Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945 [1. ed.] 9783770554379


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Topographie des Alltags: Eine kulturwissenschaftliche Lektüre vonVictor Klemperers Tagebüchern 1933-1945
INHALT
Dank
1. EINLEITUNG
2. DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT
2.1 Gattungstheorie und Tagebuch
2.1.1 Die Gattung Tagebuch
2.1.2 Funktionen diaristischen Schreibens aus historischer Perspektive
2.1.3 Zeit und Schrift: Charakteristika der Gattung Tagebuch
2.1.3.1 Alltäglichkeit
2.1.3.2 Zeitnahe Selbstverschriftlichung
2.1.4 Selbstbiographische Nachbargattungen
2.2 Historizität und Tagebuch
2.2.1 Gattungshybridität zwischen Geschichte und Literatur
2.2.2 Doppeladressierbarkeit an Literatur- und Geschichtswissenschaft
2.2.3 Zeitzeugenschaft zwischen Mikro- und Makrogeschichte
2.2.4 (Jüdische) Tagebücher im Dritten Reich
2.3 Identität und Tagebuch
2.3.1 Autorschaft, Identität und Diaristik
2.3.2 Die Performativität von Schrift und Subjektivität
3. DISKURSIVE KONSTELLATIONEN IN VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHERN
3.1 Das Tagebuch als Metatext: Funktionen und Modi des Tagebuchschreibens
3.1.1 Produktionsgeschichtlicher Entstehungszusammenhang
3.1.2 Funktionen der Diaristik: Die Kunst des Tagebuchschreibens im Dritten Reich
3.1.2.1 Ars memoriae: Zeugenschaft
3.1.2.2 Ars vanitatis: Selbstbewahrung
3.1.2.3 Ars oblivionalis: Autotherapie
3.1.3 Der diaristische Epitext
3.1.3.1 Diaristik und Philologie: LTI
3.1.3.2 Zeitgleiche Selbstverschriftlichung: Diaristik und Autobiographik
3.1.4 Gattungssteuernde Reflexionen: Gattungsintertextualität und Motivik
3.1.4.1 Intertextualität und Gattungsgedächtnis
3.1.4.2 Motive des Tagebuchschreibens
3.2 Das Tagebuch als Schriftmedium: Autographie, Heterographie, Historiographie
3.2.1 Autographie: Identität
3.2.1.1 Tagebuch und Identität: Victor Klemperer und das Judentum
3.2.1.2 Zeit, Selbst und Diaristik
3.2.1.3 Bildung, Moderne und Judentum
3.2.1.4 Assimilation I: Wilhelminisches Kaiserreich
3.2.1.5 Assimilation II: Weimarer Republik
3.2.1.6 Das Ende der Assimilation: Das Dritte Reich
3.2.1.7 Heimatlosigkeit als Geisteslage: Zwischen allen Stühlen
3.2.1.8 Victor Klemperer und die Aporie der deutsch-jüdischen Identität
3.2.2 Heterographie: Vox populi
3.2.2.1 Mentalitätsgeschichte, Kulturkunde und vox populi
3.2.2.2 Der Begriff „vox populi“: Bedeutung und Reichweite
3.2.2.3 Ethnographie des Durchschnitts: Vox populi als Forschungsprogramm
3.2.2.4 Vox populi und Nationalsozialismus: Angst, Rausch und Normalität
3.2.2.5 Vox populi und Antisemitismus: ‚Anständigkeit‘ und der antijüdische Konsens
3.2.2.6 Vox populi und Holocaust: Nichtwissen, Wissensverweigerung und Schuldfrage
3.2.2.7 Humor als Hoffnung: Vox populi, Systemkritik und Witz
3.2.2.8 Die Aufzeichnung der vox populi: ein unmögliches Projekt?
3.2.3 Historiographie: Alltag im Ausnahmezustand
3.2.3.1 Tagebuch und Alltagsgeschichte des Dritten Reiches
3.2.3.2 Alltag und Taktik im Dritten Reich
3.2.3.3 Archivzwang: Papiersoldaten
3.2.3.4 Hermeneutik eines jüdischen Alltags
3.2.3.5 Mikrologische Geschichtsschreibung des Dritten Reiches
3.2.3.6 Der profane Raum des Tagebuchs
3.3 Das Tagebuch als Interdiskurs: Philosophie und Literatur
3.3.1 Kulturpoetik und Tagebuch
3.3.2 Aufklärung und Philosophie: Voltaire und Rousseau
3.3.2.1 Tagebuch und Romanistik
3.3.2.2 Synchrone Kulturpoetik: Philosophischer Diskurs
3.3.2.3 Aufklärung und Französische Revolution
3.3.2.4 Voltaire: Ikonizität und Aufklärungsideal
3.3.2.5 Rousseau: Romantik, Jakobinismus und Nationalsozialismus
3.3.2.6 Die Aufklärung – ein unvollendetes Projekt?
3.3.3 Nationale Identität und Literatur: Goethe und Schiller
3.3.3.1 Literarische Ikonographie: Goethe und Schiller als nationale Erinnerungsorte
3.3.3.2 Habitus und diskursive Position: jüdische Emanzipation und (deutsche) Literatur
3.3.3.3 Mythische Konstellationen und Dioskuren: Goethe als prototypischer Deutscher
3.3.3.4 Eugenik als Interdiskurs: Goethe, Deutschtum und Krankheitsmetaphorik
3.3.3.5 Die Ambiguität der Moderne: Goethe und Hitler
4. VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER IN DER BERLINER REPUBLIK: EIN NACHKLANG
4.1 Erinnerung und Identität in der Berliner Republik
4.2 Victor Klemperer als Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses
4.3 Klemperer mit und gegen Goldhagen gelesen
4.4 Erinnerungspolitische Inanspruchnahme: Konrad Löw und Martin Walser
4.5 Victor Klemperer und die Historiographie des Holocaust
5. FAZIT
6. ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE UND TRANSKRIPTION
7. SIGLENVERZEICHNIS
8. LITERATURVERZEICHNIS
8.1 Quellen Victor Klemperers
8.1.1 Selbstbiographische Quellen
8.1.2 Journalistische und philologische Quellen
8.1.3 Korrespondenz
8.2 Resonanztexte 1933-1945
8.3 Literatur über Victor Klemperer
8.4 Andere Tagebücher
8.5 Gattung Tagebuch
8.6 Literaturwissenschaft und Historiographie
8.7 Deutsch-jüdische Geschichte
8.8 Literatur im Nationalsozialismus
8.9 Identitätstheorie
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Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945 [1. ed.]
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Arvi Sepp · Topographie des Alltags

Arvi Sepp

Topographie des Alltags Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945

Wilhelm Fink

Die vorliegende Arbeit wurde finanziell gefördert durch die Fondation Auschwitz (Brüssel), die Freie Universität Brüssel und die Universität Antwerpen. Universiteit Antwerpen Prinsstraat 13 2000 Antwerpen Belgien

Vrije Universiteit Brussel Pleinlaan 2 1050 Brüssel Belgien

Umschlagabbildung: Faksimile des Originalmanuskriptes der Tagebücher Victor Klemperers (Mscr. Dresd. App. 2003, 138, Seite 831). Abgebildet sind die Einträge vom 19., 20. und 23. März 1943.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5437-9

Koenraad Geldof gewidmet

INHALT

INHALT INHALT

Dank .............................................................................................................. 11 1.

EINLEITUNG ........................................................................................... 13

2.

DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT ........................................................................ 35

2.1 Gattungstheorie und Tagebuch............................................................... 2.1.1 Die Gattung Tagebuch................................................................. 2.1.2 Funktionen diaristischen Schreibens aus historischer Perspektive ................................................................ 2.1.3 Zeit und Schrift: Charakteristika der Gattung Tagebuch .............. 2.1.3.1 Alltäglichkeit ................................................................... 2.1.3.2 Zeitnahe Selbstverschriftlichung ...................................... 2.1.4 Selbstbiographische Nachbargattungen......................................... 2.2 Historizität und Tagebuch ...................................................................... 2.2.1 Gattungshybridität zwischen Geschichte und Literatur................. 2.2.2 Doppeladressierbarkeit an Literatur- und Geschichtswissenschaft ................................................................. 2.2.3 Zeitzeugenschaft zwischen Mikro- und Makrogeschichte.............. 2.2.4 (Jüdische) Tagebücher im Dritten Reich ...................................... 2.3 Identität und Tagebuch .......................................................................... 2.3.1 Autorschaft, Identität und Diaristik.............................................. 2.3.2 Die Performativität von Schrift und Subjektivität......................... 3.

37 37 41 44 44 48 50 55 55 63 68 70 77 77 82

DISKURSIVE KONSTELLATIONEN IN VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHERN ....................................................................................... 89

3.1 Das Tagebuch als Metatext: Funktionen und Modi des Tagebuchschreibens....................................... 3.1.1 Produktionsgeschichtlicher Entstehungszusammenhang ............... 3.1.2 Funktionen der Diaristik: Die Kunst des Tagebuchschreibens im Dritten Reich.......................................................................... 3.1.2.1 Ars memoriae: Zeugenschaft............................................

90 92 97 97

8

INHALT

3.1.2.2 Ars vanitatis: Selbstbewahrung........................................ 3.1.2.3 Ars oblivionalis: Autotherapie......................................... 3.1.3 Der diaristische Epitext ............................................................... 3.1.3.1 Diaristik und Philologie: LTI ......................................... 3.1.3.2 Zeitgleiche Selbstverschriftlichung: Diaristik und Autobiographik ........................................ 3.1.4 Gattungssteuernde Reflexionen: Gattungsintertextualität und Motivik.......................................... 3.1.4.1 Intertextualität und Gattungsgedächtnis......................... 3.1.4.2 Motive des Tagebuchschreibens ..................................... 3.2 Das Tagebuch als Schriftmedium: Autographie, Heterographie, Historiographie......................................... 3.2.1 Autographie: Identität ................................................................. 3.2.1.1 Tagebuch und Identität: Victor Klemperer und das Judentum.......................................................... 3.2.1.2 Zeit, Selbst und Diaristik ............................................... 3.2.1.3 Bildung, Moderne und Judentum .................................. 3.2.1.4 Assimilation I: Wilhelminisches Kaiserreich.................... 3.2.1.5 Assimilation II: Weimarer Republik ............................... 3.2.1.6 Das Ende der Assimilation: Das Dritte Reich ................. 3.2.1.7 Heimatlosigkeit als Geisteslage: Zwischen allen Stühlen................................................... 3.2.1.8 Victor Klemperer und die Aporie der deutsch-jüdischen Identität ......................................................................... 3.2.2 Heterographie: Vox populi.......................................................... 3.2.2.1 Mentalitätsgeschichte, Kulturkunde und vox populi ........ 3.2.2.2 Der Begriff „vox populi“: Bedeutung und Reichweite ...... 3.2.2.3 Ethnographie des Durchschnitts: Vox populi als Forschungsprogramm............................... 3.2.2.4 Vox populi und Nationalsozialismus: Angst, Rausch und Normalität ....................................... 3.2.2.5 Vox populi und Antisemitismus: ‚Anständigkeit‘ und der antijüdische Konsens................. 3.2.2.6 Vox populi und Holocaust: Nichtwissen, Wissensverweigerung und Schuldfrage ........................... 3.2.2.7 Humor als Hoffnung: Vox populi, Systemkritik und Witz........................................................................ 3.2.2.8 Die Aufzeichnung der vox populi: ein unmögliches Projekt?................................................ 3.2.3 Historiographie: Alltag im Ausnahmezustand.............................. 3.2.3.1 Tagebuch und Alltagsgeschichte des Dritten Reiches ........................................................ 3.2.3.2 Alltag und Taktik im Dritten Reich ............................... 3.2.3.3 Archivzwang: Papiersoldaten ..........................................

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INHALT

3.2.3.4 Hermeneutik eines jüdischen Alltags .............................. 3.2.3.5 Mikrologische Geschichtsschreibung des Dritten Reiches ........................................................ 3.2.3.6 Der profane Raum des Tagebuchs .................................. 3.3 Das Tagebuch als Interdiskurs: Philosophie und Literatur ...................... 3.3.1 Kulturpoetik und Tagebuch ........................................................ 3.3.2 Aufklärung und Philosophie: Voltaire und Rousseau ................... 3.3.2.1 Tagebuch und Romanistik ............................................. 3.3.2.2 Synchrone Kulturpoetik: Philosophischer Diskurs .......... 3.3.2.3 Aufklärung und Französische Revolution........................ 3.3.2.4 Voltaire: Ikonizität und Aufklärungsideal ....................... 3.3.2.5 Rousseau: Romantik, Jakobinismus und Nationalsozialismus................................................. 3.3.2.6 Die Aufklärung – ein unvollendetes Projekt? .................. 3.3.3 Nationale Identität und Literatur: Goethe und Schiller ............... 3.3.3.1 Literarische Ikonographie: Goethe und Schiller als nationale Erinnerungsorte.......................................... 3.3.3.2 Habitus und diskursive Position: jüdische Emanzipation und (deutsche) Literatur .......................... 3.3.3.3 Mythische Konstellationen und Dioskuren: Goethe als prototypischer Deutscher .............................. 3.3.3.4 Eugenik als Interdiskurs: Goethe, Deutschtum und Krankheitsmetaphorik .................................................... 3.3.3.5 Die Ambiguität der Moderne: Goethe und Hitler........... 4. 4.1 4.2 4.3 4.4

9 362 377 387 390 390 396 396 400 401 411 414 420 424 425 434 436 439 442

VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER IN DER BERLINER REPUBLIK: EIN NACHKLANG................................................................................... 449

Erinnerung und Identität in der Berliner Republik................................. Victor Klemperer als Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses......... Klemperer mit und gegen Goldhagen gelesen......................................... Erinnerungspolitische Inanspruchnahme: Konrad Löw und Martin Walser ............................................................ 4.5 Victor Klemperer und die Historiographie des Holocaust.......................

452 459 464 469 477

5.

FAZIT ..................................................................................................... 479

6.

ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE UND TRANSKRIPTION .................... 483

7.

SIGLENVERZEICHNIS ............................................................................. 485

10 8.

INHALT

LITERATURVERZEICHNIS ....................................................................... 487

8.1 Quellen Victor Klemperers .................................................................... 8.1.1 Selbstbiographische Quellen........................................................ 8.1.2 Journalistische und philologische Quellen ................................... 8.1.3 Korrespondenz............................................................................ 8.2 Resonanztexte 1933-1945 ...................................................................... 8.3 Literatur über Victor Klemperer............................................................. 8.4 Andere Tagebücher................................................................................ 8.5 Gattung Tagebuch................................................................................. 8.6 Literaturwissenschaft und Historiographie ............................................. 8.7 Deutsch-jüdische Geschichte ................................................................. 8.8 Literatur im Nationalsozialismus............................................................ 8.9 Identitätstheorie.....................................................................................

487 487 487 488 489 492 504 504 511 525 529 530

DANK

Die vorliegende Arbeit wurde an der Universität Antwerpen als Dissertation eingereicht. Ihre Fertigstellung wäre kaum möglich gewesen ohne großzügige finanzielle Unterstützung mancher Seite. Mein herzlicher Dank gebührt dem Leo Baeck Institute (New York), dem Tauber Institute for the Study of European Jewry (Brandeis University, USA), der Hanadiv Charitable Foundation (London), der Fondation pour la Mémoire de la Shoah (Paris) sowie der Fondation Auschwitz (Brüssel), die durch ihre Förderung die Entstehung dieser Arbeit wesentlich erleichtert haben. Dem Internationalen Promotionsprogramm (IPP) „Literatur- und Kulturwissenschaft“ der Justus-Liebig-Universität Gießen möchte ich meinen aufrichtigen Dank aussprechen für die gebotenen Forschungsmöglichkeiten. Es ist nicht möglich, die Namen all derer zu nennen, von denen ich gelernt habe. Frau Prof. Dr. Vivian Liska gilt das größte Dankeschön für ihre fachliche Unterstützung. Dank schulde ich ferner auch Herrn Prof. i. R. Dr. Gerhard Kurz für seine wissenschaftliche Großzügigkeit. Ganz besonders herzlich danken möchte ich an dieser Stelle meiner Partnerin Sophie, ohne deren laufende Ermunterung und Geduld mir diese Arbeit sehr viel schwerer geworden wäre. Brüssel/Antwerpen, im Mai 2016

Arvi Sepp

1. EINLEITUNG

EINLEITUNG EINLEITUNG

Problemstellung Die von Walter Nowojski erstmals 1995 herausgegebenen Tagebücher Victor Klemperers, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1945, haben nach ihrem Erscheinen sowohl in Deutschland als auch international ein ungewöhnlich starkes Echo und zwischenzeitlich auch Eingang in den Kanon der Tagebuchliteratur gefunden.1 Das zweibändige, während der nationalsozialistischen Diktatur entstandene Tagebuchwerk beschreibt – in bemerkenswerter Genauigkeit – die Lebenswelt eines jüdischen Verfolgten im Dritten Reich in ihrer ganzen Trivialität, aber auch in ihrer ganzen Grausamkeit. Bemerkenswert daran ist die Ausnahmesituation des Autors, der dank seiner Ehe mit einer nichtjüdischen, „arischen“ Frau, Eva Schlemmer, nicht der Shoah zum Opfer fiel. Aufgrund dieser speziellen familiären Situation konnte der Diarist bis ins Jahr 1945 innerhalb der deutschen Reichsgrenzen die Realität der Judenverfolgung als Alltagswelt und -wirklichkeit in täglichen Aufzeichnungen festhalten. Sein Tagebuch legt davon Zeugnis ab, wie der Nationalsozialismus allmählich den privaten Alltag durchdrang und wie der Diarist, inmitten antisemitischer Unterdrückung und Demütigung, sein zunehmend anormales Leben gewissermaßen zu „normalisieren“ versuchte. Seine Tagebücher bilden vor diesem Hintergrund einen sensiblen Resonanzraum kultureller Konflikte, in dem „kleine“ und „große“ Geschichte aufeinander treffen. Victor Klemperers Lebenslauf (1881-1960) wurde bereits zu oft Gegenstand von wissenschaftlichen Aufsätzen, Nachworten und Feuilletonartikeln, als dass man ihn in dieser Einleitung noch einmal ausführlich wiedergeben müsste.2 Die Tagebücher sind naturgemäß eng mit der Lebensgeschichte und den Lebensbedingungen des Diaristen verbunden: Sie bieten als spannungsvolle und widersprüchliche Darstellung eines vergeblichen Assimilationsversuchs und als Widerstand leistendes Medium der Selbstbehauptung angesichts der Entindividualisierung im Dritten Reich einen ebenso aussagekräftigen wie aufschlussreichen Einblick in das Funktionieren der nationalsozialistischen Gesellschaft. Die Tage001 Einige Einträge aus Victor Klemperers Tagebüchern sind beispielsweise in der von Irene und Alan Taylors herausgegebenen Anthology of the World’s Greatest Diarists (2008: 43f.; 84f.; 535f.) vertreten. 002 Ohne also an dieser Stelle weiter ins Detail zu gehen, verweise ich den Leser für eine chronologische Übersicht der Lebensstationen Victor Klemperers auf z.B. Jacobs (2000: 373-378) oder Faber (2005: 307-309).

14

EINLEITUNG

buchnotizen sind von narrativen Brüchen, parenthetischen Einschüben, Wiederholungen, alltagsgeschichtlichen Referenzen, selbstreflexiven Gedankengängen und intertextuellen Hinweisen durchsetzt, welche die selbstfixierte, alltagsorientierte Schreibweise des Diaristen radikal aufbrechen. Trotz ihrer regen massenmedialen Rezeption in der Öffentlichkeit Mitte der 1990er Jahre harren Klemperers Tagebücher bislang noch weitgehend einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung, die über die zeitgeschichtliche Darstellung der Bedingungen und Funktionen des diaristischen Schreibens hinausgeht. Sie haben in der Literatur- wie in der Geschichtswissenschaft des Öfteren nur eine Rezeption als authentische Dokumente eines wahrhaftigen Subjekts erfahren. Michael Ossar (2003: 664) rückt beispielsweise die „absolute Ehrlichkeit und Präzision“ der Klemperer-Aufzeichnungen in den Mittelpunkt. Rita Schober (1997: 29) ihrerseits betont die Wahrhaftigkeit von Klemperers Tagebüchern: „Ehrlichkeit schafft Vertrauen und gibt der Darstellung den Stempel der Wahrheit.“3 Von stark moralisch besetzten Begriffen wie „Ehrlichkeit“ und „Vertrauen“ ausgehend, soll die vorgebliche Wahrhaftigkeit stets einer kritischen Analyse unterzogen werden. Die gattungstheoretische bzw. quellenkritische Auseinandersetzung mit den Diarien des Dresdener Romanisten stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar. Darüber hinaus mag es angesichts der Vielspurigkeit der Aufzeichnungen, die geschichtliche, literarische, philosophische, linguistische und ethnographisch anmutende Reflexionen zusammenführen, überraschen, dass die Tagebücher bis heute noch nicht aus einem fächerübergreifenden Blickwinkel erforscht worden sind. Bei der hier gewählten kulturwissenschaftlichen Herangehensweise an diese Quellen steht nicht der Versuch im Vordergrund, das Leben des Diaristen zu rekonstruieren. Es geht auch nicht um den Anspruch, die – wie auch immer zu definierende – „Wahrheit“ oder „Wahrhaftigkeit“ der Tagebücher zu überprüfen. Vielmehr richtet sich das Interesse der vorliegenden Arbeit auf die Art und Weise, wie der historische Kontext dem Tagebuchtext eingeschrieben ist. Die Tagebücher erschließen das Selbst- und Weltbild Victor Klemperers, doch sie weisen dabei zugleich eindeutig überindividuelle Aspekte auf. Das Spannungsverhältnis von Individual- und Zeitgeschichte stellt vor diesem Hintergrund ein Hauptmerkmal der Gattung dar (vgl. Klose 2001: 207), dem an erster Stelle das wissenschaftliche Interesse gilt. Aufgrund ihrer Entstehung in der politisch wie historisch brisanten Epoche des Nationalsozialismus sind die Notizen neben ihrer Aussagekraft zur Person des Autors zugleich auch Individualdokumente von zeitgeschichtlicher Relevanz.

003 In einem Interview mit Bernard Reuter betont Hadwig Klemperer, Victor Klemperers zweite Ehefrau, ohne Weiteres die bedingungslose „Wahrheit“ der Klemperer-Aufzeichnungen: „[D]ie sind glaubhaft. Kein Mensch kann sagen, es war nicht so. Nee, wenn 1942 das erste Mal die Nennung von Auschwitz auftaucht, dann war das so.“ (Reuter 2002: 370)

EINLEITUNG

15

Leitthesen Die oben skizzierten Vorüberlegungen zu Victor Klemperers Tagebüchern aus dem Zeitraum 1933-1945 führen zu grundlegenden Fragestellungen, die die Basis für deren Interpretation bilden sollen. Buchstäblich tausende von Verweisen auf zeitgenössische Persönlichkeiten unterschiedlichster Wirkungsbereiche, detaillierte Darstellungen von hunderten Personen aus Klemperers unmittelbarem beruflichem und familiärem Umfeld sowie von jüdischen Leidensgefährten in den Dresdener „Judenhäusern“, permanent wiederholte Thematisierungen politisch und militärisch brisanter Begebenheiten, Evokationen aktueller kultureller Ereignisse, kursierende Gerüchte, Witze, Klatsch und Tratsch und schließlich Anspielungen auf das populäre Gedächtnis seiner Zeit (Filme, Lieder, Reime, Verse, Witze) verankern das Tagebuch im unmittelbaren Entstehungskontext des Dritten Reiches.4 Es handelt sich bei diesen Aufzeichnungen um eine der materiellen Formen, an denen mentale Aspekte der Kultur beobachtbar werden. Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden soll, sind Klemperers Tagebücher als Formen kultureller Selbstthematisierung, Fremdwahrnehmung und Geschichtsreflexion zu verstehen. Die Frage nach der literarischen Qualität wird genauso in den Hintergrund gerückt wie eine Hierarchisierung von Text und Kontext. Kulturbestimmende soziale Konstellationen, Normen, Werte, Diskurse, kulturelles Wissen und Mentalitäten manifestieren sich in diesen Texten. Der Blick wird vor allem auf die Fragen gerichtet, in welchem Verhältnis Klemperers Aufzeichnungen zu den Diskursen der Entstehungszeit stehen, wie sie das soziokulturelle Wissen verarbeiten und welche Bedeutung und Funktion ihnen für den Diaristen zukamen. Sie geben aus einer bestimmten Perspektive Aufschluss über die Wirklichkeitsvorstellungen (eines Teils) der deutsch-jüdischen Verfolgten im Dritten Reich. Dies bedeutet, dass die diaristischen Schreibverfahren, mit denen kulturelle Phänomene abgebildet werden, eingehend untersucht werden müssen. Diese Phänomene müssen zunächst identifiziert und in einem angemessenen theoretischen Rahmen erläutert werden, ohne jedoch ihre spezifisch diaristische Darstellungsweise zu vernachlässigen. Erst so kann der Aussagewert der kulturellen Phänomene in seiner Komplexität erfasst werden. Beobachtungsleitend für diese Studie sind zwei Ausgangshypothesen. An dieser Stelle sei die erste These formuliert, dass die Tagebücher Victor Klemperers auf beispielhafte Weise den hermeneutischen Zirkel von Mikro- und Makrogeschichte veranschaulichen: In der Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen wird das Einzelne vom Ganzen her und das Ganze wiederum über das Einzelne erhellt. Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933-1945 sind paradigmatisch für diese hermeneutische Dialektik, gerade weil in ihnen die krisenhafte Zeitgeschichte zu krisenhafter Privatgeschichte wird und jede persönliche Angelegenheit unmittelbar mit dem Kontext verknüpft ist. Für die vorliegende 004 Für eine methodische Annäherung an die synchrone Kulturpoetik vgl. beispielsweise Baßler (2005) und Hebel (1996: 268f.).

16

EINLEITUNG

Untersuchung bedeutet diese Hypothese, dass den Tagebüchern nicht mit einem ausschließlich textimmanenten Lektüreverfahren beizukommen ist. Um den Aufzeichnungen gerecht zu werden, ist eine kulturwissenschaftliche Kontextanalyse erforderlich, die die gesellschaftliche Einbettung des Tagebuchs plausibel macht. Andererseits soll das schreibende Subjekt nicht zum Verschwinden gebracht werden. Indem das Tagebuchschreiben als performativer, identitätsfördernder Akt verstanden wird, können Subjektivität und Diskursivität bruchlos aufeinander bezogen werden. Die Berücksichtigung der hermeneutischen Dialektik soll somit davor bewahren, die Tagebücher entweder aus rein biographischer Perspektive zu analysieren oder sie im Gegensatz dazu als bloßes Diskursbündel zu vergesellschaften bzw. zu verallgemeinern. Die zweite These besagt, dass sich das spezifische Leistungsvermögen der Klemperer-Tagebücher in ihrer funktionalen Vielseitigkeit als zugleich philologisches Notizheft, historiographische Darstellung der Judenverfolgung im NSAlltag, privates Reflexionsmedium und persönliche Überlebenshilfe zeigt. Ihnen sind vor diesem Hintergrund gleichermaßen wissenschaftliches – philologisches und historiographisches – Erkenntnisinteresse und psychologische Kompensationsabsicht zu eigen. Dementsprechend bezeichnet der Diarist selbst seine Tagebücher einerseits „halb als konkreten Erlebnisbericht“, andererseits seien sie „halb schon in die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen.“ (LTI: 25)5 Hier führt diese These zu einer verstärkten Verbindung von Klemperers Tagebüchern und literatur- und kulturwissenschaftlicher Theorie. Auf diese Weise kann ein theoretisch fundiertes und differenziertes Beschreibungsmodell erarbeitet werden, welches die verschiedenen Facetten der Tagebuchnotizen zu verdeutlichen ermöglicht. Eine Untersuchung, die von den beiden oben erwähnten Leitthesen ausgeht, soll den Zugang zu Mentalitäten und zu kulturbildenden Konzeptualisierungen und Praktiken eröffnen. Die diaristische Praxis Victor Klemperers wird vor diesem Hintergrund als alltägliche, selbstkonstituierende Handlung und als Hermeneutik des (jüdischen) Alltags im Dritten Reich angesehen. Das Tagebuch stellte für den Diaristen eine strukturbildende Alltagshandlung neben anderen dar. In einer Notiz aus dem Jahr 1938 heißt es: „Sonnabend ist immer der Tag der Arbeitsunterbrechung: Vormittags Zahnarzt, gegen Abend Abwaschen, dazwischen Correspondenz, Tagebuch und so.“ (A 137: 368 [2.4.1938]) Allmählich wurde dem Tagebuchschreiben mehr Bedeutung beigemessen, es formte sich zu einer die Existenz stabilisierende „Balancierstange“ (vgl. LTI: 19f.; ebd.: 22; ebd.: 364; 005 Klemperers Aufzeichnungen nehmen also eine Zwischenstellung zwischen persönlicher Selbstverschriftlichung und wissenschaftlicher Metareflexion ein (vgl. A 138: 674 [23.8.1942]). Der Diarist als Literaturtheoretiker benutzte seine Tagebücher teilweise als philologische Notizhefte. Werden in der vorliegenden Arbeit die Klemperer-Aufzeichnungen stellenweise mit bestimmten gegenwärtigen literatur- oder sozialwissenschaftlichen Ansätzen korreliert, so bedeutet dies meines Erachtens keineswegs eine unzulässige Verallgemeinerung rein privater Dokumente, sondern vor allem eine Verortung von Klemperers diaristisch-philologischem Schreibmodus und Erkenntnisinteresse in einer breiteren – aktuell bedeutsamen – Wissenschaftstradition.

EINLEITUNG

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A 237 [28.6.1939]). Die Klemperer-Aufzeichnungen sind vor diesem Hintergrund als Krisentagebuch zu betrachten, das die Erschütterung früherer Sicherheiten widerspiegelt und sich in diesem privaten Gegenraum mit ihnen auseinandersetzt.6 Die Einwebung des sozialhistorischen Kontextes in das Tagebuch verweist auf die Historizität von Diskursen und den Erkenntnisgewinn einer interdisziplinären Kulturwissenschaft. Der kulturwissenschaftliche Ansatz, der dieser Arbeit zugrunde liegt, führt also keinesfalls dazu, dass die unhintergehbare Individualität der Person Victor Klemperer ebenso wie die Aspekte seines Lebens und Leidens unter dem Nationalsozialismus, die nicht einfach kontextualisierbar bzw. konstruierbar sind, schlichtweg ausgeklammert werden. Die private Lebenswelt des Diaristen stellt einen unerlässlichen hermeneutischen Grundpfeiler für jede Untersuchung dar, die sich mit Klemperers Tagebüchern auseinandersetzt. Ausgehend von den vorgestellten zentralen Thesen wird ein Beschreibungs- und Analysemodell für die Gattung Tagebuch entwickelt, das sich durch zwei Komponenten auszeichnet: Historizität (vgl. Kap. 2.2) und Identität (vgl. Kap. 2.3), die beide, so die Annahme, in hohem Maße geeignet sind, um die Spezifika der Klemperer’schen Diaristik darzulegen. Für die Analyse von Klemperers Tagebüchern bedeutet dies, dass eine konsequent durchgeführte Kontextualisierung angestrebt werden muss, um nachvollziehen zu können, wie und unter welchen Umständen sich die deutsch-jüdische Identität auf die Produktion der Tagebucheinträge und den Beobachtungsmodus des Diaristen auswirkte. Am Beispiel einer repräsentativen Anzahl ausgewählter Tagebuchauszüge befasst sich die vorliegende Studie mit den Tagebüchern als Instrument der Individualisierung und der (Neu-)Konstruktion persönlicher Identität. In diesem Zusammenhang soll eine exemplarische Feinanalyse vorgenommen und erläutert werden, mit welchen sprachlichen und diskursiven Strategien sich Klemperer in seinem Tagebuch eine veränderte kulturelle Identität konstruierte. In der vorliegenden Arbeit geht es darum, zu zeigen, wie diese Identitätsentwürfe hervorgerufen, etabliert und artikuliert werden. Insbesondere soll untersucht werden, inwiefern diese spannungsvollen Identitätspole in Klemperers Tagebüchern überhaupt vereinbar sind. Aus diesen unstetigen Selbstbezeichnungen, so soll die Analyse aufzeigen, geht hervor, wie das Selbst stets in Beziehung zum lebensweltlichen Kontext verändert wird und sich durch die soziale Eingebundenheit bzw. Ausgeschlossenheit definiert. Dabei soll jedoch festgehalten werden, dass Klemperers Tagebucheinträge kein mimetisches Abbild der Wirklichkeit bieten, sondern aufgrund der ihnen zu006 Reinhart Koselleck beschreibt in seiner begriffsgeschichtlichen Studie Kritik und Krise (1959) die Offenheit der Gegenwart in einer Krisensituation folgendermaßen: „Die allgemeine Unsicherheit in einer kritischen Situation ist [...] durchzogen von der einen Gewißheit, daß [...] ein Ende des kritischen Zustandes bevorsteht. Die mögliche Lösung bleibt ungewiß, das Ende selbst aber, ein Umschlag der bestehenden Verhältnisse – drohend und befürchtet oder hoffnungsfroh herbeigewünscht – ist den Menschen gewiß. Die Krise beschwört die Frage an die geschichtliche Zukunft.“ (ebd.: 105)

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grunde liegenden Selektionen und Konfigurationen unterschiedlichster Informationspartikel bestimmte Interpretationen der repräsentierten Wirklichkeit darstellen. Sie antworten auf NS-Diskurse, nehmen Stellung zu ihnen und hinterfragen sie auf kritische Weise. Die subversive Dimension des Schreibens auf der Grenze bzw. des ausgegrenzten Schreibens, die in den Einträgen prägnant zum Tragen kommt, soll im Verlauf dieser Arbeit en détail untersucht werden.

Zielsetzung In einem Aufsatz über Victor Klemperers Tagebücher aus dem Zeitraum des Dritten Reiches hebt Irving Wohlfarth (2000: 142f.) das Fehlen eines geeigneten Untersuchungsrahmens für eine kontextgerechte, diskursanalytische Annäherung an Klemperers Journal hervor: „Das In- und Auseinander der sich kreuzenden und überschneidenden Diskurse herauszuarbeiten, verlangt eine politisch-philosophische Philologie, die es noch nicht gibt.“ Diese Forschungslücke zu schließen, setzt sich die vorliegende Arbeit ansatzweise zur Aufgabe, indem sie den Tagebuchtext mit dem sozioökonomischen, politischen, ideologischen und kulturellen Umfeld seiner Entstehungszeit korreliert. Ein auf die Besonderheiten von Klemperers Aufzeichnungen zugeschnittenes, theoretisch fundiertes und terminologisch explizites Beschreibungs- und Analysemodell soll somit entwickelt werden, um die Darstellungen des Diaristen aus pluridisziplinärer Sicht zu untersuchen. Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass eine Untersuchung in diesem breit gefassten Rahmen angesichts des enormen Umfangs von Klemperers Aufzeichnungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Doch versteht sich meine Arbeit als ein weitgehend repräsentativer Querschnitt durch die den Tagebüchern zugrunde liegenden Themenkonglomerate und Diskurskonstellationen. In der vorliegenden Studie wird die Stellung der dominanten diskursiven Konstellationen der Tagebücher Victor Klemperers – das Tagebuch als Metatext, als Schriftmedium und als Interdiskurs – in Bezug zu einem festen, zentralen Punkt untersucht. Dieser zentrale Bezugspunkt, um den sich buchstäblich alle Reflexionen im Tagebuch drehen, ist der Nationalsozialismus und seine Begleiterscheinungen: Antisemitismus, Terror, Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung, Deportation.7 Eine Analyse von Klemperers Tagebuchnotizen aus dieser Epoche muss sich folglich stets an der alles durchdringenden NS-Ideologie und -Diktatur orientieren. Angesichts dieser diskursiven Zentralität drängt sich mithin die Frage nach Überlappungen, gegenseitigen Beeinflussungen und Durchdringungen der 007 Klemperer macht fortwährend auf die ideologische Zentralität des Antisemitismus im NSDiskurs aufmerksam (vgl. ZAII: 385 [29.5.1943]; ebd.: 547 [20.7.1944]). Dies bedeutet folglich, dass dem Nationalsozialismus als ziviltheologischem Gedankensystem nicht ohne Berücksichtigung der Judenfeindlichkeit beizukommen ist. Auch wenn in den verschiedenen Bereichen der NS-Gesellschaft nicht unmittelbar die Rede von ‚den Juden‘ ist, schwingt der Antisemitismus als Negativfolie immer mit.

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drei zu untersuchenden Konstellationen auf. Sie stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander; ihre Themenfelder überlagern einander und sind teilweise voneinander abhängig. Auf die Struktur dieser Konstellationen wird der Blick gelenkt: Sie wird kartiert, beschrieben, analysiert und interpretiert. Eine solche topographische Aufgabenstellung, die die Textbausteine der Tagebuchaufzeichnungen und ihr Verhältnis zueinander hervorheben will, verzichtet auf eine chronologische Ordnung, die dem formalen Aufbau der Diarien folgt. Um die erwähnte Topographie diskursiver Konstellationen in Klemperers Tagebüchern erstellen zu können, soll zunächst – in Teil 2 – eine kulturwissenschaftliche Gattungstheorie des Tagebuchs geschaffen werden, die die Begrifflichkeiten bereitstellt, mit welchen im dritten Teil der Arbeit Klemperers Aufzeichnungen interpretiert werden können. Die vorliegende Arbeit wendet sich gegen bestimmte erinnerungspolitisch bedingte Instrumentalisierungstendenzen in der Klemperer-Rezeption, denen in Teil 4 das Augenmerk gilt. Diese Rezeption bildet eine ideologische Negativfolie, vor der Klemperers Aufzeichnungen in ihrer Widersprüchlichkeit interpretiert werden sollen. Als Zielsetzung dieser Studie lassen sich folgende Forschungsakzente festlegen: 1. Entwicklung methodischer Bausteine zur Durchführung einer interdisziplinär anschlussfähigen Kontext- und Gattungsanalyse der Tagebücher; 2. Erprobung der theoretisch-methodologischen Erkenntnisse anhand von Tagebuchanalysen; 3. Rekontextualisierung ausgewählter, im Tagebuch zirkulierender Diskurse; 4. gattungstheoretische, kulturgeschichtliche und funktionsanalytische Annäherung an die Tagebücher; 5. Analyse von Alltäglichkeit als spezifisch diaristischer Aufzeichnungsmodus und historiographisches Prinzip; 6. Untersuchung des performativen Aspekts des Tagebuchschreibens, das als „Sorge um sich“ und somit als identitätskonstituierend verstanden werden kann; 7. gedächtnistheoretische Analyse der Klemperer-Rezeption in der Berliner Republik. Insgesamt gesehen befindet sich die Untersuchung jüdischer Holocaust-Tagebücher – genauso wie von Tagebüchern im Allgemeinen – noch in den Anfängen. Die vorliegende Arbeit soll einen Diskussionsansatz zur Gattungstheorie der Diaristik wie auch zu den Besonderheiten von Klemperers Tagebüchern bilden. Um die oben dargestellten, Beobachtung leitenden Ausgangsthesen empirisch zu untermauern und die hier formulierten Ziele zu verwirklichen, soll im Folgenden ein angemessenes theoretisches und methodisches Instrumentarium vorgestellt werden, mit dem sich diese Analyse den Klemperer-Tagebüchern aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern sucht.

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Theoretische und methodische Prämissen Diese Studie – wie in ihrem Titel verdeutlicht – setzt es sich zum Ziel, eine „kulturwissenschaftliche Lektüre“ der Tagebücher Victor Klemperers vorzunehmen. In diesem Abschnitt soll kurz der theoretische und methodische Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen sich die vorliegende Untersuchung bewegt. Dazu erfolgt zunächst eine Erläuterung des der Kulturwissenschaft zugrunde liegenden konzeptuellen Apparates. Der Begriff „Kulturwissenschaft“ ist trotz aller Bemühungen nicht eindeutig zu definieren, weil darunter unterschiedliche geisteswissenschaftliche Forschungsrichtungen subsumiert werden. Der Terminus fungiert als ein offener Sammelbegriff für einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang (vgl. Nünning 2004: 368ff.). Einigen inhaltlichen und methodischen Ähnlichkeiten zum Trotz ist die Kulturwissenschaft als Disziplin von der angelsächsischen Form der Cultural Studies zu unterscheiden, die oft durch eine marxistische Gesellschaftstheorie, eine emanzipierende Zielsetzung und eine Einengung des Forschungsgegenstands auf die Populärkultur gekennzeichnet ist. Die Forderung nach einer kulturwissenschaftlichen Weiterentwicklung der Philologien gründet im Wunsch, den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft zu erweitern, den herkömmlichen Literaturkanon zu revidieren und ihn beispielsweise auf Paraliteratur wie das Tagebuch auszuweiten. Die Wendung hin zu dieser Forschungsrichtung beruht ferner auf der Skepsis gegenüber einem überkommenen normativen Text- und Literaturverständnis, das Hoch- und Populärliteratur streng voneinander trennt. Die theoretischen Leitkategorien, auf die sich die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft konzentriert, sind z.B. Erfahrung, Handlung, Sprache, Identität und Geschichte. Ansgar Nünning und Roy Sommer (2004: 20) bringen das Forschungsinteresse der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft folgendermaßen auf den Punkt: Wenn es sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht bei literarischen Texten um eine der materialen Formen bzw. textuellen Medien handelt, an denen mentale Aspekte der Kultur beobachtbar werden, dann stellt sich nicht mehr die Frage, was Literatur ‚ihrem Wesen nach ist‘, noch die nach der Hierarchisierung oder der Reihenfolge von Text und Kontext. Vielmehr manifestieren sich die kulturbestimmenden sozialen Konstellationen, Diskurse und Mentalitäten in Texten.

Die von Nünning und Sommer beschriebene „kulturwissenschaftliche Wende“ (ebd.: 13) in der Literaturwissenschaft bedeutet keine pauschalisierende Abqualifizierung früherer Kontextualisierungsansätze, die beispielsweise bereits in der marxistischen Literaturtheorie, der Kulturanthropologie oder der soziologischen Literaturwissenschaft gewinnbringend eingesetzt wurden. Es handelt sich folglich keineswegs um eine Neuerfindung, sondern vielmehr um eine Neuperspektivierung des vorliegenden Angebots an theoretischen Ansätzen. Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft kann als Baukastenmodell betrachtet werden, das sich durch Methodenpluralismus wie auch durch neue Fragestellungen – wie

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beispielsweise die Frage nach der der Sprechakttheorie entlehnten performativen Dimension von Literatur –8 zu erkennen gibt. Eine eindeutige Interpretation von Klemperers Tagebüchern gestaltet sich schwierig, sind sie doch durch Einträge bestimmt, in denen Themenwahl, Stimmungen und Eindrücke zwischen alltäglicher Trivialität und historischphilosophischer Tiefgründigkeit changieren. Je nachdem, mit welcher Frage man sich an das Werk wendet, meint man stets verschiedenen Aspekten der Person des Autors zu begegnen. Die Themenvielfalt und Vielschichtigkeit in den Tagebüchern zu erfassen, erfordert dementsprechend auch eine Methodenvielfalt, ohne jedoch in theoretische Willkür zu münden. Die Tagebücher Victor Klemperers sollen demgemäß mithilfe einer methodenpluralistischen Vorgehensweise, die neben literaturwissenschaftlichen Ansätzen auch starke soziologische, sozialphilosophische und kulturtheoretische Momente enthält, die interdisziplinär ineinander zu verketten sind, einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Theoretisch lehnt sich diese Arbeit stellenweise an die narrative Psychologie (sensu Polkinghorne, Ricoeur), die Ethopoietik des späteren Foucault, die Interdiskursanalyse (sensu Link, Link-Heer, Parr) bzw. die Kulturpoetik (sensu Baßler), der Alltagsgeschichte (sensu Peukert, Kershaw), die Ethnographie (sensu Geertz) und die Theorie des kulturellen Gedächtnisses (sensu Assmann) an, um Rückschlüsse auf den sozialen und politischen Kontext der Tagebuchaufzeichnungen zu ziehen. Die Vielzahl relevanter Interpretationsansätze und daraus resultierender Deutungen kann insgesamt gerechtfertigt werden, wobei jedoch zu bedenken ist, dass keiner dieser Ansätze, ja keine einzige Deutung von Klemperers Tagebüchern einen ultimativen Absolutheitsanspruch zu erfüllen vermag. Seine Tagebücher sind zu vielschichtig und komplex, als dass eine einzige Interpretation das diaristische Werk in seiner Gesamtheit erfassen könnte. Wenn es beispielsweise die Bereiche der Identitätskonstruktionen (3.2.1), der Volksstimmung (3.2.2) oder des Alltags (3.2.3) im Dritten Reich – die als spezifische Darstellungen kultureller Phänomene, die zwischen den Erkenntnisinteressen der Literatur- und Geschichtswissenschaften liegen, zu verstehen sind – zu untersuchen gilt, müssen ganz gezielt Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen herangezogen werden. In Klemperers Tagebüchern findet sich ein aufschlussreiches Widerspruchsgeflecht in Bezug auf die Neigung des Diaristen zum erzählerischen und philologischen Schreiben, eine spürbare Spannung zwischen Dichtung und Wissenschaft. Seine Notizen stellen keinen Rückzug in die private Innenwelt dar, sie sind keineswegs rein private Belege einer erzwungenen Isolation im Dritten Reich, sondern führen auf penible und höchst kritische Weise die Machtstruktur, Methoden und Unterstützung der Diktatur vor Augen. Gerade aufgrund der hybriden

008 Uwe Wirth (2002: 27f.) legt nahe, dass Schreiben als ein selbstreflexiver, performativer, identitätskonstituierender Akt begriffen werden kann. Dementsprechend kann auch das alltägliche Sich-selbst-Erzählen im Tagebuch als ein identitätsformierende Tätigkeit begriffen werden.

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Schwerpunktsetzung auf sowohl Selbstthematisierung als auch Geschichtsschreibung bietet sich eine methodenpluralistische Herangehensweise an, um die Klemperer-Notizen in ihren gattungs- und epochenspezifischen Formen und Funktionen adäquat erfassen zu können. Indem die zwei Pole der Referenzialität im Tagebuch – Individuum und Gesellschaft – wechselseitig aufeinander bezogen werden und sozusagen eine hermeneutische Brücke zwischen beiden geschlagen wird, soll hier eine objektgerechte mikrologische und makrologische Kontextualisierung dieser Aufzeichnungen vorgenommen werden. Methodisch ist diese Untersuchung somit doppelt perspektiviert: Im Folgenden gilt es, die Identitätskonstruktionen Victor Klemperers wie auch die Verarbeitung gesellschaftlicher Diskurse im Tagebuch eingehend zu untersuchen. Das Tagebuch gehört nicht dem typischen Kanon der Literaturwissenschaft an, und es ist selten explizites Objekt einer gattungstheoretischen Untersuchung geworden. Eine kulturwissenschaftliche Methodik findet in diesem Zusammenhang ihre Berechtigung einerseits in ihrer interdisziplinären Ausrichtung, und andererseits, weil sie sich mit ihrem konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff auf die materiale, soziale und mentale Kultur bezieht. Klemperers Tagebücher lassen sich vor diesem Hintergrund als Teil der materialen Kultur ihrer Entstehungszeit verstehen und gewähren eine deutliche kulturhistorische Einsicht in die Jahre der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Das wissenschaftliche Interesse an bürgerlichen Tagebüchern als historische Quellen ist nicht zuletzt auf die Wendung der Geschichtswissenschaft zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie auch auf den erinnerungs- und gedächtnistheoretischen Paradigmenwechsel in der Kulturwissenschaft zurückzuführen.9 Die Tagebuchforschung tritt nicht zuletzt deshalb so kraftvoll in den Vordergrund, weil sie sich auf den umfassenden Erklärungsanspruch der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, die den Blick auf die ‚kleinen Leute‘ freigeben sollen, und auf das erneute Hervorheben des historischen Subjekts wider das anonyme Systemdenken in der Geschichtswissenschaft zurückführt. Vor diesem Hintergrund versteht sich diese Arbeit auch als ein Beitrag zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Dritten Reiches. Im Mittelpunkt dieses Verfahrens steht stets das Interesse für das handelnde Einzelsubjekt: Das Beharren auf dem Handeln, das sich selbst in der Untätigkeit oder der Marginalität eines Individuums offenbart, spiegelt die Geschichtsvision der Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie der Ethnographie, die methodisch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen.

009 Kulturwissenschaftliche Annäherungen an die Gattung Tagebuch findet der Leser beispielsweise in den an der Universität Wien entstandenen Arbeiten von Fliedl (1997), Plener (1999), Sellner (1992) und Zand (2003) über Hermann Bahr oder Arthur Schnitzler. Wichtige Ansätze und Erkenntnisse für die Kontextualisierung liefern ferner auch Le Rider (2002) und Wunberg (2001) in ihren Studien über die Wiener Moderne.

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Textgrundlage Victor Klemperers publizierte und nichtpublizierte Tagebuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches bilden die primäre Quellengrundlage für die vorliegende Arbeit. Im Zentrum dieser Studie steht die spezifisch diaristische Verbindung zwischen Text und kulturellem Kontext, zwischen Tagebuchautor und sozialem Umfeld. Diese Diskussion wird der textgenetischen Komplexität der diaristischen Notizen hermeneutisch erst gerecht, wenn die zeitgleich von Klemperer verfassten Werke LTI und Curriculum Vitae in die Analyse einbezogen werden. Klemperers Tagebücher der NS-Zeit stellen die Aufzeichnungen der Jetztzeit dar, während das Curriculum Vitae die autobiographischen – aber durch seine Entstehungsbedingungen im Dritten Reich unmittelbar überdeterminierten – Erinnerungen an die Jahre 1881 bis 1918 umfasst. Die sprachkritische Arbeit Lingua Tertii Imperii bezieht sich ihrerseits inhaltlich – was die sprachlichen Belege und Argumente anbelangt – auf die Tagebuchaufzeichnungen während des Dritten Reiches, weshalb sie einen festen Teil des Primärkorpus ausmacht, mit dem sie ein einheitliches Ganzes bildet. Mit diesem erweiterten Quellenfokus soll eine prägnante Forschungslücke geschlossen werden, auf die bereits André Combes (2000: 100, Fußn. 64) im Jahr 2000 hingewiesen hatte: Man müsse die Tagebücher 33-45 zusammen mit LTI und Curriculum vitae lesen und analysieren: dies wäre ein Desiderat der Klemperer-Forschung. Denn alle drei Texte bilden sowohl diachronisch als synchronisch einen einzigen Intertext, in dem die subjektiven Veränderungen Klemperers seit der Jahrhundertwende und bis zum Erscheinungsjahr des LTI-Werks (1947) sich überlagern und der als solcher einen hohen Zeugniswert besitzt.10

Indem LTI und Curriculum Vitae – dem Synchronizitätskriterium entsprechend – in die Analyse der Tagebücher mit einbezogen werden, können Produktionsbedingungen, Produktionstechniken, Identitätsprozesse und das dem Tagebuch zugrunde liegende Hintergrundwissen erläutert und deutlicher sichtbar gemacht werden. In den veröffentlichten Klemperer-Tagebüchern aus dem Zeitraum 1933-1945 wurden neben vielfachen Wiederholungen, ausführlichen Lektürenotizen auch umfangreiche Auszüge aus der Tages- und Wochenpresse gekürzt oder gänzlich gestrichen.11 Daneben wurden häufig längere, sich in Einzelheiten ergehende Ta010 Klemperer hebt des Öfteren die untrennbare Einheit von Tagebuch, LTI und Curriculum Vitae hervor: „Material der LTI mit der Autobiographie, mit dem ‚Ich will Zeugnis ablegen!‘ in eins schmelzen, dem Ganzen die Erregung dieser Terrorzeit einflößen – – es müßte ein ganz originelles, ein hinreißend interessantes Werk werden.“ (A 138: 674 [23.8.1942]) Vgl. hierzu z.B. auch ZAII: 83 [11.5.1942]; ebd.: 117 [9.6.1942]; ebd.: 279f. [21.11.1942]; A 138: 1087 [29.5.1944]; ebd.: 638 [14.1.1945]. 011 Die Edition von Klemperers Tagebüchern umfasst ca. 5000 Typoskriptseiten, von denen 1691 Seiten in die 1995 im Berliner Aufbau-Verlag herausgebrachte Ausgabe aufgenommen wurden, weswegen der Herausgeber Walter Nowojski wiederholt Kürzungen vornehmen musste: „Gekürzt wurden neben vielfachen Wiederholungen vor allem die zahlreichen, teilweise ausführli-

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gebuchnotate aus marketing- und leserbedingten Erwägungen oder aus Rücksicht gegenüber bestimmten Personen gekürzt. Die Original-Manuskripte aus diesem Zeitraum stellen vor diesem Hintergrund eine reichhaltige Fundgrube an Informationen einerseits zu Klemperers Leben und Erfahrungen und andererseits zum Alltag jüdischer Verfolgter im Dritten Reich dar. Der schriftliche KlempererNachlass diente in dem Maße als Quelle, in dem er den Argumenten aus den veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen zusätzliche Aussagekraft verleiht und die Analyse unterstützen und belegen kann. Originaltexte aus den in Dresden aufbewahrten handschriftlichen Tagebuchmanuskripten wurden nur dann herangezogen, wenn sie in den publizierten Diarien unberücksichtigt geblieben waren. In allen anderen Fällen wird in der vorliegenden Arbeit durchgängig auf die im Berliner Aufbau-Verlag erschienene Tagebuchausgabe verwiesen, die im Mittelpunkt der Lektüre und Forschungsarbeit stand. Als Nebenkorpus werden einerseits die Tagebuchaufzeichnungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit Und so ist alles schwankend: Tagebücher Juni bis Dezember 1945, die Tagebücher aus der Weimarer Zeit Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum: Tagebücher 1918-1933 und die DDR-Diarien So sitze ich denn zwischen allen Stühlen: Tagebücher des Victor Klemperer 1945-1959 herangezogen, andererseits wird ebenfalls auf die während der Zeit des Dritten Reiches – zwischen 1935 und 1938 – entstandenen, philologischen Werke Victor Klemperers Bezug genommen: Die beiden Bände von Klemperers Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert – Das Jahrhundert Voltaires (1954) und Das Jahrhundert Rousseaus (1966) – werden andeutend in den Gedankengang einbezogen. Dieses Sekundärkorpus hat eine explikativ-untermauernde Funktion und soll somit der hermeneutischen Dichte der Untersuchung förderlich sein. Darüber hinaus werden auch bis jetzt unveröffentlichte Manuskripte, Briefe, Arbeits- und Lektürenotizen herangezogen, die für die Erforschung des Tagebuchkonvoluts von wesentlicher Bedeutung sind. Diese Unterlagen werden in dem von Hadwig Klemperer der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden überlassenen Klemperer-Nachlass aufbewahrt. Die Auswahl der Werke aus Haupt- und Nebenkorpus wird insgesamt zeigen, welches inhaltliche und formale Spektrum Klemperers Tagebuchkonvolut entchen Lektüre-Notate sowie Auszüge aus der Tages- und Wochenpresse. Einige wenige Kürzungen sind auch der Rücksicht gegenüber Personen geschuldet.“ (Nowojski 1995: 927) Im Bewusstsein der beachtlichen Verantwortung des Herausgebers hinsichtlich der Bewahrung wesentlicher Informationen meint Walter Nowojski (2000: 22) in Bezug auf seine KlempererHerausgabe: „Die Verantwortung, beim Kürzen darauf zu achten, daß wirklich alle Momente, die bei Klemperer eine Rolle spielen, auch erhalten bleiben, sowohl im Privaten als auch im Politischen und Wissenschaftlichen, ob positiv oder negativ, ist groß.“ Zur Darlegung der vorgenommenen Kürzungen und Korrekturen vgl. auch Nowojski (2001: 263-272). Die Rede von der „Authentizität“ des Tagebuchs wird durch den transformatorischen Akt des Editierens problematisiert, da dieser Prozess die materielle Qualität und formale Struktur des Originaltextes mit Hinblick auf die Lesbarkeit verschiedenartig adaptiert: „Das Edieren von [...] Tagebuchtexten bedeutet [...] nicht nur die Herauslösung aus ihrer jeweiligen ursprünglichen dokumentarischen Gestalt; es bedeutet auch ihre Transformation.“ (Hurlebusch 1995: 27)

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falten kann, ohne einer erkennbaren Struktur seines Wahrnehmens und Denkens verlustig zu gehen. Eine detaillierte Beschreibung der Diskursverläufe im diaristischen Œuvre und der textuellen Organisation und Struktur des Tagebuchs soll im Ergebnis dazu beitragen, ein neues, kulturgeschichtlich relevantes Licht auf die Tagebücher des Dresdener Romanisten zu werfen.

