Tote Blicke: Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch 9783050069371, 9783050024080


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German Pages 180 Year 1995

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Table of contents :
Vorbemerkungen
Vorwort
Bibliographische Note
1. KAPITEL Entwicklung seit dem Altertum. Die Funeralplastik
2. KAPITEL Entwicklung seit dem Mittelalter. Die Votivplastik
3. KAPITEL Entwicklung seit der Renaissance. Die freie Bildplastik
4. KAPITEL Ausgang der alten Wachsbildnerei. Ihre Ächtung durch die Ästhetik des Klassizismus
Nachwort von Thomas Medicus
Anmerkungen
Übersetzungen der fremdsprachigen Zitate im Haupttext
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Tote Blicke: Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch
 9783050069371, 9783050024080

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Julius von Schlosser

Tote Blicke

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie

Julius von Schlosser

Tote Blicke Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. Herausgegeben von Thomas Medicus

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schlosser, Julius von: Tote Blicke : Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs ; ein Versuch / Julius von Schlosser. Hrsg. von T h o m a s Medicus. Berlin : A k a d . Verl., 1993 (Acta humaniora) I S B N 3-05-002408-9

© A k a d e m i e Verlag G m b H , Berlin 1993 Der A k a d e m i e Verlag ist ein Unternehmen der V C H Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier D a s eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen N o r m A N S I Z . 3 9 . 4 8 - 1 9 8 4 bzw. der europäischen N o r m I S O T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner F o r m - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übersetzt werden.

Verwendete Schrift: Times auf Monotype-System Sämtliche Reproduktionen sind im D u o t o n - oder Duocromverfahren hergestellt. Satz: Mega-Satz-Service, Berlin Reproduktion: O . R . T . , Berlin Druck: G A M - M e d i a , Berlin Bindung: Dieter Mikolai, Berlin Einbandgestaltung: R a l f Michaelis, Berlin Printed in the Federal Republic of G e r m a n y

Inhalt Vorbemerkungen 7 Vorwort 9 Bibliographische 11 Ι.

Note

KAPITEL

Entwicklung seit dem Altertum Die Funeralplastik 13 2.

KAPITEL

Entwicklung seit dem Mittelalter Die Votivplastik 54 3.

KAPITEL

Entwicklung seit der Renaissance Die freie Bildplastik 69

4.

KAPITEL

Ausgang der alten Wachsbildnerei Ihre Ächtung durch die Ästhetik des Klassizismus 103

Nachwort von Thomas Medicus 123

Anmerkungen 153 Übersetzungen der fremdsprachigen Zitate im Haupttext 171

Vorbemerkungen Die vorliegende Fassung der »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch« des Wiener Kunsthistorikers Julius von Schlosser ( 1 8 6 6 - 1 9 3 8 ) folgt einschließlich sämtlicher Abbildungen der Erstveröffentlichung im »Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses«, Jg. 29, Wien 1 9 1 0 - 1 1 , S. 1 7 1 - 2 5 8 . Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt, Orthographie und Interpunktion sind unter Wahrung des Lautstands und der sprachlichen Eigenheiten des Autors den heute geltenden Regeln behutsam angeglichen. Im Unterschied zur Urfassung sind für die Neuauflage alle fremdsprachigen Zitate (vgl. Anhang) übersetzt worden. Das Nachwort ist ein Originalbeitrag. Für die Übersetzungen danke ich Dr. Klaus Bergdolt, Prof. Dr. Werner Dahlheim, Dr. Jürgen Dummer und Dr. Tilman Krause. Für seinen unermüdlichen Einsatz beim Zustandekommen des Buches bin ich vor allem Dr. Gerd Giesler zu großem Dank verpflichtet. Tatkräftige Unterstützung bei allen Korrekturen kam von Brigitte Uppenbrink. Ebenso unersetzlich waren die fachkundigen Ratschläge der im Gegensatz zum Herausgeber stets geduldigen Katharina Uppenbrink. Für die Genehmigung des Abdrucks gilt last but not least Herrn Heinrich von Schlosser in Graz mein besonderer Dank. Thomas Medicus

Berlin, im Juli 1993

. . . wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die W a g e halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß die Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches H a n d w e r k überzugehen, das H a n d w e r k sich nicht steigern kann, ohne kunstreich zu werden. Wilhelm Meisters Wanderjahre, III. Bd., K a p . 3 .

Vorwort

Wenn wir in den folgenden Blättern den Versuch machen, den Lebenslauf eines inhaltlich, technisch und stilistisch streng begrenzten Kulturproduktes zu beschreiben, so bleiben wir uns stets bewußt, daß es sich hier keineswegs um ein organisches Gebilde, um die Evolution einer »Art« im Sinne der modernen Naturwissenschaft handeln kann, sondern lediglich um eine historische Kategorie, ein methodisches Präparat. Es ist wichtig, diesen Unterschied zu betonen, der namentlich in Frankreich (wie dem von ihm vielfach abhängigen Italien) nicht immer gewahrt worden ist, wo einer der scharfsinnigsten, aber auch einseitigsten Vorkämpfer des Evolutionismus in der Literaturgeschichte, Ferdinand Brunetière, die Lehre von den »genres« vertreten hat, als für sich

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bestehender organischer Entwicklungen, die ihren eigenen, inhärenten Gesetzen folgen und Anfang, Blüte und natürlichen Tod in sich schließen. Es handelt sich hier lediglich um drei Begriffe, die der Titel dieser Abhandlung schon einigermaßen in ihrer logischen Determinierung umschreibt: um die Kunst des Porträts, also um einen bestimmten Ausschnitt aus der allgemeinen Geschichte der Kunst, im weiteren Sinn der Kultur überhaupt, und zwar wesentlich in einer formell wie stofflich beschlossenen Einschränkung, um das Bildwerk in Rundplastik (Vollfigur und Büste), dieses endlich in einem besonderen organischen Material, in Wachs, erscheinend. Je weiter wir in diesem logischen Unterordnungsverhältnis bis zu der zuletzt genannten äußersten Staffel herabsteigen, desto klarer muß uns werden, daß das Eigenleben dieser Abstraktionen nur im Umfang des Ganzen möglich und verständlich ist. Geschichte im eigentlichen Sinne (nicht in dem der »Naturhistorie«) kann sich nur auf die wirtschaftlichen und sozialen Wechselbeziehungen, den technischen Fortschritt beziehen, wobei diesem leicht mißzuverstehenden Ausdruck jede absolute Wertbestimmung fernbleiben muß; das Kunstwerk, das seinem innersten Wesen nach individuell ist, seinen Wertmaßstab in sich trägt, nicht von außen aus der »Geschichte« oder gar aus dem Reiche platonischer Ideen entlehnen darf, soll es sich nicht selbst verlieren, dessen Charakter von einem modernen Ästhetiker (J. Cohn) glücklich mit dem Ausdruck der »Inselhaftigkeit« formuliert worden ist, kann als solches gar keine, von der innern der schaffenden Individualität abzulösende Geschichte haben, sondern nur als Kulturfirrodukt, das heißt, wenn es in den Kreis der wirtschaftlichen, sozialen, technischen Mächte dieses Lebens tritt. In diesem Sinne bitten wir also den obigen Titel aufzufassen. Von dem Einzelwert des Kunstwerks - im weitesten Sinn gesprochen - wird demnach im folgenden sehr wenig die Rede sein, desto mehr und fast ausschließlich von dem Wert und der Bedeutung, der ihm als Exponenten kulturgeschichtlicher Entwicklungsreihen eigen ist. Im besonderen handelt es sich nun um einen Kunstzweig, der heute fast nur mehr auf einem Gebiete anzutreffen ist, das der »Kunst«, wie wir sie auffassen, als formal bestimmtem und wertvollem Ausdruck der Persönlichkeit in ihrem technischen Können, nahezu ganz entrückt ist, in Jahrmarktsbuden, Friseur- und Schneiderläden, das aber mehr als zwei Jahrtausende, bis an die Schwelle unserer Zeit selbst, geblüht hat und eine merkwürdige Vergangenheit aufweist. An sich ist ja die Erscheinung nicht selten, daß ein altes Kulturprodukt in tieferen Regionen der sozialen Schichtung als »survival« eines abgelaufenen Entwicklungsprozesses weiterlebt. Manches Gerät, das seinen Ursprung im harten Daseinskampf uralter Menschheit hat, wie Schleuder, Bogen oder Klapper, ist heute in unserer Kultursphäre zum Kindertand geworden. Die alte Romanliteratur, einst Lektüre der ritterlichen Höfe des Mittelalters, lebt nur mehr in den niedersten Volksschichten der deutschen und romanischen Länder, in löschpapierenen Volksbüchlein mit grellen, bunten Umschlägen, die in Jahrmarktsbuden verkauft werden und sich noch immer, wie die Reali di Francia und Guerin il meschino in Italien oder die Bibliothèque Bleue von Épinal in Frankreich, alljährlich eines bedeutenden Umsatzes erfreuen. Ist das eine nicht unwichtige kulturhistorische Tatsache, so ist in kunstgeschichtlicher Hinsicht etwas anderes merkwürdig: die dem bildsamen organischen Materiale von Anfang an inhärente Tendenz zum Naturalismus, die sich im ganzen Verlauf der Geschichte jenes Kunstzweiges äußert, ja sie eigentlich ausmacht, eine 10

Tendenz, die in der Verwendung des direkten Abgusses über der lebenden oder toten Natur, im naturalistischen Beiwerk im weitesten Sinne gipfelt. Im Zusammenhang dieser Entwicklung handelt es sich aus inneren oder äußeren Gründen, die wir kennenlernen werden, um das bis zur letzten Grenze realistischer Wirkung getriebene Contrefait im eigentlichsten Sinne dieses Wortes; nirgends ist die bildende Kunst mehr um das Spiegelbild der Wirklichkeit bemüht gewesen, nirgends hat sie das Gleichnis vom Narziß, das die Renaissance in ihren akademischen Thesen gerne auf sie anwendet, wörtlicher genommen.

Bibliographische Note Bevor ich auf das Thema selbst eingehe, will ich eine Übersiqht der Literatur geben, soweit sie den Gegenstand zusammenfassend behandelt. Trotz ihres verhältnismäßigen Reichtums ist sie an historischen Einsichten arm und fast nur als Materialiensammlung anzusehen. Eine Ausnahme macht bloß die glänzend scharfsinnige und in der Weise ihres Autors an lehrreichen Ausblicken reiche Abhandlung Otto Benndorfs, deren ich hier mit besonderer Dankbarkeit gedenken muß: Antike Gesichtshelme und Sepulkralmasken.1 Ausschließlich das Gebiet der römischen Ahnenbilder betreffen die folgenden Aufsätze. Als erster ist G. E. Lessing zu nennen in einer gegen seinen ewigen Gegner Klotz gerichteten Streitschrift: Über die Ahnenbilder der Römer. 2 Allgemein und im ganzen vortrefflich orientieren über dieses Teilgebiet, unter Benützung aller einschlägigen Spezialliteratur, die Artikel in Darenberg-Saglios Dictionnaire des antiquités III, 403 (image); Marquardt, Privatleben der Römer, 2. Auflage, I, 241 f.; Blümner, Technologie und Terminologie des Gewerbes und der Künste bei Griechen und Römern II, 155 f. Das Gesamtgebiet der Wachsplastik vom Altertum bis auf die Neuzeit herab ist von ein paar modernen französischen Autoren behandelt worden, freilich in rein antiquarischer Weise, durchaus vom Standpunkte der Curiosité, in dem heute noch gangbaren Sinn des französischen Ausdruckes. Die beste und gründlichste dieser Arbeiten ist die von Spire Blondel, Les modelleurs en cire.3 Sie ist von Le Breton, La sculpture en cire, im Text zur Publikation der Kollektion Spitzer V, 163 f. großenteils ausgeschrieben und durch einige Details vermehrt worden. Eine zweite Gesamtdarstellung, in historischer Hinsicht ebensowenig genügend, ist von E. Molinier in seiner Histoire des arts appliqués à l'industrie, vol. II: Les cires, p. 219f., versucht worden. Einzelne speziellere Arbeiten werden gehörigen Orts im Texte herangezogen werden.

Wachskopf aus einem Grabe von Cumae (Museum in Neapel)

I.

KAPITEL

Entwicklung seit dem Altertum Die Funeralplastik

An zwei Punkten religiös bestimmten Kulturlebens hat die in graue Vorzeit zurückreichende Kunst der Keroplasten eingesetzt; in beiden erweist sie sich als Trägerin transzendenter Gedanken, die aus der sinnlich gegebenen Welt des Menschen in eine hypostasierte jenseits seiner Sinne hinüberreichen. Sie betreffen das Verhältnis des Lebenden zur Gottheit und des Toten zum Jenseits, wie zur Mit- und Nachwelt, sind Materialisationen im Bereiche des Votivglaubens und des Leichenrituals. Auf beiden Gebieten handelt es sich um nahe verwandte Vorstellungsreihen primitiven Seelenlebens. Nicht nur in der Phantasie des Semiten, die diese Dinge am weitesten getrieben hat, haftet am Abbild des Menschen ein dämonisches Element. Es ist 13

bekannt, daß nach der Überzeugung der Korangläubigen jedes in eitlem Wahn gemachte Bildnis am jüngsten Tage seine Seele vom Maler fordern wird, der, unvermögend dieser Forderung zu genügen, dann in die Hölle gestürzt wird; denn Gott läßt es nicht zu, daß man seiner Schöpfung so nahe komme, ohne ihr doch den Hauch des Lebens einblasen zu können. Mit den zuletzt angeführten Worten umschreibt diese Anschauung ein Gesandter des Bey von Tripolis, der 1704 in Paris weilt und dort nach seiner Weise einer höchst naturalistischen Wachsbüste der Herzogin von Noailles, von der Hand des damals hochberühmten und geschätzten Benoist, eine aus Abscheu und Bewunderung seltsam gemischte Anerkennung zollt. 4 Aus diesem Empfinden des Dämonischen heraus erklärt sich die Vorstellung, daß der Feind am sichersten durch Bildzauber zu treffen sei; und gerade das bildsame Wachs hat sich auch diesem Zwecke seit jeher gefügig erwiesen; die Beispiele, die man vom grauesten Altertum bis auf unsere Tage herab anführen könnte, sind Legion. Noch in der Renaissance geben französische Prozeßakten Aufschluß über dergleichen magische Praktiken, die auch einen ganz bestimmten technischen Terminus haben: envoultement und envoulter (abgeleitet von vultus, vgl. Ducanges Glossar s. v.).5 Das Wort ist charakteristisch, weil es sich auf das Angesicht als die Akme des physischen Lebens bezieht. Aus frühem Mittelalter, ja schon aus römischer Zeit (worüber später) ragt in das Florenz der vollen Renaissance die Prostitution und Exekution des Staatsfeindes, dessen man nicht habhaft werden konnte, »in effigie« hinein. Es sind Künstler von Namen und Ruf, wie der sogenannte Giottino im 14.,6 wie Andrea del Castagno und Paolo Romano (siehe unten) im 15., Andrea del Sarto im 16. Jahrhundert, die es nicht verschmähten, ihre Kunst derart in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen; Castagno verdankt dem bekanntlich in seiner stets der Spottsucht zugeneigten Vaterstadt den Spitznamen des »Galgenmalers«. 7 Das Leben des Kunstwerkes und ganz besonders des Porträts ist ja einer der primitivsten Concetti, mit dem sich naive Beschauer der Schöpfung des Künstlers gegenüber am ersten und leichtesten abzufinden pflegen. Dergleichen zieht sich seit der Antike, genährt durch stets forterzählte Künstleranekdoten, in alle Folgezeit hinein. Kommt nun noch das künstlerische Produkt selbst durch weitgediehenen Naturalismus solch tief eingewurzelter Anschauung entgegen, so treibt dieser Dämonismus, der sich am naivsten in den gefesselten Tempelstatuen des uralten Kunstheros Dädalos zeigt,8 mitunter gar wunderliche Blüten. Aus der vollen Höhe hellenischer Kultur und Kunst ist uns durch Lukian 9 die sonderbare Geschichte eines durch seinen ausgesprochenen Realismus besonders auffälligen Werkes des Demetrios von Alopeke, eines griechischen Quattrocentisten, überliefert, das, wie aus einem Briefe des jüngeren Plinius hervorzugehen scheint, noch in der Kaiserzeit in Bronzenachbildungen verbreitet war. 10 Die Statue des alten korinthischen Feldherrn Pelichos, von der hier die Rede ist, erwacht nächtlicher Weile zu allerhand spukhaftem Unheil, aber auch Segen stiftendem Treiben. Von diesen Voraussetzungen aus kommen wir den eigentümlichen Anschauungen, die das Gebiet der Wachsporträts überall durchsetzen, um einen Schritt näher. Wir brauchen nicht auf das alte Ägypten und seine Toten, die als Mumien in unseren Museen weiterschlafen, zurückzugehen, um den Gedanken zu verstehen, daß die Persönlichkeit, in materiellster Weise, auch im Grabe erhalten bleiben soll. Diese Erhal-

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tung, die von superstitiösen Gedankenreihen der verschiedensten A r t begleitet wird, bezieht sich aber vor allem auf den wesentlichsten, ausdrucksvollsten Teil des Körpers, auf das Gesicht, also auf das Porträt im engsten Sinne gefaßt, das, wie wir gesehen haben, auch im Bildzauber eine besondere Rolle spielt. Daher die in ältestes Altertum zurück zu verfolgende Sitte der Totenmasken, die Benndorf in der angeführten A b h a n d lung beleuchtet hat; sie sind nicht nur aus asiatischer und von dorther beeinflußter griechischer Urzeit erhalten, aus Ägypten, Ninive, Mykene, sondern selbst aus einem historisch ganz getrennten Gebiet der Neuen Welt, aus Altmexiko - ein Beweis, daß es sich um einen ursprünglichen und allgemeinen Kulturbesitz der Menschheit handelt. Dieser älteren und primitiveren Anschauung genügt vorerst das typische Bildnis, die Maske, der das Merkmal des Porträts in unserem Sinne, die Verwendung des naturale nach dem Sprachgebrauch der Renaissance, noch abgeht. In einem höchst scharfsinnigen Aufsatze: »Über einige psychologische Voraussetzungen der naturalistischen Kunst«, 1 1 hat H. Gomperz dargelegt, wie die dem Bilde innewohnend gedachte Idee allmählich über die ursprünglich rein symbolische Bildform hinauswächst und sich zu verflüchtigen droht, wenn diesem Prozesse der »Entbildung« nicht durch eine sich steigernde Verähnlichung entgegengearbeitet wird; ein Prozeß, der im Porträt besonders deutlich zu beobachten ist. In unserem speziellen Fall führt er von der rein piktographischen Andeutung, als Anweisung auf die Phantasie des Beschauers, die alles Individuelle selbsttätig zu ergänzen hat, zum völligen Siege der absoluten, individuellsten Bildform in F o r m von Naturabguß (und Photographie), bei der die Mitwirkung des Beschauers auf das mindeste M a ß reduziert ist, von der »subjektivsten« zur »objektivsten« Bildform, wäre man versucht zu sagen, wären diese Ausdrücke nur nicht gar so zweideutig. Diese Entwicklung - in psychologischer, nicht in historischer Abfolge, zu der unser Denkmälervorrat nicht ausreicht, um so weniger als die Reihen sich vielfach durchschneiden, retardiert sind oder abreißen, - diese Entwicklung läßt sich nun an den von Benndorf behandelten Sepulkralmasken sehr schön verfolgen. Von ganz primitiven Bildungen, wie den Schliemannschen Funden in Mykene oder den aus Chiusi stammenden magisch tätowierten Terrakottamasken, 1 2 geht dieser Weg über den Idealstil der antiken Kunst in seinen verschiedenen Phasen' 3 zu sehr bemerkenswerten realistischen Produkten. Die merkwürdigsten darunter sind der mit gemäßigtem Naturalismus gebildete (getriebene) Gesichtshelm aus Semendria im Museum von Belgrad,' 4 in dem Benndorf eine griechische Arbeit des ι. Jahrhunderts v. Chr. vermutet; dann die Goldmaske einer griechisch-skythischen Fürstin aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., aus einem Tumulus von Kertsch stammend (jetzt in der Petersburger Eremitage), bei der schon die Anlehnung an einen Naturabguß deutlich hervortritt;' 5 endlich der zweifellos nach einer Totenmaske überarbeitete Bronzeguß, schon technisch bemerkenswert als der einzige der Reihe, im fürstlich Waldeckschen Museum zu Arolsen,' 6 der mit großer Treue die Gesichtszüge eines Römers der ersten Kaiserzeit wiedergibt. Die Maske trägt trotz der Bearbeitung durch den Bronzebildner deutlich einen hippokratischen Z u g , namentlich in der rechten Wangenpartie, und ist den zahlreichen Renaissancemasken dieser Art durchaus an die Seite zu stellen.

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Bronzemaske im fiirstl. Waldeck'schen Museum zu Arolsen, (s. S. 15)

Bronzemaske in Arolsen (Profil). (s.S. 15)

D a s S e l t s a m s t e , d a s u n s a b e r die G r ä b e r d e r A n t i k e in dieser B e z i e h u n g a u f b e h a l t e n h a b e n , ist d e r i m M u s e u m z u N e a p e l b e w a h r t e W a c h s k o p f (s. A b b . S. 1 3 ) . 1 7 I m J a h r e 1 8 5 2 w u r d e n in e i n e m r ö m i s c h e n G r a b e z u C u m a e z w e i S k e l e t t e , m ä n n l i c h u n d w e i b lich, g e f u n d e n , die, w i e a u s d e n F u n d b e r i c h t e n h e r v o r g e h t , a n Stelle d e r f e h l e n d e n Schädel W a c h s k ö p f e hatten, mit Pupillen aus b u n t e m G l a s u n d Spuren v o n natürlic h e m H a a r . N u r d e r eine m ä n n l i c h e k o n n t e k o n s e r v i e r t w e r d e n , d e r a n d e r e zerfiel a n O r t u n d Stelle. Ü b e r d e n F u n d existiert eine reichliche K o n t r o v e r s e n l i t e r a t u r , die O . Jahn in d e r » A r c h ä o l o g i s c h e n Z e i t u n g « 1 8 6 7 , 85, z u s a m m e n g e s t e l l t h a t . D i e w a h r scheinlichste E r k l ä r u n g d ü r f t e i m m e r n o c h die v o n J a h n g e g e b e n e sein, d a ß es sich u m ein b e s o n d e r e s

Beispiel r ö m i s c h e r

Bestattungsgewohnheiten

handelt, von

denen

s o g l e i c h die R e d e sein soll. J a h n h a t a u c h die B e n ü t z u n g d e r T o t e n m a s k e w o h l b e m e r k t u n d h e r v o r g e h o b e n . D a d u r c h r ü c k t dieses m e r k w ü r d i g e T o t e n p o r t r ä t als e i n z i g e s a u s d e m A l t e r t u m ü b e r k o m m e n e s Beispiel d u r c h T e c h n i k u n d Stil a n die S p i t z e u n s e r e r Untersuchung, wenn auch, wie Ruesch bemerkt, neuerdings v o r g e n o m m e n e chemische U n t e r s u c h u n g e n das M a t e r i a l nicht mehr mit Sicherheit festzustellen v e r m o c h t haben. D i e b i s h e r b e s p r o c h e n e n F u n d e setzen s c h o n die B e k a n n t s c h a f t m i t d e m A b g u ß ü b e r d e r l e b e n d e n o d e r t o t e n N a t u r u n d d e s s e n V e r w e n d u n g in d e r P o r t r ä t p l a s t i k v o r -

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aus. Das ist nun etwas, das dem Wesen der älteren hellenischen Kunst durchaus widerstrebt, die, wie bekannt, das individuelle Porträt überhaupt abgelehnt hat, aus Gründen, die tief im Ethos der echten alten hellenischen Polis verborgen liegen. Wohl aber macht sich seit dem vierten Jahrhundert ein merkwürdiger Vorstoß zu naturalistischen Tendenzen geltend; von der Kunst des Demetrios von Alopeke war schon früher die Rede. Nun bringt Plinius aus älterer griechischer Quelle einen merkwürdigen Bericht über den Bruder des großen Bildners Lysipp, Lysistratos, von dessen Richtung, wie Winter' 8 meint, das Demosthenesporträt mit seinen »zerrissenen Zügen« eine Vorstellung vermitteln kann. Plinius' Worte sind:' 9 »Hominis autem imaginem gypso e facie ipsa primus omnium expressit ceraquè in earn formam gypsi infusa emendare instituit Lysistratus Sicyonius, frater Lysippi,... similitudines reddere instituit; ante eum quam pulcherrimas facere studebant.« 20 Diese Stelle hat, abgesehen von ihrem Tatsachengehalt, eine allgemeine methodische Bedeutung; die Ricorsi menschlicher Bestrebungen, um mit Vico zu reden, bestätigen sich auch hier. Plinius oder vielmehr sein griechischer Gewährsmann will den Umschwung charakterisieren, der von der älteren Kunst mit ihrer Richtung auf das typisch Schöne zur jüngeren mit ihrer Tendenz zum individuell Charakteristischen hin eintrat; es entspricht dem Wesen der älteren Historiographie, allgemein kulturhistorische Entwicklungen individuell zu fixieren: eine Sache, die einer an sich richtigen Einsicht in den Individualismus und Singularismus des Kunstschaffens entspringt, im besonderen Fall aber zur Mythologie der »Erfinder« geführt hat. Ganz in derselben Weise beschreibt, wie wir noch sehen werden, später Vasari den Naturabguß und die angeblich an ihn sich knüpfende Verbreitung der Totenmaske wie der von ihr abhängigen realistischen Büste als eine spontane Erfindung Verrocchios. Den Griechen der hellenistischen Zeit ist also, das dürfen wir trotz der pragmatischen Konstruktion der Pliniusstelle als gesichert annehmen, dieses Verfahren bekannt gewesen; das Gewerbe des »κη ροπλάστης« spielte im griechischen Altertum denn auch eine gewisse Rolle. Gleichwohl hat es nicht bei ihnen, aus deren Mitte das höchste und gewaltigste, ganz Europa unterjochende Beispiel der Typik, Piatos Ideenlehre, hervorgegangen ist, seine volle Entwicklung gefunden, sondern bei den Römern, die, auf einer ganz anderen ethnischen Grundlage - der etruskischen - fußend, jene großartige naturalistische Büstenkunst entwickelt haben, die sich in ihrem nationalen Ethos so scharf von jener der Griechen abhebt und die erst in nachdiokletianischer Zeit wieder durch das ideale und typische Porträt verdrängt worden ist. 21 Dabei handelt es sich nicht so sehr um die offizielle und meist konventionelle Kunst der Kaiserbüsten als um den Porträtstil des anonymen bürgerlichen Milieus, von dem kaum anderwärts eine bessere Vorstellung zu gewinnen ist als in der Jacobsenschen Glyptothek in Kopenhagen. Wir werden uns hiebei nochmals erinnern, daß Rom auf altetruskischem Boden steht und daß im besonderen die Grabplastik der alten Toskaner wie die ihrer Nachfahren im Quattrocento das Äußerste an Realismus erstrebt und erreicht hat. Jedermann weiß, daß es sich hier um die Cerae (effigies) der römischen Patrizierhäuser handelt; der merkwürdige Realismus der römischen Porträtbüsten, der zweifellos auf besonderer Veranlagung beruht, ist zwar nicht aus jenem nationalen Brauche herzuleiten, wohl aber steht er damit in innerer Verbindung und hat von dieser Seite her 17

Togastatue im Palazzo Barberini zu Rom (nach Arndt).

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ausgiebige Förderung erhalten. Die französische Grabplastik des 14., die toskanische des 15. Jahrhunderts wird uns weitere Belege für dieses Verhältnis liefern. Jene Ahnenbilder des römischen Patriziats waren an der würdigsten Stelle des Hauses, im Atrium oder in den A l a e (Vitruv VI, 3, 6) aufgestellt, zum Teil in Schränken (Armaria), von denen uns antike Reliefs 22 noch eine Vorstellung vermitteln, mit einer Unterschrift (elogium, titulus) versehen, in deren Herstellung sich namentlich die Eleganz des Atticus (Corn. Nepos 18) bewährte. Ihre Form läßt sich noch mit ziemlicher Sicherheit erschließen; nicht nur aus antiken Denkmälern, 2 3 sondern vor allem aus jenen oben erwähnten Totenmasken. Denn es handelt sich aus Gründen, die mit dem Ursprung der Sache innig zusammenhängen, zum mindesten in späterer Zeit um den wenigstens seit den Tagen des Lysipp bekannten und geübten Naturabguß, dessen Matrize im Atrium bewahrt worden sein muß. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, daß die Frau dem Manne die Bilder ihrer Ahnen zubrachte, daß der Schauspieler bei dem feierlichen patrizischen Leichenzug in der Maske des Ahnen tragierte. Die Effigies der Ahnengalerie selbst aber haben wir uns nach Benndorfs einleuchtender Vermutung als in Büstenform nach dem Naturabguß überarbeitet - also ganz wie die Bronze- und Tonbüsten dieser A r t in der italienischen Renaissance - vorzustellen; sie waren realistisch bemalt, 24 zuweilen wohl auch (wie im Leichenpomp) mit wirklichen Stoffen drapiert; 25 nach Analogie der Maske von Cumae ist endlich die Verwendung von Glasaugen und natürlichem Haar nicht ausgeschlossen, so daß sie das genaue Gegenbild der Wachsbüsten des 17. und 18. Jahrhunderts darstellen. Ich setze die anschauliche und knappe Darstellung hierher, die der konservative und für die nationale Vergangenheit begeisterte Plinius vom römischen Adelshause entwirft, als ein Gegenbeispiel zu der lebhaft beklagten Decadence seiner Zeit, wobei wir die Hervorhebung größter Porträttreue (quam maxume similes ... figurae) besonders anmerken wollen; seine in kunsthistorischer Beziehung sehr merkwürdige Jeremiade über den Verfall der Bildniskunst gehört auf ein anderes Blatt. Plinius sagt: 26 »Aliter apud maiores in atriis haec erant quae spectarentur, non signa externorum artificum, nec aera aut marmora; expressi cera voltus singulis disponebantur armariis, ut essent imagines quae comitarentur gentilicia fuñera, semperque defuncto aliquo totus aderat familiae eius qui umquam fuerat populus.« In der Antikensammlung des Palazzo Barberini zu Rom befindet sich die merkwürdige Togastatue eines edlen Römers etwa aus dem Beginn der Kaiserzeit; in beiden Händen hält er (die in Wachs zu denkenden) vortrefflich modellierten Imagines von zwei Ahnen, auf die er besonders stolz gewesen sein mag. 2 7 A n diesen Cerae hängt das wichtige Jus imaginum, das mindestens in späterer Zeit unserem heutigen Briefadel zu vergleichen ist. Cicero (II. or. in Verrem V, 14) zählt unter den Ehrenrechten der Ädilität das »Jus imaginis ad memoriam posteritatemque prodendae«. auf. A b e r das ist nicht das eigentliche Fundament des Brauches. Schon Lessing hat mit gewohntem Scharfsinn gegen K l o t z hervorgehoben, daß die Dauer weder das einzige noch das erste, was die Römer von ihren Ahnenbildern verlangten, gewesen sei. Nicht die Überlieferung an die Nachwelt ist das Primäre, das ist ein viel später, als die Sitte fest geworden war, hinzutretender Gedanke; das Ursprüngliche ist die Forderung möglichster Lebenstreue, die eben, wie Lessing in seinem leider unvollendet gebliebenen Aufsatz, vielleicht auch aus seiner eigenen Zeit heraus beweisen wollte, gerade

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durch die Wachstechnik verbürgt ist. Diese Eigenheit ergibt sich aus dem Ursprung der Cerae aus patrizischen Bestattungsgebräuchen, die ihrerseits wieder, wie wir sahen, in ältestes Altertum zurückreichen, in den Zeremonien der Kaiserzeit aber, nach Benndorfs glücklichem Ausdruck, den »Charakter einer grandiosen Versteinerung« an sich tragen. Ist auch das Jus imaginum und die Porträtgalerie des Atriums nicht vor das 4. Jahrhundert v. Chr. zurückzuverfolgen, so ist die Verwendung der Imagines im Leichenritual sicher weit älter; sie ist schon aus republikanischer Zeit sicher überliefert; 28 und die rauch- und altersgeschwärzten Imagines, die bei den Alten nicht selten erwähnt werden (Juvenal VIII, 8: fumosae imagines), lassen ebenfalls auf das hohe Alter der Sitte schließen; als einen alten und ehrwürdigen Gebrauch stellt endlich auch Tacitus (Annal. III, 3) die Sache dar, wenn er bei dem von Tiberius vernachlässigten Leichenbegängnis des Germanicus schmerzvoll ausruft: »ubi veterum instituía, propositam toro effigiem?« Vor allem kommt hier aber der sachliche und anschauliche Bericht eines Zeugen des 2. Jahrhunderts v.Chr., des Historikers Polybios, in Betracht, der jenes Zeremoniell als vollständig ausgebildet schildert 29 ; ich setze die Stelle in der Übersetzung Lessings 30 hierher: »Nur Eins will ich anführen, um aus diesem Beyspiele abzunehmen, wie sehr die Römer darauf bedacht sind, daß man im männlichen Alter dazu gewöhnt sey, alles geduldig zu ertragen, um nur in seinem Vaterlande einen ruhmvollen Namen zu erlangen. Denn so oft unter ihnen irgend ein berühmter M a n n diese Welt verlassen hat, wird er bey seiner Leichenbestattung, außer andern Ehrenbezeigungen, auf den Rednerplatz, wie sie es nennen, herausgetragen, zuweilen stehend, damit ihn Jedermann sehen könne, seltner liegend. Hier steht das ganze Volk versammelt umher, und sein Sohn, wenn er einen schon herangewachsenen Sohn nachgelassen hat, und dieser zugegen ist, oder einer von seinen Blutsverwandten, besteigt die Rednerbühne, und hält eine Lobrede auf den Verstorbenen, worin er die von ihm in seinem Leben verrichteten edlen Handlungen erwähnt. U n d so geschieht es, daß das ganze Volk sich an das Geschehene lebhaft erinnert, sich es wieder vor Augen stellt, und so innig davon gerührt wird, daß die Trauer mehr öffentlich, als bloß dem Geschlechte des Verstorbenen eigen zu seyn scheint. Hierauf bestatten sie die Leiche des Verstorbenen; und hernach stellen sie sein Bildniß an dem scheinbarsten Orte des Hauses auf, und schließen es in hölzerne Schreine ein. Dies Bildnis aber ist das Antlitz des Verstorbenen mit ganz vorzüglicher Aehnlichkeit gearbeitet, sowohl der Form, als der Unterschrift nach. Dergleichen Bilder aber tragen sie auch bey öffentlichen Opferfeyerlichkeiten umher, und schmücken sie aufs schönste. Wenn aber irgend ein angesehenes Mitglied des Hauses stirbt, so tragen sie das Bild mit zum Leichenbegängnis, und bekleiden es so, wie es seiner G r ö ß e und seinem Range gemäß ist. War es ein Feldherr oder ein Konsul, so legen sie ihm eine Prätexta an; war es ein Censor, so geben sie ihm ein Purpurgewand; hatte er einen Triumph gehalten, oder sonst etwas Ruhmvolles gethan, so giebt man ihm ein goldgewirktes Kleid. U n d so fährt man es auf einem Wagen, und läßt die Fasces, Beile und andere dergleichen Ehrenzeichen vorantragen, nach Verhältniß der Würde, die er bey seinen Lebzeiten bekleidete. Ist man nun auf den Rednerplatz gekommen, so setzt man sie alle nach der Reihe auf elfenbeinerne Sessel; und schöner kann für einen ehrliebenden und edelmüthigen Jüngling kein Anblick seyn. Denn die Bilder solcher Männer zu sehen,

