellert, Walter Hess, Christoph Luser, Lorenz Nufer, Annette Paulmann, Katharina Marie Schubert, Stephan Zinner Bühne, Kostüme: Anna Börnsen Musik: Leo Schmidthals Premiere: 13. Mai 2004, Münchner Kammerspiele

Woyzeck von Georg Büchner Mit: Mira Bartuschek, Hans Diehl, Felix Goeser, Stephan Grossmann, Ben Daniel Jöhnk, Jörg Ratjen, Leo Schmidthals, Jana Schulz, Tillbert Strahl-Schäfer, Stephanie Stremler, Devid Striesow

Werkverzeichnis

Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Licht: Andreas Juchheim Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 03. März 2005, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

2005 Lenz! [später bezeichnet als: Tanzstück #0: Lenz nach Georg Büchner] nach Georg Büchner Mit: Fabian Hinrichs Premiere: 09. Juni 2005, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang Goethe Mit: Fabian Hinrichs, Christoph Luser, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Sebastian Weber Bühne: Katrin Brack Kostüme: Katrin Tag Musik: Leo Schmidthals Licht: Stephan Mariani Dramaturgie: Marion Tiedtke Premiere: 18. Dezember 2005, Münchner Kammerspiele

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2006 Stadt, Land, Fisch von Paul Brodowski Mit: Peter Brombacher, Matthias Bundschuh, Walter Hess, Brigitte Hobmeier, Cristin König, Wiebke Puls Bühne: Marie Holzer Kostüme: Imke Schlegel Dramaturgie: Marion Tiedtke Premiere: 05. April 2006, Münchner Kammerspiele

Amoklauf mein Kinderspiel von Thomas Freyer Lesung für die Eröffnung des Stückemarkts im Rahmen des Theatertreffens 06 Mit: Fabian Hinrichs, Stefan Konarske, Katharina Lorenz Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 11. Mai 2006, Haus der Berliner Festspiele

Schatten von Jon Fosse Deutschsprachige Erstaufführung Mit: Brigitte Hobmeier, Hans Kremer, Lena Lauzemis, Christoph Luser, Hildegard Schmahl, Edmund Telgenkämper Bühne: Marie Holzer, Laurent Chétouane Kostüme: Imke Schlegel Musik: Leo Schmidthals Dramaturgie: Björn Bicker

Werkverzeichnis

Premiere: 20. Oktober 2006, Münchner Kammerspiele

2007 Studie I zu BILDBESCHREIBUNG von Heiner Müller [Später bezeichnet als: Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller] Mit: Frank Willens Licht: Andreas Juchheim Premiere: 09. Februar 2007, PACT Zollverein Essen

Hinrichs Prinz von Dänemark Try Out zu Shakespeares Hamlet [Später auch bezeichnet als: Ich bin Hamlet] Übersetzung von Heiner Müller Mit: Fabian Hinrichs Bühne: Patrick Koch Licht: Andreas Juchheim Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 30. März 2007, Sophiensaele Berlin

Der Mann im Fahrstuhl von Heiner Müller Mit: 15 Schauspielstudierenden der Hochschule für Schauspielkunst des Nationaltheaters Athen Premiere: 14. Juli 2007, First Thessaloniki biennale of Contemporary Art

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Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und Mit: Sigal Zouk, Jan Burkhardt, Frank Willens Mitarbeit: Johannes Schmit Premiere: 14. Dezember 2007, Sophiensaele Berlin

2008 Empedokles//Fatzer von Friedrich Hölderlin/Bertolt Brecht Mit: Fabian Hinrichs, Jan-Peter Kampwirth, Leo Schmidthals, Sigal Zouk Bühne: Marie Holzer Kostüme: Imke Schlegel Musik: Leo Schmidthals Licht: Jürgen Kapitein Dramaturgie: Jan Hein, Götz Leineweber Premiere: 22. Februar 2008, Schauspiel Köln

Faust. Der Tragödie zweiter Teil [Später auch bezeichnet als: Faust II] von Johann Wolfgang Goethe Mit: Sarah Bauerett, Thomas Braungardt, Jan Burkhardt, Friedemann Eckert, Eve Kolb, Elke Wieditz, Frank Willens, Sigal Zouk Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Licht: Jörg Hammerschmidt, Andreas Juchheim Video: Bahadir Hamdemir, Saskia Walker Dramaturgie: Susanne Winnacker

Werkverzeichnis

Premiere: 20. März 2008, Deutsches Nationaltheater Weimar

Faust I von Johann Wolfgang Goethe Mit: Jan-Peter Kampwirth, Eve Kolb, Carlo Ljubek, Christopher Luser, Julia Wieninger, Patrycia Ziolkowska, Jan Burkhardt, Joris Camelin Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Licht: Jürgen Kapitein Video: Anna Henckel-Donnersmarck Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 17. Oktober 2008, Schauspiel Köln

2009 Misantropen [Der Menschenfeind] von Molière. Übersetzung von André Bjerke, bearbeitet von Laurent Chétouane und Olav Torbjørn Skare Mit: Erland Bakker, Liv Bernhoft Osa, Thorbjørn Harr, Endre Hellestveit, Brigitte Larsen, Ågot Sendstad Bühne und Kostüme: Patrick Koch Maske: Annika N. Andersen Licht: Marianne Thallaug Wedset, Jan Harald Jensen Dramaturgie: Olav Torbjørn Skare Premiere: 27. März 2009, Nationaltheatret Oslo

Tanzstück #3 : Doppel/Solo/ein Abend Mit: Sigal Zouk, Matthieu Burner

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Bühne: Patrick Koch Kostüme: Imke Schlegel Musik: Leo Schmidthals Licht: Andreas Juchheim Video: Anna Henckel-Donnersmarck Preview: 21. und 23. April 2009, Springdance Festival Utrecht Premiere: 06. Mai 2009, PACT Zollverein Essen

Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen) [in Frankreich auch unter dem Titel: Tanzstück #4 : Vouloir Vivre (Ensemble)] Mit: Lisa Densem, Sigal Zouk, Jan Burkhardt, Matthieu Burner, Joris Camelin Kostüme: Sophie Reble Licht: Andreas Juchheim Video: Anna Henckel-Donnersmarck Mitarbeit: Antje Velsinger Preview: 09. Oktober 2009, Musée de la danse Rennes Premiere: 13. November 2009, Sophiensaele Berlin