Forschungsstand Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren auf die Forschungsliteratur zu Victor Klemperer und auf die spezifische Position, die seinen Tagebüchern aus der NS-Zeit darin zuerkannt wird. Die Tagebücher wurden nach ihrer Publikation 1995 weit über die engen Fachgrenzen der Germanistik hinaus wahrgenommen und avancierten bald zum festen Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur. Mit dem Erscheinen der Aufzeichnungen wurde Klemperer einem breiten Publikum bekannt. Angesichts der Fülle von Forschungen zum Thema kann hier kein umfassender Überblick erstellt werden; stattdessen soll im Folgenden – auf durchaus selektive Weise – versucht werden, einige wesentliche allgemeine Ergebnisse, Themenkomplexe und Problemstellungen der aktuellen Forschungsliteratur zu Victor Klemperers Tagebüchern aus dem Zeitrahmen 1933-1945 zu skizzieren und dem Leser näher zu bringen. In der Sekundärliteratur fällt die Bruchstückhaftigkeit der Klemperer-Rezeption unmittelbar ins Auge, die die Tagebücher generell als historisches Quellenmaterial zur Judenverfolgung oder zur deutsch-jüdischen Identität heranzieht. Aufgrund des fragmentarischen Charakters des Genres Tagebuch im Allgemeinen, dessen Blickrichtung – bei fehlender übergreifender Rahmenhandlung – auf schillernde Weise zwischen profanem Alltagsbefund und historischem Großereignis changiert, gilt das Tagebuch in der Forschung vielfach als bloßer Zitatenschatz, aus dem sich die Biographie oder die Genese des literarischen bzw. wissenschaftlichen Werkes eines Autors ebenso wie Hintergründe zum historischen Entstehungskontext ableiten lassen. Eine interdisziplinäre Berücksichtigung des Tagebuchs als eines an sich erforschungswürdigen literarischen Textes, wie Gottfried Abrath im Nachfolgenden auf allgemeiner Ebene festhält, bleibt bis jetzt in der Regel aus: Tagebücher werden in der Regel wie Edelsteinminen benutzt: durch ein bruchstückhaftes Herausgreifen von brauchbar erscheinenden Einzelstellen werden die sehr persönlichen Zeugnisse ausgewertet. Der vermeintlich wertlose Rest findet kaum noch Beachtung. Demgegenüber bleibt die Berücksichtigung der Tagebücher als Ganzes ein Ausnahmefall. (Abrath 1994: 13)

Auch in der Klemperer-Forschung macht sich diese Feststellung bzw. dieses Forschungsdesiderat bis auf einige Ausnahmen prominent bemerkbar, indem oftmals aus den Schriften beliebig Zitate als Belegstellen einer bestimmten Herangehensweise, moralisch-politischen Einstellung oder These herausgegriffen werden. In

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diesem Zusammenhang ist augenfällig, dass die Forschungsliteratur – angesichts der Widersprüchlichkeit der Tagebuchaufzeichnungen in puncto deutschjüdische Identität und Ausmaß des Antisemitismus in der deutschen Zivilbevölkerung – des Öfteren zum Ort moralischer Auseinandersetzungen wird.12 Istvan Deaks Untersuchung der Tagebücher mündet beispielsweise in eine negative Beurteilung von Klemperers Identitätsauffassungen und seiner Haltung gegenüber jüdischen Schicksalsgefährten: Der Diarist wird vor diesem Hintergrund als „zynisch und egoistisch und ein Opportunist“ (Deak 2000: 95) beschrieben. Analog rügt Earl Jeffrey Richards (1999: 136) Klemperers „unglaubliche Gefühllosigkeit gegenüber der [...] Bedrängnis der Juden.“ In dieselbe Richtung weist Eva Auf der Maur, die Klemperers „egozentrische Selbstüberschätzung“ (Maur 1999: 297)13 tadelt. Ursula Pia Jauch (1996: 65) betont auf kritische Weise, der Diarist habe in den Vorkriegsjahren die politische Realität verkannt: „Wie in einer Montgolfière der Behaglichkeit, zwar aufmerksam, aber doch sehr lebensfern, gleitet Klemperer in seinem Alltag zwischen Vorlesung, Notaten und nachmittaglicher ‚Kaffeemahlzeit‘ dahin.“ Andererseits – am anderen Ende des moralischen Spektrums – heben manche Kommentatoren und Literaturwissenschaftler die humanistischen Leitprinzipien der Aufzeichnungen hervor. Martin Walser (1995: 146) lenkt die Aufmerksamkeit auf „die moralische Schönheit dieses Victor Klemperer.“ Analog wird Klemperers „menschliche Größe“ von Volker Ullrich (1995: 30) in den Mittelpunkt gestellt. Von anderen Seiten wird – im Hinblick auf die gefahrvolle Tätigkeit des Tagebuchschreibens während des Holocaust – auf die „Tapferkeit“ des Diaristen (vgl. Jäckel 1999; Laqueur 1996: 256) hingewiesen.14 Es ist sicherlich kein Zufall, dass es zu derartigen Verletzungen der Grenzen, die der geisteswissenschaftlichen Prosa gesetzt sind, besonders häufig im Diskurs über die deutsche NS-Vergangenheit und im entsprechenden Metadiskurs kommt. Ohne an dieser Stelle den bundesdeutschen Rezeptionskontext zu erläu012 Die Spannung zwischen gegenläufigen moralischen Beurteilungskategorien sticht in der Klemperer-Rezeption in besonderem Maße hervor. Der Herausgeber der Tagebücher, Walter Nowojski, der seinerseits „das stille Heldentum“ des Tagebuchschreibenden würdigend hervorhebt (Nowojski 1995: 867), verteidigt Klemperer gegen Interpretationsrichtungen, die die Aufzeichnungen aufgrund ihrer „Ehrlichkeit“ und „Ungeschminktheit“ negativ einschätzen dürften: „Die Leser der Tagebücher neigen [...] zuweilen dazu, aus der ehrlichen Selbstbeschreibung Klemperers vorschnell Unverständnis oder gar Abneigung abzuleiten.“ (Nowojski 2001: 264) 013 Ferner verurteilt Auf der Maur auch Klemperers „Konversion zum Protestantismus [...] aus opportunistischen Gründen“ (Maur 1999: 298) und nennt „sein Verhalten gegenüber jüdischen Leidensgenossen [...] abstoßend.“ (ebd.: 299) Ben Eilbott (2001: 96) seinerseits bezeichnet den Diaristen auf ähnliche Weise als „arrogant, selbstgefällig und blind gegen seine eigenen Unzulänglichkeiten,“ während Bauschmid (2001: vi) Klemperer fehlende Rücksicht auf seine Ehefrau Eva vorwirft: „Als eigenständiger Mensch existiert Eva Klemperer nicht.“ Gaby Zipfel (2000: 45) ihrerseits rügt den „Hang zu Wehleidigkeit und Selbstmitleid“ des Tagebuchschreibers. 014 Die historische Bedeutsamkeit wird beispielsweise von Volker Ullrich (1995: 29) betont, der die Tagebücher als „eine Quelle von einzigartigem Rang“ rühmt. Johannes Klare (1996: 150) bezeichnet sie als „unglaublich realistische und bohrende Beobachtung und Registrierung der Ereignisse.“

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tern, der sich Mitte der 1990er Jahre besonders anfällig für eine emotional aufgeladene Interpretation der Tagebücher zeigte, soll es vorläufig genügen, zunächst eine kurze Bestandsaufnahme der in Buchform erschienenen Hauptveröffentlichungen über Victor Klemperer zu erstellen. Momentan liegen folgende wichtige Veröffentlichungen über Klemperers diaristische Aufzeichnungen aus der NSZeit vor: neun Monographien (vgl. Aschheim 2001; Dirschauer 1997; Faber 2005; Gentzel 2008; Heintze 2011; Mieder 2000a; Papp 2006; Rüttinger 2011; Zieske 2013),15 zwei Biographien (Jacobs 2000; Nowojski 2004), drei Sammelbände (vgl. Heer 1997; Siehr 2001a; Wielepp und Lühr 1997), zwei Themenhefte (der germanistischen Fachzeitschrift Germanica aus dem Jahr 2000 und der romanistisch-komparatistischen Fachzeitschrift Lendemains aus dem Jahr 1996), ein Bildband (vgl. Borchert et al. 1999), eine Gymnasial-Lektürehilfe (vgl. Bernhardt 2004) und zwei publizierte Reden über Victor Klemperer (Fries 1995; Walser 1996). Daneben finden sich noch eine umfangreiche Reihe wissenschaftlicher Aufsätze, Buchkapitel und Rezensionen (Vgl. z.B. Gerstenberger 1997; Schediwy 2008: 127-135) sowie auch etliche Pressetexte und feuilletonistische Zeitungsund Zeitschriftenartikel (vgl. z.B. Bauschmid 2001; Jauch 1996). Die Autoren dieser Untersuchungen waren bereits zur Ansicht gelangt, dass Klemperers Tagebücher aus funktionaler Perspektive als historisches Dokument, als Chronik, als Überlebenshilfe, als Zeugnis, als Reflexionsort oder als Speichermedium zu lesen seien. Die Geschichtswissenschaft hat sich vor allem im Rahmen der Shoah und der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus mit Victor Klemperer befasst. Fragen der Judenverfolgung und des Vollzugs des Holocaust stehen hier in der Regel im Vordergrund: Der Blick wird meist auf die von Klemperer dargestellten Phasen des Holocaust, auf den Wissensstand der deutschen Bevölkerung um den Judenmord oder die spezielle Ausgangslage von Mischehen im Dritten Reich gelenkt. In diesem Zusammenhang liegt der Schwerpunkt deutlich auf dem Dokumentcharakter des Tagebuchs. Die textuelle Einbettung der Tagebücher in den kulturhistorischen Kontext oder eine Quellenkritik der Aufzeichnungen blieben bis dato weitgehend unbeachtet. Auf ähnliche Weise beschränkt sich die literaturwissenschaftliche Forschung zu Klemperer meist auf die Frage der deutsch-jüdischen 015 Was die Monographien anbelangt, so handelt es sich nicht nur um Arbeiten, die sich ausschließlich mit Klemperer oder exklusiv mit seinen Tagebüchern aus dem Zeitraum des Dritten Reiches beschäftigen: Aschheim (2001) untersucht Klemperers jüdische Identität im Vergleich zu Hannah Arendt und Gershom Scholem. Papp (2006) nimmt ihrerseits eine komparative Analyse von Thomas Manns und Victor Klemperers Tagebüchern aus der NS-Zeit vor. Bei Rüttinger (2011) handelt es sich um Klemperers gesamtes Tagebuchœuvre, während sich Zieske (2013) in seinen Essays den Tagebüchern der Jahre 1933-1959 widmet. Daneben liegen momentan zwei Monographien über Victor Klemperers Tagebücher aus der Weimarer Zeit vor: Buhles (2003) und Court (1999). Zwei weitere wissenschaftliche Arbeiten befassen sich mit Klemperers sprachkritischer Studie LTI: Fischer-Hupe (2001a) und Elbers (1999). Daneben ist auch noch ein französischer Sammelband über LTI als Grundlage für eine diskurskritische Auseinandersetzung mit der Problematik der totalitären Sprache zu verzeichnen: Aubry und Turpin (2012).

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Identität in den Tagebüchern. Sie konzentriert sich – unter Vernachlässigung der Problematik der Autorfrage oder des Gattungsstatus des Tagebuchs – ebenfalls auf die unhinterfragte Wahrhaftigkeit von Klemperers Diarien. Auf eine auch nur ansatzweise vollständige Auflistung der Forschungsliteratur wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Stattdessen soll versucht werden, die Haupttendenzen in der Klemperer-Forschung analytisch zu kategorisieren. Im Folgenden werden demnach sieben in der Forschung rekurrente Rezeptionsfiguren vorgestellt, die repräsentativ die unterschiedlichen Forschungsperspektiven vertreten. In einem Abriss der Rezeption sollen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in der Beschäftigung mit den Klemperer-Tagebüchern aufgezeigt werden. Je nach Vorgehensweise und thematischem Schwerpunkt kristallisieren sich nachfolgende, idealtypisch voneinander abgegrenzte Kategorien von Forschungsansätzen heraus, die die vielfältige Bandbreite des Deutungsangebots abdecken: 1. historische 2. biographische 3. identitätsanalytische 4. linguistische bzw. ideologiekritische 5. literaturgeschichtliche 6. pädagogische und 7. rezeptionsanalytische Herangehensweise. Diese Einteilung soll als eine grobe heuristische Orientierungshilfe verstanden werden und nicht als strikte Klassifizierung. Historische Herangehensweise Die historische Annäherung an die Klemperer-Tagebücher gliedert sich in unterschiedliche historiographische Schwerpunktsetzungen: Sie lenkt den Blick aus zeithistorischer Perspektive auf die Tagebücher als Holocaust-Zeugnis; unter wissenschaftshistorischem Blickwinkel setzen sich verschiedene Aufsätze anhand der Klemperer-Aufzeichnungen mit der Lage der gleichgeschalteten deutschen Romanistik im Dritten Reich auseinander. Ferner findet sich eine Reihe weiterer Beiträge, die die Beobachtungen des Diaristen als Quellenmaterial für die unterschiedlichsten historischen Teilbereiche – wie Sport-, Film- oder Technikgeschichte – heranziehen. Die Tagebücher dienen vor diesem Hintergrund als zitierfähige Quelle. Omer Bartov (1998: 34-42; 2000: 162-184; 2003: 192-215), Robert Gellately (2001: 145-148), Eric A. Johnson (2000: 437-441) und Bill Niven (2002: 119-142) ziehen Victor Klemperer in ihren historischen HolocaustForschungen als Zeitzeuge der Judenverfolgung heran. Henningsen (1998), Herlem (2000) Stoltzfus (2001) setzen sich unter Rückgriff auf Victor Klemperers Tagebücher mit der Problematik der Mischehen im Dritten Reich auseinander. Wildt (1997) schildert anhand der Aufzeichnungen Klemperers die Verfolgung der deutschen Juden. Aus wissenschaftshistorischer Sicht stellt Conermann (2007)

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die Gleichschaltung der Universitäten in den Mittelpunkt, und Frank-Rutger Hausmanns Forschungsbeiträge untersuchen die ideologische Lage der Romanistik im Dritten Reich (1991; 1996a; 1996b; 1999; 2000; 2002). Unter technikgeschichtlichen Aspekten zeigt Gernot Böhme (2003) anhand von Klemperers Tagebüchern auf, wie technische Innovationen – Elektroherd, Flugzeug, Schnellzug, Auto, Grammophon, Kino – zwischen 1919 und 1938 tiefe Wirkungen für das Alltagsleben zeitigten. Jürgen Court (1997) zieht Victor Klemperer als Zeitzeuge der Sportgeschichte heran, vor allem im Hinblick auf seine Aufzeichnungen über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Ernst Offermans (2005: 12-16) geht es seinerseits darum, Klemperers Notizen unter filmhistorischem Blickwinkel zu untersuchen. Er geht der Frage nach, auf welche Art und Weise sich der Diarist als deutscher Jude mit dem ideologisch gefärbten Spielfilm der NS-Zeit auseinandersetzte. Biographische Herangehensweise Die biographische Herangehensweise als zweite Rezeptionsfigur postuliert, dass Klemperers Notizen als authentische – soll heißen: reine, aufrichtige – Quelle zur Lebensgeschichte des Autors und zum Nationalsozialismus dienen. In der Forschung überwiegt die Frage, inwiefern sich Klemperers psychisches Befinden im diaristischen Text niederschlug (vgl. z.B. Jäckel 1999; Nowojski 2004). Dieser Ansatz, so interessant er als solcher auch sein mag, kann die Komplexität und Eigenart der Tagebücher allerdings nicht vollständig erfassen und greift vor allem dort zu kurz, wo er die Aufzeichnungen als introspektiven Ausdruck bzw. Seelenspiegel eines selbstbewussten und -identischen Subjekts interpretiert. Für Johannes Dirschauer (1997: 10) kommt ihnen demnach der Rang einer „wahrhaftigen Mitschrift der eigenen Lebensgeschichte“ zu.16 Allerdings hat auch diese Forschungsrichtung mittlerweile auf Aspekte identitätsbedingter Relevanz hingewiesen (vgl. z.B. Zieske 2013: 97-114), die einer rein biographischen Deutung der Tagebücher widersprechen. Identitätsanalytische Herangehensweise Der identitätsanalytische Erklärungsansatz konzentriert sich auf Fragen nach möglichen biographischen und kontextuellen Einflüssen in den Tagebüchern. Im Gegensatz zum oben erwähnten, in der Forschung häufig anzutreffenden biographischen Ansatz wird in einer identitätszentrierten Herangehensweise der Fokus auf den Themenkomplex der für Klemperers Selbstverständnis grundlegenden Spannung zwischen „Deutschtum“ und „Judentum“ gerichtet. Die häufige Beto016 In seiner Arbeit Tagebuch gegen den Untergang. Zur Faszination Victor Klemperers nähert sich Dirschauer (1997) den Tagebüchern aus psychologischer Perspektive an. Ausgehend von der Kindheit des Diaristen macht er am Elternhaus und vor allem am Einfluss der älteren Brüder Klemperers Wesen fest.

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nung von Klemperers frankophiler Einstellung gegen den NS-Antisemitismus oder die Stilisierung des Unterschieds zwischen „Deutschtum“ und Nationalsozialismus als roter Faden der Tagebücher bedeutet jedoch eine radikal verkürzte Wiedergabe der Identitätsproblematik in den Tagebuchaufzeichnungen. Aufgrund ihrer differenzierten Auseinandersetzung mit dieser Frage sei hier vor allem auf Aschheim (2001; 2002; 2007), Diekmann (2001), Faber (1999; 2004; 2005), Gerstenberger (1997), Rieker (1997) und Wohlfarth (2000) verwiesen. Diese Autoren eröffnen wichtige Untersuchungsfelder, die auch im weiteren Verlauf meiner Studie zu berücksichtigen sein werden. Linguistische bzw. ideologiekritische Herangehensweise Ein vierter Forschungszusammenhang für die Klemperer-Rezeption ist die Analyse der Tagebücher aus linguistischer bzw. ideologiekritischer Sicht. Diese Forschungsrichtung bezieht sich auf textuelle Verfahren und inhaltliche Positionen in Klemperers philologischen Analysen der NS-Sprache. Die Beiträge Siegfried Jägers (1998; 1999a; 1999b; 2001) sind in diesem Rahmen von besonderer Bedeutung. Jäger zufolge operiert Klemperer mit einem sehr weiten Sprachbegriff, der Foucaults Konzept des dispositif besonders nahe zu sein scheint. Die Tagebücher Victor Klemperers bieten, so Jäger, eine Dispositivanalyse avant la lettre des nationalsozialistischen Alltags. Dispositive bilden vermittelnde Machtstrategien zwischen gesellschaftlichen Regeln und individuellen Dispositionen, die durch institutionalisierte Disziplinierungen – in Familie, Schule, Medien, Politik usw.– den herrschenden gesellschaftlichen Normen folgen. Dieses Verfahren garantiert die Einverleibung ideologischer Machtstrukturen in die Körper der Individuen, denen die einverleibten gesellschaftlichen Vorgaben „normal“ und rein persönlich erscheinen. Vor diesem Hintergrund erscheint das individuelle Handeln einer Person als Auswirkung des Machtdispositivs. In seinen philologisch-ethnographischen Analysen der Lingua Tertii Imperii und der vox populi stellt sich Klemperer die Aufgabe, den Machtdispositiven des Nationalsozialismus auf die Spur zu kommen, um sich eine tiefgründige Einsicht in die gesamtgesellschaftliche Grundlagenstruktur des Dritten Reichs zu verschaffen und dementsprechend die Haltung der Bevölkerung im Einzelnen zu kommentieren und zu erklären. Weitere Arbeiten, die aus einer linguistischer Perspektive Klemperers LTI-Überlegungen analysieren, wurden von Fischer-Hupe (2001a; 2001b), Kämper (1996; 1998; 2000; 2001) und Watt (2000; 2003) verfasst.17

017 In einer Reihe linguistischer Veröffentlichungen – wie zum Beispiel bei Ehlich (1998), Fuchs (1983), Militz (2001) und Watt (1998; 2001) – wird der Frage nachgegangen, auf welche Art und Weise Klemperer die kommunistische Sprache der DDR – die Lingua Quartii Imperii, wie er sie nennt – mit der diskursiven Struktur und der Lexik der NS-Sprache korreliert. Auch Klemperers ehemaliger Schüler und späterer Kollege Horst Heintze (2011: 93ff.) weist darauf hin, dass Klemperer das Weiterwirken der parteiideologischen Sprache auch in der DDR kritisch beobachtete.

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Literaturgeschichtliche Herangehensweise Im 1996 von Michael Nerlich herausgegebenen Themenheft der romanistischen Fachzeitschrift Lendemains befassen sich die Autoren vor allem mit Klemperers Verhältnis zu Frankreich, der französischen Literatur, der Aufklärung und der deutschen Romanistik. Die romanistische Herangehensweise stellt die fünfte Rezeptionsfigur in der Klemperer-Rezeption dar. Durand (2002) rückt in ihrem Beitrag den Blick auf das Rousseau-Bild Klemperers, Bock (1996), von Stackelberg (1997; 1998) und Schober (2004) untersuchen Klemperers Voltaire-Rezeption. Mass (1996) seinerseits geht der Frage nach, welchen Stellenwert Montesquieu im philologischen Werk des Romanisten einnimmt. Heintze (1998) geht dem Dante-Bild bei Klemperer nach, während bei Schröder (1996) das Interesse der Bedeutung der französischen Aufklärung in Victor Klemperers Werk gilt. Die meisten der romanistischen Beiträge versuchen Klemperers Werk in die Wissenschaftsgeschichte seines eigenen Faches, der Romanistik, einzubetten.

Pädagogische Herangehensweise Auch pädagogische Fachzeitschriften – wie beispielsweise Der Deutschunterricht – beschäftigen sich mit Victor Klemperers Tagebüchern. Die Aufzeichnungen sollen für den Deutsch- und Geschichtsunterricht geeignet sein, da universelle humane Themen wie Angst, Liebe, Enttäuschung, Unsicherheit etc. angesprochen werden. Damit wenden sie auch sich an Lehrer der Fächer Politische Bildung und Ethik sowie Religion. Andererseits bieten die Notizen detaillierte Information über den Alltag des Krieges und die nationalsozialistische Judenverfolgung. Die Tagebücher werden für den Geschichtsunterricht und die Jugendarbeit herangezogen, um die moralische Zentralstellung demokratischer Werte in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. Golz 2001: 23-25). Vor allem Ute Seidel und Karl-Heinz Siehr (1997; 1998; 2000) verfassten zusammen eine Reihe unterrichtspraktischer Aufsätze über die Einbindung der Klemperer-Tagebücher in den Gymnasialunterricht.18 Im Jahre 2001 gab Karl-Heinz Siehr vor diesem Hintergrund den spezifisch für Deutsch- und Geschichtslehrer konzipierten Sammelband Victor Klemperers Werk. Texte und Materialien für Lehrer heraus. Im Vorwort formuliert der Herausgeber das pädagogische Ziel des Bandes, der darauf fokussiere, „dass es für die heutige Schule in mehrfacher Hinsicht produktiv sein sollte, wenn sie sich Teilen des Werkes von Klemperer systematisch zuwendet und diese für den Unterricht aufbereitet.“ (Siehr 2001b: 7) Eine Auseinandersetzung mit Klemperers Aufzeichnungen in der Schule vermag, so Siehr weiter, „einen Beitrag für die Wertebildung der Schüler zu leisten.“ (ebd.: 10)

018 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass im Jahre 1997 im Aufbau-Verlag, bearbeitet von Harald Roth, unter dem Titel Das Tagebuch 1933-1945. Eine Auswahl für junge Leser die gekürzte Schulausgabe der Klemperer-Tagebücher, die im Anhang auch unterrichtspraktische Anregungen enthält, herausgegeben wurde. Vgl. hierzu Klemperer (1997).

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Rezeptionsanalytische Herangehensweise Eine siebte Figur schließlich, mit der die Forschung den Gründen für die rege, ja sogar begeisterte Aufnahme der Klemperer-Tagebücher in der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf die Spur zu kommen sucht, setzt auf eine gedächtnistheoretische Herangehensweise, um die aktuelle politische Bedeutung der Tagebücher für die Holocaust-Erinnerungskultur in der Berliner Republik zu erfassen. Vor allem Stuart Taberner (1999; 2005) und Paola Traverso (1997a; 1997b; 1997c; 2007) setzen sich auf besonders kritische Weise mit der aktuellen deutschen Erinnerungskultur auseinander, in deren Rahmen die Klemperer-Tagebücher eine höchst willkommene Bereicherung zu sein scheinen. Eine ähnliche Richtung verfolgen vor diesem Hintergrund auch Chamberlain (2000), Donahue (2001), Heim (1997; 2000) und Richards (1999). Von vereinzelten Arbeiten abgesehen19 sind bislang kaum Forschungserträge aus der Literaturwissenschaft in einen interdisziplinären Diskurs überführt worden. Gerade ein solches Vorgehen verspricht jedoch eine wechselseitige Erhellung der in der Forschungsliteratur bereits erarbeiteten Einzelergebnisse. Feste Größen wie der Autor, der Text, der Schreibakt, das Subjekt sollen als Konstrukte sichtbar gemacht werden, deren Bedeutung für eine kontextuelle Interpretation der Tagebücher immer wieder neu festzulegen ist. Dem Tagebuchschreiben wird hierin eine aktive Rolle zugestanden, indem seine Performativität in dem Sinne hervorgehoben wird, dass es die Identität des schreibenden Subjekts – verändernd oder bestätigend – mit gestalten kann. Dieser Forschungslücke sind bis jetzt noch keine Arbeiten über Victor Klemperers Tagebücher entgegengesetzt worden. Aus diesem Grund ist es wünschenswert, alternative Zugänge zum diaristischen Schreiben Klemperers zu erarbeiten und eine Brücke zwischen textimmanenter Methode und der sozialen Dimension der Tagebuchpraxis im Dritten Reich zu schlagen. Die vorliegende Untersuchung soll dazu beitragen, die Tendenz einer diskurs- und gattungsanalytischen Vertiefung innerhalb der Tagebuchforschung weiter zu verstärken, indem sowohl der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Klemperer-Werkes als auch den darin feststellbaren internen und kontextbedingten Textprozessen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Aufbau der Arbeit Der oben ausgeführte Forschungsüberblick, aus dem die tendenziell einseitige Hervorhebung des Dokument- bzw. Zeitzeugenschaftscharakters der KlempererTagebücher hervorgeht, begründet das programmatische Vorhaben dieser Arbeit,

019 In diesem Zusammenhang soll auf Denise Rüttingers 2011 publizierte Dissertation Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer hingewiesen werden. Kritische literaturwissenschaftliche Annäherungen an die Tagebücher Victor Klemperers liefern darüber hinaus auch Combes (2000), Faber (2005) und Wohlfarth (2000).

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sich den Notizen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive anzunähern, um neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Klemperer-Forschung zu gewinnen. Zunächst wird in der Diskussion um die Gattungsfrage des Tagebuchs das Problem von Faktizität und Fiktion – ein Disziplinarkonflikt zwischen Literaturund Geschichtswissenschaft – in den Mittelpunkt gestellt. In diesem gattungstheoretischen Teil werden vorläufig die Begriffe abgegrenzt, die die Untersuchung von „Tagebuch“, „Identität“ und „Alltag“ ermöglichen sollen. Nach den theoretischen Vorüberlegungen in Kapitel 2.1 wird danach – in 2.2 – die Doppeladressierbarkeit des Tagebuchs aus sowohl literatur- wie auch geschichtswissenschaftlicher Perspektive näher untersucht. Ferner wird in Kapitel 2.3 der performative, identitätskonstituierende Charakter des Tagebuchschreibens aufgezeigt. Die im zweiten Teil gewonnenen Einsichten sind unerlässlich, um den Prozess zu verstehen, im Zuge dessen die Tagebuchaufzeichnungen mit ihrem Kontext in Relation gesetzt werden. Um diesen Prozess offen zu legen, werden Klemperers Notizen als Metatext (3.1), als Schriftmedium (3.2) und als Interdiskurs (3.3) bezeichnet. In Kapitel 3.1 sollen die Schreibaufgaben und -intentionen, die Klemperer mit seinen Tagebüchern verband, herausgearbeitet werden. In Kapitel 3.2 wird das Tagebuch als schriftlich fixiertes Medium untersucht, das eine dreifache Spurensicherung lesbar macht: als ein Reflexionsmedium, in dem sich das Subjekt mit sich selbst (3.2.1), den Anderen (3.2.2) und der Zeitgeschichte (3.2.3) auseinandersetzt. In diesen drei Themenkomplexen, die ein leitmotivisches Kontinuum in Klemperers Aufzeichnungen bilden, tritt die subjektkonstituierende Funktion der Schrift hervor: Durch das Tagebuchschreiben orientiert sich das diaristische Ich in der ihm feindlichen Gesellschaft, vergewissert sich seiner selbst und verschafft sich eine historiographische Aufgabe. In Kapitel 3.3 wird eine synchrone Querschnittsanalyse der Tagebuchaufzeichnungen Victor Klemperers vorgenommen, indem sie über bestimmte Kollektivsymbole mit zeitgleich verfassten Texten verglichen werden. Diese Analyse des philosophischen (3.3.2) und literarischen Diskurses (3.3.3) eröffnet einen umfassenden Zugang zur Mentalität der NS-Zeit, im Hinblick sowohl auf die Deutschen als auch auf die (assimilierten) Juden. Im vierten Teil dieser Studie wird zum Schluss unter Rekurs auf Jan und Aleida Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses ein Erklärungsansatz für die enthusiastische Rezeption der Klemperer-Tagebücher in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1990er Jahre geliefert. In diesem Teil wird versucht, den Erfolg der Aufzeichnungen in der Verbindung von deutscher Kollektividentität und der „Normalisierung“ der deutschen Geschichte in der Post-Wende-Zeit zu verorten.

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2. DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: 2. ALLTAG UND IDENTITÄT

DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT

Wenn hier eine ausgewählte Anzahl von Argumentationen im Rahmen einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Annäherung an Victor Klemperers Tagebücher zusammengestellt wird und so die Frage nach der Gattungsbestimmung der Textsorte „Tagebuch“ in den Mittelpunkt rückt, so bedarf ein solches Unterfangen der vorläufigen Begriffsklärung, die ein Arbeiten am „Tagebuch“ erst ermöglicht. Mit dem Versuch, den Gattungsbegriff „Tagebuch“ zu umreißen, soll bereits darauf hingewiesen werden, dass ein solches Vorhaben sicherlich nur rudimentär bleiben kann. Beschäftigt man sich mit der – im Vergleich zur Gattung „Autobiographie“ – spärlichen Forschungsliteratur zum Tagebuch, so fällt tatsächlich auf, dass sich zwar relativ viele Arbeiten zur Geschichte und zu den formalen Merkmalen der Diaristik finden, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass ein generelles Theoriedefizit zu bestehen scheint. Darum soll im Folgenden ein notwendiger Schritt in Richtung einer kultur- und gattungstheoretischen Konzeptualisierung des Tagebuchs gesetzt und ein Modell entworfen werden, das die Kontextualisierung plausibel macht.20 Vor diesem Hintergrund mag es hilfreich sein, in knapper, fasslicher und möglichst klarer Weise Grundzüge der Tagebuchtheorie hervorzuheben, deren Eigenarten im deutschsprachigen Raum durch die Arbeiten von Peter Boerner (1969), Rüdiger Görner (1986), Ralph-Rainer Wuthenow (1990), Gustav René Hocke (1991) und auch Arno Dusini (2005) Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs fanden.21

020 In diesem Teil wird zur Formulierung einer Theorie des Tagebuchs durchgehend auf die bestehende Autobiographietheorie rekurriert, aus der bestimmte Aspekte – wie die Rezeptionsbedingungen oder das Verhältnis zwischen „Wahrheit“ und „Authentizität“ – kulturwissenschaftlich fruchtbar gemacht werden sollen. Aufgrund der besonderen Merkmale wird man dem Tagebuch kaum gerecht, wenn es lediglich – wie beispielsweise Jean Rousset (1983: 435) es bezeichnet – als „Untergattung der Autobiographie“ betrachtet wird. Das Tagebuch hat eine eigene Formen- und Funktionengeschichte, die sich von der Autobiographie unterscheidet und darum eine auf die Spezifika der Textsorte maßgeschneiderte Herangehensweise erfordert. 021 Im französischsprachigen Kulturraum, in dem die Werke bekannter Diaristen wie Jean-Frédéric Amiel, Jean-Jacques Rousseau, Benjamin Constant, Simone Weil, Jean-Paul Sartre, Michel Leiris und André Gide inzwischen zum literarischen Kanon zu gehören scheinen, wurde der Tagebuchliteratur in theoretischer Hinsicht früher und tiefgreifender Aufmerksamkeit geschenkt als im deutschsprachigen oder englischsprachigen Raum. Wichtige französische Studien, auf die im Rahmen der vorliegenden Arbeit Bezug genommen wird, sind beispielsweise Besançon (2002), Braud (2002; 2006), Didier (1975; 1976; 1983; 1988; 1998), Girard (1986), Gusdorf (1991; 1998), Hess (1998), Lejeune (1997a; 1997b; 1998; 2004; 2007), Le Rider (2002; 2003), Marty (1985), Pachet (1990) und Rousset (1986).

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DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT

Die Analyse von Tagebüchern stellt Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl sowohl literatur- als auch kulturwissenschaftlich hochaktueller Fragestellungen bereit. Im Tagebuch liegt eine höchst persönliche Interpretation des Alltags, des eigenen Lebens und des historischen Kontextes vor. Gerade das Verhältnis von Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung des Zeitgeschehens, von Zeitgeschichte und Individualgeschichte, eröffnet singulares, aussagekräftiges Quellenmaterial. Die genrespezifischen Besonderheiten des Tagebuchs setzen eine Herangehensweise voraus, die der Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit Rechnung trägt. Zur konkreten Veranschaulichung der gattungstheoretischen Überlegungen werden im Folgenden vielfach Beispiele aus Victor Klemperers Tagebüchern angeführt, um die Rückbindung der Gattungstheorie an die konkrete Analyse von Klemperers Diarien sicher zu stellen. Bei der wissenschaftlichen Annäherung an die Gattung Tagebuch begegnet man unterschiedlichen methodischen Problemen.22 Aufgrund der heterogenen Vielgestaltigkeit des Tagebuchs in formaler, thematischer und motivischer Hinsicht hat die literaturwissenschaftliche Forschung bis dato noch keine allgemeingültige Gattungstypologie hervorgebracht: Sie besitzt bis jetzt „Hinweis- nicht aber Definitionscharakter.“ (Wuthenow 1990: 8) Ein Großteil der gattungstheoretischen Annäherungen an das Tagebuch versäumt es, konsequent auf den Punkt zu bringen, wie im Tagebuch Literatur, Geschichte und Selbstbiographie ineinander greifen. Zu bemängeln ist die Einseitigkeit des Interpretationsrahmens, der durch die weitgehende Ausblendung interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Fragestellungen gekennzeichnet ist. Stattdessen dient das Tagebuch in der Regel lediglich der Untermauerung literaturgeschichtlicher und biographischer Thesen: „Vornehmlich werden Diarien als Werkkommentar, als autopoetologische Fundgrube oder als historisch-autobiographische Quelle wahrgenommen.“ (Heinrich-Korpys 2003: 72) Das Tagebuch wurde aber selten als mit der Autobiographie gleichberechtigter Untersuchungsgegenstand betrachtet und dementsprechend analysiert. Vor dem Hintergrund dieser Forschungslücke soll im Folgenden ansatzweise eine kulturwissenschaftliche Theorie des Tagebuchs erstellt werden, die als konzeptueller Leitfaden zur Kontextualisierung der Gattung gelten kann. Zunächst soll ein gattungstheoretischer und -historischer Zugang zum Tagebuch herausgearbeitet werden, der mit einer kritischen Würdigung des bisherigen 022 Das Tagebuch nimmt in der Regel auch in der aktuellen Literaturgeschichtsschreibung und wissenschaft als paraliterarische Gattung eine Außenstellung im literarischen System ein. Mit dem Hinweis auf das Tagebuch als „Paraliteratur“ wird auf den nichtkanonisierten Stellenwert der Gattung aufmerksam gemacht, weshalb das Tagebuch als zwischen Fakt und Fiktion zu verortender Gebrauchstext mit einem „traditionellen“ Literaturbegriff zuweilen schwer vereinbar scheint. Die möglichen Gründe für die Vernachlässigung des Genres könnten wie folgt auf den Punkt gebracht werden: „Die offensichtliche direkte Zeitbezogenheit des Diariums (als Buch vom Tage, über den Tag), die Rolle, die in ihm die historische Wirklichkeit spielt, die vérité des faits, die es weitgehend bestimmt, die unverhohlene Bedeutung des Privaten – all das ist mit dem traditionellen Literaturbegriff nicht zu fassen, der die Eigenwelt der Dichtung betont.“ (Vogelsang 1985: 185)

GATTUNGSTHEORIE UND TAGEBUCH

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Erkenntnisstandes der Tagebuchforschung einhergeht. Bisherige theoretische Positionen und vorliegende gattungstheoretische Befunde werden hinsichtlich ihrer Aussagekraft hinterfragt. Nach der Erläuterung zweier dominanter Gattungsspezifika des Tagebuchs – „Alltäglichkeit“ und „zeitnahe Selbstverschriftlichung“ – ist das Tagebuch schließlich von anderen selbstbiographischen Nachbargattungen wie Autobiographie, Brief, Memoiren und Chronik abzugrenzen. Danach wird das Diarium als hybrides Genre, das zwischen Literatur und Geschichte zu verorten ist, einer kritischen Analyse unterzogen. Das Augenmerk gilt hierbei unter anderem der hermeneutischen Bedeutung von Zeitzeugenschaft für die Interpretation des Tagebuchs. Darauf aufbauend werden, unter besonderer Berücksichtigung der Klemperer-Aufzeichnungen – in funktionaler und historischer Hinsicht –, die gattungsspezifischen Besonderheiten von Holocaust-Tagebüchern ins Zentrum gestellt. Die Gattung Tagebuch wird zum Schluss über den Zusammenhang von Diaristik und Identität anhand zweier Aspekte näher ausgeführt, um die Spezifik diaristischen Schreibens zu bestimmen: Einerseits werden die diskursive Bedingtheit der diaristischen Autorschaft und die sozialen Voraussetzungen personaler Identität, wie sie im Tagebuch zum Ausdruck gebracht wird, erörtert. Daneben wird auch dem narrativen Verhältnis zwischen empirischem und diaristischem Ich nachgegangen. Andererseits wird unter Rückgriff auf Michel Foucaults spätere Schriften auf die identitätsgestaltende Performativität des diaristischen „Sich-selbst-Schreibens“ als eine Praxis der „Sorge um sich“ fokussiert.

2.1 Gattungstheorie und Tagebuch GATTUNGSTHEORIE UND TAGEBUCH

2.1.1 Die Gattung Tagebuch Anhand der Skizzierung der wichtigsten Eckpunkte der Gattungstheorie soll ansatzweise ein Fundament für die kulturwissenschaftliche Untersuchung von Tagebüchern geschaffen werden. Dass zu diesem Thema nur sehr wenige Untersuchungen vorliegen, deutet vor allem darauf hin, dass sich der Versuch einer literaturwissenschaftlichen Annäherung an die Gattung als problematisch erweist. Zum einen ist die Begrifflichkeit von „Tagebuch“ nicht vollkommen geklärt, zum anderen fällt die Gattung Tagebuch oft als nichtliterarisches Objekt aus dem Blick des traditionellen Kanons. Das im Folgenden vertretene Gattungskonzept ist nun keineswegs als ontologische Kategorie zu verstehen, sondern wird in seiner institutionellen Funktion für die Literaturwissenschaft entwickelt, d.h. als ein für die Wissenschaft notwendiges Klassifizierungsinstrument, das zur diskursiven Strukturierung von literarischen Textsorten unabdingbar ist (vgl. Schabacher 2007: 13). Die Gattung ist vor diesem Hintergrund nicht nur ein heuristisches Konzept, sondern auch eine normative Kategorie, insofern als Texte aufgrund der innerhalb einer Disziplin festgelegten Merkmale einer bestimmten Gattung zu-

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DIE KONTEXTUALISIERUNG DES TAGEBUCHS: ALLTAG UND IDENTITÄT

gewiesen werden. Eine Gattungstheorie soll es sich daher zum Ziel setzen, eine klar konturierte Gattungsdefinition herauszuarbeiten, um innerhalb eines Gattungsfeldes generisch-historische Evolutionen und intertextuelle Bezüge feststellen zu können: Jenseits von metaphysischen Rückbindungen läßt sich auf pragmatischer Ebene festhalten, daß Literaturwissenschaft, deren Aufgabe auch die Klassifikation ist, darauf angewiesen ist, bearbeitbare Einheiten zu konstruieren, und dies geht offensichtlich recht gut auch über Gattungsbegriffe. Man schafft auf diese Weise Kontexte für Texte, stellt Vergleichbarkeiten her und ermöglicht historische Reihungen. (Dainat und Kruckis 1995: 136)

Nicht nur die diachrone bzw. paradigmatische Textvergleichbarkeit macht den Hauptzweck einer theoretischen Annäherung an die Gattungsfrage aus, sondern diese soll ebenfalls, wie es Marie-Laure Ryan (1981: 112) unterstreicht, stets die präreflexive Grundlage „intuitiver“ Gattungsunterscheidungen explizit machen: „Die Bedeutung von Gattungskategorien besteht [...] in ihrem kognitiven und kulturellen Wert, und das Ziel einer Gattungstheorie ist es, das implizite Wissen der Anwender von Gattungen auszulegen.“23 Eine gattungsanalytische Untersuchung des Tagebuchs sollte aber auf theoretischer Ebene stets der Kontingenz jeglicher Genrekategorisierung Rechnung tragen: Das grundlegende Problem der Gattungstheorie liegt darin, überzeitliche Charakteristika für eine Gattung angeben zu müssen, um historische Ausprägungen unter einen Gattungsbegriff subsumieren zu können. Gattungen sind keine vorgegebenen Formen, in denen sich Texte realisieren, sondern vielmehr wissenschaftliche Konstruktionen, mit denen es gelingen kann, bestimmte Formen von Texten – sozusagen ex post – zu beobachten. Gattungsbegriffen haftet deshalb immer eine gewisse Kontingenz an, die jedem literarischen Objekt immanent ist, sie sind immer formale Merkmalkombinationen, die durchaus auch anders ausfallen könnten. Rüdiger Zymner (2003) und Wilhelm Voßkamp (1977) folgend sind Gattungen als historisch-soziale Institutionen und damit auch als eine Form von „Sinnbildungsmustern“ (vgl. Zymner 2003: 133) zu verstehen, die für den Autor wie auch für den Leser eine stabilisierende Funktion zu erfüllen haben. Entgegen einem ontologisch-anthropologischen oder bloß literaturimmanenten Gattungsbegriff können Gattungen vielmehr in systemtheoretischer Hinsicht als „historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen, d.i. als soziokulturelle Phänomene“ (Voßkamp 1977: 27) begriffen werden.24 023 Im Aufsatz „Die Formen der Macht und die Macht der Formen in der englischen Renaissance“ legt Stephen Greenblatt (2001a: 33) nahe, dass eine Gattungsbestimmung für kulturwissenschaftliche Fragestellungen von wesentlichem Belang ist. Die „kollektiven gesellschaftlichen Konstruktionen definieren einerseits das Spektrum ästhetischer Möglichkeiten in einem gegebenen Modus andererseits mit dem komplexen Netzwerk von Institutionen, Praktiken und Anschauungen, die die Kultur als ganze konstituieren. So gesehen bedeutet die Untersuchung von Gattungen eine Erkundung der Poetik von Kultur.“ 024 Gattungen stellen vor diesem Hintergrund stets literaturwissenschaftliche Abstraktionen dar, die, so die Hypothese van Gorps und Musarra-Schroeders (2000), als dynamische Aushandlun-

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Neben der Rekonstruktion bestehender Gattungsbegriffe, so hebt Dieter Lamping (1997: 661) im Hinblick auf das literaturwissenschaftliche Programm einer adäquaten Gattungstheorie hervor, ist „auch die sinnvolle Konstruktion von Begriffen für bislang nicht erforschte Textgruppen eine Aufgabe der Gattungstheorie.“ Eine solche Textgruppe, die aufgrund ihres weitgehend ungeklärten Status zwischen literarischer und dokumentarischer Textqualität von der Literaturwissenschaft bis jetzt nur in Ansätzen erforscht wurde, ist das Tagebuch, dem im Folgenden aus genretheoretischer Perspektive das Interesse gilt. „Was ein Tagebuch ist, meint jeder sofort zu wissen,“ bemerkt Ralph-Rainer Wuthenow (1990: 1) in der Einführung zu seiner Studie Europäische Tagebücher.25 Der unreflektierte normalsprachliche Gebrauch des Begriffs „Tagebuch“ steht jedoch in starkem Gegensatz zur schwierigen Definition dieser Gattung, die sich gerade durch ihr multigenerisches Potential und ihre narrative Fragmentierung auszeichnet.26 Wie im nachfolgenden Zitat von Roland Barthes wird die Gattung Tagebuch aufgrund ihrer grundlegenden Privatheit und inhaltlichen wie formalen Offenheit häufig als problematisch und paradox, als contradictio in terminis, bezeichnet:27

gen des kulturellen Gedächtnisses zu begreifen seien. Die Gattung konstituiert sich durch intertextuelle Referenzen auf – inhaltlich und formal – analoge Texte, über die sie eine – wie auch immer zu definierende – Textreihe bildet: „Bei allen Gattungen gehört Intertextualität zu den konstitutiven Merkmalen: Gattungen bestehen aus Texten, die ihren Zusammenhang als Reihe oder Gruppe dadurch erhalten, daß sie aufeinander bezogen sind, und die ihre Bezogenheit auf andere Texte in der Regel durch deutliche, von jedem Rezipienten zu lesende Signale und Markierungen zum Ausdruck bringen.“ (Suerbaum 1985: 58f.) So verstanden ist die Gattung nicht (nur) das Beziehungsnetz von Bezügen zwischen einzelnen, konkreten Texten, vielmehr handelt es sich um einen Code, der bestimmen Textreihen zugrunde liegt. 025 Als formale Kriterien für das Tagebuch nennt Peter Boerner (1969: 118) die folgenden Aspekte: fortlaufende, chronologische, relativ regelmäßige Aufzeichnungen mit Kalenderdaten überschriftet; Wiedergabe von alltagsorientierten und erfahrungsunmittelbaren Augenblickssituationen; fragmentarischer und aphoristischer Reflexionscharakter. 026 Brigitte Galtier (1997: 8) betont vor diesem Hintergrund die textuelle Vielgestaltigkeit bzw. Offenheit als generisches Hauptmerkmal des Tagebuchs, „dessen einziges Gesetz darin zu bestehen scheint, sich jeglicher etablierten Gattungsdefinition zu entziehen.“ Das Tagebuch ist in der Tat nicht ohne Weiteres der traditionellen Dreiheit von Dramatik, Lyrik und erzählender Prosa zuzuordnen, aber die immer wieder festgestellte Fragmenthaftigkeit der Textsorte soll allerdings nicht dazu führen, das Tagebuch ex negativo über seine postulierte Undefinierbarkeit genremäßig einzuordnen, wie dies beispielsweise bei Béatrice Didier der Fall zu sein scheint: „Die diaristische Schreibweise widersetzt sich […] jeglicher Organisation. Es handelt sich um eine Schreibweise, die im Register des Brüchigen, des Ephemeren angesiedelt ist.“ (Didier 1983: 168; vgl. Didier 1998: 455) Solche negativen Gattungsdefinitionen versäumen es, so glaube ich, sich der textuellen Verfasstheit des Tagebuchs anzunähern und sich textanalytisch und poetologisch mit ihm auseinanderzusetzen. 027 Ähnlich definiert Paul de Man in „Autobiographie als Maskenspiel“ die Autobiographie nicht als eine Gattung oder Textsorte, sondern vielmehr als „eine Lese- oder Verstehensfigur“, die gattungsübergreifend in nahezu allen Texten vorkommen kann (de Man 1993: 134). Eine Unterscheidung zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Repräsentation in autobiographischen Texten sei wegen der rhetorischen Struktur der Sprache prinzipiell unmöglich. Als Trope der Autobiographie benennt de Man deswegen die „Prosopopöie“: „Die dominierende rhetorische

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Das Tagebuch ist eine paradoxe Gattung: begriffen als die reinste und die freieste schriftliche Übung der Subjektivität, [...] gleichgültig, um nicht zu sagen störrisch gegenüber der Veröffentlichung [...] hat sie sich nichtsdestoweniger, unter dem Druck der Geschichte und der Gesellschaft schnell als eine vollgültige literarische Gattung konstituiert: das Paradox des Tagebuchs ist eben die Tatsache, eine Gattung zu sein. (Barthes 1994: 56)

Die serielle, offene Aufzeichnungsform des Tagebuchs erlaubt es nicht, aufgefundene Widersprüche und Dissonanzen in einen übergeordneten Sinnzusammenhang zu überführen. Der von Manfred Jurgensen in seiner Arbeit Das fiktionale Ich (1979) in Anlehnung an Roland Barthes geäußerten Feststellung, dass es für Tagebücher keine verbindliche Gattungspoetik gebe, und „jeder Versuch einer dogmatischen-präzisen Definition [...] daher sinnlos“ erscheine (Jurgensen 1979: 10), steht aber die Beobachtung entgegen, dass es trotz der schier unerschöpflichen Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten Strukturen, oder – mit Wittgenstein – „Familienähnlichkeiten“ gibt, die nahezu allen Tagebüchern gemeinsam sind. Eine literaturwissenschaftlich angelegte Zusammenschau der charakteristischen Definitionsmerkmale diaristischen Schreibens sowie eine eingehende Analyse von Formen und Funktionen des modernen Tagebuchs steht damit noch weitgehend aus. Trotz des großen Erfolges der Tagebücher von Autoren wie Marie Bashkirtseff, Franz Kafka, Anais Nin, Witold Gombrowicz, Anne Frank oder Victor Klemperer hat die literaturwissenschaftliche Forschung der Textsorte Tagebuch als solcher – d.h. unabhängig von der Autobiographie – bislang kaum Beachtung geschenkt. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf die Frage nach den künstlerischen Qualitäten bzw. den Voraussetzungen diaristischer Literarizität. Diese Eingrenzung führte einerseits – wie in der traditionellen Autobiographieforschung – zur Zuspitzung der Kontroverse um die Frage, ob Tagebücher sich in erster Linie durch ihren dokumentarischen oder ihren literarischen Charakter auszeichnen, andererseits zur Etablierung eines diaristischen Kanons der so genannten literarischen Tagebücher.28 Allerdings fehlt bislang eine systematische Darstellung der historischen Erscheinungsformen sowie eine typologische Erfassung der Textsorte. Umso wichtiger erscheint es, sich dem Problemkomplex „Tagebuch“ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern: Grundbegriffe wie Text und Kontext, die Frage der Authentizität und das Problem der Autorschaft machen die Figur des epitaphischen oder autobiographischen Diskurses ist [...] die Prosopopöie, die Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes.“ (ebd.: 141) 028 Ein Großteil der bisher von der Forschung unternommenen Versuche, die Gattung „Tagebuch“ zu systematisieren, sind letztlich Vereinheitlichungsversuche. Sie tendieren folglich dazu, das Gebiet künstlich einzugrenzen und die „Wildpflanze Tagebuch“ zu domestizieren (Thomsen 1994: 183). In der Praxis haben die meisten Werke der Diaristikforschung nämlich eine Tendenz dazu, sowohl die Vielfalt des Feldes als auch die Multidiskursivität bzw. die kontextuelle Einbettung des Textes zu vernachlässigen, indem die Tagebücher als authentische Dokumente eines Individuums betrachtet werden. Ausnahmen bilden in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Dusini (2005) und Braud (2006).

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Beschäftigung mit dem Tagebuch zu einer Beschäftigung mit elementaren zugleich literatur- und kulturwissenschaftlichen Problemkomplexen. Die Struktur von Tagebuchtexten stellt in ihrer Spezifizität einen wichtigen Untersuchungsaspekt dar, der insbesondere bei der Fokussierung auf den Alltäglichkeitsmodus des Tagebuchschreibens und die textuelle Verfasstheit diaristischer Selbstkonstruktionen nicht vernachlässigt werden sollte. Der Erörterung der zwei hervorstechenden Charakteristika der Gattung Tagebuch29 – Alltäglichkeit und zeitnahe Selbstverschriftlichung – wird zunächst eine historische Darstellung des Genres vorangestellt, um der gattungsgeschichtlichen Frage nachzugehen, unter welchen gesellschaftlichen Umständen sich die Praxis des Tagebuchschreibens etablieren konnte.

2.1.2 Funktionen diaristischen Schreibens aus historischer Perspektive30 Obwohl sich die Entwicklungslinien des Tagebuchs über Renaissance und Mittelalter bis in die Antike zurückverfolgen lassen – man denke an die Hypomnemata, Ephemeriden, Annalen –31, liegen ihre modernen Wurzeln doch im Zeitalter der Verbürgerlichung. So ist um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine regelrechte diaristische „Aufbruchstimmung“ zu verzeichnen, die sich in der Entwicklung des Tagebuchs zur Darstellung des Gefühlslebens niederschlägt.32 Mit der Herausbildung von Subjektivität, Selbstreflexion und Selbstanalyse, verstärkt insbesondere im deutschen Pietismus, kommen die Tagebuchaufzeichnung und mit ihr zugleich die Autobiographie und Memoirenliteratur zunehmend in Mode.33 029 Aus Raumgründen kann hier nicht versucht werden, die enorme Bandbreite verschiedener Formen und Funktionen des modernen Tagebuchs typologisch aufzufächern oder eine systematische Übersicht der jüngeren Tagebuchforschung zu liefern. 030 Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gattung Tagebuch ist natürlich zu bedenken, dass die Geschichte einer Gattung, wie auch Rüdiger Zymner bemerkt, stets nur idealtypisch zu rekonstruieren ist: „In keinem Fall gibt es die Geschichte einer Gattung, sondern immer bloß eine Geschichte einer Gattung (und möglicherweise eben auch viele Geschichten zu einer Gattung).“ (Zymner 2003: 198) 031 Zum Zusammenhang zwischen modernem Tagebuch und den antiken Schriften des Selbst vgl. z.B. Baldassarri (1985: 29f.). 032 Im 18. Jahrhundert kam es, wie Isa Schikorsky (1990: 54) aus literaturhistorischer Perspektive darlegt, zu einer erheblichen Statuserhöhung bürgerlicher Schreibkultur. Das selbstbiographische Schreiben „erlangte als Ausdruck bürgerlicher gebildeter Lebensart einen hohen Prestigewert. In der Epoche des Sturm und Drang, der Empfindsamkeit und des Pietismus waren insbesondere Briefe, Tagebücher und Lebenserinnerungen bevorzugte Ausdrucksmittel, die, in wechselseitiger Beeinflussung von privaten, öffentlichen und/oder literarischen Formen, den Zeitgeist und das Selbstbewußtsein des aufstrebenden Bürgertums prägten und repräsentierten.“ In dieser Epoche kam der Diaristik die Bedeutung zu, die eigene Seele entlang den vorherrschenden Maximen von Moral und Sittlichkeit zu erforschen und zu läutern. 033 Cornelia Bohn und Alois Hahn datieren den Anfang der in autobiographischen Texten verschriftlichten biographischen Reflexion gleichfalls ins 18. Jahrhundert: „Man könnte von der Geburt der Autobiographie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung sprechen.“ (Bohn und

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In „Coulisses“ (1987: 455f.) untersucht Alain Corbin die beachtliche, seit Anfang des 19. Jahrhunderts auftretende Ausbreitung des säkularisierten Verfahrens der Gewissenserforschung parallel zum Niedergang der Anzahl von praktizierenden Gläubigen. Er hebt in diesem Kontext hervor, dass die Zunahme der sozialen Mobilität ein Gefühl der Unsicherheit ausgelöst und die fortschreitende Urbanisierung die zwischenmenschlichen Beziehungen verändert hatte, so dass das Tagebuch mehr und mehr als eine Zuflucht erschien, in der man das Vergnügen an der Intimität auskostete. Die Praxis des Tagebuchschreibens verbreitete sich in dieser Epoche in der gesamten Bourgeoisie und im Kleinbürgertum. In dieser Hinsicht charakterisiert der Kulturhistoriker Peter Gay in The Bourgeois Experience (1984: 447f.) das Tagebuch als Medium der Sozialisation einer bürgerlichen Identität, indem es Privatheit, Intimität und Verschwiegenheit sowie die Möglichkeit der Selbstkontrolle und Sublimierung garantierte. Im Gegensatz zum ausschließlich introspektiven „Seelentagebuch“ entwickelte sich das moderne Tagebuch (wie beispielsweise bei Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Henri-Frédéric Amiel, André Gide) mehr und mehr zu einem strategischen Protokoll einer Zeitzeugenschaft. Die Gattung ist also keine transhistorische, sondern eine kulturell bedingte Kommunikationsform und als solche anpassungsfähig. Der für die moderne Diaristik typischen Selbstverortung im gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Kontext wohnt der Wunsch des Tagebuchautors inne, sich als Subjekt in einer säkularisierten Welt zu positionieren. Tagebücher sind daher mindestens in zweifacher Hinsicht „kodiert“: Sie sind sowohl Medium der „Selbstvergewisserung“ als auch der „Zeitgenossenschaft“ (vgl. Sader 1996: 29f.). Aufgrund dieser besonderen Merkmale wird man dem Tagebuch als Gattung kaum gerecht, wenn man es lediglich als Unterklasse bzw. Vorstufe der Autobiographie definiert. Das Tagebuch stellt im Grunde ein gegenläufiges Konzept zur klassischen Autobiographie dar, da es in erster Linie der Artikulation von Vielfältigkeit des widersprüchlichen und instabilen Selbst dient. Das Festhalten von Serien aktueller Ereignisse steht im Widerspruch zur homogenisierenden Perspektive auf die Ich-Vergangenheit, die in der Autobiographie oftmals angestrebt wird.34 Die zeitnahe Niederschrift des Erlebten, ein typisches Merkmal des Tagebuchs, drückt Victor Klemperer in LTI beispielsweise folgendermaßen aus: „[Das Tagebuch] habe ich wirklich von Tag zu Tag unter dem frischen Eindruck der Dinge und mit dem Klang des Gehörten im Ohr geschrieben.“ (LTI: 272)

Hahn 1999: 41) Vor diesem Hintergrund bezeichnet Vogelsang (1985: 187) das Tagebuch als „Medium des Fragmentarischen“. 034 Im Gegensatz zum Tagebuch ist der Autobiographie in der Schilderung der Vergangenheit die Reflexionsebene der Gegenwart eingeschrieben. Durch dieses Durcheinandergeraten der Zeitfolge infolge der Inversion der Zeit erweisen sich die Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart in der Autobiographie als quasi ununterscheidbar. Zum Unterschied zwischen Tagebuch und Autobiographie sei in diesem Rahmen vor allem auf Heinrich-Korpys (2003: 72f.) und Mildonian (2001: 24f.) verwiesen.