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die durch Tugend berühmt worden sind, und sie wie lebend und beseelt vor sich zu sehen, ist ohne Zweifel das edelste Schauspiel.« Die Ahnengalerie ist also das Sekundäre, an der Spitze der Entwicklung steht vielmehr das Porträt des Toten, dazu bestimmt, die Persönlichkeit über den leiblichen Tod hinaus zu bewahren; die Magie des Bildnisses tritt in Wirksamkeit - nach dem, was wir früher ausgeführt haben, - durch möglichste Lebenstreue. Diese Lebenstreue enthält jedoch das unausweichliche subjektive Moment. O b wir von der my kenischen Maske oder dem durch alle möglichen Mittel gesteigerten Naturabdruck der Kaiserzeit ausgehen, die Summe bleibt immer konstant; variabel sind nur die beiden Größen, aus denen sie resultiert, die Phantasie des Beschauers und die Technik des Künstlers, Eindruck und Ausdruck. Durch die - im Gegensatz zu hellenischem Brauche - lang dauernden Bestattungsfeierlichkeiten (das Novemdial) der patrizischen Kasten Roms war die Notwendigkeit, zunächst das Gesicht der Leiche zu konservieren, gegeben; diese Herrichtung lag einem eigenen Handwerker, dem Pollinctor, 31 ob, ein Gewerbe, das, nebenbei gesagt, heute noch existiert; wann der Schritt geschehen ist, von der einfachen symbolischen oder naturalistischen Totenmaske, mit der der Tote begraben oder verbrannt wurde, zur ganzen Darstellung des Toten in effigie selbst überzugehen, mit K o p f und Extremitäten aus Wachs an Akrolithen oder Puppen, die mit den Feierkleidern angetan waren, wissen wir nicht. A b e r schon die republikanische Zeit hat den Totenpomp gekannt, bei dem der Populus der Ahnen, wie Plinius drastisch sagt, dem Toten das Geleit gab; es muß ein merkwürdiges Schauspiel gewesen sein, wenn dieser feierliche Z u g auf dem Forum Platz nahm. Es ist eine höchst treffende Bemerkung Benndorfs, daß der »schwarze Ritter«, der bei uns noch Leichen hoher Militärs zu folgen pflegt, nichts anderes als ein gar nicht mehr verstandenes Survival ältester Tage ist, w o der Statist in der Maske den Verstorbenen tragierte. In grandioser Feierlichkeit hat die römische Kaiserzeit diese altrepublikanischen und patrizischen Sitten in ihren Exequien und Apotheosen entwickelt. Griechische Historiker der Kaiserzeit haben uns die detailliertesten Schilderungen dieses Prunkes hinterlassen. Der zeitlich am weitesten hinaufreichende Bericht über die Bestattung Caesars ist in mancher Beziehung auch der merkwürdigste; es ist zwar ein später Zeuge des 2. Jahrhunderts n. Chr., Appian (De bello civili II, 147), der hier zu Worte kommt; er hat aber sicherlich alte Quellen benützt. Die nächstfolgenden Nachrichten führen uns die Konsekrationsgebräuche der römischen Kaiserzeit, wie sie noch im 3. Jahrhundert n.Chr. üblich waren, vor. Dio Cassius berichtet an zwei Stellen seiner römischen Geschichte von der Totenfeier des Augustus (Historia Romana L V I , 34) sowie - als Augenzeuge - über den dem ermordeten Pertinax lange nach dessen Tode durch Septimius Severus (193 n.Chr.) veranstalteten Leichenpomp ( a . a . O . L X X I V , 4). Der jüngste, aber ausführlichste Bericht handelt von der Apotheose des Septimius Severus selbst (211) und ist durch Herodian ( A b excessu divi Marci IV, 2) überliefert. A p p i a n II, 147 (Übersetzung von Dillenius): »Schon waren sie in dieser Stimmung nahe daran Gewalt zu brauchen, als Jemand die Statue Caesar's, aus Wachs geformt, über dem Lager emporhielt; denn der Leichnam war auf dem Lager so zurückgelegt, daß man ihn nicht sehen konnte. Die Statue wendete sich durch eine Vorrichtung nach 21

allen Seiten; man sah an ihr die dreiundzwanzig Wunden, die sie ihm in wilder Wuth an allen Theilen des Körpers, sogar in's Gesicht beigebracht hatten. Dieser Anblick schien dem Volke so bejammernswürdig, daß sie ihn nicht länger ertrugen; sie seufzten laut auf, umgürteten sich und verbrannten das Rathhaus, worin Caesar ermordet worden war.« 32 Dio Cassius LVI, 34 (Übersetzung von Tafel): »Hierauf folgte die Leichenbestattung des Augustus. Sein Prachtbett war von Elfenbein und Gold und mit purpurnen, golddurchwirkten Decken geschmückt. Auf demselben lag etwas niedriger in einem Sarge die Leiche verhüllt, dagegen war sein Brustbild aus Wachs, mit Triumphgewand umhängt, zu schauen. Dieses wurde von den auf's nächste Jahr designirten Beamten, ein anderes, goldenes, aus der Curie hingetragen, ein drittes auf einem Prachtwagen geführt. Diesen folgten andere von seinen Ahnen und seinen anderen verstorbenen Verwandten (außer dem Bilde des Caesar, da derselbe unter die Zahl der Halbgötter versetzt war) so wie auch von anderen Römern, die sich auf irgend eine Weise ausgezeichnet hatten, bis auf Romulus selbst zurück. Selbst ein Brustbild Pompejus des Großen war zu sehen. Auch Abbildungen all der Völker, die er unterworfen, wurden, in ihrer Landestracht gemalt, mit aufgeführt.« 33 Dio Cassius LXXIV, 4 (Übersetzung von Tafel): »Des Pertinax Leichenbegängniß ward, obgleich er schon lange todt war, auf folgende Weise abgehalten. Auf dem Römermarkt ward ein hölzernes Gerüste, mit Steinfarbe getüncht, errichtet und auf ihm ein Häuschen ohne Wände, mit Säulen umher, mit Elfenbein und Gold ausgelegt. In dieses ward das Paradebett von gleichem Stoffe gebracht, an welchem rings herum Köpfe von Land- und Seethieren zu sehen waren; und umhängt war es mit purpurnen und goldgestickten Decken. In dem Bette lag ein wächserner Scheinleib des Pertinax im Triumphgewand, von dem ein Knabe, als ob er nur schliefe, mit einem Pfauenwedel die Fliegen scheuchte. Wie er so da lag, traten Severus, wir Senatoren und unsere Frauen im Trauerkleid hinzu. Diese nahmen in den Säulengängen und wir im Freien Platz. Nun kamen die Brustbilder aller ausgezeichneten Römer der Vorzeit, dann Chöre von Knaben und Männern, die einen Trauergesang zu Ehren des Pertinax anstimmten. Ihnen folgten Abbildungen aller Provinzen des Reiches in Erz, in ihrer Landestracht, und die verschiedenen Klassen des Stadtvolks, die Liktoren, die Schreiber, die Ausrufer und dergleichen mehr. Nach ihnen kamen die Brustbilder anderer Männer, die sich durch irgend eine That, eine Erfindung oder ein Kunstwerk ausgezeichnet hatten. Hinter diesen folgten gewappnet die Krieger zu Pferd und zu Fuß, die Rennpferde und die Entaphien, welche der Kaiser, wir Senatoren, unsere Frauen, die angeseheneren Ritter, die Städte und die Collégien in der Stadt gespendet hatten, und das Ganze schloß ein vergoldeter Altar, der mit Elfenbein und indischem Gesteine geschmückt war.« 34 Herodian IV, 2 (Übersetzung von Jacobs): »Es ist nämlich bei den Römern gebräuchlich, daß diejenigen Kaiser, die in ihren Söhnen Nachfolger hinterließen, nach ihrem Tode göttliche Ehren erhalten, und diese Handlung nennen sie >ApotheoseΙ(Τ!ΙΛΙΓΓ OL M U SI [AVI Τ , TRESPVVi.VANT.TREJfÄ'ELLEJIT PRINCE, HENRY LE GRANU ta or,!«.- Je DlEV Roy de Iraner 8cdcXaudrre,TrcPChreftii-M T r c & W u f t c TirfV.ctoneux,et

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Chambre mortuaire Heinrichs IV. (nach einem Stich von I. Briot). (s. S. 37)

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encore devant la grande porte de l'église, revêtus tous deux de leurs habits ordinaires, poignardés en plusieurs endroits, et sur leur visage et sur leur corps.« Die Figur des völlig gerüsteten D u c de Guise erinnert an die gleichzeitigen Votivbilder in den Kirchen, von denen noch die Rede sein wird. Eigentümlich ist die Nachricht, die in einem kurzen Artikel von Didrons Annales archéologiques X X (i860), 286, jedoch ohne Quellenangabe mitgeteilt ist. Es handelt sich um die feierliche Restitutio in integrum, die die weltliche Gerichtsbarkeit in Kapitalfallen, nachdem der irdischen Gerechtigkeit L a u f gelassen worden war, der Kirche gegenüber zu leisten gebunden war. »Lorsque l'autorité séculière, croyant se conformer aux lois, condamnait au dernier supplice des clercs reconnus coupables, les evêques, aussi bien que l'Université (pour ses écoliers) obtenaient, presque constamment, qu'au jour de l'amende honorable (der feierlichen Ehrenerklärung) les effigies en cire des suppliciés fussent portées solennellement, au nom des magistrats qui s'étaient constitués leurs juges.« Das oben geschilderte »Service« hat sich am französischen Hofe bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts gehalten. Bei dem 1683 erfolgten Tode der Gemahlin Ludwigs X I V . , Maria Theresia von Spanien, kam es nicht mehr zur Anwendung; der Brauch war eben altmodisch geworden und paßte in seiner naiven Altertümlichkeit nicht mehr recht in das herannahende Zeitalter der Aufklärung und der Enzyklopädie. D a f ü r hat er sich an zwei anderen, durch ihren Konservativismus bemerkenswerten Stellen bis an die Schwelle der neuesten, durch Napoleons Namen bezeichneten Periode gehalten. Einmal in Venedig. Dort war mindestens seit dem 17. Jahrhundert ein ganz analoges Zeremoniell namentlich für die Leichenfeier der Dogen üblich 84 und ist mit steigender Prachtentfaltung bis zum Ende der Republik, 1797, beibehalten worden. Das Zeremoniale der Dogen 8 5 gibt ausführliche Angaben. Die wächserne »Statua« des Toten wird in dem prächtigen altertümlichen Ornat mit dem »Stocco« in der Rechten durch drei Tage in der Sala del piovego des Dogenpalastes ausgestellt; die Herrichtung obliegt dem »nonzoli« von S. M a r c o unter Leitung des herzoglichen Zeremonienmeisters. Es ist wahrscheinlich, daß der naturalistische Wachskopfeines D o g e n aus dem 18. Jahrhundert, Alvise IV. Mocenigo ( 1 7 6 3 - 1778), der im Tesoro der Scuola di S. Rocco gezeigt wird, einen derartigen Ursprung hat; andere, eigentliche Totenmasken in Wachs, gleichfalls aus dem 18. Jahrhundert, bewahrt die Raccolta Correr des Museo Civico in Venedig. Auch hier war der Gebrauch nicht auf die Person des Oberhauptes der Serenissima eingeschränkt. Die Leichenfeier eines hohen Funktionärs, des 1713 verstorbenen Cancelliere grande Businelli, wurde in ganz ähnlicher Weise begangen. 86 Es läge nahe, hier, an einer der konservativsten Stätten der Welt, w o sich in der ganz singulären Abgeschlossenheit der Lagunen Urältestes aus byzantinischer, römischer, ja vorrömischer Zeit erhalten hat, ein hohes Alter auch für diesen Brauch zu vermuten; aber diese Hoffnung geht fehl, die Berichte sind sehr jungen Datums, das Ganze möglicherweise ein Import von außen. F. Sansovino, der das Zeremoniell in seiner Venezia descritta (1581) genau schildert, sagt von einer »Statua« noch kein Wort, ohne daß aus diesem Schweigen allerdings ein sicherer Schluß zu ziehen wäre; für die älteste Zeit ist die Sache aber wohl gänzlich auszuschließen, zumal da Sansovino ausdrücklich bemerkt, daß die Begräbniszeremonien der Vorzeit sehr einfach waren, die Beerdigung

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Kopf des Dogen Alvise IV. Mocenigo ( Tesoro di S. Rocco J. (s. S. 39)

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- übereinstimmend mit dem allgemeinen Brauch - sehr rasch, gewöhnlich schon am nächsten Tage stattfand. D o c h ist ein sehr merkwürdiges zeitgenössisches Programm über die in S. Luca zelebrierte Totenfeier Tizians (1576) durch Ridolfi 8 7 erhalten, das die wahrhaft fürstlichen Ehren schildert, wie man in diesem Fall mit besonderem Nachdruck sagen kann, die dem Patriarchen der Malerei von der venezianischen Künstlerschaft erwiesen wurden. A u f dem Katafalk ruhte die »Statua« des Toten im ritterlichen Ornat (Nel seno di essa tribuna, sarà il feretro... in cui poserà la Statua di Tiziano, in habito di Cavaliere con lo stocco dorato a canto i sproni a piedi). Die Sache mag sich durch die damals wütende Pest, der Tizian bekanntlich erlegen ist und die eine rasche Bestattung des Leichnams (bei den Frari) erheischte, einigermaßen erklären; auffallend bleibt sie immerhin. Es ist im ganzen das Zeremoniell, das nur bei den Dogen vorkommt, und der Ausdruck »statua« ist, wie wir gesehen haben, dort auch der ständige Terminus technicus. Bei den nicht minder pompösen Exequien eines anderen Fürsten der Kunst, Michelangelo, ist von solchem Detail in dem ganz anders gearteten florentinischen Milieu nicht die Rede, am K a t a f a l k befand sich bloß das Medaillonporträt Michelangelos von der Hand Santi Buglionis. 88 Doch werden wir gleich bei der Leichenfeier der Elisabetta Sirani in Bologna wenigstens auf ein verwandtes Detail stoßen. In dem reichhaltigen Museum, das sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Kloster S. Giovanni di Verdara zu Padua befunden hat, war übrigens auch eine Wachsbüste Tizians »della pui squisita manifattura« zu sehen; 89 sollte sie ein Überbleibsel aus jenen Tagen gewesen sein? Viel merkwürdiger liegen die Verhältnisse in einem anderen Lande, das gerade, was seine offizielle Etikette anlangt, bis auf den heutigen Tag an den Grundlagen seiner normannisch-französischen Kultur mit charakteristischer Zähigkeit festgehalten hat, in England. D o r t war, wie in Frankreich, die Verwendung der bekleideten Effigie bei den Leichenfeiern des Hofes wie hervorragender Persönlichkeiten seit dem hohen Mittelalter üblich. D o c h handelt es sich hier zunächst nicht um Wachspuppen, sondern um hölzerne mannequins mit zum Teil sorgfältig ausgeführten Köpfen und Extremitäten. Eine Reihe von ihnen hat sich in der Westminster A b b e y bis auf den heutigen Tag erhalten und ist vor kurzem in einem Artikel von J. Hope in der »Archaeologia« 9 0 publiziert worden. Die Ausstellung der Königsleichen beginnt erst mit Heinrich II. ( 1189); später greift man schon zu allerhand ziemlich primitiven Balsamierungs- und Konservierungsverfahren; Eduard I. (t 1307) wurde bei Eröffnung seines Grabes 1774 in einer Hülle von feiner wachsgetränkter Leinwand vorgefunden, die die natürlichen Formen bewahrt hatte, eine Prozedur, die auch noch später angewandt worden zu sein scheint. Die erste Erwähnung einer hölzernen Effigies, in den englischen Urkunden meist »picture«, auch (nach französischem Vorbild) »representation« genannt, findet sich bei Eduard II. (t 1327, Hope, p. 331); das älteste erhaltene Muster dieser A r t in Westminster scheint auf Eduard III. (f 1377) zurückzugehen; es ist eine noch recht zimmermännisch ausgehauene Holzfigur, 9 1 doch ist selbst der N a m e ihres Verfertigers, Harley, überliefert. Von Heinrich V . (f 1422 in Vincennes) berichtet die Chronik des T h o m a s von Walsingham, daß die bekleidete »imago staturae et faciei Regis mortui simillima« bei seiner Leichenfeier auf dem K a t a f a l k ausgestellt war. 9 2 Nach der französischen Chronik des Monstrelet wäre die Figur jedoch aus gesottenem Leder hergestellt gewe-

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Mannequin Heinrich VII. (Westminster).

sen: »sa ressemblance et représentation de cuyre bouilly painct moult gentillement portait en son chief couronne d'or moult précieuse et tenoit en sa main dextre le sceptre ou verge royalle et en sa main senistre avoit une pomme d'or, et gisoit en un lict sur le chariot dessus dit, le visage vers le ciel«.

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Dieser Gebrauch hat sich in England durch das ganze 15., 16. und 17. Jahrhundert erhalten; elf von diesen Representations, die ursprünglich in der Kirche von Westminster aufgestellt, dann in einem Depôtraum der Islip-Kapelle ebenda bewahrt wurden, sind noch vorhanden, freilich in recht schlechtem Zustand, zum Teil wirkliche Puppen mit beweglichen Gliedern und bemalten Köpfen. Die Ausführung der Köpfe ist ungleich; von einer geschickten und ausdrucksfahigen Künstlerhand rührt der Kopf Heinrichs VII. (t 1509) 93 her. Die Königinnen, deren Rolle in England ziemlich untergeordnet war, haben an diesem Zeremoniell ursprünglich nicht teil. Eine Effigie wird erst bei Elisabeth von York, Gemahlin Heinrichs VII. (f 1502), erwähnt. Sie ist noch erhalten, zeigt aber einen sehr wenig individualisierten Kopf. 9 4 Noch aus dem 15. Jahrhundert stammt die angebliche Figur der Katharina von Valois (t 1436), die aber mit dieser Königin nichts zu tun hat. 95 Die jüngsten Figuren, die sich in Westminster erhalten haben, stammen von den Leichenfeiern des letzten englischen Königs, bei dem das alte Zeremoniell zur Anwendung kam, Jakobs I. (t 1625), sowie des Generals Monk, Herzogs von Albemarle (dieser noch in seiner Rüstung, t 1670). Die Sitte hat also in England wie am französischen Hofe das 17. Jahrhundert nicht überlebt. Alte Stiche, die Hope abgebildet hat, zeigen die Art der Aufbahrung auf dem Katafalk. Mindestens seit dem 16. Jahrhundert hat sich indes daneben ein anderer eigentümlicher Funeralbrauch entwickelt, der etwa zwischen den Votivstatuen, wie wir sie in Florenz finden werden, und den französischen Effigies die Mitte hält. Das war die Gepflogenheit, in der Westminsterkirche die mit den Staatskleidern bekleideten Wachsfiguren hoher Persönlichkeiten, aufrecht stehend, in Glasschränken, und zwar dauernd zur Schau zu stellen; eine merkwürdige Sitte, die wieder die Kirche zur Vorläuferin der späteren Wachsfigurenkabinette macht. Als König Jakob I. 1606 mit Christian von Dänemark die Abtei besuchte, wurden die »pictures«, wie sie immer noch heißen, durch den Dean von Westminster mit erheblichen Kosten neu ausstaffiert. 96 Das sind nun die merkwürdigen Puppen, die heute noch im Obergemach der gotischen Islip-Kapelle zu Westminster zu sehen sind. Die älteste darunter ist die der jungfräulichen Queen Elizabeth, die aber 1760 völlig restauriert worden ist und wenig erfreulich aussieht; dann folgen (wenn mich meine Reisenotizen nicht trügen) Karl II., Wilhelm III. von Oranien und seine Gemahlin Maria, Königin Anna, die schöne Herzogin von Richmond (t 1702) mit ihrem Lieblingspapagei u. a. Alle Figuren stehen aufrecht, mit Ausnahme des Herzogs von Buckinghamshire (t 1735), der liegend dargestellt ist. Auch berühmte Staatsmänner, wie Oliver Cromwell, William Pitt, Lord Chatham, sind zu sehen, die Reihe wird aber von Lord Nelson in der historischen Uniform von Trafalgar (f 1805) beschlossen. Dieser letztere ist eine vorzügliche Arbeit, die in der Auffassung an die zeitgenössische Porträtmalerei, etwa eines Lawrence, erinnert, ein Eindruck, der durch die gemalte Marinestaffage des Hintergrundes noch verstärkt wird. Sonst sind die Figuren durchschnittlich eben nicht von hohem Kunstwert, bilden jedoch ein merkwürdiges Porträt- und Kostümmuseum. In diesem Zusammenhang ist endlich noch ein Kuriosum aus der äußeren Geschichte der bolognesischen Kunst zu erwähnen, das einen gewissen Zusammenhang mit dem eben Behandelten zeigt. Als die berühmte Malerin Elisabeth Sirani jung unter tragischen Umständen im Jahre 1665 gestorben war, wurde ihr unter außerge-

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Königin Elisabeth (Westminster),

(s. S. 43)

wohnlicher Teilnahme der Stadt eine prunkvolle Leichenfeier bereitet, deren Beschreibung man in Malvasias Felsina Pittrice 97 nachlesen mag. A u f dem in S. Domenico errichteten pomphaften Katafalk war die Künstlerin durch eine Wachsfigur, vor einer Staffelei sitzend, dargestellt. Es mag dabei nicht vergessen werden, daß gerade die

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König Karl II. (Westminster), (s. S. 43)

Die Herzogin von Richmond (Westminster), (s. S. 43)

Landschaft der Emilia, wie wir noch sehen werden, überhaupt ein bedeutendes Zentrum der Wachsplastik gewesen ist. Versuchen wir nun, diesen Berichten folgend, die Details zu gruppieren, so erhalten wir etwa folgendes Gesamtbild. Mindestens seit der Mitte des 14. Jahrhunderts existiert ein prunkhaftes, umständliches und genau geordnetes Leichenzeremoniell, das an

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Lord Nelson (Westminster). (s. S. 43)

den königlichen H ö f e n von Frankreich und England bis an den Schluß des 17. Jahrhunderts, in Venedig sogar bis z u m Falle der Republik in Ü b u n g bleibt. D e r Tote wird durch ein (wächsernes) Scheinbild ersetzt, das schon in den alten Berichten wie später in den typisch wiederkehrenden Schilderungen der Exequien zu St. Denis 9 8 den Terminus

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technicus » e f f i g i y e « trägt, ein literarisches Wort, das seinen Zusammenhang mit der alten lateinischen Bezeichnung nicht zu verleugnen scheint; in älterer Zeit ist noch der Ausdruck »représentation« üblich. Diese Puppe, deren Körper häufig aus einem Gerüst von Weidengeflecht (eclisse d'osier), etwa wie unsere heutigen Schneiderpuppen, hergestellt war, wurde mit möglichst naturgetreuem Kopf und Händen aus gefärbtem Wachs versehen und mit den Prunkgewändern bekleidet; Malherbe spielt ganz deutlich auf die »poupée« des Palais Royal, die Kostümfigur der Modeläden mit ihrer letzten Neuheit an. Die Hände waren auswechselbar," gefaltet oder für die Aufnahme des königlichen sowie des Justizszepters bestimmt. Aus den Berichten über die Leichenfeier Heinrichs II. geht sowohl hervor, daß die » e f f i g i e « zur Ausstellung auf dem Lict de parade diente, als auch, daß sie (in aufrechter Haltung thronend?) in einer feierlichen und tagelangen Prozession durch die Straßen von Paris geführt wurde. Höchst merkwürdig ist die dreimalige Ausstellung des Brüderpaares der Guise zu Toulouse, im Gebete kniend, auf dem Katafalk und in der Darstellung des Momentes der Ermordung. Diese Leichenfeierlichkeiten waren sehr langwierig, angeblich bis zu vierzig Tagen. Das wird erklärlich, wenn man die seltsamen Zeremonien beachtet, mit denen das Scheinbild des toten Karl IX. bedacht wird, bei dem das ganze umständliche Tafelzeremoniell des französischen Hofes wie bei dem Lebenden selbst in Verwendung kommt. Daß die Effigie dabei wirklich auf dem Thronstuhl saß, wie aus dem Texte zunächst hervorzugehen scheint, ist kaum annehmbar. Die Analogie mit der Entwicklung, die diese Dinge in römischer Zeit genommen hatten, ist auffallend genug. Die möglichst naturalistische Art des Porträts, die bis zur Verwendung wirklicher Haare geht, die Rolle der Totenmaske, die Bekleidung mit den Staatsgewändern, die seltsamen Zeremonien mit dem Scheinbilde, als wäre es lebend, die feierliche Prozession mit dem gleichen durch die Stadt, die wieder an die eigentümliche Praxis, die heute noch im Orient lebendig ist, erinnert, endlich die uns Heutige seltsam berührende, an das Panoptikum mahnende Schaustellung der ermordeten Guise, die im Bilde des toten Caesar ihr antikes Gegenstück hat, sowie die »amende honorable« der Kleriker als Umkehrung des Schand- und Spottbildes, wie es uns schon von der gekreuzigten Imago des Celsus (s. o.) her in Erinnerung ist, alles das sind da wie dort wiederkehrende Züge. Daß hier ein direkter Zusammenhang vorliegt, ist wohl ausgeschlossen; gleichwohl fallt es uns schwer, ohne weiteres eine Generatio aequivoca, trotz allen typischen Verlaufs der Kulturentwicklung und ihrer Ricorsi, anzunehmen. Gerade jene seltsamen, oben besprochenen Bestattungsgebräuche zeigen eher eine fortwährende Kontinuität bestimmter Vorstellungen und gewisser ihnen entsprechender Formen; daß zum Teile uralte primitive Gedanken mitwirken, wurde ebenfalls schon erwähnt; nur mit der nötigen Vorsicht darf hier an gewisse prähistorische Bestattungsformen erinnert werden. Eine schon von Benndorf herangezogene Sache soll aber nochmals zur Sprache kommen: der »eiserne Ritter« unserer Kondukte, in dem ein vergessenes und unkenntlich gewordenes Stück ältester Vorstellungen steckt: der Mime des römischen Leichenzuges, der die Lebensparodie des Verstorbenen darzustellen hatte. Im französischen Mittelalter war dieser Zug auch noch völlig durchsichtig und lebendig, wie aus alten Rechnungsvermerken über adelige Leichenfeiern hervorzugehen scheint. 100 47

Totenmaske Heinrichs II. (aus St.

Denis).

Wir kehren zu dem für uns wichtigsten Punkt, der eigentlichen Porträtdarstellung, zurück. Die Verwendung der Totenmaske als Grundlage für diese ist schon für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts mit Sicherheit anzunehmen (s. 0.); die Betonung der möglichsten Naturtreue, »au plus vif que faire on peult«, ist ein ständiges Moment der Berichte; diese Naturtreue wird, ganz abgesehen von der Gewandung, unterstützt durch die realistische Bemalung, die schon in den ältesten Zeugnissen hervorgehoben wird, sowie die Verwendung natürlichen Haupt- und Barthaares - nach dem uns zur Verfügung stehenden Material zuerst zu Beginn des 16. Jahrhunderts erwähnt, aber gleichfalls uralt, wie die Wachsköpfe von Cumae lehren. Die von den offiziellen Hofkünstlern abgenommenen Totenmasken wurden in der Begräbniskirche der französischen Könige, in St. Denis, aufbewahrt; dort erwähnt sie ein Autor des 17. Jahrhunderts, F. Lemée (s. u.), und dort haben sie sich bis zur französischen Revolution befunden, deren Volksstürmen auch diese merkwürdige Sammlung zum Opfer gefallen ist. 101 L. C o u r a j o d hat tatsächlich in einer Tonmaske, die aus den Depots von St. Denis stammt, einen A b d r u c k aus der F o r m nachgewiesen, die F. Clouet von dem Gesichte Heinrichs II. abnahm; die wenige Stunden nach dem jähen Tode des Fürsten angefertigte M a s k e zeigt das voraufgegangene Leiden in erschreckender Deutlichkeit. 1 0 2 Lenoir hat bereits die Bemerkung gemacht, daß jene Totenmasken und »effigies« den Bildhauern, die die Königsgräber in St. Denis auszuführen hatten, als Vorlagen gedient hätten. In der Tat zeigt sich schon bei den Grabfiguren des 48

G r a b f i g u r König Philipp VI. (f 1350) in St. Denis.

G r a b f i g u r König Karl V. (f 1380) in St. Denis.

14. Jahrhunderts ein auffalliger Naturalismus, den Courajod 1 0 3 und besonders Mâle 104 mit jenen Totenmasken in Verbindung gebracht haben. Es wäre nun Sache eines unmethodischen und flachen Positivismus, die Stilentwicklung der französischen Plastik, der von jener Zeit ab eine starke Tendenz zum Realismus als innerlich treibendes Moment eignet, allein auf einen solchen Umstand zu gründen; 105 doch ist wohl kein Zweifel, daß, ähnlich wie einst bei der römischen Porträtplastik, die vorhandene naturalistische Tendenz durch den nationalen Brauch eine sehr ausgiebige Förderung erhalten hat. Dieser Realismus zeigt sich übrigens hier wie im ganzen typischen Verlauf der Kunstgeschichte weit früher beim männlichen Porträt als bei dem weiblichen, das noch geraume Zeit gebunden und konventionell bleibt; man sehe noch etwa in Italien die Ilaria del Carretto Quercias (in Lucca) daraufhin an. Auch kann eine äußere Ursache verstärkend zu den allgemeinen Entwicklungstendenzen hinzugetreten sein: die Totenmaske haftet, im allgemeinen wenigstens, an der fürstlichen Person männlichen Geschlechts, wie wir noch im Venedig des 18. Jahrhunderts wohl von der Statue des Dogen, aber niemals von der der Dogaressa etwas hören. Das älteste monumental überlieferte Beispiel ist freilich das der Königin Isabella zu Cosenza (s.o.), jedoch ein Unikum; von ihrem Grabmal zu St. Denis, das wieder eine ganz konventionelle Form zeigt, war schon früher die Rede. Für die Art, in der sich übrigens der der Grabplastik anhängende naive Realismus in der märchenbildenden Volksphantasie spiegelt, liefert die in Ottokars von

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Büste Heinrichs IV. (Chantilly).

Steiermark Reimchronik erzählte Geschichte ein hübsches Beispiel: wie der Bildner des für die Speierer Gruft bestimmten Grabmals Rudolfs von Habsburg Jahr für Jahr die Runzeln im Angesicht des alternden Kaisers gewissenhaft nachträgt. 106 Endlich ist die Beteiligung der hervorragendsten oder wenigstens der durch ihre offizielle Stellung als solche gewerteten Künstler eine erwähnenswerte Sache. Jean Foucquet, Konrad Meit, François d'Orléans, Jean Perréal, François Clouet wurden schon genannt; noch merkwürdiger ist der Konkurs für die Figur Heinrichs IV., an dem drei bekannte Künstler, wie der berühmte Medailleur Guillaume Dupré, Germain Jacquet von Grenoble und Michel Bourdin von Orléans (Baudin bei Malherbe) teilnehmen; der letztere beginnt geradezu seine Laufbahn als »sculpteur en cire«. 107 Alle drei Büsten sind möglicherweise noch erhalten, wie erst in jüngster Zeit nachgewiesen wurde; das Werk von G. Dupré befindet sich jetzt, wie G. Bapst durch Vergleichung mit den Medaillen des Künstlers festzustellen glaubt, in den Sammlungen des Herzogs von Aumale zu Chantilly: deutlich unter Benützung der Totenmaske gearbeitet, auf einem gleichzeitigen Bruststück aus Ton aufgesetzt, leider jedoch in der Empirezeit restauriert. Die vermutlich von M. Bourdin herrührende Büste ist neuerdings nach mannigfachen Schicksalen aus einer Pariser Privatsammlung, des Herrn Desmottes, in das Musée Carnavalet gekommen; auch sie ist, wie die andern, aus in der Masse gefärbtem Wachs 50

Büste Heinrichs IV. ( M usee Carnavalet ).

gearbeitet, ohne Zuhilfenahme natürlicher Stoffe; sie zeigt eine mehr idealisierte Bildung, ohne doch die Herkunft von der Totenmaske gänzlich verleugnen zu können. Eine dritte Wachsbüste Heinrichs IV. endlich, die das Werk jenes Jacquet sein könnte, hat P. de Vitry im Museum zu Kassel aufgefunden, wo sie sich als alter Besitz, der Tradition nach als Geschenk an den mit dem französischen König verbündeten Landgrafen Moritz von Hessen, befindet. Die Kasseler Büste ähnelt der auf Schloß Chantilly; doch ist sie, noch in der alten (?) Vitrine erhalten, mit natürlichen Gewändern und den Insignien des heil. Geist-Ordens bekleidet. Die kritischen Bedenken, die Vitry neuerdings gegen die Zuweisung aller dieser Stücke an bestimmte Meister vorgebracht hat, sind jedoch wohl zu beherzigen. Die Büste Bourdins taucht noch einmal in einem merkwürdigen Prozeß zu Saintes von 1611 auf, dessen Akten Vitry publiziert hat und von dem noch einmal die Rede sein wird. Der Anteil hervorragender Künstler, die sich bei ihren Zeitgenossen eines bedeutenden Ansehens erfreuten, an diesen Dingen, die wir heute wesentlich anders einschätzen, ist eine nicht gering anzuschlagende Tatsache der Kunstgeschichte. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß jenes Geschäft, den Scheinleib für die Leichenfeier herzurichten, von Anfang an zu den Obliegenheiten der Hofmaler gehört, deren Stellung und Einreihung als »Valets de chambre« unserem Verständnis nicht ohne weiters naheliegt. 51

Büste Heinrichs IV.

(Kassel). {s. S. 51)

Dergleichen reicht aber weit, fast bis in unsere Zeit hinunter; noch Velazquez hat zum schweren Schaden seiner Kunst das dornenvolle A m t eines königlichen Schloßhauptmannes bekleiden müssen, und am konservativen preußischen Hofe mußte sich der Bildhauer Rauch, wie einst die alten Maler am Hofe von Burgund, noch die Rangierung unter die Kammerdiener gefallen lassen. Der Begriff der freien Kunst, den sich die italienischen Künstler schon sehr früh errungen haben, wie die freiere Stellung der Kunst zum Leben überhaupt und ihre entsprechende gesellschaftliche Wertung hat im Norden eine viel mehr retardierte Entwicklung gehabt; die Kunst hat dort noch viel länger im Handwerk, von dem sie ursprünglich nicht zu trennen ist, und in sozialer Gebundenheit verharrt. D a s ist der Grund, weshalb wir unsere total veränderten Anschauungen vom Wesen der Kunst durchaus nicht auf die ältere Zeit übertragen dürfen, die in diesem Punkte ganz anders gedacht und empfunden hat. Wir haben die Funeralplastik von ihren ersten dämmernden Anfängen an verfolgt; es ist ein merkwürdiges Ergebnis, daß die urtümlichen Vorstellungen und die ihnen entsprechenden Formen durch einen Zeitraum von mehr als and'erthalbtausend Jahren im Wesen unerschüttert geblieben sind. Die Grabfiguren L o r d Nelsons in Westminster, der venezianischen Dogen aus dem letzten Jahrhundert der Republik sind die äußersten Ausläufer einer Entwicklung, die anscheinend schon im republikanischen R o m des

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3· vorchristlichen Jahrhunderts feste und typische Formen angenommen hatte. Nur im hohen Mittelalter klafft eine Lücke, die einen direkten Zusammenhang anzunehmen verbietet; auch sie wird aber durch das zweifellose Fortleben ganz eigentümlicher Bestattungsgebräuche ausgefüllt, die mit jenen Ideen im inneren Zusammenhang stehen. Die Statistenfigur des Chevalier Mort ist ein Symbol dafür, daß jene in primitive Urzeit zurückgehenden Vorstellungen, wenn auch fast jeden deutlichen Inhalts beraubt und zur leeren Form geworden, niemals gänzlich erloschen sind.

II. K A P I T E L

Entwicklung seit dem Mittelalter Die Votivplastik

Es gibt noch ein anderes Gebiet viel demokratischeren Wesens als die ursprünglich und eigentlich aristokratische Funeralplastik, auf dem die Wachsbildner lohnende Arbeit gefunden haben. Auch hier ragen Vorstellungen aus grauem Altertum bis in unsere eigene Zeit hinein. Es handelt sich um die Votivgaben in Wachs, die schon dem griechischen Altertum nicht unbekannt waren. 108 Sie sind noch heute in unseren Wallfahrtskirchen zu vielen Hunderten aufgehäuft zu sehen, freilich fast immer nur in kleinem Maßstab, alle Körperteile des Menschen bis zur ganzen Figur hinauf nachbildend, daneben Darstellungen von Tieren - alles das als Dank für Heilung von Gebrechen, für abgewendetes Unheil aller Art in dieser naiv-symbolischen Weise dargebracht. 109 Auch

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dieses lebt aus ältestem Altertum her; die vergänglichen Wachsvotive sind freilich in ihre Elemente aufgelöst worden, erhalten haben sich aber die dauerhaften aus Metall, wie die eisernen Leonhardkühlein, die in unseren Alpen aus venetisch-keltischer Heidenzeit bis auf unsere Tage in der gleichen primitiven Schmiedeform fortdauern. In solchen Dingen pflegt die Tradition äußerst zähe zu sein; die wächsernen Pärlein, die man etwa in kärntnerischen Gnadenorten, so auf dem von drei Nationen besuchten heiligen Berg von Maria Luschari im Kanaltal verkauft, gehen, wie das Kostüm zeigt, auf Model des 17. Jahrhunderts zurück; gerade die kärntnerischen Wachsziehereien von Millstatt, Spittal, G m ü n d reichen in ununterbrochener blühender Geschäftstradition bis ins 17., ja ins 16. Jahrhundert zurück. 1 1 0 Heute sind diese Dinge freilich vorwiegend auf die untersten Volksschichten beschränkt, dementsprechend ärmlich und unscheinbar. A b e r auch sie haben eine sehr ansehnliche Vergangenheit. Die christliche Kirche hat von jeher eine offene Hand für das in ihrem Kult reichlich verwendete Wachs gehabt. Auch hier knüpft sie, wie in so vielen Dingen, direkt an die heidnische Antike an. Ein hübsches Augenblicksbildchen aus dem späten Altertum zeigt uns den Philosophen Asklepios, den Freund Kaiser Julians und eifrigen Anhänger des alten Glaubens, wie er in dem berühmten Apollotempel von Antiochia vor einer silbernen Statuette der Venus Urania Wachskerzchen entzündet - ein Bild, das ebensogut in eine katholische Kirche von heute paßt. 1 1 1 Wachskerzen und wächserne oder tönerne Bildchen (sigillarla) spielten auch bei der uralten Feier der römischen Saturnalien eine Rolle; sehr bemerkenswert ist für uns die Erklärung der alten Philologen, die Macrobius 1 1 2 aufbewahrt hat. Die Wachsgabe ersetzt den ganzen wirklichen Menschen, sie tritt als symbolisches Sühnopfer für das primitive Menschenopfer ein; M a crobius spielt auch tatsächlich auf die der Sage nach von Hercules bei seinem Sieg über Geryon eingesetzten Opfer der (uns schon bekannten) Argei an, jener Puppen, die als Ersatz für lebende Menschen vom Pons Sublicius in den Tiber gestürzt wurden, und läßt seinen Praetextatus daran die eigene, ein wenig rationalistische, aber in ihrem Kern gewiß richtige Erklärung k n ü p f e n . " 3 Das Nachwirken solcher uralter und primitiver Gedankenreihen, wie sie in der Funeralplastik konstatiert werden konnten, zeigt sich nun auch in der Votivplastik der mittelalterlichen Kirchen. Bei Unbilden aller A r t , vornehmlich Krankheiten, deren der Gläubige durch heilige Vermittlung ledig werden will, ist der sicherste Weg, das eigene Gewicht in Wachs (wohl auch in kostbarem Metall, wie in G o l d ) darzubringen." 4 Das sind die »Contrepoix« der französischen Quellen. 1 1 5 N o c h wirksamer wird aber die Weihegabe, den uns schon bekannten tiefeingewurzelten Vorstellungen v o m Bildzauber entsprechend, wenn dieses rohe Material in Bildform gemodelt wird, das Abbild, und zwar das möglichst treue, allenfalls noch durch naturalistische Zutaten potenzierte A b b i l d des Stifters darstellt. Daher erklärt sich, daß in den Gnadenorten des Mittelalters schon ziemlich früh lebensgroße Figuren aus Wachs vorkommen, die sich mit den von der Funeralplastik hergestellten wohl vergleichen lassen, auch dieselbe innere Tendenz zum Naturalismus in sich tragen. Die ältesten Nachrichten, die wir kennen, reichen bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück; die eine davon ist freilich erst bei einem Schriftsteller des 17. Jahrhunderts erhalten, es liegt aber kein zwingender Grund vor, dessen Angaben in Zweifel zu ziehen. In seinem Traité de Statues, Paris 1688 (p. 57), bringt François Lemée folgende

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auch in anderem Betracht merkwürdige Notiz: »Les images des Ancêtres se ne faisoient que de cire ou rarement de bronze et c'étoit des bustes qu'on conservoit dans les Sales et dans les Antichambres à peu près pareils à ceus de nos Roys et de nos Reines qui sont à Saint Denis en France. Ce n'est pas qu'il n'y eût des statues de cire toutes entières, il y en avoit même trois au siècle passé, qui subsistoient encore dans l'Eglise de Nôtre Dame à Paris; l'une étoit du Pape Gregoire IX., l'autre de son neveu, et la derniere d'une de ses niepces.« Darnach haben sich also die lebensgroßen Wachsstatuen Papst Gregors I X . ( 1 2 2 7 - 1 2 4 1 ) und seiner Nepoten noch im 16. Jahrhundert in Notre Dame befunden allerdings sind wir außerstande nachzuweisen, ob es sich hier wirklich um Porträte der genannten Personen gehandelt hat. Aber ein Jahrhundert später bewahren die Mönche von L a Chaise-Dieu eine Wachsfigur Clemens VI., die ihnen der päpstliche Hofmaler Matthias von Viterbo (um 1 3 5 2 ) zugesandt hatte. Mâle denkt dabei, vielleicht mit Recht, an eine Totenmaske." 6 Auch ist schon für die Jahre 1275/76 ein wächsernes Votivbild König Eduards I. von England bezeugt; damals wurden 300 Pfund Wachs »ad faciendam suam ymaginem pro nobis« angewiesen; der ausführende Künstler, ein Magister Robertus de Beverlaco, erhält 66 sh. Bd. 1 1 7 Von 1290 stammt endlich die Erwähnutfg der wächsernen, bemalten Votivstatue eines Grafen von Artois, die für Notre Dame in Boulogne bestimmt war. 1 1 8 Eine zweite jüngere Nachricht aus dem Jahre 1357 meldet die Stiftung eines lebensgroßen Wachsbildes (»pro facienda ymagine«) im Gewicht von 334 Pfund, das eine Gräfin von Savoyen bei einem englischen Bildner, Magister Guglielmus Anglicus, für die Kathedrale von Lausanne bestellt h a t . " 9 Ähnliche Ex-votos sind von König Karl VI. überliefert, 120 dann von Philipp dem Kühnen von Burgund, der 1398 das Wachsbild seines Sohnes, der von einem tollen Hunde gebissen worden war, nach Vienne stiftete. 121 Im 15. Jahrhundert mehren sich die Beispiele, für die ich bloß auf die Abhandlungen von Blondel und Le Breton verweise. Nur ein Detail verdient besondere Hervorhebung; obwohl es aus einem Roman, dem Petit Jehan de Santre von Anthoine de la Salle (1455) stammt, ist es, wie die Ex-votos der Annunziata in Florenz beweisen, durchaus keine Erfindung, sondern der Wirklichkeit entnommen. Die Dame des Belles-Cousines gelobt der Jungfrau ein vollständig gerüstetes Votivbild ihres Ritters auf seinem Schlachtrosse, alles aus Wachs gebildet: »Je le voue tout de chire armé de son harnoiz, sur un destrier houssè des ses armes, tout pesant trois mille livres.« 122 Erhalten hat sich dieses prunkvolle und kostspielige Ex-voto-Wesen sehr lange, im Norden wie in Italien. Nicht immer war das Wachs das bevorzugte Material; in besonderen, außergewöhnlichen Fällen hat man der Weihgabe durch kostbaren Stoff, Silber oder wohl gar Gold, besonderen Nachdruck zu verleihen gesucht. Es sind im Grunde wieder ganz primitive Vorstellungen, die tief im menschlichen, allzumenschlichen Wesen aller Zeiten und Länder wurzeln und hier an die Oberfläche kommen: das Opfer mit seinem Einschlage von Askese, hier in eigentümlicher Verkehrung seines Wesens in weltlichen Prunk und gleißende Hoffart. Selbst geringere Leute, Bürger und Bauern, stifteten ihr lebensgroßes Konterfei in Gnadenorte. 1 2 3 Kaiser Karl IV. aber weiht schon das Gewicht seines langersehnten Söhnleins in Gold. 1 2 4 Das merkwürdigste Beispiel der Art war wohl das lebensgroße Votivbild Karls des Kühnen, im Gebete knieend, aus