2010 Dantons Tod von Georg Büchner Mit: Lisa Densem, Isabell Giebeler, Robert Gwisdek, Anna MacRae, Renato Schuch, Maik Solbach, Devid Striesow, Sigal Zouk Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Video: Anna Henckel-Donnersmarck Dramaturgie: Jan Hein

Werkverzeichnis

Premiere: 16. Januar 2010, Schauspiel Köln

Et Dukkehjem [Nora oder Ein Puppenheim] von Henrik Ibsen Mit: Liv Bernhoft Osa, Kjersti Elvik, Thorbjorn Harr, Lasse Lindtner, Merete Moen, Oystein Roger, Agot Sendstad Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sanna Dembowski Licht: Marianne Thallaug Wedset Dramaturgie: Olav Torbjørn Skare Premiere: 27. August 2010, Nationaltheatret Oslo

Λεόντιος και Λένα [Leonce und Lena] von Georg Büchner Mit: Alexandra Aidini, Galini Hatzipaschali, Kora Karvouni, Dimitris Mothonaios, Makis Papadimitriou, Dimitris Passas, Evi Saoulidou Bühne: Patrick Koch Kostüme: Imke Schlegel Licht: Sakis Birbilis Dramaturgie: Elena Karakoyli Premiere: 18. April 2010, Griechisches Nationaltheater Athen

Publikumsbeschimpfung von Peter Handke Mit: Katarina Schröter, Malte Sundermann, Franziska Wulf, Sigal Zouk Bühne: Patrick Koch Kostüme: Imke Schlegel Dramaturgie: Britta Kampert

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Premiere: 07. Oktober 2010, Theater Neumarkt Zürich

2011 horizon(s) Mit: Anna MacRae, Sigal Zouk, Matthieu Burner Kostüme: Sophie Reble Musik: Leo Schmidthals Licht: Stefan Riccius Mitarbeit: Anna Melnikova Premiere: 15. April 2011, Tanzquartier Wien

Hommage an das Zaudern Mit: Jan Burkhardt, Joris Camelin, Rémy Héritier Kostüme: Sophie Reble Licht: Stefan Riccius Mitarbeit: Georg Döcker Tryout: 01. Oktober 2011, Radialsystem Berlin Premiere: 10. Dezember 2011, Tanzquartier Wien

2012 Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist Mit: Philipp Gehmacher, Jan-Peter Kampwirth, Marie Rosa Tietjen Bühne: Matthias Nebel Kostüme: Sanna Dembowski

Werkverzeichnis

Musik: Leo Schmidthals Video: Tomász Jeziorski Dramaturgie: Jan Hein Premiere: 28. Januar 2012, Schauspiel Köln

Auf Kolonos Ein Wolfgang-Rihm-Projekt von Laurent Chétouane Mit: Eva Derleder, Hannes Fischer, Paul Grill, Thomas Halle, An Kaler, Senem Gökçe Oğultekin, Timo Tank, Gabriel Urrutia Benet, André Wagner, Hubert Wild und der Badischen Staatskapelle Bühne: Markus Selg Kostüme: Sophie Reble Musik: Wolfgang Wiechert Licht: Christoph Pöschko Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Bernd Feuchtner Premiere: 22. März 2012, Badisches Staatstheater Karlsruhe

O Mit: Mikael Marklund. Licht: Stefan Riccius Mitarbeit: Mikael Marklund Premiere: 20. Juli 2012, Festival d’Avignon

Sacré Sacre du Printemps Mit: Matthieu Burner, Joris Camelin, Kathryn Enright, Joséphine Evrard, Charlie Fouchier, An Kaler [später: Mikael Marklund], Senem Gökçe Oğultekin

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Bühne: Patrick Koch Kostüme: Sophie Reble Musik: Leo Schmidthals Licht: Stefan Riccius Video: Tomek Jeziorski Dramaturgie: Leonie Otto Mitarbeit: Anna Melnikova, Sigal Zouk Premiere: 27. September 2012, PACT Zollverein Essen (Ruhrtriennale)

2013 M!M Mit: Matthieu Burner, Mikael Marklund Bühne: Matthias Nebel Kostüme: Sophie Reble Licht: Stefan Riccius Dramaturgie: Leonie Otto Premiere: 11. März 2013, Le Quartz Brest/La Maison du Théâtre Brest (TRANSFABRIK)

Così fan tutte von Wolfgang Amadeus Mozart Mit: Nadine Lehner, Ulrike Mayer, Luis Olivares Sandoval, Martin Kronthaler, Marysol Schalit, Christoph Heinrich Musikalische Leitung: Clemens Heil Bühne: Matthias Nebel, Laurent Chétouane Kostüme: Sanna Dembowski Chor: Daniel Mayr Premiere: 05. Mai 2013, Theater Bremen

Werkverzeichnis

15 Variationen über das Offene Mit: Matthieu Burner, Mikael Marklund, Senem Gökçe Oğultekin, Sigal Zouk Violine, Bratsche: Emmanuelle Bernard Klavier: Matthias Halvorsen Cello: Michael Rauter Komposition: Domenico Gabrielli, Nico Muhly Musikalische Leitung: Michael Rauter Kostüme: Sophie Reble Licht: Stefan Riccius Dramaturgie: Leonie Otto Premiere: 30. August 2013, Hebbel am Ufer Berlin (Tanz im August)

2014 Sonetter [Sonette] von William Shakespeare. Übersetzung von Erik Bystad Mit: Thorbjørn Harr, Agot Sendstad, Hermann Sabado, Andrine Sæther, Petronella Barker Bühne, Kostüme: Sanna Dembowski Maske: Wibke Schuler Musik: Leo Schmidthals Licht: Marianne Thallaug Wedset Dramaturgie: Hege Randi Tørressen Premiere: 14. Februar 2014, Nationaltheatret Oslo

Solo with R/Perspective(s) Mit: Roberta Mosca Licht: Stefan Riccius Mitarbeit: Roberta Mosca

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Premiere: 26. Juni 2014, Tanzbiennale Venedig