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Der Tagebuchschreibende kann Erlebnisse bzw. Stimmungen festhalten, um eine Fiktion des kohärenten, stabilen Selbst zu produzieren, er kann aber im diaristischen Prozess auch erkennen, dass das Ich von heute nicht mit dem von gestern identisch ist. Die transitorische Identität, der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse, wie ihn Renn und Straub (2002: 13) beschreiben, deutet auf „die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen [...] Identität.“ Die Konstrukthaftigkeit der Subjektivität in der Moderne trifft a forterio auch für den Bereich des modernen Tagebuchs zu. Im Rahmen kulturwissenschaftlicher Reflexion des modernen Subjektivitätsund Identitätsbegriffs findet die Vorstellung des diaristischen Schreibens als Subjektivierungstechnik eine Zuspitzung. In ihrem Aufsatz „Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft“ (1999) bringen Cornelia Bohn und Alois Hahn unter systemtheoretischem Blickwinkel selbstbiographisches Schreiben mit dem Problem der Selbsterzeugung von persönlicher Identität in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften in Verbindung: Die funktionale Differenzierung führt dazu, daß für das Individuum als Ganzes in den Subsystemen kein ‚Platz‘ ist und auch keine ‚Stelle‘ vorgesehen sein kann. Es wechselt sozusagen von Situation zu Situation seine ‚Identität‘, je nachdem, ob es sich als Zahler, als Patient, als Student, als Ehefrau usw. engagiert. (Bohn und Hahn 1999: 53)

Diese funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften führte dazu, wie auch Charles Taylor in Quellen des Selbst (1994: 330-353) bemerkt, dass das Subjekt seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts in abnehmendem Maße in traditionellen Strukturen eingebettet und durch die wachsende persönliche Autonomie zunehmend dazu angehalten war, sein Selbst zu konstruieren. Dieser Prozess der Selbstaffirmation eines sich selbst erfindenden Subjekts konkretisiert sich exemplarisch im Tagebuch. Das Tagebuch kommt funktional dem Bedürfnis des Menschen in einer modernen Gesellschaft nach, sich dem ‚stählernen Gehäuse der Hörigkeit‘ (Max Weber) zu entziehen und erzeugt auf diese Weise die Illusion eines einheitlichen, selbstidentischen Subjekts, ohne jedoch die Funktion eines transparenten Ausdrucksmediums zu erfüllen. Subjektkonstitutionen sind immer diskursiv bedingt – auch im vermeintlich unmittelbaren Medium des Tagebuchs. Das diaristische Ich konstituiert sich – zumindest teilweise – im Akt des Tagebuchschreibens selbst (vgl. Marszałek 2003: 28f.).35 Wie Jerzy Lis in „Lecture et imitation“ (2000: 355f.) hervorhebt, reagiert das autobiographische Aufzeichnungsmedium Tagebuch in besonderer Weise auf die 035 Ausgehend von dem Begriff der Automedialität weisen Christian Moser und Jörg Dünne in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der „medialen Entäußerung“ zur Herstellung eines Selbstbezugs: „Es gibt kein Selbst ohne einen reflexiven Selbstbezug, es gibt keinen Selbstbezug ohne den Rekurs auf die Äußerlichkeit eines technischen Mediums, das dem Individuum einen Spielraum der ‚Selbstpraxis‘ eröffnet.“ (Moser und Dünne 2008: 13)

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Krisenerfahrungen der Moderne, auf die Erfahrungen des Verflüssigens von Subjekt, Zeit und Realität. Aus diesem Grund, so schließt auch Konstanze Fliedl (1997: 38f.) in ihrer Analyse von Arthur Schnitzlers Tagebüchern, weckt die Erfahrung der beschleunigten Zeit das Interesse am Festhalten von Spuren, an der Verschriftlichung von Ereignissen, Sachen und Personen: Die Gedächtniskrise löste eine Flut autobiographischer und diaristischer Schriften aus, die der „verlorene[n] Einheit des Lebens“ in der Moderne Ausdruck verleihen (Wuthenow 1990: 16). Die Poetik dieser Ich-Dokumente stellt eine narrative Phänomenologie von Momenten aus dem Alltagsleben dar, ohne Leitthema oder Endziel, ohne begriffliche Metasprache. Das Tagebuch fungiert vor diesem Hintergrund als sozialhistorisches Gedächtnis, das aufbewahrt, was die Technostruktur ausschließt, vernichtet oder vereinheitlicht. Eine der prominentesten Funktionen dieses Aufschreibemediums ist die des künftigen Erinnerns: Die tägliche Aufzeichnung ist das Einschreiben, die Lektüre ist das Abrufen von Inhalten. Das Tagebuch dient zur schriftlichen Fixierung von Anhaltspunkten, der Notierung von Beobachtungen und Eindrücken und kann folglich als „höchst subjektive[r] Ort des Gedächtnisses“ verstanden werden (Wunberg 2001: 223).36 Im Tagebuch wird das Gewesene archiviert und zwar ausgehend vom strengen Kalendarium, das dem Festgehaltenen einen stabilen Rahmen gibt.37 Täglichkeit und Alltäglichkeit sind in diesem Sinne im Tagebuch also unauflöslich miteinander verbunden.

2.1.3 Zeit und Schrift: Charakteristika der Gattung Tagebuch 2.1.3.1 Alltäglichkeit Das Tagebuch, so die These der folgenden Ausführungen, verleiht dem Alltäglichen eine Bedeutung, die ihm von anderen, benachbarten autobiographischen Gattungen (wie Bekenntnis, Autobiographie, Chronik, Memoiren), in denen das Leben als einheitliches Ganzes konfiguriert wird, in dieser Art nicht zugestanden wird. In seinem Aufsatz „Le journal intime et le récit“, der 1959 erstmals in Le Livre à venir veröffentlicht wurde, bezeichnet Blanchot die Einträge im Tagebuch

036 Die Gattung Tagebuch ist, so Sylvie Brodziak (1999) in „Mémoire individuelle et mémoire collective dans le journal intime“, ein Ort des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses. In diesem Zusammenhang stellt auch Martina Wagner-Egelhaaf (2000: 14) fest: „Für die Autobiographie [und das Tagebuch, A.S.] bedeutet dies, dass zum einen der autobiographische Text selbst als räumliche Anlage eines Gedächtnismusters fungiert, das bestimmte Inhalte an eine textuelle Topographie bindet [...], und dass zum anderen der individuelle autobiographische Text die im kulturellen Gedächtnis abgelegten Imagines aufruft und auf diese Weise das individuelle Gedächtnis aus dem kollektiven [...] speist.“ 037 In seiner 1999 an der Universität Wien vorgelegten Dissertation weist Peter Plener auf die strukturbildende Funktion des täglichen Schreibens hin: „Eine zentrale Funktion des Tagebuchs ist die des damit gestifteten Erinnerungspotentials, der TAG für TAG gelegten Erinnerungsspur.“ (Plener 1999: 6 [Versalien im Original]; vgl. Görner 1986: 12)

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als datierte Mikrotexte, in denen das Alltägliche bzw. Unbedeutende zu einer herausragenden Bedeutung kommt: Im Unbedeutenden liegt der eigentliche Reiz des Tagebuchs. Dahin geht seine Neigung, seine Gesetzmäßigkeit. Jeden Tag schreiben, indem der Tag für das Geschriebene bürgt und ihn sich selber ins Gedächtnis bringt, ist eine bequeme Art, dem Schweigen zu entkommen, aber zugleich auch dem übermäßigen Anspruch des Wortes zu entrinnen. (Blanchot 1988: 254)

Die Gattung Tagebuch verfügt tatsächlich über spezifische Mittel, den Blick konzentriert auf das Alltägliche bzw. auf alltägliche Begebenheiten zu lenken. Bedingt durch die für das Genre konstitutive an den Tag gebundene Entstehung der einzelnen Aufzeichnungen haftet Tagebüchern (stärker als beispielsweise Autobiographien oder Memoiren, die im Nachhinein verfasst werden und damit bereits eine bestimmte Distanz zum Erlebten suggerieren) ein – wie Peter Boerner (1969: 52) es ausdrückt – „Geruch der Authentizität“ an. Das Tagebuch setzt sich von der Autobiographie ab, indem es sich durch „größere Erlebnisnähe und das Fehlen urteilender Zusammenschau und Distanz“ charakterisiert, so Boerner weiter (vgl. ebd.: 12f.). Nachträgliche Glättungen, Korrekturen oder Streichungen durch den Tagebuchautor bilden die Ausnahme. Im Journal fallen Erleben und Schreiben idealerweise zusammen; die Erfahrungsunmittelbarkeit der von Tag zu Tag festgehaltenen Aufzeichnungen ist ein zentrales Merkmal dieser Textgattung: Es scheint so, als wäre das Erleben selbst vom Tagebuchschreiben überlagert.38 Das Tagebuch, gekennzeichnet durch die Erlebnisnähe der Einträge, erzählt aber nicht nur von täglich Erlebtem, es gestaltet seine Erzählung auch in Tagen: Der Tag, den wir als Zeiteinheit wahrzunehmen gewohnt sind, stellt sich im Tagebuch als kohärente Texteinheit dar (vgl. ebd.: 11). In diesem Zusammenhang sei auf die strukturierende Funktion des Datums im Tagebuch hingewiesen: Die zeitliche Angabe umrahmt jeden einzelnen Eintrag; den Kopf der Eintragung darstellend, fungiert die Datumszeile als gliederndes, rückwärts wie vorwärts wirksames Element. In Die wesentliche Einsamkeit schreibt Maurice Blanchot: „Das Tagebuch verwurzelt die Regung zu schreiben in der Zeit, in der Demütigkeit des datierten und durch sein Datum aufbewahrten Alltäglichen.“ (Blanchot 1984: 22) Die Zeit im Tagebuch ist daher als textierte Zeit zu begreifen. Dieser Sachverhalt, so selbstverständlich er erscheinen mag, ist eine grundlegende und oft ver038 In diesem Zusammenhang erscheint eine saubere Trennung zwischen ‚echtem‘ und ‚fiktivem‘ Tagebuch problematisch (vgl. Boerner 1969: 27). In Anlehnung an Käte Hamburger könnte man das Augenmerk vielmehr auf eine dritte Kategorie, das Fingierte, richten. Somit erweist sich das Tagebuch als eine narrative Form, die durch die fiction du non-fictif (vgl. Rousset 1986: 75) ihre Schriftlichkeit und gleichzeitig ihren Authentizitätsanspruch in den Vordergrund stellt. Michel Braud (2002: 82f.) macht vor diesem Hintergrund ebenfalls darauf aufmerksam, dass der Schriftlichkeit des Tagebuchs stets zwangsläufig ein gewissermaßen ästhetischer Fabuliergrad, eine mise en intrigue (sensu Paul Ricoeur) zugrunde liegt. Die sprachliche, autobiographische Darstellung des Erlebten entspricht nie vollkommen der außertextuellen Wirklichkeit, immer handelt es sich um eine narrative Erfindung durch ein kontingentes Ich.

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nachlässigte Bedingung des Tagebuchschreibens selbst (vgl. Dusini 2005: 83108). Das Tagebuch unterteilt das zeitliche Kontinuum in viele kleine Segmente – tägliche Einträge –, die zum mikrohistorischen Kaleidoskop komponiert werden. In Le livre à venir beschreibt Blanchot die Praxis des täglichen Tagebuchführens folgendermaßen: Sein Tagebuch schreiben heißt sich für den Augenblick in den Schutz des allgemeinen Tagablaufes begeben, heißt sein Schreiben diesem Schutz unterstellen und heißt ebenfalls, sich vor dem Schreiben schützen, indem man sich dieser wohltuenden Regelmäßigkeit unterwirft, wider die nicht zu verstoßen man sich verpflichtet. Auf diese Weise faßt das Geschriebene, ob man will oder nicht, Wurzel im Täglichen und in einer durch das Tägliche begrenzten Blickrichtung. (Blanchot 1988: 251)

Die „begrenzte“ zeitliche Orientierung an der strukturellen Maßeinheit Tag erlaubt eine Dialogmöglichkeit über das einzelne Tagebuch hinaus, indem das Datum jedes einzelnen Eintrags eine bestimmte Zeitspanne bezeichnet, die auf einer Zeitlinie eindeutig identifizierbar ist (vgl. Boerner 1969: 11; Brodziak 1999: 65; Dusini 2005: 174; Heinrich-Korpys 2003: 85; Lejeune 1998: 318; zur Nieden 1993: 53). Diese Systematisierung der allgemeinen Zeit als eigene im Tagebuch dient der Selbstvergewisserung, der ad hoc-Standortbestimmung des Autors (vgl. Didier 1976: 172f.; Wunberg 2001: 233).39 Die Tagebuchaufzeichnungen, denen das Streben des schreibenden Subjekts nach Orientierung zugrunde liegt, haben etwas von einer Buchführung, denn sie „folgen systematisch dem alltäglichen Ablauf, sind Bestandsaufnahme, Inventur, Werkstattbericht, charakterisieren die persönliche Situation, die Lebens-Stationen, die Zeitereignisse sowie den Fortgang der Arbeit, mit großer Genauigkeit in den Details, in den Zeit- und Ortsangaben.“ (Laemmle 1995: 190) Das Tagebuch kann dementsprechend als Archiv des Alltags verstanden werden, denn das inventarisierende Schreibverfahren des Diaristen beruht im Allgemeinen auf dem Drang, sich vor Amnesie zu schützen (vgl. Heinz 2004: 17). Diese Erfahrungsunmittelbarkeit und Verschriftlichung scheinbarer Banalitäten bilden Themenkreise, die fast allen Tagebüchern gemeinsam sind. In seinem Tagebuch aus dem Jahre 1911 trägt Franz Kafka nach der Lektüre von Goethes Tagebüchern Folgendes ein: Ein Mensch der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn dieser z.B. in Goethes Tagebuch liest, daß dieser am II. Januar 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt war, so

039 Im Aufsatz „Pourquoi dater ses pensées?“, in dem die Tagebücher Joseph Jouberts untersucht werden, macht Pierre Pachet (2001) dementsprechend darauf aufmerksam, dass die konsequente Datierung jedes einzelnen Tagebucheintrags eine Verbindung von privatem und kollektivem Leben herstellt. Auf diese Weise, meint Pachet, wird jeder verzeichnete Tag zum erinnerungswürdigen „Ereignis“ des Privatlebens, das in Konnex zur öffentlichen Umwelt gebracht werden kann. Der Tagebuchautor affirmiert somit, dass sein „persönliches Leben – zumindest teilweise – eine eigene Würde und eine eigene Größe hat.“ (ebd.: 56)

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scheint es diesem Menschen, daß er selbst noch niemals so wenig gemacht hat. (Kafka 1990: 999 [20.9.1911])

Die detaillierte und auf den ersten Blick belanglose Darstellungsweise dieser „verschiedenen Anordnungen“ des Alltags, denen im Medium des Tagebuchs großer Stellenwert zukommt, ist in anderen Gattungen kaum denkbar. In diesem Kontext beschreibt Blanchot das Alltägliche als gattungsspezifischen Schreibmodus des Tagebuchs. Dieser Schreibmodus schlägt sich nicht nur in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung der jeweiligen Eintragungen nieder, sondern gestaltet auch ihre formale Ausrichtung, indem sich die Tagebuchnotizen gattungsverbindlich durch eine vignettenhaftige Mikrotextualität auszeichnen. Die Täglichkeit des Schreibens und die Alltäglichkeit des Themenbezugs verbieten jegliche stabile Selbstdefinition, wie sie sich in retrospektiven autobiographischen Formen wie beispielsweise Memoiren feststellen lässt: „Das Tagebuch ist der Anker, den man am Grund des Alltäglichen hinscharren läßt und der an den Vorsprüngen der Eitelkeit hängenbleibt.“ (Blanchot 1988: 254) In diesem Zusammenhang kann auch das Fragmentarische als ein der Gattung inhärentes Merkmal in den Vordergrund gerückt werden.40 Das moderne Tagebuch könne nach Boerner (1969: 65) als die adäquate Schreibform bezeichnet werden „für den Autor, der keinen festen Standpunkt einnehmen kann oder will, es erlaubt künstlerische Aussagen ohne den Zwang einer Gesamtkonzeption, es erfordert keine roten Fäden, kein Leitmotiv, keine Fabel“. Das Tagebuch, dem jeglicher hierarchisierende Rahmen fehlt, fasst die eigene Zeit in gesammelte Anekdoten und Geschichten.41 Philippe Lejeune (2007: 10) ist der Ansicht, das Tagebuch sei – eben aufgrund seiner thematischen Vorrangigkeit des Gewöhnlichen, seines Quellenstatus und seiner formalen Fragmenthaftigkeit – im literarischen Feld zu Unrecht oftmals als un- bzw. präliterarisches Objekt betrachtet worden: „Das Tagebuch ist ohne jeden Zweifel das schlechte Gewissen der Literatur, der es unaufhörlich seine zersplitterte Unvollständigkeit entgegenhält, die sie gerade auszutreiben sucht.“ Ein Beispiel für diese Austreibung des Tagebuchs aus dem literarischen Feld bietet Roland Barthes. In Über mich selbst kritisiert Barthes (1978: 104) gerade den Wust von parataktisch bzw. chronologisch aneinandergereihten Informationspartikeln, der der Gattung Tagebuch inhärent sei: „[I]m 16. Jahrhundert, als man ohne Abneigung zu schreiben begann, nannte man das ein diaire: Diarrhöe und glaire (Schleim).“42 Folglich gelte das Tagebuch 040 Für detailliertere Angaben zur gattungsspezifischen Fragmenthaftigkeit des Tagebuchs vgl. Sepp (2012a). 041 In Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert hebt Friedemann Spicker (2004: 808-857) den engen Zusammenhang zwischen Tagebuchschreiben und Aphorismus hervor. Aufgrund der Möglichkeit, zwischen Erlebnis und Reflexion zu vermitteln, so Spicker, werde das für das Tagebuch typische „Erlebnisdenken“ vermittelt, das zum Aphorismus führe (vgl. ebd.: 820; 840). 042 Diese negative Beurteilung des Tagebuchs findet sich ebenfalls in Barthes’ Aufsatz „Erwägung“, in dem er dem diaristischen Schreiben jenseits der Literatur eine Daseinsberechtigung zuspricht: „Das Verlangen nach dem Tagebuchschreiben ist [...] trotz meiner kläglichen Eindrükke denkbar. Ich kann zugeben, daß es im Rahmen des Tagebuchs möglich ist, von dem, was mir zunächst für die Literatur untauglich erschien, zu einer Form überzugehen, die deren Ei-

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nach Roland Barthes im negativen Sinne als unliterarisches bzw. egozentrisches Entleerungsmedium der Psyche, die sich ohne narrativen Überbau täglich der Alltagserfahrungen entledigt.43 Doch neben dieser kathartischen, therapeutischen44 Funktion hat das Tagebuch, das aufgrund seiner Mischung aus intimen und zeithistorischen Reflexionen eine Zwischenstellung zwischen Ich und Geschichte einnimmt, für das Subjekt vorwiegend identitätskonstitutiven Charakter. 2.1.3.2 Zeitnahe Selbstverschriftlichung Die nachfolgenden Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Identitätskonstitution, Alltagserleben und dem Akt des diaristischen Schreibens in modernen Tagebüchern knüpfen an die späteren Schriften Foucaults an45 und führen mit ihnen den Begriff des Subjekts in eine Phänomenologie des Tagebuchs ein. Sie bieten einen Erklärungsansatz für die Rolle der täglich praktizierten diaristische Schrift bei der Herausbildung von Identität und Subjektivität. In einem ursprünglich unter dem Titel „Notes sur la généalogie de l’éthique“ aufgezeichneten Gespräch mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow merkt Foucault (2005: 494) an, dass „diese so genannte Ich-Literatur – intime Tagebücher, Selbsterzählungen usw. – nicht begriffen werden kann, wenn man sie nicht in den allgemeinen und sehr reichhaltigen Rahmen der Selbstpraktiken zurückstellt.“ Die Selbstverschriftlichung im Tagebuch ließe sich in diesem Zusammenhang als performatives bzw. identitätsstiftendes Medium bezeichnen, in dem eine prozesshafte Subjektivität zum Tragen kommt (vgl. Dünne 2003: 46-60). Die im Tagebuch beobachtbare diachrone Wandelbarkeit des Selbst kann gewinnbringend mit Methoden der narrativen Psychologie – mit ihren Hauptvertretern Straub und Polkinghorne – erfasst werden. Ausgangspunkt der narrativen Psychologie ist die Einsicht, dass das Subjekt sich und seine Erfahrungen in einer wesentlichen Hinsicht erzählend, also in Geschichten organisiert. Erst im Prozess genschaften versammelt: Individuation, Spur, Verführung, Fetischismus der Sprache.“ (Barthes 2006: 392) In der negativen – oder zumindest zwiespältigen – Beurteilung des Tagebuchs als Schuttablageplatz steht Barthes sicherlich nicht allein. Das Genre wird beispielsweise von Wolfgang Koeppen (1965: 5) abwertend als „[u]nlauterer Geschäftsbericht“ bezeichnet. 043 Im Aufsatz „Roland Barthes diariste“ unterzieht Philippe Amen (1989) Barthes’ diaristischen Metatext einer eingehenden Analyse. Der französische Tagebuchschreiber lehne die „clowneske Mimesis“ des Journals ab: Sei es im Moment des Schreibens vielleicht von psychologischen Nutzen, so könne es beim Nachlesen – in literarischer Hinsicht – nur noch als „wertlos“ bezeichnet werden (ebd.: 107). 044 Eine empirische psychologische Untersuchung des Tagebuchschreibens unternehmen Wiener und Rosenwald (1993). Aus ihrer Studie gehen als dominante Funktionsfiguren 1. Orientierung im sozialen Umfeld; 2. Orientierung in der Zeit; 3. Bewältigung von Emotionen; 4. Identitätsbildung durch Selbstreflexivität; und 5. Selbstkontrolle hervor. 045 In diesem Rahmen sei vorrangig auf folgende Aufsätze aus der Feder von Michel Foucault verwiesen: „Technologien des Selbst“ (Foucault 2005: 966-998), „Von anderen Räumen“ (ebd.: 931-942), „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit“ (ebd.: 747-776) und „Über sich selbst schreiben“ (ebd.: 503-520). Weiter leistet auch der dritte Band von Sexualität und Wahrheit – Die Sorge um sich (vgl. v.a. Foucault 1989: 53-94) – einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung der „Kultur seiner selbst“.

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des Erzählens wird den vorerst kontingenten Erfahrungen eine (inter-)subjektiv nachvollziehbare Bedeutung verliehen. Philippe Lejeune, einer der prominentesten Autobiographie- und Tagebuchforscher der letzten dreißig Jahre, charakterisiert das Tagebuch in dieser Hinsicht als brouillon de soi, als vorläufiges Konzept des Selbst (vgl. Lejeune 1998: 7f.). Durch die ständige Öffnung hin zum nächsten Eintrag bzw. das fortwährend neue Einsetzen des täglichen Textes erhält dieser eine Form von Unabgeschlossenheit, d.h. formaler sowie inhaltlicher Heterogenität: Die Aufzeichnungen können von absoluter Intimität sein, sie können subjektive Alltäglichkeit reflektieren oder öffentliches Geschehen kommentieren. Der diaristische Schreibvorgang ist durch eine radikale Jetztgebundenheit gekennzeichnet. Auch JeanPhilippe Miraux fasst in diesem Zusammenhang die gattungsspezifische Verschriftungsunmittelbarkeit des Tagebuchs ins Auge: Das Tagebuch entspricht dem exakten Verlauf der Existenz; es verändert nicht den Lauf des Lebens; es ist keine Anamnese (eine willkürliche Wiedergabe der Vergangenheit), sondern die geduldige und akribische Inventarisation des täglichen Lebens; sein Gegenwartsblick richtet sich nicht auf die Vergangenheit, sondern verwirklicht sich mehr oder weniger im Moment des Niederschreibens selbst; und trotz der Medialisierung durch die Schrift, wurzelt es in der zeitlichen Unmittelbarkeit. (Miraux 1996: 13)

Es ist für das Tagebuch also wesentlich, dass es eben nicht überarbeitet wird, sondern den von der Augenblickserinnerung gesteuerten Prozess des Erzählentwurfs, niemals aber dessen Referenz dokumentiert.46 Dem Moment des Schreibens als Augenblick der Erinnerungskonstitution entspricht der Tag als Rhythmus der Fragmente auf der Makroebene (vgl. Pethes 1999: 177f.). In dieser fundamentalen Verwiesenheit auf den Augenblick des Schreibens liegt die wesentliche Eigenart der Diaristik, die zur Erinnerung an eben Erlebtes wird. In seiner erlebnisunmittelbaren Verschriftlichung des Tagesinhalts präsentiert sich das Tagebuch – nahezu in Echtzeit – als textuell materialisierte bzw. medialisierte Zeit (vgl. Dusini 2005: 187). Und hieraus wird der spezifische Stil des Tagebuchs kenntlich: Neben den narrativen Sequenzen findet sich vor allem eine relativ lose Reihe gegenwärtiger Reflexionen. Dieses ständige Nebeneinander

046 In den erfahrungsnahen Tagebuchaufzeichnungen vergeht in der Regel wenig Zeit: „Gegenstand der Eintragungen stellen alle Ereignisse des eben durchlebten Tages oder Tagesabschnittes dar.“ (Heinrich-Korpys 2003: 86) Ralph-Rainer Wuthenow (1990: 13) spricht vor diesem Hintergrund im überspitzten Sinne sogar von der „Kontemporalität“ des Tagebuchschreibens, im Sinne einer Gleichzeitigkeit von Erleben, Denken und Aufschreiben. Aus diesem Grund kann der Diarist nur die – begrenzte – Perspektive des eigenen Erfahrungshorizontes wiedergeben. Angesichts der Augenblicksperspektive des Diaristen im Dritten Reich fehlt ihm, so Lothar Bluhm (1991: 286f.), die Möglichkeit, eine abstrakte Analyse der Hitler-Zeit zu erstellen: „Ansätze dazu richteten sich stets nur auf einzelne Erscheinungen des Terror-Regimes. Der Diarist des Dritten Reiches blieb auch in der Ablehnung bis zuletzt eingebunden in seine Lebenswirklichkeit, verflochten mit dem System, für dessen umfassende Analyse ihm daher die Distanz fehlte, die erst in den Folgejahrzehnten kommen konnte.“

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variierender Themen und Schreibmodi spiegelt die Vielschichtigkeit des alltäglichen Lebens wider, die im Lauf der Zeit die auftretenden Widersprüche und Revisionen in Ansichten und Lebenslauf des Tagebuchautors dokumentieren. In diesem Kontext weist Paola Mildonian in Alterego (2001: 30f.), ihrer Untersuchung zu Tagebüchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, darauf hin, dass sich das Erzählen in diaristischer Form weder nach retrospektiven noch nach teleologischen Prinzipien richtet. Es spiegelt daher das Dilemma des Subjekts wider, über längere Zeit hinweg eine dauerhafte Position zu etablieren, die nicht auf einer Verstellung oder Entstellung der Realität basiert. Indem der Tagebuchschreibende sich selbst zum Thema macht, indem er auch das geschriebene – und wiedergelesene – Ich des Tagebuchs in die Gegenwart der Aufzeichnungen einbezieht und die eigene Person mit dem distanzierenden Blick des Autors auf seine Figur(en) betrachtet, entsteht ein Spannungsgefüge der verschiedenen Ich-Perspektiven, das das autobiographische Experiment Tagebuch – im Nebeneinander von realitätsnaher Dokumentation und Neu-Erfindung – konstituiert. Erst über diesen Prozess einer wieder in die identitätsstiftende Erste Person mündenden Distanzierung kann die Identifikation von Erlebtem und Niedergeschriebenem gelingen (vgl. Sellner 1992: 19). Es versteht sich von selbst, dass die oben skizzierte, auf „Alltäglichkeit“ und „zeitnahe Selbstverschriftlichung“ zentrierte Gattungsanalyse des Tagebuchs dessen Merkmale bei Weitem nicht erschöpfend behandelt. Eine umfassende und systematische Gattungstheorie des Tagebuchs sollte eine Reihe von Forschungsdesideraten erfüllen, wie die Untersuchung der gattungsspezifischen Spannung zwischen Faktizität und Fiktion, die Analyse identitätsbildender Performativität diaristischen Schreibens und die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Unterschied zwischen Autobiographie und Tagebuch sowie zwischen anderen selbstbiographischen Gattungen – wie Konfession, Brief, Chronik und Memoiren – und dem Tagebuch.

2.1.4 Selbstbiographische Nachbargattungen Für eine verbindliche Gattungsbestimmung soll das Tagebuch im Folgenden idealtypisch von anderen selbstbiographischen Erscheinungsformen bzw. Zweckformen wie Konfession, Autobiographie, Chronik, Memoiren und Brief abgegrenzt werden, um signifikante Merkmale abzuleiten, die davor bewahren können, einer die Gattungsdifferenzen verwischenden Vereinheitlichung zu verfallen (vgl. Wuthenow 1990: 38). In der von Augustinus geprägten Form des Bekenntnisses bzw. der Konfession handelt es sich um die Erzählung eines religiösen Bekehrungserlebnisses, das die Lebensgeschichte in ein Vorher und Nachher spaltet. Die säkularisierte Form der Konfession im Sinne von „Geständnis“ findet sich beispielhaft in den Confessions von Jean-Jacques Rousseau aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Abwendung vom Beichtcharakter hin zu einem individuell verstandenen Lebenszeugnis weist

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eindeutig auf die Säkularisierungsvorgänge der fortschreitenden Moderne hin (vgl. Breuer 2000: 115ff.; Schabacher 2007: 142f.). Die Chronik ihrerseits stellt eine Sammlung von in zeitlicher Reihenfolge aufgezeichneten Notizen und Beobachtungen dar. Im Gegensatz zum Tagebuch macht sie es sich jedoch zur Aufgabe, insbesondere historische Großereignisse festzuhalten. Überdies fehlt die Regelmäßigkeit des Berichtens, der täglichen Niederschrift des Beobachteten: Während das Tagebuch von einem Tag zu einem anderen fortgeschrieben wird, finden die Eintragungen in einer Chronik von Ereignis zu Ereignis statt (vgl. Boerner 1969: 12; Haber 2006: 27f.), und in dieser Hinsicht kann sie auch von Annalen abgesetzt werden, die auf der Grundlage der Kalender-Jahre chronologisch die wichtigsten Ereignisse darstellen. Allerdings zeigen auch viele Tagebücher – wie die von Victor Klemperer – eine Tendenz zum Chronikalischen auf: Politische Ereignisse gewinnen vor allem in krisenhaften Zeiten deutlich an Gewicht und werden unmittelbar mit den subjektiven Momenten des Tagebuchs verschränkt (vgl. Wuthenow 1990: 181-195). In ihrem Fokus auf das historisch-politische Großereignis ähnelt die Chronik Memoiren. Memoiren rekurrieren primär auf die Darstellung des öffentlichen Lebens und orientieren sich in ihrer Betonung von Ereignissen, die außerhalb des Individuums vor sich gehen, am Verlauf des politischen Geschehens. Durch den Blick auf den gesellschaftlichen Alltag legen Memoiren hinter der scheinbaren Banalität die politische Tiefenstruktur offen. Sie werden häufig von politischen oder sonstigen Figuren, die in der Öffentlichkeit stehen, verfasst. Auch wenn sie häufig als Subgattung der Autobiographie aufgefasst werden, so plädieren doch manche Autoren für eine schärfere Trennung: Roy Pascal (1960: 5) beispielsweise differenziert zwischen Autobiographien und Memoiren, indem er die unterschiedliche Perspektive des Schreibenden zum Dargestellten in den beiden Nachbargattungen unterstreicht: „[E]in grundlegender Unterschied [besteht] in der Blickrichtung des Autors: In der Autobiographie lenkt der Autor die Aufmerksamkeit auf sich selbst, im Memoir [...] auf andere.“ Oder verkürzt: „Memoiren sind zentrifugal, Autobiographien sind zentripetal.“ (Lecarme und Lecarme-Tabone 2004: 48) Im Unterschied zu sowohl Tagebuch wie auch Autobiographie, die beide die Identitätssuche bzw. -findung des schreibenden Subjekts zentral stellen, setzen sich Memoiren mit der konsolidierten sozialen Rolle des Ich in der Gesellschaft auseinander, was bereits einen gewissen Grad von Identitätsstabilität voraussetzt. Obwohl Autobiographie und Tagebuch gleichermaßen – wie oben angedeutet – durch eine persönliche Ich-Perspektive gekennzeichnet werden, liegt der Hauptunterschied zwischen beiden Textsorten in der Dimension der Zeit, was für die narrative Selbstverschriftlichungspraxis folgenschwere Konsequenzen hat. Die Autobiographie unterliegt in der zeitlichen Differenz zwischen erzählendem und erzähltem Ich immer schon einem gewissen Literarisierungsgrad, da der Konstruktionscharakter der Erinnerungen wesentlich ihre Narrativisierung prägt. Das autobiographische Ich entsteht erst als sprachliche Konstruktion. Die Zeitperspektive des Tagebuchs hingegen ist tagesorientiert, was sich im analytischen Aktualitätsblick der Tagebuchgattung niederschlägt, während sich die Autobio-

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graphie durch eine vielmehr synthetisierende, retrospektive Blickrichtung kennzeichnet. Ein Beispiel: Beim Wiederlesen seiner Tagebuchnotizen aus der Weimarer Zeit, die Klemperer zur Zeit der Einträge als Periode ohne Antisemitismus und Totalitarismusbedrohung wahrnahm, bezieht er im Jahre 1941 eine nüchternere, synthetisierende Position, die ihn die Geschehnisse aus dem Jahr 1919 distanziert analysieren lässt: „Bei der Tagebuchlektüre München 1919 wird mir deutlich, wie sehr u. ganz die nat.soc. Bewegung in dieser Zeit [=Weimarer Zeit, A.S.] wurzelt.“ (A 137: 472 [7.6.1941]) Der Unterschied zwischen beiden Gattungen könnte somit in Wilhelm Grenzmanns Worten wie folgt auf den Punkt gebracht werden: „In der Autobiographie sieht sich der Mensch historisch, als Tagebuchschreiber begreift er sich aus dem Augenblick. [...] Sieht die Autobiographie in die Ferne, so das Tagebuch in die Nähe. [...] Die Autobiographie ist beruhigt, das Tagebuch erregt.“ (Grenzmann 1959: 85; vgl. Boerner 1969: 13)47 Heiko Reisch betont, dass die Autobiographie aufgrund ihrer „Erinnerungsarbeit“ prinzipiell Fiktionalisierungstendenzen unterliege. Ihre „Wahrheit“ sei gerade in der Jetzt-Bezogenheit der Erinnerung zu verorten: Die Autobiographie ist auf den historischen Gegenstand einer einzigen Person angelegt, wie sie zum historischen Zeitpunkt der Erinnerungsarbeit erscheint. Als literarisches Genre ist sie der Versuch, ein Reales als faktische Vergangenheit symbolisch zu bearbeiten. [...] Die Wahrheit der Autobiographie ist infolgedessen die Aktualität des Schreibens und des Schreibenden. (Reisch 1991: 60)

In Philippe Lejeunes Aufsatz zum Thema Tagebuch, „Le journal comme ‚antifiction‘“ (2007), vertritt der Autor die These, das Hauptaugenmerk des Journals liege auf seiner grundlegenden „Antifiktionalität“, die als entscheidendes Abgrenzungskriterium gegenüber retrospektiv und syntheseartig angelegten selbstbiographischen Nachbargattungen – wie Memoir, Chronik, Autobiographie – angesetzt werden kann. Das Tagebuch, so Lejeune, lässt sich demnach als ein Text lesen, in dem Antifiktionalität und Subjektivität unzertrennlich, aber spannungsvoll Hand in Hand gehen. Ganz im Unterschied zur Zeitstruktur des Tagebuchs, das durch eine Partialisierung der Zeit in immer erneut verschriftlichte Tagessegmente gekennzeichnet ist, stellt die Autobiographie – als Erinnerungsbuch – stets eine narrative, gedächtnisgeleitete Rekonstruktion des eigenen biographischen Werdegangs dar. 047 Ähnlich definiert Horst Thomé (1985: 90) den Unterschied zwischen Tagebuch und Autobiographie wie folgt: „Im Unterschied zur Autobiographie, die den Lebensgang von einem fixierten Endpunkt aus erzählt, ist das Tagebuch potentiell unendlich, da sein Abschluß durch die äußere Zufälligkeit des Todes und nicht durch die innere Notwendigkeit des vollendet realisierten Sinnzusammenhangs erzeugt wird.“ Benedikt Faber (2005: 51) seinerseits differenziert auf detailliertere Weise – in vierfacher Hinsicht – zwischen beiden Nachbargattungen. Ihm zufolge lassen sich als Abgrenzungskriterien von Tagebuch und Autobiographie folgende Parameter ausmachen: 1. Schreibsituation (retrospektive vs. erfahrungsnahe Niederschrift); 2. Gegenstandsbereich (umfassende Lebensperiode vs. Alltag); 3. Adressatenbezug (größere Leserschaft vs. „impliziter Leser“); und 4. sprachliche Organisationsform (ästhetische Stilisierung vs. niedrige literarische Ansprüche).

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Die Vergangenheit wird auf diese Weise in ein aktuell gültiges Lebensprojekt integriert. Susanne zur Nieden (1993: 68) resümiert die Differenz zwischen den beiden benachbarten Textsorten Autobiographie und Tagebuch wie folgt: „Anders als bei der Autobiographie sind bei den erzählerischen Rekonstruktionen aus der kurzen zeitlichen Distanz die Brüche und Widersprüchlichkeiten der Erfahrungsaneignung noch sichtbarer.“ Demzufolge – auch wenn die Autobiographie der Prämisse des ethischen Willens zur Wahrheit gehorcht – unterliegt sie tendenziell der nichtintendierten Fiktionalisierung bzw. der narrativen Vereinheitlichung. Entsprechend der Gegenwartslage kann das autobiographische Ich seine früheren Erlebnisse, Erfahrungen, Verwirklichungen, Misserfolge und Einstellungen beschönigen, relativieren, verfälschen, neu gewichten oder schlichtweg auslassen. Gedächtnislücken werden bewusst oder unbewusst im durchgehenden Erzählfaden narrativ ausgefüllt und auf diese Weise vereinheitlicht. Lejeune erklärt die Gattungsdifferenz zwischen Tagebuch und Autobiographie im Hinblick auf den an die jeweilige Zeitperspektivierung gebundenen Wahrhaftigkeitsanspruch folgendermaßen: [E]iner der Unterschiede zwischen Autobiographie und Tagebuch besteht darin, dass für den Autobiographen die Antifiktionalität eine Konvention darstellt, die man akzeptiert und an die es sich zu halten gilt; für den Tagebuchschreibenden hingegen ist sie eine bindende Vorschrift, die der Gattung prinzipiell zugrundeliegt. Es genügt, dass man anfängt, ein Tagebuch zu schreiben, und es entscheidet für einen, wie man schreiben soll. (Lejeune 2007: 5)

Das notgedrungene Fehlen finaler Erklärungen und bewältigbarer Totalbilder im Tagebuch schlägt sich in seiner Aktualitätsperspektive nieder: „Man schreibt einen Text, dessen Endlogik einem im Endeffekt entfällt, man akzeptiert es, auf eine unvorhersehbare und unkontrollierbare Zukunft hinzuarbeiten.“ (ebd.: 9) Dem Tagebuch ist die Ungewissheit bzw. Unsicherheit des biographischen bzw. geschichtlichen Fortgangs eingeschrieben. Faktizität und Kontingenz sind demnach untrennbar miteinander verschränkt (vgl. Suleiman 1996: 236). Die den Klemperer-Tagebüchern anhaftende Juxtaposition von „große[r] Historie“, privater Familieninformation und Arbeitsnotizen macht sie zu einer komplexen Mischform, in der sich beispielsweise Angaben über Evas Gartenarbeit, die Spannung im Sudetenland im Jahre 1938 und berufsbedingte Lektürekommentare die Waage halten: Eva dickköpfig wie immer. Es wird weiter gepflanzt, geplant, gehofft. Inzwischen rückt auch die große Historie langsam weiter; die tschechische Angelegenheit ist der Explosion nahe. Deutschland wird einmarschieren, das scheint gewiß, und wahrscheinlich wird sich der österreichische Erfolg wiederholen. Ich schrieb schon einmal in meiner Jolleskritik. (ZAI: 409 [23.5.1938])

Diese Verzahntheit von Privatinformationen und Reflexionen über Zeitgeschichte liegt auf inhaltlichem Niveau auch der Briefgattung wesentlich zugrunde. Im Hinblick auf die formale Struktur mit Orts- und Zeitangabe sind sich Tagebuch und Brief ebenfalls ähnlich. In beiden selbstbiographischen Erschei-

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nungsformen fallen darüber hinaus textuelles Ich – Subjekt des Ausgesagten – und schreibendes Ich – Subjekt der Aussage – zusammen. Dagegen unterscheiden sich die Gattungen grundlegend in ihrem Adressatenbezug: Das Tagebuch setzt die Identität von Schreiber und Leser voraus;48 der Brief als Medium privater Kommunikation hingegen ist eine schriftliche Mitteilung an einen räumlich und zeitlich vom Schreibenden getrennten Adressaten. Gerade um die zeitliche und räumliche Distanz zu kompensieren, entwickelt der Briefschreiber eine Art von Gesprächsstil, mit direkten Anreden und Fragen, rhetorischen Fragen und Antworten (vgl. Jeßing und Köhnen 2003: 137f.). Genau wie die Privatkorrespondenz wird das Tagebuch in den meisten Fällen in zeitlicher und räumlicher Unmittelbarkeit zum Zeitgeschehen verfasst. Im Unterschied zum Brief unterlag das Tagebuch im Nationalsozialismus jedoch weitaus weniger der Selbst- wie auch der institutionellen Zensur: Tagebücher haben als Quelle zur Erforschung des Alltags und der Wertorientierungen im Nationalsozialismus einen besonderen Wert. Sie sind im Vergleich zur reglementierten öffentlichten Rede und kontrollierten privaten Korrespondenz Quellen, die der Kontrolle des totalitären Staates erst einmal entzogen und somit am wenigsten von der Zensur entstellt sind. (zur Nieden 1993: 66)

Wie dem Tagebuch wird auch dem Brief – der im 18. Jahrhundert seine Hochzeit hatte – als „authentischem“ kulturgeschichtlichem Dokument ein hoher Stellenwert beigemessen, ohne in der Regel aber die sprachlichen Muster, durch die das epistolarische Ich sich selbst und seine Umwelt inszeniert, zu berücksichtigen.49 048 In der Forschung – wie beispielsweise bei Rüdiger Görner (1986: 12) – wird das Tagebuch vorschnell als „adressatenfrei“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu differenziert Elias Canetti (1965: 57), der selbst ein Tagebuch führte, den Monologcharakter des Tagebuchs, indem er den Blick auf die ‚fiktiven‘ Gesprächspartner des Diaristen lenkt: „Im Tagebuch spricht man [...] zu sich selbst. Aber was heißt das? Wird man faktisch zu zwei Figuren, die ein regelrechtes Gespräch miteinander führen? Und wer sind die Zwei? Warum sind es nur Zwei? Könnten es nicht, sollten es nicht viele sein? Warum wäre ein Tagebuch wertlos, in dem man immer zu vielen spräche statt zu sich?“ Vor diesem Hintergrund, so Canetti weiter, ermögliche das Tagebuch durch die Selbstadressierung des Diaristen einen Spannungsabbau gegenüber der sozialen Welt: „Alle die Gespräche, die man in Wirklichkeit nie zu Ende führen kann, weil sie in Gewalttätigkeiten enden würden, alle die absoluten, schonungslosen, vernichtenden Worte, die man anderen oft zu sagen hätte, schlagen sich hier nieder.“ (ebd.: 60) Die häufig vorkommende diaristische Selbstzensur bei Tagebuchschreibenden führt Helene Zand (2003: 23) ebenfalls auf seine implizite Bezugnahme auf „ein imaginäres Publikum“ zurück, das die Auswahl und Darstellung des Verzeichneten bestimmt. In diese Richtung gehen auch Faber (2005: 53), Rousset (1983: 437ff.; 1986: 141ff.) und Vogelsang (1985: 195), die auf die implizite Ausrichtung des Tagebuchschreibers auf imaginäre Dritte – darunter auch das künftige Selbst – hinweisen. Zur Verschränkung von Adressat in Adressant im Tagebuch vgl. auch Genette (1992a: 329; 377). Die Präsenz des Anderen bzw. des imaginierten Blicks des Anderen im Tagebuch wird ebenfalls von Béatrice Didier (1976: 24) und Walter J. Ong (1987: 104) hervorgehoben. 049 Diese Forschungslücke entspricht der ausstehenden Untersuchung der sprachlichen Verfasstheit des diaristischen Ich in der Tagebuchforschung. Tanja Reinleins Arbeit Der Brief als Medium der Empfindsamkeit (2002) stellt vor diesem Hintergrund eine Ausnahme dar, indem sie sich dem epistolarischen Ich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nähert. Für eine theoretische

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2.2 Historizität und Tagebuch HISTORIZITÄT UND TAGEBUCH

2.2.1 Gattungshybridität zwischen Geschichte und Literatur Der Grenzverlauf zwischen Geschichte und Literatur ist seit der linguistischen Wende in den 1970er Jahren in Zerfall begriffen. Die Sprachgebundenheit geschichtswissenschaftlicher Texte und ihre literarischen bzw. imaginativen Elemente sind stärker ins Bewusstsein gerückt. In diesem Zusammenhang wird auch stets die poietische Grundlage der Historiographie bzw. deren „Gemacht-Sein“ hervorgehoben: Die Wiedergabe des Geschichtsverlaufs in seiner ganzen Diversität, die sich in letzter Konsequenz einer uniformierenden Gesetzmäßigkeit entzieht, unterliegt immer der Sicht des Darstellenden. Daher referiert die Parole „Auch Klio dichtet“ – gleichzeitig auch der Titel der deutschen Übersetzung des 1978 erschienenen Hauptwerks des Historikers und Komparatisten Hayden White, Tropics of Discourse –, auf die unhintergehbare Narrativität der Historiographie. Seit dem Erscheinen dieses Werkes wird das Argumentationsgeflecht der historischen Methodologiedebatte von literaturwissenschaftlichen Diskursen durchzogen. Ist die Geschichtswissenschaft in ihrer narrativen Struktur immer grundsätzlich fiktionaler bzw. literarischer Natur, oder sind ihre Ergebnisse repräsentativ und eröffnen einen Raum genuiner Tatsächlichkeit? In Tropics of Discourse weist White (1986: 146) auf die Fiktionalität der Darstellung des Faktischen im historischen Diskurs hin50, dass nämlich „die GeAuseinandersetzung mit der Frage der Performativität der epistolarischen Identität vgl. vor allem ebd.: 39ff. 050 Dass eine Trennungslinie zwischen „fiktionalen“ und „faktualen“ Texten nicht einfach zu ziehen ist, betont auch Gérard Genette. In Fiktion und Diktion widmet sich der Narratologe aus erzähltheoretischer Perspektive dem pragmatischen Unterschied zwischen „fiktionaler“ und „faktualer“ Erzählung (vgl. Genette 1992b: 65-94). Die faktuale Erzählung umfasst neben der Historiographie Formen wie das Tagebuch, die Autobiographie, die Reportage. Über die Einordnung eines Textes als „fiktional“ oder „faktual“ entscheiden – so die These – weniger textimmanente Strukturen als vielmehr Kontextwissen, die Lektüresituation des Lesers und paratextuelle Angaben wie beispielsweise die explizite Bezeichnung als „Roman“ oder „Tagebuch“. Der Fall Binjamin Wilkomirski macht in diesem Zusammenhang auf besondere Weise anschaulich, in welchem Maße die Zertifizierung eines Textes als „faktual“ vom Kontextwissen des Lesers, vom symbolischen Stellenwert des Holocaust-Opfers als „natürlicher Institution“ abhängig ist. In seinem erstmals 1995 erschienenen Text Bruchstücke. Aus einer Kindheit 19391948 beschreibt Wilkomirski (1997) seine Erinnerungen an seine Kindheit als jüdischer KZÜberlebender. Er schildert die Zerstörung des Ghettos in Riga, die Deportation nach Polen, den Aufenthalt in einem Waisenhaus in Krakau, die Nachkriegszeit in der Schweiz. Der Autobiograph tritt als Sprachrohr anderer Überlebender auf, die sich im Text wiedererkannten und ihn damit glaubhaft erscheinen ließen. Der Autor nahm an Tagungen und Fernsehsendungen teil, er veranstaltete Lesungen. Im Jahre 1998 stellte sich indes heraus, dass die vorgebliche Autobiographie eine bloße Erfindung war. Die Debatte um den Fall Wilkomirski dreht sich um die präzise Genrezugehörigkeit des Textes, die die für die Gattung Autobiographie grundlegende Unterscheidung von Fakt und Fiktion in den Vordergrund treten lässt. Die Affäre Wilkomirski macht ersichtlich, dass die „Wahrheit“ einer Autobiographie – sowie auch eines Tagebuchs – nicht primär textimmanent vermittelt wird, sondern in einer externen Beglaubigungs-

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schichtsschreibung nicht weniger eine Form von Fiktion ist, als der Roman eine Form historischer Darstellung ist.“ Der Autor analysiert erstmals die Geschichtswissenschaft mit literaturwissenschaftlichen Kategorien und verficht daraufhin die These, die Historiographie bediene sich im selben Maße wie Fiktion literarischer Erzählmuster: „Auch wenn Historiker und Autoren fiktionaler Erzählliteratur sich für verschiedene Arten von Ereignissen interessieren mögen, sind sowohl die Formen ihrer jeweiligen Diskurse als auch ihre Intentionen beim Schreiben oft die Gleichen.“ (ebd.: 145) White geht es nicht um den wissenschaftsinternen Diskurs, ob historische Aussagen richtig oder falsch seien, sondern er insistiert darauf, dass geschichtswissenschaftliche Darstellungen nur dann sinnvoll sein können, wenn sie die Leser sprachlich bzw. stilistisch ansprechen (vgl. Koselleck 1986: 3). Nicht der Versuchung verfallend, im Sinne eines radikal-konstruktivistischen Ansatzes die Darstellung von Vergangenem als subjektive Deutung oder Interpretation von Historikern zu definieren, ermöglicht die Betonung der Narrativität der Historiographie einen Mittelweg zwischen poststrukturalistischem Skeptizismus und historischem Positivismus bzw. Repräsentationalismus.51 Die Hervorhebung der narrativen Verfasstheit von Vergangenheitsdarstellungen geht keineswegs mit einer Relativierung des ontologischen Status der Vergangenheit einher, sondern soll es ermöglichen, die Strukturierung und Anordnung von Geschichtsdarstellungen ans Licht zu bringen (vgl. Nadj 2006: 25). Darum soll die Parole „Auch Klio dichtet“ relativiert werden: Der Historiker hat einen anderen Vertrag mit dem Leser als der Verfasser literarischer Texte. Während der Historiker sein empirisches (Archiv-)Material nicht erfinden kann und seine Texte immer überprüfbar und intersubjektiv nachvollziehbar sein müssen, verfügt der Schriftsteller über sehr viel mehr gestalterische Freiheit im (ästhetischen) Schaffen (vgl. Hockerts 2001: 28; Feuchert 2000: 20f.; Preußer und Schmitz 2010: 13f.). Um an dieser Stelle wieder zurück zur Grundsatzfrage der Gattungsproblematik des Tagebuchs zu kommen, soll vorerst festgehalten werden, dass die Diaristik angesichts der eben angesprochenen Differenz, so die Leitthese in diesem Kapitel, eine spannungsvolle Zwischenstellung zwischen Literatur und Historiographie einnimmt52: Im Rahmen von Geschichte oftmals als authentisches Dokument Operation vorausgesetzt wird. Die zertifizierte Autobiographie wurde nach der Aufdeckung der Fälschung mit einem Mal zum Kitsch. Vgl. zur Bedeutung der Wilkomirski-Affäre für die Autobiographietheorie Schabacher (2007: 174-179). 051 Vor diesem Hintergrund betont Almut Finck (1999: 15) im Hinblick auf die Autobiographietheorie, dass die Hervorhebung des poietischen Gemacht-Seins autobiographischer Texte nicht notwendigerweise ihre Referentialität an den Rand drängen muss: „Die [...] Aufmerksamkeit für textuelle Phänomene hat die Wirklichkeit nicht aus den Augen verloren; sie wirft, indem sie auf der unauflöslichen Verwobenheit von Textualität und Realität besteht, gerade den Blick darauf. Textualität [...] leugnet nicht die Verbindung zur Welt, sie stellt sie her.“ 052 Diese Zwischenstellung wird in der Forschungsliteratur in der Regel kaum wahrgenommen. Claudia Buhles (2003: 23) zieht beispielsweise in ihrer Arbeit über Klemperers Tagebücher aus der Weimarer Zeit „das Tagebuch ausschließlich in seiner Eigenschaft als historische Quelle“ heran. Dadurch versäumt es die Autorin, konsequent auf den Punkt zu bringen, wie Literatur und Geschichte in der Diaristik ineinander greifen. Eine ähnliche einseitige Hervorhebung der faktischen Authentizität des Tagebuchs findet sich im Nachwort zu Eine Frau in Berlin, den Ta-

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wahrhaftiger Selbstäußerung betrachtet, von der Literaturwissenschaft dagegen als Objekt potentieller Fiktion verstanden, steht das Tagebuch stets auf der disziplinären Grenzscheide von Geschichts- und Literaturwissenschaft.53 Vor diesem Hintergrund rückt Claus Vogelsang die Grenzverwischung zwischen dem Gebrauchs- und dem literarischen Charakter54 in den Brennpunkt seiner Analyse der Gattung Tagebuch: Die Übergänge zwischen der Gebrauchs- und der Kunstform Tagebuch sind notwendigerweise fließend. Die immer wieder versuchte Trennung zwischen privaten und für die Öffentlichkeit bestimmten literarischen Tagebüchern läßt sich weder dem Inhalt noch der Struktur nach vollziehen, womit sich auch Begriffe wie ‚echt‘ und ‚wahr‘ erübrigen. (Vogelsang 1985: 194)

Die Debatte um die Narrativität der Historiographie (White) und die Textualität von Geschichte (Greenblatt) zeigt, dass eine Unterscheidung von Faktizität und Fiktion – wenn auch die Interferenzen als forschungsleitend gelten – nach wie vor in die Argumentationen eingeschrieben bleibt. Ihre Gegenüberstellung ist eine diskursive Notwendigkeit, um überhaupt über die Gattung Tagebuch sprechen zu können. Der allenthalben festzustellende Entparadoxierungsversuch ist also meiner Meinung nach für das Genre konstitutiv. Mit der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zur Mentalitäts- und Alltagsgeschichte wie zur Oral History in den 1970er und 1980er Jahren wurden eben solche Dokumente als Quellen herangezogen, in denen der Verfasser oder die Verfasserin aus mikrohistorischer Perspektive Zugriff auf Kategorien wie „Lebenswelt“, „Milieu“ oder „Identität“ zu gewähren scheint. Deshalb mag es nicht verwundern, dass in der aktuell feststellbaren Erinnerungshochkonjunktur Selbstzeugnisse55 eine besonders prominente Stellung einnehmen, indem sie der abgebuchaufzeichnungen einer anonymen deutschen Frau, die vom April bis zum Juni 1945 den Vergewaltigungen von Rotarmisten zum Opfer fiel, von denen sie auf erschütternde Weise Zeugnis ablegt. Laut Kurt W. Marek (2003: 286) handelt es sich in ihren Notizen „um ein Dokument [...], nicht um ein literarisches Erzeugnis.“ 053 Der widersprüchlichen Gattungszuschreibung des Tagebuchs zwischen Literatur und historischem Dokument begegnet man allenthalben in der einschlägigen Forschungsliteratur. Während beispielsweise Wuthenow (1990: ix) das Tagebuch als „Literatur im Rohzustand“ oder Demski (1999: 16) es als „Literatur in nuce“ bezeichnet, betont Picard (1986: 18) das Unliterarische an ihm: „Als geschriebenes Wort ist das authentische Tagebuch das Gegenteil von Literatur.“ In Übereinstimmung mit Picard wird auch von Genette (1988: 126) „[d]as ästhetische Negative des Tagebuchs (sein literarischer Gegen-Wert)“ hervorgehoben. Diesbezüglich vertritt Horst Rüdiger (1975: 27) die Meinung, das Tagebuchschreiben spiegele den „Drang nach einer durch die Fiktion nicht zu erfüllenden Wahrhaftigkeit“ wider. 054 Die Zwischenstellung des Tagebuchs zwischen „kunstloser Darstellung“ und „unfertiger Kunstform“ wird von Rachel Cottam (2001: 268) auf ähnliche Weise als generisches Hauptmerkmal in den Mittelpunkt ihres Enzyklopädieartikels zur Gattung Tagebuch gestellt. 055 In der vorliegenden Arbeit wird im Hinblick auf die disparate autobiographische Quellengruppe ›Tagebuch, Autobiographie, Reisebericht, Memoir, Chronik, Brief‹ in der Regel der Begriff „Selbstzeugnis“ verwendet, der dem Terminus „Ego-Dokument“ vorgezogen wird. Winfried Schulze (1996: 28) definiert – teilweise in Anlehnung an Jacques Presser und Rudolf Dekker – „Ego-Dokumente“ folgendermaßen: „Aussagen oder Aussagenpartikel [...], die [...] über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Ge-

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strakten Anonymität der „Meistererzählungen“ zu einem konkreten Antlitz verhelfen: Quer zum entropischen Moment ‚öffentlichen‘ Erinnerns verläuft eine Gegenströmung individuellen Erinnerns, die mit einer riesigen Materialfülle an Memoiren, Erfahrungsberichten, Tagebüchern, Bewusstseinsprotokollen, Lebensromanen usw. das Pendant zu der zerfaserten großen Erzählung, dem ‚grand récit‘ der ‚großen Geschichte‘ zu bilden beansprucht. (Holdenried 2000: 11)

Tagebücher sind vor diesem Hintergrund aber nicht nur Zeugnisse einer rein persönlichen Lebensgeschichte, sondern können durch Widerspiegelung der Alltagswelt auch zu gesellschaftshistorischer Relevanz kommen. Das Ausloten der Grenzen der Darstellung, das Abtasten der Ränder der „linguistischen Wende“ und der textuellen Aneignung von Geschichte hat unweigerlich zu einer Akzentverschiebung in der Geschichtswissenschaft hin zur „Personalisierung“ oder „Privatisierung“ der Vergangenheit geführt. Durch diese historiographische Wende haben persönliche bzw. autobiographische Darstellungen von Zeitzeugen – Autobiographien, Briefe, Tagebücher usw. – viel an Bedeutung für die authentifizierende Begründung des jeweiligen historischen Narrativs gewonnen (vgl. Burgelin 1997: 103ff.; Würzner 1997: 169ff.).56 Allerdings kann das im Tagebuch Ausgesagte nicht ohne Weiteres zur historischen Norm erhöht werden. Die autobiographische Schriftpraxis stellt stets eine Interpretation des Geschehenen bzw. Erlebten und eine Filterung der Begebenheiten dar: [A]utobiographische Schriften [sind] keineswegs, wie man zuweilen leichtfertig angenommen hat, historisch-dokumentarisch, sondern literarisch-psychologisch von Bedeutung, eben als documents humains. Nicht das Was und Warum der Begebenheiten und Erfahrungen zählt, sondern mehr, ja vor allem, der davon geprägte Gemütszustand, also das Wie ihrer Wirkung. (Wuthenow 1992: 1274) meinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollen individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“ Das Problem einer solchen weit gefassten Definition, die auch Amts- und Gerichtsprotokolle mit einschließt, besteht an erster Stelle darin, dass administrative und selbst verfasste Dokumente undifferenziert in eine Textkategorie zusammengeführt werden, ohne in letzter Konsequenz den unterschiedlichen heuristischen Quellenwert zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist geradezu jedem Text eine EgoPerspektive bzw. eine latente Selbstthematisierung eigen. Benigna von Krusenstjern (1994: 464f.) unternimmt vor diesem Hintergrund einen ausgewogenen Versuch, Selbstzeugnisse zu definieren und zu kategorisieren, indem sie anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert deren unterschiedliches Maß an expliziter Bezugnahme auf die eigene Person untersucht. 056 Das Zeugnis des Miterlebenden nimmt vor dem Hintergrund der Personalisierung der Geschichtswissenschaft eine wichtige Stellung ein. In Felmans und Laubs Arbeit Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History (1992) wird dargestellt, wie die Sprache des Zeugnisses über die Grenzen der erzählenden Sprache hinausgeht, die gewöhnlich von Historikern benutzt wird, und in der sich eine unpersönliche, intersubjektive Stimme an ein ähnlich unpersönliches und intersubjektives Publikum wendet. Das Zeugnis wendet sich an uns als Individuen, als moralische Wesen, und dies führt sozusagen zu einer unmittelbaren Konfrontation mit den Aussagen des Betroffenen, es stellt eine direkte Linie von der Stimme des Zeugen zu uns her und umgeht so sämtliche Zwischenschaltungen des historischen Fragens.

