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German Pages 320 Year 2015
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens
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INHALT EINLEITUNG Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer 11 Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen Peter Weichhart 21
MEDIALISIERUNG
UND
VISUALISIERUNG
Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern Jan Glatter und Daniela Weber 43 Erlebnisräume/Raumerlebnisse: Zur Konstruktion des „Draußen“ in Bildern der Werbung Antje Schlottmann 67
PERFORMATIVITÄT Die Performativität und Konstruktion touristischer Räume – das Beispiel Südbayern Peter Dirksmeier 89 Inklusive Melancholie, planvolle Befütterung und das unstete Glück der Rhizome. Performances von Europa im Feld des Kulturtourismus Peter Gostmann 107
Performing Tourism – Doing IKEA. Gedanken zu touristischen Praktiken in „Nicht-Orten“ des Konsums Julia Walla 125
WISSEN Die Herstellung agrotouristischer Tourismusräume. Eine Fallstudie in der Republik Zypern Gisela Welz 143 „Wir wissen nicht, was wir tun sollen“ – Expertisierte Raumaneignung und -konstruktion Karlheinz Wöhler 157
KONSTRUIEREN
UND INSZENIEREN
Stadtstrände – Urlaubsoasen im urbanen Raum? Erste empirische Annäherungen – ein Werkstattbericht Vera Denzer, Holger Köppe, Klaus Sachs und Olaf Kühne 191 Industrietourismus. Entdeckung und Konstruktion der Fabrik als touristischer Raum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Daniela Fleiß 207 Marathonevents als Urlaubsziel – zur „laufenden“ Konstruktion von Tourismusräumen Anke Strüver 225
DISKURS
UND
VERRÄUMLICHUNG
Global Slumming. Zur Genese und Globalisierung des Armutstourismus Malte Steinbrink und Andreas Pott 247 Destination Building und Destination Branding als räumliche Konstruktionsprozesse Anja Saretzki 271 Kulturtourismus und Europäisierung. Europa als Referenz touristischer Raumkonstruktionen Ramona Lenz und Kirsten Salein 295
Zu den Autorinnen und Autoren 311
Einleitung
Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer Tourismusräume existieren nicht per se. Durch individuelle und kollektive Bedeutungszuschreibungen werden physisch-materielle Umwelten ebenso wie menschliche Artefakte erst zu Tourismusräumen gemacht. Was Räume für einzelne Menschen darstellen und wie sie DQJHHLJQHW ZHUGHQ ZDUXP VLH EHLVSLHOVZHLVH GLH VSH]LÀVFKH HPSLrische Wirklichkeitsform „Tourismusraum“ annehmen, dies gründet unbestreitbar auf sozialen Konstruktionen und Vorstellungen bzw. kognitiven Simulationen über den Raum. Tourismusräume existieren demnach unter der Voraussetzung des Vorstellens, Imaginierens und Entwerfens, nach denen sie nachgängig gestaltet und erlebt werden. Dass sich in diesem Raumproduktionsprozess je konkrete gesellschaftliche Verhältnisse niederschlagen und widerspiegeln, steht ebenso wenig in Abrede wie die daraus resultierende soziale Tatsache der räumlichen Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse. Tourismusräume sind daher weder gesellschaftliche Gegenräume, noch stehen sie außerhalb der Gesellschaft. Sie sind in den „Raum“ der Gesellschaft eingebettet – in die durch Strukturen der Gesellschaft geschaffenen konkreten räumlichen Gegebenheiten. Mit dem Einsetzen des Massenkonsums ab Mitte letzten Jahrhunderts etablierte sich auch ein „Massentourismus“, der das Reisen für (fast) jedermann erschwinglich machte („Neckermänner“ als Ausdruck der „massenhaften“ Konsumrealisierung gering Verdienender). Dafür wurden nicht nur „alte“ bzw. herkömmliche Reiseziele, sondern auch XQEHNDQQWH 2UWH XQG 3HULSKHULHQ PLW WRXULVPXVVSH]LÀVFKHU ,QIUDstruktur ausgestattet. Es soll hier nicht im Detail auf die verschiedenen Phänomene, die mit dem Aufkommen des „Massentourismus“ einhergingen, eingegangen werden (etwa vermehrte Freizeit, wachsendes disponibles Einkommen, Mobilisierung, sinkende Transportkosten, preisgünstige Angebote infolge der Standardisierung und niedrigere Lohnkosten, Tourismus als „Entwicklungsmotor“ peripherer Regionen und dekolonialisierter Räume). Wesentlich erscheint uns jedoch der gesellschaftliche Wertewandel und seine Raumwirksamkeit: Nicht 11
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer mehr traditionelle Werte wie insbesondere die Arbeit als Weg zur Glückseligkeit bestimmen die Lebensentwürfe, sondern zunehmend auch Lebensformen, die von jeglichem Alltagsdruck befreit sind. Reisen bzw. Urlaub wird nun weder als Zeit noch als Ort verstanden, sondern als eine Geisteshaltung (vgl. Prost 1983, 134). Dabei stehen weder Zeit- noch Ortsgebundenheit in Abrede: Bestimmten Zeiträumen wird eine Absage erteilt – Zeiträumen, die die Menschen bestimmen und sie damit zum Objekt machen. Der Tourismus zielt demgegenüber auf Orte, in denen und durch die Möglichkeiten für das Erkennen und Erleben des „Wirklichen“ oder „Eigenen“ im Anderen bzw. Fremden geschaffen werden. Im Modus des Touristseins bzw. des Reisens wird Selbst- und Welterfahrung sowie Selbst- und Weltermächtigung möglich. In diesem Sinne wirbt nicht erst die heutige Tourismusindustrie und orientiert so die Erfahrungswelt der Menschen hin auf die alltagsabgewandte weite und/oder nahe Ferne. Reiseerfahrungen kennzeichnet seit jeher eine „komparative Mentalität“ (vgl. Leed 1993, 303): Das bei der Abreise Zurückgelassene wird mit dem in der Ferne Erlebten und Wahrgenommenen verglichen. So wird dann bestimmt, ob beides zusammenpasst und in welche Ordnung beide Sphären zu setzen sind. „Be-Stimmen“, darin liegt die Bedeutung des 3UlÀ[HVÅEH´LVWDOVRUHVXOWDWLY6FKRQ*RHWKHHUDFKWHWHVHLQHYLHOHQ Reisen so: Im Gegensatz zum Zuhause biete allein die Abwesenheit Entfaltungsfreiheit (vgl. Rühle 2009, 9ff.). Auch Deleuze und Guattari (2005, 522ff.) meinen, dass sich das wahre Mensch- bzw. Subjektsein nicht in der Sesshaftigkeit, sondern nur im Nomadenhaften, in einer Intermezzo-Sesshaftigkeit, erschließe. Für die lange Geschichte des Reisens gilt – bis in die heutige Zeit –, dass touristische Räume weder als Transit- noch als Ankunftsräume angemessen verstanden werden. Stattdessen sind die sozialen Konstruktionsprozesse sowie die Reisenden bzw. Touristen selbst in den Blick zu nehmen. Letztere sind es, die die erfahrenen, erlebten und touristisch geformten Räume beurteilen, charakterisieren, einverleiben, kurz: für sich, also subjektiv, bestimmen. Doch was heißt subjektiv? Wenn sich Tourismusräume als Möglichkeitswelten des Sich-Bestimmens offenbaren, dann werden sie nicht als Vagheiten sichtbar. Sie heben sich vielmehr durch bestimmte Gesichtspunkte und Intentionen ab – „[...] ohne Gesichtspunkte [...] würden sämtliche Orte und Zeiten alsdann ineins wirklich, dass sie vielmehr sämtlich zu sein aufhörten, weil ich keinen und keine mehr bewohnte und nirgends engagiert wäre“ (Merleau-Ponty 1966, 383). Touristen nehmen Qualitäten und Stimmungen der Orte im Medium des Tourist- und damit des Fremdraumseins unterschiedlich auf. Sie erweitern Sichtweisen sowie Körperverhältnisse und schreiben diese in Orte ein, sie be-leben und subjektivieren die Orte also. Dabei ist der Rückbezug auf sich selbst (Subjekt) nicht beliebig. Abgesehen von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte, gestaltet 12
Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen und begründet sich das Selbst nirgendwo unabhängig von seiner Verankerung in der sozialen Welt. Um diese Verankerung zu beschreiben, eignet sich das Habituskonzept Bourdieus, mit dessen Hilfe sich zugleich unterschiedliche Formen oder Stile des Sich-Bestimmens in Tourismusräumen erklären lassen (Bourdieu 1982, 279). Natürlich fungieren Tourismusräume infolge ihrer Distanz zu Alltagsräumen auch als „Schutz- oder Freiräume“, in denen und durch die andere Selbst- und Weltverhältnisse sowie soziale Beziehungen gebildet und erprobt werden können. Auf diese Weise können sich die Dispositionen des Habitus, also die ihm innewohnenden Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, wenn nicht gänzlich, so doch zumindest während der Praxis des Touristseins ändern. Die Verräumlichung des sich in der Fremde oder Ferne AndersBestimmens – wie immer temporär oder probeweise – durchzieht die Reise- und Tourismusgeschichte. Sie führt zur Herausbildung eines touristischen Raumes, der zwischen strukturierenden (bestimmenden) und strukturierten (bestimmten) Strukturen vermittelt. Dabei zeigt sich, dass die in den bereisten Räumen entstandenen Veränderungen der Selbst- und Weltsicht rhizomatische Verbindungen zu Ideen und Vorstellungen haben, die entweder noch nicht in den Aufmerksamkeitshorizont der „Heimatgesellschaft“ gelangt sind und/oder sich dort noch nicht (vollends) durchsetzen konnten. Erst im Fremdraum haben VLH HLQH 0|JOLFKNHLW ]XU 3URMHNWLRQ XQG ÀQGHQ HLQH PDWHULHOOH XQG NXOWXUHOOH %HVWlWLJXQJ 'LH VWUXNWXUHOO ZLH NXOWXUHOO NRQÀJXULHUWHQ Tourismusräume lassen sich daher oftmals nicht nur als Vorboten tiefer liegender gesellschaftlicher Veränderungen begreifen, sondern sie greifen in den Wandel insofern ein, als die in ihnen vollzogenen Praktiken auch in den Alltag übertragen werden. Was Schulze 1992 mit der Erlebnisgesellschaft konstatierte, hatte sich zuvor als „touristische“ Alltagsästhetik in und durch Tourismusräume herausgebildet. Die mit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzende Demokratisierung des Reisens trug zur Verbreitung und sozialen Anerkennung dessen bei, was für den gleichen Zeitraum als Wandel von den Habens- zu den Seinswerten beschrieben wurde. Fortan galten nicht nur Tourismusräume, sondern nahezu alle vom Alltag, insbesondere von der Berufswelt, abgewandten Räume als Möglichkeiten der Markierung von Individualität, Selbstbestimmung oder ästhetischer Stilisierung, als Möglichkeiten des Etwas-für-und-aus-sich-Machens und damit auch des bloßen Nicht-Machens sowie des Ausprobierens und/oder des Erlebens des Neuen und Anderen – Möglichkeitswelten, in die das „historische Mehr an Geldressourcen und verfügbarer Zeit“ investiert wurde und wird (Otte 2004, 133). Im Zuge dieser Entwicklung hat sich der lebensweltliche Alltag um das touristische Format erweitert. Was einst als eine temporäre Lebensform woanders in der Fremde galt, ist heute eine Lebensart neben anderen und vermischt sich mit nahezu allen Lebensbereichen 13