Bach/Passion/Johannes Mit: Lisa Densem, Nitsal Margaliot, Mikael Marklund, Senem Gökçe Oğultekin, Sigal Zouk und dem Solistenensemble Kaleidoskop Bühne: Matthias Nebel Kostüme: Sophie Reble Musik: Michael Raute Licht: Stefan Riccius Dramaturgie: Leonie Otto Premiere: 01. Oktober 2014, Kampnagel Hamburg Pièce d’actualité no1 – Et le théâtre pour vous, c’est quoi? Mit: 15 Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt Aubervilliers Premiere: 04. November 2014, centre dramatique national La Commune Aubervilliers

2015 Antigone von Sophokles. Übersetzung von Friedrich Hölderlin Mit: Paul Grill, Berit Jentzsch, Caroline Junghanns, Johann Jürgens, Katharina Knap, Manja Kuhl, Roberta Mosca, Leo Schmidthals, Nathalie Tiede Bühne: Laurent Chétouane Kostüme: Sanna Dembowski Musik: Leo Schmidthals Dramaturgie: Jan Hein Mitarbeit: Joris Camelin Premiere: 10. Januar 2015, Schauspiel Stuttgart

Auswahlbibliographie*

1

1. Te x te von L aurent C hé touane (2008) »Gegenkritik: Laurent Chétouane macht nicht nur Kritiker blind«, in: Theater heute 06/2008, S. 63. (2009) »Epilog«, in: Annette Storr: Regieanweisungen. Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren. Berlin 2009, S. 181-185. (20101) »Der andere ist in mir gestorben. Georg Büchners ›Leonce und Lena‹«, in: Theater der Zeit 03/2010, S. 48. (20102) »touching the touch«, in: Heun, Walter/Kruschkova, Krassimira/ Noeth, Sandra (Hg.): SCORES N°1: touché 2010 Tanzquartier Wien Magazine 2010, S. 94-99. (2011) »Zu den ›Tanzstücken‹«, auf: Digitaler Atlas Tanz, als PDF online: http://tanz1.tanzatlas-deutschland.de/xmlui/bitstream/handle/108 86/63/Chetouane_Zu%20den%20Tanzstuecken.pdf?sequence=2, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. (2013) »Abschiedsgrüße«, in: Werkschau 2007-13. Schauspiel Köln, Intendanz Karin Beier. Köln 2013, S. 261-277.

2. G espr äche und I ntervie ws (2004) Müller-Schöll, Nikolaus: »›Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muss er bleiben.‹ Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielern«, in: Primavesi, Patrick/Schmidt, Olaf A. (Hg.): AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag (= Recherchen 20). Berlin 2004, S. 284-291. * Vgl. auch die erweiterte Auswahlbibliographie online: www.untermblickdesfrem den.com

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Unterm Blick des Fremden

(2005) Müller-Schöll, Nikolaus: »Als ob man gleichzeitig gehen will und stehen muss. Laurent Chétouane und Nikolaus Müller-Schöll im Gespräch«, In: Ruschkowski, Klaudia/Storch, Wolfgang (Hg.): Die Lücke im System. Philoktet. Heiner Müller. Werkbuch. Berlin 2005, S. 210-214. (2008) Gronemeyer, Nicole/Kirsch, Sebastian: »Die Stille hinter den Bildern. Der Regisseur Laurent Chétouane im Gespräch mit Nicole Gronemeyer und Sebastian Kirsch«, in: Theater der Zeit 03/2008, S. 22-27. (20091) Gronemeyer, Nicole/Stegemann, Bernd: »Laurent Chétouane«, in: dies. (Hg.): Regie (= Lektionen 2). Berlin 2009, S. 118-126. (20092) Heeg, Günther: »›Also werde Bild! – Aber werde auch Beschreibung!‹. Ein Gespräch zwischen Günther Heeg und Laurent Chétouane«, in: Darian, Veronika (Hg.): Verhaltene Beredsamkeit? Politik, Pathos und Philosophie der Geste. Frankfurt a.M. 2009, S. 245-258. (20093) Müller, Tobi: »Politik braucht ein moralisches Angebot. Interview mit Laurent Chétouane«, in: Frankfurter Rundschau vom 23. September 2009. (2010) Müller-Schöll, Nikolaus: »Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz. Laurent Chétouane im Gespräch mit Nikolaus Müller-Schöll«, in: Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Bielefeld 2010, S.  437455. [Französisch: »Le drame de la présence. Entretien avec Laurent Chétouane«, in: Théâtre/Public XX/2008 (191), S. 75-77.] (20112) Hallmayer, Petra: »Das Theater macht es sich zu leicht. Tanzwerkstatt: Der Regisseur und Choreograph Laurent Chétouane will sich dem Schönen wieder öffnen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. August 2011. (2012) Pawelke, Gudrun: »Laurent Chétouane und Jérôme Bel. Die Menschlichkeit des Menschen«, Interview vom 12. Dezember 2012, online: https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20364054.html, zu-­ letzt abgerufen am 16. Januar 2015. (20131) Goumarre, Laurent: »Le Rendez-Vous. Entretien en studio avec Laurent Chétouane à propos de Sacré Sacre du Printemps«, auf: France Culture am 13. Juni 2013. (20132) Kirsch, Sebastian: »Wir spielen nicht – Was tun wir denn dann? Laurent Chétouane im Gespräch mit Sebastian Kirsch«, in: Lerch, Daniel/Weber, Barbara/Sanchez, Rafael/Müller, Harald (Hg.): Neu:Markt. Arbeitsbuch zum Theater Neumarkt Zürich. Direktion Barbara Weber

Auswahlbibliographie

und Rafael Sanchez 2008 bis 2013. Berlin 2013, S. 108-110. [Wortgleicher Abdruck des Textes in diesem Band.] (20133) Otto, Leonie: »Opferung eines Werkes. Laurent Chétouane im Gespräch über sein Tanzstück Sacré Sacre du Printemps« in der Saisonvorschau der Alten Oper Frankfurt, Saison 2013/14, S. 198-202.