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vergoldetem Silber, das sich noch 1677 in der kaiserlichen Schatzkammer zu Wien befunden hat, 125 dann aber gleich manchem andern kostbaren Stück leider dem Schmelzofen verfallen ist, dem alten Feinde solcher Kostbarkeiten, der auch den großen Tafelaufsatz des Wenzel Jamnitzer verschlungen hat (wie das Gegenstück zum goldenen Rössel von Altötting in der Reichen Kapelle in München), und dem selbst B. Cellinis berühmte Saliera nur durch ein Ungefähr entgangen ist. 1466 hat André Mangot, Goldschmied in Tours, ein silbernes Votivporträt zu vergolden, das König Ludwig XI. nach St. Martin in Tours stiftet; bemerkenswert ist, daß hier der in der Funeralplastik ständige Ausdruck »représentation« wiederkehrt.126 Das einzige bis heute erhaltene Denkmal dieser Gattung, das auf historischen und künstlerischen Wert Anspruch erheben kann, ist vor einer Reihe von Jahren durch Robert Stiaßny in einem entlegenen Winkel des tirolischen Pustertales aufgefunden und in einer vortrefflichen Studie behandelt worden. 127 Aus seinem ursprünglichen Standorte in der Dorfkirche St. Siegmund bei Bruneck kam es nach seiner Entdeckung in das Ferdinandeum zu Innsbruck. Der Stifter ist, wie Stiaßny überzeugend nachgewiesen hat, der letzte Graf von Görz, Leonhard ( 1462-1500); er ist fast in Lebensgröße dargestellt, knieend, in der Tracht eines Pilgers. Die ganze Figur ist in Wachs über einem Holzkern ausgeführt; bloß der Gesichtsteil des Kopfes und die Hände sind sehr bemerkenswerterweise - in Holz geschnitzt, das Ganze leicht polychromiert. Die Ausführung weist auf einen tüchtigen Künstler, den Stiaßny in dem Kreise der Tiroler Holzschneider, die für das Mausoleum Maximilians I. tätig waren, suchen möchte. Ähnlich mag die Votivstatue Ottheinrichs von der Pfalz ausgesehen haben, der 1518 nach einem im Turnier erlittenen Unfall seine lebensgroße Wachsfigur nach St. Wolfgang am Abersee gestiftet hat. Dort war sie noch 1599 neben einer großen Zahl von ähnlichen Votiven fürstlicher Personen zu sehen.'28 Die reichsten Nachrichten besitzen wir jedoch aus Italien, vor allem aus Florenz; dort ist die berühmte, den Serviten gehörige Gnadenkirche der SS. Annunziata (i Servi) Jahrhunderte lang durch ihre »boti« (wie sie im Florentiner Gergo genannt werden) das hervorragendste Sammelbeispiel gewesen.129 Diese Boti reichen in sehr frühe Zeit zurück. Wenn wir der aus der Chronik der Servi geschöpften Angabe Richas trauen dürfen, hätte sich in der Annunziata ein Votivbild Papst Alexanders IV. von 1260 befunden, von dessen Form wir uns allerdings keine Vorstellung machen können. Unmöglich wäre die Sache nicht, besonders wenn man an die aus Frankreich überlieferten Nachrichten denkt. Über das 14. Jahrhundert geben dann Sacchettis Novellen, überhaupt ein treuer Spiegel des florentinischen Bürgerlebens jener Zeit, sichere Auskunft. Ursprünglich scheint jedoch nicht die Annunziata, sondern Orsanmichele mit seinem wundertätigen Marienbilde in Orcagnas kostbarem Schrein die Hauptstätte gewesen zu sein. In seiner Umgebung befanden sich auch die Buden der Cerajuoli, in denen man die Votive kaufen oder bestellen konnte. Später waren sie größtenteils in der Via de' Servi zu finden. Ein sensitiver Maler der florentinischen Spätzeit, Lodovico Cardi, il Cigoli, nahm lieber einen Umweg, um zur Annunziata zu gelangen, weil die in den Läden der Servitenstraße baumelnden Gliedmaßen aus Papiermaché (»boti di cartoni«) sein Malerauge beleidigten.'30 In einer Novelle Sacchettis (nov. 185) ist schon von der lebensgroßen Wachsfigur eines Florentiner Bür-

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Votivstatue Leonhards von Görz (Innsbruck, Ferdinandeum). (s. S. 57)

gers, des Pero Foraboschi, die Rede. Sacchetti erzählt ausführlich, wie sie bei Orsanmichele bestellt und nach einigen Tagen in der A n n u n z i a t a dargebracht wird, w o m a n sie zu seiner Zeit noch sah; auch vergißt er nicht, die Porträtähnlichkeit hervorzuheben (»la quale f u poi messa a' ballatoi del legname che sono di sopra; e insino al dì d ' o g g i si vede, ch'ella somiglia propio Pero Foraboschi«). Schon zu Sacchettis Zeiten war also die A n n u n z i a t a voll v o n solchen lebensgroßen Boti, a u f Gerüsten aufgestellt oder auf-

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gehängt, so daß sie bereits damals eine Gefahr bildeten; 131 mit der Annunziata rivalisierte übrigens das kleine Sepolcro-Kirchlein der Madonna delle Grazie. Die Annunziata ist allmählich ein historisches Porträtmuseum geworden, von dem wir uns kaum mehr eine rechte Vorstellung machen können. Man mußte dem Zudrang steuern; schon 1401 wurde eine Verordnung erlassen, wonach nur solche Bürger, die zum Eintritt in die Arti Maggiori befähigt waren, ihre Boti aufstellen durften.' 3 2 Trotzdem wuchs deren Zahl in beängstigendem Maße. Schon um 1488 hören wir, daß zahlreiche Boti oben in der Kuppel an Seilen aufgehängt waren, durch deren Vermorschen und Reißen nicht selten Unglücksfalle vorkamen. Immer heftete sich der tief im Menschen steckende Omenglaube an solche Ereignisse. Es muß wohl ein ungewöhnlicher Anblick gewesen sein; nicht zum wenigsten die auf Bühnen (»ballatoi« bei Sacchetti) rechts und links von der Tribuna angeordneten Gruppen von Rittern, hoch zu Roß, von denen schon 1447 die Rede ist (»palchiper tenervi sopra homini illustrissimi a cavallo«). 1435 stiftete Markgraf Niccolò III. von Ferrara sein Reiterbild in die Servi.' 3 3 Wir haben Ahnliches schon im französischen Milieu kennen gelernt. Das 15. und 16. Jahrhundert ist die Blütezeit dieses merkwürdigen Museums gewesen, dessen Verschwinden kein kleiner Verlust für die Geschichte älterer Kultur und Kunst ist. Es enthielt neben anderem die Statuen Lorenzo Magníficos, Pier Soderinis, der Päpste Alexander VI., Leo X . und Clemens VII., Kaiser Friedrichs IV., Christians I. von Dänemark, eines der letzten christlichen Könige von Bosnien,' 3 4 der Isabella d'Esté, sogar eines Türkenpaschas.' 3 5 Noch im Anfange des 17. Jahrhunderts enthielt die Annunziata an 600 lebensgroße Boti, neben unzähligen kleineren. Ihr Aspekt um diese Zeit ist durch alte Reisebeschreibungen, wie des Arnold Buchellius von Utrecht um 1588 und die Schilderung des hispanisierten Florentiners Vincenzo Carducci (Carducho) in den Dialogos de la pintura von 1634 überliefert. ' 3 6 Der letztere betont schon die Wichtigkeit der aufgehäuften Kostüme und Rüstungen für das Studium des Malers. Zuletzt beschreibt sie noch Del Migliore in seiner Firenze Illustrata von 1684; der fromme Mann bedauert im Interesse des religiösen Gefühls die Spoliierung der Kirche und die Übertragung der Boti in den kleinen Klosterhof. Aber das Gedränge war so groß geworden, daß die lebende Gemeinde selbst keinen Platz mehr fand und obendrein durch die schweren Votive, die zu ihren Häupten an zermürbten Stricken baumelten, andauernd bedroht war. Die Räumung, die auch mit der um 1664 einsetzenden Modernisierung der Kirche zusammenhing, war der Anfang vom Ende. Das alte Gewerbe der Boti war ohnehin schon zu Vasaris Zeiten degeneriert; auch der Fra Timoteo in Macchiavellis Mandragola klagt schon über die Abnahme der einstigen werktätigen Frömmigkeit.' 3 7 Die letzten Reste des merkwürdigen alten Ensembles sind im Zeitalter der Aufklärung, unter Großherzog Leopold, dem späteren Kaiser, verschwunden; zu den vielen segensreichen Reformen der lothringischen Herrschaft in Toskana gesellte sich auch diese. Wir müssen es wohl ihr wie dem josephinischen Zeitalter überhaupt zugute halten, wenn das Gegenmittel allzu radikal war; denn mit der Masse wertlosen Ballastes ist wohl sicher vieles Merkwürdige und der Konservierung Werte verschwunden, das sich bis dahin noch erhalten hatte. Die Annunziata ist nur das vornehmste Beispiel ihrer Art; Kirchenmuseen dieses Charakters waren noch anderwärts, auch im Norden vorhanden. Die Kirche von

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Inneres der Kirche S. Maria delle Grazie bei Mantua.

St. Wolfgang am Abersee ist schon erwähnt worden. Heute können wir in Italien nur etwa in der vor den Toren Mantuas gelegenen Wallfahrtskirche S. Maria delle Grazie (in der auch Raffaels Freund Castiglione begraben liegt) eine ungefähre Vorstellung gewinnen, wie es bei den Servi in Florenz ausgesehen hat. Dort sind die Wände des Hauptschiffes noch heute angefüllt mit lebensgroßen Votivbildern aller Art, von Personen aller Stände, zum Teil in recht gruseligen Situationen. Es sind aber durchaus Figuren aus Papiermaché von geringem Kunstwert und aus ziemlich später Zeit. Immerhin sollen sich, wie aus einer von Blondel 138 abgedruckten Relation des Rektors der Kirche, D. Francesco Mori, hervorgeht, dort auch Porträtstatuen Karls V., Philipps II. von Spanien, Papst Pius II., des Connetable von Bourbon befinden. Sie sind, wie aus den beiden hier mitgeteilten Proben hervorgeht, recht phantastisch und erheben kaum irgend einen Anspruch auf Porträttreue. In einer fränkischen Wallfahrtskirche des Bamberger Sprengeis, Vierzehnheiligen bei Lichtenfels, hat sich endlich die Tradition bis auf unsere Tage erhalten. Dort werden noch heute lebensgroße bekleidete Wachsfiguren geopfert.' 3 9 Die hier beigegebene Abbildung zeigt, daß es sich wirklich um ein modernes Seitenstück zu der alten Annunziatenkirche handelt; die Votive, die bis in die jüngste Gegenwart herabreichen, sind zum Teil recht sorgfaltig unter peinlicher Wahrung des Porträtcharakters gemacht, andere geringer und puppenhaft.

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Inneres der Kirche S. Maria delle Grazie bei Mantua

Die Anfertigung dieser Wachsbilder war auch in Florenz wie anderwärts einem eigenen Gewerbe, den Cerajuoli, auch »Fallimagini« genannt, überlassen. Von ihren Werkstätten bei Orsanmichele und bei den Servi war schon die Rede. In späterer Zeit haben die Servitenbrüder selbst sich nicht selten an diesem Handwerk beteiligt, vor allem auch als Industrielle. Ein merkwürdiges Dokument ist der Vertrag, den der Vikar Antonio da Bologna 1481 mit Archangelo ciraiuolo über die Ausführung der Boti abschließt; Warburg hat ihn aus dem Florentiner Staatsarchiv mitgeteilt. Das Kloster der Servi erscheint direkt als Unternehmer, liefert das Wachs, aber nicht die Farben und das (natürliche) Haar und die »Armadure«, die der Cerajuolo beizustellen hat, der dafür seinen festgesetzten Arbeitslohn erhält. 140 In einer berühmten, bis zum Überdruß zitierten Stelle berichtet Vasari, 1 4 ' daß Andrea Verrocchio zuerst Gipsabgüsse nach der Natur angefertigt habe; durch dieses Verfahren seien dann auch die Totenmasken aufgekommen, die in allen Häusern von Florenz über Kaminen, Tür- und Fensterstürzen zu sehen seien und die für Vasari, wie er selbst bekennt, eine wichtige ikonographische Quelle bilden. Das habe nun auch einen bedeutenden Einfluß auf die bis dahin nur in kleinem Maßstab und ungeschickt verfertigten Votivbilder ausgeübt. Verrocchio selbst habe den ihm befreundeten Cerajuolo Orsino unterwiesen; dieser legt sein Meisterstück ab, als Lorenzo de Medici, dem Attentat der Pazzi glücklich entronnen (1478), drei lebensgroße Porträtbilder bei ihm 61

Pius II(?) fS. Maria delle Grazie bei Mantua),

Philipp II(?) (s. S. 60)

(S. Maria delle Grazie bei Mantua).

(s. S. 60)

bestellt. Das eine davon befindet sich in der Kirche der Monache di Chiarito und zeigt Lorenzo in dem Gewände, in dem er sich nach dem Attentat, am Halse verwundet, von seinem Fenster dem Volke gezeigt hatte; das zweite, im Lucco (der bürgerlichen Tracht des Florentiners jener Tage), bei den Servi, das dritte in S. Maria degli Angeli zu Assisi. Vasari spendet ihnen außerordentliches L o b ; von Orsino waren übrigens in der Annunziata auch andere Wachsfiguren zu sehen, die an seinem von Vasari genau beschriebenen M o n o g r a m m (j^ kenntlich waren. Die technische Beschreibung, die dieser von ihnen gibt, ist interessant genug, um hier mitgeteilt zu werden; sie stimmt in allen Details mit der Prozedur überein, die wir schon von den französischen »Effigies« des Mittelalters her kennen: »Onde Orsino, fra Γ altre con l'aiuto ed ordine d' Andrea, ne condusse tre di cera grandi quanto il vivo, facendo dentro l'ossatura di legname, come altrove si è detto, ed intessuta di canne spaccate, ricoperte poi di panno incerato con bellissime pieghe e tanto acconciamente, che non si può veder meglio, nè cosa più simile

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Interieur aus der K i r c h e Vierzehnheiligen bei Lichtenfels, (s. S. 60)

al naturale. Le teste poi, mani e piedi fece di cera più grossa, ma vote dentro e rittratte dal vivo e dipinte a olio con quelli ornamenti di capelli e altre cose, secondo che bisognava, naturali e tanto ben fatti, che rappresentano non più uomini di cera, ma vivissimi ...« Dieser von Vasari so sehr gespriesene Orsino gehört nach Del Migliore' 4 2 tatsächlich einer Familie von Cerajuoli in Florenz, den Benintendi, an. Das Gewerbe war nach diesem Zeugnis schon von Orsinos Vater Zanobi und seinem Großvater Jacopo ausgeübt worden. Andere Mitglieder der Familie, die für die Servi tätig waren, sind aus Urkunden bekannt: Pagolo di Zanobi 1488 (ein Bruder Orsinos?)' 43 und Filippo Benintendi, der 1505 das Wachsbild der Isabella d'Esté von Mantua für die Servi angefertigt hatte. 144 Wir erfahren auch bei dieser Gelegenheit, daß Boti dieser Art nicht gerade wohlfeil waren; Filippo erhebt einen Honoraranspruch von 25 Golddukaten. So glaubwürdig der ausführliche Bericht Vasaris über Orsinos bezeichnete Wachsfiguren bei den Servi ist, die er selbst noch gesehen hat, so apokryph erscheint seine Aussage, sobald er über die Tatsache hinaus in seiner Weise zu historisch-pragmatischen Konstruktionen vorschreitet. Ist schon seine Angabe über die Beteiligung Verrocchios an den Werken Orsinos höchst zweifelhafter Natur, so ist seine Behauptung, daß Verrocchio der Erfinder der Totenmaske in Gips sei, vollständig aus der Luft gegriffen. Es

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ist ein merkwürdiger Widerhall der ganz ähnlichen Geschichte bei Plinius, von der schon die Rede war, daß Lysistratos nämlich den Naturabguß erfunden habe; es ist übrigens gar nicht ausgeschlossen und liegt durchaus im Wesen dieser Schriftstellerei der Renaissance, daß Vasari seine Konstruktion nach dem Esempio des Plinius gebildet hat. Die Ähnlichkeit ist zu auffallend; in dem der zweiten Auflage vorausgeschickten Auszug aus Plinius, den sich Vasari bei G . B. Adriani bestellt hat, ist die Stelle übrigens ausführlich wiedergegeben.' 45 Schon der alte Bottari hat in seinen Noten zu Vasari angemerkt,' 46 daß die Totenmaske in Florenz viel älter als Verrocchio ist. Die Domopera bewahrt noch die Totenmaske des 1446 gestorbenen Brunellesco, damals war aber Verrocchio erst ein Knabe. Deshalb kann auch die in verschiedenen vielberufenen Exemplaren vorhandene Totenmaske Dantes ganz gut authentisch sein; von ihr ist die berühmte Bronzebüste in Neapel abgeleitet. Daß Naturabgüsse vor dem 15. Jahrhundert nicht bezeugt sind, wie Kraus (Dante, 186) meint, ist unrichtig und deshalb kein Gegenargument. Wir haben die Totenmaske schon im mittelalterlichen Frankreich gefunden und zu Ende des Trecento beschreibt Cennino Cennini in seinem Kompendium der giottesken Werkstattpraxis ausführlich die Prozedur des Abgusses über der Natur.' 4 7 Die Anleitung, einen ganzen lebenden Menschen in Gips zu formen, ist freilich wohl nur ein scholastisches Corollarium und wenigstens in damaliger Zeit kaum jemals ausgeführt worden. 148 Wie die spätere Renaissance den Naturabguß im Kleinen verwendet, davon legen die industriellen Arbeiten der Palissy, Jamnitzer, aber auch schon die italienischen Gußhütten von Ghiberti bis auf Riccio und weiter reichlichst Zeugnis ab. Dagegen berichtet Vasari vollkommen sachgemäß von dem großen Einfluß, den die Toten- (und Lebens-)maske auf die realistische Kunst des 15. Jahrhunderts hatte. Zahlreiche Bronze- und Tonbüsten bis ins Cinquecento herab, die populäre Tonplastik eines Guido Mazzoni u. a. liefern dafür die Belege. Ein besonders instruktives und unmittelbares Beispiel, wie man die Totenmaske künstlerisch zu verwerten verstand, ist ein Terracottamedaillon in Paris, das Courajod publiziert hat.' 49 Derart werden wir uns jene zu Büsten umgeformten Totenmasken in den Florentiner Patrizierhäusern vorzustellen haben, von denen Vasari spricht; ein gutes Beispiel ist in der bemalten Tonbüste des Luca Pitti (in der Argenteria des Palazzo Pitti) zu Florenz enthalten. 150 Ein markantes Beispiel aus späterer Zeit liefert die im heutigen Museo Tassiano des Klosters S. Onofrio in Rom bewahrte Büste Torquato Tassos - an der Stelle, wo bekanntermaßen das qualvoll umdüsterte Erdendasein des unglücklichen Dichters zu Ende ging. Goethe gedenkt ihrer in der italienischen Reise mit besonderem und bedeutendem Anteil: »Auf der Klosterbibliothek steht seine Büste; das Gesicht ist von Wachs, ich glaube gern, daß es über seinem Leichnam abgeformt sei. Nicht ganz scharf und hie und da verdorben, deutet es doch im Ganzen mehr als irgendein anderes seiner Bildnisse auf einen talentvollen, zarten, feinen, in sich geschlossenen Mann« (Febr. 1787). Nur liegt eine Verwechslung Goethes mit der gleichfalls in S. Onofrio bewahrten Wachsmaske Tassos vor; der Kopf der Büste selbst ist aus Ton, aber tatsächlich mit geringen Retouchen von der Totenmaske abgenommen. Dasselbe gilt von der Büste des sogenannten Fracastoro im Wiener Hofmuseum, die ebenfalls ein spätes, aber ungemein charakteristisches Exempel ist.' 5 ' Es ist wirklich, auf diesem altetruskischen Boden, eine Wiederholung

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Terracotta-Medaillon (nach

Büste des Luca Pitti (Palazzo Pitti, Argenteria).

Courajod).

Büste Tassos (Rom, S. Onofrio).

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Angebliche Büste des Fracastoro (Wien, Hofmuseum). (s. S. 64)

der Entwicklung des Altertums; für uns ist aber der Zusammenhang zwischen dem Naturabklatsch und der Kunst des Cerajuolo, wie ihn die Geschichte der Votivplastik andeutet, eine bedeutsame Tatsache. 152 Dagegen ist die zuerst von Thode ausgesprochene, dann mannigfach (so von Molinier und anderen) wiederholte Hypothese, daß der berühmte Liller Wachskopf auf eine Totenmaske zurückgehe, eine ganz widersinnige Annahme, ebenso falsch wie die Behauptung, daß dieses merkwürdige Stück dem 15. oder dem Anfang des 16. Jahrhunderts angehöre. Wickhoff hat in einem schönen kleinen Aufsatz' 5 3 klar und überzeugend nachgewiesen, daß es sich um ein römisches Werk des späten 17. Jahrhunderts aus der Zeit und dem Kreise des Fiammingo handelt; es ist das gleiche künstlerische Sentiment, das wie in manchem Jugendwerk Berninis, so besonders in der entzückenden kleinen Bronzebüste der heil. Susanna lebt, die mit der berühmten großen Statue

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Fiammingos in Santa Maria di Loretto in Rom zusammenhängt und von der das kaiserliche Museum in Wien wohl das schönste Exemplar besitzt.' 54 Es handelt sich hier genau wie bei der heiß umstrittenen Florabüste in Berlin um eine rein ideale Schöpfung, die mit der Kunst des Porträts gar nichts zu tun hat.* Daher fallen beide Stücke, auch ganz abgesehen von der Frage der Authentizität, völlig aus dem Rahmen dieser Arbeit heraus und werden auch im folgenden nicht mehr erwähnt werden. Ich möchte überhaupt zur Vermeidung von Mißverständnissen betonen, daß der gegenwärtig tobende Wachsstreit auf die Genesis dieser Arbeit nicht den mindesten Einfluß gehabt hat, daß sie völlig »unzeitgemäß« ist, wie mich denn das Thema schon seit langer Zeit beschäftigt. 1 « Vasari hebt das künstlerische Moment an den Wachsfiguren des Orsino Benintendi bei den Servi, das er durch die angebliche Mithilfe Verrocchios verstärkt, mit besonderem Nachdruck hervor; auch Albertini redet von »optimi artisti«. Daß dies der Wirklichkeit entspricht, lehrt uns eine Reihe von Tatsachen. Mit dem Wachs, das zu Modellierzwecken in den Ateliers namentlich der Bronzebildner unentbehrlich war, wußte jeder Künstler der Renaissance ohnehin Bescheid; wir werden gleich sehen, daß Leute von Ruf und Namen selbst an der gewerblichen »Botikunst« ihrer Heimat mitzuwirken keinen Anstand nahmen. Erst im späten Cinquecento tritt j a jene Scheidung von Kunst und Handwerk ein, die letzten Endes die isolierte Dignität der Historienmalerei als vermeintlich höherer Staffel der Kunst, endlich die soziale Stellung der mit Titeln und Orden gesegneten Virtuosen bedingt. Erhalten hat sich von diesen Werken freilich gar nichts; ich gebe im folgenden nur ein paar Notizen, die ich mir bei der Lektüre der Quellen angemerkt habe. Schon von L . B . Alberti weiß seine anonyme Vita' 5 6 zu erzählen, daß er seine Freunde in Wachs modelliert habe; das kann sich aber auf kleine medaillenartige Reliefs, wie sie später stark im Schwange waren, beziehen. Dagegen wissen wir von zwei bekannten, früh in die Fremde verschlagenen Florentiner Bronzebildnern, daß sie direkt auf dem Felde der Votivplastik tätig gewesen sind. Der eine ist Niccolò Baroncelli, der 1443 auf Befehl seines Herrn Lionello d'Esté das Exvoto eines Falkners in natürlicher Größe und aus farbigem Wachs für die Kirche S. Maria degli Angeli in Ferrara gearbeitet hat.' 5 7 Der zweite ist Antonio Filarete, der nach eigenem Bericht' 58 anläßlich eines Unfalles, dem er in Rom glücklich entgangen war, sein Selbstporträt als Exvotofigur in die Gnadenkirche seiner Heimatstadt, die Annunziata, gestiftet hat; daß er es selbst gearbeitet hat, ist freilich nicht ausdrücklich gesagt, aber immerhin denkbar (»di cera el simulacro del boto per la ricevuta grazia posi«).

* Die F l o r a - B ü s t e befindet sich noch heute im Besitz der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Die Büste, 1 9 0 9 im L o n d o n e r Handel aufgetaucht, wurde von Wilhelm Bode für das Kaiser-Friedrich-Museum erworben und als ein Werk L e o n a r d o da Vincis bezeichnet. D e r Streit entstand, als die L o n d o n e r T i m e s berichtete, die Büste sei erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Vorlage eines L e o n a r d o zugeschriebenen Ölbildes in Wachs modelliert worden. Bis heute ist nicht entschieden, ob das Werk der italienischen Hochrenaissance oder der E p o c h e der Queen Victoria entstammt ( T . M . ) .

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Das pflanzt sich auch noch ins Cinquecento fort. Baccio da Montelupo erhält 1 5 1 3 für ein Wachsbildnis Giulianos de Medici, das für die Servi bestimmt war, zwölf Goldgulden. 159 Vollends steht der Michelangelo-Schüler Montorsoli als Servitenbruder zu seiner Ordenskirche in einem nahen Verhältnis. In der Tat rührten eine ganze Reihe der bedeutendsten Exvotos der SS. Annunziata von seiner Hand her: Leo X . , Clemens VII., der König von Bosnien, Jakob V., Herr von Piombino, endlich die Statue des Herzogs Alessandro, gerüstet, neben sich einen Helm alla borgognona, knieend und die Hände auf der Brust, sich dem Schutze der Madonna empfehlend. Vasari, der dies berichtet, 160 sagt, daß Montorsoli sich der Hilfe von Ordensbrüdern bedient und auch einige der älteren, zum Teil bei der Vertreibung der Medici (1527) beschädigten Wachsfiguren restauriert habe. 1 5 3 6 schildert sie Fichard in seiner merkwürdigen italienischen Reisebeschreibung. 161 Auch das lebensgroße Bildnis in Wachs, das Benvenuto Cellini eigenen Angaben nach um 1548 für den Kardinal von Ravenna gemacht hat und für das er 100 Scudi erhielt, ist vermutlich ein Exvoto gewesen. 162 Eine merkwürdige Notiz ist hier endlich anzuschließen, die zeigt, wie stark noch die volle, humanistische Renaissance von alten Vorstellungen gebunden war. 1 6 3 Es ist ein, wenn man will, offizielles Envoultement in grotesk feierlichem Stile; denn das ist die innerste Meinung jener Exekution in effigie gewesen, die der Humanist auf dem päpstlichen Thron, Pius II., einst Aeneas Sylvius genannt, an seinem ärgsten Widersacher, dem Sigismondo Malatesta von Rimini, vollziehen ließ; der politische Haß war hier noch durch die humanistische Rivalität gesteigert. Mit vielem Behagen erzählt Pius in seinen berühmten Kommentaren, wie die Imago Sigismunds, deren sprechende Ähnlichkeit in Körperbildung und Kleidung er hervorzuheben nicht vergißt, vor S. Peter auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Sache selbst liegt durchaus in der Linie der uns schon bekannten Prangergemälde (s. o.). Aus Urkunden wissen wir, daß der Künstler, der 1462 den Auftrag erhielt, die Figuren (zwei an der Zahl) herzustellen, der vielbeschäftigte Paolo Romano gewesen ist; es handelte sich also keineswegs um eine Dutzendarbeit. Ob diese Imagines aus Wachs gewesen sind oder aus einem anderen Stoff, ist freilich nicht überliefert. 164

F. Segala, Porträtrelief Erzherzog Ferdinands von Tirol

( Wien, Hofmuseum).

III. K A P I T E L

Entwicklung seit der Renaissance Die freie Bildnisplastik

Die ältere - antike wie mittelalterliche - Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs spielt sich, wie wir gesehen haben, in einem merkwürdigen, sakral bedingten Milieu ab, in dem sich uralt dämonistische Vorstellungen mit kirchlichem und weltlichem Prunk seltsam verbinden. Das Funeral- und Votivwesen ist der Boden, aus dem die eigentümlichen Tendenzen dieser Bildnerei hervorwachsen; auch das politisch-soziale Moment fehlt nicht, wie es in der Exekution in effigie hervortritt, von der wir merkwürdige Beispiele kennen gelernt haben. Das eigentlich treibende Motiv, die Vorstellung eines gewissen Bildzwanges weißer oder schwarzer Magie, ist überall, wenn auch in äußerster Verflüchtigung kenntlich; von der rohen, abergläubischen Prozedur des Envoultement

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führt der Weg staffeiförmig aufwärts über die im Wesen noch deutlich damit zusammenhängenden Sühnpuppen zu den Effigies und Boti des Mittelalters und der Renaissance. Die Grundtendenz ist überall dieselbe: möglichste Annäherung an die lebende (oder tote) Form, soweit sie dem Geiste und den ihm dienstbaren Mitteln der herrschenden Kunstrichtung adäquat ist; eine Annäherung, die sich durch reichliche Verwendung natürlichen Materials (mit Einschluß der Toten- und Lebensmaske) ab ovo manifestiert; der superstitiöse Einschlag ist dabei, wenn auch noch so sublimiert, niemals ganz zu verkennen. Es ist bezeichnend, daß schon Vasari die Wachsbildnerei von Florenz mit der realistischen, angeblich von Verrocchio erfundenen Prozedur des Naturabgusses in Verbindung bringt. Vasari konstatiert auch das Abnehmen des einst blühenden Gewerbes der Boti und sucht die Erklärung gleich seinen Zeitgenossen in erkaltendem Glaubenseifer, ohne von dieser Erklärung selbst recht befriedigt zu sein. Die Botikunst hat gerade wie die Funeralplastik das 17. Jahrhundert, von ein paar besonders konservativen Stellen abgesehen, nicht lange überlebt; diese handgreiflich naive und altertümliche Art der »Bildzauberei« erschien den verfeinerten und geistig vorschreitenden Generationen, die sich dem Zeitalter der großen europäischen Revolutionen näherten, gewiß allmählich kindisch und überlebt zugleich. Diese alte Tradition teilte das Los der einstens »höfischen« Literatur und sank mit dieser zu den untersten Volksschichten hinab; die früher erwähnte Wallfahrtskirche in Franken ist ein gutes Beispiel für diese Entwicklung in die Tiefe. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts beginnt die Kunst nicht nur aus ihrer Verbindung mit dem alten zünftigen Handwerk, sondern auch aus manchen anderen, kirchlichen und sozialen Fesseln sich zu lösen. Aber auch als freie Plastik verleugnet die Wachsbildnerei, besonders im Dienste des Porträts, den ihr durch die historische Entwicklung vererbten Zug zum extremen Naturalismus um so weniger, als dieser mit den Tendenzen der Zeit selbst trotz aller theoretischen Stilisierung und Epurierung, trotz aller Richtung auf das »Schöne« und inhaltlich »Bedeutende« vortrefflich zusammengeht, überhaupt kaum als ein Widerspruch empfunden wird. Ich will hier von einem Werke ausgehen, das für die gesamte weitere Entwicklung vorbildlich ist und zugleich einem Künstler, der sich europäischen Rufes erfreut hat, angehört. Es ist das eine Wachsbüste von der Hand Pietro Taccas (t 1640), des Schülers und Nachfolgers Giambolognas. Dieser letztere selbst hatte eine Wachsbüste der Regina Giovanna d'Austria, der Gemahlin des Großherzogs Francesco, angefertigt, die Taccas Gehilfen Bastiano Salvini als Modell für die Marmorstatue der Fürstin dienen sollte; die tragisch-komische Geschichte wie sie unter den Strahlen der südlichen Augustsonne dank einer Nachlässigkeit Salvinis zerfloß, mag man bei Baldinucci nachlesen.' 65 Derselbe Autor erzählt nun, daß Tacca sich gerne mit diesem Zweig der Plastik abgegeben habe. Insbesondere verfertigte er eine lebensgroße Büste Großherzog Cosimos II. (t 1 6 2 1 ) mit natürlichem Haar, Bart und Augenbrauen sowie Augen aus Kristall; die Lebensähnlichkeit soll so täuschend gewesen sein, daß die überlebende Mutter des Großherzogs, Christine von Lothringen, beim Besuche von Taccas Atelier den Anblick nicht zu ertragen vermochte.' 66

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Ich habe schon gesagt, daß das Kunstwollen dieser Zeit (um einen Ausdruck Alois Riegls zu gebrauchen) jener der Wachsplastik ihrer ganzen Entwicklung nach inhärenten Richtung auf den Naturalismus hin entgegenkommt. In der Tat gilt dies ganz besonders von der Kunst des Barockstils und ihrem färben- und prunkfrohen, vielfach theatermäßigen Streben nach Illusion, den die große dekorative Malerei in ihren Lichtund Formproblemen, ihren Kuppelperspektiven, ihren scheinbaren Reliefs ebenso an den Tag legt, wie die von Bernini und Borromini ausgehende Plastik und Architektur selbst. Auch das Theater selbst nimmt an dieser Wandlung teil; damals entsteht ja die neapolitanische Oper; an Stelle der Bühne nach antikischem Muster mit feststehender dekorativer Szenerie, wie sie noch Palladio hergestellt hatte, tritt die moderne Bühne mit verschiebbaren Kulissen, wechselndem Hintergrund und allen möglichen szenischen Illusionseffekten. Das älteste erhaltene Beispiel ist bekanntlich das Teatro Farnese in Parma. Am weitesten ist in diesen Dingen wohl die spanische Plastik des 16. und 17. Jahrhunderts gegangen, wobei die europäische Hegemonie spanischer Kultur und Kunst in dieser Zeit der größten Machtentfaltung der iberischen Halbinsel nicht vergessen werden darf. Auch ganz abgesehen von der Wachsplastik, die in den spanischen Kirchen stets eine bedeutende Rolle gespielt hat und noch spielt, hat die spanische Bildnerei in ihren volkstümlichsten Schöpfungen den Naturalismus sehr weit getrieben. Die Verwendung naturalistischen Materials, wie sie sich da findet, von Haaren, Stoffen, ja Fingernägeln, von Augen aus farbigem Venezianer Glas, den aus demselben Material nachgebildeten Tränen, die realistische Polychromie überhaupt, die das äußerste wagt, dazu die illusionistische Behandlung der Gewänder, die die Wirklichkeit vortäuscht, sind nicht leicht zu überbieten. Ein Schulbeispiel dafür ist das berühmte Kruzifix in der Kathedrale von Burgos (Capilla de los huevos), in schauderhafter Naturwahrheit mit den blutenden und schwärenden Wunden dargestellt und nach einer Tradition, die freilich (besonders angesichts der Überlebensgröße des Bildes) phantastisch anmutet, mit wirklicher Menschenhaut überzogen. Aber was namentlich die andalusische Plastik eines Montañez und der ihm Gleichstehenden an hinreißender, glühender Gewalt des Ausdruckes mit solchen Mitteln erreicht hat, gehört zu den eindringlichsten Schöpfungen echter Kunst. Ein glänzendes Beispiel ist die wundervolle, aus Sevilla stammende Madonnenbüste im Berliner Museum, auf dem Gebiete der Porträtplastik aber der bis zur Unheimlichkeit lebenswahre Kopf Philipps II. aus farbig emailliertem Silber im Wiener Hofmuseum. 1 6 7 Am Ende dieser Richtung steht dann Francisco Zarcillo in Murcia, der in seinen höchst lebendigen, bekleideten Holzfiguren Wirkungen anstrebt, die man heute geringschätzig der Panoramenkunst zuweist. Nur sind auch diese Dinge sehr alt und ganz volkstümlich und hängen mit den Repräsentationen der katholischen Kirche, mit ihren Krippen und Olbergen, heiligen Gräbern, Kalvarienbergen essentiell zusammen. Abgesehen von den Werken eines Guido Mazzoni und anderer ihm verwandter Tonplastiker des Quattrocento, wäre hier eines der merkwürdigsten Beispiele, der Sacro monte von Varallo, zu nennen, dessen Passion, ein ganzes großes Panorama, unter Leitung des Gaudenzio Ferrari ausgeführt worden ist. Unter solchen Umständen steht also die naturalistische Porträtbüste, trotz aller akademischen und klassizistischen 71

Strömungen im 17. und 18. Jahrhundert, durchaus nicht als etwas Vereinzeltes und Ausnahmsweises da. Die Wachsbüste, wie sie durch das nicht mehr erhaltene Porträt Cosimos II. von Tacca repräsentiert wird, hat (zusammen mit der vollständigen Wachsfigur) auch tatsächlich das ganze 17. und 18. Jahrhundert, bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein, zu den A u f g a b e n der Plastik gehört. Beispiele haben sich in ziemlich reicher Zahl erhalten; ich gebe im Folgenden nur eine Übersicht dessen, was mir auf meinen Reisen bekannt geworden ist, ohne irgendwie Vollständigkeit erstreben zu wollen. Daneben hat sich die schon im 16. Jahrhundert sehr beliebte Wachsbildnerei im kleinen Maßstab stets behauptet; namentlich jene miniaturartigen, stark polychromen, nicht selten mit wirklichen oder nachgeahmten Edelsteinen, Perlen usw. besetzten Medaillons, in denen besonders die Oberitaliener exzellierten und die auch bei Dilettanten sehr in Gunst standen. 168 Schon A l f o n s o L o m b a r d o hat derartige Kleinarbeiten gemacht; 1 6 9 später erwarb sich die Familie der A b o n d i auf diesem Felde besonderes Ansehen. D a s Medaillon Maximilians II. und das in F o r m eines Gemäldes ausgeführte Reliefbildnis Erzherzog Ferdinands von Tirol von Francesco Segala aus Padua (s. A b b . S. 69), beide im Wiener Hofmuseum, sind vorzügliche Beispiele für diesen Kunstzweig, auf den ich aber nicht weiter eingehe. 1 7 0 Ein Wort ist nun noch über die Technik zu sagen. Die Büsten, um die es sich handelt, sind entweder in Wachsguß hergestellt, dann überarbeitet, koloriert und mit den bekannten Zutaten versehen worden; bei solchen, die unter Benützung von Totenmasken hergestellt wurden, war das die Regel. Oder sie sind Wachsbossierungen, d.h. aus freier Hand modelliert, wobei das Material je nach Bedarf in der Masse gefärbtes Wachs war. Der technische Unterschied kommt für unsere Darstellung wenig in Betracht; bei den Büsten der zweiten A r t sind auch die Akzessorien, wie Haare, Kleider etc., sorgfältigst in Wachs nachgebildet worden. 1 7 ' Eines der ältesten Stücke dieser A r t könnte die noch 1677 in der Schatzkammer vorhandene Büste Kaiser Maximilians I. gewesen sein, die wenigstens Browns Reisebeschreibung ausdrücklich als Wachsbossierung bezeichnet. 172 Die Verwendung des (eigenen) natürlichen Haares präludiert schon einer späteren Zeit. In den Inventaren des 18. Jahrhunderts wird auch dieses merkwürdige Stück - vielleicht eine überarbeitete Totenmaske - gleich dem Votivbild Karls des Kühnen (s. o.) nicht mehr aufgeführt. Wien besitzt aber noch immer an hervorragender Stelle ansehnliche Stücke dieser Art, die als Muster für die beiden früher beschriebenen Techniken dienen können. Die k. k. Hofbibliothek bewahrt, noch in alten Glaskästen, die Büsten Ferdinands III. und Leopolds I., beide tüchtige Arbeiten, die von einem nicht verächtlichen Kunstvermögen Zeugnis geben. Jene Ferdinands III., durchaus in farbigem Wachs bossiert, geht möglicherweise auf einen (weiter nicht bekannten) Wiener Wachsbossierer namens Justin Psolmayer zurück, der nach einer von E. Tietze-Conrat veröffentlichten Notiz' 7 3 1643 eine beträchtliche Summe (300 Reichstaler) für ein Porträt des Kaisers angewiesen erhielt. Die Büste Leopolds I. - mit natürlichem Haupt- und Barthaar und einem seidenen Käppchen - ist in ihrer En face-Ansicht wohl etwas befremdend, rührt aber von einer durchaus nicht ungeschickten Hand her. Wir bringen sie auf den beiliegenden Tafeln.