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer DXHUKDOEGHV=XKDXVHV$OVWRXULVWLÀ]LHUWJHOWHQ5lXPHXQG2UWHLQ denen und durch die eine „vorübergehende Lockerung und Variation alltäglicher Inklusions- und Erwartungsstrukturen“ ermöglicht wird (Pott 2007, 290). Dabeisein und nicht ausgeschlossen zu werden sowie gleichzeitig sich vorübergehend selbst bestimmend zu erfahren, ist die touristische Disposition, die den heutigen Menschen mobilisiert, sein Zuhause hinter sich zu lassen und Orte aufzusuchen, die eine Möglichkeitswelt, wenn nicht fernab des Habitus seiner sozialen Position, so doch ihn temporär verlassend, versprechen. Außerhalb des Zuhauses gibt es immer mehr Orte und Räume, die Verhaltensweisen, wenn nicht ganz, so zumindest vage festlegen, und die mehr oder weniger großzügig Verhaltensvariationen zulassen. Öffentliche Räume, protoöffentliche Räume wie Cafés und Restaurants, Feste, Szenen, Einkaufs-/Shoppingcenter oder gar die ehemals ehrwürdigen Schauspielhäuser und Museen sowie Spektakel verheißende Ereignisse werden bzw. sind Alltagsbühnen, auf denen Individuen ihrem Leben Gestalt geben können. Dabei geht es nicht um eine Selbst-AuthenWLÀ]LHUXQJ 3HUVRQHQ VWHOOHQ VLFK GDU XQG HUIDKUHQ VLFK LQGHPVLH sich hinsichtlich äußerer Eigenschaften (Kleidung, Frisur, Kosmetik), ihrer Körperbewegungen und der Subjektivierung von Werten und Normen entwerfen. Es geht also um ein Ich, ein „So bin ich (auch)“, das nicht durch vorgängig bestimmte Verhaltensweisen in Zeit und Raum Gestalt erlangt. Die oben beispielhaft genannten alltäglichen Räume mutieren somit zu Formaten des Außer-Ordentlichen – zu touristischen Räumen, in denen Bereiche des Gewöhnlichen überstiegen werden und die das Ich in seinen vielfältigen und unterschiedlichen emotional-affektiven und körperlichen Variationen aufführend bzw. performativ in Erscheinung treten lassen (vgl. Bette 2005, 76ff.). ,QGLHVHP6LQQHKDWVLFKGHU$OOWDJWRXULVWLÀ]LHUW 'LH7RXULVWLÀ]LHUXQJ]HLJWHLQHQ3UR]HVVDQ'LHDQJHVSURFKHQHQ Alltagsräume existieren als Tourismusräume erst in der Prozessualität performativer Praktiken. Ohne dass es Individuen intendieren, treten sie wie Touristen auf und eigen sich Räume an. Räume lassen dies zu, was bedeutet, dass die arrangierten Materialitäten der Räume Ressource (Möglichkeit) und Bedingung dieses touristischen Raum-Machens sind. Tourismusräume sind in diesem Sinne nicht vorgängig gegeben. Über die Repräsentationen räumlicher Materialitäten hinausgreifend, sind diese Materialitäten Bestandteile touristisch-performativer Akte bzw. sozio-kultureller Praktiken. Mit der Folge, dass Wissen über Objekte der Räume angesammelt und das Selbst mit ihnen beschrieben werden und dass sich in diesen Beziehungen eine geteilte Lebenswelt herausbilden kann. Insofern sind touristische Orte auch keine „NichtOrte“ (Augé 1994) oder Orte einer bürgerlichen Kultur, wie es Augé (nostalgisch) beklagt, sondern Orte, die durch die Materialität einer postmodernen Kultur gekennzeichnet sind. Jede historische Kultur, DXFKGLHGHV5HLVHQVRGHUGHV7RXULVPXVH[LVWLHUWXQWHUMHVSH]LÀVFKHQ 14
Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen materiellen Anordnungen, die sie selbst mit hervorgebracht hat und die diese Kultur ermöglichen (vgl. Wells 2007). Wie sich eine Gesellschaft und wie man sich selbst sieht (und wie eine Gesellschaft und man selbst gesehen werden will), materialisiert sich auch in Objekten. Infolgedessen ist die Objektaktualisierung, sei sie kognitiv, affektivemotional oder sinnlich-körperlich, eine Quelle der personalen und kollektiven Identität (vgl. Knorr-Cetina 2007). 'DVV5lXPHLQGHU1lKHXQG)HUQHWRXULVWLÀ]LHUWDOVR]X5HLVHzielen werden, verweist auf Praktiken der Bedeutungszuschreibung. So sehr auch die materielle Kultur eines touristischen Ortes (wie z.B. des Taj Mahal) für etwas Bestimmtes und gar Unverfügbares steht, so ist damit doch die touristische Praxis nicht präexistent. Vielmehr wird das, was diese materielle Kultur den Touristen sagt, erst im performativen Akt der Bereisung und Besichtigung geschaffen (vgl. Edensor 1998). Performanz ist ein Modus der Objektaktualisierung und der Verräumlichung sozialer Praktiken. Monumente wie das Taj Mahal sind aber wie andere Ding-Objekte stumm. Sie werden im Sehen wahrgenommen, was bedeutet, dass ein kulturbedingtes Sehen den Sinn eines Tourismusraumes determiniert. Urrys „tourist gaze“ (2002) lässt sich nicht nur als eine Praxis des Sehens, sondern auch als eine touristische visuelle Kultur verstehen: als eine Beobachtung des Anderen bzw. Außerordentlichen im Kontext je historischer Selbstund Weltdeutungen. Was den Touristen gezeigt bzw. was für sie zur Aufführung gebracht wird, wird in touristischen Settings sichtbar, die sich an den entsprechend geprägten Touristen orientieren. Lapidar formuliert: Im Tourismusraum muss etwas sicht- bzw. wahrnehmbar sein, was den Touristen angeht, erlangt die Sehenswürdigkeit und mit ihr der Raum doch sonst keine Aufmerksamkeit. Dementsprechend zielen die medial vermittelten Visualitäten, wenn nicht auf eine Disziplinierung, so doch auf ein Training eines bestimmtes Sehens im Modus der Selbstmarkierung in der nahen oder fernen Fremde. Da Tourismusräume für Touristen nicht in ihren gewordenen Verfasstheiten, sondern als Resultat des Herstellens und Aneignens existent sind, lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Referenzen ausmachen. Tourismusräume sind eingebunden in widersprüchliche diskursive Verweisungszusammenhänge. Die unbestimmte touristische Aktualisierung eines Raumes paart sich mit der Unbestimmtheit des Raumes selbst (vgl. Bischoff/Denzer 2009). Nahezu jegliche auf touristische „Strömungen“ zurückgreifende und legitimierende Einschreibung und damit in Inszenierungen wirksam werdende BeGHXWXQJV]XVFKUHLEXQJLVWP|JOLFKXQGÀQGHWHLQH1DFKIUDJH1LFKW allein, dass Bestehendes wie beispielsweise Museen, lokale Gemeinschaften und Landschaften einem touristischen Recycling zugeführt wird, und dass Orte und Räume für bestimmte Zielgruppen mit unterschiedlichen Narrativen belegt werden. Auch herkömmliche, auf landschaftliche Ressourcen gründende Tourismusräume werden ver15
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer ändert, indem gänzlich neue Raumqualitäten aus Markterfordernissen für „zwingend notwendig“ gehalten und dann auch präsent gemacht werden. Diese Hervorbringung und Produktion von Tourismusräumen durch Praktiken der Anbieter- und Politakteure und die empirisch vielfach bestätigte Erwartung, dass mit den Raumprodukten eine entsprechende Wahrnehmung und Aneignung durch Touristen einhergeht, steht ganz im Einklang mit der relationalen Sicht der Strukturierung und Strukturiertheit des Raumes (vgl. insb. Lefebvre 2000, 102ff.). Doch zugleich kommt hier bei aller Fluidität und Labilität der Räume ein „Containertourismus“ zum Vorschein: Für welche Touristen oder Tourismusarten auch immer ein Raum konzipiert wird und über Artefakte sowie Praktiken der Dienstleister eine Gestalt erhält, GHU7RXULVPXVÀQGHW]XPHLVWLQHLQGHXWLJDXVJHZLHVHQHQ7HUULWRULHQ VWDWW:HQQDXFKYRUEHUJHKHQGVRÀQDOLVLHUWVLFKGDGXUFKMHGZHGH Verräumlichung; „jede Produktion (kommt) zu einem – und sei es auch QRFKVRYRUOlXÀJHQ²$EVFKOXVV´6FKURHU 'HU7RXULVPXV ist das empirisch belegte Paradebeispiel dafür, dass den attraktivierten Räumen bestimmte innewohnende Qualitäten – von der Sonne über Artefakte und Lebensweisen bis hin zur Natur – testiert werden, dass sie also schon vor der touristischen Aneinung prädikatisiert sind. Dass solche vermeintlichen Stabilitäten und die damit verbundenen Wissensordnungen hervorgebracht sind, und dass die auf Differenzen beruhenden Instabilitäten verdeckt werden, rührt nicht an der TatVDFKH GDVV GHP WRXULVWLVFKHQ *HVFKHKHQ VSH]LÀVFKH 5lXPH ]XJHwiesen werden. Im Gegenteil: Die Verräumlichung des Tourismus produziert stabile Erwartungsstrukturen und invisibilisiert den Herstellungscharakter der touristischen Orte (Pott 2007, 171ff.). 6R DXWKHQWLÀ]LHUW GLH WHUULWRULDOH ,QGL]LHUXQJ YRQ 6HKHQV XQG Bereisenswertem den Tourismus. Sie verleiht den Tourismusräumen Eindeutigkeit. Spanien ist das Sonnenland; Aborigines, die Ureinwohner Australiens, leben dort; das Amsterdamer Rotlichtviertel ist eine berüchtigte Amsterdamer Gegend; abends, am Hafen, spielt sich das Leben der Einheimischen ab; der Jakobsweg, der Weg zum Erkennen des Selbst – all dies sind prominente Beispiele der Ineinssetzung von Räumen mit (Be-)Deutungen, die ihre Objektivität und Wahrheit aus ihrer territorialen Referenz schöpfen und deren räumlich-dingliche Existenz als von Touristen unabhängig deklariert wird. Gemeinhin wird mit der Verräumlichung das „Echte“, „Wirkliche“ oder „Unverfälschte“ begründet. Mit der touristischen Verknüpfung von Orten bzw. Räumen mit Bedeutungen werden Grenzen zwischen echt und unecht, zwischen zugehörig und fremd gezogen. Die entsprechenden Eigenschaftszuschreibungen gelangen derart in den Beobachtungsund Erlebnishorizont der Touristen. In diesem Sinne markiert der Tourismus Differenzen und Anderes, das Touristen mit positiven oder QHJDWLYHQ 6LJQLÀNDWHQ EHOHJHQ 6R P|FKWHQ ZLU QLFKW OHEHQ ² +LHU können wir uns richtig erholen. – Solche Bauten: einmalig!). Wird das 16
Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen räumlich Andere auf diese Weise von professionellen Raumanbietern ökonomisch in Wert gesetzt, dann wird es immer wieder präsentiert – mit Maßnahmen, die vor regelrechten Aufführungen des „Anderen“ oder „Wirklichen“ nicht zurückschrecken (vgl. Glesner 2002), um zu beglaubigen, dass der bereisenswerte Raum tatsächlich so ist, wie es die touristischen Kommunikationen (Broschüren, Plakate, Reisführer, Erzählungen etc.) und Bilder erwarten lassen. 'LH7RXULVWLÀ]LHUXQJXQGGLHWRXULVWLVFKH:DKUQHKPXQJGHV$Qderen beziehen sich auf im Raum Innewohnendes, das als stabil Vorhandenes und/oder aus der Vergangenheit Übriggebliebenes da ist und nun (periodisch) für den Tourismus zur Verfügung und Schau gestellt wird. Den Tourismusmedien (Prospekten, Reiseführern, TV, Internet – also Texten und Bildern) wird vorgehalten, dass sie Räume de-realisierten, indem sie zum einen die Inszenierung der „Tourismuswelten“ unerwähnt ließen und zum anderen das Alltagsleben in Fremdräumen unterschlügen bzw. ausschlössen. So unbestritten es ist, dass der Tourismus selbst und damit auch „seine“ Medien das konstitutive Außen der Tourismusräume sind, so ist doch festzuhalten, dass die Realität nie vermittlungsfrei erkenn- und handhabbar ist (vgl. Wöhler 2010, 154ff.). Die moderne Gesellschaft überlässt diese Aufgabe den (Massen-) Medien und nicht mehr wie einst den Priestern und Weisen, die die Realität deuteten und auf diese Weise Raumrealitäten schufen. Das Außen bzw. die (Um-) Welt erschließt sich nur durch Deutungen und Vorstellungen, also vermittelt. Gleichwohl lenkt die Kritik den Blick weg von homogenisierten und gleichgeschalteten Tourismusräumen hin zu „differentiellen Räumen“ (Lefebvre), in denen und durch die sich gerade angesichts der touristischen Imprägnierung Anderes und Nichterwartetes meldet und zur Geltung bringt. Ebenso wie die Inhalte der Medien in Bezug auf die transportierten Ideen und Interessen sowie auf ihre Raumwirksamkeiten zu rekonstruieren sind, so ist, ausgehend vom sozialen und physischen Raum, offen zu legen, ob und inwieweit Tourismusräume in ihren Materialitäten Ausdruck von Diskursen sind. Tourismusräume als Konstruktionen aufgrund von Diskursen zu begreifen, rückt Machtkonstellationen unterschiedlicher Akteure in den Fokus. Die (Re-)Produktion des globalen „Flow“ des Tourismus ist dann als eine transnationale Strukturbildung zu untersuchen, die auf der machtdurchzogenen Konstruktion von Tourismusräumen beruht. Was die Beiträge dieses Bandes an verschiedenen Beispielen thematisieren und worauf sie ihren Fokus legen, ist damit, wenn auch in groben Zügen, umrissen. Deutlich sollte geworden sein, dass es nicht die Konstruktion von Tourismusräumen gibt. Der Band demonstriert die Spannweite der Strukturierungsmodi von Tourismusräumen und die Komplexität der Strukturen, die das touristische Geschehen hervorbringen. Die Beiträge basieren auf Vorträgen der Tagung „Konstruktion von Tourismusräumen“, die im November 2008 an der 17
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer Leuphana Universität Lüneburg gehalten und für diese Publikationen überarbeitet wurden.