3. S ekundärliter atur Cramer, Franz Anton/Chapuis, Yvane (Hg.): Transfabrik Deutschland/ Frankreich. Begegnungen mit zeitgenössischer Bühnenkunst. München 2014, S. 82-86. Döcker, Georg: »Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s)«, in: Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 249-266. Etzold, Jörn/Meyzaud, Maud: »›Politik der Körper, Körper der Politik.‹ Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton’s Tod«, in: Forum Modernes Theater 09/2011 (26), S. 153-167. Grafe, Maximilian: »›[…] aber sie hören nicht, dass jedes dieser Worte das Röcheln eines Opfers ist‹. Der Körper in Dantons Tod und dessen Inszenierung durch Laurent Chétouane«, in: Heeg, Günther/Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hg.): Reenacting History: Theater und Geschichte. Berlin 2014, S. 58-65. Haß, Ulrike: »Das Gesehene und das Gelesene: Die unendliche Kreuzung. Laurent Chétouane inszeniert Heiner Müllers Bildbeschreibung mit dem Tänzer Frank James Willens«, in: Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Bielefeld 2010, S. 298-309. Dies.: »Horizonte. Bestimmen und Bestimmtwerden. Mit einem Blick auf die Bildbeschreibung von Laurent Chétouane«, in: Gabriele Brandstetter (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin 2010, S. 106-129. Dies.: »Spiel mit der Öffnung. horizon(s) von Laurent Chétouane im PACT Zollverein in Essen«, in: Hiß, Guido/Kirsch, Sebastian/Stapelfeldt, Kim (Hg.): Andere Räume (= Schauplatz Ruhr 2012). Berlin 2012, S. 40-42.

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Unterm Blick des Fremden

Dies.: »Verzweigte Gegenwarten. Zu den Tanzstücken #3 und #4 von Laurent Chétouane«, in: Groß, Martina/Primavesi, Patrick (Hg.): Lücken sehen … Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehmann. Heidelberg 2010, S. 291-302. Heeg, Günther: »Die geräuschlose Revolution. Der Regisseur Laurent Chétouane und seine Abbrucharbeiten am Körper der Kulturnation«, in: Theater der Zeit 03/2007, S. 23-26. Ders.: »Abgebrochene Gesten, ausgesetzte Bewegung, gescheiterte Mimikry. TanzErfahrung zwischen Sprache und Bild«, in: Huschka, Sabine (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen. Bielefeld 2009, S. 25-33. Kerlin, Alexander: »Leere Wiederholung, andere Wiederkehr. Laurent Chétouane und Frank James Willens erarbeiten ihre Studie 1 zu Bildbeschreibung von Heiner Müller. Ein Werkstattbericht«, in: Haß, Ulrike/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Fluchtpunkte (= SchauplatzRuhr 2007). Berlin 2007, S. 4-6. Kirsch, Sebastian (2014): »Wie man einen Quantensprung tanzt, oder: Bühne des Begehrens, Bühne des Triebs. Versuch über Laurent Chétouanes Zürcher Publikumsbeschimpfung«, in: Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. München 2013, S. 207-226. Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2014, hierin zu Laurent Chétouane S. 596-598. Lettow, Fabian: »›Wo früher ein Mensch war …‹. Brechts Fatzer und Hölderlins Tod des Empedokles in der Inszenierung von Laurent Chétouane«, in: Haß, Ulrike/Hiß, Guido (Hg.): Industriekathedralen (= SchauplatzRuhr 2008). Berlin 2008, S. 73-75. Müller-Schöll, Nikolaus: »Laurent Chétouane. Theater der Spur«, in: Dürschmidt, Anja/Engelhardt, Barbara (Hg.): Werk-Stück. Regisseure im Porträt (= Arbeitsbuch 12). Berlin 2003, S. 32-37. Ders.: »Theatre of Potentiality. Communicability and the Political in Contemporary Performance Practice«, in: Theatre Research International 03/2004 (29), S. 42-56. Ders.: »Das Sprechen des Textes im Raum. Zur Arbeit von Laurent Chétouane und Frank James Willens mit Heiner Müllers Bildbeschreibung. Positionen eines Symposiums«, in: Haß, Ulrike/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Fluchtpunkte (= SchauplatzRuhr 2007). Berlin 2007, S. 7-11.

Auswahlbibliographie

Ders.: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Lenger, Hans-Joachim/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld 2007, S. 187-207. Ders.: »Raisonner sur scène. Über zwei Arbeiten Laurent Chétouanes«, in: Lichau, Karsten/Tkaczyk, Viktoria/Wolf, Rebecca (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur. Paderborn 2007, S. 291-305. Ders.: »Plus d’un rôle. Zusammen spielen in gegenwärtiger Tanz-, Theater- und Performance-Praxis«, in: Kreuder, Friedemann/Bachmann, Michael/Pfahl, Julia/Volz, Dorothea (Hg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012, S. 545-557. [Übersetzungen dieses Textes: »Plus d’un rôle«, in: Théâtre/Public 10-12/2012 (206), S. 8-12; »Plus d’un rôle. Playing Together in Contemporary Dance, Theatre, and Performance«, in: Eschvan Kann, Anneka/Packard, Stephan/Schulte, Philipp (Hg.): Thinking – Resisting – Reading The Political. (= Thinking Resistances. Current Perspectives on Politics and Communities in the Art 2). Zürich 2013, S. 263-274. Ders.: »Katastrophe des Spiels. Laurent Chétouanes posttraumatische Inszenierung von Kleists Das Erdbeben in Chili«, in: Ette, Ottmar/Kasper, Judith: Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe. Wien 2014, S. 159-174. Primavesi, Patrick: »Iphigenie, Lenz, Bildbeschreibung. Stimmen-Hören im Theater Laurent Chétouanes«, in: Kolesch, Doris/Pinto, Vito/ Schrödl, Jenny (Hg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld 2008, S. 45-56. Ders.: »›Im Augenblick des Bildes‹. Laurent Chétouanes Tanzstück Studie 1 zu Heiner Müllers Bildbeschreibung«, in: Westphal, Kristin (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Weinheim u.a. 2009, S. 119-134. Ders.: »Bildbeschreibung und Entzug des Rahmens in gegenwärtiger Tanz- und Theaterarbeit (Forsythe, Bozic, Chétouane)«, in: Röttger, Kati (Hg.): Welt – Bild – Theater II: Bildästhetik im Bühnenraum. Tübingen 2012, S. 25-38. Schneider, Katja: »Praxis. Der Lehrer: Laurent Chétouane«, in: tanz 06/2011, S. 74. Schuster, Tim: Räume, Denken. Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes. Berlin 2013.