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Kaiser Ferdinand III. ( Wien. Κ. Κ. Hofbibliothek).

73

Kaiser Leopold I. ( Wien, Κ. Κ. Hofbibliothek). (s. S. 72)

74

I II

Kaiser Leopold I. ( Wien, Κ. Κ. Hoßibliothek). (s. S. 72)

75

Kaiser Leopold II. (Wien, k. u. k. Familien-Fideikommißbibliothek).

76

(s. S. 80)

Kaiser Leopold II. ( Wien, k. u. k. Familien-FideikommißbibliothekΛ

77

(s. S. 80)

ÍNANDIV: ;I.I75HS:5.

König Ferdinand IV. von Neapel (Wien, k. u. k. Familien-Fideikommißbibliothek).

78

(s. S. 80)

König Ferdinand IV. von Neapel (Wien, k. u. k. Familien-Fideikommißbibliothek).

79

(s. S. 80)

Kaiserin Marie Louise

Erzherzogin Ludovica

(k. u. k. FamilienFideikommißbibliothek

(k. u. k. Familien).

Fideikommißbibliothek

).

Beide Büsten zeigen trotz der verschiedenen Technik in ihrer lebhaften Polychromie und in der Behandlung des Beiwerks (Haare, Spitzenkragen usw.) jenen uns schon sattsam bekannten Z u g der Wachsplastik nach minutiöser und naturalistischer Ausführung. N o c h viel stärker tritt diese in einer Anzahl von Wachsbüsten hervor, die die k . u . k . Familienfideikommißbibliothek in Wien besitzt; die bedeutendste darunter stellt Kaiser Leopold II. dar. Hier handelt es sich aber um Wachsgüsse, die bemalt und mit natürlichen Haaren und Stoffen ausgestattet sind. Von geradezu erschreckender Lebendigkeit ist die Büste Ferdinands IV. von Neapel; die Lebenstreue wird hier beinahe zur Indiskretion. Freilich haben alle durch die Zeit stark gelitten, das Wachs ist vergilbt, die Haare unterlagen der Zerstörung; die sehr stark beschädigte Büste Maria Louisens, Napoleons Gemahlin, sowie die Figur der kleinen Erzherzogin Ludovika (t 1791), der einzigen Tochter Franz' II. aus erster Ehe, in ganzer Gestalt, sind vollends durch moderne Restauration fast völlig ihres ursprünglichen Charakters entkleidet worden.' 7 4 A b e r die Büste Leopolds II., die vor Jahren auf der Cimarosa-Ausstellung im Wiener Künstlerhause (1900) in guter Beleuchtung zu sehen war, erbringt den Beweis, daß auch mit dieser heute von dem Bannfluch der Ästhetik getroffenen Technik etwas künstlerisch Hervorragendes zu leisten ist.' 7 5 Ein charakteristischer Z u g ist die peinliche Wiedergabe der Epidermis; sogar die Bartstoppeln sind (wie auf dem später zu erwähnenden Porträtrelief Ludwigs X I V . von Benoist) in natura mit skrupulöser 80

Genauigkeit wiedergegeben. Über den Autor ist nichts bekannt. Eine ganz unsichere Spur könnte auf den »Hofstatuarius« und Wachsbossierer Josef Müller leiten, mit seinem wahren Namen Graf Deym von Stritez ( t i 8 o 4 ) , auf dessen einst berühmtes Kunstkabinett im Roten Turm noch gelegentlich zurückzukommen sein wird. Den abenteuerlichen Lebenslauf des Mannes kann man in Wurzbachs Biographischem Lexikon des Kaisertums Österreich (III, 276) nachlesen. Er war am neapolitanischen Hofe besonders wohl gelitten und erlangte die damals viel beredete Erlaubnis, die Antiken des Museo Borbonico abformen zu dürfen. Die Büste des Königs von Neapel könnte auf ihn zurückgehen.' 76 Diese freie Wachsbildnerei ist überhaupt, ihrer Herkunft getreu, ursprünglich und wesentlich eine höfische Kunst. Beispiele lassen sich aus aller Herren Länder anführen. Schloß Rosenborg in Kopenhagen bewahrt die guten, nur nicht ganz intakt erhaltenen Büsten Friedrichs III. von Dänemark ( 1 6 4 8 - 1 6 7 9 ) und seiner Gemahlin,' 7 7 die kaiserliche Eremitage in St. Petersburg die charakteristische und ausdrucksvolle Peters des Großen,' 7 8 vielleicht von dem aus München gebürtigen Friedrich Wilh. Dubut (t 1779 zu Danzig) herrührend, der viel für die nordischen Reiche, Polen und Rußland, beschäftigt war.' 7 9 Von der Maske des Dogen Mocenigo war schon die Rede. Dazu kommen nun die ganzen sitzenden oder stehenden Figuren fürstlicher Persönlichkeiten, mit ihren wirklich getragenen Gewändern bekleidet, Kopf und Hände jedoch aus Wachs gebildet, die im Laufe des 17. und r 8. Jahrhunderts außerordentlich beliebt waren; ihren Zusammenhang mit der Funeralplastik kennen wir schon, vor allem ihre noch erhaltenen Vorgänger in der Westminsterabtei. Ich nenne von dieser Reihe die Sitzfigur Peters des Großen in der Eremitage, ferner die ähnliche Friedrichs I. von Preußen (t 1 7 1 3 ) , die noch zu dessen Lebzeiten entstanden ist, sowie jene des großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (t 1688), deren Kopf von dem kurfürstlichen Bildhauer J. Chr. Döbel herrührt. Die Zusammenstellung der Figur ist jedoch erst 1796 unter Leitung Chodowieckis' 80 vorgenommen worden. Im Vaterländischen Museum zu Braunschweig befindet sich endlich die ganze Figur Friedrichs des Großen, mit der angeblich in den schlesischen Kriegen getragenen Uniform des Königs bekleidet; die charakteristische Haltung des alten Feldherrn ist sehr gut wiedergegeben. Der ausdrucksvolle Kopf (mit Glasaugen und Haarperücke) ist 1786 von Eckstein nach der Totenmaske verfertigt worden. 1 8 1 Für sich steht das Porträt Ludwigs X I V . im Historischen Museum zu Versailles, ausnahmsweise keine Büste, sondern ein Hochrelief, aber in der Technik wie in der Verwendung natürlicher Stoffe den bisher besprochenen Beispielen durchaus gleichzusetzen. Diese »tête monstrueuse«, wie sie Molinier nennt, zeigt die schlaffen Züge des gealterten Königs mit furchtbarer Lebenswahrheit, ohne jede Schminke und konventionelle Lüge, wie sie die Staatsporträte, vom ganzen theatralischen Pathos des französischen Barocks erfüllt, zur Schau tragen. Das Relief ist für uns von besonderem Interesse, da es von einem zu jener Zeit hochgeschätzten Künstler herrührt, dem wir gleich noch einmal auf einem sehr charakteristischen Gebiet bègegnen werden. Es ist Antoine Benoist ( 1 6 3 2 - 1 7 1 7 ) , »écuyer, peintre du Roy et son unique sculpteur en cire colorée«, wie es im Sterbeakt von 1 7 1 7 heißt. Er wurde 1681 Mitglied der illustren Pariser Akademie der schönen Künste und 1706 in den Adelsstand erhoben.' 82 Für uns ist 81

Friedrich III. von Dänemark (SchloßRosenborg), (s. S. 81)

Königin Sophie Amalie von Dänemark (SchloßRosenborg), (s. S. 81)

Peter der Große (St. Petersburg, Eremitage), (s. S. 81)

Peter der Große (St. Petersburg, Eremitage), (s. S. 81) 82

Friedrich I. von Preußen (SchloßMonbijou),

83

(s. S. 81)

Friedrich der Große (Braunschweig). (s. S. 81)

84

A . Benoist, Ludwig X I V .

(Versailles), {s. S. 8l)

die in Frankreich noch heute anhaltende Schätzung des Mannes (Blondel, a . a . O . , 430) sehr merkwürdig. Sein Ruhm reichte über die Grenzen seiner Heimat hinaus; der englische Hof bedachte ihn mit einem ehrenvollen Ruf. Die Poeten seiner Zeit besangen ihn, so der A b b é Marolles; er war ein Mann, der sich in der vollen Gunst seiner Zeit sonnen durfte. A b e r es fehlte auch nicht an weniger anerkennenden Stimmen - und auf das Echo von dieser Seite her müssen wir besonders horchen; der scharfzüngige La Bruyère nannte ihn mit wenig Respekt einen »montreur des marionettes«. Ein Kunstgenüsse wie der alte Stecher A b r a h a m Bosse hat ihn dagegen in seinem Peintre converti (Paris 1667) gegen dergleichen Angriffe warm verteidigt: »Pour les beaux et surprenants portraits en cire de M . Benoist, je dis encore, que ci-ceux qui ont prétendu le mépriser en avoient vu, comme moi, à qui il a donné l'air de la vie par une gaieté souriante, ils n'auraient peut-être pas été si prompts à déclamer contre une si belle invention.«' 8 3 Hier ist schon von dem Bildnis eines Privatmannes die Rede; in der Tat sind diesen Herrscherbildern die Büsten geistig oder sozial hervorragender Männer anzureihen, die freilich in viel geringerer Zahl vorhanden sind.

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Büste des Fra Domenico Paganelli ( Faenza).

A l s Beispiel führen wir die im Museo Civico zu Faenza bewahrte Wachsbüste eines berühmten Bürgers dieser Stadt an, des Dominikaner-Architekten Fra Domenico Paganelli, der die von P. P. Jacometti gegossene Fontana publica auf dem Hauptplatz der Stadt entworfen hat (1621). A u c h sie ist ohne Zweifel unter Benützung einer Totenmaske hergestellt; die alt zugehörige K a p u z e ist jetzt erneuert. Ein Beispiel, das sich dagegen durchaus, schon der Lebensstellung des Dargestellten nach, den fürstlichen Bildnissen anschließt, bewahrt die Sakristei der einstigen Schloßkapelle (jetzt Pfarrkirche) in Breitenfurt bei Wien. 1 8 4 Es ist eine mit außerordentlicher Künstlerschaft ausgeführte Wachsbüste, vielleicht die hervorragendste ihrer Art, das Porträt eines reichen Emporkömmlings, Georg Wilhelm von Kirchner, kaiserlichen Hofbuchhalters ( 1670-1735); Ilg glaubte sie, freilich aus ganz äußerlichen Gründen und der Lokaltradition folgend, keinem Geringeren als G . R. Donner zuschreiben zu können. Der M a n n , über dessen Lebensschicksalen ein romantisches Dunkel schwebt, der, wiewohl zu Unrecht, als natürlicher Sohn Karls VI. galt, möglicherweise aber ein illegitimer Halbbruder dieses Herrschers war, hat eine wahrhaft fürstliche Mäzenatentätigkeit entfaltet, den prunkvollen Barockbau des heute verschwundenen Schlosses Breitenfurt mit ungewöhnlichen Mitteln aufgeführt und für dieses auch die imposante große Marmorgruppe Karls VI. von Donners Hand (1734, jetzt im Belvedere) bestellt. Die mit natürlicher Perücke sowie Stoffen und Spitzen (die indessen aus einer Restauration der sechziger Jahre stammen) bekleidete Büste, die ihn als älteren

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Georg Wilhelm von Kirchner (Breitenfurt bei Wien, Pfarrkirche).

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Georg Wilhelm von Kirchner (Breitenfurt bei Wien, Pfarrkirche). (s. S. 85)

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Mann zeigt und eine der denkwürdigsten Leistungen der österreichischen Barockplastik auf diesem Gebiete darstellt, paßt in die außerordentliche Umgebung, in der dieser Mann sich bewegt hat. Noch späterer Zeit gehört eine Büste an, die vor mehreren Jahren (als angebliches Goethebildnis) an das Wiener Goethemuseum gelangt ist und deren Kenntnis ich der Freundlichkeit des Herrn Kustos Dr. Payer von Thum verdanke; seit kurzem ist sie als Widmung in den Besitz des kunsthistorischen Hofmuseums übergegangen. 185 Eine alte Inschrift an der Rückseite nennt den Namen des Dargestellten (Daguesseau). Darnach scheint es sich um den berühmten französischen Staatsmann und Gesetzgeber aus der Zeit Ludwigs X I V . , den Kanzler d'Aguesseau, zu handeln, der 1668 in Limoges geboren wurde und 1 7 5 1 in hohem Alter starb. Das Kostüm mit dem gefältelten Spitzenjabot (der Frack ist längst den Motten zum Opfer gefallen) scheint allerdings in eine etwas vorgerücktere Periode des 18. Jahrhunderts zu weisen; freilich ist durchaus nicht ausgeschlossen, sogar sehr wahrscheinlich, daß es von einer Restauration viel späterer Zeit herrührt. Die mir bekannten Stiche stellen den berühmten Juristen in der Vollkraft des Mannesalters und in der feierlichen Hoftracht des Zeitalters Louis X I V . mit der Allongeperücke dar, so daß die Vergleichung erschwert ist, die aber trotzdem, namentlich in der Mundpartie, bemerkenswerte Übereinstimmungen ergibt. Die Büste gibt jedoch zweifellos einen hochbetagten Mann an der Lebensgrenze wieder und scheint außerdem mit Benützung einer Totenmaske hergestellt zu sein, wäre also demnach erst nach der Mitte des Jahrhunderts entstanden. Sie ist ein technisch wie künstlerisch hervorragendes Werk, fein und sorgfältig, ohne Kleinlichkeit modelliert und trotz der Vergilbung des Materials höchst ausdrucksvoll, geradezu ein Schulbeispiel dafür, wie dergleichen Büsten, trotz ihrer natürlichen Haare und Gewänder, trotz der Glasaugen, einen künstlerisch befriedigenden Eindruck hervorzubringen imstande sind. Eine Besonderheit auf diesem Gebiete, die uns abermals auf den Zusammenhang mit der Funeralplastik aufmerksam macht, sind die meist lebensgroßen, bekleideten Wachsfiguren, durch die man in höfischen und Patrizierkreisen das Abbild frühverstorbener Kinder mit möglichster Treue und Intimität festzuhalten versucht hat. Das Hohenzollernmuseum bewahrt eine ganze Reihe von solchen Kinderfiguren, von Söhnen und Töchtern Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I., die sämtlich in zartem Alter dahingegangen waren.' 86 Auch das früher erwähnte Konterfait eines Töchterchens Franz II. in der Fideikommißbibliothek in Wien gehört hierher. Endlich eine Anzahl von venezianischen Patrizierkindern des Settecento, noch in den alten Glaskästen, die in einem Saale des Museo Civico Correr in Venedig zur Schau gestellt sind. Diese ganze Klasse der Porträtplastik hat einen eigentümlichen Hintergrund, der kurz skizziert werden muß. Es handelt sich überdies um die entscheidende Peripetie im Leben dieses aristokratischen Kunstgebildes, von dem aus seine Demokratisierung und zugleich sein Niedergang begonnen hat. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts treten nämlich die Wachsfigurenkabinette hervor. Ihr Name entstammt dem alten Sammelwesen und hängt wie dieses mit älteren Entwicklungen zusammen. Denn wie die Kirche das älteste Museum gewesen ist,' 87 so war sie, so sonderlich es klingen mag, im Grunde auch die älteste Stätte für das Panoptikumwesen. Wir brauchen nur nochmals an die Annunziata in Florenz und das noch 89

D'Aguesseau (Wien, Kunsthistorisches Hofmuseum). (s. S. 89)

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Prinz Friedrich Ludwig (f 1708) (SchloßMonbijou), (s. S. 89)

erhaltene Museum von S. Maria delle Grazie bei Mantua zu erinnern. Es ist charakteristisch, wie sich von dem Organismus der einst alles umfassenden mittelalterlichen Kirche ein weiteres Glied ablöst und »profan« wird, im ursprünglichen und abgeleiteten Sinne des Wortes. Vorbereitet war dergleichen schon lange. Die in Wachs ausgeführten und überarbeiteten Toten-(und Lebens-)masken, die ganze Entwicklung jener charakteristischen Büsten, wie der Vollfiguren fürstlicher oder vornehmer Personen, die Sitte, das Andenken an frühverstorbene Kinder, überhaupt an besonders teure Personen in dieser Weise dauernd festzuhalten, waren Vorstufen dazu. Es ist im Grunde derselbe Gedanke, der an den verschiedensten Punkten der Erde und in den verschiedensten Zeiten gleichmäßig hervortritt, bald uranfänglich naiv, von dogmatischen Religionsideen getragen, wie bei den Mumien der Ägypter oder anderer Völker, bald in einer raffinierten Kultur, wie der französischen des Rokoko, von der hier zunächst die Rede ist, individuell und sentimental bestimmt, bis zu grotesken Übertreibungen. So lesen wir in alten Berichten,' 88 daß eine untröstliche Witwe, die Gräfin von Harcourt, 1769 die lebensgroße Figur ihres verstorbenen Gemahls ausführen und, mit einem Schlafrock bekleidet, zu Seiten ihres Bettes in einem Fauteuil sitzen ließ. Dergleichen erinnert an die mit äußerster Routine ausgeführten Grabfiguren, die auf manchen 91

italienischen Friedhöfen, namentlich jenen von Genua, Mailand und Bologna, zu sehen sind und nicht selten ähnliche Geschmacklosigkeiten verkörpern. Es zeigt aber auch, wie tief eingewurzelt dieses uralte Puppenwesen ist. Der Akademiker Antoine Benoist ist uns schon bekannt, und es war von der außerordentlichen Schätzung seiner Kunst die Rede, namentlich durch Ludwig X I V . , für dessen berühmte Histoire métallique Benoist Entwürfe geliefert hat. Der Adelsbrief, den ihm Ludwig X I V . 1706 erteilte, zählt die für den Hof bestimmten Arbeiten auf. Nun hatte Benoist die hervorragendsten Persönlichkeiten des französischen Hofes, die den Cercle der verstorbenen Königin Maria Anna gebildet hatten, in lebensgroßen Wachsfiguren porträtiert. Schon 1668 erhielt er ein königliches Privileg, das 1688 auf die Zeit von dreißig Jahren erstreckt wurde, mit der alleinigen Autorisation, diesen »Cercle«, außerdem Darstellungen derselben Art von anderen Höfen, endlich der Gesandtschaften von Siam, Marokko, Moskovien, Algier, des Dogen von Genua sowie »masques de cire« öffentlich in Paris und an anderen Orten Frankreichs zur Schau zu stellen. Sein Sohn Gabriel, gleichfalls Maler, führte das Geschäft des Vaters fort; das Privileg wurde ihm 1 7 1 8 auf zwanzig Jahre erneuert. In einem zeitgenössischen Diarium aus Paris 189 liest man: »Les figures étoient en piè, habillées, atiffées richement selon la manière de chaque pais, parce que les personnes de qualité se piquoient de lui faire présent de leurs plus beaux habits.« Die Eitelkeit der mondänen Kreise hat also an dieser Schaustellung reichlich Anteil gehabt. Jenes Privileg ist aber ein merkwürdiges Dokument; ein Künstler vom Range und in der sozialen Stellung dieses Antoine Benoist, des geadelten Hofmalers und Akademikers, erscheint als Inhaber eines der ersten in Europa öffentlich um Geld gezeigten Wachsfigurenkabinette. Dergleichen zeigt uns den ganzen Abstand von heutigen Wertungen, zugleich aber auch die Bahn, in der sich die künftige absteigende Entwicklung dieses prätentiösen, in den höchsten Schichten der Gesellschaft eingebürgerten Kunstzweiges bewegt. Benoists Beispiel ist auch nicht ohne Nachfolge geblieben. Aus dem Wortlaute jenes Privilegs geht hervor, daß schon damals andere Unternehmungen solcher Art existierten, gegen deren Konkurrenz Benoist eben den Schutz des Königs anrief und erhielt. Tatsächlich lassen sich die Spuren solcher Schaustellungen noch weiter zurück, bis in den Anfang des 17. Jahrhunderts verfolgen. Wir erinnern uns der Büste Michel Bourdins, die dieser in freier Konkurrenz mit Duprè und Jacquin' 9 0 für die Leichenfeier Heinrichs IV. von Frankreich hergestellt hatte. Nun hat Vitry' 9 1 die Akten eines merkwürdigen Prozesses entdeckt, den der Künstler 1 6 1 1 in Saintes gegen einen gewissen François de Bechefer, »secrétaire de Mgr. le prince de Conty«, führen mußte. Dieser hatte mit dem Künstler einen Kontrakt geschlossen, dessen Tenor uns nicht bekannt ist, nach dem er ihm aber monatlich 150 Livres für die Überlassung seines Werkes zu zahlen hatte. Dieser Kontrakt muß irgendwie verletzt worden sein; tatsächlich weigert sich Bourdin, die bei Gericht deponierte Effigie zu übernehmen, weil sie gegen den Wortlaut des Vertrages beschädigt sei, ein Finger der linken Hand fehle, auch der Beigaben eines »ciel« und »doucier, le tout de vellours bleu chamarré de gallon de or faux« entbehre. Aus diesen Umständen geht mit Sicherheit hervor, daß es sich um eine Reproduktion der Effigie, wie man sie bei den feierlichen Aufbahrungen in der Chambre ardente zur Schau zu stellen pflegte, gehandelt hat, deren Autor der in der Konkurrenz unterlegene

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Biistchen Haydns (Wien, Sammlung Steger), (s. S. 97)

Bourdin selbst war. Aus den weiteren Details, namentlich aus dem monatlichen Kontrakt, hat Vitry scharfsinnig und überzeugend geschlossen, daß es sich hier wahrscheinlich um einen frühen »Barnum« gehandelt hat, daß jener Bechefer ein spekulativer Unternehmer war, der mit der Schaustellung der Effigie des Königs, ganz in der A r t , wie es in Paris zum offiziellen Zeremoniell gehörte, in der Provinz Geschäfte machen wollte; die Schauertat Ravaillacs war ja noch überall in frischem Andenken. Das wäre dann die älteste Spur der Wachsfigurenkabinette, die wir kennen, schon mit dem Einschlag des Gruseligen, der von ihnen untrennbar scheint.

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Büstchen Haydns (Wien, Sammlung Vivenot). (s. S. 98)

Zu Ende des 18. Jahrhunderts unterhielt ein Deutscher namens Creutz (Curtius) ein Wachsfigurenkabinett auf einem Pariser Boulevard; der Eintrittspreis war sehr bescheiden, zwei Sous; 1783 eröffnete der nämliche Creutz unter enormem Zulauf der schaulustigen Pariser Flaneure die »caverne des grands voleurs«; das ist schon völlig das Niveau der Jahrmarktsbuden und jener später weltberühmten Kabinette des 19. Jahrhunderts, der Madame Tussand in London, des Musée Grévin in Paris usw. Daß jener Creutz aber trotzdem, gerade so wie sein Vorgänger Benoist, als Künstler auftrat und als solcher eingeschätzt wurde, beweist seine Zulassung zu der vornehmsten Pariser Schaustellung: 1791 war im Salon eine farbige Wachsbüste des königlichen Prinzen von seiner Hand zu sehen.' 92

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Frauenbiistchen (Graz, Joanneum). (s. S. 98)

Frauenbüstchen (Graz, Joanneum). (s. S. 98)

F ü r uns ist endlich eine vielbelobte Sehenswürdigkeit des alten Wien von Interesse: das schon einmal erwähnte, ursprünglich am Stock im Eisen, später beim roten Turme befindliche Kunstkabinett des Hofstatuarius Müller-Deym. Die alten gedruckten Führer' 9 3 lehren uns seinen Aspekt zu Ende des 18. Jahrhunderts kennen; es ist ein echtes und rechtes Panoptikum im heutigen Sinne. Außer Werken einheimischer Plastiker, wie G . R . Donner, F . X . Messerschmidt (dessen kuriose Serie physiognomischer Studienköpfe hier ausgestellt war), den Gipsabgüssen von Antiken aus Neapel und Portici, allerhand Kuriositäten, sah man hier in der Abteilung »moderner Bildwerke« ein richtiges Wachsfigurenkabinett: die lebensgroße Reiterstatue Franz' II. von Müller selbst, die ganze kaiserliche Familie als Gruppe gestellt (darunter die Kaiserin Charpie zupfend), eine Büste Kaiser Josefs II. in seinem vierzigsten J a h r unter einem »vergoldeten schönen Glaskasten«, ein Porträt der verstorbenen Erzherzogin M a r i a Elisabeth. Weiter ein lebensgroßes Bild Friedrichs des Großen mit seinem Krückstock, in dunkelblauer Uniform, auf einer Ruhbank sitzend, Ludwig X V I . und Marie Antoinette mit dem Dauphin, Katharina II. von Rußland - es ist genau, wie man sieht, die noch heute aufrechte Tradition von Benoists Kabinett her. Daran schließt sich das »Mausoleum« (d.i. der K a t a f a l k ) Josefs II. sowie Laudons. D a s letztere enthielt ein Orgelwerk, dessen Musik von niemand Geringerem als Mozart herrührte; die »Trauermusik« ist die in der Bearbeitung für Klavier zu vier Händen

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S. Franciscus (Venedig, Redentore),

Heiligenbüste (s. S. 98)

(Venedig, Redentore).

(s. S. 98)

wohlbekannte, 1790 komponierte Phantasie in F-moll, 1 9 4 es ist also auch von dieser Seite her das gleiche freundliche Verhältnis zur »hohen« Kunst wie früher. Weitere echte Panoptikumstücke sind endlich die Automaten, diese ohnehin in engster Verbindung mit der Wachsplastik; die jüngste Niobide, in einer von Müller eigens erfundenen, fleischähnlichen Masse; eine »junge Griechin« in einem Glaskasten; das »Schlafgemach der Grazien«. Auch die Anatomie fehlt nicht, wie zu erwarten; sie ist vertreten durch das zerlegbare Phantom einer Schwangeren in einem gläsernen Sarge. Die Demokratisierung der alten höfischen Kunst wird immer deutlicher. Sie dient nicht mehr ausschließlich den durch Geburt und soziale Stellung hervorragenden Persönlichkeiten, wenn diese auch noch in erster Reihe stehen; sie ist auch schon darauf aus, das nach anderer Richtung hin Ungewöhnliche ihrem Publikum vorzuführen: das Exotische, Kuriose, das sozial und physisch Pathologische, die seltsame Mißgeburt wie der außerordentliche Verbrecher finden bei ihr Aufnahme. Es ist ein Ableger der Sinnesart, die auch die alten Sammlungen als »Kunst- und Wunderkammern« so lange beherrscht hat. Längst hat sich ferner der aufsteigende dritte Stand der an den Höfen noch immer in hoher Gunst stehenden Keroplastik bemächtigt, für deren Schätzung

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Heiligenbüste (Venedig, Redentore), (s. S. 98)

Heiligenbüste (Venedig, Redentore), (s. S. 98)

eben die offizielle Stellung Benoists am Hofe Ludwigs X I V . das beste Zeugnis abgibt. Schon Abraham Bosse spielt auf sein eigenes Porträt von der Hand Benoists an (s. o.). Meist sind diese nicht eben selten vorkommenden Werke, wenigstens in den besseren Exemplaren, durch Technik und Ausführung völlig jenen Produkten der höfischen Kunst gleich, nur in kleinerem Format, unter Lebensgröße gehalten, und repräsentieren auch derart das bescheidenere bürgerliche Milieu. Hübsche Beispiele bieten zwei in Wiener Privatsammlungen vorhandene Büstchen Josef Haydns, die den Meister etwa um die Zeit seiner großen englischen Triumphe ( 1 7 9 0 - 1 7 9 5 ) , auf dem Höhepunkte seines Lebens zeigen. Die eine davon stammt aus Haydns Besitze selbst, der sie bis an sein Lebensende unter einem Glassturz in seiner Wohnung stehen hatte; später kam sie in den Besitz der berühmten alten Verlagsfirma Haslinger in Wien und ist heute Eigentum des Regierungsrates Dr. Heinrich Steger (s. auch Abb. S. 91 und die Schlußvignette). Sie ist ein meisterhaft ausgeführtes Werkchen, in feinster, noch recht gut erhaltener Polychromie abgetönt. Trotz ihrer fast Donnerschen Akribie, mit der sie die von den Pockennarben zerrissene Epidermis wiedergibt, ist der geistige Ausdruck nicht zu kurz gekommen; sie ist wohl das sprechendste Haydnbildnis, das wir besitzen (Höhe 97

Biistchen eines alten Weibes

( Wien, Hofmuseum). ca. 28 cm). Der Tradition nach sollen eigene Haare und Fragmente von Kleidungsstükken Haydns verwendet sein. Über den Autor ist nichts näheres bekannt, die Angabe in Kalbecks unten zitiertem Aufsatze, daß er ein Italiener gewesen sei, der um jene Zeit eine Reihe von hervorragenden Persönlichkeiten Wiens in dieser Art porträtierte, vermag ich nicht nachzuprüfen. Die zweite sehr ähnliche Büste, möglicherweise sogar von derselben Hand, stammt ebenfalls aus altem Wiener Privatbesitz. Sie war ursprünglich beim Fürsten Metternich, der sie 1829 seinem Freunde, dem Arzt Dominik v. Vivenot verehrte, in dessen Familie sie bis auf den heutigen Tag verblieben ist. 1 9 5 Die letzten Beispiele der Art, die ich kenne, sind endlich zwei feine Frauenbüstchen in der Tracht der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, die sich im Museum Joanneum zu G r a z befinden. Dann hat die alte farbige, aus einem ganz anderen Milieu stammende Kunst vor dem nüchternen, grauen Bourgeoisgewerbe der Daguerrotypie abgedankt. 1 9 6 Im Grunde gehören in diese Reihe jedoch auch die merkwürdigen Büsten von Kapuzinerheiligen des 17. und χ 8. Jahrhunderts, die unter Glasstürzen in der Sakristei des Redentore zu Venedig bewahrt werden, angeblich zum Teil Werke von Ordensbrüdern. Es sind höchst realistische Darstellungen nach dem Leben darunter, die ohne weiteres als Porträtstudien aufgefaßt werden können; einzelne davon sind künstlerisch recht hoch zu stellen; die hier gegebenen Abbildungen geben nur einen sehr unvollkommenen Begriff ihrer Wirkung. 1 9 7 Die Keroplastik hat im 18. Jahrhundert nicht nur auf diesem engeren Gebiete eine lange Nachblüte gehabt. Sie wetteifert sowohl mit der großen Skulptur überhaupt als 98

Relief der heil. Familie

( Bologna, SS. Vitale ed Agricola), (s. S. ιοί)

auch namentlich mit der modischen Kleinplastik des Porzellans. Sehr graziöse Proben der letzteren Art befinden sich im herzoglichen Museum zu Braunschweig. Es sind meist Arbeiten von Christ. Friedr. Rauschner aus Naumburg ( 1 7 2 5 - 1 7 9 3 ) . Die Technik verleugnet auch auf diesem Felde nicht immer den ihr inhärenten Z u g zum Naturalismus. Beispiele dafür sind in den alten Sammlungen nicht selten zu finden; zu den häufigsten gehören kleine Büstchen alter Weiber mit natürlichen Haaren, Runzeln und anderen Zeichen des Verfalls auf der ledergelben Haut, die das Wachs besonders natürlich wiederzugeben imstande ist. Ein aus A m b r a s stammendes Beispiel des Wiener Hofmuseums diene hier als Repräsentant der Gattung. Das Motiv selbst gehört aber schon der älteren deutschen Plastik an; an die furchtbar realistische Darstellung des hohen Greisenalters in der berühmten aus St. Florian stammenden Schnitzgruppe des Hofmuseums braucht hier bloß erinnert zu werden. 1 9 8 Dann hat die Wachsbildnerei innerhalb der volkstümlichen Kirchenplastik noch lange ein einträgliches Feld für ihre Betätigung gefunden. Die Kirchen der katholischen

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Adam (Bologna, Museo anatomicoJ.

Eva (Bologna, Museo

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anatomico).

Alpenländer, Italiens, Spaniens bergen noch heute viele Beispiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Namentlich ist die Emilia ein Zentrum dieses Kunstzweiges gewesen. Ihr Hauptort Bologna besitzt sehr gute Proben dieser Kunstfertigkeit; ein sehr schönes Relief der heil. Familie befindet sich in SS. Vitale ed Agricola; es sieht wie die Reproduktion eines spätbolognesischen Tafelbildes aus. Tatsächlich gehören dergleichen Übersetzungen zu den Ambitionen der Wachsbildnerei. Die Technik ist die nämliche wie bei den Wachsbüsten; die Farbe ist reichlich und in sehr feiner Abstimmung zuhilfe genommen, wie das Relief überhaupt zu den vorzüglichsten Werken seiner Art g e h ö r t ; 1 " endlich sind natürliche Kleiderstoffe und Haare verwendet. Diese kirchliche Plastik hat sich in Bologna sehr lange auf achtungswerter Höhe erhalten; die feine liegende Figur eines jugendlichen Heiligen in S. Sigismondo (von Bettini) zeigt, daß die Technik noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts geblüht hat. Das gelehrte Bologna, in dem eine berühmte medizinische Hochschule bestand, liefert uns endlich auch treffliche Beispiele für ein Handwerk an den Grenzen der Kunst, das der Wachsbildnerei noch einträgliche Beschäftigung bot, als sie sich längst nicht mehr der Gunst der Höfe erfreuen durfte, und das abermals für ihre naturalistische Ader äußerst bezeichnend ist. Das ist das anatomische Präparat. Seine Geschichte reicht bis in die Tage der Renaissance zurück; wie diese Kunst mit den anatomischen Studien in Italien verquickt ist, wie Künstler von Namen daran Anteil haben, ist allzu bekannt, um weiterer Hervorhebung zu bedürfen. Schon ein Zeitgenosse Michelangelos, Vigenère, erwähnt in seiner Philostratübersetzung, 200 daß ein französischer Künstler, Jacquet d'Angoulême, in derlei Anatomien exzellierte; in der Vaticana befanden sich drei Figuren in schwarzem Wachs von ihm (Lebensmodell, Muskelmann, Skelett). Das alte anatomisch-pathologische Kabinett der Universität Bologna bewahrt noch heute (außer zwei Wachsbüsten seiner Gründer) eine große Reihe sehr merkwürdiger Arbeiten dieser Art, die teilweise von jenem schon erwähnten Ercole Lelli herrühren mögen. Auch das ehemalige »Josephinum« in Wien besitzt ein hervorragendes altes Museum, dessen Präparate in Florenz unter der Leitung der Professoren Fontana und Mascagni hergestellt und von Josef II. 1786 angekauft wurden; auf Florenz als Zentrum dieser Fertigkeit weist noch Goethe in seinem Aufsatz über plastische Anatomie (1832) hin; das Anatomische Museum in Jena hat sich j a immer seines besonderen Interesses erfreut, von dem auch eine ausführliche Episode in den Wanderjahren (III, 3) Zeugnis ablegt. Aus diesen ist das Motto genommen, das an der Spitze dieser Schrift steht. Es bezieht sich dort auf die Bemühung des »ansehnlichen« Bildners, anatomische Präparate in Wachs herzustellen. Die Äußerung, die Goethe diesen Künstler machen läßt, ist zu charakteristisch für den Wandel der Anschauungen, als daß sie hier nicht wiedergegeben werden sollte: »Ich muß dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben, denn Sie haben gewiß oft schon Männer von Fach mit Geringschätzung davon reden hören.« Eine Berühmtheit in seiner Art war endlich der Sizilianer Gaetano Zumbo aus Syrakus, der 1701 von Ludwig X I V . ein eigenes Privileg für dergleichen Präparate erhielt 201 und in Frankreich höchlichst bewundert wurde. Ein paar sehr bekannte Werke von ihm, die sich durch besondere Greulichkeit dem Besucher einprägen, befinden sich noch im Museo Nazionale zu Florenz: Darstellungen des Verwesungsprozesses 101

durch alle Stadien, in panoramenartigen Kästchen; nach der Weise des Barockstils pompös-symbolisch und nicht ohne Geschick staffiert. Auch das ist eine Erbschaft, die die modernen Panoptiken angetreten haben, deren Leistungen überhaupt häufig zu niedrig eingeschätzt werden. Das alte Handwerk ruht hier noch in ununterbrochener Tradition auf festem Boden.202

(Stift

St. Paulus Kremsmünster).