Literatur Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: S. Fischer. Bette, Karl-Heinrich (2005): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Bielefeld: transcript. Bischoff, Werner/Denzer, Vera (2009): Orte des Erinnerns und Vergessens aus geographischer Perspektive. Berichte zur deutschen Landeskunde 83, H. 1, S. 5-25. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2005): Tausend Plateaus. Kapitalismus XQG6FKL]RSKUHQLH$XÁ%HUOLQ0HUYH Edensor, Tim (1998): Tourists at the Taj: Performance and Meaning at a Symbolic Site, New York: Routledge. Glesner, Julia (2002): Theater für Touristen. Eine kulturwissenschaftliche Studie zum Tjapukai Aboriginal Cultural Park, Australien, Münster/Hamburg/London: Lit-Verlag. Knorr-Cetina, Karin (2007): Postsoziale Beziehungen: Theorie der Gesellschaft in einem postsozialen Kontext. In: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 2007: Campus, S. 267-300. Leed, Eric J. (1993): Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage, Frankfurt am Main/New York: Campus. /HIHEYUH +HQUL /D SURGXFWLRQ GH O·HVSDFH $XÁ 3DULV Anthropos. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter. Otte, Gunnar (2004): Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen, Wiesbaden 2004: VS Verlag. Pott, Andreas (2007): Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld: transcript. Prost, Antoine (1983): Grenzen und Zonen des Privaten. In: Antoine Prost/Gérard Vincent (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 5. Band: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 15-151. Rühle, Arnd (2009): Die Abwesenheit macht frei. In: ders.: Mit Goethe reisen. Goethes Orte. Ein Alphabet des Reiselebens, Frankfurt am Main: Insel, S. 9-17.
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Formen und Konstruktionsweisen von Tourismusräumen Schroer, Markus (2009): Soziologie. In: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 354-369. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York: Campus. 8UU\-RKQ 7KH7RXULVW*D]H$XÁ/RQGRQ7KRXVDQG2DNV New Delhi: Sage. Wells, Karen (2007): The Material and Visual Culture of Cities. Space and Culture 10, S. 136-144. Wöhler, Karlheinz (2010): Virtualisierung des Realen – Realisierung des Virtuellen. In: Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner/Julia Reuter (Hg.): Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration, Trier: Online-Publikation der Universitätsbibliothek Trier; S. 150-163 (verfügbar unter: http://ubt.opus.hbz-nrw.de/ volltexte/2010/565/pdf/Topologie_des_Reisens.pdf).
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Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen Peter Weichhart Der Titel unserer Tagung lautete: „Konstruktion von Tourismusräumen“. Eine derartige Formulierung als Einladung und Signal an die Fachöffentlichkeit setzt offensichtlich voraus, dass jede Leserin und jeder Leser1 auch zweifelsfrei darüber Bescheid weiß, was mit dem Begriff „Raumkonstruktion“ inhaltlich gemeint ist. In der Tat hatten auch alle Referenten, die auf die Ausschreibung mit einem Vortragsangebot reagierten, eine so klare Vorstellung von der inhaltlichen Bedeutung des Titels, dass sie problemlos passende Referate ausarbeiten konnten. Kann man mit einem derartig selbstverständlichen Begriffsverständnis aber generell rechnen, oder äußern sich hier eher terminoloJLVFKHXQGNRQ]HSWLRQHOOH.RQYHQWLRQHQHLQHUVSH]LÀVFKHQ7HLOJUXSSH GHU6FLHQWLÀF&RPPXQLW\GHUHQ0LWJOLHGHUVLFKDXIHLQHEHVWLPPWH Redeweise geeinigt haben und damit auf eine besondere Perspektive verweisen, aus der sie die Welt betrachten? Ist die Rede von „Raumkonstruktionen“ für jeden Wissenschaftler verständlich und selbstverständlich, der sich als Soziologe, Ökonom, Geograph oder Ethnologe mit Tourismus beschäftigt, oder gilt das nur für jene, die sich ausdrücklich als Kulturwissenschaftler verstehen und den „cultural turn“ praktizieren? Um derartige Fragen zu klären, sollen im Folgenden einige Überlegungen zum Prozess der Raumkonstruktion angestellt werden. Was genau tun wir eigentlich, wenn wir „Räume“ konstruieren? Wer konstruiert? Was ist der Sinn, der „Nutzen“ einer solchen Operation? Warum machen wir das? Ist das Konstruieren von Räumen in irgendeiner Weise „neu“ beziehungsweise nur für Vertreter der „Neuen Kulturgeographie“ oder Kulturwissenschaftler charakteristisch und ein aktuelles Forschungsthema? Welche Formen und Komplexitätsstufen von Raumkonstruktionen können wir beobachten?
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In weiterer Folge wird von der Doppelverwendung weiblicher und männlicher Endungen aus rein sprachlichen Gründen Abstand genommen. Dies soll ausschließlich dem Lesefluss dienen. In jedem Falle sind selbstverständlich immer weibliche und männliche Formen gemeint.
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Peter Weichhart In der deutschsprachigen Humangeographie ist „Raumkonstruktion“ seit etwa zehn Jahren ein Thema – allerdings nur für einen relativ kleinen Teil der Community. Eine nicht zu unterschätzende Zahl von Vertretern des etablierten Mainstreams hält dies dagegen (zumindest im vertraulichen Gespräch) für entbehrlich und für „Quatsch“. Wenn ich meinen persönlichen Eindruck zur „Entdeckung“ des konstruktivistischen Charakters von „Räumen“ formulieren sollte, dann möchte ich (etwas despektierlich) sagen, dass mich die Situation ein wenig an eine Szene in Moliéres „Der Bürger als Edelmann“ (2. Akt, 4. Szene) erinnert. Der neureiche Jourdain bittet seinen HausSKLORVRSKHQLKPEHLGHU$EIDVVXQJHLQHV/LHEHVEULHIHVEHKLOÁLFK]X sein. Auf die Rückfrage, ob der Brief in Prosa oder in Versen verfasst werden solle, macht Jourdain eine geradezu fundamentale Entdeckung über seinen Sprachgebrauch: „Ich spreche Prosa! Meine Güte, so habe ich vierzig Jahre Prosa gesprochen, ohne es zu wissen!“ Warum diese Assoziation? Weil das „Konstruieren von Räumen“ ein letztlich trivialer und selbstverständlicher Standardprozess unserer alltagsweltlichen Praxis ist. Es handelt sich um eine Grundfunktion unseres kognitiven Apparates, die im Sprachhandeln immer wieder aufs Neue produziert wird. Als Geograph muss ich überdies festhalten, dass das „Konstruieren von Räumen“ die Standardprozedur geographischer Forschungspraxis darstellt. Geographen haben nie etwas anderes gemacht, als Räume zu konstruieren – allerdings haben sie das über lange Strecken ihrer Fachgeschichte nicht bemerkt.
Ein anekdotischer Einstieg: die „Wüste“ Als Musterbeispiel für eine alltagsweltliche Raumkonstruktion möchte ich eine kleine Geschichte aus meiner Kindheit erzählen. Mitte der 1950er Jahre – ich war damals etwa acht Jahre alt – übersiedelte ich mit meinen Eltern in eine österreichische Landeshauptstadt. In unmittelbarer Nähe des neu errichteten Wohnblocks, in den wir eingezogen waren, befand sich eine sehr große Baustelle, auf der gerade ein neues Amtsgebäude errichtet wurde (vgl. Abb. 1). Das Gebäude befand sich im Rohbau, aus verschiedenen Gründen ging der Innenausbau nur langsam voran. Hinter dem Gebäude diente ein relativ großer Teil der Parzelle als Lager für Bauschutt und Baumaterialien. Außerdem befanden sich dort noch Reste von Bombenruinen, die noch nicht vollständig abgerissen waren. Auf diesem rückwärtigen Teil des Grundstückes sollten in einer späteren Bauphase Garagen und Werkstätten errichtet werden. Natürlich war die Baustelle eingezäunt, und es gab Schilder mit der Warnung „Betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder“. Für die (zahlreichen) Kinder, die in den zum Teil kurz davor errichteten Wohnblocks in der Umgebung lebten, besaß die Baustelle 22
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen aber natürlich eine geradezu magische Anziehungskraft. Die Warnschilder wurden ignoriert, der Bauzaun wies Lücken auf und konnte an vielen Stellen problemlos überwunden werden. Für uns Kinder war die Rückseite der Baustelle ein geradezu idealer Abenteuerspielplatz, den wir rasch eroberten und uns aneigneten. Wir nannten ihn „die Wüste“. (Warum, kann ich heute nicht mehr sagen.) Von den Arbeitern wurden wir anfangs zwar mehrfach weggeschickt, nach kurzer Zeit wurde unsere Anwesenheit aber toleriert. Abbildung 1: Die „Wüste“
Quelle: eigene Erinnerung
Der von uns Kindern als Spielplatz genutzte Teil der Baustelle wies eine innere Differenzierung auf. Es gab mehrere Bereiche, in denen Bauschutt gelagert war, an anderen Stellen fanden sich Holzreste, Bretter und Balken, es gab Stellen, wo Kies, Sand und Ziegel gelagert wurden. Im Bereich der noch nicht vollständig abgerissenen Bombenruinen (wir nannten ihn „Bunker“) fanden sich begehbare Reste von Kellerräumen, die wir mit den im Gelände verfügbaren Materialien gleichsam ausbauen oder gestalten konnten und als „Lager“ nutzten. Die Aneignung des Geländes durch uns Kinder als Abenteuerspielplatz führte sehr rasch zu einer Art „territorialen“ Differenzierung, denn der Südteil der Baustelle wurde von den Kindern eines benachbarten Wohnblocks beansprucht, das war die „Kaplanhof-Wüste“. Der Nordteil wurde von den Kindern „meines“ Wohnblocks okkupiert, das war „unsere Wüste“. Es gab zwar gleichsam wechselseitige Durchgangs-, Besuchs- und Nutzungsrechte, diese waren aber durch geradezu ritualisierte Verfahren der Aushandlung und wechselseitigen Absprache geregelt. 23
Peter Weichhart Unsere „Wüste“ kann als Musterbeispiel einer alltagsweltlichen Raumkonstruktion gelten. Ein bestimmter, mehr oder weniger scharf DEJUHQ]EDUHU$XVVFKQLWWGHU(UREHUÁlFKHZLUGLQHLQHUEHVWLPPWHQ historischen Situation von einer bestimmten Gruppe mit einem Namen (Toponym) gekennzeichnet, auf verschiedenartige Weise „angeeignet“, als Handlungsbühne und Ressourcenquelle genutzt und als materielle ([WHQVLRQYRQ,FKXQG*UXSSHQLGHQWLWlWZLUNVDP'HPVRNRQVWLWXLHUten Raum werden Attribute und Werte zugeschrieben, er wird in einen 6LQQXQG%HGHXWXQJVNRQWH[WHLQJHRUGQHW