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Unterm Blick des Fremden

Siouzouli, Natascha: »Die Spaltung im Blick. Krise und ihre Aufhebung in der Arbeit Laurent Chétouanes«, in: Birringer, Johannes/Fenger, Josephine (Hg.): Tanz & WahnSinn/Dance & ChoreoMania (= Jahrbuch Tanzforschung 11). Leipzig 2011, S. 211-222. Strack, Laura: »Frühling ohne Opfer. Laurent Chétouanes Sacré Sacre du Printemps«, in: Hinnenberg, Meike/Hiß, Guido/Junicke, Robin (Hg.): Geschichte im Spiel (= SchauplatzRuhr 2013), Berlin 2013, S. 81-82. Strecker, Nicole: »Die Hoffnungsträger: Laurent Chétouane«, in: tanz, Jahrbuch 2010, S. 128. Suchy, Melanie: »Zwischen Blick und Blick. Ein Schauspielregisseur läßt Tänzer die Bewegung neu entdecken. Laurent Chétouane geht es um die Basis von Theater: Körper, Raum, Zeit und Wort«, in: tanzjournal, 04/2009. Tatari, Marita: »Le drame révolu et le drame de la présence. Sur Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller de Laurent Chétouane«, in: Théâtre/Public 10-12/2012 (206), S. 26-29. Thielmann, Friederike: »Beschreibung der ›Bildbeschreibung‹. Unter dem Blick von Laurent Chétouane«, in: Goebbels, Heiner/MüllerSchöll, Nikolaus (Hg.): Heiner Müller sprechen (= Recherchen 69). Berlin 2009, S. 152-162. Umathum, Sandra: »Laurent Chétouane & Fabian Hinrichs: Hamlet werden. Überlegungen zu Eva Könnemanns Die Tragöden aus der Stadt«, in: Diekmann, Stefanie (Hg.): Die andere Szene. Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm (= Recherchen 91). Berlin 2014, S. 51-65. Wortelkamp, Isa: »Die Lust am Tanz. Französischer Choreograf Laurent Chétouane lehrt an der Freien Universität«, in: Der Tagesspiegel (Beilage Freie Universität Berlin) vom 15. Oktober 2011. Zimmermann, Bastian: »Auf der Suche nach der verlorenen Gemeinschaft – Zu einigen Utopien des Musizierens«, in: Dissonance/Dissonanz 122 (2013), S. 9-13.

Auswahlbibliographie

R ezensionen Thyestes Burkhardt, Otto Paul: »›Thyestes‹ von Seneca in der Regie von Laurent Chétouane«, in: Theater der Zeit 06/2001, S. 44. 4.48 Psychose Müller-Schöll, Nikolaus: »Abgründe. Laurent Chétouane inszeniert Sarah Kanes ›4.48 Psychose‹ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg«, in: Frankfurter Rundschau vom 23. April 2002. Don Karlos Briegleb, Till: »Für und wider den germanischen Ernst. Mal statuarisch, mal sportiv: Laurent Chétouane und Sebastian Nübling gewinnen Schillers ›Don Karlos‹ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an den Münchner Kammerspielen neuen Sinn ab«, in Theater heute 04/2004, S. 4-8. Iphigenie auf Tauris Werner, Katja: »Uraufführung von Händl Klaus’ ›Dunkel lockende Welt‹ und Laurent Chétouanes ›Iphigenie‹-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen«, in: Theater der Zeit 03/2006, S. 41. Schatten Behrendt, Eva: »Das Ochsenschwanz-Verfahren. Jon Fosses Stücke mit der Seele suchen: Laurent Chétouane und Elias Perrig inszenieren die deutschen Erstaufführungen von ›Schatten‹ und ›Besuch‹ in München und Basel«, in: Theater heute 12/2006, S. 19. Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller Behrendt, Eva: »Und der Regisseur bewegt sich doch. Hamlet-Tryout, ›Studie I zu Bildbeschreibung‹: Laurent Chétouane zelebrierte seine spröden, minimalistischen Theaterabende nun auch in Berlin«, in: taz vom 3. April 2007. Kästner, Irmela: »Die Poesie des Todes. Laurent Chétouane inszeniert Heiner Müllers Bildbeschreibung«, in: tanzjournal 2/2007, S. 38-39.

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Unterm Blick des Fremden

Ott, Michael: »Alleingänge in Textgebirgen. Laurent Chétouane inszeniert Müller und Shakespeare in den Sophiensälen«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. April 2007. Pilz, Dirk: »Ein Theater der Enthaltsamkeit. Der französische Regisseur Laurent Chétouane gastiert an den Sophiensaelen«, in: Berliner Zeitung vom 29. März 2007. Wesemann, Arnd: »Laurent Chétouanes ›Bildbeschreibung‹«, in: ballettanz 05/2007, S. 49. Tanzstück #2: Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und Affenzeller, Margarete: »Bei Goethe fängt das Kino an«, in: Der Standard vom 3. April 2008. Behrens, Wolfgang: »Es wird Kunst gemacht. Tanzstück #2 – Laurent Chétouanes Studie zum zweiten Akt aus Goethes zweitem Teil des ›Faust‹«, in: nachtkritik.de am 15. Dezember 2007, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=812:tan zstueck-2-laurent-chetouanes-studie-zum-zweiten-akt-aus-goetheszweitem-teil-des-qfaustq&catid=49:sophiensaele-berlin, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Kirsch, Sebastian: »In den Sophiensælen gelangt Laurent Chétouane mit seinem ›Tanzstück #2 : Antonin Artaud liest den 2. Akt von Goethes Faust 2 und‹ jenseits der Bilder«, in: Theater der Zeit 02/2008, S. 49. Empedokles//Fatzer Müller, Regine: »Im Sog der Präzision. Empedokles//Fatzer – Laurent Chétouane sperrt Hölderlin und Brecht zusammen«, auf: nachtkritik.de am 23. Februar 2008, online: www.nachtkritik. de/index.php?option=com_content&view=article&id=1049:empedokles-fatzer-laurent-chetouane-sperrt-hoelderlin-und-brechtzusammen&catid=84:schauspiel-koeln, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Ich bin Hamlet Rakow, Christian: »Gegenangebote. Laien spielen mit: Nicht nur bei Rimini Protokolls ›Breaking News – ein Tagesschauspiel‹ in Düsseldorf, auch in Laurent Chétouanes ›Ich bin Hamlet‹ in Köln«, in: Theater heute 03/2008, S. 30-32.