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Obwohl der Erlebnishorizont des Zeitzeugen in Selbstzeugnissen nicht identisch mit dem Erklärungshorizont des Zeithistorikers ist, kann die Begegnung zwischen beiden durchaus gewinnbringend sein (vgl. Hockerts 2001: 20). Die Nivellierung von Zeitzeugenschaft und historischer Metareflexion, der man in der Tagebuchtheorie immer wieder begegnet, ist dennoch hochproblematisch. Aufgrund des Vor-Ort-Seins des schreibenden Ich in Selbstzeugnissen wird es in die Position des Augenzeugen gerückt, dessen Aussage als wahrhaftig akzeptiert wird, weil er die Vorkommnisse und Ereignisse selbst miterlebt, „mit eigenen Augen“ gesehen hat. Doch hier ergeben sich tiefgreifende Probleme. Der Zeitzeuge Klemperer wird in der Forschungsliteratur oft als historischer Experte eingesetzt: Der biographische Ansatz in der Klemperer-Interpretation gründet in dem Postulat, der Tagebuchautor – wie die Bezeichnung bereits besagt – habe die absolute Autorität über seine Aufzeichnungen: Dieser Wahrheitsanspruch, wie im Folgenden kurz erörtert werden soll, ist in seiner Absolutheit jedoch überprüfungsbedürftig. Die Autorität des Tagebuchschreibenden als authentifizierende Instanz zu akzeptieren, gilt seit der linguistischen Wende und der damit einhergehenden Diskursivierung des Autorbegriffs nicht länger als evident. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an die Gattung Tagebuch, die von der Konstruiertheit und Performativität der Vergangenheit ausgeht, soll hervorheben, dass diese stets in diskursiv-historische Kontexte eingebunden ist, deren Verschiedenartigkeit und Materialität die Subjektposition grundlegend dezentrieren. Das textuelle Ich kann demgemäß nicht einfach als Reproduktion des empirischen verstanden werden. Die Wende des Referentialitäts-Paradigmas hin zur konstruktivistischen Auffassung des diaristischen Schreibens als Selbstentwurf unterläuft das positivistische Modell eines Eins-zu-eins-Verhältnisses zwischen Leben und Schrift: Selbstzeugnisse sind faszinierende und zugleich schwierige Quellen, die die schreibende Person oder ihr Selbst keineswegs direkt widerspiegeln. Die Konstruktionen und die narrativen Strukturen dieser Texte bieten keinen unmittelbaren Zugang zur Person [...]. Selbstzeugnisse sind vielmehr [...] Interpretationen oder Übersetzungen (von Leben und Erfahrungen in ihrer physischen und psychischen Fühlbarkeit) in ein anderes Medium – das von (verbaler) Sprache und Schrift. Hier können Vertreterinnen und Vertreter der Geschichts- und Literaturwissenschaften noch viel voneinander lernen. (Jancke und Ulbrich 2005: 26)

In der Klemperer-Rezeption werden die Tagebücher des Dresdener Romanisten nicht nur als Interpretationen der Zeitgeschichte angesehen, sondern als Dokumente, die einen unmittelbaren bzw. unverstellten Einblick in die NS-Epoche gewähren. Die angebliche Singularität von Klemperers Notizheften besteht Walter Nowojski (1999: 20) zufolge in ihrer exemplarischen Verwertbarkeit für die Historiographie des Dritten Reiches: „Die Tagebücher sind ein wichtiges Material, das deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts erzählt wie kein anderes Geschichtsbuch.“57 Anderweitig werden die Tagebücher des Romanisten als „das 057 In eine ähnliche Richtung weist Walter Nowojski (2001: 266), der die „Wahrhaftigkeit“ und „Ehrlichkeit“ der Tagebücher unterstreicht, die in der Folge als objektive Dokumente betrach-

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ganz persönliche Geschichtsbuch des Einzelnen“ bezeichnet (Bircken 1997: 191). Auf durchaus ähnliche Weise hebt Konrad Löw (2008: 18) hervor, dass die Klemperer-Tagebücher im Vergleich zur Geschichtswissenschaft einen erheblichen Erkenntnismehrwert liefern, „da sie jedes andere Beweismittel an Authentizität übertreffen.“ Bei näherer Betrachtung dieser drei exemplarischen Zitate wird gleichwohl auf fragwürdige Weise der disziplinäre und heuristische Unterschied zwischen Zeugnis und wissenschaftlicher Meta-Reflexion nivelliert. Vor diesem Hintergrund betont Gotthart Wunberg: „[M]an kann Tagebücher zwar als historische Quellen lesen. Ihre Spezifik trifft man dadurch nicht. Oder umgekehrt gesagt: man trifft sie nur, wenn man ihre Subjektivität und ihren Fiktionalitätscharakter zugleich bedenkt.“ (Wunberg 2001: 236) Klemperers Zeugnis – und das tut seinem Wert keinerlei Abbruch – stellt eine subjektive Interpretation der Judenverfolgung dar und ist damit kein wissenschaftliches Metadokument.58 Der Doppelbedeutung von Fiktion als Formung und Täuschung kommt hier besondere Bedeutung zu: Dem Objektivitätsbestreben des Diaristen zum Trotz liegen dem Tagebuch in seiner subjektiven Selektion und Anordnung von Informationen stets zwangsläufige Fiktionalisierungsprozesse zugrunde.59 Durch den spezifischen Nexus zwischen objektiv Realem und subjektiv Formiertem werden kulturelle Wahrnehmungsweisen oder historische Daten neu strukturiert. Folglich beinhalten auch autobiographische Selbstzeugnisse wie das Tagebuch die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung. Vor diesem Hintergrund macht Claus Vogelsang – ohne der Gattung ihren referentiellen Wirklichkeitsbezug abzusprechen – auf das „literarische“ Moment im Tagebuch aufmerksam: Die Sprache selbst [...] hat ‚Fiktionscharakter‘, das Resultat ist Selbststilisierung. Denn auf den vorliegenden Zusammenhang angewandt bedeutet es: Das schreibende – autobiographische – Ich ist nie identisch mit dem historischen. Durch das sprachliche Sichausdrücken ist es sogleich in einen Fiktionalisierungsprozeß involviert, auch die Dokumentation einer ‚Ich-Geschichte‘ gestaltet sozusagen schon im Keime einen ‚literarischen‘ Charakter. (Vogelsang 1985: 195) tet werden: „Es gibt kein anderes Dokument deutscher Sprache, das so wahrhaftig, so ehrlich, so wenig sich selbst schützend die Dinge beschreibt, und zwar in dem Moment, in dem der Autor sie erlebt, empfindet und beurteilt und nicht Monate oder Jahre später, mit verklärtem oder geläutertem Blick.“ Der Herausgeber betont auf vergleichbare Weise in seinem Nachwort zu Klemperers Tagebüchern der NS-Zeit die unbedingte „Ursprünglichkeit“ der Notizen: „Gerade in dieser Ursprünglichkeit sind Klemperers Tagebücher ein Dokument höchster Authentizität. Als Chronist konzentrierte er sich darauf, die ihn umgebenden Dinge, das, was er tat, was ihm widerfuhr, was er sah, was ihm zugetragen wurde, zu beschreiben.“ (Nowojski 1995: 865) 058 Zum Unterschied im Textstatus zwischen dem Zeugnis von Holocaust-Beteiligten und historischer Forschung zum Holocaust vgl. Feuchert (2000: 23). 059 In diesem Zusammenhang legt auch Elrud Ibsch (2004: 1-13) in einem Text über die Holocaust-Zeugnisse von Überlebenden, wie Jean Améry, Elie Wiesel, Primo Levi, Saul Friedländer, Paul Steinberger und Gerhard Durlacher, dar, dass ihre Darstellungen nicht bloß historische Archive, sondern auch literarische Artefakte darstellen. Ibsch betont, dass ihre „unwidersprochene Authentizität [...] bei aller Übereinstimmung in der historischen Faktenlage nicht auf ‚Objektivität‘ beruht, sondern auf der Perspektivierung des Erlebten.“ (ebd.: 13) Diese Perspektivierung wird vom Habitus, von einschneidenden autobiographischen Erfahrungen, kognitiver und emotionaler Disposition des Schreibenden geprägt.

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Klemperers Aufzeichnungen, ungeachtet ihres Objektivitäts- und Wahrheitsanspruchs,60 beschreiben demgemäß nicht nur, was tatsächlich geschehen ist, mit ihrer Informationsauswahl und -gestaltung verfassen sie auch eine gewisse fiktionsträchtige Wirklichkeitskonstruktion, die es laut Feuchert (2000: 19f.) somit erlaubt, „fiktionale Werke und die Berichte der überlebenden Zeitzeugen nicht nur unter der gemeinsamen Genrebezeichnung ‚Holocaust-Literatur‘ zusammenzuführen, sondern sie auch ähnlichen Formen der Analyse zu unterziehen.“ Das Tagebuch ist als Text nicht gleichsetzbar mit dem Leben des Diaristen und wird nie den Anspruch erfüllen können, ein Leben adäquat wiederzugeben, weil die Gattung eben nicht Tatsachen darstellt, sondern einen persönlichen Bericht über Tatsachen.61 Die Forderung nach Intersubjektivität unterscheidet eindeutig geschichtswissenschaftliche Werke von Tagebüchern, die äußerst subjektzentriert sind und keinen wissenschaftlichen Kriterien folgen. Letztere werden dennoch von Historikern als Quellen und Ausgangspunkte für ihre eigene Arbeit herangezogen, ohne aber an sich eine hinreichende Grundlage für eine historiographische Studie zu bilden. Die Subjektivität eines Zeugnisses rückt es in die Nähe der Literatur (vgl. Feuchert 2004: 50; Hilberg 2002: 184). Der Herausgeber Walter Nowojski grenzt Klemperers Tagebücher aufgrund ihres von ihm angenommenen Authentizitätswertes eindeutig und radikal vom Literarischen ab (vgl. Nowojski 1999: 18) und bezeichnet sie allesamt als eine historische Quelle ersten Ranges.62 Bezeichnend ist für eine derartige, überspitzte 060 Im ersten Kapitel seines Curriculums betont Klemperer z.B. in einer Art captatio benevolentiae die Wahrhaftigkeit seiner Aufzeichnungen: „Ich habe die ehrliche Absicht, hier möglichst objektiv zu berichten, über mich selbst wie über alle andern.“ (CVI: 13) 061 Nancy K. Miller und Jason Tougaw (2002: 8) machen vor diesem Hintergrund im Hinblick auf Ruth Klügers und Victor Klemperers Zeugnisse darauf aufmerksam, dass dem Leser stets bewusst sein muss, dass ihm ein direkter Zugang zu den in diesen Dokumenten geschilderten Erfahrungen der Erschütterung und Angst prinzipiell vorenthalten bleibt. Die Kluft zwischen Sprache und Referenz in der autobiographischen Literatur ist in Rezeptionshinsicht unüberbrückbar. In „Traumatisme et transmission“ lenkt Régine Robin (1998: 127-131) auf ähnliche Weise den Blick auf die Problematik der Weitergabe bzw. Übermittlung des Erlebten in der Zeugenschaftsliteratur. Immerhin kann sie ihr zufolge als eine Art „Gegen-Monument“ (sensu Jochen Gerz) betrachtet werden, das über die kurze Betroffenheit des Betrachters traditioneller Denkmäler hinausreicht und zu bleibenden Debatten anzuregen vermag. Zum Verhältnis von Subjektivität der Narration und Objektivität der historischen Tatsachen in HolocaustTagebüchern vgl. auch Kanterian (2008: 350ff.). 062 In diesem Rahmen ist es besonders aufschlussreich, dass Victor Klemperer in einer Rezension über Arnold Zweigs Tagebücher aus dem Ghetto – „Inferno und Nazihölle“ (1959) – dokumentarische Quellen wie Zeugnisberichte oder Tagebücher als die einzig gültige Form betrachtet, in der angemessen über den Holocaust gesprochen werden kann; sie seien „unverfälschte Aussage des namenlosen Leides.“ (Klemperer 1959: 252) Somit legitimiert er gleichzeitig für sich selbst den historischen Erkenntniswert der eigenen Tagebücher. Literatur oder fiktionalisierte Darstellungen der Judenverfolgung und der Konzentrationslager seien lediglich Verfälschungen und Irreleitungen realer Begebenheiten, die letztlich zu einer verschönernden „Entgiftung des Grausamen“ führen (ebd.: 246). Literatur und Dokument, Dichtung und Wahrheit schließen einander für Klemperer mithin gegenseitig aus. Für eine detailliertere Lektüre von Klemperers Zweig-Rezension im Hinblick auf die diaristische Fiktion/Faktizitäts-Problematik vgl. Taterka (1999: 67-80).

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Hervorhebung des historischen Wahrheitsgehaltes eines Tagebuchs, dass die Tatsache, dass es eben geschrieben wurde, leicht aus den Augen verloren wird. Historiker wie gelegentlich auch Literaturwissenschaftler, die sich für den dokumentarischen Wert eines Textes interessieren, tendieren von Fall zu Fall dazu, die Performativität und Konstruktionshaftigkeit der Schreibtätigkeit nicht ausreichend zu berücksichtigen (vgl. Dresden 1997: 45). Dabei müsste man sich jedoch immer vor Augen halten, dass die Beschreibung eines Ereignisses und das Ereignis an sich nicht voneinander losgelöst interpretiert werden können.63 Der Aussagetendenz, die den Gegensatz von Fiktion und Realität verabsolutierend postuliert, begegnet man allenthalben im Diskurs über die Gattung Tagebuch. Die diffizile Frage nach der Literarizität des Tagebuchs bleibt in der Regel weithin unterbeleuchtet, weil – in systemtheoretischer Hinsicht – die wissenschaftliche Leitdifferenz „wahr/falsch“, die auch für die Historiographie beobachtungsleitend ist, auf selbstbiographische Prosaformen wie das Tagebuch übertragen wird (vgl. ebd.: 213; 220). Das Tagebuch wird zumeist als Wirklichkeitsaussage eingestuft und damit in Gegensatz zu anderen Prosaformen gestellt, die als künstlerisch und fiktional gelten, wie der Roman oder die Novelle (vgl. Sill 2001: 142).64 Demgemäß ist der allgemein akzeptierte Unterschied zwischen Tagebuch und Roman „gleichsam eine Aufspaltung des vielfältigen Spektrums literarischer Prosa diesseits und jenseits der durch den Maßstab historischer Faktizität konstituierenden Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion.“ (ebd.: 215) Um nun nicht in eine solche binaristische Fakt/Fiktion-Falle zu geraten, ist mit Gabriele Schabachers Autobiographietheorie (vgl. Schabacher 2007) ein Ansatzpunkt zu gewinnen, der heuristisch auch ein spezifisches Schlaglicht auf die Gattungsproblematik des Tagebuchs im Allgemeinen und auf den Textstatus von Klemperers Tagebüchern im Besonderen zu werfen vermag. Ohne an dieser Stelle auf grundsätzliche philosophische bzw. literaturwissenschaftliche Fragen nach dem Wesen von Wahrheit, Wirklichkeit, Faktizität und Fiktionalität einzugehen, soll im Folgenden die hybride Doppeladressierbarkeit der Tagebuchgattung an Geschichts- und Literaturwissenschaft erörtert werden.

063 Vor diesem Hintergrund verschiebt sich in der Autobiographie und im Tagebuch der Anspruch von objektiver „Wahrheit“ hin zur subjektiven „Authentizität“: „Das Wahrheitsgebot wird durch die Übernahme fiktiver Muster transformiert. An seine Stelle tritt der mit Fiktionalisierung durchaus kompatible Authentizitätsanspruch.“ (Holdenried 2000: 14) Zur autobiographietheoretischen Problematik von „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ selbstbiographischer Schriftformen vgl. weiter auch Wagner-Egelhaaf (2000: 40ff.). 064 Fest steht allerdings, wie Sem Dresden (1997: 22) in Bezug auf Holocaust-Tagebücher bemerkt, dass diese auf rein formaler bzw. stilistischer Ebene „selten oder nie literarische Experimente in technischer oder stilistischer Hinsicht enthalten. Sie berichten geradeaus, was sie zu berichten haben, und eben darin liegt ihre Stärke.“

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2.2.2 Doppeladressierbarkeit an Literatur- und Geschichtswissenschaft In ihrer Arbeit Topik der Referenz (2007) setzt es sich Gabriele Schabacher zum Ziel, der Autobiographietheorie ein Korrektiv für die oftmals postulierte Verabsolutierung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu bieten. Eine Reihe von Schabachers Beobachtungen zur Autobiographie kann gewinnbringend auf das Tagebuch übertragen werden. Auch in der Diskussion um die Gattungsfrage des Tagebuchs tritt das Problem von Faktizität und Fiktion zutage und rückt den disziplinären Konflikt zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft in den Mittelpunkt. Die Gattung zeichnet sich demzufolge auf theoretischer Ebene durch ihre grundsätzliche Doppeladressierbarkeit an beide besagte Disziplinen aus. In der Fakt/Fiktions-Frage handelt es sich um ein gattungsinhärentes und konstitutives Spannungsverhältnis, das jedem Tagebuch prinzipiell eingeschrieben ist. Lassen wir in diesem Zusammenhang den Historiker Jochen Hellbeck zu Wort kommen: Das Tagebuch stellt in Bezug auf seine Gattungsmerkmale und seine Bedeutung als historische Quelle für sowohl Literatur- als auch Geschichtswissenschaftler einen problematischen Gegenstand dar. Seine ‚unsichere‘ Stellung zwischen Literatur und Historiographie, zwischen Fiktion und Dokument, zwischen spontanem und reflektiertem Schreiben entmutigt so manchen Literaturwissenschaftler auf der Suche nach einer klaren Gattungsdefinition. Mindestens genauso schwer fällt es Historikern, das persönliche Zeugnis des Tagebuchs, das ein aufrichtiges, privates Zeugnis zu sein verspricht [...], objektgerecht zu erforschen. Das Verhältnis zwischen diaristischer Subjektzentriertheit und objektiver Realität sowie auch die Frage nach der Repräsentativität eines Tagebuchs als Protokoll individueller Erfahrung sind weitere komplizierte Fragen. (Hellbeck 2004: 621)

Aus diesem Chiasmus der Perspektiven soll ein differenziertes Verständnis dafür gewonnen werden, wie in Klemperers Aufzeichnungen historische und persönliche Problemfelder verhandelt werden. Für die gattungstheoretische Diskussion des Tagebuchs ist es notwendig, sich auf die Unterscheidung von Faktizität und Fiktion zu beziehen, ohne hier auf die Frage einzugehen, was die Konzepte an sich bedeuten. Obschon die Unterscheidung als ein eher vages Begriffspaar bezeichnet werden kann, lenkt sie grundlegende Leitoppositionen der abendländischen Episteme, wie Wissenschaft/Kunst, Wirklichkeit/Schein, Wahrheit/Wahrscheinlichkeit und eben auch Geschichte/Literatur (vgl. Schabacher 2007: 12). Auch für die Gattung Tagebuch ist die Differenzierung – in grenzüberschreitendem Sinne – gattungskonstituierend, indem sie eine Hybridisierung des Gegensatzes zwischen Faktizität und Fiktion darstellt (vgl. Preußer und Schmitz 2010: 10-12). Der Spannung zwischen Authentizität und Literarizität bzw. Geschichte und Literatur in Tagebuch oder Autobiographie ist sich Klemperer in hohem Maße bewusst. Der berufliche – philologische – Hintergrund des Diaristen überdeterminiert Schreibmodus und philosophische Ausrichtung der Tagebuchpraxis, die sich als hochgradig selbstreflexiver Vorgang erweist:

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Ich bin Literarhistoriker, und kein Metier kann ungeeigneter sein für das autobiographische Unternehmen. Denn wer sein Leben schreibt, muß mit sich selber allein sein, er darf in keinem Augenblick daran zweifeln, sich selber auszusagen. Mir aber sehen immer die Gestalten derer über die Schulter, mit denen ich mich von Berufs wegen so viel beschäftigt habe, und immer befürchte ich, sie könnten mir die Feder aus der Hand nehmen. Wenn ich etwas Peinliches einzugestehen habe, wird mein Gewissen warnen: ‚Denke an Jean-Jacques’ Koketterie!‘ Wenn ich von unsern Katern erzählen will, werde ich Montaigne fragen hören: ‚Spiele ich mit meiner Katze, oder spielt sie mit mir?‘ (CVI: 8f.)

Es ist insbesondere der Zeugnischarakter der Holocaust-Diaristik, der die Dimension des Faktischen als Frage nach historischer Augenzeugenschaft und referentieller Wahrhaftigkeit ins Zentrum des Gattungsinteresses rückt. Aufgrund der Tatsache, dass das Tagebuch an ein spezifisches Vor-Ort-Sein gebunden ist, bezieht der Diarist die Position des Zeugen, der die Wahrhaftigkeit seiner Aufzeichnungen dadurch beglaubigt, dass er nur ins Tagebuch aufnimmt, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Durch diese lokalisierbare Augenzeugenschaft – das Erzählen im Gestus des Glaubhaft-Machens – wird dem Text Quellenstatus zuerkannt. Im Hinblick auf Holocaust-Tagebücher soll betont werden, dass der Diarist nicht nur von seiner privaten Lebensgeschichte Zeugnis ablegt, sondern sich stets auch in eine kollektive Geschichte einreiht (vgl. Schabacher 2007: 168). Ein Blick auf die Rechtspraxis macht anschaulich, dass dem Zeugnis eines Augenzeugen in Bezug auf Glaubwürdigkeit und Wahrheitsgehalt eine ambivalente Bedeutung zukommt, da seine Wiedergabe der Fakten stets subjektiv gefärbt und perspektivisch beschränkt sein wird (vgl. ebd.: 173).65 Vor diesem Hintergrund ist es tatsächlich höchst problematisch anzunehmen, die Darstellung des Verlaufs der Ereignisse, ihrer Ursachen und Folgen wie ihrer Bedeutung in einem bestimmten Tagebuchwerk sei aus dem einzigen Grund in normativ-ontologischem Sinne „wahr“, weil der Diarist selbst dabei, körperlich anwesend gewesen sei (vgl. Young 1992: 61).66 Wahrheit und Dichtung sind in 065 Renaud Dulong entwickelte in Le témoin oculaire. Les conditions sociales de l’attestation personelle (1998) auf fruchtbare Weise eine Theorie des Zeugnisses, in der unter anderem die besondere Rolle des Zeugen in der Historiographie untersucht wurde. Dem Zeugnis der Holocaust-Opfer kam vor allem nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess im Jahre 1961 eine immer wichtigere Bedeutung zu. Nach Jahren des Schweigens bedeutete der Prozess eine Wende in der jüdischen Erinnerungskultur der Shoah, indem Überlebende dazu ermutigt wurden, ihr Schweigen zu brechen. Die Wende hin zur autobiographischen Zeugenschaft schlug sich wissenschaftlich in der Oral History nieder. Die mündlichen Zeugnisse wurden beispielsweise im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University oder im Steven Spielberg Film and Video Archive am U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington gesammelt und aufbewahrt. Mittlerweile wurde die historische Bedeutung persönlicher Zeugnisse zusätzlich auch im Hinblick auf die „ethnischen Säuberungen“ in Rwanda und Ex-Jugoslawien in der ersten Hälfte der 1990er Jahre von der Geschichts- und Literaturwissenschaft in den Mittelpunkt gerückt. Der „Ästhetik“ des Zeugnisses von Krieg, Massenmord und anderen kollektiven Traumata galt vor diesem Hintergrund beispielsweise in dem 2005 von Carole Dornier und Renaud Dulong herausgegebenen Sammelband Esthétique du témoignage das Augenmerk. 066 Für eine ausgewogene Auseinandersetzung mit der historiographischen Spannung zwischen Zeitzeuge und Historiker vgl. von Plato (2000), der – überspitzt – hervorhebt, der Zeitzeuge sei

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der besagten Gattung nur schwer voneinander zu trennen: Der narrative Vorgang des Beschreibens ist eindeutig von der Selbstinszenierung, der Selbstzensur und Deixis des Tagebuchautors kontaminiert. Das clair-obscur, das unvermeidbare Erhellen und Verdunkeln bestimmter Informationspartikel, liegt prinzipiell jeder Tagebuchpoetik zugrunde: „Tagebücher enthüllen in der Regel ebensoviel wie sie verbergen. Das Enthüllen kann eine Form des Verbergens sein und das Verbergen eine Form des Enthüllens.“ (Laemmle 1995: 200) Schreiben bedeutet immer, eine Auswahl zu treffen: Stets wird aus einer bestimmten Perspektive berichtet, und es liegen im Tagebuch keine Fakten ohne Interpretation vor. Eine gattungstheoretische Untersuchung, die den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt des Tagebuchs als Ausgangspunkt nimmt, muss folglich sehr bald in eine Sackgasse geraten. Im Lichte der hier vorgenommenen literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung Tagebuch erscheint die Behauptung in der Tat unhaltbar, die Eigenart dieses Genres bestehe nahezu ausschließlich in seinem dokumentarischen Charakter und der Wahrheit erfahrungsnaher Selbstbekundungen. Die Besonderheit der Gattung scheint sich vielmehr in der Komplementarität von Faktizität und Fiktionalität auffinden zu lassen. Wuthenow (1990: 4) stellt dazu fest, dass „das wichtige Problem der Wahrheit des diaristischen Schreibens [...], wie im Falle der Autobiographie, unlösbar heißen muß“, und die französische Tagebuch-Forscherin Béatrice Didier weist ebenfalls darauf hin, dass aus formaler Perspektive die absolute Unterscheidung zwischen Roman und Tagebuch kaum handhabbar sei: Das Tagebuch wird generell unter den gleichen Voraussetzungen wie ein Roman oder ein Gedicht veröffentlicht. Aber welchen formalen Regeln unterliegen aktuell Roman und Gedicht? Und besteht noch tatsächlich der Unterschied zwischen einer ‚Erzählung‘ und einer andersartigen Form wie dem ‚Tagebuch‘? (Didier 1976: 193)

Für die Gattung Tagebuch erscheinen die gängigen referentiellen Zuordnungskategorien „Fakt“ und „Fiktion“ überprüfungsbedürftig, da sich mit der Engführung von Tagebuch und Zeitgeschichte Privates, Historisches, Gesellschaftliches und Literarisches überlagern. Trotz der intendierten Wahrheitsvermittlung und der diaristischen Augenblicksperspektive als Bezogenheit auf den jeweiligen Tag der Verschriftlichung trifft der Tagebuchschreibende immer eine subjektive Auswahl aus dem Wahrgenommenen, die wesentlich die narrative Eigenart des Tagebuchs bestimmen (vgl. Rousset 1986: 9ff.).67 der „natürliche Feind“ des Historikers. Renaud Dulong (1998: 219-223) spricht vor diesem Hintergrund auf ähnliche Weise von der „Allergie“ des Zeugen gegen die Geschichtswissenschaft, weil die letztere von der persönlichen, emotionalen Erfahrung des Einzelnen abstrahiert und sich zum Ziel setzt, einen schlüssigen, wissenschaftlichen Diskurs zu schaffen, der – in psychologischer Hinsicht – oft im Widerspruch zur gelebten bzw. erlebten Zeitgeschichte des Zeugen stehen kann. 067 Aus der Diskussion zur diaristischen „Fiktionalität des Nicht-Fiktiven“, wie sie Jean Rousset in den Mittelpunkt stellt, tritt terminologisch die Differenzierung zwischen „Fiktionalität“ und „Fiktivität“ hervor. Der Begriff „Fiktionalität“ verweist nicht auf den ontologischen Status des

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Zeugnissen vom Holocaust liegt indes gerade die unmittelbare Wiedergabe der Tatsachen bzw. die dokumentarische Qualität des Aufgezeichneten in besonderem Maße am Herzen. Die Beteuerung der Authentizität der Darstellung vom Geschehenen ist ohne jeden Zweifel ein wichtiger Topos dieser Literatur. Hier soll auch keinesfalls der Authentizitätsanspruch, der auch Klemperers Tagebuchnotizen zugrundeliegt, zurückgewiesen, sondern – ganz im Gegenteil – kritisch beleuchtet werden. In Anlehnung an James Young macht Sascha Feuchert (2000: 18) vor diesem Hintergrund zu Recht darauf aufmerksam, dass Zeugnisse von Betroffenen insoweit authentisch sind, als sie als Erste die Ereignisse interpretiert haben. Die subjektgebundene Darstellungsweise bzw. Interpretation des Erlebten bzw. Geschehenen unterwandert bei näherem Hinsehen den angeblichen Faktizitätscharakter des Tagebuchs und verbietet die unreflektierte Rede von der Authentizität des Genres: Die „Authentizität“ einer Zeugenaussage – verstanden als die emotional erlebbare Einheit von Gefühl und Verstand, als Beisich-Sein – wird immer von unbeständigen Realitätskonstruktionen durchzogen (vgl. Young 1992: 92). Das Wahrgenommene ist nolens volens stets von dem spezifischen Wahrnehmungsvermögen und der politischen, philosophischen und religiösen Sichtweise des Diaristen überdeterminiert. Oft dient das Dargestellte einer These, die der Tagebuchautor – ob bewusst oder unbewusst – unter Beweis stellen will. Der Autobiographieforscher Paul John Eakin hebt vor diesem Hintergrund hervor, dass der Fiktionscharakter autobiographischer Texte prinzipiell nicht auszuschließen sei, dessen ungeachtet aber an der Kategorie der Referenz festgehalten werden müsse. Das autobiographische Dokument sei demnach als „referentielle Kunst“ (Eakin 1990: 131) aufzufassen,68 denn Referenz und Fiktion seien hier dialektisch und untrennbar aufeinander bezogen. Die Literarizität eines Tagebuchs kann allerdings schwer inhaltlich bzw. formal festgestellt werden, sondern ist hochgradig institutionell bedingt.69 Ein Holocaust-Tagebuch bedarf genauso wie ein Roman einer hermeneutischen Reflexion, um den Zeugnisgehalt angemessen zu interpretieren: Zum literarischen Zeugnis werden Tagebücher erst durch öffentliche Wahrnehmung, und nicht anders als fiktive literarische benötigen sie eine hermeneutische Reflexion. Diese muss die spezifischen Entstehungsbedingungen von Konspiration und Illegalität berücksichtigen, die die Situation jüdischer Tagebuchschreiber be-

Tagebuchtextes, sondern auf seinen textuellen Charakter, der durch das sich-selbst-schaffende Subjekt schreibend konstruiert und somit auch de facto fiktionalisiert wird. Die Bezeichnung „Fiktivität“ dagegen referiert auf Nicht-Existenz. Zum Unterschied zwischen „Fiktionalität“ und „Fiktivität“ vgl. beispielsweise auch Marszałek (2003: 35). 068 Ruth Klüger spricht im Hinblick auf autobiographisch geprägte Holocaust-Erzählungen auf ähnliche Weise von „wahrer Fiktionalität“ (Klüger, zit. n. Feuchert 2004: 50, Fußn. 119). 069 „Institutionell“ verweist hier auf die Tatsache, dass die Literarizität des Tagebuchs – wie Angela Sellner (1992: 32) nahelegt – oft von Distributionsformen und vom Vorhandensein einer lesenden Öffentlichkeit abzuhängen scheint. Das „literarische“ Tagebuch wäre auf eine künftige Leserschaft ausgerichtet, während das journal intime rein privat sei.

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stimmte und jede scheinbar nur beiläufig notierte Beobachtung zu einem Akt der Selbstbehauptung machte. (Breysach 2005: 50f.)

Manche Autoren – wie beispielsweise Görner (1986: 12) und Rüdiger (1975: 31) – unterstreichen im Kontext der „öffentliche[n] Wahrnehmung“, dass als Kriterium für die historische „Authentizität“ des diaristischen Zeugnisses auch die Veröffentlichungsabsicht des Tagebuchschreibenden in den Blick genommen werden müsse. Aus der Perspektive ihrer Zweckdienlichkeit könnten Tagebücher idealtypisch in solche aufgeteilt werden, die der Autor zu Lebzeiten veröffentlichen wollte und solche, die postum publiziert wurden. Die Veröffentlichungsabsicht des Tagebuchschreibenden kann dessen Schreibmodus inhaltlich insoweit mitbestimmen, als der explizite Öffentlichkeitsbezug zu einer strategischen oder aber auch unbewussten Beschönigung bzw. Schonung von Ego und Alter oder Beschädigung dieses letzteren führen kann (vgl. Hüttenberger 1992: 32ff.). Eine Differenzierung zwischen Tagebuchtexten, die für einen präsumtiven Leser geschrieben wurden, und solchen, die für das eigene, private Ich verfasst wurden, erscheint trotzdem aber wenig ergiebig, weil der Diarist sich in der Regel immer an eine imaginierte Leserschaft richtet (vgl. Moser 2002: 5). Postume Tagebücher werden in der Regel, so Lothar Bluhm, durch einen „erhöhten“ subjektiven Authentizitätswert charakterisiert: „Die postumen Diarien dürfen für sich – zumindest theoretisch – durchaus den Anspruch einer erhöhten Authentizität beanspruchen“ (Bluhm 1991: 31),70 denn, so könnte man mit Lejeune (1998: 323) fortfahren, „[s]obald man eine Publikation erwägt, erscheint der Tagebuchtext nur noch als Prätext, als Kladde, die es fertigzustellen gilt.“71 Lothar Bluhm bemerkt in diesem Zusammenhang weiter, dass jeder Diarist, selbst der, der seine Aufzeichnungen nicht unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmt sehen will, von dem Gedanken an mögliche andere Leser nicht frei ist. Ein Tagebuch wird demnach immer – auch – mit Blick auf eventuelle Leserschaft geschrieben. Dies gilt umso mehr, wenn der Diarist Schriftsteller [bzw. Wis-

070 Guy Besançon (2002: 19) betont im gleichen Zusammenhang, dass, wenn der Tagebuchschreiber „beabsichtigt, sein Tagebuch zu publizieren, [...] man nicht mehr wirklich von einem Journal Intime sprechen“ könne. Die Überarbeitung und bewusst oder unbewusst strategische Selbst- und Fremddarstellung im zur Publikation verfassten Tagebuch stünden, so Besançon, im krassen Gegensatz zur „Authentizität“ und „Selbstzwecklichkeit“ der unmittelbaren Niederschrift im postumen Tagebuch. Der absolute Unterschied zwischen privaten/intimen und literarischen/öffentlichen Journalen soll jedoch relativiert werden. Angela Sellner (1992: 32ff.) macht in diesem Rahmen darauf aufmerksam, dass im Hinblick auf die „Authentizität“ des Tagebuchs die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Tagebüchern wohl kaum durchzuhalten sei: Auch das Tagebuch, bei dem der Diarist keine künftige Leserschaft vor Augen hatte, unterliege Selbsttäuschungs- und Beschönigungstendenzen, welche an sich aber weniger machtstrategisch orientiert sein mögen als in „öffentlichen“ Tagebüchern. 071 Auf ähnliche Weise hält Lejeune (1997b: 53f.) andernorts fest: „Genauso wie eine Transkription die Stimme verflüchtigen lässt, so verliert auch die Druckfassung eines Tagebuchs einen erheblichen Teil von dem, was ein Tagebuchmanuskript aussagt. [...] Es gibt eine Unausgeglichenheit zwischen Tagebuchmanuskript und seiner Publikation. Die Edition eines Tagebuchs entspricht dem Willen, einen Schwamm in eine Zündholzschachtel einzupassen.“

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senschaftler, A.S.], d.h. als solcher schon auf Leserschaft fixiert ist. (Bluhm 1991: 262)

Angela Sellner (1992: 22) hebt hervor, dass die Gattung Tagebuch einen privilegierten Ort des Austausches zwischen Innen- und Außenwelt, Privatheit und Öffentlichkeit darstellt. So betrachtet kann das Tagebuch als „Ergänzung von Mikro- und Makrostudie“ (Abrath 1994: 17) genutzt werden. An der besagten historiographischen Ergänzungsqualität des Tagebuchs zeigt sich, dass sich das Tagebuch einer eindeutigen Positionierung im Literatursystem entzieht. Eine literaturwissenschaftliche Erörterung der mikrologischen Zwischenposition des Tagebuchs stellt ein grundlegendes Defizit dar. Daher werden die Überlegungen des folgenden Abschnitts diejenigen diaristischen Bauformen und Gattungskonventionen genauer unter die Lupe nehmen, die als Grundlage für eine differenzierte Darstellung der Gattung herangezogen werden.

2.2.3 Zeitzeugenschaft zwischen Mikro- und Makrogeschichte Tagebücher, genau wie andere „Ego-Dokumente“72 wie Briefe oder Memoiren, stellen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche stets auch Akte des Gedenkens dar, weil jedes Subjekt zeitlebens eigene Geschichtserfahrungen speichert, die vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens kollektive Aussagekraft besitzen (vgl. Hynes 1999: 209ff.). Der Wert des Tagebuchs für die Geschichtswissenschaft liegt – trotz seiner hochgradigen Subjektivität –73 somit in seiner Wechselwirkung von individueller und kollektiver Geschichte bzw. von „Authentizität“ und „Repräsentativität“: Der Versuch, durch das Tagebuch der eigenen Existenz einen objektiven Rahmen zu verschaffen, das Notierte zum Ausgangspunkt und zur Basis einer gleichsam privaten Geschichtsschreibung und Lebens-Chronik zu machen, verstellt nicht den subjektiven Blick auf die Welt: Das Tagebuch ist der Ort der Gefühls-Reaktion, des spontanen Reflexes. (Laemmle 1995: 191)

Aufgrund der „spontanen“ Verschriftlichung des Erfahrenen können Tagebücher für die Historie aufschlussreiche Quellen darstellen: Fehleinschätzungen oder zum Zeitpunkt des unmittelbaren Erlebens gültige Schwerpunktsetzungen wurden nachträglich nicht verändert. Diese Erfahrungsunmittelbarkeit der Verschriftlichung trifft auch weitgehend für Klemperers Aufzeichnungen zu. Der Diarist Victor Klemperer ist sich angesichts der beschränkten Perspektive als Zeitgenosse durchaus der historiographischen Faktizitätsproblematik beim Tagebuchführen bewusst. Er relativiert selbst – trotz oder gerade aufgrund von Zeit072 Zum Konzept des „Ego-Dokumentes“ in der Geschichtswissenschaft vgl. Schulze (1996). 073 Im Hinblick auf den historischen Quellenstatus der subjektzentrierten Gattung Tagebuch merkt Abrath (1994: 14) an: „Das Tagebuch stellt im Bereich historischer Quellengattungen gewissermaßen den Extremfall subjektiver Zeugnisse dar. Ein einzelner Autor verarbeitet hier z.T. intime Eindrücke aus einer von ihm perspektivisch wahrgenommenen Umwelt.“

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zeugenschaft bzw. Miterleben der Gegenwart – die historische Bedeutung seiner Notizen: „Wir wissen vom Heute noch weniger als vom Gestern und nicht mehr als vom Morgen.“ (ZAI: 424 [11.9.1938]) So hebt auch der polnische Dichter Czesław Miłosz in seiner Autobiographie hervor, dass selbstbiographisch geprägte Gattungen immer gewissermaßen „gefälscht“ seien, weil das sich-selbst-schreibende Subjekt prinzipiell nie imstande sei, das eigene Leben oder die Gegenwart gänzlich zu erfassen: Es sei sich epistemischer blinder Flecken nicht bewusst und fülle autobiographische Leerstellen narrativ aus. Das autobiographische Ich sei also aus historischer Perspektive nie selbstidentisch: „Jemand, der sein eigenes Leben beschreibt, müßte mehr als der Herrgott sehen, um alle Verknüpfungen zu begreifen.“ (Miłosz 2002: 40) Im Hinblick auf die Subjektposition im narrativen Vorgang des Tagebuchschreibens soll gleichfalls darauf hingewiesen werden, dass ein Zeugnis nie völlig geschichtssouverän sein kann. Der Geschichtswissenschaft gilt das Tagebuch meist als mikrohistorische Veranschaulichung einer „Geschichte von unten“: Mit der Gattung Tagebuch verbindet sich eine an den Tagesrhythmus gebundene Neigung zum Kleinen, zum Unbedeutenden und zum Detail, welche – historischen Teildisziplinen wie der Alltagsgeschichte, der Mentalitätsgeschichte oder dem New Historicism zufolge – makrohistorisch extrapolierbar sind. Auf allgemeiner Ebene heißt es diesbezüglich bei Schuller und Schmidt (2003: 7): „Das Kleinliche, das Nebensächliche, Triviale und Haarspalterische verbinden sich [...] ebenso wie die großartige Vorstellung, dass im Kleinen eine ganze Welt beschlossen liege.“ Dem „Kleinlichen“ kommt im besonderen Maße in Victor Klemperers Tagebüchern hohe mikrohistorische Bedeutung zu. Klemperers diaristische Detailversessenheit, die oft mit unverhohlener Lust am Festhalten von Bagatellen einhergeht, weist auf den mikrologischen Schreibmodus des Tagebuchschreibenden hin, der sich über weite Strecken auf die Wiedergabe flüchtiger Details richtet. Die Rekurrenz auf das Alltägliche, Gewöhnliche ist jedoch nicht (nur) Ausdruck einer persönlichen Schreibgewohnheit und -präferenz, sie ist geradezu als Genremerkmal aufzufassen: Die gattungsspezifische Tagebuchpoetik zeichnet sich in der Tat durch eine phänomenologische Wahrnehmungshaltung und Reflexionsperspektive aus, die Einzelmomente als Miniaturen im Tagestakt isoliert. Jeder einzelne Tagebucheintrag erscheint so in seiner abgetrennten Einzigartigkeit als relativ autonomes Porträt, dessen zeitlich eingegrenzter Horizont sich einem kohärenten Bild des Ganzen widersetzt. Das Ganze ließe sich somit als eine Myriade aus geschichtlichen Details – oder subjektiven Wiedergaben geschichtlicher Großereignisse – verstehen, die sich einem zusammenhängenden Themen- und Formenkonglomerat verweigern.74 074 Vorsichtshalber sei in diesem Rahmen zwar angemerkt, dass sich in den einzelnen Tagebucheinträgen Teilgeschichten, wie auch Suleiman (1996: 236f.) hervorhebt, auf Makro-Ebene zu übergeordneten narrativen Konstellation verbinden lassen. So manche rekurrente Geschichte bildet Erzählfäden, die das ganze Tagebuchkorpus durchqueren und somit richtunggebend seinen narrativen Fortgang bestimmen.

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Eine solche historiographische Auffassung ist – auf die Tagebuchtheorie übertragen – eng an hermeneutische Grundlagen gebunden. Am autobiographischen Schreiben wird beispielhaft die Problematik der hermeneutischen Situation und des geschichtlichen Verstehens überhaupt ersichtlich: Der Tagebuchschreibende erfasst paradigmatisch die Bedeutung seiner persönlichen Erfahrungen im Alltag als Modell für das Verständnis von „allgemeiner“ Geschichte. Nach Wilhelm Dilthey in „Das Erleben und die Selbstbiographie“ (1998) ist das historische Verstehen als hermeneutischer Zirkel zu betrachten: In der Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen wird das Einzelne vom Ganzen her und das Ganze wiederum über das Einzelne verstanden. Für das schreibende Subjekt einer Selbstbiographie bzw. Autobiographie hält Dilthey in diesem Zusammenhang fest, daß es sich die menschlichen Substrate, geschichtlichen Beziehungen, in die es verwebt ist, zum Bewußtsein bringt. So kann sich schließlich die Selbstbiographie zu einem historischen Gemälde erweitern; und nur das gibt demselben seine Schranke, aber auch seine Bedeutung, daß es vom Erleben getragen ist und von dieser Tiefe aus das eigene Selbst und dessen Beziehungen zur Welt sich verständlich macht. (Dilthey 1998: 32)

Die Tagebücher des Dritten Reiches sind Paradefälle dieser hermeneutischen Dialektik, gerade weil in ihnen die krisenhafte Zeitgeschichte zu krisenhafter Privatgeschichte wird und jede individuelle Angelegenheit unmittelbar mit dem gesellschaftspolitischen Kontext verknüpft ist. Im Hinblick auf den Stellenwert des schreibenden Individuums in selbstbiographischen Dokumenten kann man „von einer Konzeption des Subjekts ausgehe[n], die dieses als Produzent und Produkt der kollektiven wie der individuellen Geschichte begreift.“ (Rosenthal 1988: 5)75 Die textuelle Selbstinszenierung des Ich ist der performative Aspekt des Tagebuchführens, der als symbolische Handlung auch immer einen sozialen Akt darstellt. Dem Tagebuchschreiben als kulturelle Praxis, der vor allem im Dritten Reich als Selbstbehauptungsmittel in der jüdischen Bevölkerung eine besondere Bedeutung zukam, gilt im Folgenden das Augenmerk.