IV. K A P I T E L

Ausgang der alten Wachsbildnerei Ihre Ächtung durch die Ästhetik des Klassizismus

A n der mehr als zweitausendjährigen Kunst der Porträtbildnerei in Wachs ist die soziale und politische U m w ä l z u n g Europas, deren Markstein die große französische Revolution ist, nicht spurlos vorübergegangen. 2 0 3 D a s Heraufkommen neuer Stände, die Peripetie der Gedankenwelt, die weit ausgreifende industrielle, technische, kapitalistische Entwicklung hat auch die wirtschaftliche Grundlage der alten Kunst überhaupt nicht unberührt gelassen. Natürlich sind diese Änderungen vorbereitet gewesen, und ebenso natürlich ist es, daß die alten Formen noch eine Zeitlang vegetiert haben, bis sie gänzlich abstarben oder sich, so gut es ging, den neuen Bedingungen angepaßt hatten, w o es dann freilich, wie in den übrigen Lebensformen, nicht ohne Mediatisie103

rung und Deklassierung abging. Das gilt auch von dem Winkel der Kulturgeschichte, den wir ein wenig aufzuhellen bemüht waren. Die alte höfische Funeralplastik ist eines natürlichen Todes gestorben, in ihrem Hauptlande, Frankreich, schon zu Ende des 17. Jahrhunderts; selbst in einzelnen besonders konservativen Staatsgebilden wie Venedig und England hat sie die napoleonische Zeit nicht überlebt. N o c h früher ging die Votivplastik der Kirchen zu Ende, soweit sie von der Gunst der herrschenden und privilegierten Stände getragen war; es war nicht sowohl der erkaltende Glaubenseifer, wie ältere Beobachter gemeint haben, als die neue Orientierung dieses Glaubens. Das Zeitalter der Gegenreform und des Jesuitismus empfand in seinem Intellektualismus die alten, naiv-sinnlichen Formen als rückständig und seinem verfeinerten Empfinden widerwärtig. So haben sich dergleichen Atavismen nur an vereinzelten Orten, in Volksschichten, die nicht differenziert genug waren, um den Widerspruch zu empfinden, bis heute erhalten können; wir haben auf kulturgeschichtliche Parallelen dieses Herabsinkens von der Höhe in die Tiefe der Gesellschaft schon zu Beginn dieses Aufsatzes hingewiesen. A b e r auch die freie, von kirchlichen und sozialen Rücksichten entbundene Plastik, die gleichwohl in ihrem äußern und innern Habitus den Zusammenhang mit der vorausliegenden Entwicklung nirgends verleugnet, ist schließlich neuen, mächtigen Einflüssen erlegen oder gleichfalls proletarisiert worden. Die alte Kunst des realistischen Wachsporträts, ein Schoßkind der höfischen Kreise, denen sie schon ihrem Ursprung nach angehört, hat sich freilich schon vor der Revolution dem dritten Stande zugänglich gezeigt und in seinem Schöße noch eine Zeitlang ihr Dasein gefristet. Es kann der ganzen geschichtlichen Entwicklung nach kein Zweifel daran sein, daß sie mit ihrer stets inhärenten Tendenz zum Naturalismus das leisten sollte, was die eigentliche Bourgeoiskunst der neuen Zeit, die Photographie, ebenfalls, nur faßbarer, weniger sinnlich, wissenschaftlich objektiver, gleichsam begriffsmäßiger und vor allem viel ökonomischer geleistet hat: ein möglichst »treues«, »lebendiges«, »wahres« Bild der Persönlichkeit zu überliefern. Die Gänsefüßchen, die wir hier setzen, sollen auf das spinöse Problem des Bildnisses, in dessen Kern die alte Pilatusfrage steckt, aufmerksam machen. Tatsächlich hat die Camera obscura das ohnehin schwache Lebensflämmchen des alten Kunstzweiges vollends ausgeblasen, soweit auch hier nicht jene oft berührte Mediatisierung eintrat. Denn nun fanden seine Reste die letzte Zuflucht im Panoptikumwesen, dessen Anfänge wir bis in die Tage Ludwigs X I V . zurück verfolgen konnten - j a im Grunde noch viel weiter zurück, in das älteste Museum überhaupt, die Kirche, nur daß die demokratische F o r m des tarifierten Eintrittsgeldes hier noch nicht gegeben war und das G a n z e sich hieratischen Normen fügen mußte. D a s aristokratische Element in jenen Schaustellungen ist als eigentlicher Kern des Ganzen von Benoists bis auf Müllers Kabinett herab noch recht bemerklich; der Zusammenhang mit der höfischen Wachsplastik verleugnet sich nicht. Es mag hier nur daran erinnert werden, wie lange die öffentliche Denkmalplastik von sozialen Normen bestimmt war; die ganze ältere Periode, die mit der großen Cäsur der napoleonischen Epoche abschließt, kennt so gut wie ausschließlich das Standbild des Herrschers, des Feldherrn und Staatsmannes. (Die Statuen alter Römer, wie des Vergil, Livius, Ovid in Padua, Mantua, Sulmona gelten nicht sowohl den Dichtern, als den Repräsentanten des Munizipalstolzes.) Erst das neue demokratische Zeitalter hat in diesem Punkte anders gedacht; das erste Künstler-

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denkmal, das, charakteristisch genug, die Metropole der Musik ihrem bodenständigen Musiker, Schubert, errichtet hat, stammt erst von 1872 und ist ein Werk der Wiener Bourgeoisie; charakteristisch genug ist es auch, daß ein längerer Kampf vorausging und die moderne Figur zunächst als »stilwidrig« erachtet wurde. 204 Tatsächlich hätte die ältere Zeit den Mangel an Dekorum noch viel stärker empfunden; ihr erschien für Menschen, von denen rein geistige Wirkungen ausgegangen sind, wohl das Grabmal auf stillem Kirchhof, im Schutze des Gotteshauses, als das Zulässige, nicht aber das Bild auf lautem Markt. Seit jenem Schubertdenkmal erfreut sich unsere Stadt allerdings einer immer üppiger aufschießenden Saat von Künstlerdenkmälern, bei denen Form und Inhalt zuweilen in einem schwer zu überbrückenden Gegensatz stehen. In ein paar Jahren wird Wien vermutlich auch ein Hugo Wolf-Denkmal besitzen; man denke sich nun den weltscheuen und gegen Geräusche überempfindlichen Tondichter in das Getriebe der Weltstadt gebannt, eingefroren gleich dem unseligen Apotheker von Chamonix! Wir haben jedoch gesehen, wie schon in die alten Wachsfigurenkabinette ein demokratisches Element Eintritt fand; es ist vertreten durch die entgegengesetzte, unterste Sprosse der sozialen Leiter, durch die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, die grands voleurs, Diebe und Mörder. Dazu das Curieuse und Exotische, dieses freilich eine Erbschaft von dem Kunstkammerwesen her. Damit hatte der Abstieg der Kunstfertigkeit, die sich noch bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts höfischer Gunst erfreuen durfte, begonnen; heute ist ihre Proletarisierung vollendet: sie ist Jahrmarktsbuden-, Schauläden- und Puppenkunst, sozial gering geachtet und künstlerisch verfehmt; nur als Handlangerin der anatomischen Institute hat sie noch eine etwas höhere Geltung, die jedoch gleichfalls außerhalb des Ringes der Kunst im modernen Sinne liegt; wir erinnern an die Stelle im Wilhelm Meister. Dazu kam schließlich noch ihre theoretische Verfehmung durch die herrschende Ästhetik des Klassizismus, die ihren Namen feierlich aus dem goldenen Buch der Kunst tilgte. Die Angelegenheit hat eine lange Vorgeschichte, fast so alt wie die der klassizistischen Ästhetik selbst. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein hatte das unbefangene Nebenund Ineinander von Kunst und Handwerk, wie es sich besonders naiv und drastisch bei der Keroplastik zeigt, keinen besonderen Anstoß erregt. Wir haben gesehen, wie die Herstellung der Effigies in Frankreich eine dienstliche Obliegenheit der Hofmaler war, wie Künstler von Ruf sich nicht scheuten, Boti zu liefern, wie ein Mann gleich Benoist, mit höfischen und akademischen Ehren überhäuft, gleichwohl privilegierter Inhaber einer Schaubude sein konnte, ein anderer desselben Gewerbes in den Salon zugelassen wurde und ein dritter, Müller-Deym, des Titels eines Hofstatuarius für würdig erachtet wurde. Tatsächlich befinden sich, wie es ja unter solchen Umständen nicht anders sein kann, unter den noch erhaltenen Resten aller Kategorien, die wir durchmustert haben, solche, die auch im heutigen Sinne noch Anspruch auf den Namen eines Werkes der Kunst haben. Der Begriff der Kunst ist eben auch von alter Zeit her recht weit von dem unsern verschieden gewesen. Die Antike hat, namentlich was die bildenden Künste anlangt, einerseits die Grenze zwischen Kunst und Handwerk niemals scharf gezogen, anderseits dem Begriff der Techne einen viel weiteren Spielraum gelassen, als er uns 105

heute geläufig ist. Wenn selbst wir heute noch von Redekunst, Kriegskunst, Arzneikunst u. a. m. sprechen, so haftet diesen Ausdrücken, die unserer ganzen Denkweise nach eigentlich veraltet sind, doch die Eierschale älterer Gedankenrichtungen an; es ist vor allem das technische Element, das dabei bestimmend wirkt. Das Mittelalter ist auf diesem Wege fortgeschritten; sein Intellektualismus, der noch in Dantes Kunstlehre auffällig hervortritt, sieht das Wesen der Kunst im Symbolischen und Moralischen; so weit es eine Scheidung von Kunst und Handwerk überhaupt versucht hat, ist es eher geneigt, die bildenden Künste den artes mechanicae, d. i. dem, was wir Handwerk und Gewerbe nennen, als Appendix zuzuweisen. Seine eigentlichen Künste sind ganz andere: der siebenfache Kanon der »Freien«, der artes liberales, von denen die Artistenfakultät der Universität ihren Namen trägt, also das Schulwissen, das begrifflich und logisch, aber nicht in Anschauung und sinnlicher Darstellung begründet ist. Die Praxis ist dieser theoretischen Anschauung durchaus gefolgt, weit bis ins 15. und 16. Jahrhundert hinein reicht der zünftige und handwerkliche Betrieb der Werkstätten mit ausgiebigster Arbeitsteilung, Dinge, die nur zu häufig übersehen werden, obwohl sie selbst für die individuelle Stilbestimmung von Wichtigkeit sein können. Industriellen Betrieb hat es freilich zu allen Zeiten gegeben und gibt es auch heute noch, die Kunstmaler vom Schlage des Meisters Habersaat werden auch schwerlich jemals ganz aussterben. Aber der handwerkliche Betrieb, die Art, wie Aufträge aller Art, bis auf Schilder und Fahnenstangen, ja bis auf die Herstellung von Schminken (im Rezeptbuch Cenninis) herab, gegeben und angenommen werden, ist einmal für die ältere Zeit die Regel; und daß es dem Gewerbe wie der Kunst nicht schlecht bekommen hat, beweist eben die künstlerische Atmosphäre, die das Leben der alten Zeit bis ins kleinste durchdringt und sie für uns so anziehend macht, uns, die wir eben allzu lange gewohnt waren, zwischen beiden Extremen, der ödesten und nüchternsten Banalität und einer verstiegenen, dem Leben fast entfremdeten »hohen« Kunst einhergetrieben zu werden. Die Emanzipationsbestrebungen der Künstler haben gleichwohl frühe begonnen, vor allem in Italien, am stärksten in seinem Hegemonenort, Florenz. Die Künstler der Frührenaissance strebten praktisch und theoretisch aus der Verbindung mit Zunft und Handwerk heraus. Sie haben auch beides erreicht, ihre Abtrennung von der Apotheker- und Ärztezunft, mit der sie aus reinen Materialgründen in Florenz verbunden waren, ihre Konstituierung als selbständige St. Lukasgilde, weiterhin ihre Vereinigung in Akademien, für die längst auf literarischem Gebiet das Muster gegeben war. Von jeher saß ihnen ein Pfahl im Fleische, das war der Rang der Musik, die mit ihrem theoretischen Teil dem alten Kanon der freien Künste fest eingegliedert war. Die neue mathematisch-physikalische Grundlegung der bildenden Kunst, die einen Hauptteil der toskanischen Bestrebungen des Quattrocento bildet, - Ghibertis Lieblingswort »docto« ist bezeichnend für diese Einschätzung des Künstlers - gab nun den Anspruch auf eine andere und höhere Wertung auch der bildenden Kunst. Das 15. Jahrhundert läuft in der Tat von diesem Vorwerk aus immer wieder Sturm gegen die veraltete und entwürdigende Auffassung der Bildnerei als einer Ars mechanica. Es ist charakteristisch, wenn Pollajuolo auf seinem Papstgrab in St. Peter kühn die Perspektive als achte freie Kunst neben die sieben erbgesessenen stellt. 106

Der Intellektualismus der auf dem Nährboden der alten Rhetorik sich bildenden Renaissanceästhetik kam diesem Bestreben nur zu sehr entgegen. Theoretische Erörterungen, zunächst auf das Praktische und Technische beschränkt, bald aber, namentlich durch die Spekulation über Proportionen und Symmetrie - ein anderes antikes Idol der Renaissance - das Gebiet der Kunstphilosophie streifend, erfüllen schon das Quattrocento. Die Schriften L. B. Albertis, jenes typischen Dilettanten, an dessen Künstlerschaft schon früh begründete Zweifel laut wurden, sind bereits ein Früh trieb des echten und rechten dogmatischen Klassizismus, wie denn ihre eigentliche Verbreitung und Wirkung erst ins 16. Jahrhundert fallt. Die hochmütige Geringschätzung des Handwerklichen, die intellektualistische und platonisierende Tendenz, die sich in der einseitigen Schätzung der »Historie« ausspricht, überhaupt das Bestreben, die lebendige Kunstentwicklung normativ einzudämmen, von einem, wenn auch nationalen Ideal aus, das einer längst vergangenen Zeit und Umgebung angehört, alles das sind bedeutende Symptome. Zugleich nimmt das literarische Element und damit der Einfluß des Laientums mächtig zu. Es sind wohl zunächst und noch lange vorwiegend Künstler, die die theoretische und geschichtliche Betrachtung der Kunst pflegen; aber sie erliegen eben dadurch immer mehr dem Einflüsse des zünftigen Literatentums und seiner Art, die Dinge der Kunst begrifflich und von der Eindrucksseite her zu betrachten. Die Künstlerschriften des Quattrocento, von dem ohnehin halbschlächtigen Alberti abgesehen, halten sich wesentlich noch im Rahmen des künstlerischen Ausdrucks und seiner Anforderungen, nicht nur die streng sachlichen und nüchternen Traktate eines Piero della Francesca und Francesco di Giorgio Martini. Es ist charakteristisch, wie sich Vasaris Art von der seines Vorgängers Ghiberti unterscheidet. Auch er ist Künstler und hat inneres und gutes Verständnis für den künstlerischen Ausdruck; aber wo Ghiberti naiv und unbefangen, ja mit bewußter Ablehnung aller außerkünstlerischen Elemente (wie der Anekdotik) an das Kunstwerk herangetreten war, da überwuchert bei Vasari schon das literarische Element und drängt ihn zu Dingen, die eigentlich außerhalb seiner Natur und Herkunft liegen. Er will nicht nur schön, in abgerundetem Periodenbau, sondern auch bedeutend schreiben, er fühlt sich als »Erzieher«, um ein modernes Schlagwort zu gebrauchen. Daher seine moralischen Paradestücke der Prooemien, daher sein Bestreben, sich zur Würde der Geschichtsschreibung im humanistischen Sinn zu erheben, mit der daraus folgenden Pragmatik - denn Vasari will nicht bloß einfach sachlich berichten, was er weiß, sondern darstellen-; daher aber auch seine Abhängigkeit von dem reichlichen durch Laien wie Ant. Billi gesammelten Anekdotenmaterial, daher seine literarische Abhängigkeit überhaupt, die ihn oft über Kunstwerke nicht mit eigenen Worten und Gedanken, sondern mit denen seiner Vorgänger berichten läßt; daher aber auch seine ganze, oft wunderlich schillernde, weil niemals ganz sein Eigentum gewordene kunstphilosophische Überzeugung. Man darf eben nicht vergessen, daß die seitdem entstandenen Künstlerakademien in immer zunehmendem Maße sich der Spekulation ergeben; die endlosen Diskussionen über den Rangstreit der Künste, der berüchtigte »Paragone«, werden hier wie in den literarischen Kreisen gepflegt, weit bis ins 18. Jahrhundert hinein, wo sie schließlich zu reinem Spiel des Witzes verflachen, wie die italienische Akademie überhaupt; auf diesem Wege ist man sehr tief in das Dornengestrüpp der Ästhetik - darin freilich kein Dornröschen zu erwecken war - hin-

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eingeraten. Z u Ende des 16. Jahrhunderts hat Federigo Zuccaro den ersten sehr originellen und merkwürdigen Versuch einer Künstlerästhetik auf idealistischer Grundlage gegeben. Wäre formale logische Folgerichtigkeit zugleich eine G e w ä h r für sachliche Richtigkeit, so gebührte der idealistischen normativen Ästhetik des Klassizismus wohl die Siegespalme; denn an innerer Geschlossenheit ist ihr keines der anderen Systeme, wie sie bis auf den heutigen Tag entstanden sind, an die Seite zu setzen. Ihre Entwicklung beginnt mit den noch unsicher tastenden Versuchen der italienischen Manieristenzeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts; ihre eigentliche Ausbildung erfährt sie im 17. Jahrhundert, namentlich in Frankreich, dessen Ideen aber ohne die italienischen Vorläufer, namentlich ohne die Rhetorik und Poetik der Tassozeit, gar nicht zur Reife gekommen wären, wie überhaupt die französische Geisteskultur des 16. und 17. Jahrhunderts einen außerordentlich starken italienischen Einschlag zeigt. Aus einem der merkwürdigsten Dokumente der inneren Künstlergeschichte, aus Chantelous Journal über Berninis Aufenthalt in Paris, erfahren wir, daß durch den großen Italiener dort damals ein neuer Terminus in die französische Kunstphraseologie eingebürgert wurde, das Wort »charge« (caricatura). Die Engländer des 18. Jahrhunderts haben dann neue Gesichtspunkte, namentlich für die Künstlerpsychologie gebracht, Ansichten, die schon in der Genielehre eines Aretin und G i o r d a n o Bruno angedeutet waren und für die nach dem Klassizismus einsetzende Romantik von besonderer Bedeutung wurden. Die idealistische Philosophie der Deutschen hat dann alle diese Anregungen aufgenommen, in ihrer systematischen Weise vertieft und ausgearbeitet; ihr Einfluß ist noch heute in dem Restaurationsschwall der Ästhetik, der uns seit zirka einem Dezennium wieder beglückt - im Gegensatze zu der vorausgehenden positivistischen und historisierenden Richtung - überall zu spüren. Die Spätzeit des Cinquecento und die Frühzeit des Seicento schwankt noch, wie in ihrer praktischen Kunstübung, zwischen den Extremen des Verismus und Idealismus. Die ältere Zeit, von der Frührenaissance an, hat ganz naiv und ohne A r g das Wesen der Kunst in der Nachahmung gesucht; die unbedenkliche und weitgehende Verwendung des Naturabgusses gehört in dieses Kapitel. N o c h L o d o v i c o Dolce verkündet, freilich von einem Milieu aus, das den späteren Puristen immer in seiner Auffassung allzu lax erschien, von Venedig, daß der Wert des Kunstwerks in seiner gelungenen Nachahmung ruhe, um so größer sei, je näher es der Natur komme. Auch Armenino hat ähnliche Gedanken. Die Kunst fühlt sich als Schülerin der Natur gegenüber, noch immer als »nipote di Dio«, wie Dante gesagt hatte. Dieses naive und ehrfürchtige Tochterverhältnis kehrt die klassizistische Theorie um; die Kunst meistert nun die Natur. Schon in der einflußreichen Poetik des Muzio, wie in Tassos Dialogen, erscheint die Anschauung, daß die Natur der Verbesserung bedürftig sei; mit einem charakteristischen Philologenausdruck spricht dann der gelehrte Bellori von »emendare«; es ist der typische französische Ausdruck »corriger la nature«. D e Piles scheidet ausdrücklich zwischen »imitation simple et ideale«. Die erste ist nach ihm den Venezianern, auch dem alten gotischen Geschmack eigen, die zweite durch die römische Schule vertreten; die Durchdringung beider, die Vollkommenheit überhaupt aber stellt die bolognesische Schule dar, deren hohe Schätzung bis auf Goethe herab angehalten hat. 108

Nunmehr kommt das böse Wort von der »nature grossière« auf: Boileau vergleicht die Natur geradezu einem Blinden, der von der Hand der Kunst geführt werden muß. Auch Bellori hebt mit scharfen Worten den Unterschied hervor, der zwischen dem sklavischen Naturabklatsch und jener Nachahmung besteht, die nur auf »ordine und specie delle cose«, nicht auf die zufällige individuelle Erscheinung, sondern auf den ihr innewohnenden Typus gerichtet ist. Es sind Gedanken, die schon die alte Kunstphilosophie ausgesprochen hat; die aristotelische Auffassung der Nachahmung gehört hierher. Eine richtige Vorstellung liegt zugrunde: die geistige Verarbeitung durch das künstlerische Subjekt; die Malerei sei »toute esprit«, meint de Piles. Aber der platonische Begriffsrealismus, die Hypostase der »Idee« verrückt dem Klassizismus das Konzept. Es ist der uralte Dualismus, den die Neuplatonik in seiner schärfsten asketischen Form hingestellt hatte; zwischen dem Geist und der ewig widerstrebenden, dumpfen und bösen Materie klafft ein Abgrund. In der berühmten romantischen Definition des Schönen als des »Scheinens der Idee durch den Stoff« ist er noch lebendig. In der Tat tritt jetzt erst, im 17. Jahrhundert, »das Schöne« als Zentralbegriff der Kunstästhetik auf. Bellori und die mit ihm im nächsten Zusammenhang stehenden Franzosen - Bellori war bekanntlich mit Poussin eng befreundet und seine Künstlerviten sind dem Gründer der Pariser Akademie, Colbert, gewidmet - haben schon diese Forderung, die allerdings auch bei dem Mailänder Lomazzo anklingt. Aber auch Borghini und Vincenzo Danti sprechen schon von dem Verschönerungsprozeß, den die Natur durch die Kunst erfährt. Jetzt kommen die Ausdrücke »beaux arts, belles lettres« auf, im modernen Deutsch haben sie heute schon ein leichtes Modergerüchlein. Die Idee des Schönen (l'idea del bello) als Zentralbegriff der Kunstphilosophie dominiert in Belloris merkwürdiger Einleitung (L'idea della pittura) zu seinem großen biographischen Werk. Aber das System war schon vorher in Zuccaros Idea de' pittori entwickelt worden, freilich noch ohne Beziehung auf jenen verhängnisvollen Zentralbegriff. Der Concetto des »Ideals« im heutigen Sinne ist bei Bellori schon fest ausgebildet; er bezeichnet die Hypostasierung des künstlerischen Motivs in das platonische Reich jenseits der Sinne, wo die ewige Idee in absoluter Vollkommenheit und Zeitlosigkeit, jenseits aller irdischen, individuellen wie generellen Entwicklung thront, ein begrifflicher Schemen, als Asymptote des künstlerischen Schaffens, ihrem innersten Wesen nach von diesem niemals erreichbar. Diese Verwechslung eines psychologischen Phänomens mit einer logischen Kategorie, die auch anderen Gebieten, der Sprachlehre wie der Sprachgeschichte, lange angehangen hat, war, auf das Feld der Kunst angewendet, von besonderem Nachteil; aber Piatonismus und Intellektualismus sind eben ein Erbgut von der mittelalterlichen Kunsttheorie her. Es war eine natürliche und konsequente Folgerung, daß diese außer- und überweltliche Idee als gesetzmäßig wirkend erkannt wurde; von da ab datieren die berüchtigten objektiven, jenseits der künstlerischen Persönlichkeit wirksamen »Kunstgesetze«, die schon bei Bellori auftauchen, eine der unerhörtesten Vergewaltigungen, die jemals begriffliche Abstraktion an lebendigem Leben versucht hat. Dank einer Entwicklung, die nur auf italienischem Boden erfolgen konnte, sind diese Kunstgesetze als in besonders mustergültigen »klassischen« Perioden manifestiert angesehen worden; vor allem in der Antike, wie es ein zopfiges Verslein Sandrarts verkündet: 109

Hier Jugend geh zur Schule Und mit der Musa buhle, Die man Antike nennt. Was Neues man erfindet, Sich in dem Alten gründet. Die Kunst man so erkennt. Dann aber auch in der großen »römischen« Schule Raffaels, deren Schätzung den Michelangelo-Kultus der Manieristenzeit ablöst, mit ihrem auf »Disegno« und »Invenzione« fest gegründeten Ruhm. Die oberitalisch-venezianische »Koloristen«schule, deren Leistungen viel weniger in schulmäßige Formen zu pressen waren, blieb den Theoretikern strenger Observanz immer etwas ästhetisch Verdächtiges und wurde gerne als Gegenbeispiel zitiert. Freilich scholl es von dort her zurück; die charakteristische Äußerung über Raffael, die Boschini in seiner Carta del Navegar aus Velazquez' Munde mitteilt, ist nur ein Symptom von vielen und deutlich dem »lombardischen« Milieu erwachsen. Die Verurteilung ganzer langer Kunstentwicklungen, vor allem des »gotischen« Mittelalters, die schon früher aus starken kunstpolitischen und nationalen Gefühlsgründen erfolgt war, die Ächtung des Barockstils durch den Klassizismus des 18. Jahrhunderts ergab sich darnach von selbst; der Wandel in den Anschauungen ist auch nicht von einer Revision der Ästhetik, sondern durch die Kunstgeschichte der letzten Dezennien herbeigeführt worden. Die höhere Wertung des »Disegno«, der objektiven, gesetzmäßigen und begrifflichen »Daseinsform« im Gegensatz zum Sinnentrug der Erscheinung in der »Wirkungsform« - Hildebrandisch zu sprechen - ist aber ein charakteristisches Erbteil der klassizistischen Ästhetik vom Piatonismus her. Die weiteren Folgerungen aus dieser idealistischen Anschauung vom Wesen der Kunst sind nicht schwer zu ziehen gewesen. Der unheilvolle Dualismus von Form und Inhalt, die unnatürliche und gerade im Gebiet der Kunst widersinnige Spaltung des einheitlichen künstlerischen Ausdrucks in zwei getrennte Funktionen, kam nun ans Licht; abermals das uralte platonische Scheinproblem der Zweiheit von Geist und Materie, Substanz und Akzidenz, das erst der moderne Monismus überwunden hat. Im Grunde war es doch wieder das alte Gesicht der mittelalterlichen spiritualistischen Kunstlehre, wie sie noch Dante verkündet hatte; war für diese die Kunst eine symbolische, niemals ganz adäquate Sprache für übersinnliche Wahrheiten gewesen, so war ihr jetzt als Aufgabe zugewiesen, die Idee des Schönen, die sich in ewigen eingebornen Gesetzen manifestiert, nach objektiven Normen im sinnlichen Stoff zum Ausdruck zu bringen. Daher auch, wie im Mittelalter, die Erhöhung der Idee über die Ausführung im sinnlich gegebenen Stoff, des »Disegno interno« über den »esterno« nach Zuccaros Ausdrucksweise, daher die ganz mittelalterlicher Geistesweise entsprechende künstliche Trennung zwischen dem mechanischen »operare« und der im Geiste des Künstlers präexistenten Kunstidee, die in einer Akademieschrift, die gleichfalls Zuccaros Umgebung angehört, in Albertis Traktat Della nobiltà della pittura (1585), scharf hervortritt. Das ist die theoretische Basis für die immer merkbarer werdende Scheidung zwischen »hoher« und »niederer« Kunst, zwischen Kunst und Handwerk; die Theorie bestätigt hier eine soziale Entwicklung, die vor allem in Italien früh eingesetzt hat und konsequent durchIIO

geführt worden ist. Im Norden war das alles viel mehr retardiert; noch Karel van Mander klagt in beweglichen Worten über den alten Gilden- und Handwerkszwang, der die Maler mit den »Ambachten«, mit Gewerben niederster Art, verbindet und von ihnen, wie von jedem Schmiedegesellen, ein Probestück fordert: der neidische Seitenblick auf das so ganz anders gestellte Italien mit seinen Kunstakademien und der Freizügigkeit seiner Künstler bleibt nicht aus. Die mit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einsetzende Virtuosenzeit hat dann freilich auch über die Alpen hinübergewirkt, die soziale Hebung des Künstlerstandes, die sich nicht nur in der Lebensführung (Leone Leonis prunkvoller Palast in Mailand!), sondern auch in deren äußeren Stellung ausdrückt, hat das alte Gilden- und Werkstattwesen von Grund auf verändert. Diese Maler, die sich Cavalieri und Conti nennen durften - Canova ist gar Marchese von Ischia geworden - waren für die handwerklichen Praktiken der alten Zeit, wenigstens der Theorie nach, nicht mehr zu haben. Damals beginnt die Unterscheidung zwischen »Kunst-« und »Flachmaler« (pittore di squadra), zwischen »Kunst« und »Kunstgewerbe« überhaupt. Wie lang, bis in die jüngste Vergangenheit sie gedauert hat, ist bekannt genug und die Zeit noch nicht fern, wo der schäbigste Sammetflaus es als eine nur durch die Not der Umstände zu entschuldigende Entwürdigung angesehen hat, ein Plakat oder ein Tapetenmuster zu entwerfen. Die Theoretiker haben diesen Wahn nur bestärkt, er war ja Wasser auf ihre klappernden Mühlen; schon Félibien hat die Praxis für »moins noble« als die Theorie erklärt. Stand die gestaltlose Idee des bloß begrifflich zu Fassenden so hoch über der Form als das Primäre über dem Sekundären, so mußte der eigentliche Wertmaßstab für diese aus dem Kunstliteratentum hervorgewachsene Theorie der bedeutende Inhalt sein, die Dignität des Stoffes ganz wesentlich die Rangordnung bestimmen. Diese Anschauung, in der viel altes Erbgut steckt, hat sich denn auch weit über die Tage Lessings und Diderots hinaus erhalten. Sie stützt die verhängnisvolle, noch heute mit Zähigkeit festgehaltene Lehre von den »Gattungen«. Schon L. B. Alberti hatte die Historie als den höchsten Gipfel der Kunst erklärt; das ist die große »machine« des 17. Jahrhunderts, die sich neben das »regelmäßige« Epos und die »regelmäßige« Tragödie stellt. Aber auch hier liegen die Prämissen in der italienischen Poetik und Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts, die auf französischem Boden nur weitergebildet worden ist. Dem Genre der Historie eignet vor allem der große Stil, die »grande manière« Berninis (bei Chantelou), der »grand goût« (auch ein charakteristisches Schlagwort dieser Zeit, das seine Herkunft aus der Laienkritik nicht verleugnet), die »maiestas gravis et requies decora«, wie Dufresnoy in Vorahnung Winckelmanns sagt. Das ist der Grund, auf dem die einseitige Dignität des Historienmalers erwachsen ist, der heute noch als ehrwürdiges Fossil an unseren staatlichen Kunstakademien zu finden ist. Mit einiger Verwunderung haben wir dieser Tage erfahren, daß in Deutschland ein alter Verein zur Förderung der Historie besteht, der jedoch bei seiner jüngsten Tagung in Wien seine Statuten zu modernisieren sich endlich veranlaßt sah. Wohl in Erinnerung sind uns noch die Ausstellungen des langsam an Altersschwäche verstorbenen Kunstvereins, durch dessen Kataloge mit umfänglichen Auszügen aus dem kleinen Pütz das Publikum in die gesamte Universalgeschichte eingeführt wurde - die Betrachtung der Bilder lief so nebenher. Schon de Piles hat das berühmteste Historienbild der Welt, Raffaels Schule von Athen, als 111

Musterbeispiel, an dessen schriftmäßiger Ausdeutung zu arbeiten man nicht müde geworden ist; die einzelnen Resultate, zusammengefaßt, machen aus dem Maler Raffael ein Konversationslexikon in effigie. Unvergessen ist endlich der Streit um die Universitätsbilder Meister Klimts; die ganze alte Literatenart, die vom Künstler zunächst Inhalt in konventionellen Formen verlangt, ist da noch einmal recht unverhüllt, aber darum eben nicht anmutiger, ans Tageslicht gekommen. Mit der objektiven Bestimmung der Kunst hängt schließlich die Ansicht von der Regelmäßigkeit der Kunst, namentlich was ihre drei höchsten Arten, Tragödie, Epos und Historie, betrifft, eng zusammen. Daher stammt auch die seltsame, gerade durch das Akademiewesen fest eingewurzelte Anschauung, daß die Kunst nach Regeln erlernbar sei, eine Anschauung, die die Poetik und Kunsttheorie von ihrem Vorbild und Nährboden her, der alten Rhetorik, so lange beherrscht hat. Dabei handelt es sich keineswegs um das Handwerklich-Technische, wie es die alten Werkstätten treulich überliefert hatten - der Unterschied zwischen dem biedern Rezeptenbuch eines Cennini und etwa dem Traktat des Armenino von 1587 ist handgreiflich genug. Gerade dieses letztere sagt deutlich selbst, was es leisten will: die Lücke ausfüllen, die in den nachbildenden Künsten, die keinen Vitruvius besitzen, vorhanden ist; und derselbe Gedanke der Lehr- und Lernbarkeit der Kunst nach Regeln war j a schon in den Büchern der Cinquecento-Architekten über ihre Kunst mit dem Zentralthema der Säulenordnungen deutlich ausgeprägt. Auch da steckt wieder im Grunde ein gutes Stück Mittelalter, die Überzeugung, daß der vornehmste und edelste Teil der Kunst, die Theorie, Wissenschaft sei; so war die Musik seit jeher geachtet worden. Auch die Architektur, schon im K a n o n des Varrò in den Kreis der Artes liberales einbezogen, fühlte sich als Wissenschaft, ihrer physikalisch-mathematischen Grundlage halber: es ist fast belustigend zu sehen, mit welcher Erhabenheit italienische Theoretiker wie etwa Scamozzi (aber auch Bernini bei seinem Pariser Aufenthalt) auf die nordischen Empiriker herabsehen. N a c h demselben Ehrentitel geizte, seit sie ihre mathematische Fundamentierung erhalten hatte, vor allem auch die Malerei. Solcher Fixierung des Kunstwesens, die die künstlerische Persönlichkeit zugunsten objektiver Normen und Regeln zu einer quantité négligeable herabdrückt, stand eine andere Ansicht gegenüber: die romantische Genielehre von der freien, selbstherrlichen, durch keinen Regelzwang zu bindenden Individualität des Künstlers sowie von der Rolle der artistischen Phantasie, eine Lehre, die von einzelnen auserwählten Geistern, wie Pietro Aretino und G i o r d a n o Bruno, schon im Cinquecento ausgesprochen worden ist. Weiter als zu Kompromissen hat es aber die Renaissance auch hier nicht gebracht. Wohl war das Schaffen des Künstlers seit dem neuplatonischen Altertum wie dem Mittelalter her immer mit dem Schaffen Gottes in Parallele gesetzt worden. Das Wort »creare« (kreieren) lebt wenigstens noch im Bühnenjargon, der auch den echt italienisch antikisierenden Ausdruck der »Diva« bewahrt hat. N a c h dem Vorausgehenden kann man schon ungefähr mutmaßen, wie die ausgebildete klassizistische Kunstheorie das Porträt eingeschätzt hat. A l s bloße Nachahmung betrachtet, steht es kaum im Vorhofe der Kunst; schon bei Armenino findet sich die richtige, aber gleich durch das Erbübel der Theorie, den Glauben an objektive Normen, verdunkelte Einsicht, daß die bloße äußerliche »Ähnlichkeit« auch mittelmäßigen 112