Auswahlbibliographie

Faust II Gambihler, Ralph: »Was vom Drama übrig bleibt. Faust II – Laurent Chétouane obduziert Goethe«, in: nachtkritik.de vom 21. März 2008, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=1171, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Faust I Langhals, Ralf-Carl: »Bewegter Wortgottesdienst. ›Faust I‹ – Laurent Chétouane seziert die deutsche Sprache und den Seelenraum Mensch«, in: nachtkritik.de vom 18. Oktober 2008, online: www. nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=19 03:faust-i-laurent-chetouane-seziert-die-deutsche-sprache-und-denseelenraum-mensch&catid=84:schauspiel-koeln, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Wahl, Christine: »Wenn die Welt im innersten zusammenfällt. Global Player Faust in Cottbus und Weimar, inszeniert von Christoph Schroth, Tilmann Köhler und Laurent Chétouane«, in: Theater der Zeit 05/2008, S. 34-36. Tanzstück #3 : Doppel/Solo/ein Abend Fischer, Eva-Elisabeth: Sichtbares und Unsichtbares. Laurent Chétouanes ›Tanzstück #3‹ im Schwere Reiter«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. August 2009. Müller, Katrin Bettina: »Ein paar Zentimeter tiefer. Als Regisseur und Choreograph hat sich Laurent Chétouane den Ruf eines Künstlers erworben, der nichts als selbstverständlich nimmt. Mit Sigal Zouk arbeitet er in den Sophiensaelen am ›Tanzstück #3‹«, in: taz vom 22. Mai 2009. Hallmayer, Petra: »Selbstvergessenheit verboten. Die Tanzwerkstatt Europa hat diesmal auch eine Choreographie des Theaterregisseurs Laurent Chétouane im Programm«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. August 2009. Schlagenwerth, Michaela: »Neue Welt, andere Körper. Laurent Chétouane mit seinem ›Tanzstück #3‹ in den Sophiensälen«, in: Berliner Zeitung vom 25. Mai 2009. Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen) Arvers, Fabienne: »Le danseur et son double« in: Les inrockuptibles vom 12. Mai 2010.

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Unterm Blick des Fremden

Kästner, Irmela: »Schwache Zeichen sind stark«, in: tanz 05/2010, S. 12-14. Ploebst, Helmut: »Die rekonstruierte Utopie. Eine spielerische Gemeinschaft rekonstruiert, was unsere Wünsche waren: Chétouanes ›Tanzstück #4 : leben wollen (zusammen)‹«, in: Der Standard vom 28. März 2010. Ploebst, Helmut: »Vom Monument zur Gemeinschaft«, in: Der Standard vom 23. März 2010. Dantons Tod Burckhardt, Barbara: »Wir hier drinnen, ihr da draußen. Wie kommen Theater und Wirklichkeit zusammen? Gar nicht, sagen in Köln Laurent Chétouanes Büchner-Inszenierung ›Dantons Tod‹ und Karin Beiers Theatertransformation des Ettore-Scola-Films ›Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen‹. Hingucken lohnt trotzdem«, in: Theater heute 03/2010, S. 6-9. Kirsch, Sebastian: »Eine Angelegenheit des Volkes«, in: Theater der Zeit 05/2010, S. 56. Wilink, Andreas: »Der, den das Morden ekelt. Dantons Tod – Laurent Chétouane hält die Wunde Büchner offen«, in: nachtkritik.de vom 17. Januar 2010, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=3788:dantons-tod-laurent-chetouane-haelt-diewunde-buechner-offen&catid=84:schauspiel-koeln, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Nora oder Ein Puppenheim (Et Dukkehjem) Krug, Hartmut: »Nora, eine Textmaschine. Nora oder Ein Puppenheim (Et Dukkehjem) – Laurent Chétouane inszeniert Ibsens Emanzipationsstück«, auf: nachtkritik.de vom 29. August 2010. Publikumsbeschimpfung Baigger, Katja: »Es bedeutet alles nichts«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. Oktober 2013, S. 25. Kedves, Alexandra: »Handkes Bildersturm als Körpertheater. Laurent Chétouane inszeniert ›Publikumsbeschimpfung‹ im Zürcher Neumarkt«, in: Tagesanzeiger vom 9. Oktober 2010, S. 39. Kirsch, Sebastian: »Ein unzustellbarer Brief ans Publikum. Laurent Chétouane inszeniert am Theater am Neumarkt in Zürich Peter Handkes ›Publikumsbeschimpfung‹«, in: Theater der Zeit 12/2010, S. 26-27.

Auswahlbibliographie

Linder, Kaa: »Choreografie der Ratlosigkeit. ›Publikumsbeschimpfung‹ – Laurent Chétouane reanimiert Peter Handke«, in: nachtkritik.de vom 8. Oktober 2010, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_co ntent&view=article&id=4757:publikumsbeschimpfung-das-zuerchertheater-neumarkt-reanimiert-peter-handke&catid=186:theaterneumarkt-zuerich, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Meier, Simone: »Im Angesicht des Nichts, Peter Handkes ›Publikumsbeschimpfung‹«, in: Theater heute 02/2011, S. 52. horizon(s) Fischer, Eva-Elisabeth: »Mathematik des Herzens. Laurent Chétouanes getanzte Ménage à trois ›horizon(s)‹ im PACT Zollverein Essen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2011. Nehring, Elisabeth: »Solo für Trio. Wie sich das Gesicht verändert: Die deutsche Tanzplattform 2012 in Dresden-Hellerau«, in: Der Tagesspiegel vom 6. März. 2012. Ploebst, Helmut: »Eine Ménage à trois mit Falte. Laurent Chétouanes jüngstes Stück ›horizon(s)‹ als Uraufführung im Tanzquartier Wien«, in: Der Standard vom 17. April 2011. Schneider, Katja: »Laurent Chétouane: horizon(s)«, in: tanz, 08-09/2011, S. 70. Schlagenwerth, Michela: »Zu zweit, zu dritt, allein. Sophiensaele: Laurent Chétouane zeigt ›horizon(s)‹«, in: Berliner Zeitung vom 9. Mai 2011. Schneider, Katja: »Laurent Chétouane: ›horizon(s)‹«, in: tanz 08-09/2011, S. 70. Hommage an das Zaudern Hüster, Wiebke: »Im Konzept-Schutzgebiet. Laurent Chétouanes ›Hommage an das Zaudern‹« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 2011. Ploebst, Helmut: »Tanztheater: Lasst euch nicht ausplündern. Kritik an gesellschaftlichen Zwängen und nervösen Verkrampfungen übten auf unterschiedliche Weise Laurent Chétouane und Frédéric Flamand«, in: Der Standard vom 12. Dezember 2011. Schneider, Katja: »Berlin: Laurent Chétouane: ›Hommage an das Zaudern‹« in: tanz 02/2012, S. 36. Weickmann, Dorion: »Achtung Bruderkuss! Laurent Chétouane inszeniert in Berlin die Vorwehen der Tanzlust«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Februar 2012.