2.2.4 (Jüdische) Tagebücher im Dritten Reich Das Tagebuch zeigt sich gerade „in Zeiten, wenn die Subjektivität des Menschen in Gefahr zu sein scheint“ (Stewart 2005: 418) als außerordentlich verbreitet – mit einer „ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern“ (Friedländer 2006: 23), 075 Vor diesem Hintergrund erscheint die von Gustav René Hocke (1991: 33ff.) vorgeschlagene Zweiteilung der Gattung Tagebuch in „introvertierte“ (subjektive) und „extrovertierte“ (objektive) Tagebücher als höchst problematisch. Das tägliche Rechenschaftsablegen des Diaristen bezeugt gerade die intrinsische Dialektik von Ich und Geschichte, von „Subjektivität“ und „Objektivität“. In diesem Zusammenhang unterstreicht Peter Boerner (1969: 27) zu Recht die Überlappung bzw. Verzahnung der beiden Bereiche im Tagebuch: „Es ist unklar, wo das Intime endet und das gewissermaßen Öffentliche beginnt.“

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die während des Holocaust geschrieben wurde. Dem kritischen Tagebuch in solchen Zeiten kam vor diesem Hintergrund die Bedeutung eines Gegengewichts zur Entindividualisierung und Instrumentalisierung der einzelnen Person zu: Gegen die Diktatur technisierter Massen tritt das verbergende oder versteckte Tagebuch nun wie eine Naturkraft auf. Das einzelne Ich, das in Europa die Freiheit gekannt hat, will sie nicht mehr preisgeben. Das eingeschränkte, gebändigte, beleidigte und verletzte Ich bäumt sich mit zäher, verzweifelter Kraft gegen den Todesgriff des Nur-Wir auf. (Hocke 1991: 172)

Die Gattung Tagebuch hatte im Zeitraum des Dritten Reiches, der für die jüdische Bevölkerung mit der Koinzidenz zivilisatorischer und existenziell-psychischer Krise einherging, einen bedeutenden Stellenwert in der versuchsweisen Bewältigung dieser Krise wie auch im Zeugnisablegen vom Holocaust.76 Eine existenzielle Krisensituation, wie sie das Dritte Reich für die jüdische Bevölkerung darstellte, ist durch die Ungewissheit ihres Ausgangs gekennzeichnet. Die durch die Krise ausgelöste Unsicherheit erlaubt es den Betroffenen nicht länger, ein teleologisches und zukunftsorientiertes Lebens- und Gesellschaftsprojekt zu imaginieren: „Der Ausdruck ‚Krise‘ ist durch seinen diagnostischen und prognostischen Gehalt Indikator eines neuen Bewußtseins. [...] Jede Krise entzieht sich der Planung, rationaler Steuerung, die von der Fortschrittsgläubigkeit getragen ist.“ (Koselleck 1959: 134) In Krisenzeiten ist man sich selbst überlassen, und die zeitliche Perspektive wird radikal auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt: „Die Krise beschwört die Frage an die geschichtliche Zukunft.“ (ebd.: 105) Das Journal erweist sich vor dem Hintergrund der Aufhebung zeitlicher Kontinuität als privilegiertes Medium der Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Gegenwart bzw. als adäquate Verschriftlichungsform des täglichen Erlebens und alltäglicher Wahrnehmungen.77 Gustav René Hocke (1991: 26) hebt im Hinblick auf die Gattung Tagebuch – und dies trifft a forteriori für Krisentagebücher zu – die Untrennbarkeit des Persönlichen vom sozial-historischen Kontext hervor. Krisentagebücher78 sind

076 Die Bedeutung des (nichtjüdischen) Tagebuchs im Dritten Reich untersuchen Breloer (1999) und zur Nieden (1993). Diese Tagebücher waren in der Regel nicht zur Publikation konzipiert – im Gegensatz zu Autobiographien aus der NS-Ära, wie Peitsch (1990) betont. 077 Der Diarist Gerhard Nebel bezeichnet die Gattung Tagebuch als die geeigneteste Schriftform in Krisenzeiten wie der NS-Ära, da sie in ihrer Fragmenthaftigkeit und aufgrund der notwendigen Selbstdisziplinierung des Tagebuchautors Selbst- und Wirklichkeitsbewusstsein fördere: „Der Zustand, in den der Mensch geworfen ist, wenn ihn der Leviathan verschluckt hat, erlaubt keine Formung, kein größeres Werk. Zeit und Kraft reichen nur zu abgerissenen Notizen, und so ist das Tagebuch die letzte Waffe, die dem seine Freiheit verteidigenden Individuum geblieben ist. Dazu kommt aber nun ein anderer Grund. Wir haben unter der Herrschaft des Nichts fast alle Wirklichkeit verloren, Wirklichkeit unseres Daseins und Wirklichkeit der Welt, und das Tagebuch ist nun die Form, in der der Mensch Wirklichkeit ansammelt und sich aus der Leere herauszutasten versucht.“ (Nebel 1948: 6) 078 Manfred Jurgensen sieht in der Krisenhaftigkeit ein hervorstechendes Wesensmerkmal der Gattung Tagebuch: „Im Grunde seines Wesens ist das Tagebuch stets ein Krisenbuch.“ (Jurgensen 1979: 15) Auf ähnliche Weise bezeichnet Boerner (1969: 63) das Tagebuch als das typische „Genre der Krise.“

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demnach potenzierte kulturhistorische Fundorte, die den leidvollen Erfahrungen des Individuums im Ausnahmezustand kraftvoll Ausdruck verleihen könnten: „Die spannungsvollsten Tagebücher Europas sind [...] diejenigen, in denen eine individuelle Krise ebenso zum diaristischen Antrieb wird wie eine krisenhafte Umwelt.“ (ebd.: 21) Das Tagebuch dokumentiert und belegt darüber hinaus, wie die Sozialisierung des Individuums von Tag zu Tag verlief, und wie das Subjekt seine Identität prozesshaft bildete, umbildete und behauptete: Das Tagebuch [...] stellt einen Kristallisierungspunkt von sich überschneidenden Praktiken dar. Es ist folglich nicht am Rand verschiedener sozialer Praktikbereiche zu verorten, sondern stellt einen aufschlussreichen Indikator der gegenwärtigen Kultur dar, weil es sich gerade im Schnittpunkt dieser kulturellen Praktiken befindet. Ränder sind letzten Endes Orte, an denen sich unterschiedliche Domänen treffen, an denen Übergänge von hier nach da, von Gleichheit zu Andersheit, kontinuierlich ausgehandelt werden, und an denen gegenseitig abhängige Definitionen von Individualität und Alterität immer wieder neu formuliert werden. (Langford und West 1999: 7)

Am Tagebuch wird somit „der Versuch [ersichtlich], dem Vergessen zu wehren, die Daseinsflüchtigkeit aufzuhalten, Freude und Leid Sinn zu geben, den nämlich: Text zu werden, der nicht so schnell [...] vergeht.“ (de Bruyn 1995: 14) Der materiellen Dimension der autobiographischen Aufzeichnungen wird in historischen Krisenzeiten besondere Bedeutung beigemessen, bewahren sie doch als papierenes Medium eine lesbare Spur des Selbst und seiner Mitwelt. Die Tagebücher regimekritischer Diaristen wurden demnach stets sorgfältig aufbewahrt, vielfach auch versteckt oder an enge Freunde zur Verwahrung weitergegeben (vgl. Bluhm 1991: 25). Bereits auf rein materieller Ebene – mit den Zeichen des Bleistifts auf dem Papier – verschriftlicht der Diarist seine Präsenz, sein Fortdauern: „Jeder Tagebucheintrag [...] stellt das Überleben des Autors unter Beweis.“ (Stewart 2005: 418) Solche höchst speziellen Gebrauchstexte können weder unipolar als zeithistorische Quellen noch als rein privatgeschichtliche Seelenoffenbarung gedeutet werden. Jüdische Tagebücher im Dritten Reich geben darüber Auskunft, wie die Geschehnisse der Politik auf das Leben der Einzelnen übergriffen. Im Mittelpunkt der Aufzeichnungen stehen die konkreten Auswirkungen von – aus heutiger Sicht in ihrem Zustandekommen geradlinig erscheinenden – Zwangsmaßnamen und Gesetzen auf konkrete Individuen. Die Verfolgten erhalten so persönliche Konturen und werden der anonymen Erklärungsmatrix der Geschichtswissenschaft entrissen (vgl. Faber 2005: 56; Feuchert 2004: 53). Tatsächlich trägt die Beschäftigung mit jüdischen Tagebüchern aus dem Dritten Reich zur Aufwertung des schreibenden Subjekts bei, so dass die gängige betriebene Entindividualisierung zum Teil zurückgenommen wird. Zu untersuchen ist vor diesem Hintergrund, inwiefern das Tagebuchschreiben im Nationalsozialismus eine Bewältigung der allmählichen Ausgrenzung, der Todesangst und der Shoah darstellt und einen psychischen Schutzwall des Diaristen gegen Deprivationsmomente formen kann. Diese Tagebücher, ähnlich wie Gefängnisliteratur, sind, so Sigrid Weigel (1982: 7),

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ein „Reproduktionsort der Freiheit des Subjekts im Zustand der Gefangenheit, die schreibende Bewahrung einer freien Seele bei gefangenem Körper.“ Emanuel Ringelblum (1967: 21) berichtet in seinen Tagebüchern aus dem Warschauer Ghetto von der weit verbreiteten Praxis des Tagebuchführens in der jüdischen Bevölkerung, die auf persönliche Weise von ihrem Schicksal Zeugnis ablegt. Diese persönliche Sicht eröffnet eine Perspektive des Holocaust, die anschaulich begreiflich macht, dass konkrete Einzelschicksale sich hinter historiographischen Holocaust-Darstellungen, anonymen Statistiken und politikwissenschaftlichen Faschismustheorien verbergen, die sich oft spezifisch mit der Täterseite beschäftigen. Dagegen erscheint die jüdische Bevölkerung als passives Kollektiv gewissermaßen entindividualisiert und pauschalisiert (vgl. Friedländer 2006: 23f.; Löw 2001: 112). In jüdischen Tagebüchern aus der NS-Zeit wird die gesamte Bandbreite an Reaktionen, Meinungen, Charakteren, Mentalitäten und Lebensläufen der Mitverfolgten geschildert.79 Die Tagebücher von Menschen, die unmittelbar vom Holocaust betroffen waren, wie – um nur einige wenige bekannte zu nennen – Emanuel Ringelblum, Oskar Rosenfeld, Abraham Lewin, Chaim Aron Kaplan, Etty Hillesum, Anne Frank, Mihail Sebastian veranschaulichen, zeigen die Verwobenheit privater Geschichten mit der Geschichte des Holocaust. Können Victor Klemperers Tagebücher in diese Reihe gestellt, können sie unter dem Gattungsbegriff „Holocaustliteratur“ gefasst werden? Versuchen wir im Folgenden in breve eine vorläufige Antwort auf diese Frage zu finden. Zur Definition des Begriffs „Holocaustliteratur“ soll zunächst unter Rekurs auf Sascha Feuchert (2000: 14ff.; 22f.) der Blick auf die beiden Einzelbestandteile der Zusammensetzung gelenkt werden: „Holocaust“ und „Literatur“. Manchmal werden ausschließlich fiktive Texte zum Holocaust zur Holocaustliteratur gezählt, dann wieder handelt es sich lediglich um „authentische“ Werke wie Tagebücher, Briefe, Autobiographien und Memoiren von Holocaustüberlebenden, und manchmal werden beide Textarten gemeinsam der Gattungsbezeichnung „Holocaustliteratur“ zugeordnet. Auch der Begriff Holocaust wird auf unterschiedliche Art und Weise definiert: In bestimmten Untersuchungen umfasst das Konzept die Gesamtheit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik (Diskriminierung, Entrechtung und Enteignung, Verfolgung, Vernichtung) gegen alle Opfergruppen (an erster Stelle Juden, aber auch Roma und Sinti, Homosexuelle, geistig Behinderte, politisch Oppositionelle, Zeugen Jehovas, „Asoziale“ u.a.), in den meisten Fällen indes bezieht sich der Begriff spezifisch auf den von den Deutschen verübten 079 Michael Hofmann (2003: 19) zufolge hat die Holocaustliteratur – und in dieser Kategorie nimmt die autobiographische und diaristische Zeugenschaftsliteratur eine herausragende Stellung ein – jenseits einfacher Opfer- und Täterdarstellungen einen wichtigen Beitrag zur komplexeren Wiedergabe der Holocaust-Problematik geleistet, indem sie sich gegen positive Sinnstiftung und harmonische Synthesen wendet: „Die Literatur spielt in dieser von Aporien und Paradoxien geprägten Suche nach einem Verstehen des Unbegreiflichen gerade deshalb eine wichtige Rolle, weil sie als eine sprachliche Kunst über die Fähigkeit verfügte, die Tragweite und Leistungsfähigkeit des eigenen Tuns zu reflektieren.“

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Völkermord an den europäischen Juden,80 der auch mit dem hebräischen Shoah (Katastrophe) beschrieben wird. Nachdem hier das historische Hauptinteresse schwerpunktmäßig der antisemitisch motivierten Verfolgung Victor Klemperers gilt, die als unmittelbarer Entstehungskontext seine Tagebuchnotizen geprägt hat, wird für diese Studie der Ausdruck „Holocaust“ auf die „gegen Juden ausgerichtete nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik“ festgelegt. Aufgrund der Tatsache, dass der Autor eindeutig von antisemitischer Verfolgung betroffen war, können seine Tagebücher wohl vorbehaltlos unter die Kategorie Holocaustliteratur subsumiert werden. In die von S. Lillian Kremer 2003 herausgegebene zweibändige Enzyklopädie Holocaust Literature wurden Victor Klemperers Tagebücher aus der NS-Zeit damit auch zu Recht aufgenommen. Ihnen ist ein siebenseitiger Artikel gewidmet, in dem die historische Zuverlässigkeit der Diarien im Hinblick auf die judenfeindliche Verfolgungspolitik unterstrichen wird (vgl. Ossar 2003: 663-669). In begrifflicher Hinsicht verstehen die Autoren der Beiträge dieses Referenzwerkes unter Holocaust sämtliche Aspekte der gegen Juden gerichteten nationalsozialistischen Rassen-, Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen. Der Enzyklopädie liegt auch in puncto Literaturkonzept ein sehr weiter Begriff der Holocaustliteratur zugrunde, der sämtliche literarischen Texte über den Holocaust umfasst, unabhängig davon, ob es sich gattungsmäßig um Prosa, Drama, Lyrik oder selbstbiographische Texte handelt, ungeachtet der Tatsache, ob die Verfasser jüdische oder nichtjüdische Autoren, Opfer des Holocaust oder Nachgeborene sind (vgl. Kremer 2003: xxi). Auch geschichtswissenschaftliche und philosophische Texte zum Holocaust,81 etwa von Alain Finkielkraut, Jean-François Lyotard oder Hannah Arendt, werden der Kategorie der Holocaustliteratur zugeordnet. Aus historischer Perspektive ist gleichwohl anzumerken, dass Klemperers Dresden allerdings nicht Auschwitz und auch nicht Buchenwald oder Theresienstadt gleichzusetzen ist. Seine Aufzeichnungen stellen lediglich die „Vorhölle“ des Holocaust dar (vgl. Nowojski 2004: 33-46; Reemtsma 1997: 182), die den Leser zwar entsetzen und bestürzen, aber ihn nicht in einen Bereich versetzen, vor dem die menschliche Vorstellungskraft versagen muss. Immerhin gewähren Klempe080 Im zweiten Teil („Problems and Interpretations“) ihrer Arbeit The Columbia Guide to the Holocaust weisen Niewyk und Nicosia (2000: 45) auf diese gängige – aber nicht unumstrittene – Definitionsrichtung des Holocaust hin: „Der Holocaust wird im Allgemeinen definiert als der von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg verübte Mord an mehr als 5.000.000 Juden. Die Nazis ermordeten auch Millionen Angehörige anderer Gruppen: Zigeuner, körperlich und geistig Behinderte, sowjetische Kriegsgefangene, polnische und sowjetische Zivilisten, politische Gefangene, religiös Andersdenkende, Homosexuelle.“ Diese Definition des Holocaust lässt dem Völkermord an der jüdischen Bevölkerung – nicht zuletzt wegen ihres Ausmaßes und ihrer ideologischen Zentralität im Nationalsozialismus – eine besondere Bedeutung zukommen. Für eine einführende begriffliche und historische Auseinandersetzung mit dem Holocaust vgl. Bauer (2001: 1-13). 081 Hier möchte ich allerdings für eine Abgrenzung plädieren, und dies nicht nur aus pragmatischen Gründen, sondern auch weil die Interpretationsleistungen von wissenschaftlichen Texten andersartig als jene von literarischen Artefakten sind.

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rers Notizen bildhaft Einsicht in eine bestimmte Stufe der Durchführung des Holocaust:82 Die betreffende Stufe, von der Klemperer ausdrucksvoll Zeugnis ablegt, ist die der allmählich zunehmenden Einschnürung des Handlungsraumes, die in letzter Konsequenz auch in einem Vernichtungslager hätte enden können.83 Klemperer hatte deutlich erkannt, dass seine Tagebuchaufzeichnungen die Schrecken der Massenvernichtung in Konzentrations- oder Vernichtungslagern wie Buchenwald bzw. Auschwitz nicht memorieren konnten. Diese Erfahrungen gehörten nicht zu seiner Erlebniswelt (vgl. ZAII: 314 [18.1.1943]).84 Vor diesem Hintergrund bezeichnet der Tagebuchautor seine Erlebnisse ex post, im Vergleich zur kaum darstellbaren Bedrängnis der sechs Millionen Juden, die der Vernichtung nicht entkommen waren, nicht als „Hölle“, sondern – in ihrer Vorstufe – als „Limbo“. So gesteht Klemperer in Bezug auf seine Lage während des Zweiten Weltkriegs ein, „daß ich damals für die tiefste Hölle hielt, was ich später höchstens für ihren Vorhof, für den Danteschen Limbo nahm.“ (LTI: 57)85 Bis in das Jahr 1939 hinein genoss Victor Klemperer dank der Mischehe mit Ehefrau Eva Privilegien, in deren Genuss andere Juden niemals kommen konnten. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Rassenpolitik und den Verfolgungsprozess von deutsch-jüdischen „Mischehen“ und „Mischlingen“ auch nur annähernd darzustellen.86 Für unsere Zwecke soll die Feststellung ausreichen, dass auch diese Verfolgungen zu einer Vielzahl auswuchsen und dass das Überleben der jüdischen Ehepartner völlig von den „arischen“ Ehehälften abhängig war. Tod oder Scheidung der „arischen“ Ehehälfte bedeutete mit großer Sicherheit die Deportation für den hinterbliebenen jüdischen Partner: 082 Die Metapher der Danteschen Höllenkreise findet sich wiederholt in Klemperers Notizen. Sie zeigt das klare Bewusstsein um die schicksalshafte Untergangsdynamik der Judenverfolgung. In seinem Silvesterfazit 1938 hält Klemperer in Bezug auf die Novemberpogrome fest: „Seit der Grünspan-Affäre das Inferno. Aber ich will nicht voreilig behaupten, daß wir bereits im letzten Höllenkreis angelangt sind. Sofern nicht die Ungewißheit das Schlimmste ist. Und sie ist es wohl nicht, denn in ihr ist immer noch Hoffnung. Auch haben wir ja noch Pension und Haus.“ (ZAI: 449 [31.12.1938]) 083 Die für den 16. Februar 1945 vorgesehene Deportation der „letzten“ Dresdener Juden kam durch die Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 nicht mehr zustande. Victor Klemperer hatte am 13. Februar noch die Deportationsbescheide an alle jüdischen „Einsatzfähigen“ verteilt. Alle Adressierten stammten aus Mischehen, aber Klemperer selbst stand nicht auf der Liste, da er als entpflichtet galt, weil seine Arbeitsunfähigkeit vom Arzt Willy Katz glaubwürdig gemacht worden war (vgl. ZAII: 658f. [13.2.1945]). Zu diesem Abschnitt in der Geschichte von Victor Klemperers Verfolgung in Dresden vgl. ebenfalls Jacobs (2000: 271ff.). 084 Victor Klemperers diaristischem Kommentar zu den 1942 bis 1945 zirkulierenden Informationen über Auschwitz sowie auch der Darstellung seines Besuchs in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers im Jahre 1952 gilt das Interesse in Zieske (2013: 115-142). 085 Auch in der DDR-Zeit vertritt der Tagebuchautor die Meinung, Auschwitz sei die letzte Stufe im Danteschen Höllenkreis gewesen: „[G]ewiß es gibt Dantesche Höllenstufen, u. Auschwitz ist allerletzte Höllentiefe.“ (SSII: 662 [23.11.1957]) 086 Ohne an dieser Stelle näher auf diese Frage einzugehen, verweise ich den Leser für weitere Informationen über den Sonderstatus der deutsch-jüdischen Mischehe im Dritten Reich auf Dettmer (1997), Meyer (2002: 23-94), Stoltzfus (1995) und Stoltzfus (1999: 43-70).

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Im Haus hier wohnt ein riesiger und gutmütiger Mann Heim, mit dem ich gelegentlich ein paar Worte wechselte. Ein Gastwirt. Seine Frau habe ich nie zu Gesicht bekommen, sie war schon krank, als wir einzogen. Der Mann ist selber sehr herzleidend. Gestern nachmittag ist die arische Frau (Krebs) gestorben. Der Mann muß nun gleich (ut aiunt) ‚sein Köfferchen packen‘: Er wird bestimmt in kürzester Zeit abgeschoben, mindestens nach Theresienstadt. (ZAII: 491 [28.2.1944])

Selbstironisch notiert Klemperer bezüglich seines Sonderstatus in einem Brief an seinen Neffen Walter Jelski, der im Jahr 1938 nach Jerusalem ausgewandert war: [W]enn man 57 Jahre alt ist und die letzten zwanzig Jahre als fetter Bourgeois und beinahe als kleines grosses Tier verbracht hat, mit Titeln und Würden behängt, Besitzer einer ‚Villa‘ und eines Autos – dann ist die Geschichte wahrscheinlich besonders eklig. Widerum [sic] geht es nicht blos [sic] uns so, und Abertausenden noch ungleich schlechter als uns. (A 188 [17.1.1939])

Klemperer hatte, wie ihm sehr bewusst war, „als Mischehemann immerhin nicht ganz so vieles zu befürchten wie die andern.“ (ZAII: 216 [20.8.1942]) Nur eine kleine Minderheit dieser „andern“, der KZ-Häftlinge, die Aufzeichnungen führen wollten, hatten auch tatsächlich die Möglichkeit dazu. Materielle Minimalvoraussetzungen für das Tagebuchführen inmitten der Shoah waren der Zugang zu Schreibmaterial und Papier sowie Zeit, Kraft und Ort zum Schreiben. Diese Grundvoraussetzungen waren im Lager in der Regel nicht gegeben oder galten zumindest als Ausnahme.87 Das Tagebuchschreiben war somit während des Holocaust – und dies soll nicht aus den Augen verloren werden – eine besonders prekäre Aktivität. Im Gegensatz zur existenziellen Extremsituation im Konzentrationslager blieb Klemperer – trotz der Todesangst um das Entdecktwerden in seiner heimlichen Schreibtätigkeit – bis zum Ende des Krieges die Möglichkeit, sich selbst im Schreiben zu beheimaten und neu zu orientieren.88 Obwohl gravierende Unterschiede zwischen der Lage der Juden im Lager und deren im „Judenhaus“ bestanden, lassen sich doch grundsätzliche Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Schreibmotiven ausmachen: der Wunsch, ein Zeugnis von der Shoah für die Nachwelt abzulegen, als Pflicht den Toten gegenüber,89 und der Versuch, 087 Zur Funktion des Tagebuchschreibens im Lager vgl. Renata Laqueur (1992: 31-34), die in ihrer Untersuchung Schreiben im KZ. Tagebücher 1940-1945 eine Reihe unveröffentlichter Tagebücher jüdischer und anderer KZ-Häftlinge unter die Lupe nimmt. 088 Dessen ungeachtet soll betont werden, dass, wie Alexandra Garbarini (2006: 163) hervorhebt, jüdische Tagebuchschreiber während des Holocaust nicht immer das Gefühl eines stabilen und wertvollen Selbst bewahren konnten. Gelegentlich führte die diaristische Selbstreflexion unter diesen Krisenumständen zu einer Selbstauflösung, die den Blick primär auf die Leiden der Schicksalsgefährten lenkte. Das Führen eines Tagebuchs stellte somit sicherlich nicht immer ein Wundermittel dar, mit dem man sein Menschsein vor der Bedeutungslosigkeit retten konnte. 089 Im Hinblick auf die Analyse von Holocaust-Tagebüchern sei nachdrücklich hervorgehoben, dass diese Arbeit keineswegs suggerieren will, das unsägliche Leiden hätte die jüdischen Tagebuchautoren gewissermaßen moralisch geadelt. Ein solcher Subtext, der von der universalisierenden Ästhetisierung des Zeugnis-Ablegens ausgeht, verliehe dem Genozid eine letzte Bedeutung, die er nicht hatte. Die Bedeutung des Tagebuchschreibens für das Überleben jüdischer Diaristen soll somit nicht überschätzt und aus dem Kontext der der Opfer gerissen werden: Das Ziel dieser Menschen war nicht primär, der Nachwelt ihre Aufzeichnungen zu hinterlassen,

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sich der allgegenwärtigen Kontrolle der SS zu entziehen und einen Raum zu schaffen, der nicht von äußerer Gewalt begrenzt war. Wenn Klemperer auch selbst nicht der Entmenschlichung im KZ ausgesetzt war, so verdankt er dennoch, wie viele andere jüdische Überlebende des Holocaust, sein Überleben dem Zusammenspiel einer Reihe Zufälle.

2.3 Identität und Tagebuch IDENTITÄT UND TAGEBUCH

2.3.1 Autorschaft, Identität und Diaristik In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen abstrakte Begriffe wie ‚Subjekt‘ oder ‚Geschichte‘ obsolet zu werden. Im Lichte des linguistic turn erschien die Möglichkeit des Subjekts, die Geschichte aktiv mitzuprägen oder zu verstehen, hochgradig eingeschränkt. Angesichts der Verstricktheit in die Diskurse sollte das Individuum nun nicht länger imstande sein, über Autonomie oder objektive Erkenntnisfähigkeit zu verfügen. Aus poststrukturalistischer Perspektive betrachtet, ist der Autor der Knotenpunkt ineinander verflochtener Diskurse.90 Vor diesem Hintergrund ließe sich das Tagebuch nicht mehr einfach als Text lesen, der auf einem privilegierten apriorischen Zugang des Diaristen zu seinem Selbst beruht. Das Eingeständnis des fiktionalen Charakters des Tagebuchs hätte allerdings weitreichende Folgen, weil damit die Differenz zwischen diaristischen und fiktionalen Texten aufgehoben wäre. Die Gattung Tagebuch würde ihr gattungsdistinktives Merkmal als Ort privilegierter Referentialität verlieren. In dieser Untersuchung wird einerseits die positivistische bzw. intentionalistische Vorstellung abgelehnt, die davon ausgeht, dass sich das Wesen eines autonomen Subjekts auf authentische Weise im Tagebuch widerspiegelt, andererseits wird auch die Auffassung des Tagebuchs als Textform, die lediglich ein textuelles Ich hervorbringt, kritisch hinterfragt.91 Der Tagebuchautor ist mehr als nur ein sondern bloß zu überleben (vgl. Garbarini 2006: 5). Obschon der Diaristik von ihren Verfassern in psychologischer Hinsicht viel Bedeutung beigemessen wurde, war es keineswegs ihr Ziel, sich für ihre Notizen zu opfern. Vor diesem Hintergrund sollte man sich davor hüten, die Tagebücher jüdischer Opfer – auch die des Victor Klemperer – zu sakralisieren, wie es stellvertretend für viele andere – meiner Ansicht nach – Theo Stammen (2001: 284) tut, der im Hinblick auf die Klemperer-Notizen behauptet, das Tagebuchschreiben sei „die eigentliche Legitimation seines Lebens, seiner ganzen Existenz geworden.“ Auf ähnliche Weise kommt den Tagebüchern auch Johannes Klare (1996: 150) zufolge – im überhöhten Sinne – eine lebensrettende Bedeutung zu: „Das Tagebuch [...] erhält Victor Klemperer buchstäblich am Leben.“ 090 Der Autor ist vor diesem Hintergrund eine Funktion in der universellen Intertextualität. Grundlegend und richtungweisend für dieses Autorkonzept sind Roland Barthes’ Aufsatz „Der Tod des Autors“ (2000) und Julia Kristevas „Der geschlossene Text“ (1977). 091 Stellvertretend für viele andere Studien dieser Interpretationsrichtung – vor allem aus den 1970er und 1980er Jahren – kann Manfred Jurgensens Arbeit Das fiktionale Ich (1979) genannt werden, die sich vor allem mit der Gattung Autobiographie beschäftigt, sekundär aber auch den Blick auf das Tagebuch richtet. Durch die postulierte Fiktionsträchtigkeit des diaristischen Sub-

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bloßer Diskurseffekt, mehr als eine quasi anonyme Matrix gesellschaftlicher Strukturen. Vor diesem Hintergrund wird in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur eine paradigmatische Wende hin zur „Rückkehr des Autors“92 erkennbar: Nach den Gedankenfiguren der Psychoanalyse, der Diskurstheorie und der Dekonstruktion, die Autorschaft ebenso wie das autobiographische Schreiben in den Paradoxien eines scheinsouveränen, aber zugleich unterminierten Subjekts und in den Primat der multiplen Diskurse aufgehen ließen, scheint nun eine gewisse Ernüchterung und Bilanzierungsemphase eingetreten zu sein. Roland Barthes sprichwörtlich und dramatisierend rezipierte Rede vom ‚Tod des Autors‘ machte der Foucaultschen Frage ‚Was ist ein Autor?‘ Platz, sie machte Platz einer detaillierten Erforschung historisch variabler Formen und Typen von Autorschaft. (Stüssel 2006: 20f.)

Hierbei wird die subjektive Grundlage der Geschichte hervorgehoben: Geschichte ist in eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelgeschichten zerfallen, die über verschiedenste Gegenstände erzählt werden können. Die Geschichte – wie sie beispielsweise in der ‚Nouvelle Histoire‘ (Jacques Le Goff) oder in der Alltagsgeschichte (Lutz Niethammer/Michel de Certeau) betrachtet wird – ist perspektiviert und pluralisiert worden: Die Wahrnehmung der Vergangenheit und ihre Erzählung können aus unterschiedlichen, gleichberechtigten Perspektiven geschehen. Das Subjekt seinerseits ist historisiert und weist keinen transzendentalen Status auf. Subjektivität muss dementsprechend unter Einbeziehung der geschichtlichen, intersubjektiven und diskursiven Verhältnisse rekonstruiert werden (vgl. Deines, Jaeger und Nünning 2003: 2). Die vorliegende Studie insistiert auf der Vereinbarkeit von Referentialität und Textualität des Tagebuchs, die einen Raum gattungstheoretischer Reflexion eröffnet, die den Blick auf sowohl ein schreibendes und schaffendes Subjekt wie auch auf die (inter-)diskursiven Grundlagen selbstbiographischen Schreibens lenkt. jekts kann, so glaube ich, die komplexe Gattungsspezifizität des Tagebuchs nicht gefasst werden. Die inhaltliche Ausrichtung des Genres ist unmittelbar durch die geschlechts-, klasse-, rasse-, religions- und nationsabhängige Habitusstruktur des Diaristen bestimmt, die nicht einfach ausgeblendet werden kann. Darüber hinaus gibt es persönliche bzw. körperlich-psychologische Erfahrungen – wie Schmerz oder Angst –, die, obgleich ihnen im Tagebuch natürlich auch sprachlich Ausdruck verliehen wurde, dem Individuum eigen sind und nicht schlichtweg als Diskurse oder periphere, sprachlich konstruierte Kontexteffekte betrachtet werden können. Vor allem für die vorliegenden Studie über ein jüdisches Tagebuch aus der NS-Zeit würde eine einseitige Diskursorientierung eine Verarmung bedeuten, weil man dem schreibenden Subjekt, das gerade um Überleben und Selbstbewahrung bemüht war, nicht ganz gerecht wird. Vor diesem Hintergrund merkt Gotthart Wunberg (2001: 234) an, dass das Tagebuch als Gattung „primär das Dokument unverstellter Subjektivität“ ist, erst sekundär sei es ein Objekt diskursanalytischer Erforschung. 092 Die Debatte um die paradigmatische Wende in der Konzeptualisierung des Autorbegriffs wurde beispielsweise 1999 im von Fotis Jannidis, Matias Martinez und Gerhard Lauer herausgegebenen Sammelband Rückkehr des Autors. Zur Erinnerung eines umstrittenen Begriffs thematisiert. Für eine theoretische Annäherung an den aktuellen subjektorientierten Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft vgl. beispielsweise Finck (1999), Jannidis (1999), Martinez (1999), Kögler (2003), Deines, Jaeger und Nünning (2003) und Volkening (2006: 13-26).

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Die Frage, wie das Verhältnis zwischen textuellem Ich und empirischem Ich in selbstbiographischen Gattungen definiert werden kann, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. An Philippe Lejeunes breit kommentierte rezeptionsästhetische Studie Der autobiographische Pakt (1994) anschließend, lässt sich feststellen, dass aufgrund der Tatsache, dass der Autor dem Ich im Tagebuch seinen eigenen Namen verleiht, der Leser dazu angehalten wird, einen Text als einen diaristischen, d.h. als einen referentiellen, zu lesen. Die Lust am Lesen eines Tagebuchs hängt vor diesem Hintergrund im besonderen Maße von der Annahme ab, dass der Text auf eine extratextuelle Wirklichkeit verweist. Durch den einzigen Akt der Signatur erscheinen die textimmanenten Daten dem Leser als transtextuelle Fakten (vgl. Böning 2000: 353; Marszałek 2003: 25). Die referentielle, über seine eigene Textualität hinausweisende Eigenschaft des Tagebuchs liegt Lejeune zufolge auf der pragmatischen Ebene.93 Der autobiographische Sprechakt steht bei Lejeune im Mittelpunkt der Autobiographietheorie. Er hebt hervor, dass der Lesevertrag über die Inbesitznahme des Eigennamens für die Repräsentation der autobiographischen Autorfunktion zustande kommt. Lejeune interessiert die Gattung nicht als referentieller Spiegel des Autors, sondern als Text, der dem Leser einen Vertrag anbietet, wie er den Text zu lesen habe. Die Referenz stellt nicht die Ursache des autobiographischen Textes dar, sondern ist seine Wirkung, die vom Leser erst gemäß Konvention hergestellt wird.94 In diesem Zusammenhang differenziert Lejeune auch zwischen „Autor“ und „Person“: Ein Autor ist keine Person. Eine Person schreibt und publiziert. Er steht auf der Kippe zwischen Nicht-Text und Text und ist die Verbindungslinie zwischen beiden. Der Autor ist gleichzeitig als tatsächlich existierende und sozial verantwortliche Person definiert und als Produzent eines Diskurses. Für den Leser, der die tatsächlich existierende Person nicht kennt, aber an ihre Existenz glaubt, ist der Autor als Person definiert, die imstande ist, diesen Diskurs hervorzubringen, und die er sich aufgrund dieses ihres Produkts vorstellt. (Lejeune 1994: 24)95

093 Fiktionale Texte weisen sich gerade durch die Suspendierung der Wahrheitsansprüche aus (vgl. Stierle 1975). Im Gegensatz zum Tagebuch oder zur Autobiographie sind in ihnen Erzähler und Autor dissoziiert. Dieser Unterschied ist Philippe Lejeune zufolge – wie oben bereits in breve dargestellt – nicht textintern festzustellen, sondern textexterne Folge eines autobiographischen Paktes. Dementsprechend schreibt Lejeune (1994: 51): „Falls die Autobiographie [...] durch etwas definiert wird, was außerhalb des Textes liegt, so nicht durch ein Davor, durch eine überprüfbare Ähnlichkeit, sondern ein Danach, durch die von ihr hervorgerufene Lesweise und die von ihr geweckte Glaubwürdigkeit, die sich wieder am literaturwissenschaftlichen Text ablesen läßt.“ Das Problem dieser Sicht, deren Bedeutung für die Autobiographietheorie jedoch kaum unterschätzt werden darf, liegt m.E. darin, dass, indem Lejeune selbstbiographische Texte als Produkte kommunikativer Prozesse auffasst, die Texthermeneutik und die Analyse spezifischer Texteigenschaften in den Hintergrund geraten. 094 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Philippe Lejeunes Der autobiographische Pakt vgl. Meyer (1998: 14f.) und Schwalm (2007: 84ff.). 095 Dieses Grundcharakteristikum, das die Annahme einer realen Identität von Autor und textuellem Ich in die Mitte der Gattungskonventionen rückt, wird von Heinrich-Korpys (2003: 93) im Hinblick auf das Tagebuch wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wesentliches Merkmal des

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Ohne Autorbegriff, ohne Namensidentität von textuellem Ich und empirischem Ich gibt es auch kein Tagebuch. Die Funktion „Autor“ nimmt während des Lektüreakts eine Zwischenstellung zwischen „Protagonist“ (geschriebenem Ich) und „Person“ (empirischem Ich) ein. Das schreibende Ich – das Lejeunes Begriff des „Autors“ nahe steht – stellt eine metonymische Schaltstelle zwischen beiden Ich-Instanzen dar und lenkt den Blick auf die Verbindung zwischen Text und Kontext.96 Die Subjektperspektive wird mit dieser Aufteilung keineswegs in den Hintergrund gerückt oder im postmodernen Spiel der Sprachzeichen verdunkelt. Die Hervorhebung der Poiesis bzw. Performativität des Tagebuchschreibens erlaubt es, das diaristische Ich in seiner Rhetorizität zu beschreiben sowie die sprachliche Verfasstheit von Subjektivität zu perzipieren (vgl. Wagner-Egelhaaf 2000: 16). Die Konzeption von Autorschaft wird im Medium Schrift narrativ erzeugt – oder anders gewendet: Der Autor ist derjenige, der den Text hervorbringt, und der Text bringt umgekehrt wiederum den Autor hervor (vgl. Böning 2000: 372). Der Name des Autors durchkreuzt in diesem Sinne im Tagebuch die Grenzscheide zwischen der wirklichen Welt und der Diegesis. Manfred Hornschuh (1987: 23) unterstreicht vor diesem Hintergrund den zwangsläufigen „Als-ob-Charakter“ des Tagebuch-Ich: Daß es [=das Tagebuch-Ich, A.S.] ein wirkliches nicht sei, besagt nicht, daß zum empirischen Ich keine Entsprechung bestehe. Jedoch unterliegt das EmpirischPersönliche einem – obschon nicht in vollständiger Gleichmäßigkeit wirkenden, so doch sehr durchgreifenden – Prozeß der Auswahl und Formung. Mag also das Notierte oder Erzählte einen noch so realen Wurzelhalt in der wirklichen Person haben, es wird ihm durch Übertragung aufs Tagebuch-Ich ein Als-ob-Charakter aufgeprägt.

Die Auffassung, man solle stets die textuelle Konstruktion der Selbstdarstellung mit bedenken, erfordert komplementär eine Auseinandersetzung mit den sozialen Grundlagen dieser Darstellung: Die Selbstdarstellung des Diaristen im Tagebuch legt die Strategie der Selbstkonstruktion offen, die in sozialer Hinsicht ebenso festgelegt wie in subjektiver Hinsicht postuliert ist (vgl. Le Rider 2002: 22). Das Tagebuchs ist [...] die Übereinstimmung zwischen der diaristischen Instanz und dem Protagonisten.“ 096 Kommentiert das „schreibende Ich“ im Tagebuchtext den eigenen Schreibakt und die Problematik des Tagebuchschreibens, so stellt das „geschriebene Ich“ die innere Perspektive des diaristischen Textes dar. Hornschuh (1987: 24f.) definiert den Unterschied zwischen beiden diaristischen Ich-Instanzen folgendermaßen: „Unter den Begriffen schreibendes und geschriebenes Ich lassen sich zwei Ebenen des Bewußtseins unterscheiden: das Bewußtsein des Tagebuches und das Bewußtsein im Tagebuch. Das eine verhält sich ästhetisch, das andere pragmatisch. Das geschriebene Ich ist bloß innerliterarisch, das schreibende Ich ist ein Ort der Reflexion außer dem Immanenzzusammenhang und doch ihm angehörend. Der Wahrnehmungsraum des Tagebuch-Ich wird von diesem, soweit es geschriebenes Ich ist, vorausgesetzt.“ Zum Unterschied zwischen „geschriebenem“ und „schreibendem“ Ich im Tagebuch vgl. weiter auch Marszałek (2003: 12; 29f.).

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Beziehungsnetz und der Platz, den sich der Tagebuchautor darin zuweist, geben Aufschluss über das soziale Selbstverständnis und vor allem über den Habitus; Fragen nach den Spielräumen und Gestaltungsmöglichkeiten des Alltags können das Subjekt, wie es sich in den Tagebüchern selbst definiert, erschließen. Die Abfolge von Positionen, die das Subjekt im sozialen Raum – der ständigem Wandel unterliegt – einnimmt, wird in Folge fälschlicherweise als kohärenter Verlauf dargestellt. Auf diese Weise wird eine diachrone Linie hergestellt, ohne dem jeweiligen synchronen Umfeld Rechnung zu tragen. Dem Individuum wird man aber nur gerecht, wenn man es von der sozialen Umwelt her erklärt, die es bestimmt und auf die es reagiert (vgl. Jurt 2004: 204f.). Gerade die sequentielle bzw. konsekutive Selbstbeschreibung des Tagebuchschreibenden ermöglicht es – im Gegensatz zum narrativ homogeneren Charakter der klassischen Autobiographie – den Blick auf die grundlegende Wandelbarkeit der Identität und der sozialen Positionen zu richten.97 Das Lesen von Tagebüchern lässt die Teilnahme an der Sinnzuschreibung durch den Tagebuchschreibenden zu. Das in zeitlichem Sinne überwiegend linear-sukzessiv angelegte Schreibverfahren im Tagebuch mag Ähnlichkeiten mit dem Stroboskopeffekt in der frühen Filmgeschichte aufweisen: Die rasche Abfolge einer Reihe von Einzelbildern – jeweils durch eine Dunkelphase kurz unterbrochen – erzeugt eine parataktische Bewegungswahrnehmung. Auf ähnliche Weise weist die Aufeinanderfolge einzelner Tagebucheinträge ein brüchiges – durch Kontinuitäten und Diskontinuitäten gekennzeichnetes – Gesamtbild der Identitätsentwicklung auf. In sozial- und identitätswissenschaftlicher Hinsicht erlaubt es die Analyse von Tagebüchern, sich lebensgeschichtlichen Konstruktionen des Schreibenden zu nähern.98 Indem der Tagebuchschreiber seine Geschichte erzählt, stellt er sich als unverwechselbares Individuum dar, er stellt seine menschliche Identität zur Schau. 097 Zur narrativen Identität in Holocaust-Tagebüchern vgl. Goldberg (2004: 14ff.). Goldberg unterscheidet zwischen drei unterschiedlichen Typen von diaristischen Subjekten in HolocaustTagebüchern: 1. das schreiende Subjekt, das versucht, mit dem Leid und der Entmenschlichung zurecht zu kommen; 2. das dokumentierende Subjekt, das von den Greueln des Holocaust Zeugnis ablegt; 3. das zweifelnde Subjekt, das nach dem Warum des mörderischen Wahnsinns fragt (vgl. ebd.: 19ff.). Diese drei klar voneinander abgetrennten Typen kommen, so hat es den Anschein, nur selten in ihrer Reinform vor, und auch bei Klemperer ist eine Perspektivenverschränkung zu beobachten. 098 Eine gattungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Tagebuch soll stets den Blick auf den Konstruktionscharakter und die Schriftlichkeit des Geschriebenen lenken, das die epistemologische Beschränktheit des Diaristen und nicht sein – wie auch immer zu definierendes – ontologisches Wesen veranschaulicht: „Der Akt des Tagebuchschreibens bedingt, daß sich der Diarist zu seinem subjektiven Standpunkt bekennt. Und daher bedeutet die Ich-Haltung des Tagebuchautors nicht: So bin ich, so lebe ich; vielmehr: So sehe ich, so erlebe ich. Diaristischer Grundsatz also: nicht von der Sache selbst, sondern vom eigenen Bewußtsein der Sache zu schreiben.“ (Vogelsang 1985: 192) Ralph-Rainer Wuthenow (1990: 216) rückt die tagebuchspezifische Dialektik von „Subjektivität“ und „Objektivität“ in den Mittelpunkt, indem er auf die spezifische, subjektive Beobachtungslage des Diaristen hinweist, die das Wahrgenommene und Niedergeschriebene stets steuert und filtert. So, wie der Tagebuchschreiber „verfährt, sieht und wählt und fixiert, so strukturiert er auch schon den Inhalt; wie er sieht, so nimmt er auf; wie er reflektiert, so begreift er.“

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2.3.2 Die Performativität von Schrift und Subjektivität Es gilt nun, ansatzweise eine Reihe allgemeiner Thesen zur Spezifik der diaristischen Schrift aufzustellen, die hervorheben, dass das Diaristische nicht nur in seiner außertextuellen Referentialität, sondern auch in seiner Schriftverfasstheit zu begreifen ist. Die spezifische Struktur diaristischer Texte stellt einen zentralen Untersuchungsaspekt dar, der sich insbesondere bei der Fokussierung auf die Textualität diaristischer Selbst-Konstruktionen nicht vernachlässigen lässt. Darum wird der Blick auf Fragen sprachlicher Konstitutionsbedingungen des diaristischen Subjekts gelenkt. Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an die späteren Schriften Foucaults aus den 1980er Jahren an (vgl. z.B. Foucault 1989: 5394; Foucault 2005: 503-520; ebd.: 747-776; ebd.: 966-998) und führen mit ihnen den Begriff des Subjekts in eine Phänomenologie des Tagebuchs wieder ein. Sie bieten einen vorläufigen Erklärungsansatz dafür, welche Rolle die diaristische Schrift bei der Herausbildung von Identität und Subjektivität spielt. Foucault entwirft ausgehend von den sogenannten antiken Hypomnemata99 ein Subjekt, das sich durch konkrete Selbstpraktiken wie Erotik, Haushaltsführung oder eben auch durch Schreiben in seinem Selbstbezug konstituiert. Ein Subjekt, das in dieser Weise konstituiert wird, verschwindet keineswegs anonym hinter einem historischen Dispositiv. Folglich sollte eine literatur- bzw. kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Tagebuch mehr leisten als nur eine bloße Positionierung Orientierung des Werkes innerhalb einer spezifischen diskursiven Ordnung. Ich gehe im Folgenden in Vermittlung von Foucault mit Deleuze von einer selbstpraktischen, schreibenden Subjektivität aus, die aufgrund ihres prozesshaft wandelbaren Charakters einer totalen Vereinnahmung durch WissensMacht-Dispositive entkommt. In Foucaults späten Schriften wird Schreiben demnach unter die Kategorie der Selbstpraxis subsumiert. In einem unter dem Titel „Zur Genealogie der Ethik“ aufgezeichneten Gespräch mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow merkt Foucault an, dass „diese so genannte Ich-Literatur – intime Tagebücher, Selbsterzählungen usw. – nicht begriffen werden kann, wenn man sie nicht in den allgemeinen und sehr reichhaltigen Rahmen der Selbstpraktiken zurückstellt.“ (Foucault 2005: 494)100 Die diaristische Schrift kann vor diesem Hintergrund als performatives Medium bezeichnet werden, in dem bevorzugt eine prozesshafte Subjektivität zum Tragen kommt (vgl. Dünne 2003: 46-60). Foucault weist nach, dass dieser Schreibmodus mehr als nur reines Instrument einer nichtdiskursiven Selbstpraxis ist: 099 Im erstmalig 1983 erschienenen Aufsatz „Über sich selbst schreiben“ untersucht Foucault das „zirkuläre Schreiben“ in Erinnerungsnotizen, das in Form so genannter Hypomnemata seit der Spätantike eine philosophische Übung der Selbstsammlung bildet. Vgl. zur Bedeutung der Hypomnemata in der Antike Foucault (2004: 439-448). 100 Für eine Erörterung von Michel Foucaults Umgang mit autobiographischen Schriften – wie beispielsweise in Das Leben der infamen Menschen (2001) oder Herculine Barbin (1998) – vgl. Artières (2004).

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Einerseits sorgt die in der persönlichen Übung des Schreibens erfolgende Subjektivierung für Einheit unter den heterogenen Fragmenten. [...] Das Schreiben verwandelt das Gesehene und Gehörte in ‚Kräfte und Blut‘ (in vires, in sanguinem). [...] Andererseits bildet der Schreibende durch diese Sammlung von Gesagtem seine eigene Identität. [...] Durch das Spiel der Auswahl der Lektüre und des assimilierenden Schreibens sollte man sich eine Identität schaffen können, an der sich die ganze spirituelle Genealogie ablesen lässt. (Foucault 2005: 511f.)

Die Charakterisierung der Hypomnemata als Repertoire verschiedenster partialisierter Begebenheiten lässt sich auch auf die Gattung Tagebuch im Allgemeinen und insbesondere auf Victor Klemperers Tagebücher anwenden. Tagebücher präsentieren sich als rigide und fast schon ritualisierte Form der Selbstkontrolle und der minutiösen Buchführung über eigenes Verhalten. Sie sind sowohl Ort der Selbstbeobachtung, der Selbstbeschreibung und Selbstdeutung wie auch Medium der Konstituierung von Identität. Die Tagebucheinträge gehen täglich in neue über und können somit als kontinuierliche schreibende Selbstpraxis interpretiert werden. Das Tagebuchschreiben als eine Art von fortlaufender geistiger Hygiene, ist, wie Philippe Lejeune (1997a: 12) diesbezüglich feststellt, „eine (all)tägliche Praxis, die zu leben hilft, genauso wie das Gebet oder die Gymnastik.“ Die mediale Selbstkonstitution durch das Tagebuch erweist sich indes als prekäres Grenzphänomen, dessen Zwischenstellung nie ein für allemal stabil verfestigt werden kann, sondern aus einer ständigen Abgrenzungsarbeit von Selbst und diskursiver Ordnung erwächst. Das diaristische Schreiben lässt sich daher als eine Methode der Selbst-Konstruktion begreifen, bei der es sich nicht um die selbstbewusste Strategie eines intentionalen Subjekts handelt, sondern vielmehr um eine kulturelle Technik zur Erzeugung von Identität. Das Tagebuchschreiben ist eine Praxis und eine Haltung gegenüber der eigenen Person, für welche sich der von Michel Foucault in dessen Spätwerk geprägte Begriff der Selbst-Technik geradezu anbietet. Die Tagebücher, die sich vor diesem Hintergrund fast schon exemplarisch in eine Geschichte der Subjektivität einfügen, wie Foucault (1989) sie im dritten Band von Sexualität und Wahrheit untersucht, scheinen besonders dazu geeignet, Genese und Funktionsweise der „Sorge um sich“ sowie die SelbstTechniken der Selbstbeobachtung, Selbstdarstellung und Selbstbeherrschung zu rekonstruieren. Bei diesen verschriftlichenden Selbstpraktiken geht es um Modi der Aneignung von häufig disparaten fremden Diskursen und Gedanken, unter anderem durch das Zusammenführen zu einem Konvolut von Notizen. Diese Übung besteht nicht nur in einer expliziten Selbstthematisierung des Subjekts als Objekt seiner eigenen Gedanken, sondern basiert noch grundlegender auf einer kontinuierlichen Tätigkeit des Sammelns und Wiederholens von fremdem Diskursmaterial, das man sich durch wiederholten Umgang sozusagen zu eigen macht: „Es geht nicht darum, [...] das Ungesagte zu sagen, sondern im Gegenteil das Bereits-Gesagte zu versammeln: das zu versammeln, was man hören oder lesen konnte, und dies in einer Absicht, die nichts anderes als die Konstitution seiner selbst ist.“ (Foucault 2005: 769) Entscheidend hierbei ist nicht, was man sich als

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Besitz aneignet hat, sondern wie man es zu seinem Selbst werden ließ: „Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die die symbolischen Systeme zugleich verwendet und durchkreuzt. Das Subjekt wird nicht nur im Spiel der Symbole konstituiert.“ (ebd.: 494) Unter funktionalem Aspekt lässt sich das diaristische Schreiben – wie oben bereits angedeutet – als strategisches Instrument der Selbst-Konstruktion verstehen.101 Diese Bedeutung des Tagebuchs greift das Foucault’sche Konzept der „Technologien des Selbst“ auf. In seinem gleichnamigen – ursprünglich 1984 veröffentlichten – Aufsatz, der sein letztes Projekt zur Archäologie der Subjektivität behandelt, skizziert Foucault die Entwicklung der Selbst-Techniken in der griechisch-römischen und frühchristlichen Kultur.102 Die Geschichte des Wissens des Menschen um sich selbst sei demnach unter vier Koordinaten zu untersuchen: Technologien der Produktion, der Zeichensysteme, der Macht und des Selbst. Letztere, die hier konzeptuell aufgegriffen werden, definiert Foucault wie folgt: Technologien […], die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt. (ebd.: 968)103

Die Foucault’sche Analyse zielt darauf ab, den Beziehungen zwischen den verschiedenen Praktiken der „Sorge um sich“ und der Selbsterkenntnis auf die Spur zu kommen, in deren Folge unterschiedliche Formen der Subjektivität hervorgebracht werden (vgl. ebd.: 875-902; 970-982). Foucault verweist in seinem Essay auf Verschriftlichungstechniken (wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen), die einen wesentlichen Bestandteil bestimmter Praktiken der Selbsterfahrung darstellen. Der Konnex zwischen der Sorge um sich und der Schreibtätigkeit, deren frühe Realisierungen in Form von Hypomnemata Foucault schon im hellenistischen Zeitalter verortet, wird mit der Zeit zu einer grundlegenden Technik der Selbsterkenntnis und der Subjektivierung. In der konstruktivistischen Theorie der Identität, die im Sinne Luhmanns von der Autopoiesis des Individuums ausgeht, fällt der Selbstbeschreibung eine wichti101 Im Aufsatz „Vom Sinn des Schreibens für das Subjekt“ untersucht Helga Gallas (1984) die Performativität des autobiographischen und diaristischen Schreibens aus psychoanalytischer Perspektive. Sie macht darauf aufmerksam, dass das Subjekt sich selbst im Schreiben verwirklicht, wenngleich schwer zu fassen ist, welcher Aspekt des Selbst realisiert wird: „Im Schreiben sucht das Subjekt seinen Mangel zu überbrücken, das Loch zu stopfen, das eine Existenz bestimmt; das Schreiben ist daher Suche nach Ganzheit, nach Identität, Suche nach dem Sinn des Subjekts, das diese Frage nicht selbst beantworten kann und dem nur sein Text bleibt, auf den es – gefragt, wer es sei – verweisen kann.“ (ebd.: 15) 102 Auf die konzeptuelle Nähe zwischen modernem diaristischem Schreiben und antiker und frühchristlicher Selbst-Technik, wie sie auch in den Hypomnemata angewandt wurde, weisen z.B. auch Besançon (2002: 25ff.), Mildonian (2001: 42ff.) und Langford und West (1999: 7) hin. 103 Für eine zusammenfassende Erörterung von Foucaults Konzept der ‚Technologie des Selbst‘ vgl. Goldstein (1998: 51-53).

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ge Rolle im Prozess der Herstellung von Identität zu.104 Die Schrift wird zum Ersatz für die schwer erreichbare außertextuelle Referentialität und somit selbst zu einer existenziellen Kategorie, zu einem sinnstiftenden Lebensinhalt des Diaristen: Das Tagebuch ist als „die Konstruktion des Selbst durch sich selbst“ (Girard 1986: 543) zu verstehen.105 In den für diese Studie grundlegenden Konzeptualisierungen des Tagebuchs, in denen nicht ausschließlich von Repräsentations-, sondern komplementär auch von Konstruktionsmodellen des Diaristischen ausgegangen wird,106 nimmt die Performativität des Tagebuchschreibens eine herausragende Stellung ein. Selbstbiographische Darstellungen sind vor diesem Hintergrund weniger exaktes Abbild des Selbst und Wiedergabe der eigenen Lebenserfahrung, sondern vielmehr Instrument bzw. Medium seiner Hervorbringung. Die Betonung des metonymischen Verhältnisses zwischen Textualität und außertextueller Wirklichkeit bzw. zwischen autobiographischem und historischem Ich erkennt die Kontinuität der Identitätsproduktion und lässt das Tagebuchschreiben als einen Modus ihrer Herstellung erscheinen.107 Die besondere Eigenart des tagtäglichen Sich-selbst-Schreibens, wie dies in Klemperers über mehr als ein halbes Jahrhundert geführten Tagebüchern der Fall ist, liegt sowohl im regelmäßigen Takt des Eintragens von Alltagsberichten wie gleichfalls in der aus den Aufzeichnungen hervorgehenden Flexibilität der Selbstbeschreibungen. Die Tatsache, dass dem Tagebuch keine unmittelbare narrative Teleologie zugrunde liegt, sollte allerdings nicht auf die funktionale Ausrichtung der Gattung übertragen werden. Intime Journale verfolgen im Allgemeinen deutlich identifizierbare Zielsetzungen der Selbst-Technik, auch wenn diese über län104 In Anknüpfung an Jean Starobinski weist Almut Finck (1999: 32) darauf hin, dass die „Wahrheit“ des autobiographischen Textes weniger in dessen Inhalt zu finden sei – der trotz der Wahrhaftigkeit des Autors durchaus im Widerspruch zur „historischen Wahrheit“ stehen kann –, sondern vielmehr im ästhetischen Ausdruck der Individualität und Beobachungssituation des schreibenden Ich. 105 Vor diesem Hintergrund spricht Christian Schärf (2002) auch von der „Graphogenese des Selbst“ in autobiographischen Aufzeichnungen. Schärf insistiert metaphorisch auf der konstruktivistischen Idee der Selbstgeburt des Autors aus dem eigenen Werk. 106 Vor diesem Hintergrund stimme ich grundsätzlich mit Michaela Holdenried (2000: 53f.) überein, wenn sie schreibt: „Gegen die poststrukturalistische Vereinfachung des Subjektbegriffs als bloßes Konstrukt und gegen die Popularisierung der Formel vom ‚Tod des Autors‘ (Barthes) gilt es, am Referenzcharakter von Sprache und an der Referentialität von Autobiographik festzuhalten.“ Dementsprechend handelt es sich auch im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit darum, den komplexen Modalitäten der gattungsspezifischen Hybridität des diaristischen Schreibens zwischen Literatur und Geschichte – wie sie bereits in Abschnitt 2.3.1 dargelegt wurde – auf die Spur zu kommen. 107 Im Gegensatz zum Konzept des metaphorischen Eins-zu-eins-Verhältnisses zwischen „textuellem Ich“ und „empirischem Ich“ – wie es beispielsweise in de Mans Rede von der Prosopopöie, die dem Eigennamen des Autors eine Stimme und ein Gesicht verleiht, zum Ausdruck kommt – kann das Tagebuch vielmehr als metonymische Umgestaltung der Wirklichkeit interpretiert werden, bei der der narrativen Dimension des Textes Nachdruck verliehen wird: Diese Betrachtungsweise richtet das Augenmerk auf den identitätskonstitutiven Schreibakt und somit auf die dritte Ich-Instanz im Text, die sich zwischen empirisches und textuelles Ich schaltet: das geschriebene Ich.

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gere Zeit hinweg mannigfaltig variiert und umgedeutet und nicht immer nachdrücklich ausformuliert werden. Welches Ziel der Tagebuchschreibende in der diaristischen Selbst-Technik genau anzustreben sucht, wird also in hohem Maße dadurch bestimmt, welche Formen der „Sorge um sich“ im Journal praktiziert werden: seien es Gewissensforschung oder Beichte, das Memorieren des Vergangenen zur Herstellung biographischer Kontinuität, vielleicht auch das Speichern von losen Gedanken als Praxis der Selbsterkenntnis usw. (vgl. Marszałek 2003: 59). Bei der Untersuchung der Voraussetzungen und Realisierungsmöglichkeiten diaristischer Selbst-Kreationen kann nicht auf eine Rekonstruktion der Subjektkonzepte verzichtet werden. Wie vielfältig diese Subjektkonzepte des Diaristen auch sein mögen: Der Tagebuchführende geht davon aus, dass das geschriebene Ich aussagekräftige und konservierbare Spuren hinterlässt, deren Wirksamkeit als kulturelle, identitätserzeugende Institution im Dienste des schreibenden Subjekts steht.108 Nicht nur der tägliche Zeit- und Kraftaufwand – Klemperers Aufzeichnungen entstanden oft im Zustand äußerster Müdigkeit, Überarbeitung und Krankheit – zeugen von diesem Glauben; noch deutlicher beschäftigt Klemperer die Sorge um den Bestand des mit der Zeit immer stärker wuchernden Ich-Archivs: Während des Zweiten Weltkriegs hatte das Weiterführen des Tagebuchs aufgrund seiner autotherapeutischen Qualität – trotz der ständig drohenden Gefahr, dass die Schriften entdeckt werden konnten – Priorität im entwurzelten Alltagsleben Klemperers, der sich schreibend in seinem Selbstbezug jeweils neu konstituieren konnte. Das Diarium befindet sich, überspitzt formuliert, auf der Grenzscheide von Autographie und Historiographie, für die die topologische Oppositionsfigur „innen – außen“, die das Foucault’sche Gesamtwerk wie ein roter Faden durchzieht, von Wert sein kann. In einer Annäherung an die Frage nach der Beziehung zwischen Schrift und Subjektivität im Tagebuch kann dieser Opposition jedoch gewinnbringend eine dritte Möglichkeit hinzugefügt werden: Der von Foucault entwickelte Begriff der „Heterotopie“, der von Gilles Deleuze in seinem Aufsatz „Die Faltungen oder das Innen des Denkens (Subjektivierung)“ metaphorisch als „Falte“ bzw. „Faltung“ bezeichnet wird (vgl. Deleuze 1992: 131-172). Foucaults Modell einer linearen Grenzziehung zwischen diskursivem Innenund transgressivem Außenraum wird nach seinen früheren literarischen Aufsätzen aus den 1960er und 1970er Jahren, in denen er das gegendiskursive Potential von Literatur in den Mittelpunkt rückt, von ihm selbst modifiziert und um den Begriff der „Heterotopie“ erweitert (vgl. Foucault 2005: 931-942). Während im Innenraum des Denkens ein kontingentes, d.h. an eine bestimmte Diskursformation gebundenes, sich aber unter bestimmten Umständen fälschlicherweise als autonom begreifendes Subjekt erzeugt wird, feiert der transgressive Drang in den Außenraum den Tod des Subjekts. Der hybride Raum der Heterotopie, der als 108 Für eine eingehende Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebuchschreiben als einer „Technologie des Selbst“ vgl. Sepp (2015).

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Einfaltung des Außens (dehors) in ein Innen (dedans) verstanden werden kann, öffnet dem Tagebuch nicht nur einen dritten Ort, auf der Grenzscheide zwischen Leben und Text, analytisch zwischen Biographismus und „Tod des Autors“, sondern führt auch die Problematik der Subjektkonstitution in die Debatte um die gattungsmäßige Bestimmung des Tagebuchs mit ein (vgl. Dünne 2003: 18). Ein Subjekt entsteht dort, wo nicht einfach eine Grenzziehung zwischen Innen- und Außenraum erfolgt, sondern wo, wie Deleuze in seiner philosophischen Untersuchung Foucault (1992) unterstreicht, der Außenraum durch Faltung in einen Innenraum sozusagen „umgestülpt“ wird und ein Einschluss – un pli – von Innerlichkeit entsteht: Die Entstehung der Einfaltung der Subjektivität ist einer relativen Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem Innen und Außen zu verdanken, die es einem Subjekt ermöglicht, sich Fremdes – wie Gehörtes oder Gelesenes – zu eigen zu machen. Diese Falte, wie sie Deleuze versteht, stellt einen Zwischenbereich zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken dar. Dabei entsteht eine Art komplexer Origami-Figur, die erst durch Faltungen gestaltet werden und in ihrer spezifischen Form in Erscheinung treten kann. Diese Konzeptualisierung der Aneignung proklamiert also keineswegs einfach das Verschwinden des Autors, das in den 1960er Jahren von beispielsweise Julia Kristeva und Roland Barthes unter dem Zeichen der universellen Intertextualität aller Texte ausgerufen wurde. Matias Martinez betont vor diesem Hintergrund, daß Intertextualität, selbst in extremen Fällen, Autorschaft nicht nur nicht ausschließt, sondern notwendig voraussetzt. Kristevas und Barthes’ poststrukturalistische Intertextualitätstheorie stellt keine zwingenden Argumente bereit, um den Tod des Autors auszurufen. (Martinez 1999: 478)

In der Rede vom autorlosen Intertext wird somit verkannt, dass jedem Text, auch wenn dieser gänzlich aus fremden Texten zusammengesetzt ist, immer eine eigenständige Sinnbildung eigen sein kann (vgl. ebd.: 479). Die materielle Urheberschaft ist hier von der konzeptuellen Autorschaft zu unterscheiden. Der Tagebuchautor hat vor diesem Hintergrund mehr als nur kompilatorische Funktion.109 Susanne zur Nieden begreift das Tagebuch in Anlehnung an Siegfried Bernfeld als Produktionsort eines „virtuellen Selbst“, was sich problemlos mit Foucaults Überlegungen zur Selbstsorge verbinden lässt (vgl. Abschnitt 2.3.2). Das diaristische Schreiben wird vor diesem Hintergrund nicht als authentischer Ausdruck eines wahrhaftigen Autors, sondern als mediale Form der Selbststilisierung und Lebensbewältigung interpretiert: Das Tagebuch wird in dieser Sichtweise nicht unter den falschen Alternativen von ‚authentischem Lebenszeugnis‘ versus ‚verzerrtem Abbild‘ von ‚Welt‘ und ‚Ich‘ interpretiert. Der Prozeß der Erfahrungsaneignung und der Internalisierung vorgege109 Im Gegensatz dazu ist, Moritz Baßler (2005: 343) zufolge, das Subjekt lediglich ein hermeneutisches Prinzip der Synthese, das der Wiederbelebung des Textmaterials dient. Auf das Tagebuch übertragen würde das bedeuten, dass der Autor die Eintragungen in dem Sinne produziert, dass er sich mit ihnen wiederum in die symbolische Ordnung der Dinge einschreibt und damit selbst zum Produkt dieser Ordnung wird (vgl. ebd.: 28).