Elemente und Dimensionen alltagsweltlicher Raumkonstruktionen Wir können an diesem Beispiel einige Elemente und Dimensionen alltagsweltlicher Raumkonstruktionen erkennen. Ein besonders wichtiges Element ist zweifellos die Namensgebung. Der Name bezieht sich dabei auf eine meist eher unscharfe „Flächenadresse“. Wenn ich sagte: „Ich VSLHOHMHW]WLQGHU:VWH´GDQQZXVVWHPHLQH0XWWHUZRLFK]XÀQGHQ war. Raumkonstruktionen weisen in der Regel einen Gruppen- und Kulturbezug auf. „Wüste“ war für eine bestimmte Gruppe von Kindern HLQHVEHVWLPPWHQ$OWHUV LQGHUHQJHUHQ1DFKEDUVFKDIWHLQJHOlXÀJHV und wichtiges Raumkonzept, im Stadtplan kam die Bezeichnung nicht vor. Und auch Nachbarn, die keine Kinder im entsprechenden Alter hatten, konnten mit dem Namen nichts anfangen. Als eigenständiger „Raum“ wurde die Wüste von bestimmten „Konstrukteuren“ gleichsam „geschaffen“. Es waren bestimmte Akteure, Subjekte, die in Handlungsvollzügen und Aneignungsprozessen ein EHVWLPPWHV*HELHWGHU(UGREHUÁlFKHEHQDQQWXQGGDPLWYRQDQGHUHQ Bereichen abgegrenzt und unterschieden hatten. In Raumkonstruktionen werden oft auch territoriale Ansprüche erkennbar. Um Material aus der „Kaplanhofwüste“ nutzen zu können, benötigten wir gleichsam die Erlaubnis der Kaplanhofkinder, die in diesem Bereich quasi die „Territorialherren“ waren und Besitzansprüche geltend machten. Raumkonstruktionen sind in der Regel in eine bestimmte Zeitstruktur eingebunden und haben ihre Geschichte. Während der Unterrichtszeit war die Wüste gleichsam entvölkert; nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien wurde sie von uns intensiv genutzt. Das Beispiel zeigt, dass Raumkonstruktionen nicht ausschließlich auf designative und informative Zuschreibungen beschränkt sind, sondern vielfach auch materielle Aspekte aufweisen. Die verschiedenen Teilgebiete der Wüste waren für uns Ressourcenquellen, denen wir Baumaterial, aber auch Äste und Stauden für die Anfertigung von Pfeilen und Speeren etc. entnehmen konnten. Die Wüste als Abenteuerspielplatz war für uns ein Gemenge von Action Settings (vgl. Weichhart 2003), bestehend aus Akteuren, Milieu und Programmen. In den „Bunkern“ wurde das 24
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen Programm „Lagerleben“ absolviert, andere Bereiche boten geradezu ideale Milieustrukturen, um das Programm „Räuber und Gendarm“ oder „Indianerspielen“ zu verwirklichen. Das Beispiel macht auch deutlich, dass gerade in Raumkonstruktionen eine ausdrückliche Verschränkung von kognitiven Operationen, Sinn- und Bedeutungszuschreibungen und Elementen der physischmateriellen Welt zum Ausdruck kommt. Und man erkennt auch, dass die Beschreibung solcher Raumkonstruktionen einen Beobachter erfordert, der die Rekonstruktion oder Dekonstruktion vornimmt und die dahinter stehenden Prozesse aufdeckt. Würde ich mich nicht daran erinnern und den Lesern die Geschichte der Wüste erzählen, wäre sie für immer aus der „Realität“ verschwunden. Denn die Wüste hat nur für eine Zeitspanne von knapp zwei Jahren „existiert“, dann kamen die Bulldozer, räumten auf, und mit dem nächsten Bauabschnitt war sie endgültig verschwunden. Für uns Kinder war die Wüste damals zweifellos ein bedeutsames Element unserer lebensweltlichen Realität. Sie war „wirklich“, sie war HLQVLJQLÀNDQWHU2UWXQVHUHUSHUVRQDOHQ([LVWHQ]$XFKIUXQVHUH Eltern war die „Wüste“ ein realer Raum, dem ebenfalls Attribute und Werte zugeschrieben wurden. Allerdings war die Attribuierung und Wertzuschreibung meiner Eltern eher negativ besetzt: VerletzungsJHIDKU IHKOHQGH .RQWUROOH :HLWOlXÀJNHLW Å,FK NDQQ HXFK GD QLFKW sehen“), Sorge um den „richtigen Umgang“ („Ich möchte nicht, dass du dauernd mit diesen Kaplanhofkindern spielst!“). Natürlich hatte meine Mutter völlig Recht. Abschürfungen, eingetretene Nägel und blaue Flecken waren nicht so selten. „Warum spielst du ständig in der Wüste, wir haben im Hof doch so einen schönen Spielplatz!“ Meine verzweifelte Replik: „Und wie, bitte schön, soll ich in der Sandkiste Indianer spielen? Da kann man sich doch nicht anschleichen!“ war für meine Mutter kein wirklich überzeugendes Argument. Auch für die Bauarbeiter war die Wüste real. Allerdings nicht als „Wüste“, sondern als Rückseite einer großen Baustelle, die als Deponie und Lager genutzt wurde und damit als ein funktionales Element des aktuellen Arbeitsplatzes anzusehen war. Aus den hier skizzierten Zusammenhängen lassen sich zwei Thesen ableiten. (1) Im gleichen Gebiet („Erdraumausschnitt“) können unterschiedliche „Räume“ existieren, wobei bestimmte „Räume“ von unterschiedlichen Gruppen (Nutzern) unterschiedlich attribuiert und bewertet werden können. Entscheidend für die Konstitution solcher Räume ist der sich in Kommunikations- und Handlungsakten vollziehende Prozess der Konstruktion, der besonders augenscheinlich in der Namensgebung zum Ausdruck kommt. (2) „Räume“ (als Ergebnisse derartiger Konstruktionsprozesse) sind keine Sonderfälle oder auffällige Besonderheiten, sondern (wie andere alltagsweltlich relevante „Sachen“ auch) geradezu triviale Teilelemente der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. 25
Peter Weichhart
Die „Wirklichkeit“ der Räume Bei der Konstruktion von Elementen der Alltagswelt spielt offensichtlich die Sprache eine wichtige Rolle. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht handelt es sich eigentlich um eine völlig banale Selbstverständlichkeit: „Von welcher Wirklichkeit reden wir, wenn wir sagen, dass sie durch sprachliche Handlungen konstruiert wird? […] man soll sich […] sprachliche Konstruktion nicht so vorstellen, als würden Häuser gebaut, indem jemand spricht. Die materielle Wirklichkeit, zu der diese Häuser gehören, wird von der Sprache nicht direkt berührt. Aber diese Steingebilde werden als Häuser erst wirklich, sobald eine begriffliche Vorstellung von „Haus“ vorhanden ist. Erst dann lässt sich über diese „Häuser“ sprechen, können weitere „Häuser“ […] geplant und schließlich gebaut werden. Für das soziale Leben ist also nur relevant, was begrifflich gewusst und worüber kommuniziert werden kann. […] Für […] weniger konkrete Dinge, wie Nationen oder Regionen, wurde bereits die Frage aufgeworfen, wie über sie gesprochen werden kann, als wären sie wirklich, obwohl ihnen doch keine eindeutige materielle Realität zugrunde liegt. […] solche Dinge (sind) deshalb wirklich […], weil über sie gesprochen wird. Ihre Wirklichkeit findet sich also allein in der Sprache. […] Ob das, worüber gesprochen wird, im alltagssprachlichen Sinn „wirklich“ (meist verstanden als: physikalisch nachweisbar) ist, spielt für die Kommunikation keine Rolle. Auch über Geister lässt sich schließlich reden.“ (Burghardt 2008, 31; Hervorhebung P. W.)
Räume sind also „wirklich“, weil über sie gesprochen werden kann. Ihre im Sprechen hergestellte Wirklichkeit setzt voraus, dass das, was im Sprechen und in der Kommunikation gemeint ist, auch als kognitives Konstrukt im Bewusstseinsstrom der Sprecher verfügbar ist. Mit dieser sprachlichen Dimension ist allerdings nur ein Teilaspekt des Konstruktionsprozesses angesprochen. Denn das sprachliche Konstrukt „Wüste“ bezog sich auf einen bestimmten Ausschnitt der physisch-materiellen Welt. Auch das materielle Substrat der „Wüste“ war in dem Sinne „konstruiert“, dass es im Vollzug unzähliger Handlungsakte verändert und „umgebaut“ wurde: durch das Bauprojekt, den Teilabriss der Bombenruinen, Schutt- und Materialablagerung, den (bescheidenen) Umbau durch uns Kinder etc. Es handelt sich dabei um intendierte und nicht intendierte Folgen von Handlungsakten unterschiedlichster Akteure in der physisch-materiellen Welt. Räume sind also auch deshalb „wirklich“, weil sie über die im jeZHLOLJHQ*HELHWYRUÀQGEDUHQPDWHULHOOHQ*HJHEHQKHLWHQ'LQJH XQG deren Lagerelationen distinkte Elemente der physisch-materiellen Welt GDUVWHOOHQ'LHVHPDWHULHOOHQ6WUXNWXUHQ'LQJNRQÀJXUDWLRQHQ VLQG einerseits die Voraussetzung, andererseits das Produkt von Konstruktionsleistungen. Sie sind Resultate des alltäglichen „Geographie Machens“ im Sinne von Benno Werlen (z. B. 1997). Unser Beispiel der „Wüste“ hat gezeigt, dass diese beiden Aspekte der Raumkonstruktion 26
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen HQJPLWHLQDQGHUYHUÁRFKWHQXQGZHFKVHOVHLWLJYRQHLQDQGHUDEKlQJLJ sind. Menschliche Involviertheit in Raumkonstruktionen hat deshalb meist (wenngleich nicht notwendigerweise) zwei Seiten: einen Sinnund Bedeutungskontext (die „kulturelle Seite“, an der wir mit unseren Bewusstseinsströmen teilhaben) und einen materiellen Kontext, in den wir (notwendigerweise) in unserer Körperlichkeit eingebunden sind. Allerdings tendieren wir in der Forschungspraxis dazu, entweder die eine oder die andere Seite des Konstruktionsprozesses in den Vordergrund zu stellen und die Wechselbeziehungen zwischen beiden aus den Augen zu verlieren. Nicht nur der Begriff der „Konstruktion“ macht uns in seiner Trivialität auf der einen und seiner inhaltlichen Differenziertheit auf der anderen Seite einige Schwierigkeiten, sondern auch der Begriff „Raum“. Mit ihm geht es uns ähnlich wie Augustinus mit der Zeit: „Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht“ (Augustinus 2000, 25). Unser Beispiel der „Wüste“ hat implizit bereits auf mehrere differente Raumkonzepte verwiesen. Für die Beschreibung und Analyse von Raumkonstruktionen erscheint es hilfreich, die gegenwärtigen in der /LWHUDWXUYRUÀQGEDUHQgenerellen Raumkonzepte zu „inventarisieren“ und einander gegenüberzustellen (vgl. Weichhart 2008 und Abb. 2). Abbildung 2: Raumkonzepte
Quelle: Weichhart 2008, 327
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Peter Weichhart ,QGHU*HRJUDSKLHXQGYHUVFKLHGHQHQDQGHUHQ'LV]LSOLQHQÀQGHQVLFK mindestens sieben unterschiedliche Raumkonzepte, die zum Teil auf komplizierte Weise miteinander zusammenhängen beziehungsweise aufeinander bezogen sind (vgl. Weichhart 2008, Kapitel 5.2 und 10.2.4). Unser Beispiel von der „Wüste“ war ein sozial konstituierter und konstruierter Raum (Raum6s GHUDXIHLQHQVSH]LÀVFKHQ(UGUDXmausschnitt (Raum1ÁlFKHQEH]RJHQH$GUHVVH GHQYRQXQVHUOHEWHQ Raum („place“, Raum1e XQG HLQH VSH]LÀVFKH /DJHUXQJVTXDOLWlW GHU Körperwelt (Raum4) bezogen war.