Malern und gerade ihnen gelinge und daß dieses Abschreiben der Natur eben keine künstlerische Leistung sei; freilich wird hier an eines der heikelsten Probleme der Künstlerpsychologie gerührt. Deshalb verlangt schon Armenino Würde vom Porträt; es muß stofflich und formal in die Sphäre hoher Kunst erhoben sein. Das erste leistet der bedeutende und interessante Inhalt; nur hervorragende Persönlichkeiten können eigentlich Gegenstände des Porträts als Kunstwerks sein, ein Standpunkt, der auch von Pietro Aretino in einem Briefe an Leone Leoni vertreten wird und der charakteristisch italienisch ist. Großen, sozial und geistig bedeutenden Männern, dann allenfalls noch durch Geburt, Geist oder Schönheit hervorragenden Frauen dient die italienische Medaille, sehr im Unterschied von der deutschen des 16. Jahrhunderts, die fast ganz in die Enge privaten bürgerlichen Lebens gebannt bleibt. Die formale Würde des Porträts wird auch von Giulio Mancini betont, dessen bedeutender Traktat der Veröffentlichung entgegensieht. Er unterscheidet zwischen dem Porträt ohne und mit Handlung (azione, effetto), wobei kein Zweifel entstehen kann, welchem, in Annäherung an die Historie, die Palme gebühre. Es ist eine Folgerung aus einem anderen Zentralbegriff, der aus der alten Rhetorik in die Theorie hinübergewandert ist: dem Dekorum. Es ziemt sich, den Staatsmann z. B. nicht in schlichtem Zustandsbildnis, sondern seinem typischen Charakter gemäß aufzufassen, also etwa ein Memoire lesend oder Audienz erteilend. Das ist der Weg, der zu dem großen, offiziellen Staatsporträt des 17. und 18. Jahrhunderts führt, dessen Einfluß bis in die bürgerlichen Porträte hinab wirkte. Nicht nur das offizielle Gruppenbild holländischer Magistrate gehört hierher, auch der schlichte Privatmann des 18. Jahrhunderts liebt es noch, sich in nachdrücklicher Pose, mit bedeutender Geste, dargestellt zu sehen. Ein Bernini verkündet seinem getreuen Schatten Chantelou die Lehre, daß im Porträt die bloße Ähnlichkeit nicht genüge, es müsse »noblesse et grandeur« zeigen. Damit steht die Verbesserung etwaiger Naturfehler im Zusammenhang; da die »nature grossière« ohnehin zu emendieren war, so verstand sich die Ausmerzung störender körperlicher Eigenheiten von selbst, jenes Retoucheverfahren, das heute noch das Publikum von einem Modephotographen fordert. Für die Naivität, mit der einst Ghirlandajo sein Großvaterbild im Louvre gegeben, selbst für die bewußte Kunst, mit der noch Raffael seinen Fedra Inghirami präsentiert hatte, war da keine Stelle mehr; das Porträt mußte Stil, historische Würde zeigen, so war wenigstens die theoretische Forderung. Besonders gilt dies natürlich vom Damenporträt, das übrigens jederzeit einen Zug zur Typik aufweist. De Piles formuliert dies mit klaren Worten; das verlogene Frauenbildnis des Rokoko mit den konventionellen Schönheitsmerkmalen kommt zum Vorschein, das bis in die Schönheitsgalerien des 19. Jahrhunderts hinab geblüht hat und wohl nie ganz aussterben wird. Es gehört in dieses Kapitel, wenn ein gesuchter Modemaler gleich van Dyck sich, wie schon die Zeitgenossen zu melden wissen, eigene Modelle für seine vielbewunderten Hände gehalten hat. Daß der »gemeine« Naturalismus, der Holländer namentlich, trotz ihrer hohen Schätzung in den Kunstkammern des 17. und 18. Jahrhunderts diesen Theoretikern ein Greuel sein mußte, versteht sich von selbst. Félibien verachtet die Peinlichkeit eines Dou; seit jener Zeit ist auch der brave Denner ein Schul113

beispiel der Ästhetik geblieben, der eine für uns besonders interessante Nebenströmung jener Zeit vertritt, er, der nach einem guten Worte Julius Langes sich die wissenschaftliche Erforschung der Epidermis hat angelegen sein lassen. Trotzdem hat das Porträt in der Rangordnung der Kunstgattungen niemals einen hohen Platz errungen. Es teilt mit der selbständigen Landschaft das Geschick, als ästhetisch suspekt betrachtet zu werden; noch in Vischers Ästhetik ist dieser Standpunkt merkbar. Eine Rangordnung der Genres ist aber schon von Mancini versucht worden, wobei natürlich der erste Platz unweigerlich der Historie als Haupt- und Staatsaktion verbleibt. Am naivsten gibt dem der alte, ganz im welschen Fahrwasser segelnde Sandrart Ausdruck, wenn er sagt, das Porträt entbehre der sinnreichen »Invention« - auch ein Schlagwort dieser Theorie aus der Schulrhetorik her, das noch in J. S. Bachs »Inventionen« weiterlebt - , der »Überfluß wohl aufgeräumter Gedanken«, den er in jenem vermißt, findet sich natürlich in dem Paradestück der Theorie, dem Historienbild. Es ist leicht abzusehen, auf welche Stimmung die Porträtbildnerei in Wachs, deren Entwicklung wir kennen gelernt haben, demnach vor dem Tribunal dieser Theorie stoßen mußte. Sie war naiv realistisch, der unbedenklichsten Verwendung von Farbe und natürlichem Material zugeneigt, die »imitation simple« war bei ihr bis zur äußersten Grenze getrieben. Vollends als sie am Ende ihres langen Lebens im Wachsfigurenkabinett des Jahrmarkts heimisch wurde, dessen Keim aber schon in dem Votivmuseum der Kirche gegeben war, ging sie gern eine nähere Verbindung mit einem Gebilde ein, das schon seit alter Zeit an der Schwelle der Kunst sein Wesen hatte, dem Automaten. Der Versuch, den Schein des Lebens auch in seiner unmittelbarsten Äußerung, der Bewegung, endlich der Sprache, zu erfassen, reicht ja bis in homerisches und orientalisches Altertum zurück; vollends die Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts haben ein unsägliches Vergnügen an mechanischen Spielwerken aller Art gefunden. Auch das ist letzten Endes ein Ausfluß jener primitiven dämonistischen Auffassung vom Kunstwerk überhaupt, die sich in jenem immer wiederkehrenden populären Concetto äußert, der das höchste Lob des Kunstwerks in seiner »Lebendigkeit« findet, in der Illusion, als spräche und bewegte es sich wirklich. Diese Illusion hat der Automat, die natürlich bekleidete, bewegliche und sprachbegabte Kunstfigur, schließlich in äußerster Konsequenz geleistet; Vaucansons und Droz' mechanische Figuren waren weltberühmt; noch Goethe spricht von ihnen. Endlich ist wohlbekannt, wie namentlich die deutsche Romantik, E. T. A. Hoffmann voran, die ihr so wohl zusagende Phantastik dieses Artefakts ausgenützt hat. Dazu kam ihr noch die Nachtseite des Phänomens zupaß, das innere Grauen, die Nervensensation, die das seit uralter Zeit magischen Zwecken dienende, bildsame Material zu erwecken imstande ist; man erinnert sich wohl auch mit Behagen des naiv-mystischen Zwielichts, in dem Gottfried Keller seinen grünen Jungheinrich mit den abenteuerlichen Kielkröpfen, nach eigener Invention in Wachs gebosselt, wirtschaften läßt. Wie diese Dinge endlich im äußersten Osten, unter einem Volke höchsten mechanischen und künstlerischen Genies leben, hat Lafcadio Hearn in einem seiner schönsten Bücher (Izumo) anschaulich geschildert. Eine andere Seite der Wachsplastik war auch kaum dazu angetan, diese in den Augen der Theoretiker zu empfehlen. Das war ihre Verbindung mit Handwerk und Gewerbe; sie stand, ihrer naturalistischen Vorbildung ganz entsprechend, im Solde des 114

anatomischen Kabinetts - man sehe Goethes früher angeführte Äußerung - und noch viel anstößiger war für modernes Empfinden, das j a noch immer eingestandener- oder verhohlenermaßen vom Klassizismus bestimmt wird, ihre Verbindung mit der Jahrmarktsbude, die Rolle des Künstlers als Schaubudeninhaber. Trotzdem war noch das 18. Jahrhundert hier merkwürdig indulgent. Wir haben die Stellung eines Benoist und seiner Berufsgenossen wie Müller und Creutz kennengelernt. Die Wachsplastik hatte lange Jahrhunderte hindurch im Dienste der Höfe gestanden und diese bevorzugte Stellung bis zum Ausgang der alten Zeit bewahrt. Der theoretischen Forderung nach Dignität des Dargestellten, nach imposanter Geste war hier leidlich Genüge geleistet; in dieser Beziehung befand sich die alte Technik in einem unangreifbaren Bollwerk. Es war ihr nur von der formalen Seite her beizukommen: das war dann um so leichter, als sie jenes Bollwerk verloren hatte, mit der sozialen Umwälzung und dem Aufkommen neuer, demokratischerer Formen und Praktiken ihrer alten Förderung durch Hof und zahlungsfähige Bourgeoisie verlustig gegangen war, als sie gleich den französischen Emigranten sich mühsam ihren Erwerb suchen mußte. Es ist vor allem die deutsche Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die dieses Amt des Nachrichters übernommen hat; das Urteil über die alte Technik war längst implicite gefällt, nur nicht vollstreckt; des bürgerlichen Todes war sie eigentlich mit dem ancien régime gestorben. Ich will auf das Geratewohl ein paar Stellen anführen, die die Stimmung des Klassizismus erläutern, aus der heraus das Anathem über die Wachsplastik erfolgt ist. Sie rühren von dem bedeutendsten Kunstkritiker und dem größten Philosophen aus dem Ende des 18. Jahrhunderts her. In einer merkwürdigen Abhandlung über Stilprobleme der antiken Skulptur, die Diderot seinen Salonkritiken (von 1765) eingefügt hat, 205 verbreitet er sich auch über die Verwendung der Farbe in der Plastik, die er von seinem puristischen Standpunkt aus vollkommen ablehnt: »II n'y a de si déplaisant que le contraste du vrai mis a côté du faux; et jamais la vérité de la couleur ne répondra à la vérité de la chose. L a chose, c'est la statue, seule, isolée, solide, prête à se mouvoir, c'est comme le beau point d'Hongrie de Roslin sur des mains de bois, son beau satin si vrai sur des figures des mannequins. Creusez l'orbite des yeux à une statue et remplissez-le d'un œil d'émail ou d'une pierre colorée, et vous verrez, si vous en supporterez l'effet. On voit même, par la plupart de leurs bustes, qu'ils ont mieux aimé laisser le globe de l'œil uni et solide que d'y tracer l'iris que d'y marquer la prunelle, laisser imaginer un aveugle, que de montrer un œil crévé; et, rien déplaise a nos modernes, les anciens me paraissent en ce point d'un goût plus sévère qu'ils ne l'ont.« Diese Ansicht, die in unseren Tagen von Hildebrand wieder aufgenommen worden ist, enthält implicite die kapitale Verurteilung der naiv farbigen Wachsplastik, die Diderot, es ist kein Zweifel, kaum mehr als dem Gebiet der Kunst angehörig betrachtet haben wird. Von demselben Boden des Geschmacksurteils aus wie Diderot lehrt Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft: 206 »Was über die dem Gegenstande seiner Form wegen beigelegte Schönheit, sofern sie, wie man meint, durch Reize wohl gar könne erhöht werden, anlangt, so ist dies ein gemeiner und dem echten unbestochenen gründ115

lichen Geschmacke sehr nachteiliger Irrtum, ob sich zwar allerdings neben der Schönheit auch noch Reize hinzufügen lassen, um das Gemüt durch die Vorstellung des Gegenstandes außer dem trockenen Wohlgefallen noch zu interessieren und so dem Geschmacke und dessen Kultur zur Anpreisung zu dienen, vornehmlich, wenn er noch roh und ungeübt ist... In der Malerei, Bildhauerkunst, j a in allen bildenden Künsten, der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung beliebt, aber nicht anschaulich und schön machen; vielmehr werden sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrenteils gar sehr eingeschränkt und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die schöne Form allein veredelt.« Die Farbe - als bloßer Reiz - ist also ästhetisch verdächtig; man sieht, es kündigt sich die Epoche der deutschen Kartonkunst im Sinne von Cornelius mit ihrer souveränen Verachtung der Farbe und ihrer Hochschätzung der »Idee« an. Ein weiterer Paragraph der berühmten Kantschen Schrift (§ 45) trägt zwar an seiner Spitze die These: »Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint«, Kant schränkt aber diese aus der Nachahmungstheorie stammende Definition sogleich ein. »An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei...; die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.« Es ist das Scheinproblem der Illusion, an das hier gerührt wird; etwas weiter zurück (§42) hat Kant das Beispiel von der geschickten Nachahmung der Nachtigall durch einen versteckten Akteur gebracht; die Aufdeckung des Betruges vernichtet jeden früher etwa vorhandenen »ästhetischen« Genuß. Das ist nun die prädestinierte Stelle, an der, noch nicht bei Kant, wohl aber bei seinen Nachfolgern, die bekleidete, natürlich bemalte Wachsfigur, wie sie ein beliebtes Schauobjekt der Panoptiken geworden war, als das abschreckende Schulbeispiel der Ästhetik auftritt, als das corpus vile, an dem der Unterschied von Kunst und Unkunst demonstriert wird. Eine an sich richtige und gute Einsicht, aber durch den einseitigen, außerweltlichen und objektiven Standpunkt der klassizistischen und normativen Ästhetik verschoben und verzerrt. Schon in Kants Beispiel steckt die alte verhängnisvolle Verwechslung von Laien- und Künstlerstandpunkt, von Eindruck (Ästhetik) und Ausdruck (Stilistik). Der Einwand gegen die Wachsfigur mußte von einem ganz anderen Prinzip her erfolgen als von dem der beabsichtigten und gelungenen Täuschung. A m ersten und vollständigsten hat Schopenhauer 207 dieses Kapitel behandelt: »Was jedoch macht, daß ein Bild uns leichter zur Auffassung einer (Platonischen) Idee bringt als ein Wirkliches, also das, wodurch das Bild der Idee näher steht als die Wirklichkeit, ist im allgemeinen dieses: daß das Kunstwerk das schon durch ein Subjekt hindurchgegangene Objekt ist und daher für den Geist das, was für den Leib die animalische Nahrung, nämlich die schon assimilierte vegetabilische. Näher aber betrachtet, beruht die 116

Sache darauf, daß das Werk der bildenden Kunst nicht, wie die Wirklichkeit, uns das zeigt, was nur einmal da ist und nie wieder, nämlich die Verbindung dieser Materie mit dieser Form, welche Verbindung eben das Konkrete, das eigentlich Einzelne ausmacht, sondern daß es uns die Form allein zeigt, welche schon, wenn nur vollkommen und allseitig gegeben, die Idee selbst wäre. Das Bild leitet uns mithin vom Individuum weg auf die bloße Form. Schon dieses Absondern der Form von der Materie bringt solche der Idee um vieles näher. Eine solche Absonderung aber ist jedes Bild, sei es Gemälde oder Statue. Darum gehört nun diese Absonderung, diese Trennung der Form von der Materie, zum Charakter des ästhetischen Kunstwerks; eben weil dessen Zweck ist, uns zur Erkenntnis einer (Platonischen) Idee zu bringen. Es ist also dem Kunstwerk wesentlich, die Form allein, ohne die Materie zu geben, und zwar dies offenbar und augenfällig zu tun. Hier liegt nun eigentlich der Grund, warum Wachsfiguren keinen ästhetischen Eindruck machen und daher keine Kunstwerke (im ästhetischen Sinn) sind: obgleich sie, wenn gut gemacht, hundertmal mehr Täuschung hervorbringen, als das beste Bild oder Statue es vermag, und daher, wenn täuschende Nachahmung des Wirklichen der Zweck der Kunst wäre, den ersten Rang einnehmen müßten. Sie scheinen nämlich nicht die bloße Form sondern, mit ihr, auch die Materie zu geben; daher sie die Täuschung, daß man die Sache selbst vor sich habe, zu Wege bringen. Statt daß also das wahre Kunstwerk uns von dem, welches nur einmal und nie wieder da ist, d.i. dem Individuum, hinleitet zu dem, was stets und unendliche Male, in unendlich Vielem da ist, der bloßen Form oder Idee, gibt das Wachsbild uns scheinbar das Individuum selbst, also das, was nur einmal und nie wieder da ist, jedoch ohne das, was einer solchen vorübergehenden Existenz Wert verleiht, ohne das Leben. Darum erregt das Wachsbild Grausen, indem es wirkt wie ein starrer Leichnam.« Diese Ausführungen Schopenhauers zeigen, wie an sich wertvolle Einsichten durch den traditionellen Charakter seiner Kunstphilosophie verdunkelt und gehemmt werden; das platonisierende, dualistische und intellektualistische Normenwesen, das der Spekulation über die Kunst seit dem 16. Jahrhundert anhaftet, tritt in ihnen mit aller wünschbaren Deutlichkeit hervor. Der doppelgesichtige, von der Eindrucks- und Ausdrucksseite herstammende Begriff der »Kunst« meldet sich auch bei Schopenhauer; schon Kant hatte auf den volkstümlichen Gebrauch des Wortes hingewiesen, der wohl die »Kunst« des Taschenspielers, hinter die man durch Wissen kommen kann, niemals aber die »Kunst« des Seiltänzers, bei der die Theorie keineswegs die Praxis, das Können zu ersetzen vermöchte, als Kunst in seinem Sinne aufzugeben geneigt sei. Es ist die alte Vorstellung der Kunst als eines Könnens, aus der das Wort etymologisch auch stammt und die derart auch der Antike eigen war; das Mittelalter setzte den Begriff der Ars in deren theoretische Voraussetzungen, und erst seit dem Cinquecento wächst der neue Begriff der »schönen« Kunst aus intellektualistischen und sensualistischen Prämissen hervor. Deshalb ist Schopenhauer wohl geneigt, die Wachsfigur als Kunstwerk im technischen, aber niemals im »ästhetischen« Sinn aufzufassen; auch ihm handelt es sich viel mehr um den Eindruck als den Ausdruck. Die Wachsbildnerei, wie wir sie betrachtet haben, als Kunst des Porträts, ist nun der Ästhetik gegenüber a priori in einer ungünstigen Lage gewesen. Noch in Vischers großem Werk ist das Porträt eine ästhetische Halbschlächtigkeit, ein zwischen echter

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»freier« und unfrei »dienender« Kunst schwankendes Gebilde. Nicht anders hatte der alte englische Klassizist Webb dem von der nationalen zeitgenössischen Malerei so glänzend vertretenen Porträt die Schuld an dem Tiefstand seines Idols, der Historienmalerei, gegeben, womit er so ganz unrecht nicht hat, ohne daß dadurch deren besondere, aus allgemeinen, objektiven, statt aus individuellen, künstlerischen Gründen abgeleitete Vortrefflichkeit erwiesen wäre. Es ist höchst bezeichnend, daß ein Ästhetiker noch der neuesten Zeit, der freilich voll von Rückständigkeiten steckt (H. Spitzer), allen Ernstes die Idee vertritt, die Plastik als »eminent ästhetisch« widerstrebe eigentlich dem Porträt! Das ist der Standpunkt der Thorwaldsenzeit. Die an sich begreifliche Reaktion der dogmatischen Ästhetik gegen die einseitig naturalistische Auffassung der Kunst hat ebensoweit das Ziel verfehlt als diese. Nicht von der abstrakten »Idee«, dem Objekte der Kunst aus, sondern lediglich vom künstlerischen Subjekt aus kann gegen die Wachsplastik Einspruch erhoben werden, nicht von allgemeinen Erwägungen, die das »Genre« als solches treffen, sondern lediglich vom einzelnen Fall aus. Noch einmal sei an das gute Wort von der »Inselhaftigkeit« jeden Kunstwerkes erinnert. Nach der Ansicht der normativen Ästhetik gibt also die Wachsfigur in ihrer Absicht zu täuschen das innere Wesen des Kunstwerkes auf, das vom Individuellen hinweg in das Reich der (platonischen) Idee führt; sie stellt die bloße vergängliche Erscheinung dar - »nature grossière«, sagte man zu Boileaus Zeiten - , die durch den Mangel des Lebens leichenhaft, daher abstoßend wirkt. Es ist kein Zweifel, daß diese Ansicht durch eine tatsächlich unangenehme Eigenschaft des Materials eine Stütze erhält, sein rasches Vergilben und seine ungemeine Verletzlichkeit, die bei ihm, eben der großen Ähnlichkeit mit organischer Masse wegen, ganz anders wirkt als etwa im Ton. Aber mit der »Täuschung«, die durch die Wachsfigur angeblich verursacht wird, hat es überhaupt seine guten Wege; das ist ein Popanz der Ästhetik. Konrad Lange erzählt in seinem Werke »Das Wesen der Kunst« ein Geschichtchen, wie ein Kurzsichtiger in einer Gesellschaft die Klytiabüste für eine lebendige Dame hält. Nun ist zwar seine Bemerkung richtig, daß für diesen Beschauer, solange die Täuschung anhält, ein »ästhetisches« Verhalten nicht möglich ist; er verwechselt das Kunstwerk (Ausdruck) mit dem Naturwerk (Eindruck). Das ist Kants Beispiel vom Nachtigallenimitator, das sich in etwas veränderter Form schon in der alten Literatur findet - zugleich steckt hier aber das alte Erbübel aller Ästhetik von außen. Denn die Klytiabüste hat auch während jener Täuschung nicht aufgehört, ein Kunstwerk zu sein - vorausgesetzt, daß sie, was nicht zu leugnen sein wird, den innern Anspruch auf diesen Namen aufrecht erhalten kann. Das ist aber eine Frage, die die »Ästhetik« von ihrem Standpunkt aus niemals zu lösen imstande war und sein wird. Trotz aller Kompromisse, Verkleisterungen und Ausbiegungen steht das alte Schönheitsproblem noch immer als Zentralbegriff da. Ob aber ein Kunstwerk vom Beschauer, sei er »Kunstrichter« oder Banause, als »wahr«, »schön«, »ideal« oder wie immer noch gewertet wird oder nicht, mag kunstsoziale Bedeutung haben, aber von dem Wesen des Kunstwerkes als solchem sagt es nicht das mindeste aus. Hierauf kann nur die eigentliche Kunstkritik, die Stilistik, die auch die Voraussetzung aller wahrhaft historischen, von keinem Schuldogma getrübten Forschung ist, Antwort geben. Sie tritt an das Kunstwerk mit individueller Kritik heran, nicht mit den 118

M a ß e n der normativen Ästhetik, die auf außerweitliche und unkünstlerische Hypostasen geeicht sind. Es bleibt nur die Frage des Könnens aufrecht, der Technik im höchsten und weitesten Sinn, die Frage der Verarbeitung durch die künstlerische Persönlichkeit, die ihrerseits durch den G r a d der Fülle und Tiefe ihrer Anschauung und Auffassung bestimmt ist. Der große dänische Archäologe Julius Lange hat einmal in einer geistreichen kleinen Schrift, die außerhalb ihres Ursprungslandes kaum bekannt geworden ist (Om Kunstvaerdi, To Foredrag, Kopenhagen 1876), den Kunstwert definiert als den Wert, den der Gegenstand für den Künstler gehabt hat und durch diesen dem Beschauer vermittelt wird; für diesen Standpunkt liegt auch die so oft eitel genannte »Naturwahrheit« lediglich und ausschließlich im künstlerischen Subjekt, mag dieses ein Schwind oder Courbet sein und in den Tabellen einer äußerlichen Künstlerstatistik als Klassizist oder Naturalist, als »Erzähler« oder als Formkünstler rubriziert sein. Wie steht es nun da mit der berüchtigten Wachsfigur? Es ist klar, daß ihr verwundbarster Punkt in der Verwendung natürlichen Materials liegt, nicht im Sinne der Verletzung irgendeiner platonischen, sondern der ihr immanenten künstlerischen Idee; ist der Künstler nichts als ein photographischer Handwerker gewesen, als ein Schneider oder Friseur, dann hat auch sein Werk nicht mehr Anspruch, zur »Kunst« gezählt zu werden, als das Produkt irgendeines gewerblichen Puppenateliers. Wir hegen nicht mehr den Materialaberglauben - so wenig wie ihn jede echt und tief künstlerisch empfindende Zeit gehabt hat - auf den noch G . Semper sein Stilproblem begründet hat, daß das Material an sich, heiße es nun bemaltes Wachs oder selbst natürlicher Stoff, unkünstlerisch sein kann, so wenig als der »Naturalismus« an sich. Die alten Bronzebildner haben sich gar nichts daraus gemacht, zuweilen wirkliche nasse Leinwandfetzen um ihre Modelle zu legen und dann als Draperie abzugießen; und die Kunstwerklein aus Zuckerteig, die Jacopo Sansovino nach Vasaris Bericht gelegentlich für lustige Künstlerschmause geformt hat, können sehr wohl Kunstwerke gewesen sein - gegen die höchstens der gute Geschmack (wobei natürlich die dubiose Kategorie der Schuldisziplin seit dem Seicento gemeint ist) oder die äußere Rücksicht auf Dauerhaftigkeit etwas einzuwenden hätten. In den Augenblicksprodukten des »Gschnas«* - um ein wienerisches Atelierwort für eine Sache, die der Renaissance schon gut bekannt war, anzuwenden - hat häufig mehr echte Kunst gesteckt als in manchem feierlich-langweiligen »stilgerechten« und für ewige Dauer berechneten Monument akademischer Betriebsamkeit. Es ist das eine Frage, die letzten Endes bei einem ganz modernen Kunstzweig, der Künstlerphotographie, ausmündet, deren »ästhetische« Zulässigkeit j a heute ebenso oft bestritten wird als einst die des Porträts. Aus denselben objektiven Gründen. Wachsbild wie Photographie können unkünstlerisch sein, wenn sie nichts anderes als einen toten Naturabklatsch vorstellen, der in anderen Techniken übrigens ebensogut möglich ist. Das Gespenstische der Wachsfigur kann, auch von der Ausdrucksseite her betrachtet, immer nur darin liegen, daß sie tot ist, aber künstlerisch tot, nicht im Sinne

* Wiener Mundart: Faschingsmaskerade (T.M.).

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objektiver Normen von »Kunstsünden«, wie ein charakteristischer, von Th. Lipps gebrauchter Bonzenausdruck lautet, sondern deshalb, weil der Stoff nicht lebendig geworden ist, das artistische Subjekt versagt hat oder überhaupt nicht vorhanden war. Für den Historiker wie für den Künstler ist das Werturteil des »Ästhetikers« völlig belanglos; wir haben aus ihm noch niemals etwas zu lernen vermocht, es wäre denn, daß es als Zeugnis für ein bestimmtes Kunstwollen dienen kann. In diesem Sinne haben wir auch die Verurteilung der alten Wachsplastik durch die klassizistische Ästhetik aus deren Wurzeln, vom Cinquecento her, zu erklären versucht. Aber die »historische« Bedeutung hat einen weiteren Umfang als die streng »stilistische« in unserem Sinne. Ein künstlerisch tief stehendes Werk - und wer wollte leugnen, daß unsere Museen und Galerien voll von solchen sind - kann besonderer Umstände halber ein wichtiges Dokument für die Probleme der allgemeinen Stilgeschichte sein; auch diese ist wie alle Geschichte von Haus aus individuell orientiert, hat aber auch den Massenwirkungen, den sozialen Faktoren nachzugehen. In unserer Darstellung der Entwicklung der Wachsplastik ist der Sachlage nach das universalhistorische Moment im Vordergrund geblieben, das einzelne stilistisch bedeutende Werk nur selten und oasenhaft hervorgetreten. Denn es war nur ein kleiner und geringfügiger Ausschnitt aus der Geschichte der Kunst in ihrer Gesamtheit, der behandelt werden sollte. Die Anschauung der dogmatischen Ästhetik ist in neuester Zeit durch eine Schrift vertieft worden, die immer zu den merkwürdigsten Künstlerdokumenten gehören wird: Hildebrands »Problem der Form«. Die Kunstgeschichte als solche hat ihr aber mehr Verwirrung als Aufklärung zu danken. Es ist folgerichtig, wenn mit den Tendenzen des Barocks auch die moderne Panoramenkunst als »unkünstlerisch« verworfen wird; es ist begreiflich, daß von dieser Theorie aus, deren klassizistischer Einschlag ebenso unverkennbar ist wie in dem eigenen Schaffen des Kunsttheoretikers selbst, alle Bemalung vom »Standpunkt der Naturwahrheit aus« in der Plastik als Roheit verworfen, wenn zugunsten einer einseitigen Raumauffassung allen dekorativ und ornamental gestimmten Richtungen der Krieg erklärt wird. Aber solche Mediatisierungen ganzer Kunstrichtungen und Kunstperioden, mögen sie nun mit alten Schmähnamen Mittelalter, Gotik oder Barocco heißen, zugunsten angeblicher Blüteperioden sind im unversöhnlichen Widerspruch mit dem Wesen wirklicher historischer Forschung. Wir fassen auch die soziale Geschichte nicht mehr als magistra vitae, als Beispielsammlung, als Evolution eines bestimmten moralischen Fortschrittes auf; wir haben unter dem Eindruck der großen naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre anders denken gelernt, ohne deren Methode mechanisch übertragen zu wollen, ohne uns leere Allgemeinheiten als »Gesetze« aufdrängen zu lassen, und stehen allen teleologisch intendierten Ansprüchen und Wertungen, mögen sie nun absoluter Fortschritt oder anders heißen, skeptisch und methodisch ablehnend gegenüber. Mit den primitiven Vorstellungen von »Jugend«, »Reife« und »Verfall« der Kunst kämen wir nur in die Tage Vasaris zurück, des wahren Propagators klassizistisch normativer Kunstgeschichtschreibung. Es verschlägt dabei wenig, ob man, gleich Hildebrand, die hellenische Kunst als das vorbildliche Gewächs ansieht oder ob man ihr, wie K. Lange in seiner angeblichen »Ästhetik des Realismus«, noch ein paar andere auserwählte Gemeinplätze anhängt. Als Historiker sind wir »Theoretiker« und »Skeptiker«

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vor allem in der ursprünglichen schönen Bedeutung dieser Worte, des Schauens; so schauen wir die geschichtlichen Phänomene, weder um sie zu »richten«, noch um sie zu »retten«, sondern um sie in ihrer Entwicklung zu begreifen. Das scheint die einzig mögliche Aufgabe auch der Geschichte der Kunst, insoferne sie Wissenschaft sein will.

Nachwort von Thomas Medicus Dem Andenken von Ο. M.

»Ist aber noch das Alte allenthalben so lebendig und mächtig, wie tief müssen die Spuren sein, die es in den neuen Kulturformen zurückgelassen hat!« Julius von Schlosser, Heidnische Elemente in der christlichen Kunst des Altertums, 1894

Tod in Wien

Für Österreich-Ungarn und das habsburgische Kaiserhaus begann das Jahr 1889 mit einer Katastrophe. »Soviel nur ist klar«, konnte man am 30. Januar in der Abendausgabe der »Neuen Freien Presse« in einem schwarz umrandeten Kasten lesen, »daß mit dem heutigen Tage die Monarchie in ein Land der Klage und der Thränen verwandelt ist...« Im Laufe dieses Mittwochs war, umrankt von mancherlei Gerüchten, die Nachricht vom Tode des Kronprinzen Rudolf, des Sohnes Kaiser Franz Josephs, allmählich nach Wien gedrungen. Die in den Abendblättern verbreitete, von höchster Stelle bestätigte und damit zur Gewißheit gewordene Tatsache vom plötzlichen Ableben des erst dreißigjährigen Thronfolgers, als dessen Ursache anfangs Herzversagen angegeben 123

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Kronprinz Rudolf (ι 8 5 8 - 1 8 8 9 )

Baronesse Mary Vetsera ( 1 8 7 1 - 1 8 8 9 )

wurde, war spektakulär genug, um in der Öffentlichkeit sofort für größte Aufregung zu sorgen. Der kaum zwei Tage später ans Licht tretende wahre Sachverhalt des Selbstmordes, mitgeteilt vom offiziell publizierten Bericht, der über die Sektion der »höchsten Leiche« Auskunft gab, rief Bestürzung, j a Entsetzen hervor. Die Bekanntgabe des Obduktionsbefundes, der den Suizid auf einen Zustand von Geistesverwirrung zurückführte, bedingt durch eine pathologische Verformung der Schädelknochen, gab allerdings höchstens die halbe Wahrheit preis. Daß der Kronprinz auf dem südwestlich der Hauptstadt im Wienerwald gelegenen Schloß Mayerling nicht allein Hand an sich selbst gelegt, sondern auch die blutjunge Baronesse Mary Vetsera erschossen hatte, sikkerte erst allmählich durch. Mary war zwar freiwillig mit Rudolf in den Tod gegangen. Ihre Gefolgschaft nach Mayerling wie die kaum anzweifelbare Tatsache des Doppelselbstmordes hat der Wiener Hof jedoch nie zugegeben. Nach der Obduktion wurde die Siebzehnjährige allein beigesetzt, nicht mit Rudolf, wie es das todesselige Paar gewünscht hatte. Das Mitgefühl, das der kleinen Baronesse versagt blieb, wurde Rudolf in doppelter Weise zuteil. Mit der Überführung des Kronprinzen in die Hauptstadt war sein Tod endgültig zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses geworden. Man hob seinen entseelten Körper auf eine Schaubühne, um ihn für das Wiener Publikum auszustellen. Dies metaphorisch zu verstehen, hieße Habsburgs Kultur und ihr Verhältnis zu Tod und Sterben am Ausgang des 19. Jahrhunderts gänzlich verkennen. Denn kaum war die Leiche des Kronprinzen in der Hofburg angelangt, lebte ein althergebrachter Kultus

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Letzter Abschied Kaiser Franz Josephs von Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn. Volkstümliche Darstellung

auf, und Wien hüllte sich in ein alles andere denn unscheinbares Trauergewand. Dessen Versatzstücke bestanden aus den spontanen, dennoch ritualisierten Gebräuchen folgenden Bekundungen der Bevölkerung wie aus dem habsburgischen Hofzeremoniell, das noch immer in der Tradition der »pompae fúnebres« vorangegangener Jahrhunderte stand. Beides zusammen verband sich zu einem Gebaren, dessen charakteristisches Kennzeichen eine theatralische Extrovertiertheit war, die zwar nicht mehr mit den Prunkbegräbnissen des barocken Zeitalters wetteifern konnte, sich davon aber einige signifikante Erbstücke bewahrt hatte. Ließ sich zwar als Folge der Aufklärung der Tod nicht mehr nach barockem Vorbild zelebrieren, so bereitete man sich in mancherlei nekrophilen Festen doch eine gewisse Freude am Sterben. Dabei gingen im düster ausgeschmückten Wien höfisches Zeremoniell und bürgerliche Öffentlichkeit ein harmonisches Verhältnis ein. Verfolgt man die Berichterstattung der »Neuen Freien Presse«, so entsteht der Eindruck eines von der Bevölkerung geübten Bilderdienstes, der sich mit den habsburgischen Funeralpraktiken zu einem einheitlichen Ganzen fügte. Im Bannkreis der Hofburg wurde das übliche Protokoll abgewickelt. Nach Sezierung und Einbalsamierung, sodann öffentlicher Exponierung des Leichnams auf dem sogenannten Paradebett folgte der Trauerkondukt und endlich die Beisetzung in der Kapuzinergruft. In den Ladengeschäften der inneren Stadt konnte man häufig, so weiß abermals die »Neue Freie Presse« zu berich125

ten, von Traueremblemen umgebene Büsten des Kronprinzen, in Kunsthandlungen dessen Porträts sehen, Bildnisse, vor denen sich dichte Menschengruppen ansammelten. Wessen man hier im Zusammenhang mit dem Tod des Kronprinzen Rudolf ansichtig wird, sind die Relikte der traditionellen habsburgischen Totenfeier. Beibehalten hatte man nur die Paradierung des Leichnams. Der wichtigste Bestandteil, die aufwendig gefeierten offiziellen Exequien, war schon Mitte des 18. Jahrhunderts abgeschafft worden. In deren Mittelpunkt hatte, lange nach der Beisetzung der fürstlichen Leiche, die Verherrlichung des Herrschers »in effigie« gestanden. Auf pompös dekorierten Festapparaten, dem »Castrum doloris« oder »Trauergerüst«, stand stellvertretend für den toten Herrscher zum Zweck der Heroisierung dessen allegorisches Bildnis, das seine Fama kundtat. Verstümmelt scheint diese »repraesentatio maiestatis«, die Versinnlichung des unsterblichen Gottesgnadentums im zur Schau gestellten Bildnis, noch in den zum Gedenken an den Kronprinzen Rudolf auftauchenden Büsten der Wiener Schaufenster fortzuleben. Ein vergleichbares Phänomen ließ sich zur selben Zeit in der Hofburg beobachten. Dort war der tote Kronprinz zunächst in seinem Appartement, später in der Hofburgkapelle, wohin man ihn traditionsgemäß nachts um zehn Uhr überführt hatte, auf dem Paradebett exponiert worden. Vom Fußboden über Altäre und Logen bis zur Decke war die Hofkapelle vollkommen mit schwarzem Tuch ausgeschlagen. Den Mittelpunkt bildete im Kontrast zu solcher Düsternis das vom Kerzenlicht hunderter Kandelaber erhellte, aus Trauergerüst und Katafalk bestehende Schaubett, auf dem der in Generalsuniform bekleidete Leichnam ruhte. Nicht die mannshoch an den Wänden der Kapelle und zu beiden Seiten des Hochaltars aufgetürmten Blumenkränze allerdings waren es, die allein die Atmosphäre des Morbiden hervorriefen. Komplettiert wurde sie von der Wahrnehmung des Berichterstatters, dessen Blick, wie derjenige des übrigen Publikums, magisch vom Leichnam selbst angezogen wurde. Wenn dabei das Antlitz des Toten besondere Aufmerksamkeit erregte, so ist dies gewiß auf die außergewöhnlichen Umstände des Selbstmordes zurückzuführen. Auffallig bleibt diese Fixierung auf das Gesicht, dessen Ausdruck wie auf die Veränderungen, die sich dort allmählich abzuzeichnen begannen, dennoch. Derart subtile Beschreibungen hatten die Hofprotokolle früherer Jahrhunderte, die in immer denselben formelhaften Wendungen vom »Abieiben« der jeweiligen Herrscher und der Aufbahrung des »entseelten allerhöchsten Leichnams« berichteten, nicht zu bieten. Für die moderne Wahrnehmung war das Antlitz des Toten zum Faszinosum geworden. In den Gerüchten, die sich um die Physiognomie des toten Rudolf rankten, erreichte es seinen Höhepunkt. Manche wollten nämlich erkannt haben, daß das Gesicht der Leiche mit einer Wachsmaske bedeckt sei, um die angeblich entstellten Züge zu verbergen. Solche »Ausgeburten einer überreizten Phantasie« veranlaßten den Beobachter der »Neuen Freien Presse« zum Zwecke der Richtigstellung zu minutiösen physiognomischen Betrachtungen, die unter Erwähnung der Wundöffnungen an den Schläfen die Echtheit des unverhüllten Gesichts bezeugen sollten. Einen realen Hintergrund besaß das Gerücht aber tatsächlich. Den durch den Schuß zerstörten oberen Schädel des Kronprinzen hatte man sorgsam mit Wachs präpariert.

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Wirklichkeitsgetreue Porträts und Büsten, endlich sogar die Verwendung des bildsamen organischen Materials des Wachses als ferne Erinnerung an den antiken Brauch der Totenmasken: nichts kann Julius von Schlossers 1 9 1 1 erschienenen Text über die »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« besser illustrieren als die dynastischen Totenfeiern aus des Autors eigener Epoche. Läßt sich doch in der Verdoppelung der Herrscherleiche im plastischen Konterfei jene paradox anmutende Entstehung des lebensnahen menschlichen Porträts erblicken, die in solchen Sitten und Gebräuchen ihren Anfang nahm, die Tod und Begräbnis strukturieren. Im Leichenzeremoniell des Kronprinzen Rudolf wird aber nicht allein diese Behauptung Schlossers von der ursprünglichen, inneren organischen Verwandtschaft des menschlichen Bildnisses mit der wächsernen Funeralplastik anschaulich. Sichtbar wird sogar der theoretische Hauptgedanke dieser Monographie. Daß dem in genealogischer Abkunft von wächserner Funeralplastik und Totenmaske stehenden Bildnis die zeitlose Kontinuität magischen Bildzaubers innewohne, worin Darstellung und Dargestelltes identisch sind, ist ja Schlossers animistische Grundannahme (vgl. etwa S. 21). Von »superstitiösen Gedankenreihen« (S. 14f.), dem »survival eines abgelaufenen Entwicklungsprozesses« (S. 10), von »Atavismen« gar (S. 104) hätte sich dergestalt nicht allein im Hinblick auf zeitgenössische Panoptika und andere vergleichbare kryptoästhetische Derivate sprechen lassen. Vormoderne Phänomene zeremonieller Natur waren auch in den Leichenfeiern zu finden, die in den letzten Jahrzehnten der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht zuletzt deswegen Aufsehen erregten, weil man es nur mit einem einzigen natürlichen Todesfall zu tun hatte. Das war Kaiser Franz Joseph, der 1 9 1 6 sechsundachtzigjährig starb. Vorangegangen waren bereits der erste Thronfolger, Kronprinz Rudolf, der 1889 Hand an sich gelegt hatte, es folgte Kaiserin Elisabeth, die 1898 in Genf erstochen wurde, zuletzt ein weiterer Thronanwärter, Erzherzog Franz Ferdinand, das Opfer des Attentats von Sarajewo. Schlossers »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« anhand ihres eigenen begrifflichen Instrumentariums auf der Folie zeitgenössischer aristokratischer Begräbniszeremonien zu betrachten, soll sie nicht zur antiquarischen Kuriosität stempeln, als die sie fälschlicherweise verstanden werden könnte. Eine angemessene Historisierung beabsichtigt vielmehr, nach der Motivation der zwar nicht ausgewiesenen, leitmotivisch jedoch bestimmenden Annahme eines überzeitlich wirksamen magischen Bildzaubers zu fragen. Denn deutlich genug trägt Schlossers Text - um einen seiner eigenen Termini zu gebrauchen - selbst den Charakter einer »Urkunde«. Die Epoche, in der er entstanden und mit der er verschmolzen ist wie die Magie des Wachses mit dem Tod, kennzeichnet er als kulturelle Schwellensituation. Zwar hatte der Tod noch in den zeremoniellen Formen dynastischer Repräsentation Bestand, doch begann er allmählich von der Bühne abzutreten. Er privatisierte, er individualisierte sich und begann in dem Maße, in dem er sich zurückzog, geheimnisvoll, in dem Maße aber, in dem er noch sichtbar auf der Szene blieb, obszön zu werden. Nicht verwunderlich von daher, wenn Schlosser fast am Ende des Verfallsprozesses insbesondere höfischer Repräsentations-, aber auch anderer traditioneller Lebensweisen nach solchen plastischen Ausdrucksformen suchte, in denen sich die Sorge um den Tod als anthropologische Konstante dingfest machen ließ.