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bener Muster wird vielmehr als eine Form der Vergesellschaftung verstanden, deren wesentliches Ziel die Ich-Konturierung ist. (zur Nieden 1993: 32)

Das Selbst ist Foucault zufolge nicht an sich gegeben, sondern stellt vielmehr ein Kunstwerk dar, das es zu verwirklichen gilt. Das Selbstverhältnis, das die Sorge um sich kennzeichnet, ist eine schöpferische Tätigkeit. Foucault folgend kann die autobiographische bzw. diaristische Arbeit vor diesem Hintergrund als diejenige moderne Lebensweise begriffen werden, die die Selbstdarstellung realisiert und veröffentlicht. Eine Ästhetik der Existenz, wie sie Foucault in „Genealogie der Ethik“ darlegt, will nicht jemandes schöpferische Tätigkeit auf die Art seines Selbstverständnisses zurückführen, sondern vielmehr die Art seines Selbstverständnisses als eine schöpferische Tätigkeit ansehen (vgl. Erdmann 1990: 278). Die Bildung des Selbst ist ein Entwicklungsprozess und wird als einheitliche Identität erst in den einzelnen Tagebucheinträgen hervorgebracht. Vor diesem Hintergrund sind Victor Klemperers Tagebücher – unter Rückgriff auf die Idee der Performativität des diaristischen Schreibens – als ein Gebrauchstext im Dienste einer aktiven Selbst-Gestaltung und andererseits als ein Beschreibungstext einer auf einem ästhetischen Subjektentwurf basierenden Form der Lebenskunst zu verstehen.

3. DISKURSIVE KONSTELLATIONEN 3. IN VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHERN

DISKURSIVE KONSTELLATIONEN IN VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHERN DISKURSIVE KONSTELLATIONEN IN VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHERN

Um eine Ausdifferenzierung dominanter Diskurse in Klemperers Tagebüchern vornehmen zu können, soll im Folgenden ein umfassendes Feld vorherrschender diskursiver Konstellationen, die die Grundstruktur des Tagebuchs ausmachen, aufgespannt und auf systematische Weise kartiert, beschrieben und analysiert werden. Auf diese Weise lässt sich aus immer wiederkehrenden Themenkonglomeraten eine Art archäologische Topographie des Tagebuchtextes erstellen. Vergleichbar mit der Feldtätigkeit eines Archäologen werden die verschiedenen Schichten der diaristischen Tiefenstruktur untersucht, ohne dabei auf eine exhaustive Gesamtdarstellung abzuzielen. Hierbei wird der historische Hintergrund nicht fraglos als unmittelbar Gegebenes angenommen, sondern avanciert notwendigerweise selbst zum Interpretandum, mit dem ein kontinuierliches Gespräch stattfindet.110 Die Studie wendet sich somit gegen eine positivistische, rein autobiographisch geprägte Lektüre der Tagebücher. Dies bedeutet a contrario keineswegs, dass – trotz des kontextorientierten, kulturwissenschaftlichen Ansatzes – die spezifische, individuelle Position des schreibenden Diaristen als selbstbehauptendes und überlebenswilliges Subjekt aus dem Blick der Untersuchung gerät. Die Vielschichtigkeit der Tagebücher, die Persönliches und Zeitgeschichtliches unlöslich ineinander verweben – und dies macht gerade die Eigenart der Gattung Tagebuch aus –, erfordert eine feinmaschige, interdisziplinäre Annäherung: In den Notizen Victor Klemperers werden im Folgenden sowohl der diaristische Metatext als auch die Medialität der Schreibpraxis systematisch erforscht. Zunächst soll das schreibende Ich – Victor Klemperer als Diarist – im Mittelpunkt des Interesses stehen. Indem der Frage nachgegangen wird, welcher Stellenwert den expliziten Aussagen zu Ziel, Aufgabe, Problematik, Form und Inhalt des diaristischen Schreibens zukommt, werden die selbstreflektierten Formen und Funktionen der Klemperer-Tagebücher einer eingehenden Analyse unterzogen. Das Augenmerk gilt primär dem aus den Notizen rekonstruierbaren Schreibprozess sowie auch seinen Zielsetzungen und Effekten. Anhand der metadiaristischen Aussagen wird das Funktionalisierungspotential von Klemperers diaristischem Schreiben als einem Gebrauchstext ermittelt und expliziert. Die Untersuchung der Struktur der Tagebücher macht eine Auseinandersetzung mit den Schreibvorgän110 Zur Vorgehensweise der literarischen Kontextualisierung, wie sie in der Kulturwissenschaft beispielsweise vom Neuen Historismus oder von der Interdiskursanalyse ausgeführt wird, vgl. Baßler (2001: 12ff.).

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gen notwendig, aus denen die diaristischen Sinnstrukturen hervorgehen. Auf diese Weise lässt sich eine textimmanente Tagebuchpoetik ausmachen, die in Zeiten der Verfolgung Zeugenschaft, Selbstvergewisserung und Selbstbewahrung in den Mittelpunkt der Schreibpraxis rückt. Der zweite Teil dieses Abschnitts nimmt die Speicher- und Reflexionsverfahren, die den Aufzeichnungen zugrundeliegen, in den Blick. Der diaristische Schreibakt wird vor diesem Hintergrund als autographischer, heterographischer und historiographischer Verschriftlichungs- und Argumentationsmodus betrachtet. Im Diarium setzt sich der Romanist Klemperer mit seiner deutsch-jüdischen Identität, der Einstellung der Deutschen zum Nationalsozialismus und der Struktur des Alltags im Dritten Reich auseinander. Dementsprechend wird dem Tagebuch eine wesentliche, sinnstiftende Rolle als identitätsbildendes Medium, welterschließender Erkenntnisproduzent und archivierendes Ablagesystem zuerkannt. Klemperers Journal, so soll plausibel gemacht werden, ist mithin nicht bloß als einer rein privaten, literarischen Gattung angehörig, sondern vorrangig als kulturelle Inszenierungs- und mediale Praxis zu verstehen. Zum Schluss werden Klemperers Aufzeichnungen sowohl im Hinblick auf die Selbstkonstruktion des Tagebuchautors als auch auf zeitgenössische Diskursfelder kontextualisiert. Die Tagebücher vermitteln – aus der Sicht eines jüdischen Verfolgten – ein facettenreiches und sehr persönliches Bild der höchst spannungsreichen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lage im NS-Staat. Im Rahmen der Untersuchung der Text-Kontext-Beziehung in der Literatur soll der Frage nachgegangen werden, wie ein solch privat ausgerichtetes Schriftmedium wie das Tagebuch kontextualisiert und in den zeitgenössischen diskursiven Feldern, die für die Tagebucheinträge relevant zu sein scheinen, positioniert werden kann. Zum Zweck dieser intertextuellen Positionierung soll das Tagebuch über unterschiedliche tertia comparationis mit synchronen Texten in Bezug gesetzt werden, damit die kontextuellen Anschlussstellen des im Journal verlaufenden philosophischen und literarischen Diskurses unter die Lupe genommen werden können.

3.1 Das Tagebuch als Metatext: 3.1 Funktionen und Modi des Tagebuchschreibens DAS TAGEBUCH ALS METATEXT

Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen haben ein Textkorpus hervorgebracht, das nicht – oder nur in geringem Maße – teleologisch strukturiert ist. Dies bedeutet aber keineswegs, dass ihm keine funktionelle Zweckbestimmung zugrunde liegt. Warum hat Klemperer über mehr als ein halbes Jahrhundert, sogar unter den schwierigsten Umständen, Tagebuch geführt? Seine Notizen bescheinigen das primäre Bedürfnis des Diaristen, den Alltag zu verschriftlichen. Das Tagebuchschreiben war ihm ab dem sechzehnten Lebensjahr eine „Notwendigkeit“: „Ich mußte mir über alles schriftliche Rechenschaft ablegen, sonst fehlte

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mir das Gefühl der Klarheit und sozusagen des Fertigseins mit meinen Erlebnissen.“ (CVI: 6f.) Es leuchtet ein, dass die „schriftliche Rechenschaft“ keine geradlinige Eins-zu-eins-Übersetzung des Gedachten und Gefühlten in das Medium Schrift darstellt, sondern ganz bestimmten Gesetz- und Zweckmäßigkeiten des Schreibens unterliegt. Die Regeln der Verschriftlichung wie auch die Schreibziele und existenziellen Funktionen von Klemperers Tagebüchern sollten sich mit dem Lauf der Zeit verändern. Während sich die Tagebücher aus der Weimarer Zeit überwiegend durch ihre private und berufliche Akzentsetzung ausweisen, sind die Tagebücher aus der NS-Zeit weit chronikalischer angelegt, wobei das Augenmerk auf die schicksalhafte Zeitgeschichte gelegt wird und darauf, wie dieser Hintergrund die eigene Lebenswelt gestaltet bzw. einengt.111 Eine Auseinandersetzung mit dem diaristischen Metatext in den Tagebüchern Victor Klemperers, die sich Fischer-Hupe (2001a: 14) zufolge „durch extrem hohe Selbstreflexivität“ auszeichnen, wirft gleichzeitig ein bezeichnendes Licht auf die Praxis jüdischen Tagebuchschreibens im Dritten Reich. Ein kritisches Tagebuch zu führen galt im Totalitarismus als strengstens verboten. Das Schreiben war damit als ein Zeichen des inneren Widerstands zu verstehen, dessen gefährlicher Konsequenzen sich Klemperer schon in der Frühphase der NS-Herrschaft bewusst war.112 Demnach thematisierte der Diarist auch im Tagebuch metareflexiv die eigene Schreibpraxis. Das Tagebuchschreiben lag ihm – der Gefahr ungeachtet – auf besondere Weise am Herzen, weil es ihm gewissermaßen ermöglichte, gegen „das Gefühl des Totseins, des unwiederbringlichen Lebensverlustes“ anzukämpfen (ZAII: 371 [5.5.1943]). Selbst während seiner Zeit als Zwangsarbeiter bei „Teehandel Willy Schlüter“ waren ihm die habituellen Tagebuchnotizen – trotz extremer Müdigkeit und Erschöpfung – wichtiger als die Nachtruhe: „Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann.“ (LTI: 301) Die körperliche Ermüdung infolge der verpflichtenden Schneeräumung im Winter 1942/1943 erschwerte jedoch wesentlich die schriftliche Arbeit am Tagebuch: „Schwere Müdigkeit, Muskelschmerzen in den Waden, wunde Füße, die Hand unfähig, die 111 Nicht nur im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich lässt sich eine funktionale Wende in Klemperers Tagebuchschreiben feststellen. Auch innerhalb der Periode der NSHerrschaft wandelt sich die Zielrichtung seiner Diaristik. Betont er noch unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers, er wolle „nicht Zeitgeschichte“ schreiben (ZAI: 6 [21.2.1933]), so unterstreicht er später – als er schmerzlich erkennen musste, der Nationalsozialismus sei nicht ein von selbst vorübergehendes Phänomen – die historiographische Ausrichtung seiner Tagebuchnotizen: Das Verfassen einer Kulturgeschichte der Geschehnisse im Dritten Reich sei ihm „jetzt wichtiger als das private Erleben.“ (ebd.: 173 [30.12.1934]) Das kulturgeschichtliche Erkenntnisinteresse seines Schreibens hält der Diarist bis Ende der NS-Herrschaft aufrecht. 112 Die Geschichten über von der Gestapo entdeckte Tagebücher waren Legion, wie ihm beispielsweise seine Freundin Gusti Wieghardt in Bezug auf das Schicksal des – 1934 im KZ Oranienburg ermordeten – Publizisten Erich Mühsam berichtete: „Von dem Elend, das der jetzt sechzigjährige [sic] Erich Mühsam erduldet. Er war schon frei, da fand man ein Tagebuch, das er in der Haft geschrieben, und holte ihn zurück. – Ich selber werde immer vor dem Tagebuchführen gewarnt. Aber bisher bin ich ja unverdächtig.“ (ZAI: 60 [9.10.1933]; vgl. ebd.: 33 [19.6.1933])

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Feder zu führen. Zur geistigen Arbeit unfähig.“ (ZAII: 34 [1.3.1942])113 Aufgrund der Folgen der Zwangsarbeit „gehorcht die Feder nicht der Hand“ (ebd.: 209 [17.8.1942]), und der Diarist, der dazu bereits das sechzigste Lebensjahr überschritten hat, ist zuweilen „so müde, daß die Feder abgleitet.“ (A 138: 858 [6.5.1943]) Der diaristische Metadiskurs erhellt die oben kurz angesprochenen Schwierigkeiten und politischen Hintergründe des Entstehungskontextes. Die folgenden Überlegungen haben zum Ziel, anhand der Untersuchung der selbstreflexiven, metadiaristischen Aussagen in Klemperers Tagebüchern deren Funktionspotential auszuleuchten und die gattungspoetologischen Grundzüge der Klemperer’schen diaristischen Schreibpraxis zu ermitteln. Am diaristischen Metatext lassen sich sehr genau die kontextbedingten Kristallisierungspunkte der diaristischen Schrift feststellen, anhand derer die Rekonstruktion einer textimmanenten Gattungstheorie ermöglicht wird. Explizite Aussagen über die Aufgaben, Ziele und Inhalte des Tagebuchschreibens sowie die reflexive Thematisierung der Gattungskonventionen, -möglichkeiten und -beschränkungen sind in Klemperers Aufzeichnungen durchaus gängig.114 Das Augenmerk gilt den von Klemperer beabsichtigten Formen und Funktionen, die er in vielfachen metadiaristischen Reflexionen ausformuliert. Somit wird versucht, die Grundmerkmale der von Klemperer praktizierten diaristischen „Sorge um sich“ zu ermitteln, mit Fokus auf den aus den Aufzeichnungen ablesbaren und nachvollziehbaren Schreibprozess wie auch zugleich auf die Voraussetzungen und die Effekte des diaristischen Sichselbst-Schreibens.

3.1.1 Produktionsgeschichtlicher Entstehungszusammenhang Angesichts einer eingehenden Analyse der Modi und Funktionen des Tagebuchschreibens in Victor Klemperers Notizen empfiehlt es sich, den Text in seinem produktionsgeschichtlichen Entstehungszusammenhang zu erfassen. In diesem Rahmen soll zunächst die komplexe textgenetische Grundlage der Tagebücher plausibel gemacht werden, damit eine für die weitere Analyse fruchtbare Schnittstelle zwischen der lebensgefährlichen Schreiblage jüdischer Diaristen im Dritten Reich, der divergierenden Funktionalität dieses Schreibens und der formalen Gattungsspezifik des Tagebuchs hermeneutisch freigelegt werden kann. Eine Lektüre der Tagebücher soll demgemäß veranschaulichen, wie sich die unterschiedlichen Funktionen – mit Rücksicht auf die spezifische Schreibsituation – im selben Text abwechseln und sogar ergänzen können.

113 In einem im Tagebuch zitierten Brief an Martin Sußmann schreibt Klemperer in Versform bezüglich der durch die Zwangsarbeit stockenden Schreibtätigkeit: „Die Hand, die wochentags den Spaten führt, / Wird sonntags mit der Feder kaum brillieren; / Man spürt’s im Kopf und in den alten Rippen, / Die Hände zittern arg vom Schippen.“ (ZAII: 29 [22.2.1942]) 114 Für eine literaturhistorische Erörterung der Funktion von Metatextualität im Tagebuchgenre vgl. Simonet-Tenant (2004: 121ff.).

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Vor 1933 galt Klemperer das Tagebuch fast ausschließlich als privates Verschriftlichungsmedium, um positive wie auch negative Vorkommnisse in Privatund Berufsleben zu speichern und psychisch zu bewältigen. Zwar äußert sich der Diarist auch in der Weimarer Zeit zur sozialen und politischen Lage in Deutschland, doch fällt dabei auf, dass diese nur am Rande erscheint: Ihr wird nur insofern Aufmerksamkeit geschenkt, als sie unmittelbaren Einfluss auf sein Privatleben ausübt. Die Notizen dienten vorwiegend der Reflexion auf das Ich und seine Rolle im umgebenden sozialen Netz. Das Tagebuch aus der Weimarer Zeit wird zum Archiv für das, was Klemperer „Leben sammeln“ nennt: die genaue Beobachtung des bürgerlichen Gesellschaftslebens, seiner Ehe mit Eva Klemperer, der Zusammensetzung des jüdischen Bildungsbürgertums, der akademischen Intrigen an der TH Dresden, der politischen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg, der Inflation, der Weltwirtschaftskrise und der steigenden Einflussnahme der NSDAP. Aus persönlicher Perspektive ging es dem Diaristen tendenziell darum, die eigene Lebenserfahrung, wie sie sich im familiären und beruflichen Umfeld unter dem Schatten der politischen und wirtschaftlichen Zeitlage gestaltete, aufzuzeichnen: Nur Leben sammeln. Immer sammeln. Eindrücke, Wissen, Lectüre, Gesehenes, alles. Und nicht fragen wozu u. warum. Ob ein Buch daraus wird, oder Memoiren oder gar nichts, ob es in meinem Gedächtnis haftet oder verdirbt wie eine schlechte photographische Platte. Nicht fragen, nur sammeln. (LSII: 571 [3.9.1929])115

Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten bringt ab 1933 grundlegende Verschiebungen der Schreibmotive und der thematischen Schwerpunkte mit sich. Obschon der Diarist in der Frühphase des Dritten Reiches noch weitgehend an das private Sammelmotiv anzuknüpfen vermag, ändern sich auf Dauer die Ansprüche an das Tagebuch: Die Maxime des bloßen Sammelns wird durch ein 115 Trotz fortlaufenden Tagebuchschreibens wurde der Diarist in der Weimarer Zeit im Hinblick auf die Verwertbarkeit des Geschriebenen oft von Zweifeln heimgesucht: „Ich frage mich oft, warum ich so ausführlich Tagebuch schreibe. Ich glaube nicht mehr an die literarische Verwertung, an das Weiterleben des Geschriebenen. Ich möchte das Schreiben lassen [...] Und ich kann es nicht lassen. Es ist halb ein Muß u. halb eine Betäubung.“ (LSII: 377 [10.9.1927]) Die selbstkritische Unsicherheit über Sinn und Zweck des Tagebuchschreibens begleitete seit jeher Klemperers diaristische Praxis. Einerseits ist ihm das diaristische Schreiben eine selbstdisziplinierende Gewohnheit, die fast zur Sucht geraten ist, andererseits ist ungewiss, ob er es in Zukunft je für seine Vita oder andere Projekte wird ausnutzen können: „Wozu diese Zeitvergeudung? Ich lese es nicht wieder, niemand liest es wieder, es wird irgendwann einmal verbrannt.“ (ebd.: 750 [24.4.1932]) Schon im Jahre 1931 spielte der Diarist dementsprechend mit dem Gedanken, seine Tagebücher verbrennen zu lassen: Er stehe seinem Tagebuch „so skeptisch gegenüber,“ dass man es „verbrennen [müsse], wenn ich sterbe.“ (ebd.: 717 [20.6.1931]) Angesichts seiner wiederkehrenden Notizen über Evas Depression, der im Tagebuch aus der Weimarer Zeit viel Raum gewidmet wird, stellt Klemperer enttäuscht fest: „Dies Tagebuch dörrt immer mehr zum Notizbuch aus.“ (ebd.: 748 [24.4.1932]) Auch im Dritten Reich findet man streckenweise Anzeichen der Unsicherheit hinsichtlich der Relevanz seiner Aufzeichnungen, wie beispielsweise in der folgenden Notiz: „Aber der Katzenjammer und nun gar seine TagebuchFixierung sind Zeitvergeudung.“ (A 137: 381 [12.7.1938]) Nach der Einweisung in das „Judenhaus“ im Jahre 1940 und dem Anfang der systematischen Judenvernichtung 1941/1942 machte sich die negative Einschätzung des Tagebuchs immer seltener bemerkbar: Klemperer verstand sich graduell als „Chronist“ des nationalsozialistischen Unrechts.

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vielmehr politisch geprägtes Verständnis des Tagebuchschreibens als „Chronik“ oder „Zeugnis“ abgelöst. Das private Leben wird allmählich von den geschichtlichen Großereignissen überschattet, so dass der Diarist bang zum Ausdruck bringt: „Die ruhige Selbstverständlichkeit des Lebensgefühls ist hin.“ (ZAI: 97 [19.3.1934]) So rückt in der NS-Zeit folglich nicht mehr bloß die eigene Lebensgeschichte – das Privat- und Berufsleben – in den Mittelpunkt, sondern der Diarist setzt sich zum Ziel, auf möglichst konsequente und repräsentative Weise vom Zeitgeschehen, von der „vita publica“ Zeugnis abzulegen: Bisher ist die Politik, ist die vita publica zumeist außerhalb des Tagebuchs geblieben. Seit ich die Dresdener Professur innehabe, habe ich mich manchmal gewarnt: du hast jetzt deine Aufgabe gefunden, du gehörst jetzt deiner Wissenschaft – laß dich nicht ablenken, konzentriere dich! (aber dann: Drittes Reich) (LTI: 43)116

Das Dritte Reich bedeutet einen radikalen Einschnitt in die Lebenskontinuität des Diaristen. Im Zuge der Etablierung des NS-Regimes begreift Klemperer sich verstärkt als Zeuge und fokussiert zunehmend auf das politische Tagesgeschehen. Der Schreibakt fungiert demnach als sinnstiftende Aktivität in einer ansonsten sinnlos gewordenen Welt. Das Tagebuch stellt nun den Verschriftlichungsmodus eines inneren Widerstands dar: Nicht Rückzug und Verdrängung, sondern genaues Beobachten und Protokollieren bestimmen Klemperers selbstauferlegten Schreibauftrag.117 Das Tagebuch, mit dem der Autor bis zum Letzten „dokumentarischen Wert erreichen wollte“ (ZAII: 595 [27.9.1944]),118 entwickelt sich mithin allmählich von einem überwiegend persönlichen journal intime zu einer spannungsvollen Mischform von journal intime und chronikähnlichem journal externe.119 Die faschistische Diktatur, gegenüber welcher Klemperer von Anbeginn an Skepsis und Argwohn hegt, stellt für den Tagebuchautor eine aus den Fugen geratene und hochgradig kontingente Zeit dar. Aber gerade dieser Zeit der Angst vor dem Verlust seiner Stelle, seiner Bürgerrechte und letztlich seines Le-

116 Sein Desinteresse für die Politik reicht bis in die Wilhelminische Zeit zurück, als Klemperer nach seinem Studium journalistisch tätig war. Auch damals galt das Hauptaugenmerk dem Geistig-Literarischen: „An der Politik schlechthin war ich gar nicht so sonderlich heiß interessiert, und mich aktiv an ihr zu beteiligen [...], das lockte mich durchaus nicht. [...] Mein wesentliches Interesse war historischer, geistesgeschichtlicher und ästhetischer Natur.“ (CVI: 485f.) 117 Zu Klemperers „innerem Widerstand“ angesichts des Nationalsozialismus in Tagebuch und LTI vgl. Fischer-Hupe (2001a: 73). 118 Vor diesem Hintergrund soll betont werden, dass das Dokument „Tagebuch“ stets vom Akt des Schreibens, der immer ein subjektiver ist, überdeterminiert wird. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit und des Geschehenen reflektiert Klemperers Blickwinkel, der nicht immer von anderen Menschen geteilt wird. Beim Nachlesen seiner Notizen vom April 1945 kritisiert Eva die angeblich verkürzte Darstellung der Ereignisse: „Eva hat mein Tagebuch nachgelesen und moniert, der eigentliche Höhepunkt am 28. 4. sei von mir nicht genügend betont worden.“ (ZAII: 764 [3.5.1945]) 119 Peter Boerner (1969: 47) zufolge ist das journal intime, in dem „der Diarist fast ausschließlich auf das Wohl und Wehe der eigenen Psyche“ fokussiert, vor allem introspektiv ausgerichtet. Zum Unterschied zwischen journal intime und journal externe vgl. auch Simonet-Tenant (2004: 113ff.).

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bens „verdankt“ der Romanist paradoxerweise den Impetus für das ZeugnisAblegen und das Verfassen einer Autobiographie: Am Anfang des Dritten Reiches konnte man an Bauzäunen und halbfertigen Neubauten häufig das Spruchband lesen: ‚Daß wir hier arbeiten dürfen, verdanken wir dem Führer.‘ Das gleiche Spruchband gehört vor mein Curriculum, wenn ich es nun zustande bringe. (CVI: 9f.)

Tagebuchführen im Nationalsozialismus stellt auf der einen Seite einen Kampf gegen das Vergessen dar, einen Schreibmodus, um gegen den unabänderlichen Verlust an Existenz anzugehen, den die durch das NS-Regime allzu bewusst gewordene Vergänglichkeit und das Fortschreiten der Zeit mit sich bringen. Täglich vergewissert sich das diaristische Ich des eigenen Überlebens. Andererseits bedeutet dieses Schreiben auch einen Versuch, existenzielle Traumata zu bewältigen, dem unmenschlichen Kontext des Holocaust zu entkommen und dem Leben erneut Sinn zu geben.120 Das Tagebuch, das weitgehend auf literarische Gestaltung verzichtet und sich durch die konsequente Brüchigkeit seiner Formgebung kennzeichnet, erweist sich förmlich als geeignetes Ausdrucks- und Reflexionsmedium der bedrückenden Existenzerfahrung, mit dem das schreibende Subjekt die Sinnlosigkeit des Jetzt zu konterkarieren sucht. Aus diesem Grund spricht Hans Dieter Schäfer (1981: 36) in Das gespaltene Bewusstsein sogar von einer „Tagebuchmode“ im Dritten Reich, weil das Tagebuch in diesem Zeitraum der Selbstorientierung des Diaristen diente oder einen Versuch darstellte, historische Arbeit zu leisten und Zeugnis für die nachfolgenden Generationen abzulegen.121

120 Dieses Funktionenpotential, das der Gattung Tagebuch im Dritten Reich zugeschrieben wird, wird auf ähnliche Weise auch von anderen Seiten bestätigt: Im Vorwort zur 1948 unter dem Titel Bei den nördlichen Hesperiden erschienenen Ausgabe seiner Tagebuchnotizen aus dem Jahre 1942 hält der Schriftsteller Gerhard Nebel aus persönlicher Erfahrung die Grundeigenschaften des Tagebuchs in Zeiten lebensbedrohlicher Diskriminierung und Verfolgung fest. Das Tagebuch, das Nebel (1948: 5) zufolge „als Verteidigung und Notwehr des Individuums zu verstehen“ ist, wies im Dritten Reich wichtige moralische Funktionen wie Selbstbehauptung, Freiheitswahrung und Sinnstiftung auf: „Im Bauch des Leviathan [...] schreibt der Mensch, der an seinem Menschsein nicht verzweifelt und doch einmal wieder ans Licht zu kommen hofft, Tagebücher. Das Journal ist die Literaturform des Kerkers, und in einem Kerker haben wir ja alle einmal gesessen, ob er nun in der Form der Despotie oder der Nachdespotie, des Heeres oder der Kriegsgefangenschaft, des Konzentrations- oder des Interniertenlagers, des Zuchthauses oder des Gefängnisses auftritt. In diesen Situationen sucht sich der Mensch zu behaupten, indem er sich über sie erhebt [...].“ (ebd.: 6) 121 Der Wunsch, ein für die Nachwelt historisch bedeutsames Dokument zu hinterlassen, liegt einem Großteil der Tagebücher aus der NS-Zeit zugrunde. Über sein Tagebuch verschafft sich der Diarist ein Gefühl des Lebenssinns und der Selbstwürde. In einer Notiz vom September 1943 schreibt vor diesem Hintergrund der jüdisch-polnische Diarist Emanuel Ringelblum (1967: 22), der ein möglichst objektives Zeugnis der Geschehnisse im Warschauer Ghetto ablegen will: „Ich schreibe diese Arbeit, während der mörderische Krieg noch wütet und man nicht weiß, was noch mit dem Rest des europäischen Judentums geschehen wird. Das Material für meine Arbeit ist noch sehr frisch, noch nicht reif für das objektive Urteil eines Historikers. Es fehlt viel offizielles Pressematerial usw., womit diese Arbeit nach dem Kriege wird ergänzt wer-

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Für Klemperer wurde das Tagebuchschreiben zum natürlichen, festen Bestandteil des alltäglichen Lebens.122 Diese habituelle Disposition zum Schreiben und Auswerten kommt in Klemperers Notizen deutlich zum Ausdruck. Das Tagebuchführen ist ihm eine Art von Selbstdisziplinierung, die ihn beschäftigt, seinen Tag ordnet und ihm ermöglicht, seine Identität zu reflektieren, die Stimmung seiner Zeitgenossen auszuloten und sich zeitweise über die Todesangst hinwegzusetzen. Ungeachtet der der Tagebuchpraxis prinzipiell innewohnenden Strategie, die psychischen Auswirkungen der Verfolgung gewissermaßen zu lindern, verspürt Klemperer nicht das drängende Bedürfnis, vor den Härten des Alltags zu fliehen und sich in die heile Welt des Traumes und der Illusion zurückzuziehen. Die Tagebücher Victor Klemperers stellen demnach keine Dokumente einer inneren Emigration dar,123 denn sie bezwecken keinen privaten bzw. entaktualisierten Rückzug aus der Realität oder eine Umgehung der Behördenzensur. Die innere Emigration lässt sich einerseits als implizit-oppositionelle Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus begreifen, schreibt sich aber andererseits in die Tradition einer passiven bzw. unpolitischen Innerlichkeit in der deutschen Geistesgeschichte ein. Im Gegensatz dazu verweisen „Kooperation“ und „Widerstand“ auf explizite Handlungen also fixierbare Aktionen. Es wäre demnach verfehlt, jüdische Tagebuchliteratur aus dem Dritten Reich pauschal unter den Begriff „innere Emigration“ zu fassen, denn der Diaristik aktiv Verfolgter liegt in der Regel immer ein fundamentaler, radikal regimekritischer, nichtkonsensueller Wille zugrunde, Zeugnis abzulegen. Diesem Willen zur Zeugenschaft als einer der drei Hauptfunktionen diaristischen Schreibens in Victor Klemperers Tagebüchern – neben „Selbstbewahrung“ und „Autotherapie“ – gilt zunächst das Interesse.

den müssen. Die hier ausgesprochenen Ansichten […] werden […] ein Beitrag für den künftigen Historiker der Geschichte der Juden in Polen während dieses Weltkrieges sein.“ 122 In einem Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs erklärt beispielsweise der französische Schriftsteller Paul Nizon auf ähnliche Weise im Hinblick auf die Gattung Tagebuch, man schreibe, um sich der eigenen Existenz zu vergewissern: „[W]enn ich nicht in der Lokomotion des schriftlichen Mich-Darstellens oder Fortbewegens bin, dann falle ich gewissermaßen aus dem Leben. [...] Das Notieren ist für mich so selbstverständlich wie Atmen, und wenn das ausfällt, dann droht ein Unleben oder etwas Unangenehmeres.“ (Nizon 2006: 161) 123 In diesem Punkt stimme ich nicht mit Neil H. Donahue (2003: 8) und Kornélia Papp (2006: 48) überein, die behaupten, Klemperers Tagebücher seien Dokumente einer erzwungenen inneren Emigration. Die Tagebücher jüdischer Verfolgter legten unmittelbar von der existenziellen Bedrohung Zeugnis ab und können kaum als Belege eines unpolitischen bzw. „passiven“ Rückzugs in eine private Innenwelt bewertet werden. Zum kritischen Verständnis der inneren Emigration in der Tagebuchliteratur nichtjüdischer Deutscher vgl. Bluhm (1991: 220).

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3.1.2 Funktionen der Diaristik: 3.1.2 Die Kunst des Tagebuchschreibens im Dritten Reich 3.1.2.1 Ars memoriae: Zeugenschaft Jeder Völkermord ist auch ein Gedächtnismord. Mit den Ermordeten werden ihre Erinnerungen und Zeugnisse ausgelöscht (vgl. Krochmalnik 2007: 27).124 In Zeiten von Diktatur und Rassenverfolgung kommt die alttestamentarische Vorstellung, ein einziger Zeuge reiche aus, um das geschehene Unrecht zu bezeugen und vor dem Vergessen zu bewahren, zu einer quasi-mythischen Dimension. Die Klemperer-Notizen können teilweise als Leidensprotokoll begriffen werden: Sie stellen ein moralisches und historisches Zeugnis gegen die zu erwartende Geschichtsfälschung seitens der Täter dar.125 In Bezug auf jüdische HolocaustDiaristik im Allgemeinen hält Robert Liberles (1986: 39) fest: „Die Tagebücher [jüdischer Verfolgter, A.S.] stellen an und für sich eine Trotzhandlung dar. Während die Nazis skrupulös versuchten, alle Spuren der Verbrechen zu verwischen, registrierten die Diaristen sie.“ In die Zukunft projiziert, versteht sich das jüdische Tagebuch im Dritten Reich somit sehr oft als Medium einer moralischen Erinnerungspflicht, indem der Tagebuchautor der künftigen Verleugnung des Holocaust entgegenzutreten sucht. Diese Maxime der Geschichtswahrung ist fast allen während des Holocaust verfassten regimekritischen bzw. jüdischen Tagebüchern gemeinsam.126 Gegen das voraussichtliche Vergessen der Nachwelt verwehren sich auch Klemperers Tagebücher, die die Menschen memorieren, die dem Regime zum Opfer fielen. Über den Leihbibliothekar Jordan Natscheff, der von den Nationalsozialisten inhaftiert wurde, schreibt der Diarist beispielsweise: „Der Mann [=Jordan Natscheff, A.S.] gehört [...] in die Dresdener Kulturgeschichte dieser Jahre und so in mein Curriculum.“ (ZAII: 317 [27.1.1943]) Der Diarist setzt es 124 Auf ähnliche Weise legt Stephen Greenblatt (1991: 110) unter Rückgriff auf François Lyotard nahe, dass das Ziel des Holocaust sich darauf richtete, jede Erinnerung an die Ermordeten gänzlich auszulöschen: „[D]er Versuch der Nazis, die Existenz von Millionen von Juden und anderen Unerwünschten auszulöschen,“ sei als der Wille zu charakterisieren, „die ganze Welt der Namen aus der Geschichte und von der Landkarte zu streichen.“ 125 Rita Schober (1997: 27) sieht in Klemperers Hang zur Geschichtsbewahrung einen „Historikerwunschtraum“ realisiert: Der Diarist macht es sich in seiner Zeugenschaft zur Aufgabe, historische Arbeit zu leisten (vgl. z.B. ZAII: 133 [12.6.1942]). Diesbezüglich stellt er retrospektiv – im Jahre 1946 – fest, dass die Tagebuchnotizen der NS-Zeit „doch wohl zeitgeschichtlich wertvoll“ seien (SSI: 292 [22.8.1946]). 126 In einem Eintrag aus dem Jahr 1939 schreibt auch der katholische Kulturkritiker Theodor Haecker in seinem Tagebuch: „Man darf annehmen, daß die Deutschen, bewußt und unbewußt, alles tun werden, um ungefähr alles, was heute gesprochen, geschrieben und getan wird, so rasch wie möglich zu vergessen.“ (Haecker 1949: 24 [3.12.1939]) Auch der polnischjüdische Tagebuchschreiber Chaim Aron Kaplan macht es sich nach dem Überfall auf Polen, der für die jüdische Bevölkerung eine Katastrophe darstellte und sie noch Schlimmeres vorausahnen ließ, zur Aufgabe, im Tagebuch das Vergangene vor dem Vergessen zu schützen: „Ich werde ein Buch der Agonie schreiben, um an die Vergangenheit in der Zukunft zu erinnern.“ (Kaplan 1967: 21 [14.9.1939])

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sich in diesem Zusammenhang vordergründig zum Ziel, die Schicksalsgefährten im „Judenhaus“ „in die Unsterblichkeit [zu] führen.“ (ZAI: 700 [25.12.1941]) Aber auch von der menschlichen Schwäche will Klemperer Zeugnis ablegen. Diejenigen, deren Verhalten der Tagebuchschreibende für unehrenhaft hält, werden im Tagebuch getadelt, wie zum Beispiel der „arische“ Professor Gaehde: Er verweigerte seiner jüdischen Verwandten Frau Pick seine Hilfe und lieferte sie somit der Willkür der Nationalsozialisten aus. Der Diarist kritisiert solches Benehmen scharf: „Ich will ihn [=Gaehde, A.S.] in meinem Curriculum an den Schandpfahl binden.“ (ZAII: 246 [18.9.1942]) Klemperers diaristischem Vorhaben ist eine hermeneutische Ethik eigen: Es stellt eine narrative Handlung dar, die durch die Verschriftlichung des jüdischen Umfeldes des Diaristen der totalen Auslöschung der Opfer, so als hätten sie nie existiert, entgegen tritt. Wenn schon niemand mehr übrig bleiben sollte, der sich den Anderen in Erinnerung rufen kann, so werden in den Tagebüchern doch die Toten memoriert: „Die einzige Spur, die sie [=die Holocaust-Opfer, A.S.] hinterlassen, ist die Erinnerung derer, die sie kannten, liebten und zu deren Welt sie gehörten.“ (Arendt 1998: 898) Entgegen der leitenden Tendenz des Nationalsozialismus, jede Spur der Ermordeten, jede Erinnerung an sie zu tilgen, wohnt gerade die Erinnerungspflicht Klemperers Tagebuchpraxis inne (vgl. ZAII: 255 [9.10.1942])127 Die Einträge entwerfen eine sich gegen das Vergehen der Zeit richtende Strategie der Memorierung in der Schrift. Der Diarist bemüht sich deshalb durchgängig „um genaue Fixierung.“ (ebd.: 292 [21.12.1942]) Neil H. Donahue (2001: 121) hebt vor diesem Hintergrund mit Recht hervor, Klemperers Tagebuchschreiben sei „ein unmittelbarer und bewusster Akt der Anamnese.“ In der täglichen Intimität des Tagebuchführens erarbeitet sich Victor Klemperer einen schriftlichen Gegenraum, in dem versuchsweise der NS-Ideologie entgegengesetzte Werte artikuliert werden können. Die politische bzw. moralische Kritik am Nationalsozialismus bildet – aus historiographischer Sicht – das Herzstück der Tagebücher, als verbliebener Raum, in dem sich der Tagebuchschreiber noch an den Ideen des Humanismus und der Aufklärung zu orientieren vermochte. Sein diaristischer Schreibmodus stellt somit auch einen Versuch dar, existenzielle Traumata zu bewältigen, dem unmenschlichen Kontext des Holocaust in psychologischer Hinsicht zu entrinnen und dem Leben erneut Sinn zuzuweisen. Der deutsch-jüdische Tagebuchschreiber bezeichnet das Tagebuchschreiben als seinen „Berufsmut“ (ZAI: 595 [27.5.1941]), seinen „Beruf“ (ZAII: 19 [8.2. 1942]), sein „Heldentum“ (ebd.: 99 [27.5.1942]), seine „Lebensaufgabe“ (ebd.: 19 [8.2.1942]), seine „innere Verpflichtung“ (ebd.: 145 [25.6.1942]; vgl. ebd.: 127 Dass Klemperer – trotz fundamental anderer Erfahrungen als beispielsweise Elie Wiesel, Jorge Semprún oder Jean Améry – in den Kanon der literarischen Holocaust-Zeugen aufgenommen wurde, kann in der Forschungsliteratur an mehreren Stellen lokalisiert werden. In ihrer Arbeit Bearing Witness. A Resource Guide to Literature, Poetry, Art, Music, and Videos by Holocaust Victims and Survivors widmen beispielsweise Philip Rosen und Nina Apfelbaum (2001: 48-50) dem Diaristen Victor Klemperer als wichtigem Vertreter der Holocaust-Zeugenschaftsliteratur einen Eintrag.

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261 [23.10.1942]), seine „letzte Ausfüllung“ (ebd.: 143 [24.6.1942]) und sein „Pflichtgefühl des Chronisten“ (ebd.: 164 [12.7.1942]).128 Die Selbstdesignation als Zeuge schafft eine dialogische Situation, in der sich das Opfer an einen (künftigen) Dritten richtet.129 Der Zeuge bezeugt die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen über Geschehnisse, an denen er selbst Anteil hatte, und er lässt somit den fiduziarischen Charakter seines Zeugnisses hervortreten: Er verlangt, dass ihm geglaubt wird (vgl. Ricoeur 2004: 251). Die diaristische Zeitzeugenschaft Victor Klemperers kann als spiegelverkehrte und periphere Geschichtsschreibung der NS-Zeit gelten, da in den Tagebüchern die beschriebene historische Lebenswelt zum Spiegelbild der eigenen Ausgrenzung, der eigenen Heimatlosigkeit wird. In dessen Tagebüchern geht es primär um den moralischen Drang, die proliferierende Entmenschlichung im Dritten Reich möglichst penibel nachzuzeichnen. Das Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Verschriftlichungspraxis und dem Akt des Schreibens im Allgemeinen bleibt trotz der Gefahr der Entdeckung sein kategorischer Imperativ: „Man wird um geringerer Verfehlungen willen gemordet [...]. Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!“ (ZAII: 99 [23.5.1942]) Diese von Klemperer hervorgehobene Zeugnispflicht ist ihm moralische Anforderung, eine bindende Maxime, die 128 Eine Lektüre von Klemperers Tagebüchern unter dem Zeichen des Heldentums (vgl. z.B. Nowojski 1995: 867), so stimme ich mit Paola Traverso (1997a: 40) überein, würde jedoch die Komplexität seiner Tagebuchpraxis verkennen, den Tagebuchautor moralisch verklären und seine widerspruchsvolle Stimme ersticken. Das Ziel des Diaristen war erstrangig das eigene Überleben, erst sekundär kam dem Schreiben die multifunktionale Bedeutung des Zeugnisses, der emotionalen Hygiene, des Arbeitsjournals usw. zu. Klemperers Tagebücher der NS-Zeit zeigen keinen heroischen Weg, sondern einen gebrochenen Weg voller Widersprüche und Selbstzweifel. Dem Akt des Zeugnisablegens lagen nicht primär emotionale Beweggründe zugrunde, sondern er entstand oft aus Neugier und wissenschaftlicher (historiographischer bzw. philologischer) Selbstbeauftragung: „Ernst Kreidl, Ida Kreidl, Paul Kreidl, Vater und Sohn Arndt – Ausrottung! Und nur ein Fall unter so vielen. Und in mir immer nur die Neugier des Chronisten und die Angst um das eigene Schicksal.“ (ZAII: 270 [2.11.1942]) Anlässlich der bevorstehenden Deportation älterer jüdischer Mitbürger im Jahre 1942 schreibt Klemperer auf ähnliche Weise: „Ich bin neugierig, dies Altersheim vierundzwanzig Stunden vor der Evakuierung kennenzulernen. Mehr Neugier und eine Art Pflichtgefühl des Chronisten als Mitleid.“ (ebd.: 164 [12.6.1942]) 129 Die deutsch-jüdische Ärztin Hertha Nathorff (1988: 119 [10.11.1938]) beschreibt nach den gewalttätigen Vorkommnissen während der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 ihr Entsetzen in ihrem Tagebuch. In ihrem Bericht kommt das besondere Funktionspotential des diaristischen Zeugnisses zum Ausdruck. Das Zeugnis richtet sich unter dem Eindruck der unmittelbaren Erfahrung gedanklich an einen künftigen Rezipienten – ihr Kind – und entlastet die Diaristin zeitweilig von ihren psychischen Folgequalen: „Es ist tiefe, tiefe Nacht – ich will versuchen, die Ereignisse des heutigen Tages niederzuschreiben mit zitternder Hand. Ereignisse, die sich mit Flammenschrift in mein Herz eingegraben haben. Ich will sie niederschreiben für mein Kind, damit es später einmal lesen soll, wie man uns zu Grunde gerichtet hat. Ich will alles so schreiben, wie ich es erlebt habe, in dieser Mitternachtsstunde, in der ich einsam und zitternd am Schreibtisch sitze, qualvoll stöhnend wie ein verwundetes Tier, ich will schreiben, um nicht laut hinauszuschreien in die Stille der Nacht.“

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ihn als Zeugen der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dazu verpflichtet, das der jüdischen Gemeinschaft zugefügte Leid aufzuzeichnen, das er selbst nicht nur beobachtet, sondern auch am eigenen Leibe erfährt. Mit Dori Laub könnte man in diesem Kontext betonen, dass dem Trauma immer die moralische Pflicht des Bezeugens und Erinnerns innewohnt (vgl. Laub 1992: 78f.). Klemperers Leidensgenossen im „Judenhaus“, die in der Regel um seine Schreibtätigkeit wussten, forderten ihn auch dazu auf, ihr Schicksal im Tagebuch darzustellen. Das Tagebuch ließ somit bestimmte Menschen im „Judenhaus“ – darunter Kätchen Sara – nicht unberührt: „Sie [=Kätchen Sara, A.S.] glaubte an mein Chronistenamt, und ihrem Kindersinn schien es sich so darzustellen, als würde kein anderer Chronist dieser Zeit auferstehen als eben nur ich, den sie so häufig am Schreibtisch sah.“ (LTI: 362) Von ihr wurde Klemperer immer wieder angespornt: „‚Alles aufschreiben!, Karlchen‘ – oder ernsthafter: ‚Victorchen‘, sagt Kätchen Sara jetzt täglich.“ (ZAII: 195 [7.8.1942])130 Die Handlungsmaxime des Zeugnisablegens im Tagebuch stellte für Klemperer angesichts der wachsenden Verunsicherung im Dritten Reich eine selbststabilisierende „Balancierstange“ dar: Mein Tagebuch war [...] immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit […] – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt. (LTI: 19f.)131

Klemperers Zeugnis seiner Erfahrungen im Dritten Reich ist eine aussagekräftige Vergegenwärtigung der Vergangenheit, deren zeitliche Horizontalität ohne dergleichen Beiträge in einer ungewissen Weite schweben würde (vgl. Papp 2006: 39; Grünberg 2002: 122ff.). Das Zeugnis, das Klemperer abgibt, ist aber nicht nur deshalb von historischer Bedeutung, weil es – aus heutiger Perspektive – erstaunlich exakte Angaben zu Zeitpunkten, Orten, Namen und zirkulierendem Wissen liefert. Obgleich der Zeuge unmittelbar mit den Ereignissen verbunden ist und er sich in seinem Tagebuch auf „Wahrheit, nicht Dichtung und Wahrheit“ (ZAI: 602 [6.7.1941]) beruft,132 ist sein Zeugnis doch keineswegs völlig un130 Für weitere Belege, die veranschaulichen, wie Klemperer durch Dritte beauftragt wurde, vom Holocaust genaues Zeugnis abzulegen vgl. z.B. ZAII: 230 [2.9.1942]; ebd.: 393 [12.6.1943]; LTI: 243ff. 131 Den Zusammenhang zwischen Überlebensdrang und Zeugniswille bringt Klemperer anderweitig wie folgt zum Ausdruck: „Die Balancierstange wollte ich aus der Masse des übrigen herauslösen und nur eben die Hände mitskizzieren, die sie hielten.“ (LTI: 364) Einerseits ist das Tagebuch eine psychologische Stütze (eine „Balancierstange“), andererseits setzt sich der Zeuge zum Ziel, die jüdischen Leidensgefährten aus dem „Judenhaus“ zu memorieren. 132 Faktenpräzision in Sachen Daten und Namen stellte eine der Hauptsorgen von Klemperers diaristischer Verschriftlichungspraxis dar. Das Tagebuch diente als externes Gedächtnis der genauen, agendamäßigen Memorierung des Geschehenen. Weil die Tagebuchblätter in regelmäßigen Abständen aus dem „Judenhaus“ geschmuggelt wurden, war es dem Tagebuchschreibenden folglich nicht mehr möglich, bestimmte Ereignisse zeitlich exakt einzuordnen, wie sich beispielsweise im Hinblick auf Kurt Hirschels Verschwinden infolge einer Haftstrafe zeigt: „Vor

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vermittelt: Nicht die Faktizität der Notizen, sondern die Interpretation der Ereignisse durch den Tagebuchschreiber macht die authentische Wahrheit seiner Schreibpraxis aus. So verschiebt sich die Faktizität von der Aussage zum Akt des Schreibens selbst: „Das heißt, wenn die Darstellung auch nicht Ereignisse dokumentieren oder eine vollkommene Tatsachentreue [...] konstituieren kann, so kann sie doch die Tatsächlichkeit [...] von Schreiber und Text dokumentieren.“ (Young 1992: 69) Dies bedeutet folglich, dass man sich in historiographischer Hinsicht Tagebüchern wie denen Klemperers zuwendet, nicht um Beweise für die dargestellten Ereignisse zu erhalten, sondern um subjektiv geprägtes Wissen darüber zu erlangen. Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen sind als subjektives Zeugnis objektiver Sachverhalte auf allen Niveaus „Orte des Erinnerns“.133 In Anlehnung an Pierre Nora, Autor des zwischen 1984 und 1992 veröffentlichten siebenbändiges Werkes Les lieux de mémoire, sind Erinnerungsorte als loci im weitesten Sinne zu verstehen, die als eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene lebendige Gedächtnis fungieren. Deshalb kommen die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebenso in eine Zeugnispflicht gegenüber dem Erlebten, wie es auch Auftrag der Nachgeborenen sein sollte, eine „Devoir de mémoire“ (Pierre Nora), eine dazu komplementäre „Erinnerungspflicht“ bzw. eine „geschuldete Erinnerung“ (Jan Assmann) auf sich zu nehmen. In Avishai Margalits 2002 in deutscher Übersetzung erschienenem Werk Ethik der Erinnerung skizziert der Autor eine Theorie der „moralischen Zeugen“, zu denen er als paradigmatisches Beispiel nachdrücklich Victor Klemperer zählt. Der paradigmatische moralische Zeuge ist, so Margalit (2002: 75), jemand, der seinem Zeugnis einen inneren Wert zuschreibt, unabhängig davon, wozu es letztlich dienen wird. Das Hoffnungspotential, aus dem der moralische Zeuge schöpfen kann, ist verschwindend gering: Es ist die minimale Hoffnung auf das eigene künftige Selbst, aus dem eigenen Bedürfnis, dem Erlebten etwas entgegenzusetzen, eine intime Gegenöffentlichkeit zu schaffen, ohne Hoffnung auf einen moralischen Blick von außen (vgl. ebd.: 67). Der moralische Zeuge ist immer auf sekundäre Zeugen angewiesen, die seine Botschaft aufnehmen.134 Erst über diese Zwischenschaltung, über die Adressieeinem reichlichen Monat – ich kann ja nicht im Tagebuch nachlesen – war Hirschel geheimnisvoll verschwunden.“ (ZAII: 292 [21.12.1942]) Der genauen Buchführung des Tagebuchschreibens kam angesichts des Gefühls, es gebe „keine Zeitgliederung“ mehr (ebd.: 582 [14.9.1944]), die Bedeutung einer Zeitkalibrierung zu, die es erlaubte, weiterhin das Gefühl zu haben, am Geschichtsverlauf teilzuhaben. 133 Der Zeugniswille ist der Mehrheit jüdischer Tagebücher aus der Zeit des Dritten Reiches inhärent. Die niederländisch-jüdische Diaristin Etty Hillesum (2005: 166 [28.7.1942]) schreibt vor diesem Hintergrund beispielsweise in ihrem Tagebuch: „Ich möchte später die Chronistin unseres Schicksals sein.“ Das Tagebuch diene ihr dem Zweck, so fährt sie fort, die richtigen Worte zu finden, „die von dem zeugen werden, worüber Zeugnis abgelegt werden muß.“ (ebd.: 166f. [28.7.1942]) Das jüdische Tagebuch stellte angesichts des Holocaust somit einen erhofften Ort für künftiges Erinnern dar. 134 Dori Laub (2000: 68) betont in diesem Zusammenhang, dass es einen notwendigen Bezug zwischen primären und sekundären Zeugen, zwischen Opfer und moralischer Gemeinschaft gibt: „Das Bezeugen des Traumas schließt den Zuhörer mit ein, indem dieser Zuhörer als eine leere

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rung bzw. das Appellieren an eine nicht betroffene moralische Gemeinschaft, die selbst keine eigene Institution hat, wird das traumatisierte Opfer in seiner Opferschaft anerkannt: „Erst durch Einbeziehung dieses Dritten (terstis), des unbeteiligten Adressaten, entsteht jene Appellationsinstanz, die das Zeugnis ermöglicht, indem die Geschichte des Opfers Gehör findet und sein Zeugnis bezeugt wird.“ (Assmann 2007: 45; vgl. Tozzi 2012: 16)135 Ein anderes Merkmal des moralischen Zeugen, wie Aleida Assmann (ebd.: 45f.) in Anlehnung an Avishai Margalit hervorhebt, ist die dem Zeugnis inhärente Wahrheitsmission (vgl. hierzu z.B. ZAI: 474 [27.6.1939]; ebd.: 602 Fläche fungiert, auf der das Ereignis zum ersten Mal eingeschrieben wird. Die Person, die dem Trauma zuhört, wird zudem Teilnehmerin und Teilhaberin des traumatischen Ereignisses: Durch das bloße Zuhören wird sie zu jemandem, der das Trauma zumindest teilweise in sich selbst erlebt.“ 135 Aus diesem Grund liegt es nahe, dass die Tagebücher Victor Klemperers als Zeugnis erst zu ihrem Recht kommen konnten, wenn sie veröffentlicht würden. Die Veröffentlichungsabsichten des Diaristen erweisen sich aber – bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs – als höchst widersprüchlich. Vor allem in seinen späteren Aufzeichnungen – aber punktuell auch früher – spekuliert Klemperer stellenweise damit, seine Tagebücher vielleicht doch zu veröffentlichen, weil ihm das rein private Schreiben zuweilen sehr schwer fällt: „[D]er Ansporn von außen fehlt, das Nur-für-sich-allein-Schreiben ist so deprimierend.“ (ZAI: 388 [28.12.1937]) Nach der Bekanntgabe der bevorstehenden Beschlagnahmung seiner Schreibmaschine zeigt sich der Diarist besorgt über den Gedanken, niemand würde nach seinem Tod mehr seine – schwer leserliche – Handschrift entziffern können, was deutlich seine Orientierung an der Nachwelt veranschaulicht: „Es würde oder wird einen schweren Verlust bedeuten. Wer liest meine Handschrift?“ (ebd.: 655 [27.7.1941]) Am 21. November 1942 notiert der Diarist in seinem Tagebuch: „Heute sagte ich mir: wenn es mir nicht gelingt, wenn ich nicht Zeit zu haben glaube, LTI als Sonderwerk auszuarbeiten, dann veröffentliche ich die (natürlich gefeilte und geordnete) Gesamtheit meiner Tagebücher seit 33.“ (ZAII: 279 [21.11.1942]) Denise Rüttingers Aussage, Klemperers Tagebuchnotizen, seien „ausschließlich für seinen persönlichen Gebrauch“ (2011: 50) und nie zur „direkten Veröffentlichung“ (ebd.: 82) gedacht, ist vor diesem Hintergrund als unnuanciert zu qualifizieren. Unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands beginnt Klemperer ja konkret über die Publikationsmöglichkeit für seine Tagebücher nachzudenken. Er merkt aber, dass das Tagebuch sowohl formal wie inhaltlich nicht für eine Publikation geeignet sein dürfte: „Ohne Notizen, nur mit Blaustiftkreuzen, lese ich meine Tagebücher. Ich finde keinen Zugriff, keine Lösung der Schwierigkeiten. Was ist zu intim, was zu allgemein? Wo soll man LTI und Vita trennen? Wen soll man bei seinem Namen nennen? Wie soll ich das damals Geschriebene commentieren? Wieweit von der Tgb.-Form abgehen?? Ich tue nun seit Wochen nichts anderes, als das Tagebuch lesen. Ich fühle mich sehr leer.“ (US: 59 [17.7.1945]) So heißt es bereits einige Wochen später: „Meine Tgb.-Lektüre ergibt immer entschiedener, daß LTI zur Publikation wesentlich geeigneter als das eigentliche Tgb. Es ist unförmig, es belastet die Juden, es wäre auch nicht in Einklang zu bringen mit der jetzt gültigen Opinio, es wäre auch indiskret.“ (ebd.: 83 [8.8.1945]) Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Bayern nach Dresden im Juni 1945 bekommt Klemperer ein erstes – unsicheres – Publikationsangebot für seine sprachkritische Arbeit LTI und fängt deshalb umgehend mit dem „Durchackern des Tagebuchs“ an (ebd.: 104 [22.8.1945]). Ähnliche Stellen, die die widersprüchliche Publikationsfrage der Tagebücher in den Mittelpunkt rücken, findet der Leser in ebd.: 52 [11.7.1945]; ebd.: 71 [26.7.1945]; ebd.: 73 [30.7.1945]; ebd.: 78 [1.8.1945]; ebd.: 82 [6.8.1945]. Im September 1945 entscheidet sich Klemperer letztendlich, die Tagebuchnotizen vorrangig bezüglich der Sprachreflexionen aufzuarbeiten und unter dem Titel LTI – Notizbuch eines Philologen herauszugeben, das im Jahre 1947 erschien. Zu Klemperers Veröffentlichungsabsichten vgl. weiter ebenfalls Nowojski (1999: 18).