Die Beobachtung der Beobachtungspraxis Unser Beispiel von der „Wüste“ bezog sich auf Handlungspraktiken der Alltagswelt. Um dieses Beispiel aber formulieren zu können, musste der Autor eine ganz bestimmte Beobachtungsweise verwenden, die schon durch die verwendeten Analysekategorien dezidiert auf eine EHVWLPPWHNRQ]HSWLRQHOOHXQGPHWKRGLVFKH*UXQGKDOWXQJE]ZHLQH VSH]LÀVFKHHUNHQQWQLVWKHRUHWLVFKH3RVLWLRQLHUXQJYHUZHLVW. Für einen Vertreter der klassischen Geographie der Landschafts- und Länderkunde oder für Vertreter des „raumwissenschaftlichen Ansatzes“ wäre meine Darstellung der „Wüste“ einfach nicht nachvollziehbar. Damit werden unsere Überlegungen zum Thema „Raumkonstruktionen“ aber ein weiteres Stück komplizierter: Wir müssen offensichtlich auch die Beobachtungspraxis berücksichtigen, mit deren Hilfe Raumkonstruktionen erforscht werden. Um die Beobachtungspraxis einer Wissenschaft systematisch darstellen zu können, erscheint es sinnvoll, die Wissenschaftstheorie zu konsultieren und deren Beschreibungskategorien und Erklärungsmodelle zu nutzen. Ein umfassendes und generalisierbares Modell der Beobachtungspraxis von Wissenschaft ist das von Thomas S. Kuhn (1962) entwickelte Konzept des Paradigmas. Kuhns Vorschlag beinhaltet auch eine „Evolutionstheorie“ von Wissenschaft. Unter einem Paradigma versteht man aus heutiger Sicht eine forschungsleitende Perspektive oder Sichtweise, die für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftlern konsensbildend ist. In aller Kürze zusammengefasst, lässt sich als grundlegende Funktion von Paradigmen die Ausbildung von dogmatischen Überzeugungen DQIKUHQGLHGHQ0LWJOLHGHUQHLQHUEHVWLPPWHQ6FLHQWLÀF&RPPXQLW\ gegen alle Einwände gesichert erscheinen. Im Rahmen eines ParaGLJPDV ZHUGHQ VSH]LÀVFKH %DVLVNRQ]HSWH JOHLFKVDP ÅDXHU 6WUHLW´ gestellt, was die Möglichkeit eröffnet, ohne permanente Grundlagendiskussion die „eigentlich relevante“ empirische Arbeit durchführen zu können. Das Erlernen eines Paradigmas ist ein Sozialisationsprozess, der zu einem gemeinsamen Weltbild führt und sicherstellt, dass die Mitglieder der betreffenden Community problemlos miteinander 28
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen interagieren können. Als Minimalbestandteile enthalten Paradigmen symbolische Verallgemeinerungen (abgekürzte Redeweisen), ontologische Modelle (Behauptungen über die Struktur der Wirklichkeit), heuristische Modelle („Rezepte“ für die empirische Forschung) sowie Werte und normative Festlegungen (z. B. Wahrheits- oder Genauigkeitskriterien). Paradigmen sind axiomatische Systeme. Sie enthalten eine ganze Reihe von Vorannahmen und Postulaten, die „gesetzt“ sind und nicht „bewiesen“ werden müssen (bzw. können). Weil auch Wissenschafts- und Erkenntnistheorien axiomatische Systeme sind, gibt es keine übergeordnete Instanz, welche eine vergleichende Bewertung von Paradigmen erlaubt. Eine Letztbegründung von Paradigmen ist demnach nicht möglich. 7KRPDV .XKQ SRVWXOLHUWH HLQHQ VSH]LÀVFKHQ (YROXWLRQVSUR]HVV von Paradigmen. Er ging davon aus, dass sich ein Paradigma aus einer vorparadigmatischen Phase stetig weiterentwickelt, immer mehr verfeinert und ausgebaut wird, bis schließlich eine „normalwissenschaftliche Phase“ erreicht sei. In dieser Phase ist das Paradigma am Höhepunkt seiner Entwicklung angelangt und ermöglicht eine gleichsam „störungsfreie“ empirische Forschungspraxis, die durch Grundlagendiskussion nicht länger beeinträchtigt wird. Ein stimmiges und für die Praxis fruchtbares Weltbild ist gefunden. Im Laufe der Zeit treten dann aber „Anomalien“ auf, empirische Befunde, die zum vermeintlich sicheren Weltbild im Widerspruch stehen. Eine Zeit ODQJJHOLQJWHVGHUDUWLJH$QRPDOLHQGXUFKDGKRF0RGLÀNDWLRQHQGHU gängigen Theorien aufzulösen, doch irgendwann werden die Grenzen der Erklärungsleistungen des Paradigmas erkennbar. Dies vor allem deshalb, weil in der Zwischenzeit ein neues Paradigma auf den Plan getreten ist, mit dem die Hegemonieansprüche des aktuellen Mainstreams massiv in Frage gestellt werden. Das Konkurrenzparadigma bietet als Verheißung das Versprechen, im Rahmen eines neuen Weltbildes und mit andersartigen Konzepten und Modellen bessere (UNOlUXQJVOHLVWXQJHQJHZlKUOHLVWHQ]XN|QQHQ(VÀQGHWHLQHZLVVHQschaftliche Revolution statt, das neue Paradigma setzt sich schließlich durch und löst das alte ab. Kuhn geht davon aus, dass die beiden Paradigmen inkommensurabel (also rational unvergleichbar) seien und während einer bestimmten Zeitspanne sich immer nur ein Paradigma im Status der normalwisVHQVFKDIWOLFKHQ3KDVHEHÀQGHQN|QQH'LHDNWXHOOH:LVVHQVFKDIWVgeschichte zeigt jedoch, dass diese These Kuhns nicht haltbar ist. In allen Wissenschaften vom Menschen, aber auch in verschiedenen Naturwissenschaften müssen wir heute von einer multiparadigmatischen Struktur ausgehen, die auf eine pluralistische Verfasstheit der gegenwärtigen Wissenschaft verweist (vgl. Schurz/Weingartner Hg. 1998). Paradigmen müssen nicht „aussterben“, sie können jederzeit einen Aufschwung und eine neue Konjunkturphase erleben. Auch ist 29
Peter Weichhart die Entwicklung mit dem Aufkommen eines Konkurrenzparadigmas in Form einer Revolution nicht abgeschlossen. Denn auch das neue Weltbild wird bald in Frage gestellt und durch alternative Entwürfe kritisiert. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass vor allem die Humanwissenschaften heute als „Multiparadigmenspiele“ angesehen werden müssen, die durch die Koexistenz mehrerer konkurrierender Paradigmen gekennzeichnet sind. Zur Kennzeichnung grundlegender Änderungen in der Weltsicht wissenschaftlicher Disziplinen wird heute gerne auch der Begriff „Turn“ verwendet. Hinter diesem Begriff steht nach Kenntnis des Autors jedoch keine elaborierte Theorie der Wissenschaftsforschung. Er wird eher metaphorisch gebraucht und deutet einen Richtungswechsel in einer wissenschaftlichen Denkweise an, durch den „alles, was einem bisher vertraut war, in einem neuen Licht“ erscheint (Bachmann-Medick 2006, 24). Als Kriterien für die Anwendung des Begriffs werden zwei Aspekte genannt: zum Ersten die Entdeckung neuer Gegenstandsbereiche in einer bestimmten Forschungstradition und zum Zweiten die „Transformation beschreibender Begriffe in operative Begriffe“ (Gegenstände werden zu Analysekategorien; ebd., 26). „Turn“ wird allerdings sowohl zur Bezeichnung eines Paradigmenwandels als auch zur Kennzeichnung einer Perspektivenverschiebung innerhalb eines Paradigmas verwendet. So wird etwa von einem „performativen Turn“ innerhalb des kulturalistischen Paradigmas gesprochen. Der Begriff verweist auch darauf, dass durch einen derartigen Richtungswechsel der Denkweise neue Relationen zwischen den Grundkonzepten eines Paradigmas erkannt werden.
Paradigmenspezifische Konstruktionen, Rekonstruktionen und Dekonstruktionen von Räumen Worin unterscheidet sich nun die Beobachtungspraxis der verschiedenen Paradigmen der Geographie (vgl. zum Folgenden Weichhart 2000 und 2008), mit deren Hilfe Raumkonstruktionen produziert oder erforscht werden? Bei der Beantwortung dieser Frage wird sich zeigen, dass nun noch eine weitere Komplexitätsdimension zu berücksichtigen ist, denn in einigen Paradigmen werden Raumkonstruktionen „höherer Ordnung“ produziert. In manchen dieser Paradigmen werden alltagsZHOWOLFKHRGHUIDFKVSH]LÀVFKH 5DXPNRQVWUXNWLRQHQrekonstruiert, in anderen werden in einer Art aufklärerisch-emanzipatorischer Attitüde oder Ideologiekritik Raumkonstruktionen dekonstruiert, aufgedeckt oder gleichsam „entlarvt“. In der „klassischen“ Geographie der Landschafts- und Länderkunde, die ihren Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren erreicht
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Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen hatte, war man davon überzeugt, dass Räume eigenständige Entitäten der „erdräumlichen Realität“ seien. Die Aufgabe der Geographie wurde darin gesehen, derartige Räume (als organismische Einheiten) zu entdecken, sie durch sorgfältige Analyse als „natürliche Einheiten“ GHU *HRVSKlUH ]X LGHQWLÀ]LHUHQ XQG DE]XJUHQ]HQ 'LH /DQGVFKDIten und Länder, die den Vertretern dieses Paradigmas als zentraOH(UNHQQWQLVJHJHQVWlQGHJDOWHQVLQGQDWUOLFKDOVIDFKVSH]LÀVFKH Raumkonstruktionen anzusehen, die als distinkte Räume erst durch den Forschungsprozess selbst hergestellt wurden. Es gab nur wenige Autoren der klassischen Einheitsgeographie, die zu ihrer Zeit den Konstruktcharakter ihrer Gegenstände erkannten oder zumindest erahnten (z. B. Alfred Hettner, Walter Gerling oder Ernst Neef). Mit der innerfachlichen Revolution auf dem Geographentag in Kiel 1969 änderte sich die Situation grundlegend. Denn die Vertreter des nun propagierten raumwissenschaftlichen Paradigmas unterschieden sich von ihren Vorläufern sehr grundlegend dadurch, dass sie den 3UR]HVV GHU IDFKVSH]LÀVFKHQ .RQVWUXNWLRQ YRQ 5lXPHQ QLFKW QXU erkannten, sondern auch bewusst offen legten und transparent machten. Für sie waren Räume nicht mehr Gestaltqualitäten der Realität, sondern methodische Konstrukte. Die Areale, Felder oder Regionen der raumwissenschaftlichen Geographie waren das Ergebnis eines klassenlogischen Kalküls, taxonomische Raumeinheiten, die nicht gefunden, sondern erfunden wurden. Pikanterweise kam es im Gefolge dieser Forschungen aber dennoch immer wieder dazu, dass die derart konstruierten Räume eine Art (LJHQOHEHQHQWZLFNHOQNRQQWHQUHLÀ]LHUWYHUJHJHQVWlQGOLFKW XQGLQ eigenständige räumliche Entitäten umgedeutet wurden. Was eigentlich als methodisches Konstrukt und als Produkt eines klassenlogischen Kalküls gedacht war, wurde nachträglich dann doch wieder als eigenständiges Element der „räumlichen Wirklichkeit“ angesehen. Wir werden im letzten Abschnitt ein Beispiel für eine derartige Metamorphose besprechen. Bei der Familie der politisch-emanzipatorischen Paradigmen steht vor allem die ideologiekritische Dekonstruktion von lebensweltlichen XQGIDFKVSH]LÀVFKHQ5DXPNRQVWUXNWLRQHQLP9RUGHUJUXQGGHV,QWHUesses. Diese Gruppe von Paradigmen, zu der man „welfare geography“, „radical geography“, die marxistische und die feministische Geographie zählen kann, weist als gemeinsames Kennzeichen das Verwerfen der Wertneutralitätsthese, die Konstatierung raumstrukturell ausgeprägter sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sowie das ausdrückliche Bestreben auf, derartige Ungerechtigkeiten mit Hilfe wissenschaftlicher Analysen aufzuheben oder zu beenden. Ihre Vertreter kritisieren lebensweltliche Raumkonstruktionen, in denen Barrieren, Zugangsbeschränkungen, geplante oder verordnete Segregation sowie Ausbeutungs- und Enteignungsstrukturen zum Ausdruck kommen. *OHLFKHUPDHQGHNRQVWUXLHUWZHUGHQIDFKVSH]LÀVFKH5DXPNRQVWUXN31
Peter Weichhart te, mit deren Hilfe soziale Ungleichheiten reproduziert und als Abbilder einer gleichsam selbstverständlichen Realität dargestellt werden. Und VFKOLHOLFKZHUGHQLP5DKPHQGLHVHU3DUDGLJPHQIDPLOLHVSH]LÀVFKH Raumkonstrukte produziert, die sich auf die Thematiken der eigenen Forschungen beziehen, z. B. „Angsträume“. Besonders produktive Raumkonstrukteure sind die Vertreter der subjektorientierten Paradigmen (Verhaltensgeographie, humanistische Geographie und handlungszentrierte Geographie). Auch sie beziehen sich auf lebensweltliche Raumkonstruktionen und berücksichtigen dabei sowohl kognitive, normative als auch physisch-materielle Konstruktionsprozesse. Indem sie diese alltagspraktischen Regionalisierungen beobachten und darstellen, produzieren sie eigenständige paradigmenVSH]LÀVFKH 5DXPNRQVWUXNWLRQHQ HLQHU K|KHUHQ 2UGQXQJ 7\SLVFKH Beispiele sind etwa die Mental Maps der Wahrnehmungsgeographie oder die verschiedenen Formen der alltäglichen Regionalisierungen bei %HQQR:HUOHQDOVIDFKVSH]LÀVFKH$EELOGXQJHQRGHU5HNRQVWUXNWLRQHQ des alltagspraktischen „Geographie Machens“). Die Paradigmen der Neuen Kulturgeographie und der poststrukturalistischen Geographie sind schwer voneinander abzugrenzen (vgl. Weichhart 2008, Kap. 11). Deshalb werden sie hier der Einfachheit halber zu einem Paradigma zusammengefasst. Sie können als die jüngsten Entwicklungslinien des Faches angesehen werden. In diesem Paradigma werden ausdrücklich die hinter Raumkonstruktionen stehenden 3UR]HVVH thematisiert. (Darin äußert sich eine der Ähnlichkeiten und Konvergenzen mit dem Paradigma der handlungszentrierten Sozialgeographie.) In der Neuen Kulturgeographie wird „Kultur“ als soziale Praxis der Sinnzuschreibung und der sinnhaften Deutung der Welt aufgefasst. Ihre Vertreter gehen von der Grundannahme aus, dass die soziale Realität in ihrer Gesamtheit sozial konstruiert und kulturell vorinterpretiert sei. Damit wird von vorneherein postuliert, dass auch Räume konstruiert sind. Wegen der Thematisierung des Konstruktionsprozesses steht auch bei diesem Paradigma die Dekonstruktion, das Aufdecken und Bewusstmachen des Konstruktcharakters, die „Verunsicherung des Blicks“ im Vordergrund.