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Unterm Blick des Fremden

Das Erdbeben in Chili Preußler, Gerhard: »Keine Einfühlung! Köln, Schauspielhaus, Halle Kalk. Brecht: ›Herr Puntila und sein Knecht Matti‹, Kleist ›Das Erdbeben von Chili‹«, in: Theater heute 03/2012, S. 50. Wilink, Andreas: »Hände hoch. ›Das Erdbeben in Chili‹ – Kleist inszeniert und choreografiert von Laurent Chétouane am Schauspiel Köln«, in: nachtkritik.de vom 29. Januar 2012, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6532:das-erdbebenin-chili-kleist-inszeniert-und-choreografiert-von-laurent-chetouaneam-schauspiel-koeln&catid=84:schauspiel-koeln, zuletzt abgerufen am 16.01.2015. Sacré Sacre du Printemps Althammer, Miriam: »Ohne Opfer. Laurent Chétouanes ›Sacre‹ in der Muffathalle«, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. November 2013. Suchy, Melanie: »Kein Opfer ist mehr heilig. Schwierigkeiten mit einem modernen Klassiker: drei Choreographien zu ›Le Sacre du Printemps‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 2013. Kästner, Irmela: »Frühlingsopfer. ›Le sacre du printemps‹ wird 100 Jahre alt. Ein internationaler Überblick und neue Arbeiten auf Kampnagel, von Irmela Kästner«, in: Welt am Sonntag am 30. Dezember 2012. Meierhenrich, Doris: »Die Grenzen der Grenzüberschreitung«, in: Berliner Zeitung vom 14. November 2012. Luzina, Sandra: »Zombie-Yoga. Chétouanes ›Sacré Sacre du Printemps‹ im HAU«, in: Der Tagesspiegel vom 9. November 2012. Ploebst, Helmut: »Tanz der lebenden Toten. Laurent Chétouanes ›Sacré Sacre du Printemps‹ im Tanzquartier Wien«, in: Der Standard vom 15. Oktober 2012. Weickmann, Dorion: »Laurent Chétouane ist der Mann vom Meer«, in: tanz 08-09/2012, S. 28-31. Weickmann, Dorion: »Die rosarote Utopie. In Bremen kreisen zwei Choreografien um die Frage gesellschaftlicher Gewalt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. November 2012. Wilink, Andreas: »Das verweigerte Opfer. Sacré Sacre du Printemps – Laurent Chétouane analysiert Strawinsky bei der Ruhrtriennale«, in: nachtkritik.de vom 28. September 2012, online: www.nachtkritik.de/ index.php?option=com_content&view=article&id=7283:sacre-sacre-

Auswahlbibliographie

du-printemps-laurent-chetouane-analysiert-strawinsky-bei-der-ruhrt riennale&catid=259:ruhrtriennale, zuletzt abgerufen am 16.01.2015. Suchy, Melanie: »Sacré Sacre du Printemps. Laurent Chétouane«, in: tanz 05/2013, S. 11. M!M Hahn, Thomas: »Laurent Chétouane: ›M!M‹«, in: tanz 05/2013, S. 42. Così fan tutte Regitz, Hartmut: »Zum Verwechseln ähnlich«, in: opernwelt 07/2013, S. 39. 15 Variationen über das Offene Ploebst, Helmut: »Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. 15 Variationen über das Offene im Tanzquartier, in: Der Standard vom 24. März 2014. Suchy, Melanie: »Discomäßig dribbelt das Damentrio«, in: Die Welt vom 6. März 2014. Irmer, Thomas: »Beim Zuschauen zuschauen. 15 Variationen über das Offene – die neue Choreographie des Schauspiel-Renegaten Laurent Chétouane bei Tanz im August in Berlin«, in: nachtkritik.de vom 31. August 2013, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=8452:15-variationen-ueber-das-offene-dieneue-choreographie-des-schauspiel-renegaten-laurent-chetouane-beitanz-im-august-in-berlin&catid=465:tanz-im-august-berlin, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015. Bach/Passion/Johannes Ploebst, Helmut: »Die Passion, der Tanz und das Pathos. Konträr: Laurent Chétouane und Wayne McGregor«, in: Der Standard vom 19. Januar 2015. Antigone Becker, Steffen: »›Antigoneeeee – wo biiiiist duuuuu?‹ Antigone – Laurent Chétouane öffnet in Stuttgart Sophokles’ Klassiker für Musiker, Tänzer und den Zufall«, in: nachtkritik.de vom 11. Januar 2015, online: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article& id=10436:2015-01-11-07-39-56&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40, zuletzt abgerufen am 16. Januar 2015.

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Bildnachweise

Titel und S. 24: Sacré Sacre du Printemps, Senem Gökçe Oğultekin, Charlie Fouchier, Joséphine Evrard, Kathryn Enright, Joris Camelin, An Kaler, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 25: Sacré Sacre du Printemps, Joris Camelin, Kathryn Enright, Joséphine Evrard, Senem Gökçe Oğultekin, An Kaler, Charlie Fouchier, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 25: Sacré Sacre du Printemps, Charlie Fouchier, Kathryn Enright, Senem Gökçe Oğultekin, An Kaler, Joris Camelin, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 26: Sacré Sacre du Printemps, Kathryn Enright, Matthieu Burner, Senem Gökçe Oğultekin, Joris Camelin, An Kaler, Joséphine Evrard, Charlie Fouchier (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 26: Sacré Sacre du Printemps, An Kaler, Charlie Fouchier, Joséphine Evrard, Senem Gökçe Oğultekin, Kathryn Enright, Matthieu Burner, Joris Camelin (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 27: Sacré Sacre du Printemps, Joris Camelin, Joséphine Evrard (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 27: Sacré Sacre du Printemps, Kathryn Enright, Joris Camelin, An Kaler, Joséphine Evrard, Charlie Fouchier, Senem Gökçe Oğultekin (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch

Bildnachweise

S. 28: Sacré Sacre du Printemps, Kathryn Enright, An Kaler (v. vorne n. hinten), Foto: Oliver Fantitsch S. 28: Sacré Sacre du Printemps, Joris Camelin, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 29: Sacré Sacre du Printemps, An Kaler, Joséphine Evrard (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 121: Sacré Sacre du Printemps, Matthieu Burner, Joséphine Evrard, An Kaler, Charlie Fouchier, Joris Camelin, Kathryn Enright (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 122: Sacré Sacre du Printemps, Charlie Fouchier, Kathryn Enright, An Kaler, Joséphine Evrard (v. l. n. r.), Foto: Robin Junicke S. 122: Sacré Sacre du Printemps, Senem Gökçe Oğultekin, Charlie Fouchier, Joséphine Evrard, Kathryn Enright, Joris Camelin, An Kaler (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 152: Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, Frank Willens, Foto: Robin Junicke S. 152: Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, Frank Willens, Foto: Robin Junicke S. 153: Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, Frank Willens, Foto: Robin Junicke S. 154: Empedokles // Fatzer, Fabian Hinrichs, Foto: Oliver Fantitsch S. 155: Empedokles // Fatzer, Jan-Peter Kampwirth, Sigal Zouk, Fabian Hinrichs (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 155: Empedokles // Fatzer, Jan-Peter Kampwirth, Fabian Hinrichs, Sigal Zouk (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 191: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Sigal Zouk, Foto: Wonge Bergmann

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Unterm Blick des Fremden

S. 192: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Friedemann Eckert, Frank Willens, Eve Kolb, Elke Wieditz, Thomas Braungardt, Sarah Bauerett (v. l. n. r.), Foto: Wonge Bergmann S. 192: Faust I, Joris Camelin, Eve Kolb, Christoph Luser, Julia Wieninger, Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Patrycia Ziolkowska (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 193: Tanzstück #4 : leben wollen ( zusammen ), Jan Burkhardt, Lisa Densem, Joris Camelin, Matthieu Burner, Sigal Zouk (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 193: Tanzstück #4 : leben wollen ( zusammen ), Matthieu Burner, Joris Camelin, Jan Burkhardt, (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 194: Dantons Tod, Anna MacRae, Sigal Zouk (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 194: Dantons Tod, Robert Gwisdek, Renato Schuch, Maik Solbach, Sigal Zouk, Anna MacRae (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 234: Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller, Frank Willens, Foto: Robin Junicke S. 247: Horizon(s), Anna McRae, Matthieu Burner, Sigal Zouk (v. l. n. r.), Foto: Eva Würdinger S. 248: Hommage an das Zaudern, Joris Camelin, Rémy Héritier (v. l. n. r.), Foto: Sebastian Bolesch S. 249: M!M, Mikael Marklund, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 249: M!M, Mikael Marklund, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Oliver Fantitsch S. 250: 15 Variationen über das Offene, Sigal Zouk, Matthieu Burner (v. l. n. r.), Foto: Thomas Aurin

Bildnachweise

S. 250: 15 Variationen über das Offene, Matthieu Burner, Sigal Zouk, Mikael Marklund, Senem Gökçe Oğultekin (v. l. n. r.), Foto: Thomas Aurin S. 251: Bach/Passion/Johannes, Michael Rauter, Mikael Marklund, Nari Hong, Tammin Julian Lee, Lotte Dibbern, Clara Gervais, Mari Sawada, Sigal Zouk, Nitsan Margaliot, Emmanuelle Bernard (v. l. n. r.), Foto: BenoÎte Fanton

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Zu den Autorinnen und Autoren des Bandes

Heike Albrecht, Kuratorin und Dramaturgin, Berlin. Franz Anton Cramer, Tanzwissenschaftler, Philologe, Publizist, Berlin. Georg Döcker, Theater- und Tanzwissenschaftler, Justus-Liebig-Universität Gießen. Ulrike Haß, Professorin für Theaterwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Jurgita Imbrasaite, Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin, Ruhr-Universität Bochum. Irmela Kästner, Autorin, Tanzkritikerin und Kuratorin, Hamburg. Sebastian Kirsch, Theaterwissenschaftler und Autor, Ruhr-Universität Bochum. Krassimira Kruschkova, Leiterin des Theoriezentrums am Tanzquartier Wien und Hochschuldozentin. Hans-Thies Lehmann, Professor em. für Theaterwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt a.M. Nikolaus Müller-Schöll, Professor für Theaterwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Zu den Autorinnen und Autoren des Bandes

Leonie Otto, Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin, Goethe-Universität Frankfurt a.M. Jean-Francois Peyret, Regisseur, Autor und Übersetzer, Paris. Helmut Ploebst, Kultur- und Tanzkritiker und -wissenschaftler, Wien. Cécile Schenck, Theaterwissenschaftlerin, Sorbonne Nouvelle Paris. Leo Schmidthals, Komponist und Musiker, Hamburg. Tim Schuster, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Frankfurt a.M. Bernhard Siebert, Theaterwissenschaftler, Frankfurt a.M. Gerald Siegmund, Professor für Angewandte Theaterwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen. Marita Tatari, Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Philosophin, Ruhr-Universität Bochum. Bernhard Waldenfels, Professor em. für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum.

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Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Februar 2016, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Februar 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

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Theater Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig,, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien April 2015, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

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Theater Anu Allas Spiel der Unsicherheit/ Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre März 2015, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2966-8

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater 2014, 416 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« August 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller März 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2908-8

Beatrice Schuchardt, Urs Urban (Hg.) Handel, Handlung, Verhandlung Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien

Melanie Hinz 2014, 314 Seiten, kart., 39,99 €, Das Theater der Prostitution ISBN 978-3-8376-2840-1 Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart Nina Tecklenburg Performing Stories 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, Erzählen in Theater und Performance ISBN 978-3-8376-2467-0 Stefanie Husel Grenzwerte im Spiel Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment«. Eine Ethnografie 2014, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2745-9

2014, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2431-1

Rafael Ugarte Chacón Theater und Taubheit Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst Mai 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2962-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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