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[6.7.1941]). Dieser Wille zur Wahrheit steht im direkten Gegensatz zum Bedürfnis seitens der Täter, die begangenen Verbrechen zu leugnen, zu verdrängen, zu vergessen, zu fälschen oder zu beschönigen. Diese beiden Seiten stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander, da dem Wunsch des Täters nach Vergessen und Verheimlichung, der bereits Teil des Verbrechens selbst ist, gegenläufig der Wunsch des Opfers entspricht, gegen die Strategie des Verbergens Zeugnis abzulegen. Trotz aller Ungewissheit, ob er das Aufgezeichnete je würde weiterführen können und ob das Tagebuch den Krieg überstehen würde, ist es genau dies, was Klemperer erhofft: „[I]ch möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung noch einmal glückt.“ (ZAII: 12 [17.1.1942]) Die Angst vor der Gefahr des Entdecktwerdens stellt vor diesem Hintergrund einen kontinuierlichen Themenkomplex dar.136 Trotz seiner direkten Betroffenheit, seiner Furcht und Panik angesichts der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie sammelt sich der Tagebuchautor immer wieder und schreibt „bis zum letzten“ weiter. Bezüglich einer beängstigenden Nachricht notiert der Autor beispielsweise: „Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d.h., ich beobachtete für mein Tagebuch.“ (ebd.: 658 [13.2.1945]) Der Imperativ des Zeugnisablegens und der psychologische Trost des Arbeitens stellen die unerschöpfliche Kraftquelle für Klemperers Schreibpraxis dar: Gestern, und heute tagüber war ich sehr zerschlagen, der verstärkte Druck der Lebensgefahr, die weitere Drosselung, die grausame Unsicherheit lasteten sehr. Jetzt, gegen Abend, bin ich schon wieder beruhigter. Es muß auch so weitergehen. Irgendwelche bereichernde Lektüre, wird sich schon finden, und das Tagebuch werde ich weiter wagen. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. (ebd.: 123f. [11.6.1942])

In seiner Erinnerungspflicht, die ihn daran gemahnt, „was auch kommen mag, bis zuletzt ganz kalt [zu] berichten“ (ebd.: 618 [1.12.1944]), wird der Überlebende, wie Annette Wieviorka (2006: 389f.) hervorhebt, zum „Träger der Geschich136 Die Angst, die Gestapo könnte die Tagebücher entdecken, war ab den Jahren 1941 und 1942 ein wichtiger Themenkomplex, dem in den Aufzeichnungen Victor Klemperers viel Raum gewidmet wird. In einer der vielen Notizen zu diesem Thema heißt es beispielsweise: „Die Angst um das Tagebuch. Es kann das Leben kosten. Wo versteckt man es? Aber wenn ich es nicht schreibe, werde ich meiner Aufgabe untreu! Die Sehnsucht, in historische Arbeit, in Erinnerung, in Geistiges unterzutauchen.“ (ZAII: 133 [16.6.1942]) Klemperer war bewusst, dass auch bestimmte Personen, die im Tagebuch dargestellt wurden, Gefahr laufen könnten, von der Gestapo inhaftiert zu werden. Ein nichtjüdischer, alter Bekannter, Karl Wieghardt, zeigte sich wegen des „Heimtückegesetzes“ dementsprechend beängstigt, im Tagebuch erwähnt zu werden. Er fragte Klemperer vor diesem Hintergrund sichtlich beunruhigt: „‚Führst du noch Tagebuch? Du wirst doch meinen Namen nicht notieren?!‘“ (ZAI: 593 [15.5.1941]) Für weitere Textstellen, in denen Klemperer dem das Tagebuchschreiben begleitenden Angstgefühl Ausdruck verleiht, vgl. z.B. ebd.: 642f. [23.6.-1.7.1941]; ebd.: 692 [5.12.1941]; ZAII: 19 [8.2.1942]; ebd.: 20 [9.2.1942]; ebd.: 84 [14.5.1942]; ebd.: 117 [9.6.1942]; ebd.: 127 [13.6.1942]; ebd.: 348 [5.4.1943]; ebd.: 594 [27.9.1944].

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te.“137 Der moralische Zeuge vereint die Rollen des Opfers und des Zeugen in sich, und als Überlebender wird er zum Sprachrohr der ermordeten Juden und der erinnernden Würdigung ihrer verschollenen Namen und Gesichter (vgl. Assmann 2007: 42). Die Tagebücher Victor Klemperers kann man vor diesem Hintergrund als Memorbücher bezeichnen, Texte, die auf eine lange Tradition des Totengedenkens im Judentum zurückgehen.138 Laut dem Historiker Dan Diner vertritt diese Perspektivverschränkung zwischen „Monstrosität“ und „Banalität“ in Klemperers Notizheften gleichermaßen die jüdische wie die deutsche Gedächtniskultur (vgl. Diner 1998: 30, Fußn. 27). Die jüdische Rekonstruktion des Holocaust neige nämlich – aufgrund der unsagbaren Gewalt des Ereignisses – zu einer „monströsen“ Makro-Perspektive, die das Massive und Unmenschliche hervorhebt, während das Deutsche Mikro-Geschichtsnarrativ vornehmlich darauf gerichtet sei, das Alltägliche, das Banale und das in geringerem Maße Dramatische hervorzustreichen (vgl. ebd.: 23). Die Spaltung zwischen den Perspektiven – Funktionalität des Mordsystems vs. Intentionalität des Einzeltäters – wird in Klemperers Tagebüchern aufgehoben: deutsche und jüdische Perspektive sind vereint. 3.1.2.2 Ars vanitatis: Selbstbewahrung Das Tagebuchschreiben unter dem Nationalsozialismus gilt als existenzielle Überlebensstrategie, die darauf abzielt, dem identitätsbedrohenden bzw. entmenschlichenden NS-Terror die Stirn zu bieten (vgl. Goldschmidt 2003: 384). Auch in Klemperers Aufzeichnungen, die von Spuren von Selbstbestätigung und persönlicher Selbstverortung durchkreuzt werden, kommt diese widerständige Behauptung der eigenen Identität deutlich zum Tragen. Das Journal erlangt, analog zur Funktion von Gefängnisliteratur, die Fähigkeit, als moralische Stütze zu dienen: Das Schreiben der jüdischen Diaristen ist „Schreiben als Überlebensstrategie, Schreiben gegen die Mauern, als Selbstvergewisserung, als Identitätsbewahrung, Schreiben gegen den Mangel, als Utopie.“ (Weigel 1982: 7) Vor diesem Hintergrund ist, so Hélène Camarade (2003: 209ff.), das Verhältnis zwischen Zeugnis und Überleben dialektischer Natur: Das Überleben begründet und verantwortet den Willen zum Zeugnis-Ablegen, das seinerseits wiederum dem 137 Für viele jüdische Tagebuchschreibende – wie Chaim A. Kaplan, Diarist im Warschauer Ghetto – kam dem Tagebuch im Falle des Todes seines Verfassers die Rolle zu, ein Zeichen des Selbst und anderer Opfer zu hinterlassen und als Schriftmedium „Träger der Geschichte“ zu werden. Daher war das Vertrauen auf das Überleben des Tagebuchs für den Tagebuchschreiber in psychologischer Hinsicht von größter Bedeutsamkeit. Vor diesem Hintergrund fragte sich Kaplan beunruhigt: „Wenn mein Leben endet – was wird aus meinem Tagebuch werden?“ (Kaplan 1967: 404 [4.8.1942]) 138 Als „Memorbücher“ werden besonders im aschkenasischen Judentum Quellen bezeichnet, die Verstorbener gedenken. In Bezug auf den Holocaust handelt es sich nicht um geschichtswissenschaftliche Abhandlungen, sondern um Versuche, dem Vergessen konkreter Personen und Geschehnisse entgegen zu wirken. Für nähere Informationen zur Bedeutung der jüdischen „Memorbücher“ des Holocaust vgl. Yerushalmi (1982: 46).

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Diaristen zur Überlebenshilfe wird. Die Verschränkung von Zeugenschaft und Lebenswillen bildet das den Klemperer-Tagebüchern eingeschriebene Spannungspotential, das den Notizen ihre kraftvolle Stimme verleiht. Im Februar 1942 vermerkt Victor Klemperer im Tagebuch: „Immer das gleiche Auf und Ab. Die Angst, meine Schreiberei könnte mich ins Konzentrationslager bringen. [...] Das Gefühl der Vanitas vanitatum, des Unwertes meiner Schreiberei. Zum Schluß schreibe ich doch weiter, am Tagebuch, am Curriculum.“ (ZAII: 19 [8.2.1942]) Das Vanitas-Motiv, das – wie im Barock – Wert und Verfall miteinander verbindet, begleitet in regelmäßigen Abständen die metadiaristischen Aussagen Klemperers. Es bringt die Spannung zwischen menschlicher Demut und menschlichem Selbstbewusstsein zum Ausdruck und ruft die eigene Vergänglichkeit – als memento mori – ins Gedächtnis.139 Das „Vanitas vanitatum“-Zitat, das seinen Ursprung im Alten Testament (Pred. 1,2; 12,8) hat, gilt Klemperer als selbstkritisches Gegengewicht zur – immer wieder selbst eingestandenen – Eitelkeit. Die Hellsichtigkeit, mit der sich der Tagebuchschreiber in der geradezu obsessiven Selbstreflexion zu dieser Eitelkeit bekennt, ist bemerkenswert. Aus der Perspektive des Diaristen steht die Hoffnung im Zentrum, im und durch den schriftlich fixierten Text fortzubestehen. Die Vergänglichkeit stellt grundsätzlich einen der primären Antriebe des autobiographischen Schreibens dar,140 und dementsprechend geistert „der Gedanke des Ausgelöschtseins“ als Schreckgespenst kontinuierlich durch Klemperers Tagebücher (ZAI: 630 [23.6.1.7.1941]): Wer seine Vita schreibt, folgt im Letzten bestimmt immer nur dem einen, dem ganz sinnlosen und ganz unwiderstehlichen und ganz unausrottbaren Triebe: Er mag es nun eingestehen oder nicht, es geht ihm ums Fortdauern, er möchte persönlich länger hier sein, mit seinem ganzen Ich, mit Haut und Haaren, auch wenn Ich längst nicht hier ist, einerlei, wie man sich das Anderwärts vorstellt, als Nichts oder irgendeinen Himmel oder irgendeine Hölle oder Schattenwelt. (CVI: 7f.)

Klemperers Aufzeichnungen sollen dieses Ich an eine Nachwelt vermitteln und über den Tod hinaus in einem materiellen Medium aufbewahren, gleich einer ty139 Die ichbezogene Tagebuchliteratur, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt, ist eine prinzipiell moderne Gattung: Die selbstzentrierte Auseinandersetzung mit dem Ich in der écriture de soi stuft Georges-Arthur Goldschmidt (2002: 14) als prinzipiell „narzisstisch“ ein: „Das Schreiben des Narziss ist eine wesentlich moderne Schreibweise; es fängt mit Rousseau und Karl Philipp Moritz an.“ Analog rückt auch Gustav-René Hocke (1991: 197) die „SelbstHerrlichkeit“ des modernen Diaristen in den Mittelpunkt: „Vor seinen weißen Blättern fühlt sich der Tagebuchschreiber unabhängig [...]. So entsteht, kaum daß der metaphysische OrdoGedanke des Mittelalters fragwürdig wurde, die Selbst-Herrlichkeit des Individuums, die IchVernunft des Einzelnen, eine neue Art der Persönlichkeitsverehrung.“ Auch Werner Graf (1982: 79f.) macht auf die „egozentrisch[e]“ Perspektive der Diaristen aufmerksam, da sie „für außergewöhnlich wichtig halten, was sie erleben.“ 140 Béatrice Didier (1983: 170f.) legt nahe, dass jedes Tagebuch grundsätzlich auf den eigenen imaginierten Tod – in articulo mortis – reflektiert. Magdalena Marszałek (2003: 92ff.) untersucht vor diesem Hintergrund beispielsweise die Bedeutung des gegen den Tod gerichteten autobiographischen Antriebs in Zofia Nałkowskas Tagebüchern.

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pographischen Verewigung an einer Wand, die besagt: „Ich war hier“, mit dem Ziel „die Daseinsflüchtigkeit aufzuhalten“ und „Text zu werden, der nicht so schnell [...] vergeht“ (de Bruyn 1995: 14). Dem Tagebuch kommt auf diese Weise über seine Funktion als Speichermedium hinaus die Bedeutung eines Kommunikationsmediums zu, in dem sich die in den Notizen aufgezeichnete Subjektivität an ein potentielles, künftiges Gegenüber adressiert.141 Dies erlaubt es dem Schreibenden, jenseits von Einsamkeit persönlichen Kontakt und Intimität zu imaginieren.142 In Autobiographie als Maskenspiel entwickelt Paul de Man eine Theorie der Autobiographie unter dem Aspekt der Prosopopöie. Dieses Konzept lässt sich auch für eine Annäherung an Klemperers Tagebuch fruchtbar machen, da es verdeutlicht, dass der selbstbiographische Autor dem Text eine Rückversicherung des eigenen Seins einschreibt: Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie, durch die jemands Name [...] so verstehbar und erinnerbar wird wie ein Gesicht. [...] Die dominierende rhetorische Figur des epitaphischen oder autobiographischen Diskurses ist [...] die Prosopopöie, die Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes; ein unbeschriebener Stein würde die Existenz der Sonne in der Schwebe lassen. (de Man 1993: 140f.)

Paradoxerweise dient das autobiographische Schreiben – als Epitaph, als Grabinschrift – einer Graphogenese des Selbst: Die Sinnesgeschichte des Schreibens wird vor diesem Hintergrund geradezu identisch mit der eigenen Lebensgeschichte. Das Dasein wird in die Schrift „aufgesogen“ und überlebt als materielles Zeichen die körperliche Existenz des Autobiographen. Der Leser gibt der „Stimme-vonjenseits-des-Grabes“ ein Gesicht, das den Autobiographen metonymisch wiederbelebt. Das Schreiben einer Autobiographie oder eines Tagebuchs wird auf diese Weise zu einer Art Abtötungsverfahren des eigenen Leibes, um ein neues physisches Selbst auferstehen zu lassen, einen Schriftkörper, der die Erlösung bringen soll. Der physische Körper des schreibenden Ich wird vom autographen Körper aufgenommen und ausgelöscht (vgl. Schärf 2002: 196ff.). Es ist kein Zufall, dass bei Klemperer solche Explizierungen der Schreibmotivation auf intensivste Weise während des Holocaust – ab 1941 – vorkommen. An der Lust an der Beständigkeit der Schrift sowie an der Hoffnung auf das „Fortdauern“ des Ich lässt sich bei

141 Der primäre Adressat in Klemperers Tagebüchern war der Tagebuchautor selbst. Die Tagebuchnotizen wurden aber gelegentlich auch von seiner Ehefrau nachgelesen (vgl. z.B. A 138: 1404 [16.3.1945]; ZAII: 764 [3.5.1945]), die in seltenen Fällen auch persönlich adressiert wurde (vgl. z.B. CVI: 380f.). 142 Zur Frage der diaristischen Bemühung um schriftmediale Athanasie (bei Arthur Schnitzler) vgl. Marxer (2001: 33f.).

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näherer Betrachtung eine gegen das Vergehen der Zeit gerichtete Strategie der Memorierung ablesen.143 Der ausgeprägte intellektuelle Individualismus des Bildungsbürgers Victor Klemperer offenbart sich durchgängig in seinen Tagebüchern. Hier gibt er sich als von der Masse abgehobenes Individuum zu erkennen, das sich als solches erst durch Schreiben und Publizieren sozial zu inszenieren und zu verwirklichen vermag. Der Drang nach gesellschaftlicher Anerkennung, nach ihm gebührender Ehre im akademischen Bereich ist richtungweisend für Klemperers Schreiben (vgl. Jacobs 2000: 311). Seine gesellschaftliche Position beruht erheblich auf der Grundlage seines symbolischen Kapitals, das Klemperer durch seine Schreib- und Publikationstätigkeit zu erlangen sucht. Die Autobiographie, die auf Klemperers im Alter von sechzehn Jahren begonnenen Tagebuchnotizen basiert, stellt eine bedeutungsvolle Vertröstung dar: Jeder [...] (und nun gar ich), der irgend ein Eigenes geschaffen, mag sich tausendund tausendmal das Vanitas vanitatum [...] wiederholen. Er möchte doch gar zu gern mit seinem Werk nach außen wirken und in ihm weiterleben [...] – und doch immer der dumme und peinliche Wunsch, noch ein Werk, nur noch dies eine, an dem ich gerade arbeite und das sicher mein bestes wird, meiner Katalogseite hinzugefügt zu sehen! (CVI: 381)

Der Tagebuchschreiber wollte in seinem Werk „weiterleben“. Aus psychoanalytischem Blickwinkel betrachtet liegen Selbstbezogenheit und Selbsterhaltungstrieb dem selbstbiographischen Schreiben wesentlich zugrunde. Daher stellt der Ge143 Guy Besançon (2002: 43) vertritt aus psychoanalytischer Perspektive die Meinung, der Narzissmus der Diaristen sei für die Gattung Tagebuch charakteristisch: „Der Narzissmus ist zweifellos der fundamentale Nährboden des Tagebuchs.“ Aufgrund ihres zumeist plakativen Selbstbewusstseins „neigen [Tagebuchautoren, A.S.] zum Narzißmus,“ heißt es auf ähnliche Weise bei Werner Graf (1982: 79). Für Besançon (2002: 151ff.) ist die diaristische Selbstbezogenheit grundsätzlich auf Sigmund Freuds Begriff des „sekundären Narzissmus“ zurückzuführen. Freud (1991: 137-170) unterscheidet in seinem erstmals 1914 veröffentlichten Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“ zwischen primärem und sekundärem Narzissmus. Während das Kind in den ersten Lebensmonaten sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt, seine Lebensenergie ganz und gar auf sich selbst ausgerichtet ist, bezeichnet der sekundäre Narzissmus eine Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogenen Libido: Die Selbstliebe des Ich ist eine Reaktion auf eine frustrierende Außenwelt oder eine seelische Verletzung; Außenwelt und Partner sind vor diesem Hintergrund grundsätzlich dazu da, das narzisstische Individuum in seinem Selbstwert zu bestätigen. Zu dieser zwangsläufig äußerst verkürzten Darstellung müsste man allerdings anmerken, dass die beiden referierten Freud’schen Begriffe in der psychoanalytischen Literatur und sogar in Freuds Werk selbst sehr unterschiedlich gedeutet werden, was eine genauere und eindeutige Definition meinerseits verbietet. In Bezug auf Klemperers Tagebücher lässt sich allerdings festhalten, dass die tiefe Kränkung durch seine gescheiterte Assimilation, sein Berufsverbot und die Nichtigkeitserklärung seines akademischen Kapitals, zu denen sich Todesangst, Depression und unaufhörliche körperliche Beschwerden gesellen, gewissermaßen zu einer Zentralstellung der eigenen Person sowie des eigenen Leidens und Überlebens führten. Aber eben nur gewissermaßen, denn dem Narzissmus haftet im Kontext von Klemperers Tagebuchaufzeichnungen eine höchst ambivalente Tönung an: Einerseits gilt das Hauptinteresse dem Gefühlsleben der eigenen Person, andererseits führt die Libido – hier: die Lust an der Selbstverschriftlichung – gleichzeitig zu einem Zeugenschaftsprojekt im Tagebuch, das die verfolgten Dresdener Juden memoriert. Diese beiden Aspekte halten sich im Tagebuch die Waage.

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danke an das Überdauern der in Pirna144 aufbewahrten Manuskripte für Klemperer eine wichtige psychologische Überlebenshilfe im Jetzt dar: Eva kam gehetzt von Windes zurück, sie mußte mit dem Halbvier-Zug nach Pirna, das erstemal seit drei Monaten. Beim Zurechtmachen des Manuskript-Paketes quälte mich wieder die Frage, ob ich jemals etwas von all dem Gespeicherten werde ausnützen können. Aber daran darf ich natürlich nicht denken, wenn ich nicht in vollkommenes Nichtsein versinken will. (ZAII: 645 [20.1.1945])

Nach der Dresdener Bombennacht vom 13. Februar 1945 flüchten Victor und Eva Klemperer über Pirna nach Falkenstein im Vogtland, wo sich Hans Scherner, der Leipziger Apothekerfreund, niedergelassen hatte. Bei ihm finden sie für ein paar Tage Unterschlupf. Trotz der relativen Sicherheit, in der sich der Diarist dort befindet, zeigt er sich nicht nur besorgt um das eigene physische Überleben, sondern auch um dasjenige seiner Manuskripte. Es sieht so aus, als wären die Manuskriptblätter ein materielles Substitut für die körperliche Existenz ihres Verfassers, eine Art Versicherung gegen einen möglichen Tod, der viel symbolisches Gewicht beigemessen wird.145 Die geringe „Überlebenschance“, die Klemperer im März 1945 den Tagebuchheften und sonstigen Arbeiten einräumt, beunruhigt ihn zutiefst: Seit wir hier angekommen, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaßen auf 50 Prozent gestiegen sein. Meinen Manuskripten in Pirna aber, die keinerlei Kopie mehr haben und alle Arbeit und alle Tagebücher umfassen, gebe ich höchstens 10 Prozent Chance. (ebd.: 691 [7.3.1945])146

Die Sorge um das körperliche Überleben des Holocaust geht in den Tagebuchnotizen kontinuierlich mit beunruhigten Überlegungen hinsichtlich des 144 Die in Pirna ansässige Freundin Annemarie Köhler setzte sich durch das Aufbewahren der Klemperer-Notizen der Gefahr des Entdecktwerdens aus, was schwerwiegende Folgen hätte haben können: „Sie [=Annemarie Köhler, A.S.] weiß nicht nur, daß sie meine Manuskripte aufbewahrt, sie weiß auch, daß es sich um Tagebücher handelt. Sie weiß seit Monaten, daß es sich bei solchem Verhalten nicht mehr um Gefängnis, sondern ganz eindeutig um den Kopf handelt.“ (ZAII: 594 [27.9.1944]) 145 In ihrer Arbeit über die Autobiographien Simone de Beauvoirs, Writing against Death, legt Susanne Bainbrigge (2005: 10f.), die sich auf Jacques Derrida und Louis Marin stützt, aus theoretischer Perspektive nahe, wie dem autobiographischen Schreiben eine Kampfansage gegen den dem Individuum innewohnenden langsamen Tod eingeschrieben ist. Selbstbiographische Nachbargattungen wie Tagebuch und Autobiographie stehen immer unter dem Zeichen des Thanatos. Der schiere Umfang von Klemperers monumentalem Tagebuchkorpus, das in der europäischen Literaturgeschichte hinsichtlich seiner Quantität mit Henri-Frédéric Amiels 17 000 Seiten umfassendem journal intime zu vergleichen ist, mag ein Versuch sein, den Tod abzuwehren. Zur Bedeutung der „Autothanatographie“ in der aktuellen Autobiographieforschung vgl. ebd.: 20-25. 146 Am nächsten Tag bringt der Diarist auf analoge Weise seine Besorgnis über das Los seiner Tagebücher sowie seines eigenen zum Ausdruck: „Am Vorstehenden notierte ich gestern den ganzen Tag und heute früh. Mit einiger Selbstüberwindung und Pedanterie, denn es ist so wenig Hoffnung, daß ich überlebe, und noch viel weniger Hoffnung, daß meine Manuskripte in Pirna überleben. Die Vernichtung geht immerfort weiter, Tag und Nacht.“ (ZAII: 695 [8.3. 1945])

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Schicksals der Manuskripte einher. Beide Kümmernisse sind geradezu unlöslich miteinander verschränkt. Allein der Gedanke, die Früchte seiner im Diarium vorbereiteten Arbeiten endgültig verloren gehen zu sehen, erscheint dem Diaristen äußerst schmerzhaft: Dann wird man evakuieren und dabei die Mischehen trennen und die jüdischen Teile, wer weiß wo?, vergasen; dann werden in Pirna meine Manuskripte, die Ausbeute so vieler Jahre, verbrennen ... So ‚greuelt‘ (LTI) seit gestern meine Phantasie, ohne dabei Unwahrscheinlichkeiten zu häufen. (ebd.: 605 [17.10.1944])

Parallel zur Zielsetzung der schriftlichen Selbstverwirklichung macht sich stets auch ein resignativer Nebenton bemerkbar: „Wozu auch die Mühe -? Wo doch jede Stunde eine neue und sehr wohl die endgültige Katastrophe bringen kann.“ (CVI: 324) Aber gerade „[i]n der ständigen Lebensgefahr als Jude“ (ZAII: 479 [27.1.1943]) wird bei Klemperer der innere Ruf nach Selbstverschriftlichung immer lauter: Einerseits relativiert der Autor angesichts der Leiden Anderer im Nationalsozialismus den persönlichen Wert seiner autobiographischen Schriften, die er – dem Vanitas-Motiv entsprechend – als „[s]ein Allernichtigstes“ (A 137: 455 [27.9.1940]) bezeichnet. Vor diesem Hintergrund, so bezeugt der Tagebuchschreibende, „quält mich die Idee der Wertlosigkeit. Wie gleichgültig, ob ich ein Buch mehr oder weniger hinterlasse! Vanitas...“ (ZAI: 6 [21.2.1933]) Andererseits aber kommt der „eitle“ Anspruch umso schärfer, dringlicher und wirkungsvoller zum Tragen in einem Moment, wo er dem Tode ins Auge zu blicken vermeint. Klemperers Schreiben im Nationalsozialismus stellte demnach den Versuch dar, zeitweilig „die vanitas der Dinge“ dem Vergessen anheim zu geben (A 138: 1299 [8.1.1945]; vgl. ZAI: 189 [17.3.1935]).147 Schreiben und Studieren lassen den Diaristen über die Todesgedanken und die scheinbare Zweck- und Wertlosigkeit des Lebens hinwegkommen. In seinem Silvesterfazit 1944 fasst er sein Credo des Tagebuchführens folgendermaßen zusammen: Irgendwie mich mit dem Todgedanken abzufinden, vermag ich nicht; religiöse und philosophische Tröstungen sind mir vollkommen versagt. Es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist die Versenkung ins Studium, so tun, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck. (ZAII: 634 [31.12.1944])

Gegenüber dem Grauen vor „dem Auslöschen in absoluter Einsamkeit“ (ebd.: 182 [26.7.1942]) hält der Diarist an seinem Tagebuch wie an einer existenziellen Rettungsboje fest: „Ich rette mich immer wieder in das, was jetzt meine Arbeit ist, in diese Notizen, meine Lektüre.“ (ebd.) Der Tagebuchtext wird in der Folge, so die utopische Wunschvorstellung des Diaristen, zum Sieg über den möglichen 147 Obschon sich der Tagebuchautor von der zeitgeschichtlichen Relevanz seiner Arbeiten zu überzeugen versucht, gelingt dies nie gänzlich. Wiederholt beklagt er die voraussichtlich missglükkende Fertigstellung seiner Schriften und damit sein symbolisches Sterben: „Und das Cur. u. die LTI u. das 18ième u. die neueste franz. Lit. ‚Vom Weltkrieg zum zweiten Weltkrieg‘ – nichts von alledem wird zustandekommen. Und wenn ich mir 1000 x das Vanitas vanitatum herleiere – es ist doch abscheulich.“ (A 138: 740 [28.11.1942])

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Untergang seines Autors und stellt somit die materielle „Inkarnation einer Selbstrepräsentation“ (Chiantaretto 2002: 8) dar. Die postum ausgerichtete „Fleischwerdung“ des Namens erhält ab 1942 – als die Massenvernichtung immer erdrückendere Ausmaße anzunehmen begann – eine Schlüsselrolle in der Funktionalisierung des Tagebuchschreibens. Das Tagebuch befindet sich vor diesem Hintergrund auf dialektische Weise zwischen Leben und Tod; es ist gleichzeitig autothanatographisch und autobiographisch:148 Einerseits schreibt man, um nach dem Tode weiterzuleben, andererseits impliziert diese Reflexion, dass der Tod bereits zu Lebzeiten aktiver Bestandteil des Seins ist.149 Der Zwiespalt zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstrelativierung meldet sich in Klemperers Tagebuch lautstark zu Wort: Intellektuelle Eitelkeit vor dem schicksalshaften Hintergrund des Holocaust erscheint dem Tagebuchschreiber sowohl unangebracht als auch unvermeidlich. Die diaristische Vanitas gerät vor diesem Hintergrund zum Problem, weil sich die Unbeständigkeit der Zeit in der Unbeständigkeit des Selbstbildes, der persönlichen Identität niederschlägt. Durch den Fortgang der Zeit wird der Diarist ständig an die Endlichkeit seines Lebens erinnert: „Werde ich Zeit behalten, meine Bücher zu schreiben? [...] Der Glücksumschwung hämmert uns die trivialsten Weisheiten ein, in summa das Vanitas vanitatum.“ (ebd.: 31 [22.2.1942]) Jean Starobinski rückt diesbezüglich das ungemein schwierige Verhältnis zwischen dem unerbittlichen Fortgang der Zeit, der durch die Eintragungsstruktur im Tagebuch emphatisch hervorgehoben wird, und der Selbstbezogenheit des Individuums in den Vordergrund: „Narziß bietet der Zeit keine Angriffsfläche; er geht in der Stetigkeit eines gleichbleibenden Bildes auf. Die Zeit der Uhren könnte ihn nur unglücklich machen, indem sie ihn daran hinderte, mit seiner eigenen Dauer eins zu sein.“ (Starobinski 1987: 442) 148 Kafka schreibt vor diesem Hintergrund im Jahre 1921 beispielsweise in seinem Tagebuch, der Diarist sei gleichzeitig „tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende“: „Derjenige der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren – es geschieht sehr unvollkommen – mit der andern Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die andern, er ist doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende. Wobei vorausgesetzt ist, daß er nicht beide Hände und mehr als er hat, zum Kampf mit der Verzweiflung braucht.“ (Kafka 1990: 867 [19.10.1921]) Béatrice Didier (1988: 140ff.) argumentiert in diesem Zusammenhang schlüssig, dass das Tagebuch durch seinen spezifischen Verschriftlichungsmodus, der dem unaufhaltsamen chronologischen Fortgang der Zeit folgt, zwangsläufig auf den Tod hinausläuft: Der körperliche Tod des Diaristen bedeutet zugleich unabwendbar das Ende seines Tagebuchs. Das Tagebuch, dem auf diese Weise inhärent der Tod eingeschrieben ist, stellt vor diesem Hintergrund eine Art Einkesselung des Todes dar, eine Autothanatographie, die paradoxerweise als beschwörende Selbstverteidigung gegen den Tod zu verstehen ist. Der Feind wird benannt, damit er symbolisch ausgetrieben werden kann. Klemperers über mehr als sechs Jahrzehnte durchgehaltene Diaristik ist besonders kraftvoll und lebendig nicht trotz, sondern gerade wegen des Todes. Libido und Tod sind in ihr unzertrennlich verschränkt. 149 André Combes (2000: 77ff.) verortet Victor Klemperers Tagebuch und Curriculum Vitae auf ähnliche Weise zwischen „Autobiographie“ und „Autonekrographie“. Béatrice Didier (1988: 139) betont vor diesem Hintergrund in allgemeiner Hinsicht, das diaristische Ich sei von Anfang an intrinsisch zergliedert und orientiere sich am eigenen imaginierten Tod.

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Im Gegensatz zu den Tagebüchern aus der Weimarer Zeit, die in gewissem Maße noch einen unproblematischen privatistischen Selbstbezug erlaubten, hinterfragen die Aufzeichnungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches die Legitimität der Vanitas des Akademikers, der inmitten menschlicher Misere augenscheinlich nach wie vor um soziale und berufliche Statuserhöhung bemüht ist.150 Tagebuch- und Autobiographieschreiben waren im Dresdener „Judenhaus“ allerdings ein äußerst gefahrvolles Unternehmen, weshalb sich die Klemperers bald genötigt sahen, die Manuskripte an einen sicheren Ort zu schaffen, was aber aufgrund möglicher Kontrollen wiederum ein außerordentlich riskantes Unterfangen darstellte. Deswegen stellt sich der Tagebuchautor hin und wieder die Frage, ob es denn überhaupt moralisch zu rechtfertigen sei, seine Gattin der Todesgefahr auszusetzen, um sie seine Manuskriptblätter nach Pirna in Sicherheit bringen zu lassen, oder ob es sich vielmehr um „verbrecherische Eitelkeit?“ handle (ZAII: 595 [27.9.1944]): „Eva will die Blätter heute nach Pirna schaffen [...]. Jedesmal eine besondere Furcht und eine besondere Gewissensbelastung für mich. Wofür exponiere ich Eva? Vanitas!“ (ebd.: 377 [11.5.1943]; vgl. ebd.: 155 [4.7.1942]; ebd.: 261 [24.10.1942]) Kurz nach der Flucht aus Dresden, im März 1945, spricht Klemperer die Hoffnung aus, dass die Manuskripte unbeschädigt die Luftangriffe überstehen mögen, dass „außer mir auch der Mss-Koffer in Pirna überleben“ würde (A 138: 1398 [14.3.1945]) Das Œuvre soll, so Klemperers Hoffnung, nach dem Tode des Autors eine voix d’outre-tombe darstellen.151 Das Schreibmotiv des Überlebens im Werk, das den Diaristen „immer wieder am Schreibtisch fest[hält]“ (CVI: 381), stellt die libidinöse Triebfeder der Selbstverschriftlichung dar.152 Klemperer erhofft sich, wie er seiner Freundin Marta Jelski in einem Schreiben anvertraut, eine Publikation seiner Autobiographie: 150 Das rastlose Verlangen nach Ruhm und Anerkennung selbst nach dem Tode äußert sich auch im geringen Hoffnungsfunken, dass mit dem berühmten Dirigenten Otto Klemperer, Victors gleichnamigem Vetter, sich wenigstens der Familienname nach dem Holocaust in die Zukunft hinüberretten könnte: „Klassische Grammophonplatten, ich blättere in einem Buch ‚Dirigenten des 20. Jahrhunderts‘, das Bilder und Essais brachte. Otto Klemperer, der ‚Besessene‘, spielt darin eine große Rolle. Vielleicht wird er von allen Klemperers überleben. Vanitatum vanitas.“ (ebd.: 130 [14.6.1942]) 151 Dirschauer (1997: 152) bezeichnet diese beabsichtigte metaphorische Auferstehung des Autors im eigenen postumen Œuvre als „messianisches Denken im säkularen Gewand.“ Klemperer rettet sich, so Dirschauer, vor der Ermordung bzw. dem Tod durch Entbehrung oder Krankheit – im Tagebuch. Diesbezüglich legt Dirschauer den lebensbejahenden und -bestätigenden Charakter des Tagebuchschreibens nahe: „Klemperers Schreiben ist ein Schreiben gegen den Tod, bräche es ab, so käme er gewiß: Ich schreibe, ich lege Zeugnis ab, also bin ich.“ (ebd.: 34) Das Motiv der Selbsthervorbringung in der Schrift zieht sich als entscheidender Antrieb durch zahlreiche Holocaust-Tagebücher. Die Tagebücher sind im Grunde genommen auf Minimalniveau Zeugnisse für den Akt des Schreibens selbst, der die eigene Existenz unter Beweis stellt (vgl. Young 1992: 69). 152 Der Künstler Mendel Mann hebt auf ähnliche Weise hervor, wie seine Schreibpraxis während des Holocaust der materiellen Sicherstellung der eigenen Existenz diente. Über den Datenträger Papier hinterlässt er Spuren seines (Über-)Lebens: „Ich schreibe, um zu beweisen, daß ich bin, daß ich existiere, daß auch ich noch auf diesem Planeten bin. Die Welt hat mich verurteilt, zu

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Sollte sie einmal nach meinem Tode veröffentlicht werden, so wird sie vielleicht – vanitatum vanitas! – wehr [sic] zur Dauer unseres Namens beitragen als meine wissenschaftlichen Bücher, denn sie hat fraglos kulturgeschichtlichen Wert und gelingt mir, bisher wenigstens, immerhin schon über eine ganze Strecke, recht lebendig. (A 182 [5.5.1939])153

Dieselbe Hoffnung auf das Weiterleben seiner Werke bzw. in seinen Werken hegt Klemperer im Hinblick auf die 1935 beendete philologische Arbeit über die französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Die Publikationsabsicht und die Aussicht auf eine künftige Leserschaft bedeuten für den Philologen eine wichtige Stütze während der NS-Zeit, in der er in menschlicher und beruflicher Hinsicht deklassiert wurde: Könnte ich nicht durch die Maschine mir gewissermaßen den Druck ersetzen, das völlige Loslösen und Objektivieren, dazu mir die Hoffnung geben, daß dieser ganz fertige und lesbare Text auch ohne mich und nach mir publiziert werden kann – ich glaube, so ertrüge ich diese Zeit nicht, brächte jedenfalls nicht die Konzentration zum Schreiben auf. (ZAI: 226 [31.10.1935])

Das Überdauern des Namens ist eines der Grundziele von Klemperers Schreibpraxis. Auf theoretischer Ebene, so schreibt Thomas Böning (2000: 352) in Anlehnung an Jacques Derrida und Paul de Man, versuche der Autor einer Autobiographie stets, seinem Eigennamen eine Geschichte zu verleihen. Der Eigenname ist immer schon der Name eines Toten, das vorweggenommene Gedächtnis des körperlichen Verschwindens (vgl. ebd.: 351). Aus Jacques Derridas Auseinandersetzung mit der Politik des Eigennamens in seinem Essay Otobiographien (vgl. Derrida und Kittler 2000: 7-63) geht hervor, dass das Überleben im und durch den Namen der Struktur der Zeugenschaft folgt: Die Nennung des Personalpronomens „Ich“ stellt als autobiographischer Akt ebensosehr Archivierung wie Performativität dar, sowohl Aufbewahrung als auch Hervorbringung des Selbst. Die Exklusivität seines selbstbiographischen Projektes sieht Klemperer beispielsweise dadurch bedroht, dass eine andere jüdische Person, Robert Steinitz, mit einem ähnlichen Unterfangen beschäftigt ist. Klemperer wird in seiner selbstbewussten Individualität als Diarist hierdurch erheblich verunsichert: [E]r [=Steinitz, A.S.] wolle als nächstes Thema [...] ‚Episoden aus dem gegenwärtigen Leben der Juden‘ schreiben. Das bedrückte mich innerlich; tut er damit nicht genau das gleiche wie ich? Ich weiß, [...] er ist kein Kirchenlicht; ich weiß auch, es werden mehr Leute als er u. ich ‚Zeugnis ablegen‘. Dennoch habe ich das peinliche Gefühl, Concurrenz für meine eigenen Pläne erhalten zu haben. Es fehlt mir an Selbstbewußtsein. (A 138: 726 [8.11.1942])

sterben. Ich schreibe, weil ich durch meine Bücher Zeugnis ablege von meiner Existenz.“ (Mann zit. n. Young 1992: 70) 153 Trotz düsterer Aussichten und der primären Ausrichtung auf sich selbst und seine Ehefrau hofft der Romanist, dass das Curriculum irgendwann an die Öffentlichkeit gelangen möge, „daß sich noch einmal, irgendwann nach meinem Tode, im vierten oder fünften Reich, ein Herausgeber und ein paar hundert Leser meines Curriculums fänden.“ (CVI: 381; vgl. CVII: 655)

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Der Individualismus des Tagebuchschreibenden läuft allerdings nicht auf eine hermetische Abschottung von der Außenwelt hinaus. Das diaristische Ich zieht sich keineswegs ins Tagebuch wie in eine realitätsferne Vorkammer des Todes zurück. Vielmehr liegt Klemperers Tagebuchschreiben der Konnex zwischen Selbstbezogenheit und Zeugenschaft, Selbst und Geschichte zugrunde. Die Erinnerung an sowohl ego wie auch alter soll mit dem Tagebuch gleichsam in die Zukunft hinübergerettet werden. Aus Klemperers Tagebüchern wird eindrucksvoll ersichtlich, wie das „Überleben und das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen, eins werden.“ (Young 1992: 37) Das Zeugnis-Ablegen über das äußere Unrecht und die erhoffte Graphogenese in der Schrift verhalfen dem Diaristen zu essenziellem Lebens- bzw. Überlebenssinn, der in psychologischer Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Rolle für seine Widerstandskraft spielte. Zur Funktion der Zeugenschaft und der Selbstbewahrung gesellt sich die autotherapeutische Wirkung, die der Diarist mit dem Schreiben erzielte. Darum soll im Folgenden aus metadiaristischer Perspektive die psychologische Funktion des Tagebuchschreibens als Medium der Selbstbeschäftigung, des Spannungsabbaus und des Vergessens der Verfolgung in den Mittelpunkt gerückt werden. 3.1.2.3 Ars oblivionalis: Autotherapie Victor Klemperer, der in seinem Leben aus beruflichen Gründen laufend geschrieben und publiziert hatte, konnte seiner wissenschaftlichen Arbeit im Dritten Reich nicht mehr nachgehen, was ihm besonders schwer zu schaffen machte: „Ich, der Professor, der Senator, der Staatskommissar, der im Brockhaus Verzeichnete. Deine Ehre ist von außen nicht zu verletzen? Gerede! Ich fühle doch wie verletzt sie ist.“ (ZAI: 632f. [23.6.-1.7.1941]) Sein Tagebuchschreiben im Dritten Reich stellte vor diesem Hintergrund kein entlastetes, nebenbei betriebenes Schreiben wie zuvor mehr dar, sondern einen Bewältigungs- und Selbstbehauptungsversuch, der ihm die Möglichkeit bieten konnte, durch intellektuelle Beschäftigung gewissermaßen Erleichterung, Wohlbefinden, Zukunftsperspektive und Mut zu finden (vgl. Tölle 1999: 357). Dem Tagebuch kommt in der NS-Zeit somit eindeutig die Funktion einer Autotherapie als Überlebenshilfe zu.154 Klemperers Schreiben ist vom Verlangen bestimmt, über die gefährdete, reduzierte Existenz hinweg sein Selbst zu erhalten und sich in seine Schreibtätigkeit „einzugraben“ (vgl. ZAI: 424 [20.9.1938]; vgl. CVI: 324). Sein Tagebuch stellt ein bedeutendes Medium dar, um die Last der erstickenden und todumwitterten Gegenwart abzutragen: „An der Durchführung 154 Für eine eingehendere Diskussion der autotherapeutischen Funktion selbstbiographischen Schreibens vgl. Besançon (1987: 1505; 2002: 18, 139-183), Görner (1986: 23) und Moser (2006: 256). Hadwig Klemperer betont vor diesem Hintergrund in einem Interview mit Bernard Reuter über die Klemperer-Tagebücher, „durch das Schreiben“ sei es ihm möglich gewesen, sich „über die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren.“ (Reuter 2002: 368)

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des Tgb’s halte ich mich innerlich fest. Nur nicht leerlaufen, nur keine Zeit haben zur Todesangst!“ (A 138: 1357 [22.2.1945]) Mit der schreibenden Selbstdisziplinierung korrespondiert eine stoische Haltung: Besonders in Momenten der akuten Bedrohung und des Leidens kommt es Klemperer darauf an, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Durch die ständige Mühsal der schriftlichen Arbeit gelingt es dem Ich, einen Ort zu schaffen, an dem es sich kurzfristig sicher zu fühlen vermag. Auf diese Weise versucht der Diarist durch sein Schreiben – das für ihn „einziges Gegengift gegen die Verzweiflung der Lage“ war (ZAI: 219 [29.9.1935]) – das eigene Ich nicht gänzlich zu verlieren: „An diesen Notizen mitten im Chaos und öden Herumstehen habe ich ein klein bißchen Kraft zurückgewonnen.“ (ebd.: 531 [26.5.1940]) Analog heißt es gut zwei Jahre später: „Ich arbeite über das Grauen vor dem Mord in der Zelle hinweg.“ (ZAII: 192 [2.8.1942]) Das Schreiben ist vor diesem Hintergrund als relativ wirkungsvolles Mittel und bedeutsamer Garant der Selbstgestaltung und der Selbstbeherrschung des Ich zu bezeichnen: „Ich will [...], um einen Halt zu haben, genauso weiterarbeiten wie bisher. Vielleicht geschieht ein Wunder. Und wenn nicht – irgendwie muß ich doch über den Rest der Zeit wegkommen.“ (ebd.: 512 [6.5.1944]; vgl. ZAI: 665 [15.9.1941])155 Die performative Eigenschaft des Tagebuchschreibens geht auf ihre Bedeutung als Instrument der „Sorge um sich“ (sensu Foucault 1989) zurück. Der Topos des Vergessens zieht sich aus dieser Perspektive wie ein roter Faden durch den metadiaristischen Diskurs aus der NS-Zeit: „[E]s ist ganz gleichgültig, womit ich über den Rest meiner Zeit hinwegkomme. Nur irgend etwas machen und sich selbst darüber vergessen.“ (ZAI: 32 [17.6.1933]) Auf ähnliche Weise schreibt der Diarist im Jahre 1943: „Es fällt mir schwer, so weiterzuarbeiten, als wenn mir Zeit bliebe, etwas zu vollenden. Aber Arbeiten ist das beste Vergessen.“ (ZAII: 344 [15.3.1943]) Das Tagebuch lässt sich somit als Gebrauchstext im Dienste der alltäglichen Arbeit der Selbst-Gestaltung verstehen, die dem Diaristen gewissermaßen hilft, die Angst für einen Moment in den Hintergrund zu drängen. Er führt Tagebuch, so als wäre er „des Morgen u. Übermorgen vollkommen sicher.“ (A 138: 560 [17.3.1942])156 155 Das Tagebuchschreiben stellte für den Philologen eine bedeutsame Möglichkeit dar, in einer verzweifelten Lage durch intellektuelle Arbeit Ablenkung und Zukunftsperspektiven zu finden. Die Notizen dienten unter anderem dazu, seine Mutlosigkeit zu bekämpfen und sich einen Lebenssinn zu schaffen: „Ich selber will mich bis zum letzten Augenblick zur Arbeit zwingen. Eva hörte neulich im Restaurant eine Frau erzählen, ihr Sohn habe eine Karte von der Ostfront geschrieben, darauf stand nur: ‚Ich lebe noch, ich lebe noch, ich lebe noch!‘ Darauf beschränkt sich auch mein Empfinden; je nach Stimmung, von Stunde zu Stunde wechselnd, liegt der Ton auf ‚lebe‘ und ‚noch‘.“ (ZAII: 337 [28.2.1943]) An anderer Stelle hebt Klemperer auf ähnliche Weise hervor: „Und wenn ich nicht überlebe, so bin ich anständig über die Zeit gekommen und auf meine Weise tapfer gewesen.“ (ebd.: 254 [9.10.1942]) Die Arbeit im Tagebuch war für Klemperer eine psychologisch wichtige „Donquichotterie“ (ZAI: 338 [27.3.1937]). 156 Das autotherapeutische Potential des diaristischen Schreibaktes kommt auf eine ähnliche Weise auch im Tagebuch der in Auschwitz ermordeten Etty Hillesum deutlich zum Tragen. Die Funktion der psychischen Entlastung bringt sie mit dem Bildspender der „Sense“ zum Ausdruck, mit der sie die psychischen Spannungen und Probleme „wegmähen“ möchte. In der

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Renata Laqueur (1991: 34) charakterisiert das jüdische Tagebuch im Nationalsozialismus demgemäß als eine „Art Selbstverteidigung.“ Das selbstbiographische Schreiben – sowohl Tagebuch als auch Autobiographie – hatte für Klemperer gerade im Dritten Reich einen besonderen Stellenwert als „Zeitausfüllung, [...] Ablenkung und Übertäubung“: Warum sollte ich jetzt nicht, da ich gar nichts mehr zu versäumen hatte, zur Zeitausfüllung, zur Ablenkung und Übertäubung – denn man wartet doch immer, man will ihnen doch nicht die Freude gönnen, vor ihnen zu verrecken, man will doch den Tag des Gerichts erleben –, warum also sollte ich es jetzt nicht mit dem Curriculum versuchen? (CVI: 9)157

Analog schreibt er in einer Notiz vom Mai 1944 über seine Tagebucheintragungen als Notizheft für seine Autobiographie und philologische Arbeit: 63 Jahre beinahe, Angina, ein Auge mattgesetzt, endloser Krieg, von morgen ab wieder Tag um Tag die Fabrik, u. ich arbeite, als sei noch Hoffnung ein Opus zu beenden. Eines: 18ième, Curriculum, LTI, an welchem von den dreien hänge ich mehr? – Heroismus, mein Arbeiten? Bloß Zeitvertreib u. Übertäubung. (A 138: 1087 [29.5.1944])

Im Hinblick auf die funktionale Ausrichtung von Klemperers Tagebüchern scheint eine eindeutige Einordnung der Aufzeichnungen kaum möglich, da im Tagebuch die drei im Vorgehenden erörterten Momente – Zeugenschaft, Selbstbewahrung und Autotherapie – metonymisch ineinander greifen und ein triadisches Funktionenkonglomerat bilden. Im Folgenden soll das Augenmerk auf Klemperers Diaristik in ihrer textuellen Verfasstheit als Epitext (sensu Genette 1992a)158 gerichtet werden – und zwar in zweifacher Hinsicht: als Vorstufe zur letzten Eintragung heißt es vor diesem Hintergrund: „Früh am nächsten Morgen. Ich mähte mit einem kleinen Bleistift wild um mich wie mit einer Sense […].“ (Hillesum 2005: 206 [12.10.1942]) 157 Ungeachtet der Regelmäßigkeit des Schreibens muss der Diarist die Aufzeichnungen manchmal aufgrund von Müdigkeit oder Zeitnot unterbrechen. Der Dialog mit dem Tagebuch bekommt eine Eigendynamik und führt zu einem reflektierenden Diskurs, der buchhalterisch die Aktivität des Schreibens verzeichnet. Der diaristischen Buchführung wird in den Notizen besonders viel Raum gewidmet, und weist so auf die psychologische Bedeutsamkeit der Selbstdisziplinierung durch Schreiben hin: Die Diaristik war dem Tagebuchschreibenden eine innere Verpflichtung und ein wichtiges Mittel, sich sinnvoll zu beschäftigen und auf diese Weise den NS-Alltag lebenswerter zu gestalten. In einer Notiz aus dem Jahr 1943 heißt es beispielsweise: „Der heutige Vormittag ist wieder allein vom Tagebuch ausgefüllt.“ (A 138: 867 [14.5.1943]) In einem anderen Notat schreibt Klemperer: „[D]iesen Abend muß ich wieder zum Nachtdienst; was noch an freier Zeit bleibt, will ich an nachzuholende Tgb-Notiz setzen.“ (ebd.: 938 [6.9.1943]) Analog notiert er einige Monate später: „Hoffentlich heute ein paar Stunden für Tagebuch zu erübrigen.“ (ZAII: 453 [11.12.1943]) Solche Notate führen auf augenfällige Weise die psychische, emotionale und intellektuelle Bedeutsamkeit des Schreibens für Klemperers Alltag in den Blick. Weitere Belegstellen für die detaillierte Bestandsaufnahme der selbstdisziplinierenden Verschriftungstätigkeit findet der Leser z.B. in ZAI: 472 [7.6.1939]; ebd.: 512 [17.3.1940]; ebd.: 565 [10.12.1940]; ZAII: 6 [12.1.1942]; ebd.: 54 [24.3.1942]; A 138: 959 [6.10.1943]; ebd.: 971 [31.10.1943]. 158 Das Tagebuch ist als Epitext von LTI und Autobiographie zu betrachten. Gérard Genette (1992a: 369) versteht das Tagebuch auf allgemeiner Ebene als „privaten Epitext“, als Kom-

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sprachkritischen Arbeit LTI (3.1.3.1) und als Kommentartext zur Autobiographie Curriculum Vitae (3.1.3.2).

3.1.3 Der diaristische Epitext 3.1.3.1 Diaristik und Philologie: LTI [D]ann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, und damit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Und dann kam die Austreibung aus meinem Haus, und dann kam alles übrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancierstange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vorzüglichstes Interesse. (LTI: 22)159

Auf diese Weise schildert Victor Klemperer den Entstehungshintergrund seiner – nach dem Krieg erstmals 1947 veröffentlichten – LTI-Beobachtungen, die allmählich zum eigentlichen Hauptziel der Diaristik avancieren.160 Das Tagebuch stellt in wichtigen Teilen ein Arbeitsjournal für Kultur- und Sprachanalysen dar, deren Genese sich in seinem Korpus textkritisch nachzeichnen lässt.161 Es speichert einerseits Exzerpte und Zitate aus literarischen und philosophischen Werken, andererseits auch Dialogsequenzen, Bruchstücke aus Zeitungen und Reden. Die Tagebuchnotizen sind somit als Materialiensammlung linguistischer und lexikographischer Sprachbeispiele der LTI auf spätere Auswertung ausgerichtet. Die Verlagerung des wissenschaftlichen Interesses Klemperers auf den gesellschaftlichen Bereich war insofern individualpsychologisch gewinnbringend, als seine philologische Arbeit ihm eine persönliche Aufgabe verschaffte, die er als Überlebensstrategie verstand und die ihn von den Ängsten der Verfolgung ablenkte (vgl. Faber 2005: 218). Dem subjektivitätsfördernden Motiv des intellektuellen Arbeitens kam im Tagebuch demnach eine wichtige Bedeutung zu. Im Hinblick auf das LTI-Unterfangen schreibt Klemperer vor diesem Hintergrund: „Produktionsgefühl, erhöhtes Lebensgefühl – im letzten bestimmt der gleiche Zustand bei eimentartext, der als lektüresteuerndes und hermeneutisch bedeutsames Hilfselement Informationen, Erläuterungen und Interpretationen des beruflichen – literarischen oder akademischen – Werkes des Tagebuchautors liefern kann. Der Epitext ist mit seinem schriftlichen Umfeld eng verbunden: Er bildet seine Vorstufe und/oder kommentiert es. 159 Klemperer arbeitete nach seiner Amtsenthebung 1935 (vgl. ZAI: 195 [30.4.1935]) zuerst an seinen wissenschaftlichen Studien zur Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts (insbesondere Rousseau und Voltaire) und nach dem Leihbibliotheksverbot (vgl. ebd.: 558 [21.10.1940]) an seinem Curriculum. Dazu gesellte sich ab dem Jahr 1942 die konsequent fortlaufende Analyse der NS-Sprache. Bereits zu Weihnachten 1941 nahm sich Klemperer diesbezüglich als guten Vorsatz vor, „[n]och drei opera [zu] schaffen: Curriculum, 18. Jahrhundert und LTI! Vanitatum vanitas!“ (ebd.: 700 [25.12.1941]) 160 Die LTI-Arbeitsnotizen ziehen sich ab 1934 – die erste Referenz findet sich in ebd.: 129 [27.7.1934] – kontinuierlich durch Klemperers Tagebuchaufzeichnungen. Für eine allgemeine Auseinandersetzung mit Produktionsgeschichte, theoretischer Ausrichtung und Rezeption von LTI vgl. Sepp (2012b). 161 Fur eine Diskussion des Tagebuchs als Vorstufe von LTI vgl. z.B. Elbers (1999: 28ff.), FischerHupe (2001a: 14ff.) und Kämper (1996: 355ff.).