Beispiele für paradigmenspezifische Raumkonstruktionen Wir haben gesehen, dass aus der Perspektive eines bestimmten wissenschaftlichen Paradigmas jeweils unterschiedliche alltagsweltliche Raumkonstruktionen in den Fokus des Interesses rücken, die mit GHQVSH]LÀVFKHQNRQ]HSWLRQHOOHQXQGDQDO\WLVFKHQ,QVWUXPHQWHQGHV Paradigmas rekonstruiert oder dekonstruiert werden. Dadurch entsteKHQSDUDGLJPHQVSH]LÀVFKH5DXPNRQVWUXNWLRQHQÅ]ZHLWHU2UGQXQJ´ Auch sie werden immer wieder als eigenständige „Entitäten“ gedeutet, 32
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen es wird ihnen ein „Dingcharakter“ zugeschrieben. Im folgenden ersten Beispiel soll das für eine Raumkonstruktion im Rahmen des raumwissenschaftlichen Paradigmas dargestellt werden. Anfang der 1960er Jahre wurde von der Statistik-Abteilung des Amts der Salzburger Landesregierung auf Grundlage der Daten der Volkszählung von 1961 eine Analyse der Arbeitsmarktsituation in GLHVHP%XQGHVODQGYRUJHQRPPHQ$QDO\VLHUWZXUGHQ3HQGOHUYHUÁHFKtungen, also eine soziale Praxis, die im Sinne der produktiv-konsumtiven Regionalisierung zu einer alltagsweltlichen Raumkonstruktion führt. Diese empirisch nachweisbaren Interaktionsstrukturen wurden in Karten eingezeichnet und so mit Hilfe eines Raum3-Konzepts visualisiert (vgl. Abb. 3). Abbildung 3: „Arbeitsmarktregionen“ des Landes Salzburg
Quelle: Weichhart 2008, 89
Mit dieser Kartierung wurden die Beziehungsmuster menschlicher Akteure gleichsam in konkrete „Erdraumausschnitte“ transformiert. Die tagesrhythmischen Interaktionsstrukturen der Pendler werden in Attribute der Gemeinden umgewandelt, und die dabei sichtbar werdenden Zusammenhänge können nun als Raumeinheiten qua Nodal33
Peter Weichhart regionen interpretiert werden. Die lebensweltliche Raumkonstruktion ZLUGDXIGLHVH:HLVHLQHLQHSDUDGLJPHQVSH]LÀVFKH5DXPNRQVWUXNtion umgewandelt. Die Arbeitsmarktregion Salzburg-Stadt fasst also beispielsweise jene Gemeinden zu einer Region zusammen, in denen im Jahr 1961 der überwiegende Teil der Auspendler ihren Arbeitsplatz in der Stadt Salzburg hatten. Das gesamte Bundesland wurde durch GLHVH 5DXPNRQVWUXNWLRQ ÁlFKHQGHFNHQG LQ 7HLOUHJLRQHQ JHJOLHGHUW mit denen die (damaligen) Relationen zwischen Wohngemeinde und Arbeitsgemeinde dargestellt wurden. Obwohl völlig klar sein musste, dass es sich hierbei um methodische Konstrukte handelt, die noch dazu als Momentaufnahme in einer bestimmten historischen Situation anzusehen sind, verselbstständigten sich diese Arbeitsmarktregionen zu „realen Räumen“. Eine auf den Raum4 bezogene Raumkonstruktion der Alltagswelt (soziale Praxis zu einem bestimmten Zeitpunkt) wird als Raum2-Konzept dargestellt, zu einer eigenständigen Entität umgedeutet und erhält damit ein zur Substanz geronnenes Eigenleben. Und deshalb kann man noch heute aktuelle Datensätze des landesstatistischen Dienstes auf der räumlichen Bezugsbasis dieser Arbeitsmarktregionen beziehen. Beziehungsmuster wurden in „konkrete Erdraumausschnitte“ umgewandelt. Ein Raum4-Zusammenhang, der DXIGHU*UXQGODJHHLQHUVSH]LÀVFKHQKLVWRULVFKHQ6LWXDWLRQDQDO\WLVFK festgestellt wurde, erhielt damit eine reale Gegenständlichkeit. Dass sich die Arbeitsmarktgegebenheiten seither wesentlich geändert haben, wird dabei ignoriert. Denn die Mobilität der Arbeitnehmer ist in der Zwischenzeit erheblich gestiegen, und die Standortstruktur des Arbeitsplatzangebotes hat sich grundlegend verändert. Die als räumliche Entitäten so plausibel erscheinenden Arbeitsmarktregionen sind aus heutiger Sicht längst verstaubte methodische Artefakte, die mit der Realität des gegenwärtigen Arbeitsmarktes, der vor allem auf den Salzburger Zentralraum bezogen ist und weit über die Landesgrenzen hinausreicht, nicht das Geringste zu tun haben. Und dennoch werden jene Arbeitsmarktregionen, die aus einer Momentaufnahme der Pendlerbeziehungen im Jahr 1961 abgeleitet wurden, noch heute als räumliche Fundamentalstruktur des Bundeslandes Salzburg gehandelt. Als zweites Beispiel, in dem sogar eine vierfache Relationierung unterschiedlicher Raumkonstruktionen zum Ausdruck kommt, soll das Salzkammergut dienen. Ursprünglich war das Salzkammergut ein Gebiet, das durch eine der „mächtigsten“ Raumkonstruktionen geprägt wurde, die wir in der $OOWDJVZHOWYRUÀQGHQ(VKDQGHOWHVLFK XPHLQHQ 5HFKWVUDXPQRUmativen Raum). Rechtsräume werden dadurch konstituiert, dass sie als Gültigkeitsbereiche von Normen bestimmt werden. Im Sinne von Benno Werlen handelt es sich um eine normativ-politische Regionalisierung. Kammergut bezeichnet hier eine Region, die direkter Besitz 34
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen des Landesherrn war, in diesem Falle des Hauses Habsburg. Sie umfasste ursprünglich die Grundherrschaft der Burg Wildenstein in Bad Ischl (vgl. Abb. 4). Sie wurde von der Finanzbehörde des Landesherren – der „Kammer“ – verwaltet. Das Gebiet war damit ein eigenständiger Rechtsraum, in dem besondere Schutzbestimmungen für die Nutzung von Holz und Wasser sowie spezielle soziale Sicherungen für die Bewohner gültig waren. Später wurden immer mehr angrenzende Gebiete eingegliedert, um den ungeheueren Holzbedarf der Saline decken zu können. Bis ins 19. Jahrhundert war die Region der Hofkammer, der Wiener Finanzbehörde, unterstellt. Abbildung 4: Historische Karte des Salzkammerguts
4XHOOH$QJHOLND0,3DXOL$EE
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Peter Weichhart Im 19. Jh. wurde das Salzkammergut als Tourismusgebiet entdeckt und bis in die Gegenwart von den Tourismusverbänden gezielt als „touristischer Raum“ weiterentwickelt. Neben den normativen Rechtsraum tritt mit dem touristischen Raum also eine zweite (strategische) Raumkonstruktion. Das vom Toponym „Salzkammergut“ bezeichnete Gebiet wurde im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet. Heute haben sich 52 Gemeinden in drei Bundesländern der Tourismusregion angeschlossen. Auf der Grundlage dieser beiden alltagsweltlichen Raumkonstruktionen wurde das Gebiet in der Folge auch als „vernacular region“ (im 6LQQH HLQHU NROOHNWLYHQ LQIRUPDWLYVLJQLÀNDWLYHQ 5HJLRQDOLVLHUXQJ konstituiert (die dritte Raumkonstruktion). Wie „Innviertel“, „Allgäu“ oder „Weinviertel“ ist „Salzkammergut“ heute eine umgangssprachlich JHOlXÀJH 5HJLRQVEH]HLFKQXQJ GLH HLQ ]XVDPPHQKlQJHQGHV *HELHW im Grenzbereich von Oberösterreich, Salzburg und der Steiermark benennt und dessen Kernbereich das Gebiet des ehemaligen Kammergutes darstellt. Wenn ein Bewohner von Gmunden oder Bad Ischl nach seiner Herkunft befragt wird, dann outet er sich als „Salzkammergutler“. Das Salzkammergut in Gestalt der dritten Raumkonstruktion (vernacular region, Wahrnehmungs- und Identitätsregion) kann im Rahmen des verhaltenswissenschaftlichen oder des handlungstheoretischen Paradigmas der Geographie natürlich auch wissenschaftlich rekonstruiert werden (Abb. 5). Abbildung 5: Eine Mental Map des Salzkammergutes
4XHOOH$QJHOLND0,3DXOL$EE
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Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen Das Ergebnis ist eine kollektive Mental Map, die natürlich ebenfalls als Raumkonstruktion (Nr. 4) anzusehen ist. Eine derartige Konstruktion wurde von Angelika Pauli (1992) in ihrer Salzburger Diplomarbeit vorgenommen. In dieser Arbeit wurde das Image des Salzkammerguts untersucht und eine Rekonstruktion der mit diesem Toponym verknüpften raumbezogenen Urteilsstereotype vorgelegt. Dazu war es natürlich auch erforderlich, diese lebensweltliche Region abzugrenzen und die Vorstellungen über ihre Außengrenzen in den Köpfen der Bewohner zu erfassen. Als Probanden wurden Bewohner der Region herangezogen, und zwar Vertreter lokaler Eliten (Bürgermeister, Pfarrer/Pastoren, Schulleiter). Die Probanden trugen u.a. auf vorgegebenen Karten die ihrer subjektiven Einschätzung nach bestehenden Grenzen des Salzkammergutes ein (gebundene graphische Erhebungstechnik). Durch die Auszählung und Aufsummierung der NennungshäuÀJNHLWHQQDFK=lKOUDVWHUIHOGHUQZXUGHQGLHVXEMHNWLYHQ$EJUHQ]XQgen der insgesamt 239 Probanden zu einer kollektiven Mental Map zusammengefasst. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse ist also eine Raumkonstruktion höherer Ordnung, mit der eine alltagsZHOWOLFKH5DXPNRQVWUXNWLRQLP6LQQHHLQHULQIRUPDWLYVLJQLÀNDWLYHQ Regionalisierung) dargestellt und veranschaulicht werden konnte.
Fazit Das Konstruieren von Räumen ist eine geradezu banale Selbstverständlichkeit unserer alltäglichen Lebenspraxis und es ist die Standardroutine geographischer Forschung. Aber auch Historiker, Soziologen, Ökonomen, Planer, Tourismusforscher etc. konstruieren Räume und rekonstruieren oder dekonstruieren derartige Konstruktionen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass ein erheblicher analytischer Aufwand erforderlich ist, um die verschiedenen Ebenen und Prinzipien der dabei eingesetzten Konstruktionsprozesse aufzeigen zu können. Als besonders bedeutsam hat sich die Beobachtung der SDUDGLJPHQVSH]LÀVFKHQ%HREDFKWXQJVSUD[LVHUZLHVHQPLWGHUHQ+LOIH Raumkonstruktionen de- oder rekonstruiert werden. Aus der Sicht der verschiedenen Paradigmen der Geographie rücken jeweils unterschiedliche alltagsweltliche Raumkonstruktionen in das Zentrum des Interesses. Dabei entstehen verschiedenartige Konstruktionen zweiter Ordnung. Als ein zentrales Problem hat sich das Faktum herausgestellt, dass Raumkonstruktionen immer wieder für eigenständige Entitäten gehalten werden, die eine vom Konstrukteur, seinen Zwecksetzungen und der Art des Konstruktionsprozesses unabhängige Existenz besitzen. Dies gilt, wie wir am Beispiel der Salzburger Arbeitsmarktregionen gesehen haben, auch für Konstruktionen zweiter Ordnung.
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Peter Weichhart Als besonders spannende Forschungsfrage wurde die Analyse der Zusammenhänge zwischen den Sinn- und Bedeutungskontexten von Raumkonstruktionen und den materiellen Aspekten der Konstruktionsprozesse herausgestellt. Mit dieser Frage ist (aus der Sicht des Autors) der eigentliche Kernbereich des Erkenntnisobjekts der Geographie angesprochen: Wie schaffen wir es, die Zusammenhänge zwischen sozio-kultureller Sinnstiftung und der Räumlichkeit der physisch-materiellen Welt transparent zu machen? Auch für die Analyse der Konstruktion von Tourismusräumen ist das Verständnis dieser Zusammenhänge von zentralem Interesse. Dies zeigen die nachfolgenden Beiträge.