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Der drohende Verlust dieser Sorge ist es, wodurch in der »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« der Tod unmittelbar wie metaphorisch zur gedanklichen, kontinuitätsstiftenden Mitte wird. Er ist die Quelle, aus der dem Wiener Kunsthistoriker die Bilder sprudeln: hier die auf magische Funktion zurückgeführten Plastiken des Funeralund Votivglaubens, dort das realistische künstlerische Porträt als deren Derivat. Das Gepränge der habsburgischen Funeralzeremonie ist in diesem Zusammenhang mehr als nur atmosphärische Illustration von Schlossers bis 1 9 1 8 existenter Lebenswelt. Die dynastischen Totenfeiern ermöglichen auf exemplarische Weise einen letzten Blick auf die noch für andere Lebensbereiche gültige Präsenz des physischen Todes. Versteckte Hinweise auf zeitgenössische Zeremonien finden sich auch in Schlossers Text. Etwa wenn Versatzstücke aristokratischer Funeralgebräuche erwähnt werden wie der schwarze oder eiserne Ritter in Trauerkondukten (vgl. S. 2 1 ; S. 47) mit seiner effigiesähnlichen Funktion. 1 Als einschlägige, das Fortleben überlieferter Sepulkralpraktik inkarnierende Gestalt taucht sogar der antike »Pollinctor« (S. 2 1 ) herauf. Dessen Aufgabe bestand darin, das Gesicht der Leiche zu konservieren, ein Geschäft, von dem Schlosser fast im Flüsterton mitteilt, daß es noch immer betrieben werde. Vergessen werden darf im Umkreis habsburgischer Funeralzeremonielle aber auch nicht, daß in Wien weiterhin die Einbalsamierung kultiviert wurde - einst unverzichtbares Element der Beisetzungsriten europäischer Fürstenhöfe. Erforderlich war dadurch die sogenannte Exentrierung, das Ausnehmen des Leichnams. Separate Herzbestattung wie die gesonderte Beisetzung der Eingeweide in silbernen und vergoldeten Kesseln, verwahrt in den Grüften der Augustinerkirche und des Stephansdoms, wurden zwar bei Kaiser Franz Joseph und seinem Sohn Rudolf nicht mehr angewandt. Doch war dieser höfische Point d'Honneur immerhin noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts üblich. Von hauptsächlicher Bedeutung ist aber, daß derartige Sepulkralgebräuche dem vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn noch lebendigen barocken Verständnis von der menschlichen Existenz in ihrer Kreatürlichkeit 2 zu verdanken waren. Die Merkmale dieser Weltanschauung - Neigung zum Apolitischen, Außerachtlassen sozialer Konflikte, entscheidende Gegenwärtigkeit von Tod und Leben - fanden in den theatralischen Zeremonien des Hofes, welche die Schaulust des Wieners Publikums zufriedenstellten, ihren sinnfälligsten Ausdruck. Traditionelle Auffassungen von Kreatürlichkeit finden sich indessen auch dort, wo sie am wenigsten zu vermuten sind - in der zeitgenössischen künstlerischen Moderne. Die hier mit seismographischer Sensibilität registrierte Brüchigkeit der traditionalen Gesellschaft inaugurierte den aus dem Barock herkommenden Wiener Tod als Metapher für die Flüchtigkeit eines ihm anheimgefallenen organischen Lebens, das vom Traumbild nicht zu unterscheiden war. Das bekannte Geständnis von Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos, ihm zerfiele alles in Teile und diese wiederum in Teile, weil sich nichts mehr mit einem Begriff umspannen lasse, resultierte aus der Trauer über den Verlust der von göttlicher Transzendenz durchdrungenen barocken Weltordnung. Begriffe verschwanden, habituelle Wirklichkeiten zersprangen. Bilder quollen hervor, derer man nicht Herr zu werden wußte, weil sie - wie die exemplarische Ästhetik der Epoche, Nietzsches »Geburt der Tragödie«, formulierte - den Schrecken als Urgrund ihres Entstehens zeigten. 128

Vom Zerbrechen des »principium individuationis« angesichts des Bildwerdens unmittelbarer Wirklichkeit ist auch Schlossers 1 9 1 1 entstandene »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« affiziert. Sie läßt sich als chiffrierte Diagnose einer orientierungslosen Zeitenwende lesen. Denn der Text sucht ebenso nach ikonischen Archetypen wie nach archetypischen Umgangsweisen mit den Bildern selbst. Die zeitgenössische Wirklichkeit und der Bereich des Ästhetischen bedurften einer Neudefinition. Kein Wunder von daher, daß die Kritik an der normativen Ästhetik des Klassizismus (vgl. S. 1 0 3 f f . ) mit polemischer Schärfe geführt wurde. Erwies sich dieser doch angesichts der epochalen Geisteskrise, wie Schlosser den Übergang zum 20. Jahrhundert charakterisierte 3 , als untaugliches Instrument. Nicht erstaunlich aber auch, daß er den Bereich der Ästhetik wider eigene Intention - wie er später selbstkritisch vermerkte 4 zugunsten der Kulturgeschichte zwangsläufig deshalb verlassen mußte, weil er ein virulentes soziales Problem als ästhetisches lösen wollte. Das geschah indessen nicht im Sinne eines dionysischen Ästhetizismus und dessen Affirmation der Selbstauflösung im flüchtigen Augenblick. Sein Untersuchungsgegenstand, die Entstehung des Porträts, weist vielmehr daraufhin, daß es darauf ankam, die Entwicklung der Individuation im Medium solcher Bildnisse zu zeigen, die mythische Erkenntnis der Irrationalität des Daseins im Innewerden menschlicher Sterblichkeit abgerungen hatte. Schlossers Hinwendung zum ursprünglichen Wirken der Bildnerei im animistischen Aberglauben, einem neuromantischem Vitalismus geschuldet, darf jedoch nicht über die indirekte Präsenz der Kreatürlichkeitsanschauung des Barock hinwegtäuschen. In einer kunstpsychologischen Anthropologie, von der die Bilder, bar jeglichen sozialen Kontextes, als symbolischer Ausdruck einer ungeschichtlich wirkenden Seele verstanden wurden, die »in effigie« den Tod überwinden hilft, nahm sie bei Schlosser moderne Gestalt an. Im Moment der Sinnentleerung der vom gegenreformatorischen Katholizismus zum Lebensraum erweiterten sakralen Bilderwelt drang er zu deren heidnischem Urgrund vor. Der rituellen Herkunft einer als zunehmend gestaltlos empfundenen Gegenwart konnte man sich auf diese Weise unmerklich als empfehlenswerter Zukunft widmen.

Der Kunsthistoriker Eine Wahrnehmung der äußeren Hülle des menschlichen Körpers als Abdruck inwendig sich abzeichnender Krankheit und Verwesung, worin sich barocke Sinnbildlichkeit und Ästhetizismus der Jahrhundertwende verbinden, läßt sich auch bei dem Humanisten und scheinbar so gegenwartsfernen Julius von Schlosser feststellen. Daß er der zeit-

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Ex libris Julius von Schlosser

genössischen Moderne nicht so wesensfremd gegenüberstand, wie seine kunsthistorischen Themen vermuten lassen, wird etwa an der Begeisterung des Musikliebhabers für die Kompositionen Wagners, Bruckners und Hugo Wolfs deutlich. U m 1900 erworbene Kenntnisse der für die Kunst und Literatur der Wiener Moderne bedeutenden Philosophie Ernst Machs 5 zeigen, wiewohl Schlosser weder mit dem literarischen noch künstlerischen Impressionismus sympathisierte, dennoch Interesse für fortgeschrittene geistige Strömungen seiner Gegenwart. Eine unvermutet enge Verflochtenheit mit dem Wiener Zeitgeist wird am ephemeren, persönlichen Emblem seines ex libris sichtbar. Die Graphik im Stil der Sezession mit ihrer in Stummheit versunkenen, Sehnsucht nach

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Julius von Schlosser, um 1 9 3 5

Namenlosigkeit verheißenden Frauenfigur, wirft ein erhellendes Licht auf den ansonsten in persönlicher Hinsicht äußerst diskreten Schlosser. Nicht, daß er sich nicht über sich selbst geäußert hätte. 1924 hat er sogar eine »Lebenskommentar« genannte Selbstdarstellung geschrieben. 6 Doch konvergiert sein hier skizzierter Werdegang schon fast genauso ununterscheidbar mit der »Wiener Schule der Kunstgeschichte« wie in deren Chronik, die er zehn Jahre später verfaßte. Als »Outsider der Fakultät« 7 bezeichnet sich Schlosser in dieser Selbstdarstellung nicht ganz zu Unrecht. Nach dem Tode seines Kollegen Max Dvorak im Jahre 1922 hatte er das Ordinariat des berühmten Wiener Kunsthistorischen Institutes eher widerstrebend übernommen, mußte er doch den eigentlichen Bestimmungsort verlassen, sein geliebtes Kunsthistorisches Museum, dessen Direktor er im Jahre 1905 geworden war. Dem auch aus Pflichtgefühl der eigenen Ausbildungsstätte gegenüber vollzogenen Wechsel mag es zuzuschreiben sein, daß sich der Ordinarius Schlosser in seinem Lebenskommentar ganz ohne Eitelkeit als dankbarer ehemaliger Schüler einreiht unter seine verehrten Lehrer und Vorgänger, allen voran Franz Wickhoffund Theodor von Sickel. Autobiographische Angaben macht Schlosser kaum, höchstens, wenn er wiederholt die Bedeutung, welche die Kunst Italiens für ihn besaß, mit der italienischen Herkunft seiner Mutter in Zusammenhang bringt. Gestalt gewinnt er ausschließlich innerhalb seiner Profession, im Schnittpunkt von Kunstbetrachtung und Kunsthistoriographie, derjenigen Dualität, die ihn lebenslang beschäftigte. Oberstes methodisches 131

Tizian, Jacopo Strada, 1567/1568

Julius von Schlosser, um 1924

Prinzip seiner wissenschaftlichen Arbeit war, die Individualität des künstlerischen Objekts an den Anfang aller theoretischen Betrachtungen zu stellen. Dem entsprach, sich selbst bedeckt zu halten und jeden Personenkult zu vermeiden. Einen Zugang zur Person Schlossers erhält man durch diejenige Gattung, mit der er sich am ausführlichsten beschäftigt hat. Das Porträt, des Kunsthistorikers photographisches Bildnis sogar, gibt einen Eindruck vom Profil seiner Persönlichkeit. Dem »Lebenskommentar« ist eine der wenigen bekannten Aufnahmen vorangestellt, die eines jener Erinnerungsbilder festhält, wie es sich offenbar dem Gedächtnis seiner Schüler eingeprägt hat. Hans R. Hahnloser jedenfalls weist im Nekrolog für seinen am 2. Dezember 1938 in Wien gestorbenen Lehrer auf dessen markante Pose hin, »eine Bronzefigur andächtig zwischen den Fingern« 8 zu drehen, um alsdann den universalen Zusammenhang dieses Einzelstücks zu erläutern. Zweierlei stellt die Photographie in eine für Schlosser bezeichnende ikonographische Tradition: das betrachtete Kunstobjekt wie die Haltung des Betrachters selbst. Denn die photographische Darstellung läßt sich in jene Gattung von Sammlerporträts einreihen, von denen eines der berühmtesten Tizians Bildnis des Jacopo Strada von 1567/68 ist. Der in Mantua geborene Strada war einer der bemerkenswertesten Männer des späten 16. Jahrhunderts, der Epoche des Manierismus also, der sich Schlosser mit seinem 1908 erschienenen Buch über »Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance« als einer der ersten seiner Zunft zugewandt hatte. 9 Auf Tizians Gemälde, das sich im Wiener Kunsthistorischen Museum befindet, sind all jene den Sammler, Kenner und Historiographen ausweisenden Motive versammelt, die in gewisser Hinsicht auch Schlosser für sich in Anspruch nehmen konnte. Die Begeisterung.für die Numismatik, von Tizian durch die 132

auf dem Tisch liegenden antiken Münzen veranschaulicht, beseelte auch ihn. Nach Abschluß seiner Studien im Jahre 1889 fand er Anstellung als Custos-Adjunkt am Münz- und Antikenkabinett des Kunsthistorischen Museums zu Wien. Daß er dieses Amt mit Leidenschaft versah, ist denjenigen seiner wissenschaftlichen Arbeiten zu entnehmen, in denen er griechische Herrscher- und römische Kaisermedaillon im Zusammenhang mit der Geschichte des realistischen Porträts abhandelt. Stradas antiquarisches Interesse trat bei Schlosser in Form einer ausgeprägten Bibliophilie auf. Die »Wunderkammer« seines Heimes beherbergte, wie wiederum Hahnloser in der Festschrift zu Schlossers 60. Geburtstag vermerkt, eine Privatbibliothek von immerhin sechstausend Bänden zumeist kunsttheoretischer und kunstgeschichtlicher, in Italien erworbener Literatur. Endlich aber zeigt die Statuette, die Schlosser in Händen hält, daß er von jenen von ihm immer wieder beschworenen »urtümlichen Vorstellungen« selbst bestimmt war. Den religiösen Ursprung des Sammeins hatte er in seiner Aufsatzsammlung »Präludien« 10 anhand des Larariums erläutert. Dort wurde der Profanisierungsprozeß aufgezeigt, dem dieses Hausheiligtum der römischen Antike, auf dem sich Bilder der Vorfahren wie auch Götterbilder darstellende Kleinbronzen befanden, allmählich ausgeliefert war. Bemerkenswert an Schlossers Darstellung ist, daß er diese über die Renaissance bis zum Manierismus reichende Entwicklung als Verfall beschreibt, als Triumph eines Formgedankens, der ursprüngliche mythologische und religiöse Bedeutungen verdrängt. In diesem Zusammenhang gewinnt die Ikonographie seiner Porträtphotographie wie vor allem die von Besuchern seines Hauses mit Befremden vermerkte Tatsache, daß er selbst über ein Lararium verfügte, besondere Bedeutung. Hier waren die Bildnisse jener Männer versammelt - Franz Wickhoff, Theodor von Sickel, Benedetto Croce, Karl Voßler, Heinrich Wölfflin - die für seine geistige Entwicklung entscheidend waren. Darüber hinaus waren dort aber auch zahlreiche Abgüsse der Kleinbronzen des über alles verehrten Lorenzo Ghiberti piaziert, desjenigen Bronzebildners der italienischen Frührenaissance, zu dessen bedeutendsten Schöpfungen die zweite und dritte Tür des Florentiner Baptisteriums gehören. Ohne die Tatsache des von Schlosser selbst sogenannten Larariums überbewerten zu wollen, für einen Kunsthistoriker, der Beseelung und Vitalisierung des Kunstwerks, insbesondere der Skulptur, zur ursprünglichsten Form der Aneignung von Kunst überhaupt rechnete", ist sie immerhin bemerkenswert. Die Tradition manieristischen Sammlertums, in die sich Schlosser als Kunsthistoriker und Museumsmann stellte, zeigt seine Vorliebe für Übergangszeiten wie den Ausgang der Antike, des Mittelalters und der Renaissance. Solche Epochen boten Gelegenheit zur Selbstdefinition. Indem man die eigene Gegenwart im Spiegel einer historischen Vergangenheit als Schwelle begriff, verfügte man über Kontinuitäten wie über eine Position, die es erlaubte, zur selben Zeit modern und vormodern zu sein. Man konnte den Blickwinkel abergläubischer Vorstellungen vom Bildzauber einnehmen wie zugleich, um es in der Warburgschen Begrifflichkeit zu formulieren, jenen »Denkraum«, der vom Bewußtsein dieser Haltung erfüllt ist. Diese Gedankenfigur der Selbstvergewisserung des Logos im Lichte seines Fundaments mythischer Irrationalität zeigt nachdrücklich die moderne Signatur der Schlosserschen Kunstgeschichte. 133

Denn am Grunde der apollinischen Kunst der Bildnisse, zu deren bevorzugten Gattungen Schlosser zusammen mit dem Porträt die Plastik zählte, brandeten mächtig die dionysischen Triebe. Wenn gar im Zusammenhang mit der Lebenstreue etruskischer Grabplastik der Begriff der »terribilità« 12 fällt, so blitzt hier eine Ahnung von der Scheinhaftigkeit der Vernunft auf. Solch ein Schrecken, dessen Intensität angesichts der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch erhaltenen effigies unmittelbar spürbare Aktualität gewann, weist auf eine markante, verborgene Bedeutungsschicht des Schlosserschen Textes hin. Im Umkreis vormoderner Phänomene entwirft die kunsthistorische Abhandlung umrißhaft eine moderne, auf erschütternden Gefühlssensationen aufbauende Ästhetik. Was hier verborgen blieb, fiel in anderer Beziehung fragmentarisch aus. Weil mancherlei Einsichten und Diagnosen eher unbewußter oder intuitiver Natur waren, entwickelte sich keine symbolorientierte Kulturwissenschaft wie bei dem mit Schlosser gleichaltrigen Aby Warburg. Dieser Umstand ist vor allem auf die Bestrebungen zurückzuführen, zur selben Zeit auch Absicht Heinrich Wölfflins oder von Schlossers Wiener Kollegen Alois Riegl, die Kunstgeschichte als autonome Wissenschaft zu begründen. Polemiken Schlossers gegen eine Kunstgeschichte als Kulturgeschichte, wie auch Selbstkritiken vergangener, hinsichtlich dessen überwunden geglaubter theoretischer Positionen ziehen sich durch sein wissenschaftliches Werk wie ein roter Faden. Worauf es ihm zeitlebens ankam, war mit der Begründung der Autonomie des Kunstwerks auch diejenige der ihr zugeordneten wissenschaftlichen Disziplin zu schaffen. Schlossers berühmteste Schüler - Ernst H. Gombrich, Ernst Kris, Hans Sedlmayrhaben an diesem Bestreben nur bedingt festgehalten. Unterstützt wurde es vielleicht noch am ehesten von Sedlmayr, der 1936 den Wiener Lehrstuhl übernahm. Nichtsdestoweniger läßt sich gerade in Kris' wie vor allem in Gombrichs Ikonologie und den damit verbundenen wahrnehmungspsychologischen wie psychoanalytischen Ansätzen das weiterentwickelte Verständnis ihres Lehrers von der Kunst als Ausdrucksphänomen entdecken. Die in dieser Hinsicht Schüler wie Gombrich und Kris offenbar prägende, für Schlosser aber Zwischenetappe gebliebene Unternehmung bestand - exemplarisch dem Schlußkapitel unseres Textes zu entnehmen - in der Intention, der normativen Ästhetik des Klassizismus eine »historische Ästhetik« entgegenzusetzen. Darin unternahm Schlosser den Versuch, das Kunstwerk als Realitätsgestaltung eines bestimmten geschichtlichen Augenblicks zu verstehen. Schließlich ließ er aber diese Kontamination von Historie und Ästhetik wieder fallen, wollte er doch gerade jene beiden Bereiche säuberlich voneinander getrennt halten. Unter keinen Umständen sollte das Kunstwerk zur »Urkunde« eines kulturhistorischen Prozesses degradiert werden. Schlossers mit antiklassizistischer Polemik ausgestattete Versuche, eine ästhetische Theorie zu begründen, haben auf vielerlei Umwegen mit Benedetto Croces Neohegelianismus zu tun. Den Anfang dieser Parteinahme stellte die Absage an den Wissenschaftspositivismus des 19. Jahrhunderts dar, dem jeweils mit den Schlagworten »Herbartianismus« oder »Sensualismus« eine scharfe Abfuhr erteilt wird. Solche Kritik darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schlosser die von ihm niemals angezweifelten Grundlagen seiner Ausbildung letztendlich eben der in Wien starken positivisti134

Heinrich Wölfflin

Alois Riegl

Hans Sedlmayr

Ernst H. Gombrich

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sehen Tradition verdankte. Denn auch die »Wiener Schule der Kunstgeschichte«, die philosophische Spekulation strikt ablehnte, wie auch das »Österreichische Institut für Geschichtsforschung«, Stätten, denen Schlosser seine erfolgreiche Karriere verdankte, waren diesem Einfluß nicht entgangen. Sickels Credo, durch Philologie und Quellenforschung der Geschichtswissenschaft ein den Naturwissenschaften vergleichbares exaktes Fundament zu verschaffen, macht sich nicht zuletzt auch in den kunsthistorischen Arbeiten Schlossers bemerkbar. Dessen ausgeprägte Neigung zum Literarischen - 1 8 8 7 hatte er Märchen wie auch Lyrik veröffentlicht - ging mit der Philologie eine fruchtbare Verbindung ein. Von der Literarizität wie vom positivistischen Einfluß gibt die »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« mit ihrem profilierten stilistischen Gestus und dem heute ungewohnten Fundament ihrer zahlreichen fremdsprachlichen Quellentexte ein exemplarisches Probestück. Quellenkritik und Quellenforschung, die ihren Abschluß meist in einer Edition fanden, stellten jedenfalls die Voraussetzung für den späteren Ruhm Schlossers dar, den er sich mit seiner »Kunstliteratur« erwarb. Mit diesen »Materialien zur Quellenkunde der Kunstgeschichte«, von 1 9 1 4 bis 1920 in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften, 1924 dann in Buchform erschienen, schuf Schlosser ein bis heute gültiges, mehrfach aufgelegtes, 1935 auch ins Italienische übersetztes Standardwerk. Darüber hinaus stellte er damit aber auch die Grundlagen her für eine Geschichte der älteren Kunsttheorie und Ästhetik, Forschungen, die ihm selbst wiederum auf den Weg zu eigenen kunstphilosophischen Überlegungen verhalfen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Auseinandersetzung mit Lorenzo Ghiberti ihren Stellenwert. Daß Ghiberti für Schlosser die Bedeutung eines historischen alter ego besaß, läßt sich nicht erst der posthum 1941 in Basel erschienenen Monographie entnehmen. Denn dem florentinischen Künstler hat er sich nicht nur einmal, sondern von Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit an immer wieder von neuem zugewandt. Gut vorstellbar, daß es die drei Professionen Ghibertis waren, die des Sammlers und Schriftstellers, j a erst recht die des Bildhauers, von denen diese lebenslange Identifikation herrührte. Der Auftakt für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem von Burckhardt, Wölfflin oder Wilhelm von Bode übergangenen Bronzebildner war die Wiedergeburt des vergessenen Literaten Ghiberti. Dessen Schriften, die »Commentarli«, wurden 1 9 1 2 von Schlosser zum ersten Mal unter dem Titel »Denkwürdigkeiten« ediert. Sie bildeten das Herzstück für seine zukünftige ästhetische Theorie, deren Modell er in den Künstlerbiographien Ghibertis gewissermaßen schemenhaft vorgebildet sah. Wozu ihm die »Commentarli« in letzter Instanz verhalfen, war die strikte Scheidung seiner Disziplin in »Stilgeschichte« der bildenden Kunst hier und deren »Sprachgeschichte« dort. Diese Dichotomie gewann er durch die Konfrontation Ghibertis mit Vasari, dessen Künstlerbiographien er vorwarf, eine für die gesamte nachfolgende Kunstgeschichte unheilvolle Tradition ins Leben gerufen zu haben. Nach Schlossers Auffassung galt es, die Ineinssetzung des autonomen ästhetischen Gebietes der Sprache der Kunst mit dem Sprechen über Kunst in Form empirischer Daten rückgängig zu machen. In Gestalt der Stilgeschichte sollte der interne Bereich der ästhetischen Formen vom externen Sektor der Sprachgeschichte, wie etwa der Künstlerbiographie oder der regionalen Lokalisierung des Werkes geschieden werden. Diese ausschließliche Konzentration auf das Kunstwerk sah 136

Schlosser bei Ghiberti bereits vorbildhaft verwirklicht, weswegen er ihn anstelle seines Hauptfeindes Vasari zum »eigentliche(n) Ahnherrn« 1 3 der Kunsthistoriographie ernannte. Schlossers Selbstreflexion der Kunstwissenschaft unterscheidet sich zunächst nicht von solchen theoretischen Überlegungen, wie sie auch bei Riegl und Wölfflin zu finden sind. Das Bestreben, reine Kunstbetrachtung durch Bruch mit der kulturgeschichtlichen Tradition vornehmlich Jakob Burckhardts herzustellen, ist bei Schlosser in vergleichbarer Weise zu beobachten. Es kennzeichnet aber seine individuelle Besonderheit, vor allem aber seinen letztlich solitären Status innerhalb der Kunstgeschichte, daß er einen anderen Weg gegangen ist als diese beiden, von ihm geschätzten Kollegen. Der Abstraktion und »Logizismus«, wie er es nannte, abholde Schlosser war nicht zur Konstitution eines formalisierten Begriffssystems bereit, um den autonomen Bereich der Kunstwissenschaft auf diese Weise zu definieren. Eine historische Grammatik der künstlerischen Formensprache aufzustellen war für ihn schlichtweg ein Unding. Sein niemals ganz überwundener Positivismus hieß ihn vielmehr gegen alle Systematisierungen unerschütterlich an der Bedeutung des Singulären und Individuellen festzuhalten. Wenn in diesem Zusammenhang immer wieder - und nicht nur in der »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« - von der »Inselhaftigkeit« (S. 1 1 8 ) oder dem »Monadischen« des Kunstwerks die Rede ist, dann zeigt diese Terminologie, was Immanenz bei Schlosser eigentlich meint. Seine Auffassung, daß der unbegrifflichen Geschöpftheit des Kunstwerks kein Begriff adäquat sein könne, führt ihn geradewegs ins Innere des Künstlers, den er als Medium eines von aller Historie unabhängigen Geistes begreift. Nicht von Hegel selbst, sondern vom Neohegelianismus seines lebenslang verehrten philosophischen Gewährsmannes Benedetto Croce wurde Schlosser zum Verständnis »von der Kunst als elementarster und grundlegendster Äußerung des Geistes«' 4 geführt. Freilich hatte sich hier der Hegeische Begriff des Geistes in den der Seele verwandelt, die sich innerhalb der Kunst auf der Grundlage der Intuition Ausdruck verschaffte. Darauf aufbauend konnte Schlosser das Kunstprodukt sogar als Ausdrucksphänomen nicht einer individuellen, sondern einer durch die empirische Person des Künstlers hindurchwaltenden Weltseele verstehen. Der Schauplatz der Immanenz war aber damit, wenn auch unabsichtlich, längst verlassen. Aus dieser, dem Fin-de-siècle geschuldeten Perspektive, der Schlosser immer verbunden blieb, ließen sich die Objekte der Kunst als »états d'âme«, als Seelenzustände, verstehen. Ohne Psychologie und Anthropologie war dabei freilich kein Auskommen. In der im Jahre 1900 erschienenen Erzählung »Der Tod Georgs« von Richard Beer-Hofmann stellt der Protagonist den Künstler als Schöpfer vor, der die Form um ihr Schicksal fragt: » - w o h e r sie geworden und wohin sie wird«' 5 . Die Antwort hat Schlosser gegeben und den Transformationsprozeß künstlerischen Werdens anhand der Wachsplastiken beschrieben: Er rechnete sie unter die archety pi sehen Ausdrucksformen einer mitunter sogar anonym wirkenden Seele.

Nicht »Geist«: »Geist« ist eine Synthese, die das Bewußtsein, das denkende Ich des Descartes vollzieht; für die Seele in der Bildwelt gibt es nur lebendige Tote. Rudolf Kassner, Die Mythen der Seele, 1927

Effigies: Seele statt Historie In ihrem Idealzustand ist künstlerische Produktivität für Schlosser genuiner Ausdruck ursprünglicher Seelenanlagen. Seine besondere Neigung gilt deswegen nicht zufällig solchen Kunstobjekten wie den Wachsplastiken, die sich als mehr oder weniger spontane, von den Reflexionen und Abstraktionen irgendeiner Ästhetik ungetrübte Vergegenständlichungen interpretieren lassen. Aber auch sein Interesse an den Kuriositäten der Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts findet auf diese Weise eine von vielen anderen Erklärungsmöglichkeiten. Die Janusköpfigkeit gerade mancher kunstgewerblicher Gegenstände, zurückzuführen auf ein Schwanken zwischen rationaler Weltanschauung und magischem Denken, trug trotz allen Drangs nach universellem Wissen unverkennbar noch die Spuren nicht überwundenen Aberglaubens. Derart prädestiniert für Schlossers Sehnsucht nach Unmittelbarkeit mögen die Kuriositäten für eine ins Reich der Kunst übertragene rousseauistische Transparenz des natürlichen Gefühlsausdrucks stehen. Mehr noch aber gehört die von ihrer Interessantheit hervorgerufene, für Schlossers Gegenwart kennzeichnende Paradoxie, mit Hilfe der Reflexion diese selbst loszuwerden, in die Tradition romantischer Vorstellungen. Daß eine neue, den Zwiespalt der Moderne heilende Kunst nur durch Hinwendung zu einer in ihrem mythischen Weltverständnis von der Natur ungeschiedenen, antiken Menschheit erreicht werden könne, findet sich bei Friedrich Schlegel ebenso wie bei F. W. J . Schelling. Nicht verwunderlich, wenn für Schlosser gerade die Bekanntschaft mit der Spätphilosophie des letzteren Anlaß war, sich vom Wissenschaftspositivismus seiner Zeit zu distanzieren. Solch eine von der Romantik herkommende, für die gesamte Moderne typische Versuchsanordnung, im Rückblick auf eine in »survivals« kontinuierlich fortwirkende Urzeit Selbsterklärung wie Selbstheilung zu finden, bestimmt auch Schlossers Werk. In seiner »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« ist sie sogar, wie in manch anderen seiner Abhandlungen aus der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg, besonders ausgeprägt vorhanden. Zu deren spezifischen Kennzeichen gehört die transhistorische Wirksamkeit einer primitiven Ursprungzeit, die weder topographische noch zeitliche, sondern allein psychische Qualität besitzt. Bemerkenswert ist ja an Schlossers Text, daß selbst schon in die römische Antike eine nur vage definierte, barbarische Urzeit hineinragt (vgl. S. 47, 52 f., 69 f.). Diesem unablässig aufgeschobenen Ursprung einer mythischen Vorvergangenheit, der jede Epoche im exotischen Zwielicht archaischer Unvernunft erscheinen läßt, eignet aber Historizität nur, insofern er die ausschließlich seelische Dimension einer anthropologischen Grundausstattung des Menschen erkennen läßt. 138

In den »survivals« kommt es dieser Logik zufolge gewissermaßen zum Selbstab- wie Selbstausdruck primitiven Seelenlebens in den ihm quasi natürlich zukommenden künstlerischen Formen. Den kunstpsychologischen Blick auf die intuitive Tätigkeit der Phantasie hatte Schlosser nicht allein von Benedetto Croce erlernt. Hier war zwar die Rede von der »ästhetischen Synthesis a priori aus Gefühl und Phantasie« 16 , die allein im Symbol ihren Ausdruck erhalte. Doch zeigten die seelischen Vorstellungswelten des Kindes wie auch des Wilden, denen sich die zeitgenössische Psychologie zum einen wie Ethno- und Anthropologie oder Religionswissenschaft zum anderen zuwandten, die Produktivität der Intuition sozusagen im unmittelbar anschaubaren Naturzustand. Dem Einfluß all dieser Wissenschaften, die den Stand der Wildheit als phylogenetisches, auch individualgeschichtlich zu bewältigendes Stadium der Menschheit begriffen, ist Schlosser gleichfalls nicht entgangen. Literatur zur kognitiven Psychologie des Kindes ist beispielsweise in der Bibliographie seines bemerkenswerten Aufsatzes »Randglossen zu einer Stelle Montaignes«, der vom Ursprung des Ornaments handelt 17 , aus der Zeit der Jahrhundertwende nachweisbar. Auf eine umfänglichere humanwissenschaftliche Rezeption deutet aber nicht zuletzt der Begriff des »survivals« selbst hin. Schlosser hatte ihn möglicherweise direkt durch die Lektüre von E. B. Tylors »Primitive Culture« ( 1 8 7 1 ) kennengelernt. Sicherlich aber ist er auf ihn in der übersetzten Form (»Die Anfange der Cultur«, 1873) des »Überlebsels« bei Hermann Usener gestoßen, dessen religionsgeschichtliche Forschungen er bereits vor der Jahrhundertwende kennengelernt hatte. Z u seiner Lektüre gehörte ebenfalls Wundts »Völkerpsychologie« (1. Bd., Die Sprache, 1900), wobei nicht unwahrscheinlich ist, daß der in klassischer Philologie beschlagene Schlosser auch Erwin Rohdes 1893 erschienene »Psyche« zur Kenntnis genommen hat. Auf jeden Fall stellt gerade dieses Werk einen aussagekräftigen Hinweis auf den dominanten Einfluß der Animismustheorien E. B. Tylors und Herbert Spencers dar, der auch in Freuds 1 9 1 2 / 1 3 entstandenem Essay »Totem und Tabu« vorhanden ist. Ebenso, wenn auch vermittelt und unausgewiesen, in der nur knapp zuvor publizierten »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs«. In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, daß Schlosser, der mit der psychoanalytischen Theorie von Ferne durch seinen Schüler Ernst Kris bekannt geworden sein mag, 1 8 genau wie Freud im Todesproblem den Ausgangspunkt für die Seelenvorstellungen und den Dämonenglauben des Animismus sieht. Die auch von Freud in einem Zitat von Frazer angeführte Wachsplastik 19 ist in Schlossers Abhandlung das Organon, dessen der Animismus bedarf, um den Tod »in effigie« zu überwinden. Denn das Ebenbild, so Schlossers These, besitzt ja auf Grund seiner Lebenstreue nur sekundär die Funktion der Erinnerung, primär hingegen diejenige des Bildzaubers. Die von der Verwendung der Totenmaske hervorgerufene abbildhafte Ähnlichkeit ist für Schlosser schlüssiger Beweis, den in den verschiedenen Funeralzeremonien verwendeten Wachsplastiken eigne einzig die Aufgabe des dämonischen Stellvertreters. Ein Rest magischen Doppelgängertums wirkt dergestalt sogar noch im Realismus der freien Bildnisplastik wie des malerischen Porträts fort, deren Entstehung in genuinen Zusammenhang mit Totenmaske und Funeralwesen gebracht wird. Ähnlich hatte schon zuvor im Jahre 1902 Aby 139

Warburg argumentiert, als er auf die auch von Schlosser erwähnten florentinischen »Boti« in der Kirche Santissima Annunziata zu sprechen kommt: Die Entstehungsgeschichte des individuellen Porträts hatte auch er auf dem Hintergrund des »fetischistischen Wachsbildzaubers« 20 der dort versammelten Votivplastiken verstanden. Das auf den Zusammenhang von Wachsplastik und Bildniskunst angewandte Paradigma vom latenten Bildzauber als fortwirkende urtümliche Anschauungsweise prälogischen Denkens hat eine jüngere, weniger kulturpsychologisch als kulturhistorisch und -soziologisch orientierte Geschichts- wie Kunstgeschichtsschreibung zurückgewiesen. Diese Forschungen wie auch deren Ergebnisse verdankten sich indessen nicht zuletzt auch den akribisch betriebenen Recherchen Schlossers, der erstmals das Interesse auf jenen von ihm selbst sogenannten »Winkel der Kulturgeschichte« (S. 104) gelenkt hatte. Schlossers Nachfolger verlagerten allerdings den Schwerpunkt: Die psychische Symbolik eines innerhalb abendländischer Zivilisation wirkenden vorzivilisatorischen anthropologischen Stadiums ersetzten sie durch die historische und funktionelle Kontextualisierung einer politischen Symbolik. Mit anderen Worten: die den Geschichtsverlauf remythisierende Perspektive fortwirkender Ursprünge wurde abgelöst durch die Beachtung von Prozessen fortschreitender Säkularisierung. 21 Der für das Verhältnis von Leib und Scheinleib, von Leichnam und Wachsplastik bedeutsame, mit der Entstehung des realistischen Porträts im Zusammenhang stehende Vorgang der Verdoppelung im Funeralzeremoniell wurde neubewertet. Dabei ging es nicht zuletzt um eine deutliche Differenzierung historischer Epochen. Bei Schlosser hatten sich die Zeiten zu Emanationen eines unterschwelligen, archaischen Kontinuums verdichtet. Die Folge war nicht nur ein Ineinanderdrängen inkommensurabler Epochen, sondern auch die Verkennung insbesondere solcher Hochzeiten des effigies-Gebrauchs wie derjenigen der römischen Antike und der Renaissance. Spätestens in diesem Zusammenhang macht sich die Formel vom urzeitlichen animistischen Bildzauber ihrerseits als Mythos einer Wissenschaft bemerkbar, die in ihren theoretischen Voraussetzungen die Ontologie des Untersuchungsgegenstandes erblickt. Das physiognomische Bildnis der römischen Antike während der republikanischen Epoche wie der Kaiserzeit war nämlich nicht, worauf Schlosser dessen Wirkungskreis einengt, ausschließlich im Umkreis von Leichenritualen zu finden. Öffentliche Porträts stellten auch Lebende vor, sie galten dem Kaiser, dem siegreichen Krieger, dem verdienten Bürger. Dabei galt für den Bereich des Ahnenkultes, was auch auf die Lebenstreue dieser Standbilder zutraf. Die größtmögliche Ähnlichkeit besaß politische Funktion. Dem individualisierenden Verismus kam es auf die Unverwechselbarkeit des Abgebildeten an. Im republikanischen Rom stellte die patrizische Sippschaft eines Verstorbenen - wie in dem von Schlosser zitierten Bericht des Polybios eindrücklich geschildert - zugleich mit dessen bekleideten Bildnis die ganze Ahnengalerie zur Schau. Dieses Zeremoniell diente dazu, die Einzigartigkeit ehrwürdiger Tradition und politischen Glanzes des ganzen Geschlechts zu demonstrieren. Die wächsernen Verdoppelungen römischer effigies des Toten und der Ahnen, an der Leichenfeier des ermordeten Cäsar (vgl. S. 21 f.) zu sehen, hatten die Aufgabe übernommen, öffentliche Wirkung um der politischen Propaganda willen zu entfalten.