Literatur Augustinus, Aurelius (2000): Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse 11, lateinisch-deutsch, Hamburg: Meiner. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbeck: Rowohlt Verlag. Burghardt, Magdalena (2008): Sprachlich-diskursive Konstruktion von Räumen und Orten. Analyse anhand der Konstruktion von ‚Wien‘ im Stadtentwicklungsplan (STEP 05), Wien, unveröffentlichte Masterarbeit, Fakultät für Sprachwissenschaft, 121 S. Hennessey, Richard und Christine Hallwirth, (1998): Unselbständig Beschäftigte im Bundesland Salzburg in sachlicher und regionaler Gliederung, Salzburg: Landesstatistischer Dienst. .XKQ7KRPDV6 7KH6WUXFWXUHRI6FLHQWLÀF5HYROXWLRQV&KLcago: University of Chicago Press. Pauli, Angelika M. I. (1992): Das Salzkammergut. Ein Begriff im Wandel der Zeit. Raumbezogene Urteilsstereotype und Mental Maps, Salzburg: Geographische Diplomarbeit, NW. Fak., 259 S., 67 Abb., 43 Tab. Schurz, Gerhard/Weingartner, Paul (Hg.) (1998): Koexistenz rivalisierender Paradigmen. Eine post-kuhnsche Bestandsaufnahme zur Struktur gegenwärtiger Wissenschaft, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Weichhart, Peter (2000): Geographie als Multi-Paradigmen-Spiel. Eine post-kuhnsche Perspektive. In: Hans H. Blotevogel/Jürgen Ossenbrügge/Gerald Wood (Hg.), Lokal verankert – weltweit vernetzt. 52. Deutscher Geographentag Hamburg, Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 479-488. Weichhart, Peter (2003): Gesellschaftlicher Metabolismus und Action Settings. Die Verknüpfung von Sach- und Sozialstrukturen im alltagsweltlichen Handeln. In: Peter Meusburger/Thomas Schwan (Hg.), Humanökologie. Ansätze zur Überwindung der Natur-Kul38
Raumkonstruktionen, „Turns“ und Paradigmen tur-Dichotomie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, (= Erdkundliches Wissen, Band 135), S. 15-44. Weichhart, Peter (2008): Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, (= Sozialgeographie kompakt, Band 1). Werlen, Benno (1997): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, (= Erdkundliches Wissen, Heft 119).
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Medialisierung und Visualisierung
Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern Jan Glatter und Daniela Weber Am Beginn unserer Ausführungen steht eine Vermutung: Sie als Leserinnen und Leser haben bereits eine mehr oder weniger genaue Vorstellung davon, was ein Szeneviertel ist.1 Sehr wahrscheinlich tauchten auch schon die ersten Assoziationen oder gar eigene Erlebnisse zu Szenevierteln auf. Der eine oder andere dachte an Kreuzberg, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain in Berlin, an St. Pauli oder das Schanzenviertel in Hamburg, das Münchner Schwabing oder die Äußere Neustadt in Dresden, vielleicht aber auch an die New Yorker Quartiere SoHo und Greenwich Village oder an Temple Bar in Dublin. Doch während der Begriff Szeneviertel offensichtlich zum festen Bestandteil des alltagsweltlichen Sprachgebrauchs gezählt werden kann, ist seine Bedeutung wissenschaftlich bislang kaum untersucht worden. Szeneviertel werden im wissenschaftlichen Diskurs fast ausschließlich im =XVDPPHQKDQJPLW*HQWULÀFDWLRQSUR]HVVHQWKHPDWLVLHUWEHLGHQHQ sie als typisches Merkmal einer beginnenden Quartiersaufwertung gelten (vgl. Friedrichs 1998). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen Interpretationsvorschlag über Formen der medialen Konstruktion der touristischen Destination Szeneviertel vorzustellen. Von einer konstruktivistischen Perspektive ausgehend, werden Szeneviertel primär als Elemente der Kommunikation und damit der Semantik aufgefasst. Das Phänomen Szeneviertel wird bezüglich der sprachlichen Deutung und gesellschaftlichen Bedeutung untersucht. Da mit dem Wortteil Viertel auf eine räumliche Unterscheidung verwiesen wird, folgt eine Einordnung des Labels Szeneviertel in die Diskussion der Raumsemantik im Allgemeinen und die touristische Raumsemantik im Besonderen. Auf der Grundlage einer inhaltsanalytischen Auswertung deutschsprachiger Reiseführer wird anschließend der Interpretationsvorschlag für die semantische Konstruktion der Szeneviertel im Städtetourismus vor1
Im Interesse einer besseren Lesbarkeit des Textes wird im Folgenden jeweils nur die männliche Form verwendet, womit jedoch stets auch die weibliche Form gemeint ist.
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Jan Glatter und Daniela Weber gestellt. Wir werden aufzeigen, dass das Etikett Szeneviertel zu einem Stereotyp des Städtetourismus avanciert. Mit diesem Etikett geht die %HVFKUHLEXQJHLQHVVWlGWLVFKHQ7HLOUDXPVDOVVSH]LÀVFKHWRXULVWLVFKH Attraktion innerhalb einer Stadt einher, welche im Unterschied zu anderen Stadtvierteln nach einem bestimmten Leitschema erfolgt. Zugleich erfüllen die als Szeneviertel bezeichneten Quartiere eine wichtige Funktion innerhalb der touristischen Bewerbung der Stadt, LQGHUVLFKGDV6]HQHYLHUWHOEHÀQGHW
Stereotyp Szeneviertel als Element der Raumsemantik Wird ein städtischer Teilraum als Szeneviertel bezeichnet, dann wird im Medium der Sprache mit dem Wort Szene eine Beziehung zur Gesellschaft und mit dem Wort Viertel eine Beziehung zum Raum hergestellt. Sprachliche Zeichen, die sich auf den Raum beziehen bzw. die in der menschlichen Kommunikation erst eine Vorstellung von Raum und Räumlichem entstehen lassen, bilden Elemente der Raumsemantik (vgl. Miggelbrink 2002; Redepenning 2006). Raumsemantiken wie bspw. Stadt, Grenze, Region, aber auch nah und fern, Ost und West stellen innerhalb der Kommunikation Angebote für Sinnbezüge im Medium Raum dar. Sie können als eine realisierbare sprachliche Fixierung betrachtet werden, die eine Positionierung und somit bessere alltagsweltliche Orientierung ermöglichen (vgl. Miggelbrink 2002, 292f.). Raumbezogene Sprache kann somit die Fähigkeit der Reduktion von Komplexität besitzen, da mit Hilfe des Raumbezuges eine Vereinfachung von komplexen Sach- und Sozialinformationen möglich ist (vgl. ebd., 294). Mit dem raumsemantischen Begriff Viertel wird auf eine städtische Binnendifferenzierung in Teilräume bzw. Quartiere verwiesen. Es handelt sich um ein klassisches Containerraummodell. Der Container Stadt wird in weitere Container gegliedert. In der Regel werden städtische Teilräume zur Unterscheidung mit geographischen Eigennamen bezeichnet und verweisen so auf konkrete Lokalitäten. Werden die Viertel allerdings mit Begriffen markiert, die auf einer Art .ODVVLÀ]LHUXQJRGHU7\SLVLHUXQJQDFKEHVWLPPWHQ0HUNPDOHQEHUXhen, können sich Stereotype bilden. Der Begriff Szeneviertel stellt solch HLQH)RUPGHUNODVVLÀ]LHUHQGHQE]ZW\SLVLHUHQGHQ%H]HLFKQXQJGDU und kann daher als räumlicher Stereotyp aufgefasst werden. Charakteristisch für räumliche Stereotype ist eine „nicht selten XQNULWLVFKH9HUDOOJHPHLQHUXQJGLHVHKUKlXÀJJHJHQ9HUlQGHUXQJHQ resistent ist und sich einer kritischen Überprüfung entzieht“ (Scherle 2000, 45). Positiv betrachtet besitzen Stereotype eine ordnende und komplexitätsreduzierende Funktion, wodurch sie zur „Umweltorientierung im Alltagsleben beitragen“ (Scherle 2000, 46) können. Räumliche 44
Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern Stereotype bieten die Möglichkeit von Anschlusskommunikation, die jedoch nicht als determiniert aufzufassen ist, denn mit der sprachlichen Eindeutigkeit des Begriffes kann eine Vieldeutigkeit an Assoziationen, Bedeutungsgebungen, Motiven und Handlungsvollzügen einhergehen (vgl. Weichhart 2008, 326). In den bisherigen Ausführungen wurden Szeneviertel ausschließlich als Element der Kommunikation betrachtet. Doch die als Szeneviertel bezeichneten Räume lassen sich auch als materielle Erscheinungen und Orte des sozialen Lebens beobachten. Räume treten „einerseits als sprachlich konstituierte kognitive Konstrukte, andererseits als durch VR]LDOHXQG|NRQRPLVFKH3UD[LVIRUPLHUWH.RQÀJXUDWLRQHQGHUSK\sisch-materiellen Welt in Erscheinung“ (Weichhart 2008, 326). Folgt man dieser Unterscheidung, dann handelt es sich bei Szenevierteln einerseits um sozial konstruierte, reale räumliche Situationen (Gesellschaftsstruktur) und andererseits um kommunikativ konstruierte Objekt-/Zeichensysteme (Semantik). Den Fokus unserer Betrachtung bildet die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel als Form der Raumsemantik. Erst nachgeordnet diskutiert wird die touristische Materialisierung von Szenevierteln und die im touristischen Handeln vor Ort reproduzierten gesellschaftlichen Strukturen.
Städtetouristische Raumsemantik Im touristischen Handlungs- und Sprachvollzug wird eine eigene Raumsemantik erzeugt. Der Tourismus lebt von Raumsemantik. Orte, Räume werden mit Bedeutung aufgeladen und so zum Zielort touristischer Erwartungen. Eine besondere Form der städtetouristischen Raumsemantik ist – so unsere These – die Semantik des Szeneviertels. Wir folgen der Argumentation von Pott, der unter Tourismus einen zeitlich befristeten Ortswechsel versteht, welcher mit der Herstellung von Alltagsdistanz einher geht (vgl. Pott 2007, 105). Nicht allein die Reise macht den Tourismus aus, sondern die Erfahrung einer Lockerung und/oder Variation alltäglicher Inklusionsstrukturen und Rollenverhältnisse. „Der Tourismus bietet modernen Individuen (auch wenn sie in Gruppen reisen) die zeitlich befristete ‚Erholung‘ von den 9HUSÁLFKWXQJV]XVDPPHQKlQJHQGHUDOOWlJOLFKHQ/HEHQVIKUXQJLQ den Funktionssystemen und ihren Organisationen an“ (Pott 2007, 70). Szeneviertel sind als Ziel touristischer Aktivitäten Teil des Städtetourismus. Die Herstellung der Alltagsdistanz erfolgt im Städtetourismus über den Modus der Kultur. Kultur wird dabei im Luhmann’schen 6LQQDOVUHÁH[LYYHUJOHLFKHQGHV%HREDFKWXQJVVFKHPDYHUVWDQGHQYJO Pott 2007, 110). Der Städtetourist beobachtet städtische Destinationen 45
Jan Glatter und Daniela Weber mit vergleichendem Interesse an Fremdheit, Andersartigkeit, Besonderheit – dabei kann fast alles zum Beobachtungsgegenstand werden: Gebäude, Bauformen, Kunst, Lebensweisen, Konsumangebote und in der touristischen Interpretation zu einer einheitlichen Kultur zusammengefasst werden. Allein schon die räumliche Differenz zwischen bekannter Welt der Heimat und unbekannter Fremde garantiert, dass es Unterschiede gibt – Unterschiede erwartet werden. Dem Städtetourismus liegt damit ein anderer Distanzierungsmodus zugrunde als bspw. dem Wander- und Strandtourismus, die auf Alltagsdistanz durch Natur- und Körperbezug abzielen. Städtetourismus stellt die Alltagsdistanz über die Erholung der Sinne durch Anregung in der vergleichenden Betrachtung des anderen Ortes her (vgl. Pott 2007, 147). Körperlich werden Stadtbesichtigungen meist sogar als sehr anstrengend empfunden, wobei es dann nicht um das Erlebnis der Anstrengung geht – wie bspw. bei einer Bergbesteigung – sondern um das Erlebnis der Abwechslung, der Unterhaltung bzw. des Vergnügens (vgl. Pott 2007, 148). Diese geistig-sinnlichen ErfahUXQJHQ ]LHOHQ DE DXI 6HOEVWÀQGXQJ ,GHQWLWlWVELOGXQJ (UNHQQWQLV Wissenserweiterung und sind eine besondere Form der Kultur. 'LHVSH]LÀVFKHVWlGWHWRXULVWLVFKH%HREDFKWXQJPLWWHOVGHV/HLWVFKHPDV.XOWXUHUIROJWQDFK3RWWEHUGUHLUHÁHNWLHUHQGH3HUVSHNWLven: • • •
die Regionalisierung, die Historisierung und die Heterogenisierung.