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Gerade in diesem Fall zeigt sich die Macht der Bilder in einer von ihrer theatralischen Inszenierung bewirkten Triebentfesselung, die unmittelbar Herrschafts-, nicht aber transzendenten Zwecken dienlich gemacht wird. Die von Polybios zitierten Insignien sozialer Würde deuten die Entwicklung an, die der Vorgang der Duplizierung des Leichnams in den aristokratischen Begräbnissen der folgenden Jahrhunderte genommen hat. Letztendlich handelte es sich um einen Prozeß, der zu dem von Schlosser skizzierten Verlauf in genau umgekehrtem Verhältnis stand. Denn die wächserne effigies emanzipierte sich im christlichen Herrscherbegräbnis zusehends von sakralen Funktionen. Daraus entwickelte sich allmählich die freie, nicht mehr ausschließlich rituell gebundene Wachsplastik, die gleichrangig neben anderen Herrscherporträts stand. A m deutlichsten ist dieser Säkularisierungsprozeß an den auch von Schlosser erwähnten anatomischen Präparaten des spektakulären G a j e t a n o Z u m b o abzulesen, später dann vor allem aber an denjenigen von Mascagni und Fontana (S. ι ο ι ). Mochten die wächsernen Miniaturtheater des ersteren zwar auch noch die allegorische Funktion eines barocken memento mori besitzen, eine animistische Funktion hatten weder sie noch christliche Votivgaben im allgemeinen. Selbst solche E X V O T O gestifteten wächsernen Skulpturen in Lebensgröße, die keineswegs durchgängig Ähnlichkeit mit dem Votanten besaßen, repräsentierten auf sinnbildliche Weise einen spirituellen Vorgang, hatten aber keine Stellvertreterfunktion. 22 Von einer vergleichbaren Versinnlichung unsinnlicher Werte wurde auch die sicherlich interessanteste Periode des effigies-Gebrauches beherrscht: das englische Mittelalter, besonders aber das französische Königtum des Hochmittelalters und der Renaissance. Die Verdoppelung des toten Königs durch einen mit allen Insignien der Königswürde ausgestatteten Scheinleib war diesseits wie jenseits des Kanals üblich. Ursprünglich stammt dieser Brauch aus England, w o 1327 beim Begräbnis Edwards II. erstmals die Zurschaustellung eines lebensgroßen Abbildes nachweisbar ist. Seit 1422 auch in Frankreich praktiziert, entwickelte sich dieses Brauchtum innerhalb des französischen Königtums im Verlauf des 16. Jahrhunderts zum triumphalen Zeremoniell. Bereits die Grabdenkmäler des englischen und französischen Hochmittelalters hatten den Toten in Gestalt zweier unterschiedlicher vollplastischer Skulpturen gezeigt. Dargestellt wurde der skelettartige oder verwesende Leichnam, darüber aber postierte man die Liegefigur des sogenannten gisant, die den Toten als Lebenden vorstellt, versehen mit den Zeichen seiner bischöflichen oder fürstlichen Macht. Diese dann modifizierte und zeremoniell verfeinerte Verdoppelung bestimmte auch die Beisetzungsfeierlichkeiten der französischen Könige. Nachdem man zunächst die Leiche wie auch das lebensechte wächserne Abbild im Trauerzug mitgeführt hatte, beförderte man später beide getrennt, wobei ersterer ausschließlich die Trauer, letzterem aber ein grandioser A u f w a n d höfischen Prunks galt. D a ß die in dieser Verdoppelung mit den königlichen Insignien ausgestatteten effigies die Bezeichnung »representation« (engl.) oder »représentation« (franz.) zu Recht trugen, hat Ernst H. Kantorowicz in seinem legendären Buch »The Kings T w o Bodies« 23 eindrucksvoll gezeigt. Die Künstlichkeit des lebensechten Abbildes besaß keine Stellvertreterfunktion. Intention war nicht etwa die Vergegenwärtigung des Verstorbenen, sondern vielmehr die Versinnbildlichung dynastischer staatspolitischer Ideen. Angetan mit Szepter, Krone, Mantel, Orden und anderen Insi-

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Wächserne Votivstatue im Crescentiakloster, Kaufbeuren

gnien trat der Scheinleib in Opposition zum natürlichen, dem Verfall preisgegebenen Körper des Königs. »In effigie« repräsentierte er die Unsterblichkeit des politischen Körpers der königlichen dignitas als immerwährende Institution. Einen Kult um die effigies, wie er im Mittelpunkt des französischen Trauerzeremoniells stand, kannten die habsburgischen Leichenfeiern nicht. Statt symbolischer Handlungen mit festumrissenen staatsrechtlichen Bedeutungen zelebrierte man in Wien das allegorische Spektakel der sogenannten »pompae fúnebres«, denen es allerdings ebenfalls nicht an lebensnahen vollplastischen Ganzfigurenbildern des verblichenen Herrschers mangelte. Wenngleich diese einen ganz anderen, theatralischeren und 142

Gisants von Johann dem Unerschrockenen, gestorben 1 4 1 9 , und seiner Gattin Margarete von Bayern, Museé des Beaux-Arts, Dijon

weltlicheren Charakter als die französischen »mannequins« trugen, so lag ihnen doch derselbe Impetus der Versinnbildlichung unsterblicher dynastischer Gewalt zugrunde. Auch hier hatte man in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Totenfeier in zwei zeitlich voneinander getrennte Vorgänge aufgeteilt. Nach der öffentlichen Paradierung wurde die Herrscherleiche schmucklos beigesetzt, während Triumph und Gepränge allein dem »Trauergerüst«, dem »Castrum doloris«, galten, das im Zentrum der erst viel später stattfindenden, spektakulären offiziellen Exequienfeiern stand. Dieser Kaiser-Apotheose diente die auch von Schlosser erwähnte »pompa funebris« der römischen Antike als Vorbild, der man die jetzt wieder kultivierte Sitte der rund um das »Castrum doloris« aufgerichteten plastischen Ahnenbilder entnahm. Von einem Überleben der römischen Konsekration kann gleichwohl nicht die Rede sein. Die Wiener Funeralkunst, die wie die französische unabhängig von der Antike entstanden war, bediente sich bewußt deren Ikonographie, um auf diese Weise den imperialen Anspruch der habsburgischen Dynastie zu legitimieren. Der Idolatrie hingen diese »Dekorationen des Augenblicks«, wie Jakob Burckhardt die höfische Festarchitektur treffend genannt hat, in immer unverhohlenerem profanen Ausmaß an. Zwar demonstrierten die stets prunkvoller werdenden Trauergerüste mit ihren am Ende formalisierten und weitgehend bedeutungsleer gewordenen ikonographischen Programmen nach wie vor das Schema der Verdoppelung. Doch hatte der Tod inmitten der überbordenden Vielfalt der allegorischen Zeichen einen zusehends subli143

A. Pozzo, Trauerprospekt für Kaiser Leopold I., Wien (Jesuitenkirche) 1705. Radierung von J . A. Peffel und C. Engelbrecht

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Johann Fischer von Erlach, Trauergerüst der Universität für Kaiser Joseph I. in der Stephanskirche, Wien 1711

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mierteren Ausdruck gefunden. Nach dem Vorbild der barocken Illusionsbühne inszenierte man in eindrucksvoller Dekoration das seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zentrale Thema der Kaiser-Entrückung. Über dem leeren Sarkophag erhob sich, häufig eingebunden in allegorische Szenerien, ein Medaillon mit dem Konterfei oder eine Plastik des verblichenen Herrschers, welche die Unsterblichkeit seiner Tugend, seines Heldentums und Ruhmes personifizierten. Umgeben war der Katafalk von Skulpturen, die, laut Julius Bernhard von Rohrs Ceremonial-Wissenschaft 24 , aus weißem Wachs bossiert, wie natürliche Menschen mit kostbaren Stoffen bekleidet und auf dem Haupt mit echten Haaren bedeckt waren. Einen Eindruck vom Willen zur »repraesentatio maiestatis«, wie ihn die Wiener Funeralkunst zu inszenieren wußte, vermitteln beispielsweise Lucas von Hildebrands, Fischer von Erlachs oder auch Andrea Pozzos Entwürfe für die Trauergerüste der 1705 bzw. 1711 gestorbenen Kaiser Leopold I. und Joseph I. Im scheinhaften Diesseits transzendente Wirklichkeiten mit Hilfe der Scheinarchitektur von Theaterbühnen darzustellen, war Intention solcher Festapparate. Das geschah um der Glorifizierung des Herrschers willen im Zeitalter des Absolutismus weniger demutsvoll, als es die sakrale Fundierung des Gottesgnadentums eigentlich verlangt hätte. Die Inszenierung idealer Herrschaft auf der Bühne der »Trauermaschine« näherte im Gegenteil sakrale und profane Sphäre fast ununterscheidbar aneinander an. Die auf dem »Castrum doloris« verwendeten Bildnisse der Verstorbenen wie die gelegentlich aus Wachs bossierten Skulpturen als animistische Seelensitze zu verstehen, hieße die höchst diesseitige Wirkung verkennen, die solch Scheinhaftigkeit des Scheins bewirkte. Trauerarchitekturen, in verschiedenen Ausführungen an unterschiedlichen Orten errichtet, trugen mit ihren Bildnissen ebenso wie Flugschriften, die den aufgebahrten Leichnam des Herrschers zeigten, durch Erregung wie Übertragung von Trauer zur Verinnerlichung absolutistischer Macht bei.

Moderne Archaik Solche komplexen Zusammenhänge sozialer und mentaler Realitäten, in denen sich Glaube und Recht, religiöse und politische Symboliken miteinander verschränken, sind am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig als Manifestationen einer transhistorischen Seele untersucht worden. Eine Psychisierung historischer Abläufe, von der die Gleichzeitigkeit eines noch in der Moderne fortwirkenden, ursprünglichen Menschheitsstadiums vorausgesetzt wird, findet sich etwa in der Geschichtswissenschaft des mit Usener methodisch verwandten Leipziger Historikers Karl Lamprecht. Der Begriff der »Reizsamkeit« diente Lamprecht dazu, die seelischen Verhältnisse der zeitgenössischen Moderne in Analogie zu einer vorzivilisatorischen 146

Archaik zu bestimmen. Nicht auszuschließen, daß Julius von Schlosser unter dem Einfluß Lamprechts stand. Die vergleichbare gedankliche Operation psychisierender Selbstvergewisserung der Moderne im Rückblick auf »graue Vorzeiten«, wie es noch bei Friedrich Schlegel hieß, ist jedenfalls auch bei dem Wiener Kunsthistoriker festzustellen. Sind es doch die kontinuierlich in Erscheinung tretenden »survivals«, die - in welcher geschichtlichen Epoche auch immer - die Existenz einer urtümlichen nervösen Energie erkennen lassen. Die Allmacht der Gedanken, die Freud in »Totem und Tabu« als Kennzeichen des archaischen Animismus definiert hatte, resultiert aus der Übermächtigkeit einer Wirklichkeit, die durch die Annahme von Übermächten erklärt wird. Eine Epoche wie die Moderne der Jahrhundertwende, die sich eigenem Verständnis nach einer nicht weniger undurchschaubaren Wirklichkeit konfrontiert sah, konnte sich füglich in archaischer Ohnmacht wiedererkennen. Solch ein inmitten der Moderne wieder dem Schrecken anheimgefallenes, anscheinend aus mythischen Vorzeiten zurückgekehrtes Bilderbewußtsein, das psychische nicht von materiellen Realitäten zu unterscheiden vermochte, eignete sich gleichwohl als Fundament einer ästhetischen Opposition. Als Hinweis darauf sei nur angemerkt - um ein einschlägiges Beispiel aus der Lebenswelt Schlossers zu geben - daß 1904 in Hugo von Hofmannsthals »Elektra« oder auch in Hermann Bahrs im selben Jahr publizierten »Dialog vom Tragischen« nicht bloß eine Psychisierung, sondern eine regelrechte Hysterisierung der griechischen Antike in Szene gesetzt worden war. In Schlossers auf die Wachsplastiken gerichteter Obsession scheint hingegen über solch eine Aufladung mit nervöser Energie hinaus bereits so etwas wie ein surrealistisches Interesse an ritueller Wildheit hervor. Zwar ist der Surrealismus bekanntlich in Paris erfunden, in Wien aber, wie an der hypnotischen Faszination durch die starr dreinblickenden Wachsplastiken sichtbar, lange zuvor gelebt worden. Schlossers ihm selbst unbewußte Modernität wird in der Art und Weise deutlich, wie er in der »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« seinen Gegenstand wahrnimmt. Die Entwicklungsgeschichte der realistischen Skulptur, im weiteren des malerischen Porträts, nimmt ihren Ausgangspunkt im technischen Hilfsmittel der effigiesHerstellung: in der Totenmaske. Darüber hinaus verbürgt das als deren moderne Fortsetzung begriffene Medium die Kontinuität der Archaik bis in die Gegenwart: wiederholt erscheint die Totenmaske als historisches alter ego der Photographie (vgl. S. 15, S. 98, S. 104, S. 119). Damit gehört letztere zur Familie der wächsernen Contrefaits, die auf Grund des verwendeten Materials eine »inhärente Tendenz zum Naturalismus« (S. 10 f.), also zum lebenstreuen Abbild, besitzen. Die Photographie, von der sich ihr Pionier Niepce die »genaue und unveränderliche Kopie der Natur« erhoffte, schien nur die Schicht des Wachses, die von der Vergänglichkeit des menschlichen Individuums einen Abdruck zu bewahren vermochte, durch diejenige des Silbers ausgetauscht zu haben. Die Beachtung, die Schlosser der Totenmaske - die Lebendmaske erregt weit weniger Aufsehen - im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des realistischen Porträts schenkt, ist auf die Faszination zurückzuführen, die das Geheimnis gewordene menschliche Antlitz hervorrief. Darauf weist der Umstand hin, daß bei den römischen Effigies die Zeichenfunktion der Bekleidung mit ihren Hinweisen auf die soziale Rolle des Verstorbenen ebenso übersehen wird wie diejenige der Insignien, welche die franzö147

Kummer: Aus Charles Darwins »Ausdruck der Gemüthsbewegungen«

Physiognomisches Experiment von Duchenne de Boulogne; Ausdruck der »Lady Macbeth«

sischen »représentations« oder die englischen »pictures« zur Schau tragen. Ein »envoultement«, eine Zauberkraft, bewirkt das Gesicht als »Akme des physischen Lebens« (S. 14) deswegen, weil es als prominentestes Ausdrucksorgan der Seele verstanden wird. Ins Spiel kommt damit aber nicht allein die von Johann Caspar Lavater über Carl Gustav Carus bis zu Rudolf Kassner betriebene Charakterkunde der Physiognomik. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Pathognomik, die Lehre der bewegten Seelenregungen, die sich im Zuge ihrer Etablierung zur empirischen Wissenschaft des massiven Einsatzes der Photographie bediente. Daß die Seele ihre Expression ist, war dem Wissenschaftsmaterialismus des 19. Jahrhunderts zur erblich, neuromuskulär oder neurophysiologisch erklärbaren Binsenwahrheit geworden: zu sehen etwa in Charles Darwins »Ausdruck der Gemüthsbewegungen« (1872) wie an den elektrophysiologischen Experimenten des Duchenne de Boulogne (1862) oder den hypnotischen von Jean-Martin Charcot und seinen Assistenten seit 1875. 2 5 Endlich war es die seit Erfindung der Photographie sich rasch ausbreitende Mode des Porträts selbst, die sowohl zur dauerhaften Fixierung des menschlichen Gesichts als auch zu dessen beschleunigter Vervielfältigung beitrug. Es war das Medium der Photographie, dem sich nicht allein eine bis dahin ungesehene Vielfalt der Gesichter, sondern die Entstehung des Gesichts selbst und seiner bislang ungekannten Wahrheiten verdankte. Den dadurch bewirkten Bilderschock verrät auch Schlossers vom photographischen Medium bereits konditionierter Blick auf die Wachsplastiken. Als naturalistische Abdrücke und Statthalter des Individuellen ver148

Totenmaske Gustav Mahler

Totenmaske Charlotte Wolter

(1860-1911)

(1834-1897)

standen, erweckten sie dennoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon als Ahnung, was an dessen Ende zur Gewißheit geworden ist: daß die Einmaligkeit und Besonderheit der Repräsentation durch eine Reproduzierbarkeit des Authentischen ersetzt worden ist, die den Unterschied zwischen Kopie und Original verschwimmen und dieses nurmehr aus der Perspektive jener betrachten läßt. Der mit der Reproduzierbarkeit des Unverwechselbaren verbundene Schock äußert sich bei Schlosser in der auffalligen Nekrophilie, mit der er sich dem Bericht vom Begräbniszeremoniell des Metropoliten von Smyrna (vgl. S. 29) widmet, dessen Leichnam in Sitzhaltung zu Grabe getragen wird. Denn worüber sein von diesem Schauspiel gebannter Blick nachrätselt, ist das in der Frage nach der Konservierungsmethode enthaltene Problem, ob man es mit einem künstlichen Scheinleib, einer Kopie, oder einem wirklichen, nur präparierten Leichnam, dem Original, zu tun habe. Gerade die ungewohnte Naturtreue der Photographie war es, die ihr noch in den Zeiten, als sie gerade ein halbes Jahrhundert alt war, einen primitiven Kultbildern vergleichbaren Status verlieh. Erst dadurch wurde jener Animismus erzeugt, dem Schlosser die Wirksamkeit urtümlicher Vorstellungen zuschreibt. Insbesondere die von ihm (S. 98) auch erwähnten Daguerreotypien riefen bei den Betrachtern, wie Walter Benjamin, den Photographen Karl Dauthendey zitierend, zu berichten weiß, eine verschreckte Reaktion hervor: man glaubte sich von den Abgebildeten angeblickt. 26 Eine solche durchs technische Medium bewirkte Belebung des Unbelebten holte den Tod wie zur selben Zeit dessen magische Überwindung ins Bild. Denn als Totenmaske des Vergänglichen trug die Photographie zur Rückkehr des Vergangenen wie zu dessen Verewigung »in effigie« bei.

149

L W H M ^

ITTI

Paradierung des Leichnams Kaiser Franz Josephs I.

Einer Remythisierung der Moderne stellte sich die Photographie nicht entgegen. Sie wurde vielmehr in dem Maße, in dem die Absorption der Wirklichkeit durch das Medium voranschritt, vorübergehend sogar begünstigt. In der im Jahre 1926 von Ernst Benkard edierten photographischen Sammlung von Totenmasken mit dem Titel »Das ewige Antlitz«27, die im Vorwort auf Julius von Schlossers »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs« zurückgreift, zeigt sich dieser Vorgang exemplarisch. Denn hier kulminiert das Bestreben, dem flüchtigen seelenhaften Ausdruck des menschlichen Gesichts einen lebendigen Abdruck von der Essenz des Daseins abzugewinnen, in der Herstellung eines Andachtsbildes vom lebenssummierend gedachten Augenblick des Todes. Mythisches wie dessen Entzauberung demonstriert diese Unternehmung in einem Atemzug. Denn die Photographien, die Benkards Aussage zufolge als Schwelle zweier Formen des Daseins begriffen werden müssen, suggerieren, in ihnen vermittle sich eine metaphysische Wahrheit, die nicht im Wort, sondern nur bildhaft Ausdruck finden könne. Trotz solcher transzendentaler Verweisungen leistet diese Sammlung von Totenmasken dem gerade entgegengesetzten Prozeß Vorschub: Der jahrhundertelang auf dem Paradebett in theatralischen Zeremonien sichtbar gebliebene Tod - im Wien der Monarchie sogar noch zu Schlossers Zeiten - begann sich zunehmend in den imaginären Bildraum der Photographie zu verflüchtigen. Öffentlicher Tod und öffentliches Sterben waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar schon für den traditionsbewußten Kaiser Franz Joseph obszön geworden. Beim Ableben Erzherzogs Rainer im Jahre 1913 soll er bemerkt haben, wie schrecklich es sei, arme Sterbende dem Blick von Zuschauern auszuliefern. Coram publico als Herrscher 150

Kronprinz Rudolf als Rudolf von Habsburg in einem »tableau vivant«

151

zu sterben und nicht intim wie ein Bürger, der er dieser Aussage zufolge offenbar zu sein wünschte, blieb auch Franz Joseph nicht erspart. Seine Totenfeier verlief auf herkömmliche Weise nach dem alten Hofreglement mit der Exposition auf dem Schaubett als unverzichtbarem Bestandteil. Wenngleich jetzt die Exentrierung mit anschließender separater Herzbestattung nicht mehr praktiziert wurde, so hielt man doch an der Einbalsamierung des Leichnams fest. Die früher kultisch hochbedeutende Wertschätzung des Wachses als heiliger Stoff lebte hierbei ungeahnt profanisiert weiter. Erstmals nämlich erprobte man bei Kaiser Franz Joseph die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwikkelte, bis heute erfolgreichste Methode der Leichenkonservierung, die sogenannte Paraffinimprägnierung. Bei entsprechender Anwendung läßt sich mit dieser komplizierten Prozedur, bei der in den entwässerten Leichnam eine heiße, wachsähnliche Ingredienz, das Paraffin, eingeführt wird, ein fast unbegrenzt haltbarer Block, ein zur Skulptur erstarrter Körper herstellen. 28 Bei Kaiser Franz Joseph setzte man eine Abart dieses Einbalsamierungsverfahrens ein. Allerdings wurden die vertrauten Züge während der Paradierung immer unkenntlicher, weil die Ärzte auf Grund noch mangelhafter Kenntnisse einen Kunstfehler begangen hatten. Wenngleich man den im Verwesungswerk versinnbildlichten barocken Triumph des Todes damit noch nicht ganz aus der »pietas austriaca« vertrieben hatte, so wurde das unweigerliche Ende der »repraesentatio maiestatis« an den verzerrten kaiserlichen Zügen kenntlich. Der von ihnen ausgehende Schrecken machte den von einer Wachsplastik kaum mehr unterscheidbaren Leichnam zum Gegenstand eines Panoptikums - jenen Ort, den Schlosser als letzte Heimstatt vorzeitlicher Atavismen verstand (vgl. S. 94ff.), die dort in Schaustücke des Exotischen, Kuriosen und Pathologischen verwandelt waren. In solch einem Traumhaus, das entschwundene Vergangenheiten theaterhaft nachstellte, hatten sich die Habsburger bereits vor dem Tode aufgehalten. In lebenden Bildern waren sie einer Erstarrung anheimgefallen, die sie zu Untoten, zu Wiedergängern ihrer selbst werden ließ. Auf einer der photographischen Tafeln, die diese okkulten Übungen festhielten, erscheint Kronprinz Rudolf als Mime seines Namensvetters, des Ersten der Habsburger, im deutschen Kaiserornat. Noch in ihrer historischen Falschheit - Rudolf I. war nie deutscher Kaiser - zeigt diese Rückkehr zum Ursprung der Dynastie den Versuch der Beseelung des bereits Abgestorbenen. Die Signatur der in solchen Erstarrungen sichtbar werdenden obdachlosen Welt und deren Erschütterungen trägt auch Schlossers »Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs«.

Anmerkungen zum Text

Vorwort ι 2

Denkschriften der kais. A k a d e m i e der Wissenschaften in Wien, Bd. X X V I I I (i 878), S. 301 f. Lachmann-Maitzahns Gesamtausgabe der Schriften, Bd. XI/1, 252, aus dem Nachlasse herausgegeben.

3

Gazette des beaux-arts 1882 ( X X V I ) , 267 ff.

Ι. K A P I T E L

Entwicklung seit dem Altertum 4 5

Zitiert bei Blondel, a . a . O . , 432. Wie tief diese Vorstellungen noch in der humanistisch gebildeten Gesellschaft der Renaissance wurzelten, beweist die lange, merkwürdige Auseinandersetzung, die sich in einem mit schwerer Gelehrsamkeit vollgepfropften Folianten dieser Zeit findet, in Blaise de Vigenères Philostrat-Übersetzung: Des images et tableaux de platte peinture des deux Philostrates, Paris 1574 (in der Ausgabe von 1615, p. 910). Andere Details bei Laborde, L a Renaissance des arts à la cour de France (Paris 1850) 1 , 4 9 Γ

6

D a s zuerst von Billi erwähnte Spottgemälde (am Bargellopalast) auf den Herzog von Athen und seine Räte (1344, nach G i o . Villani VII, 34) beschreiben noch Vasari-Sansoni (I, 625) und Baldinucci (Mailänder Ausgabe V , 386, dort auch die Unterschriften). Eine ganze Reihe gereimter Tituli auf sienesische Staatsverbrecher (1392, am Kommunalpalast) hat Deila Valle, Lettere Sanesi I, 54, aus der Chronik des Tizio mitgeteilt. Schandgemälde dieser A r t kommen aber auch im mittelalterlichen Frankreich vor. Ein Maler von Evreux, Gabriel de Fèvre, erhält 1477 den königlichen Befehl, fünf solcher Bilder von dem Prinzen von Orange (est paint et pourtrait la stature et epitaffe de messire Jehan, prince d'Orange, pendu et les pies en hault)(gemalt und porträtiert nach seiner Statur und mit der Grabinschrift »Johann, Prinz von Orange« versehen) anzufertigen: L a b o r d e a. a. Ο. I, 50.

7

A n d r e a degl' impiccati, vgl. Vasari-Sansoni II, 680 (der Spitzname schon bei Zeitgenossen wie Filarete und Landucci, Diario ed. del Badia, p. 3).

8 9

Vgl. hierüber Feuerbachs Vatikanischen A p o l l o , Abschn. 2, η. 13. Lügenfreund, c. 18 f.

10

Epp. III, 6.

11

Beilage der Münchener Allgem. Zeitung 1905.

12

Benndorf, Tafel X .

13

Gesichtshelm aus einem großgriechischen G r a b e des dritten Jahrhunderts v. Chr. im Britischen Museum, Benndorf, N r . 12; ein anderer, in Rumänien gefunden, im Österreichischen Museum zu Wien, späterer Kaiserzeit angehörig: Benndorf, Nr. 17.

14 ' Benndorf, Nr. 13. 15

Benndorf, Nr. 7.

16

Benndorf, Nr. 26.

17

Benndorf, Nr. 37; Raccolta C u m a n a , im offiziellen K a t a l o g von Ruesch Nr. 1982.

18

Griechische Porträtkunst, Berlin 1899, S. 27.

153

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Historia Naturalis X X X V , 153· Vgl. dazu das im folgenden mitgeteilte, freilich erst aus römischer Zeit stammende Epigramm des Straton auf ein πλάσμα κηρόχυτον (wächsernes Bild) - die Lebensmaske eines gewissen Heliodor - sowie die Angaben über die Pompa des Ptolemaeus Philadelphus. Martha (Art étrusque, p. 305) hat die Ansicht ausgesprochen, daß die Römer das Wachsporträt von den Etruskern übernommen hätten. Eine Stütze könnte diese Hypothese durch den kleinen etruskischen Terrakottasarkophag des Louvre erhalten, der den liegenden Toten mit abnehmbarer Gesichtsmaske darstellt (Benndorf, a. a. O., 369). Vgl. Daremberg-Saglio III, Fig. 3979. Zur Sache besonders Benndorf-Schöne, Lateran. Museum, Nr. 343, 345. Büsten im Lateran: Baumeister, Denkm. I, Fig. 29. Cerae pictae bei Juvenal, Sat. VIII, 2. Wenn der Ausdruck trabeatae imagines (festlich gekleidete Bildnisse) bei Sidonius Apollinaris, Epp. I, 6, (s.u.) derart zu verstehen ist. Historia Naturalis X X X V , 6. Abbildung nach Arndt, Griechische und römische Porträts, Nr. 801-803. Vgl· Matz-Duhn, Antike Bildwerke in Rom I, 1277. Leichenfeier des Sulla bei Plutarch, c. 38,1; vgl. auch die Äußerung des Fabius Maximus bei Sallust, Iugurtha IV, 6. Historien VI 52,11-54,1: εν δέ ρηθέν ίκανόν εσται σημεΐον της τοΰ πολιτεύματος σπουδής, ην ποιείται περί το τοιούτους άποτελεΐν ανδρας ώστε παν ύπομένειν χάριν του τυχειν έν τή πατρίδι της έπ' άρετή φήμης. Οταν γάρ μεταλλάξη τις παρ' αύτοΐς των επιφανών ανδρών, συντελουμένης τής έκ φοράς κομίζεται μετά τοΰ λοιπού κόσμου προς τούς καλουμένους έμβόλους εις τήν άγοράν π ο τ έ μ έ ν έ σ τ ώ ς έ ν α ρ γ ή ς , σ π α ν ί ω ς δέ κ α τ α κ ε κ λ ι μ έ ν ο ς . πέριξ δέ παντός τοΰ δήμου στάντος, άναβάς επί τούς έμβόλους, αν μέν υιός έν ηλικία καταλείπηται και τύχη παρών, ούτος, εί δέ μή, τών άλλων εϊ τις άπό γένους υπάρχει, λέγει περί του τετελευτηκότος τάς άρετάς και τάς έπιτετευγμένας έν τω ζην πράξεις, δι ' ών συμβαίνει τούς πολλούς άναμιμνησκομένους και λαμβάνοντας ύπό τήν δψιν τά γεγονότα, μή μόνον τούς κεκοινωνηκότας τών έργων άλλα και τούς εκτός, έπί τοσούτον γίνεσΟαι συμπαθείς ώστε μή τών κηδευόντων ίδιον αλλά κοινόν τοΰ δήμου φαίνεσθαι τό σύμπτωμα' μετά δέ ταΰτα θάψαντες και ποιήσαντες τα νομιζόμενα τιθέασι τήν εικόνα τοΰ μεταλλάξαντος εις τόν έπιφανέστατον τόπον τής οικίας, ξύλινα ναϊδια περιτιθέντες. ή δ' είκών έστι πρόσωπον εις ο μ ο ι ό τ η τ α διαφερόντως έξειργασμένον και κατά τήν π λ ά σ ι ν και κατά τήν ύπογραφήν. ταύτας δή τάς εικόνας εν τε ταΐς δημοτελέσι θυσίαις άνοίγοντες κοσμοΰσι φιλοτίμως, έπάν τε τών οικείων μεταλλάξη τις επιφανής, αγουσιν εις τήν έκφοράν, περιτιθέντες ώς όμοιοτάτοις είναι δοκοϋσι κατά τε τό μέγεθος και τήν ά λ λ η ν περικοπίν. ούτοι δέ προσαναλαμβάνουσιν έσ&ήτας, εάν μέν ύπατος ή στρατηγός ή γενονώς, περιπορφύρους, έάν δέ τιμητής, πορφύρας, έάν δέ και τεθριαμβευκώς ή τι τοιοΰτον κατειργασμένος, διαχρύσους. αύτοί μέν ούν έφ' αρμάτων ούτοι πορεύονται, ράβδοι δέ και πελέκεις και τάλλα τά ταϊς άρχαΐς είωθότα συμπαρακεΐσθαι προηγείται κατά τήν άξίαν έκάστω τής γεγενημένης κατά τόν βίον έν τή πολιτεία προαγωγής, όταν δ' έπί τούς έμβόλους έλΟωσι, καθέζονται πάντες έξής έπί δίφρων έλεφαντίνων. ού κάλλιον ουκ εύμαρές ίδειν θέαμα νέφ φιλοδοξώ και φιλαγάΟφ' τό γάρ τάς τών έπ' άρετή δεδοξασμένων ανδρών εικόνας ιδεί ν όμοΰ πάσας οίονεί ζώσας και πεπνυμένας τίν ' ούκ αν παραστήσαι; τί δ ' αν κάλλιον θέαμα τούτου φανείη; πλήν δ γε λέγων υπέρ τοΰ θάπτεσθαι μέλλοντος, έπάν διέλΟη τόν περί τούτου λόγον, άρχεται τών άλλων άπό τοΰ προγενεστάτου τών παρόντων, και λέγει τάς επιτυχίας εκάστου καί τάς πράξεις...

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Werke, ed. Lachmann-Maitzahn XI, I, S. 262 f. Servius ad Verg. Aen. IX, 487: »Pollinctores appellatos dicunt qui mortuis os polline obtinebant, ne livor apparerei extincti«; (Pollinctores [Leichenbereiter] wurden die genannt, die den Toten den Mund mit Staub schlossen, damit nicht die bleierne Farbe des Todes erschiene), vgl. Benndorf,a.a.O., 371. Applanus, De bello civili ed. Didot II,2 c. 147: Ώ δ ε δέ αύτοις εχουσιν ήδη, και χειρών έγγύς, ούσιν, άνέσχετιςύπέρ το λέχος ά ν δ ρ ε ί κ ε λ ο ν αύτοΰ Καίσαροςέκκηροΰπεποιημένον. Τό μέν γαρ σώμα, ώς ϋπτιον επί λέχους, ούχέωράτο. Tò δέ άνδρείκελον έκ μηχανής έπεστρέφετο πάντη, και σφαγαί τρεις και εΐκοσιν ώφθησαν, άνά τε τό σώμα πάν και άνά τό πρόσωπον θηριωδώς ές αύτόν γενόμεναι. Τήνδε ούν τήν όψιν ó δήμος οίκτιστην σφίσι φανεισαν ούκέτι ενεγκών, άωφμωξάν τε, και διαζωσάμενοι, τό βουλευτήριον, ενδα ό Καίσαρ άνήρητο, κατέφλεξαν. Dio Cassius, Hist. Rom. ed. Boissevain LVI, 34: ταύτα μέν ai έντολαί είχον, μετά δέ τούτο ή εκφορά αύτοϋ έγένετο, κλίνη ήν εκ τε έλέφαντος καί χρυσού πεποιημένη και στρώμασιν άλουργοϊς διαχρύσοις κεκοσμημένη' καί èv αύτή τό μέν σώμα κάτω που έν θήκη συνεκέκρυπτο, ε ί κ ώ ν δέ δή τ ι ς α ύ τ ο ϋ κ η ρ ί ν η έν έπινικίφ στολή ' έξεφαίνετο. καί αύτη μέν έκ τοΰ παλατιού προς τών ές νέωτα άρχόντων, έτέρα δέ έκ τού βουλευτηρίου χρυσή, καί έτέρα αύ εφ' άρματος πομπικοΰ ήγετο. καί μετά ταύτας αϊ τε τών άλλων ' Ρωμαίων τών καί καθ ' ότιούν πρωτευσάντων, άπ ' αύτοϋ τού' Ρωμύλου άρξάμεναι, έφέροντο, καί τις καί τοΰ Πομπηίου τοΰ μεγάλου είκών ώφθη, τά τε εθνη πάνθ' δσα προσεκτήσατο. έπιχωρίως σφίσι ν ώς έκαστα άπηκασμένα έπέμφθη. Dio Cassius, Hist. Rom. ed. Boissevain LXXIV, 4: ή δέ δή ταφή καίτοι πάλαι τεθνηκοτος αύτοΰ τοιάδε έγένετο. έν τή άγορά τή ' Ρωμαίοι βήμα ξύλινον έν χρφ τοΰ λιδίνου κατεσκευάσ3η, καί έπ' αύτοΰ οίκημα άτοιχον περίστυλον, εκ τε έλέφαντος καί χρυσού πεποικιλμένον, ετέθη, καί έν αΰτφ κλίνη όμοία. κεφαλάς πέριξ θηρίων χερσαίων τε καί θαλασσίων έχουσα, έκομίσθη στρώμασι πορφυροις καί διαχρίυσοις κεκοσμημένη, καί ές αύτή ν ε ί δ ω λ ο ν τι τοΰ Περτίνακος κ ή ρ ι ν ο ν , σκευή έπινικίφ εύθετημένον, ανετέθη, καί αύτοΰ τάς μυίας παις εύπρεπής, ώς δήθεν καθεύδοντος, πτεροΐς ταώνος άπεσόβει προκειμένου δ ' αύτοΰ δ τε Σεουήρος καί ήμεΐς οί βουλευταί αϊ τε γυναίκες ημών προσήειμεν πενθικώς έσταλμένοΓ καί έκεΐναι μέν έν ταις στοαϊς, ήμεΐς δέ ύπαίθριοι έκαθεζόμεθα. κάκ τούτου πρώτον μέν άνδριάντες πάντων τών έπιφανών 'Ρωμαίων τών αρχαίων, επειτα χοροί παίδων καί άνδρών θρηνώδη τινά ΰμνον ές τόν Περτίνακα άδοντες παρήλθον' καί μετά τούτο τά εθνη πάντα τά ύπήκοα έν είκοσι χαλκαΐς, έπιχωρίως σφίσιν έσταλμένα, καί τά έν-τφ αστει αύτφ γένη, τό τε τών Ραβδούχων καί τό τών γραμματέων τών τε κη ρύκων καί δσα άλλα τοιουτοτροπα. έφείπετο. εϊτ ' εικόνες ήκον άνδρών άλλων, οϊς τι έργον ή έξεύρημα καί ή έπιτήδευμα λαμπρόν έπέπρακτο, καί μετ ' αύτούς οϊ τε ιππείς καί οϊ πεζοί ώπλισμένοι οϊ τε άθληταί ϊπποι καί τά έντάφια, οσα ö τε αύτοκράτωρ καί ήμεις αϊ τε γυναίκες ήμών καί οΐ ιππείς οί έλλόγιμοι οι τε δήμοι καί τά έν τή πόλει συστήματα έπέμψαμεν' καί αύτοϊς βωμός περίχρυσος, έλέφαντί τε καί λίθοις ' Ινδικοϊς ήσκημένος, ήκολούθει. Dio Herodiani, ab excessu divi Marci ed. Mendelssohn IV, 2: εθος γάρ έστι' Ρωμαίοις έκθειάζειν βασιλέων τούς έπί παισί διαδόχοις τελευτήσαντας' τήν τε τοιαύτην τιμήν άποθέωσιν καλοΰσι. μεμιγμένον δέ τι πένθος έορτή καί θρησκείαι κατά πάσαν τήν πόλιν δείκνυται. τό μέν γάρ σώμα τοΰ τελευτήσαντος πολυτελεϊ κήδείςι καταθάπτουσιν άνθρώπων νόμω' κηροΰ δέ πλασάμενοι ε ι κ ό ν α π ά ν τ α ό μ ο ί α ν τ φ τ ε τ ε λ ε υ τ η κ ό τ ι έπί μεγίστης έλεφαντίνης κλίνης, ές ϋψος άρθείσης, προτιθέασιν έν τή τών βασιλείων είσόδω, χρυσοϋφεϊς στρωμνάς ύποστρωννύντες. η δ' είκών έκείνη έν σχήματι νοσοΰντος πρόκειται ώχριώσα. τής δέ κλίνης έκατέρωθευ καθέζονται έπί πλείστον τής ημέρας έν μέν τφ λαιφ μέρει πάσα ή σύγκλητος, μελαίναις έφεστρίσι χρώμενοι, έν δέ τφ δεξιφ γυναίκες πάσαι

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δσαις ανδρών ή πατέρων αξίωμα τιμής ένδοξου μεταδίδωσιν. ουτε δε χρυσοφοροδσα τις αυτών όρδται οϋτε περιδεραίοις κοσμουμένη, άλλα λιτάς έσθήτας λεύκας άμφιεννύμεναι σχήμα παρέχουσι λυπουμένων. έπτά μέν οδν ήμερων τά είρημένα έπιτελείται' ιατροί τε είσιόντες έκάστοτε προσίασι τή κλίνη, και δήθεν έπισκεψάμενοι τον νοσοΰντα χαλεπώτερον εχειν άπαγγέλλουσιν έκάστοτε. έπάν δέ δόξη τετελευτηκέναι, τήν μέν κλίνην άράμενοι του τε ιππικού τάγματος έυγενεστατοι καί τής συγκλήτου έπίλεκτοι νεανίαι κατακομίζουσι δια τής ίερας όδοΰ, ες τε τήν αρχαίαν άγοράν προτιθέασιν, ενθα οί ' Ρωμαίων άρχοντες τάς άρχάς άπόμνυνται. εκατέρωθεν δέ βάθρα τινά σύγκειται εν κλίμακος σχήματι, καί επί μέν θατέρου μέρους των εύγενεστάτων καί ευπατριδών χορός εστηκε παίδων, έν δέ τω άντικειμένω γυναικών τών έν άξιώσει είναι δοκουσών' αδουσι δέ έκάτεροι ϋμνους τε καί παιάνας ές τον τετελευτηκότα, σεμνω μέλει καί θρηνώδει έρρυθμισμένους. μετά δέ τοΰτο βαστάσαντες τήν κλίνην φέρουσιν εξω τής πόλεως ές τό καλούμενον Αρεος πεδίον, ενθα κατεσκεύασται έν τω πλατυτάτφ του πεδίου τόπφ τετράγωνόν τ [καί] ίσόπλευρον, άλλης μέν ύλης ουδεμιάς μετέχον, έκ μόνης δέ συμπήξεως ξύλων μεγίστων ές σχήμα οικήματος, παν δέ έκεϊνο ενδοθεν μέν φρυγάνων πεπλήρωται, εξωθεν δέ χρυσοϋφέσι στρωμναΐς έλεφαντίνοις τε άγάλμασι γραφαΐς τε ποικίλαις κεκόσμηται. έπ' έκείνω δέ ετερον, σχήματι μέν καί κόσμφ παραπλήσιον, μικρότερον