Die Regionalisierung besagt, dass die vergleichende Perspektive im Städtetourismus immer auch räumlich codiert, topographisiert wird (vgl. Pott 2007, 129). Die kulturellen Beobachtungsweisen werden unmittelbar mit territorialen Unterscheidungen bzw. Zuweisungen verknüpft. Kultur und Territorium sind im Tourismus deckungsgleich (vgl. Pott 2007, 177). Die Kultur dient als Modus der städtetouristischen Beobachtung von Differenzen und der Raum als das Medium, in welches die Differenzen eingeschrieben und abgelesen bzw. durch das Differenzen ausgedrückt, symbolisiert und wahrgenommen werden können (vgl. Pott 2007, 133). Die städtetouristische Semantik bedient das Bild des Containerraums, es wird ein Behälter (Region, Stadt, Stadtteil) konstruiert und mit Bedeutungs-Inhalten gefüllt. In der städtetouristischen Semantik handelt es sich bei den Inhalten zumeist um Historisierungen (vgl. Pott 2007, 118). Die Stadt wird aufgeladen mit historisierenden Inhalten zur mittelalterlichen Stadt (Rothenburg o.d. Tauber), zur Barockstadt (Dresden) oder Stadt der Moderne (Chemnitz). Die Heterogenisierung verweist auf eine Binnenregionalisierung der Stadt. Der touristische Ort wird als Mosaik oder Kontrast unter46
Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern schiedlicher Teilräume beschrieben. Innerstädtisch erfolgt ein Vergleich nach sozialen, baulichen und funktionalen Kriterien (vgl. Pott 2007, 111ff.).
Reiseführer als Untersuchungsgegenstand Ausgangspunkt der empirischen Untersuchungen war die Beobachtung, dass die Bezeichnung Szeneviertel auf mehrere Quartiere in deutschen Städten aber auch auf Quartiere anderer Länder angewendet wird. Ein anschauliches Beispiel für die offensichtlich stereotype Verwendung und internationale Verbreitung des Labels ist eine in den Jahren 2001 bis 2002 in der Zeitung DIE WELT erschienene Artikelserie mit dem Titel ‚Szeneviertel der Welt‘. Mittels einer Stichwortsuche über die Internetsuchmaschine Google konnten in einer HUVWHQ 5HFKHUFKH ELVODQJ 4XDUWLHUH LGHQWLÀ]LHUW ZHUGHQ GHQHQ das Label Szeneviertel zugewiesen wird. Abbildung 1 zeigt eine kartographische Übersicht der globalen Verteilung der als Szeneviertel gelabelten Quartiere. Ein geeignetes Medium zur Analyse der medialen Konstruktion des städtetouristischen Labels Szeneviertel sind Reiseführer. Obgleich sich zahlreiche Autoren mit dem Begriff des Reiseführers auseinanGHUJHVHW]W KDEHQ NRQQWH ELVODQJ NHLQH DOOJHPHLQ DN]HSWLHUWH 'HÀnition formuliert werden (vgl. Scherle 2000, 62). Die Schwierigkeiten liegen vor allem darin, dass Reiseführer ein Konglomerat verschiedener Literaturarten sind. Reiseführer sind: Länderkunde, Sachbuch, Atlas, Bildband, Kunstführer, Adressbuch, Erlebnisbericht, Reiseerzählung und Restaurantführer (vgl. Steinecke 1988, 44). Zudem ist die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Genres in den letzen 15 Jahren durch den Konkurrenzkampf der Verlage sehr dynamisch verlaufen. In Anlehnung an Steinecke (1988, 23) und Gorsemann (1996, 109) wurde für die vorliegende Untersuchung folgende pragmatische Abgrenzung gewählt: Reiseführer sind eine Form der Reiseliteratur, in der über einen realen Raumausschnitt Sehenswertes und Hintergrundinformationen in zumeist literarischer Form (Unterhaltungs- und Bildungswert) und reisepraktische Informationen in meist sachlicher Form (Gebrauchswert) bereit gestellt werden. Reiseführer spielen für die hier zu untersuchende touristische Konstruktion von Szenevierteln eine bedeutsame Rolle. In Reiseführern werden Reiseerfahrungen vorstrukturiert. Destinationen werden verortet, abgegrenzt, Wahrnehmungen und Erfahrungen kanalisiert, Stimmungen, Aktivitäten und Verhaltensstrukturen vorgeprägt (vgl. Saretzki 2005, 125f.). Mit der Lektüre eines Reiseführers erlernt der Tourist einen besonderen touristischen Blick, seine Erwartungen an den zu bereisenden Ort werden strukturiert.
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Jan Glatter und Daniela Weber Abbildung 1: räumliche Verbreitung der als Szeneviertel benannten Quartiere
Quelle: eigener Entwurf
Die in den Reiseführern formulierten medialen Geographien sind NHLQHÀNWLYHQ.UHDWLRQHQGHU$XWRUHQYJO)HOJHQKDXHU6FKORWWPDQQ 5HLVHIKUHUVLQGDQGHU9HUPLWWOXQJYRQQDFKYROO]LHKEDUHQ ZLHGHUHUNHQQEDUHQSODXVLEOHQ:LVVHQVVWUXNWXUHQRULHQWLHUW(LQ5HL48
Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern seführer, dessen formulierte Erwartungen vor Ort nicht bestätigt werden, ist nichts wert. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, dass in den Darstellungen der Szeneviertel wiederkehrende Themen, Beschreibungen und Interpretationen enthalten sind. Diese stabilen, kommunikativ reproduzierten Konstruktionen wurden in den Reiseführertexten gesucht. Die recherchierte Zahl von mehr als 100 als Szeneviertel bezeichneten Quartieren und das Problem einer schier unüberschaubaren Zahl und Variation an Reiseführern machten eine Auswahl erforderlich. Maßgebend für die Auswahl der Szeneviertel war die Lage der Städte. Die Analyse sollte sich nicht auf Deutschland begrenzen, sondern auch internationale Beispiele beinhalten. Als Untersuchungsgegenstand wurden insgesamt 24 Szenevierteln in sieben Städten berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Auswahl der Untersuchungsquartiere zur medialen Konstruktion von Szenevierteln in Reiseführern Europa Deutschland
Berlin
Friedrichshain Kreuzberg Prenzlauer Berg Spandauer Vorstadt
Dresden
Äußere Neustadt
Großbritannien
London
Covent Garden Notting Hill Soho
Frankreich
Paris
Bastille Viertel Marais Montmartre
Italien
Rom
Testaccio Trastevere
Österreich
Wien
Bermuda-Dreieck Spittelberg
New York
Chelsea East Village Greenwich Village Meatpacking District NoHo Nolita SoHo TriBeCa Williamsburg
Nordamerika USA
Quelle: eigener Entwurf 49
Jan Glatter und Daniela Weber Aus der Vielzahl der infrage kommenden Städte-Reiseführer wurde für die vorliegende qualitative Untersuchung ebenfalls eine Auswahl getroffen. Für diese Auswahl der Reiseführer wurde auf eine Typologie der Reiseführer von Scherle (2000, 339ff.) zurückgegriffen. Darin wird unterschieden zwischen: •
•
•
•
Einsteiger: dienen vorrangig zur ersten Information über das Reiseziel; Informationen sind knapp, oft in tabellarischer Form, stichwortartig mit geringem Seitenumfang und niedrigem Preisniveau; hohe Bedeutung haben Adresssammlungen (ADAC, APA Pocket Guides, Marco Polo, Polyglott etc.); Generalist: enthält inhaltlich weit gefächertes Themenspektrum für umfassende Einblicke; ausführlicher regionaler Teil mit reisepraktischen Informationen; auch als klassischer Reiseführer bekannt (Baedeker, DuMont etc.); Alternativer: bietet Informationen, um die Zielregion individuell, auf eigene Faust kennen zu lernen; hoher Anteil an reisepraktischen Informationen; Verfasser ist zumeist Insider mit unkonventioneller Sprache und persönlichen Erfahrungsberichten (Reise Know-How, Rowohlt Anders Reisen etc.); Spezialist: vertiefte Behandlung eines Schwerpunktthemas wie zum Beispiel Kunstreiseführer, Wanderreiseführer; keine explizite Vorstellung von Sehenswürdigkeiten (Polyglott Land & Leute, DuMont Kunstreiseführer etc.).
Die Auswahl der Reiseführer erfolgte nicht als repräsentative Zufallsstichprobe, sondern als bewusste Auswahl deren Ziel es war, die DXÁDJHQVWlUNVWHQ 5HLVHIKUHU XQWHUVFKLHGOLFKHQ 7\SV ]X HUIDVVHQ Insgesamt wurden 42 Ausgaben von 15 deutschsprachigen StädteReiseführern verschiedener Verlage ausgewertet (vgl. Tabelle 2). Die Analyse umfasst Jahrgänge von 1974 bis 2008. Die Auswahl der Reiseführer war durch den verfügbaren Bibliotheksbestand in Dresden beschränkt.
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Die mediale Konstruktion des Stereotyps Szeneviertel in Reiseführern Tabelle 2: Auswahl der deutschsprachigen Reiseführer nach Reiseführertypen Reiseführertyp
Reiseführer (Verlag)
Einsteiger
ADAC-Reiseführer (ADAC-Verlag) MARCO POLO, Falk Reisen (alle MAIRDUMONT)
Generalist
Baedeker Allianz Reiseführer, DuMont Reisetaschenbuch, DuMont Direkt, DuMont Extra (alle MAIRDUMONT) MERIAN live!, MERIAN Reiseführer (TRAVEL HOUSE MEDIA) MM-City (Michael Müller Verlag) Polyglott ReiseBuch, Polyglott on tour, Polyglott Reiseführer (alle Polyglott Verlag)
Alternativer
Anders Reisen (Rowohlt Verlag) DuMont richtig reisen (MAIRDUMONT)
Quelle: eigener Entwurf Im Rahmen der inhaltsanalytischen Auswertung konzentrierten wir uns auf die einleitenden Überblickstexte zur Stadtgesellschaft sowie die in den regionalen Teilen enthaltenen Quartiersbeschreibungen. Die inhaltsanalytische Untersuchung der Texte erfolgte mittels offener Codierung und Textinterpretation.
Identifikation als Szeneviertel Entgegen unserer Erwartung werden die als Szeneviertel ausgewählten Quartiere nicht in allen Reiseführern immer und eindeutig mit dem Label Szeneviertel versehen. Im Vergleich zu anderen Stadtvierteln wird die Äußere Neustadt in Dresden in allen untersuchten Beiträgen als Szeneviertel bezeichnet. Andere Viertel hingegen werden mal direkt als Szeneviertel betitelt oder mit synonymen Begriffen als eine Art Szeneviertel ausgewiesen. (LQHGLUHNWH,GHQWLÀNDWLRQDOV6]HQHYLHUWHONDQQDXIIROJHQGH:HLVH erfolgen: LP,QKDOWVYHU]HLFKQLVÀQGHWVLFKGLH5XEULN6]HQHYLHUWHOGHUGDV Quartier zugeordnet ist, • in den einführenden Passagen mit Überblicksinformationen zur Stadt wird das Quartier als Szeneviertel bezeichnet, • in den Detailbeschreibungen des Quartiers wird es in der Überschrift, im Textbeitrag oder in Bildunterschriften als Szeneviertel gelabelt. Über diese direkten Etikettierungen hinaus kann ein Viertel auch mittels indirekter Verweise in den einführenden Passagen des Reiseführers und/oder den detaillierten Quartiersdarstellungen als Szeneviertel LGHQWLÀ]LHUWZHUGHQ'DIUODVVHQVLFKIROJHQGH)RUPHQÀQGHQ 51
Jan Glatter und Daniela Weber • •
•
•
es wird auf Szene-Indikatoren verwiesen (Szene-Lokal, SzeneRestaurant, Szene-Kneipe, Szene-Café, Szene-Laden), es werden soziale Gruppen benannt, die vor Ort eine Szene bilden (Künstler-, Schwulen-, Lesben- oder Studenten-Szene) – in einigen Fällen werden die Szenen mittels Raumbezug lokal verortet und es entstehen Wortschöpfungen wie 1HXVWlGWHU6]HQH oder TrastevereSzene, es werden synonyme und metaphorische Begriffe für Szeneviertel verwendet, aus denen sich in Verbindung mit den Textinhalten ablesen lässt, dass es sich um Szeneviertel handelt (z.B. Trendviertel, In-Viertel, Künstlerviertel, Bohème-Viertel, Bermuda-Dreieck), es wird in der Beschreibung des Quartiers auf ein oder mehrere andere Quartiere verwiesen, die als Szeneviertel bekannt sind, im LQWHUQDWLRQDOHQ9HUJOHLFKÀQGHQVLFKKlXÀJ%H]JH]X0RQWPDUWUH Soho2 und Greenwich Village, als deutsche Repräsentanten gelten Kreuzberg, Schwabing und St. Pauli.
Über diese direkten Etikettierungen und indirekten Verweise hinaus gibt es noch Bezeichnungen, die eine sehr enge semantische Nähe zum Szeneviertel aufweisen, aber nicht eindeutig mit dem Szeneviertel gleichgesetzt werden können: Galerienviertel, Kulturviertel, Kneipenviertel, Vergnügungsviertel und Nachtviertel. (LQH lKQOLFKH QLFKW LPPHU HLQGHXWLJH )RUP GHU ,GHQWLÀ]LHUXQJ eines Quartiers als Szeneviertel, erfolgt über Bezüge zu Aufwertungsprozessen, die in einigen Reisführertexten mit dem Konzept der GentriÀFDWLRQJOHLFKJHVHW]WZHUGHQ,QHLQHP5HLVHIKUHU]X1HZ