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nem großen Dichter, bei mir, [...], bei einem tüchtigen Schuster“ (ZAII: 254 [8.10.1942]; vgl. ebd.: 261f. [24.10.1942]), und als Appell an sich selbst: „Arbeiten, mich in Arbeit betrinken!“ (ebd.: 285 [29.11.1942]) Der unablässige Wille, geistig produktiv zu sein und aus philologischer Perspektive ein Spracharchiv des NS-Alltags anzulegen, dürfte auf Klemperers Persönlichkeitsstruktur eines wissbegierigen und arbeitsamen Forschers und Wissenschaftlers zurückzuführen sein.162 Das Studium ist für den Diaristen eine Lebensgewohnheit, die er bis zum Letzten weiter zu betreiben anstrebt: Ich bin ganz auf mein Studium angewiesen, u. ‚studieren‘ ist nichts anderes als wahlloses oder fast wahlloses Inmichhineinlesen, als Excerpte u. Notizen machen. Wenn ich müde bin, u. also den größeren Teil des Tages, betreibe ich dies business schläfrig, oft buchstäblich einschlafend, u. hoffnungslos. Aber in den Momenten der Frische wächst die Hoffnung auf LTI usw. immer wieder […]. (A 138: 1179 [11.9.1944])163

Vor allem ab dem Jahr 1942, nachdem die Tagebücher aus der Weimarer Zeit164 und die Vita-Notizen nach Pirna geschafft wurden (vgl. ZAII: 54 [24.3.1942]), häufen sich die LTI-Aufzeichnungen mit vagem Blick auf eine Publikation. Die Beobachtungen zur Lingua Tertii Imperii, die er in den Tagebuchblättern festhielt, wurden immer mehr zu seinem eigentlichen Werk, abgerungen dem täglich bedrohlicher erscheinenden Alltag, den Krankheiten und Schwächeanfällen. Das Tagebuch wird in weiten Teilen zum Arbeitsjournal für die Sprach- und Kulturanalysen Klemperers. Der geschulte Blick des Philologen erfasst den NS-Alltag als Zeichensystem (vgl. Lamizet 2012; Turpin 2012), dessen Bezüge es mit bemerkenswerter Genauigkeit zu untersuchen gilt. Klemperer schenkt Phänomenen der Alltagskultur, der Aufmachung von Geburts- und Sterbeannoncen oder der Sprache medizinischer Rezeptanweisungen die gleiche präzise Aufmerksamkeit, 162 Der intellektuelle Habitus Victor Klemperers, der sich sein ganzes Leben lang mit Lektüre, Interpretation, Schreiben und Veröffentlichen beschäftigt hat, steuert gleichermaßen sein Tagebuchschreiben. Im Hinblick auf die geplante Arbeit LTI notiert der Diarist: „Ich studiere, ich bereite Produktion vor; ich brauche in den nächsten Jahren gar keine neuen schöpferischen Einfälle mehr, nur Gelegenheit zum Ausarbeiten des jetzt Geplanten und Skizzierten.“ (ZAII: 261f. [24.10.1942]) Seine erlernte wissenschaftliche Methodik wird auf die Diaristik übertragen, die teilweise als Epitext, als Notizheft für die künftige wissenschaftliche Arbeit zu begreifen ist. 163 Die „Papiersoldaten“, denen in Abschnitt 3.2.3.3 besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, verweisen auf die Fragmenthaftigkeit der Tagebuchaufzeichnungen, die vielleicht nie zu einem publizierbaren Œuvre werden würden. Der Akt des Schreibens war für Klemperer ein Mittel zur Selbstbehauptung – unabhängig davon, ob das Geschriebene je einer Auswertung zugeführt werden könnte: „Ich darf mich nicht fragen, was aus meinen Papiersoldaten werden soll. Ich muß sammeln, was mir in die Hände kommt.“ (A 138: 1107 [25.4.1944]) Vgl. hierzu ebenfalls ebd.: 703 [1.10.1942], ebd.: 833 [1.4.1943] und ebd.: 855 [3.5.1943]. 164 Nachdem seine Tagebuchmanuskripte von seiner Ehefrau fort geschmuggelt worden waren, verfügte der Diarist über kein Material mehr, um seine Autobiographie nach 1918 weiterzuführen, was ursprünglich seine Absicht gewesen war: „Es fehlt mir sehr, daß ich am Curriculum nicht weiterschreiben kann (da alle Unterlagen zu Annemarie geschafft sind) [...] Alles soll dem letzten Buch des Curriculums und der LTI zugute kommen, aber die Zeit 1919-1933 bleibt zu schreiben.“ (ZAII: 54 [24.3.1942])

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mit der er Goebbels’ Reden, Wehrmachtsberichte oder Rosenbergs Schriften analysiert. Hiermit entsteht die Basis für eine Kulturgeschichte der NS-Zeit. (vgl. Bircken 2001: 199) Entgegen der Auffassung von Sprache als einem bloß mechanischen, sammel- und katalogisierbaren Instrument, geht Klemperer von einer Verbindung von Sprache („Sprachgeist“) und Leben eines Volkes („Volksseele“) aus. Das Ziel seiner Aufzeichnungen ist darauf gerichtet, „[a]us ihrer Sprache [=der Deutschen, A.S.] ihren Geist fest[zu]stellen.“ (ZAI: 621 [23.6.-1.7.1941]) Dementsprechend plädiert er für eine Sprachgeschichte als Teil der Kulturgeschichte: Aber wieweit wird meine Sprachgeschichte doch nur ‚getarnte‘ Geistesgeschichte sein? Nein, ich muß immer daran festhalten: in lingua veritas. Die Veritas gehört der Geistesgeschichte an; die Lingua bietet eine allgemeine Bestätigung des interessierenden Faktums. (ZAII: 75 [28.4.1942])

Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Tagebuch und LTI betonen Breysach (2005: 67) und Combe (1996: 12f.), Klemperers Tagebücher seien ein Zeugnis bürgerlichen Widerstands gegen Entrechtung und Unfreiheit, während LTI den Willen zur geistigen Souveränität widerspiegele.165 Das Ziel seiner im Tagebuch aufgezeichneten Sprachnotizen – zunächst als ein vorwiegend philologisches Unternehmen, danach als Art von geistiger Selbstverteidigung – erklärt Klemperer folgendermaßen: Als parodierende Spielerei zuerst, gleich darauf als ein flüchtiger Notbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, und sehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als ein an mich selbst gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch. (LTI: 19)

In den Tagebüchern notiert Klemperer mit akribischer Genauigkeit seine konkreten Betrachtungen der faschistischen Institutionen, des Verlaufs der allmählichen Ausgrenzung, der Lebenslage der Menschen unter dem Nationalsozialismus, der Gesetze, der Arbeitsbedingungen, der Medien und ihrer Auswirkung auf die Bevölkerung. Er unterzieht die nationalsozialistische Ideologie und ihre sprachlichen wie auch medialen Darstellungen einer kritischen Analyse. Dabei geht er von einem weit gefassten Sprachbegriff aus, der durchaus mehr als nur Sprechund Schreibakte umfasst: Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, [...] aus seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reiches. (ebd.: 20)

165 Seine philologischen Tagebuchnotizen zur NS-Sprache ermöglichten es Klemperer vor diesem Hintergrund, seine „innere Freiheit zu bewahren“ (LTI: 20). In Ecritures de la résistance. Le journal intime sous le Troisième Reich bezeichnet Hélène Camarade (2007: 217) Klemperers Sprachbeobachtungen als „subversives politisches Instrument.“

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Wie das vorhergehende Zitat zeigt, versteht Klemperer die Sprache des Dritten Reiches als ausgeprägtes Netzwerk symbolischer Gewaltformen. Er bezieht sich im Tagebuch auf spezifische nationalsozialistische Redensweisen und Floskeln, aber er nimmt auch den Heldenkult, die tägliche Gewalt und Verfolgung, die rauschhafte Selbstinszenierung des totalitären Regimes unter die Lupe. Dieses Vorgehen sagt bedeutend mehr über den Alltag unter dem Nationalsozialismus aus, als es allein anhand der Betrachtung rein sprachlicher Praktiken möglich gewesen wäre. Die tägliche Bedrohung durch das Terrorsystem hindert den Tagebuchautor zum Teil daran, den philologischen Erkenntniswert jedes Details auszuführen. Die Materialsammlung ist einer späteren wissenschaftlichen Auswertung zugedacht: „Das schreibt man alles so als triviale Selbstverständlichkeit; künftigen Studenten kann man diese Bagatelle endlos kommentieren.“ (ZAII: 246 [18.9.1942]) Das Tagebuch Victor Klemperers ist also weit mehr als ein rein privates journal intime: Es kann auch als vorläufige Skizze eines geplanten wissenschaftlichen Œuvres verstanden werden, das den wissenschaftlichen Schaffensprozess vorantreibt und dokumentiert. Im Sinn einer späteren Verarbeitung der Tagebuchaufzeichnungen nimmt der Diarist eine Minimalordnung des gesammelten Materials vor, indem er bestimmte Themenkonglomerate unter Stichworte und Rubriken zu fassen sucht, wie dies beispielsweise in der nachfolgenden Notiz hervortritt: Bisher fünf Gesichtspunkte: 1) der mechanistische Stil, 2) der enzyklopädische Stil der Emigranten (Gusti Wieghardt sagt, sie hießen in Frankreich Les chez-nous), 3) der enzyklopädische Stil der Regierung, 4) der Reklamestil, 5) der germanische Stil: Namen, Namensänderungen (Oesterhell > Israel ... Baldur von Schirach), Monate, Treuhänder ... Cf. Monate der Französischen Revolution: neue! (ZAI: 128 [29.7.1934])

Nicht nur die unterschiedlichen Entstehungsphasen der LTI-Arbeit werden im Tagebuch ausführlich kommentiert, wesentliche Bedeutung kommt auch dem Curriculum zu, dessen parallel verlaufender Schreibprozess in den diaristischen Aufzeichnungen zwischen 1939 und 1942 en détail beschrieben wird: Im Hintergrund steht ja doch immer der Gedanke an Curriculum und LTI. Wie diese beiden Bücher sich einmal gegeneinander absetzen sollen, ob beide entstehen werden oder nur eines oder keines – gleichgültig: Ich lese und notiere, als sei ich beider sicher und der nächsten zehn Jahre sicher. So komme ich auf halbwegs anständige Weise über den Tag. (Soweit er nicht durch Küchenarbeit besetzt ist.) (ZAII: 83 [11.5.1942])166 166 Streckenweise liegen Notizen vor, die auf die Wichtigkeit von Curriculum und LTI hinweisen, denen Klemperer eine besondere persönliche bzw. philologische Bedeutung beimaß. In der Endphase des Krieges – als sich die meisten LTI- und Curriculum-Notizen bei Annemarie Köhler in Pirna befanden – kommt die Bedeutung der beiden Schreibprojekte für das Tagebuchschreiben besonders deutlich zum Vorschein. Sein Tagebuch, so Klemperer, sei ohne Curriculum und LTI eine sinnlose, „amputierte“ Tätigkeit: „Bei all meinem Schreiben sehe ich das abgehackte Münchhausenroß vor mir, das vorn säuft, u. hinten, das Hinterteil fehlt, stürzt alles wieder heraus. Mein wahrscheinlich schon jetzt, bestimmt morgen od. übermorgen fehlendes

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Die beiden Projekte, die im Tagebuch herausgearbeitet bzw. vorbereitet werden, bilden einen besonderen Schwerpunkt im Journal, das somit für den Diaristen auch in seiner Funktion als Werktagebuch für eine zukünftige wissenschaftliche Publikation und seine geplante Autobiographie zum Tragen kommt. 3.1.3.2 Zeitgleiche Selbstverschriftlichung: Diaristik und Autobiographik In der Weimarer Zeit spielte Klemperer des Öfteren mit dem Gedanken, von seinen Tagebuchnotizen ausgehend eine Autobiographie zu schreiben, obschon er sich aus beruflichen Gründen nie die Zeit dazu nehmen konnte (vgl. LSII: 717 [20.6.1931]; ebd.: 730 [15.8.1931]). Mit der privaten und beruflichen Erschütterung im Dritten Reich rückte das Vorhaben, seine Vita zu verfassen, immer stärker ins Zentrum: „Nun geht mir jetzt ernsthaft durch den Sinn, einmal Jahr und Tag alle wissenschaftliche Schreiberei zu lassen und mich an meiner Vita zu versuchen.“ (ZAI: 35 [30.6.1933]; vgl. ebd.: 45 [28.7.1933])167 Vor allem aber ab dem Jahr 1939168 stand das Tagebuch kontinuierlich „sub specie Curriculi“ (ebd.: 665 [17.9.1941]; vgl. ZAII: 627 [8.7.1942]). Die Tagebücher waren ihm „die Erinnerungsstütze für das große Curriculum,“ das er seit langer Zeit zu schreiben plante (Jacobs 2000: 352). Die beiden gleichzeitig durchgeführten selbstbiographischen Projekte gerieten aufgrund von Zeitmangel häufig in Konkurrenz zueinander: Ständiges Dilemma: Ich finde so überaus wenig Zeit zum Curriculum, daß ich mir gar keine Zeit zum Tagebuch nehme. Aber dies ist doch Fundament eines allerwichtigsten Kapitels des Curriculum. Ich notiere bisweilen ein Stichwort. Aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig, in Tatsache und Stimmung überholt. (ZAI: 565 [10.12.1940])

Die Tatsache, dass Klemperer das Tagebuch als Erinnerungsjournal führt,169 zeigt sich unter anderem darin, dass der Diarist jeweils am letzten Tag des Jahres – in Hinterteil befindet sich in Pirna. Das 18ième, wenn es sein müßte, wollte ich opfern; aber das Cur. u. die LTI! – Trotzdem schreib’ ich immer weiter.“ (A 138: 1409 [18.3.1945]) Für weitere Textstellen, die auf die Verschränkung von Tagebuch, Curriculum und LTI hinweisen, vgl. stellvertretend für viele andere ZAII: 117 [9.6.1942]; ebd.: 279f. [21.11.1942]; A 138: 834 [2.4.1943]; US: 45 [26.7.1945]. 167 In der Frühzeit des Dritten Reiches gibt Klemperer zu erkennen, er führe so Tagebuch, als werde es in Zukunft eine Möglichkeit geben, die Aufzeichnungen in eine Autobiographie dieser Krisenperiode zu überführen: „Ich will, wenn auch in Abbreviatur, mein Tagebuch so weiterführen, als ob mir noch Zeit bliebe, einmal die geplante Vita zu schreiben.“ (ZAI: 47 [10.8.1933]) Vgl. hierzu ebd.: 76 [31.12.1933]; ebd.: 96 [2.3.1934]; ebd.: 151 [6.10.1934]; ebd.: 158 [17.10.1934]. 168 Den ersten Vermerk von Klemperers Aufnahme der Arbeit am Curriculum findet man in ebd.: 461 [24.2.1939]. 169 Aufgrund der gattungsspezifischen Erfahrungsunmittelbarkeit des Tagebuchs stellt das diaristische Schreiben für Klemperer den idealen Aufzeichnungsmodus gegen „Gedächtniscontamination“ (A 137: 446 [14.7.1940]) und die „Ohnmacht des Gedächtnisses“ dar (ZAII: 582 [14.9.1944]). Klemperer spielt vor diesem Hintergrund mehrmals auf Victor Hugos Satz „Irun n’est plus Irun“ an, in dem der französische Schriftsteller zum Ausdruck brachte, dass die spani-

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einer Art Silvesterfazit – das vergangene Jahr mehr oder minder ausführlich zusammenfasst. Das Tagebuch ist somit als ein Ablagesystem zu begreifen, das Schreibgegenwart, Vergangenheit und Zukunft strukturiert.170 Klemperer stellt sich im Curriculum die klassische Frage nach dem „Wie ich wurde, was ich jetzt bin.“ Seine Autobiographie entstand unter Verwendung der diaristischen Vorlage aus der Wilhelminischen Zeit,171 die heute nicht mehr vorhanden ist, zwischen Februar 1939 und März 1942.172 Das zweibändige Currische Grenzstadt, die er im Jugendalter kennen gelernt hatte, bei einem Besuch in einer späteren Lebensphase den Erinnerungen nur noch geringfügig entsprach. Klemperers Anspielung auf diese Phrase bringt die autobiographische Problematik der Veränderung der Wahrnehmung unter veränderten Umständen und bei höherem Lebensalter zum Tragen. Nach einem Spaziergang in Regensburg, einer Station auf der Flucht durch Bayern, schreibt der Diarist im Tagebuch: „Was haftet davon? Der eine Victor Hugo-Satz: Irun n’est plus Irun.“ (A 138: 1445 [4.4.1945]; vgl. ebd.: 1467 [23.4.1945]) 170 Neben den Jahresrückblicken liegen im Tagebuch auch einige längere retrospektive Zusammenfassungen vor. Diese autobiographischen Passagen, die ex post unter dem Druck der Umstände verfasst werden mussten, waren im Gegensatz zu den Jahresbilanzen nicht zwingend an durch den Kalender diktierte Regelmäßigkeiten gebunden. Die narrative Grauzone zwischen Tagebuch und Autobiographie, die „nicht Fisch und nicht Fleisch“ ist (ZAI: 652 [23.6.1.7.1941]), findet sich in expliziter Form dreimal im Tagebuch aus der NS-Zeit. Am 20. Juli 1941 zeichnet Klemperer seine Hafterfahrungen in der Gestapo-Zelle Nummer 89 auf (vgl. ebd.: 603-644 [23.6.-1.7.1941]). Interessant an dieser Notiz ist die hervorstechende Spannung zwischen Tagebuch und Autobiographie, die der Diarist wie folgt darstellt: „Ich weiß jetzt, warum mir das Stück ‚Zelle 89‘ mißlingt [...]. [H]alb soll es Tagebuch sein, halb schon geformtes Curriculum, und eines hindert das andere.“ (ebd.: 652 [19.7.1941]; vgl. ebd.: 653 [21.7.1941]; A 136: 506 [2.9.1941]) Die zweite retrospektive Passage wurde nach der Dresdener Bombennacht geschrieben (vgl. ZAII: 661-672 [13.-14.2.1945]; ebd.: 673-675 [15.2.17.2.1945]). Im dritten autobiographischen Passus erzählt Klemperer die Rückreise von München nach Dresden unmittelbar nach Kriegsende (vgl. ebd.: 799-830 [26.5.-10.6.1945]). 171 Durch den direkten Bezug auf die Tagebücher aus der Kaiserzeit sucht Klemperer der gedächtnisbedingten narrativen Vereinheitlichung seiner Erinnerungen vorzubeugen und somit die Authentizität seiner Aussagen zu steigern: „Wieder, wie schon einmal, würde ich fürchten, die Gefühle des Jetzt in das Damals hineingetragen zu haben, wären nicht alle markanten Worte meines Berichtes buchstäblich aus meinem Tagebuch [...] übernommen.“ (CVI: 576f.) Der Autor stützt sich für seine Autobiographie konsequent auf „die unmittelbaren Tagebuchnotizen.“ (CVII: 172) Eine der Hauptfunktionen von Klemperers Tagebuchpraxis im Dritten Reich besteht dementsprechend darin, eine erfahrungsunmittelbare Grundlage für eine künftige Autobiographie seines Lebens im Dritten Reich zu schaffen. Über weite Strecken hebt der Diarist hervor, es sei wünschenswert, bestimmte Ereignisse aus der NS-Zeit in eine Autobiographie aufzunehmen, um sie dort detaillierter zu erörtern: „Die Stimmung auszumalen kann ich ja dem Curriculum überlassen, falls ich es doch noch schreiben sollte.“ (A 138: 843 [25.4.1943]) Ein Beispiel für einen solchen Themenkomplex stellt das Problem der Bücherbeschaffung dar: „Über Bücherschicksale, ausleihen, ‚erben‘ von Büchern, muß in das Curriculum ein besonderer Abschnitt.“ (ebd.: 711 [12.10.1942]) Für weitere Belegstellen dieser Tagebuchfunktion vgl. ebd.: 705 [4.10.1942]; ZAII: 320 [28.1.1943]; A 138: 793 [5.2.1943]; ZAII: 361 [26.4.1943]; A 138: 891 [14.6.1943]; ZAII: 456 [11.12.1943]; A 138: 1126 [23.7.1944]; ZAII: 779 [21.5.1945]. 172 Kurz nach dem endgültigen Bibliotheksverbot, das jegliche wissenschaftliche Arbeit unmöglich machte, setzte es sich der Philologe zum Ziel, „nun wirklich einen Vita-Versuch zu wagen.“ (ZAI: 443 [6.12.1938]) Klemperer schreibt – wie er gut zwei Wochen nach dato im Tagebuch einträgt – am 12. Februar 1939 die ersten Zeilen seiner Autobiographie (vgl. ebd.: 461 [24.2.1939]). Wegen der Beschlagnahmung seiner Schreibmaschine im Dezember 1941 (vgl.

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culum erstreckt sich zeitlich auf die Kindheit und Jugend in Landsberg an der Warthe, seine Schulzeit dort, die kaufmännische Lehre, das durch seine publizistische Tätigkeit unterbrochene Universitätsstudium der Romanistik, Germanistik und Philosophie, den Beginn seiner akademischen Karriere und seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg. Diese seine exzessive Verschriftlichung des eigenen Lebens kommt einer komparativen Untersuchung der textsortenspezifischen Aufzeichnungsform von Autobiographie und Tagebuch zugute. Zuweilen ist der Journalcharakter, auch wenn Klemperer auf das Einrücken von Zitaten verzichtet, in seiner chronologischen, detailorientierten Schreibweise noch erkennbar. Die der Autobiographie eigene detailreiche Ausführlichkeit von Episoden, die ohne die Tagebücher vermutlich in Vergessenheit geraten wären, lassen auf eine direkte Bezugnahme auf die Tagebücher schließen, die oft auch explizit als solche kenntlich gemacht wird. Das Tagebuch ist für Klemperer also ein „Magazin für künftiges Erinnern“ (Wuthenow 1990: 16). Im Zuge des Nachlesens seiner Tagebücher werden von Klemperer wiederholt andere Schwerpunkte gesetzt, erscheinen ihm bestimmte An- und Einsichten bzw. Gefühle als überholt. Die raffende, bilanzierende, korrigierende und ex post interpretierende Zusammenfassung der partialisierten Tagebuchnotizen veranschaulicht – wenn der Diarist seine Notizen wieder liest – die grundsätzliche Verschiedenheit von vergangenem und gegenwärtigem Ich. Das Ich ist ständigem Wandel unterworfen und passt dementsprechend immerfort unmerklich seine Denkmuster, Selbstwahrnehmung und Verhaltensweisen an, deren Veränderlichkeit im täglich geführten Tagebuch prägnant hervortritt. Derart legen beispielsweise die während seines Genfer Studienaufenthaltes 1903 aufgezeichneten Erlebnisse (vgl. CVI: 295ff.) die Inkongruenz von vergangenen und gegenwärtigen Interessen offen, wie Klemperer nach der Reinschrift der entsprechenden Tagebuchnotizen registriert: Im Curriculum der Genfer Abschnitt fertig im Reinen. Bei jedem Stück habe ich das Gefühl: diesmal schaffe ich’s nicht, jetzt kommt die grosse Leere. Bisher ist es noch immer weiter gegangen. Ich denke, auch Paris wird noch werden. Aber dann? Meine Tagebücher schrumpfen ein, ich finde nicht, was mich heute interessieren würde. Nur Bücher- und Theaterbesprechungen. (A 137: 415 [14.8.1939])

Nicht nur die zeitlich differenzierte Akzentsetzung im Hinblick auf früher niedergeschriebene Lektüre- und Theaternotizen zeigt sich verschoben. Viel grundlegender noch lässt sich in der nachfolgenden Textpassage ein fundamentaler Identitätswandel feststellen: Bei der Lektüre der Notate aus dem Jahr 1914 staunt Klemperer über seine damalige patriotische Einstellung zu Deutschland und den Deutschen. Er fühlt sich dem vergangenen Ich gegenüber entfremdet und kann ebd.: 700f. [27.12.1941]) sah er sich gezwungen, seine Autobiographie-Arbeit einzustellen, obschon er sie noch einige Wochen handschriftlich weiterführen konnte (vgl. ZAII: 19 [5.2.1942]). Die Arbeit am Curriculum musste er dann im März 1942 notgedrungen endgültig abbrechen, weil die Aufbewahrung der Tagebücher aus den 1930er Jahren, die er für die Weiterführung der Autobiographie brauchte, zu gefährlich wurde.

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seine nationalistische Begeisterung anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs aus der Gefühlslage seiner Schreibgegenwart kaum noch nachvollziehen. Er kann deshalb die betreffenden Notate manchmal nur kopieren wie einen fremden Text. Im Hinblick auf die im Nachhinein schwer nachzuempfindende Erstmaligkeitserfahrung der Kriegsteilnahme stützt Klemperer sich sicherheitshalber auf die Originalaufzeichnungen im Tagebuch aus den ersten Kriegstagen 1914: Für die merkwürdig kurze Zeit, bis mir der Krieg ein gewohnter Zustand geworden, muß ich jetzt die Erzählung durch die unmittelbaren Tagebuchnotizen ersetzen. Ich weiß, ich gerate dadurch ins Breite und Diffuse, aber ich würde sonst allzu vieles verwischen und nirgends den richtigen Ton treffen. (CVII: 172)

Dem Diaristen ist in besonderem Maße bewusst, so zeigt das angeführte Zitat, dass die einheitliche Narrativisierung der Autobiographie die Gefahr in sich birgt, der erlebnisnahen Authentizität der damaligen Tagebucheintragungen untreu zu werden und die Erfahrungsunmittelbarkeit173 des Tagebuchs durch die teils fiktionialisierten Erinnerungen zu ersetzen. Klemperer bringt vor diesem Hintergrund den Unterschied zwischen beiden Subgattungen wie folgt zum Ausdruck: „Weg vom Erleben zum Formen, vom privaten Tagebuch zum vorweisenden Curriculum.“ (CVI: 9)174 Er befürchtet, in sein „damaliges Empfinden hineinzufälschen,“ was ihm aktuell wichtig ist: Wie sollte mir heute die Selbstverständlichkeit des ‚Wir‘ und der vaterländischen Begeisterung und der vollkommenen Überzeugtheit von Deutschlands schneeweißer Unschuld, von Deutschlands berechtigtstem Anspruch auf die Vorherrschaft in Europa aus der Feder fließen? Ich bringe es nicht über mich, das neuformend nachzuerzählen, ich kann es nur kopieren wie einen fremden Text. Und noch etwas zwingt mich, den Text der nächsten Wochen unangetastet zu lassen. Heute, im Herbst 1940, wo ich zwischen meinen damaligen Mitbürgern enger und rechtloser als ein Kriegsgefangener lebe, ist meine Erinnerung gefühlsmäßig ganz erfüllt von jenem einheitlichen Enthusiasmus des Sommers 1914. Und nun, im Durchlesen der alten Aufzeichnungen, sehe ich mit Erstaunen, wie ich damals, gerade aus der unbefangenen Selbstverständlichkeit meines Deutschgefühls heraus, in aller Begeisterung und bei aller Unerschütterlichkeit jener Grundüberzeugungen dennoch von Anfang an auch Stunden des Selbstbesinnens und des Zweifels hatte. Auch diese 173 In diesem Zusammenhang sei allerdings angemerkt, dass Klemperer im Tagebuch die Rückschau auf bestimmte erschütternde Ereignisse wie die Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 und die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 wählt, um sein eigenes Verhalten in jener Zeitspanne zu reflektieren, weniger aber um ihre Bedeutung als historische Zäsur vor Augen zu führen. Die erste Referenz auf die Machtübernahme findet sich am 10. März 1933 (vgl. ZAI: 8 [10.3.1933]), und den ersten Vermerk des Pogroms zeichnet Klemperer erst am 25. November 1938 auf (vgl. ebd.: 434 [25.11.1938]). 174 Der Unterschied zwischen Tagebuch und Autobiographie entspricht bei Klemperer der Differenz zwischen „Stoff“ und „Werk“. Das Tagebuch stellt dementsprechend eine wichtige Vorstufe, eine Materialquelle für die Autobiographie dar, die ihrerseits das eigentliche Ziel der Beobachtungs- und Protokollierungsarbeit ist. In einer Notiz aus dem Jahr 1951 schreibt der Diarist diesbezüglich: „Kleinigkeiten müssen frisch notiert werden – Zeitfrage; gerade diese Kleinigkeiten sind kulturhistorisch wichtig. Sind wesentlicher Stoff meines Curriculum Vitae. Werden sie Stoff bleiben oder Werk werden?“ (SSII: 156f. [20.4.1951])

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kritischen Ergüsse kann ich nicht nachformen; ich würde sonst nie die Furcht los, in mein damaliges Empfinden hineinzufälschen, was ich heute denke. (CVII: 173f.)

Der Autobiographie Curriculum Vitae ist in der Schilderung der Vergangenheit die Reflexionsebene der Gegenwart – „Heute, im Herbst 1940“ – eingeschrieben (vgl. z.B. auch CVI: 560; ebd.: 287).175 An Klemperers Autobiographie lässt sich eindeutig feststellen, dass der Bezugspunkt von Erinnerungen in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit liegt. Erinnerungen konstituieren sich maßgeblich narrativ, Schreibverfahren sind demnach auch Erinnerungsverfahren. Nirgends wird die enge Verflechtung von Subjektivierungs- bzw. Erinnerungsprozessen so deutlich zum Ausdruck gebracht wie in Klemperers Autobiographie, in die kontinuierlich die Gegenwartsperspektive einbricht. Die Gegenwart steuert die Inhalte der Erinnerung.176 Im Curriculum werden kontinuierlich Reflexionen aus der Gegenwart zum Zweck der Ergänzung, Bestätigung oder Korrektur der damaligen Notizen kenntlich gemacht. Auf diese Weise werden auf metadiegetischer Ebene des Öfteren verschiedene Zeitebenen miteinander verzahnt.177 Ein weiteres Beispiel: Auf einer Reise nach Marienbad vor dem Ersten Weltkrieg bemerkte Klemperer zu den äußerlich als solchen erkennbaren orthodoxen Ostjuden: Die Galizier fand ich nur seltsam fremdartig, etwa wie die fünf Chinesen und die schwarze Kinderfrau, die es auch zu sehen gab. Hätte mir jemand gesagt, ich gehörte mehr zu ihnen als zu meinen deutschen Mitbürgern, ich hätte ihn für wahnsinnig gehalten, und noch heute halte ich jeden für wahnsinnig, der so etwas behauptet. (ebd.: 199; Hervorhebung A.S.)

In der Schreibgegenwart – „noch heute“ – pflichtet Klemperer den damals vertretenen Positionen zu seinem irreduziblen Deutschtum offen bei. Kein anderer Text spiegelt in seinem Entstehungsprozess die Geschichte der Verfolgung, Identitätsunsicherheit und Heimatlosigkeit seines Autors so direkt wie diese Autobiographie (vgl. Combes 2000: 81ff.). Angesichts der existenziellen Verunsicherung 175 Dennoch schärft sich der Philologe wiederholt ein, die verschiedenen Zeitebenen nicht durcheinander zu bringen, um die „Objektivität“ seiner Vita zu gewährleisten. In einer autobiographischen Aufzeichnung über seine Erfahrungen als Frontsoldat an der Westfront im Ersten Weltkrieg – geschrieben 1941 – rückt Klemperer die angestrebte Synchronizität des Ausgesagten in den Mittelpunkt: „[I]ch will mir alle Vergleiche zwischen dem [Ersten] Weltkrieg und dem Heute aufsparen, bis ich einmal mit der Ruhe des Historikers über das versunkene Dritte Reich berichten kann.“ (CVII: 572; Hervorhebung A.S.) 176 Der Aktualitätsbezug ist grundlegend für jede autobiographische Erinnerung, die aus der Gegenwartsperspektive gestaltet wird. Immer wird der Autobiograph, so Günter de Bruyn (1995: 36), „in seinem Leben das für bedeutsam halten, das dazu beitrug, aus ihm den zu machen, der in der Gegenwart seine Lebensgeschichte verfaßt.“ 177 Klemperer kommentiert und korrigiert in seiner Autobiographie oft seine damaligen Auffassungen, die sich aus der Sicht der Judenverfolgung als überprüfungsbedürftig erweisen. Pauschalisierungen und undifferenzierte Stereotypisierungen werden im Nachhinein angepasst – allen voran sein Konzept des Deutschtums: „[D]aß ich im Grunde mein Leben lang den Begriff des Deutschtums so simplistisch verengt und idealisiert habe, trotz aller gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen, erfüllt mich heute mit Scham.“ (CVI: 286f.; Hervorhebung A.S.)

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des Diaristen in der Gegenwart wird die Vergangenheit in der Autobiographie wie ein verloren geglaubter Gegenstand sorgfältig aufbewahrt.178 Die Vergangenheit stellt auf diese Weise ein positives bzw. glückliches Gegenstück zur Perspektivlosigkeit des Jetzt dar, die den Autor „hoffnungslos“ (ZAI: 189 [17.3.1935]), „sehr einsam“ (ebd.: 203 [30.5.1935]), „gekränkt“ (ebd.: 682 [31.10.1941]) und „tief deprimiert“ (ZAII: 81 [11.5.1942]) zurücklässt. So hält Klemperer die Erinnerungen an die ersten Tage und Wochen der leidenschaftlichen Verliebtheit zwischen ihm und Eva äußerst gefühlvoll und rührend fest. Das genüssliche Aufrufen der Erinnerung an ihre Zweisamkeit wird wider den apokalyptischen Gang der Geschichte vollzogen. So gelingt es ihm, die lustbetonten Bilder des vergangenen Glücks als ermutigende Reminiszenzen in die Gegenwart hinüberzuretten: So wunderbar die Nacht im Grunewald gewesen und so reich die Abende bei dir zu Haus an deinem Flügel, im Grunde waren die Stunden in dem unzweideutig ‚gemeinen‘ Imperial genauso schön. Es kam nicht darauf an, in welcher Umgebung wir uns befanden, es kam auch nicht darauf an, worüber wir sprachen, welchen Teil unserer Lebensgeschichte wir uns erzählten, was wir voneinander kennenlernten – es kam einzig darauf an, daß wir zusammen waren. (CVI: 390)

Klemperers Verlangen, für sich selbst – und ggf. für die Nachwelt – auf möglichst unverstellte Weise sein Leben zu Papier zu bringen (vgl. ebd.: 26), gerät ihm im Zuge des Schreibens seines Curriculums verstärkt ins Blickfeld. Seine Tagebücher aus der Wilhelminischen Ära sind nun lediglich dazu da, ihn mehr als 30 Jahre später in die Lage zu versetzen, die damalige Atmosphäre, die eigene Psychostruktur wieder in allen Einzelheiten nachvollziehen zu können. Dank den diaristischen Aufzeichnungen werden beispielsweise die Erinnerungen an die befreundete, gastfreundliche Familie Meyerhof wieder lebendig und „greifbar nah“ gemacht, so als wäre sie noch immer ein fester Bestandteil von Klemperers Leben. Vergangenheit und Gegenwart, Präsenz und Absenz gehen in der Autobiographie auf melancholische Weise Hand in Hand: Ich habe mich weit von der gebührenden Ordnung eines Curriculi vitae entfernt. Aber mein ganzes Leben ist durchsetzt mit Meyerhofischen Reminiszenzen; sie schillern zwischen Ernst und Komik, Harmonie und Widerspruchsfülle, Bürgerlichkeit und Boheme, Vorbildlichkeit und Warnung, aber alle sind so herzerwärmend, so greifbar nah, als wären Vater Meyerhof und Mutter Henri nicht längst 178 Individuelle Erinnerungen werden stets vo einem kulturellen Gedächtnis, das die Kohärenz einer größeren sozialen Gruppe – z.B. eines Volkes – stärkt, überdeterminiert. Das kollektive Gedächtnis der assimilierten deutschen Juden infiltriert eindeutig Klemperers individuelle Erinnerungen: Der Autobiograph, der im Dritten Reich darum bemüht war, angesichts der erschütternden Krise ein kohärentes Selbst-Narrativ zu schaffen, stellt passagenweise die (relativ) festen Grundlagen seiner deutschen Identität in den Mittelpunkt, die sich in den Tagebuchaufzeichnungen aus der Weimarer Zeit allerdings als weitaus weniger stabil erwies. In den Erinnerungen an Kindheit, Jugend und junges Mannesalter nehmen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Deutschtum und Judentum eine bedeutende Stellung ein. Vor diesem Hintergrund stellt das erinnerte Ich stets eine fiktionsträchtige Konstruktion dar: „Sowohl als Wächter der Archive wie als Schöpfer des Mythos erschafft das sich erinnernde Selbst ein erinnertes Selbst.“ (Kotre 1996: 148)

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begraben und Hans der Älteste, nicht längst verschollen und Berthold, der Jüngste, nun auch schon ein hoher Vierziger, nicht drüben in den Vereinigten Staaten, wo er in jener New-Yorker Brauerei Fässer spült, weil bei dem Andrang der Emigranten und der Millionenzahl der amerikanischen Arbeitslosen ein anderer Unterschlupf nicht zu finden war. (ebd.: 157)

Die Tagebücher aus der NS-Zeit waren grundsätzlich „für Curriculum IV oder III“ (ZAII: 320 [28.1.1943]) gedacht.179 Sie sollten – genauso wie sich die Tagebücher aus dem Kaiserreich in einem zweibändigen Autobiographiekonvolut niederschlugen – die Fragmenthaftigkeit des Diariums überwinden, um eine kohärente Erzählung zu ergeben. Das gleichzeitige Verfassen eines Curriculums und eines Tagebuchs stellt ein zweigleisiges Verfahren dar, das Vergangenheit und Gegenwart ineinander verwebt. Die Spannung zwischen verschiedenen Zeitebenen, die in der Autobiographie zum Tragen kommen, verdeutlicht die Hermeneutik des autobiographischen Schreibens im Dritten Reich. Die Augenblicksgültigkeit der momentanen Eindrücke bringt Klemperer mit der graphischen Metapher der „Schiefertafel“ beispielhaft an den emotionalen Gefühlsschwankungen von Kätchen Sara, einer befreundeten Leidensgefährtin im „Judenhaus“, zum Ausdruck: „Ihr Geist erscheint mir immer wieder wie eine Schiefertafel: nichts Aufgeschriebenes haftet, in der nächsten Sekunde geht der Schwamm einer neuen Impression darüber. Wiederum: In den Minuten, in denen die üble Aufschrift erscheint, leidet sie doch wirklich.“ (ZAII: 183 [26.7.1942]) Gerade um diese ephemeren, flüchtigen Impressionen einzufangen, die gleich wieder in Vergessenheit geraten könnten, macht sich Klemperer das Tagebuchschreiben zur täglichen Aufgabe. Das Tagebuch ist somit keine „Schiefertafel“, kein „Spielball seiner Erinnerungen“ (Fliedl 1997: 269), sondern aus Klemperers Perspektive vielmehr ein stabiles Schriftmedium, das die Kurzfristigkeit momentan gültiger Gefühle und Ansichten abspeichert. Wie Klemperer als Leser seiner eigenen Tagebücher 1941 registriert, beschäftigten ihn im Jahre 1936 übermäßig die Überlegungen zum Bau einer Garage für seinen Wagen, den Opel, der sein beliebtester Zeitvertreib war (vgl. z.B. ZAI: 239 [24.1.1936]; ebd.: 254 [5.4.1936]; ebd.: 263 [16.5.1936]; ebd.: 291 [7.8.1936]; ebd.: 321 [24.11. 1936]). Beim Nachlesen der Notizen fünf Jahre später – inmitten der Verfolgung – erscheinen ihm diese Sorgen bedeutungslos: „Komisch, worüber ich mich im Mai 1936 geärgert habe! Ein Garagenbau.“ (A 136: 503 [10.8.1941]) Im Unterschied zum Tagebuch, in dem der Diarist täglich seine Stimmungen und Impressionen niederschreibt, „ohne sich im geringsten um die Kontinuität zu kümmern“, erfordert eine Autobiographie, „daß der Mensch sich gegenüber auf Distanz geht, um sich in seiner Einheit und Identität im Verlauf der Zeit wiederherzustellen.“ (Gusdorf 1998: 130) Der Diarist sammelt unter dem Blickwinkel der Gegenwart Gedanken und Eindrücke, der Autobiograph erzählt im 179 Für weitere Hinweise auf Klemperers Absicht, seine Tagebuchnotizen aus der NS-Ära zu einem späteren Zeitpunkt in eine Autobiographie zu überführen vgl. z.B. ZAII: 279f. [21.11.1942]; A 138: 834 [2.4.1943].

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Gegensatz dazu eine zusammenhängende, geglättete Geschichte.180 Der Wahrhaftigkeit seines autobiographischen Schreibens wegen versucht Klemperer, sich möglichst nah am Tagebuchtext zu halten, und der Gedanke, die Tagebuchnotizen sollten aufgrund der gestaltenden Niederschrift in der Autobiographie der Fiktionalisierung anheim fallen, ist ihm besonders unangenehm (vgl. CVI: 472). Interessant ist vor diesem Hintergrund Klemperers Auseinandersetzung mit den für selbstbiographische Quellen gattungskonstituierenden Topoi „Wahrhaftigkeit“ und „Ehrlichkeit“. Einerseits erlaubt es das Tagebuch, die Augenblicksgültigkeit der fragmentarischen Gefühle einzufangen, andererseits ist das Grundmerkmal der Autobiographie eine – im Nachhinein aufkommende – gewisse Distanz zum Erlebten. Klemperer stellt sich die Frage, ob der Gegenwartsbezug des Tagebuchs Garant für die Objektivität des Verschriftlichten sei: Man kommt aus dem Zweifeln nicht heraus, wenn man sein wahrhaftes Curriculum schreiben will. Genau wie ich zwischen den spontanen und ganz lebendigen und den mehr künstlich belebten Erinnerungen schwanke, genauso schwanke ich auch, wenn ich eine Stimmung des Damals oder das Hauptmotiv einer Entscheidung ehrlich feststellen will. War ich so glücklich und so zukunftssicher, wie es die nächste Tagebuchseite behauptet? Ich kann immer nur nacheinander fixieren, was mich beflügelte und was mich zu Boden drückte, aber ich vermag nicht das ständige Ineinander der beiden Gefühle wiederzugeben. (ebd.: 515; Hervorhebung A.S.)

Dennoch glaubt der Diarist, jenseits der „Dichtung“ die „Wahrheit“ seines Lebens und seiner Zeit wiedergeben zu können. Klemperer hielt daran fest, Zeitgeschichte zu schreiben: „Früher hätte es mich gekränkt, daß ich kein Dichter bin, jetzt denke ich immerfort an das Curriculum, an das ‚Zeugnis-Ablegen.‘“ (ZAII: 116 [9.6.1942])181 Im Unterschied zu den „künstlich belebten Erinnerungen“ 180 Im Gegensatz zum Erzähler und Lyriker Hans Carossa, dessen Autobiographie Verwandlungen einer Jugend (1929) Klemperer gelesen hatte, setzte es sich der Romanist zum Ziel, anhand seiner früheren Tagebuchaufzeichnungen – trotz der zeitlichen Distanz – einen möglichst authentischen Erlebnisbericht des Vergangenen zu verfassen: „Ganz schlichter Tatsachenbericht, will nicht Dichtung sein wie Carossas Autobiographie, geht auch nur verschwindend selten ins Allgemeine der Philosophie oder Paedagogik.“ (A 138: 1168 [3.9.1944]) 181 Aus diesem Zitat tritt die Spannung zwischen Literatur und Autobiographie hervor, die Klemperer andernorts wie folgt zum Ausdruck bringt: „In früheren Lebensphasen hätte ich aus Arierkrebs und Judenstern eine Novelle zu machen versucht; jetzt will ich den Fall mindestens für das Curriculum im Auge behalten, er ist schauerlich grotesk und zeitbeleuchtend.“ (ZAII: 361 [26.4.1943]) Victor Klemperer hatte im Alter von sechzehn Jahren angefangen, Tagebuch zu führen, mit der Absicht, dieses als Materialgrundlage für einen späteren Roman zu nutzen (vgl. CVI: 6). Das Scheitern des Projektes führte zum Bewusstsein, dass das Tagebuch eben keine Literatur sei, und dass die von ihm bewunderten Schriftsteller ihm aufgrund seines mangelnden Talents „die Feder aus der Hand nehmen“ könnten (ebd.: 9). Das Tagebuchschreiben im Kontext der Literatur ist für bestimmte Literaturtheoretiker – wie Thomas Clerc und Roland Barthes – negativ besetzt. Clerc (1999) charakterisiert den Tagebuchschreiber im Allgemeinen überspitzt als „gescheiterten Künstler“. Das Tagebuch sei halb Schreibpraxis, halb Kunstwerk, aber nur das Schreiben an sich, der Schreibakt selbst, sei der einzig gelungene Aspekt des Tagebuches. Der Tagebuchschreiber, so Clerc weiter, sei mehr Buchhalter als Demiurg, mehr Produzent als Künstler (vgl. ebd.: 38f.). Auch Barthes (2006: 390ff.) bezeichnet das Tagebuch als gescheiterte schriftstellerische Tätigkeit.

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(CVI: 515) des autobiographischen Gedächtnisses sollte der Rückgriff auf die Tagebuchaufzeichnungen aus der Kaiserzeit dazu beitragen, seine Autobiographie aus jener Periode möglichst tatsachengetreu zu gestalten: Dichtung und Wahrheit; die innere Wahrheit respektiere ich völlig, das ‚Dichten‘ ist nicht viel mehr als ein Formen und Gruppieren, manchmal ein Kontrahieren, manchmal ein Auslassen. Die Arbeit ist viel schwerer, als anzunehmen war, meine Tagebücher lassen mich oft im Stich. (ZAI: 474 [27.6.1939])182

Insbesondere beim Verfassen der Autobiographie von Kindheit, Jugend und jungem Mannesalter im Kaiserreich musste Klemperer zu seiner Frustration erkennen, dass seine damals aufgezeichneten Notizen ihn „oft im Stich“ ließen. Trotz des Vorhabens, die Notate nicht in einen gedächtnisgestützten autobiographischen Text aufzulösen, sondern sie lediglich umzuformulieren oder anders zu gruppieren, erwies sich dies aufgrund der vielen Leerstellen und veränderten Ansichten doch als ein besonders mühsamer Vorgang: „Am schwersten beim Schreiben dieses Curriculums fällt mir die Anordnung des Stoffes.“ (CVI: 472) Die Funktion der Tagebücher als Vorstufe eines künftigen Curriculums ist in ihren Beobachtungsmodus eingelagert: Mit dem Hintergedanken, seine Tagebuchaufzeichnungen zu einem späteren Zeitpunkt mit wenig Aufwand zu einer Autobiographie oder zu Memoiren umarbeiten zu können, setzt sich der Tagebuchautor das Ziel, das alltägliche Leben und das Zeitgefühl der NS-Epoche möglichst genau zu archivieren. In der Korrespondenz mit Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern, in der seine Autobiographie ein wiederkehrendes Gesprächsthema ist, betont Klemperer die funktionale Zielrichtung seines autobiographischen Schreibens: einerseits als kulturgeschichtliches Dokument und andererseits als Zeitvertreib und psychologische Stütze. Gerade aufgrund des kulturgeschichtlichen Erkenntnisinteresses seines Curriculums hegt Klemperer die Hoffnung, dass es „auch wohl einen mehr als privaten Wert hat.“ (A 207 [14.6.1939]) In einem Brief an seinen Danziger Bekannten Sebi Sebba bringt er den doppelten Stellenwert des Curriculums prägnant zum Ausdruck. Die Autobiographie vermittelt ungeachtet der angeblichen ‚Durchschnittsnatur‘ ihres Verfassers „allgemein Interessantes“ und stellt für Klemperer ebenso wie das Tagebuch eine Stütze, eine „Balancierstange“ in einer verhängnisvollen Epoche dar: Ich sagte mir: warum sollen immer nur die ganz grossen Tiere ihr Leben erzählen? Da die Mehrzahl der Menschen Durchschnittsnaturen sind, so muss auch die Vita eines Mittelmässigen Interesse haben. Und ich habe wirklich allerlei allgemein Interessantes zu erzählen. Jedenfalls füllt mich nun dieses Buch sehr schön aus, und 182 Die besagte Orientierung an der „innere[n] Wahrheit“ (Hervorhebung A.S.) macht auf Klemperers Differenzierung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Wahrheit aufmerksam. Als hermeneutisch geschulter Wissenschaftler weiß der Philologe, dass – obschon er für sein Curriculum und Tagebuch durchgängig versucht, möglichst faktisch bzw. „sachlich und unpathetisch“ (CVI: 382) das Erlebte zu beschreiben – objektive Wahrheit bzw. objektive Geschichtserkenntnis prinzipiell unerreichbar ist.

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ich habe bisher auch den Eindruck, dass es mir gelingt. Ob es einmal (selbst im günstigsten Fall: nach meinem Tode) an die Öffentlichkeit gelangt, ist ja gar nicht so wichtig. Hauptsache ist, dass ich mich deren festhalte. Ich könnte es auch ‚Die Balancierstange‘ nennen. Sie kennen doch die Geschichte von dem Seiltänzer? ‚Vater, was macht denn der Mann mit der Stange? – Dummer Junge, da hält er sich dran fest. – Wenn sie nun aber fällt, Vater? – Du Dusel, er hält sie doch fest. (A 237 [28.6.1939])183

In einem Brief an Marta Jelski schreibt Klemperer auf vergleichbare Weise zu seiner Autobiographie: „Sollte […] diese Autobiographie nie ans Licht kommen, so hat sie mir doch über triste Zeiten hinweggeholfen.“ (A 182 [5.5.1939]; vgl. A 244 [12.9.1940])184 Als deutschpatriotischer Jude machte er sich unter dem Druck der Zeitlage in seinem Gedächtnis auf die Suche nach den Spuren des nationalsozialistischen Antisemitismus, dessen Wucht ihn im Dritten Reich so überraschte und erschütterte. Obschon Klemperer die Existenz des Antisemitismus in der Wilhelminischen Ära nicht verneinte, betonte er doch dessen anachronistische Randständigkeit in der Gesellschaft des Kaiserreichs: Ich will nicht generell behaupten, daß es damals in Deutschland keinen Antisemitismus gegeben hätte, oder ich ihm nie begegnet sei. Es gab in der Friedrichstraße einen kleinen Laden, der ausschließlich mit Judenfeindschaft handelte. Ich stand manchmal davor, aber mit interessiertem Befremden, daß es so etwas noch gebe – noch, denn ich hielt es für ein Überbleibsel entferntester Zeiten – als mit irgendeiner Furcht [...] ich bin mir jedenfalls aus eigener Erfahrung gewiß, vollkommen gewiß, daß innerhalb jenes kommerziellen und industriellen Dreiecks nicht nur Friede, sondern gänzliche konfessionelle Gleichgültigkeit herrschte. (CVI: 141ff.)

183 In einem Schreiben an Martin Sußmann in Stockholm legt Klemperer auf detaillierte Weise Form und Funktion seines Curriculums dar. Das Vorhaben, eine Autobiographie zu verfassen, wird in Klemperers Briefen ausgiebig und offen reflektiert, was daher rühren mag, dass der Romanist seine autobiographische Tätigkeit als eine kulturgeschichtlich und also allgemein relevante Aktivität ansieht. Er fängt die verlorene und unwiederbringliche Zeit der deutschjüdischen Symbiose in einem archivähnlichen Werk ein. Nach zweieinhalb Jahren Arbeit an der Autobiographie fasst Klemperer seine Tätigkeit wie folgt zusammen: „Ich arbeite langsam aber zäh an meinem Curriculum; manchmal denke ich, es ist bloss ein Zeitvertreib, manchmal glaube ich in meinem ganzen Leben nichts Besseres geschrieben zu haben. Als ich im Februar 39 damit anfing, glaubte ich alles in allem für etwa 200 Druckseiten Stoff zu haben und in sechs bis acht Monaten damit zurande zu kommen. Jetzt hoffe ich, bis zum Ende dieses Jahres den zweiten Band (1912-1920) fertigzustellen, und dann bleibt noch ungemein viel für einen dritten Band übrig, wobei jeder Band etwa 500 Druckseiten im großen Format meiner französischen Literaturgeschichte ergeben dürfte. Ich glaube, es steht allerhand Kultur- und Zeitgeschichtliches darin.“ (A 250 [3.9.1941]) 184 Genauso wie das Tagebuch (vgl. Abschnitt 3.1.2.3) bezeichnet Klemperer auch die Autobiographie als psychologische Stütze. Ihre kathartische Funktion als Mittel zum Vergessen der Angst hatte während des Holocaust einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert für das geistige Wohlergehen Victor Klemperers. Aus diesem Grund nutzte er jede freie Minute, um an seinem Curriculum zu arbeiten: „Ich halte mich am Curriculum fest, ich vergrabe mich darin, sooft mir Wirtschaft und Evas Krankheit Zeit läßt.“ (ZAI: 588 [14.4.1941])

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Bereits im Jahr 1933 befürchtet Klemperer jedoch, dass er angesichts des vermeintlichen Herannahens seines Lebensendes diese Aufgabe vielleicht nicht wird verwirklichen können: Von den Schand- und Wahnsinnstaten der Nationalsozialisten notiere ich bloß, was mich irgendwie persönlich tangiert. Alles andere ist ja in den Zeitungen nachzulesen. Die Stimmung dieser Zeit, das Warten, das Sichbesuchen, das Tagezählen, die Gehemmtheit in Telefonieren und Korrespondieren, das zwischen den Zeilen der unterdrückten Zeitungen lesen – alles das wäre einmal in Memoiren festzuhalten. Aber mein Leben geht zu Ende, und diese Memoiren werden nie geschrieben werden. (ZAI: 28 [15.5.1933])

Dieser Prognose zum Trotz konnte Klemperer die Autobiographie bis 1918 fertig stellen und in ihr das Kontinuum seiner Lebensgeschichte rekonstruieren.

3.1.4 Gattungssteuernde Reflexionen: Gattungsintertextualität und Motivik 3.1.4.1 Intertextualität und Gattungsgedächtnis Nicht nur die selbstreflexiven Aussagen Klemperers, in denen die eigene Tagebuchpraxis im Mittelpunkt des Interesses steht, sind als diaristische Metatexte vorzufinden: Auch seinem Räsonieren über andere autobiographische bzw. diaristische Texte wird breiter Raum gewidmet.185 „Wer immer Tagebuch schreibt, der weiß sich zumindest in einer stattlichen Tradition von Tagebuchschreibern,“ so schreibt Rüdiger Görner (1986: 11). Klemperer war die Teilhabe an dieser Tradition bewusst: Er las zahlreiche Tagebücher und griff Ergebnisse dieser Lektüreerfahrungen wiederum in seinen Aufzeichnungen auf. Die entsprechenden Lektürehinweise – die als reflektierte bzw. explizite Intertextualität genannt werden können –186 reichen von Montesquieu (vgl. ZAI: 211 [21.7.1935]), Alfred Fabre-Luce (vgl. ZAII: 158 [7.7.1942]), Paul Ernst (vgl. ebd.: 235 [7.9.1942]; ebd.: 617 [30.11.1942]) über Theodor Herzl (vgl. ebd.: 243 [13.9.1942]; ebd.: 247 [19.9.1942]), Simon Dubnow (vgl. ebd.: 130 [14.6.1942]; ebd.: 136 [19.6.1942]) und Theodore Dreiser (vgl. A 134: 27 [17.6.1933]) bis zu Shmarja Levin (vgl. ZAII: 13 [19.1.1942]; ebd.: 42 [8.3.1942]), Michael Idvorsky Pupin (vgl. A 134: 34 [9.7.1933]), Heinrich Spiero (vgl. ZAII: 79f. [7.5.1942]) und 185 Zur paradigmatischen Bedeutung der Gattungsintertextualität in der Autobiographik vgl. beispielsweise Bainbrigge (2005: 53-61), die die Frage anhand von Simone de Beauvoirs Autobiographien erörtert. Durch das Lesen anderer Autobiographien schafft sich die Autobiographin eine Vergleichsgrundlage und eröffnet einen intertextuellen, räsonierenden Raum, in dem sie sich formal und inhaltlich zu orientieren sucht. Auch Claus Vogelsang (1985: 198) legt nahe, dass viele moderne Tagebuchautoren – wie etwa Franz Kafka, Ernst Jünger, Elias Canetti, Wolfgang Koeppen, Robert Neumann und viele andere – die Diarien anderer zur Kenntnis nahmen: Es fällt somit auf, „wie ausdrücklich sie [=die Diaristen, A.S.] die Lektüre anderer Diarien vermerken, welch stupende Kenntnis der Tagebuchliteratur sie besitzen.“ 186 Zum Begriff der „reflektierten Intertextualität“ im Tagebuch Zofia Nałkowskas vgl. Marszałek (2003: 90).

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Edwin Erich Dwinger (vgl. A 138: 838 [15.4.1943]; ebd.: 963 [14.10.1943]). Mit dieser Gattungsintertextualität bzw. Interdiaristik versucht der Tagebuchschreibende, sich selbst im Feld selbstbiographischer Texte einen Ort zuzuweisen.187 Klemperer greift so auf das Gattungsgedächtnis188 von Tagebuch und Autobiographie zurück, indem er die den Gattungen inhärenten Traditionen und Konventionen thematisiert und inszeniert. Die Gattungszugehörigkeit von Klemperers Tagebüchern wird auf diese Weise explizit etabliert und reflektiert. Durch die reflektierte Intertextualität ordnet sich der Tagebuchautor zu Vergleichszwekken in eine paradigmatische Reihe autobiographischer und diaristischer Autoren ein. In allgemeiner Hinsicht könnte man die Bedeutung von Intertextualität für die Gattungskonstitution wie folgt festhalten: Wenn ein Autor sich entscheidet, in einer bestimmten Gattung zu schreiben, antwortet er nicht einfach auf die Leistungen und die Inhalte anderer Autoren; er selbst äußert sich [...] zu seiner Kunst und oft zur Kunst im Allgemeinen. Die Tatsache, dass man ein gewisses Genre adoptiert, insbesondere ein etabliertes, impliziert einen Respekt vor der Vergangenheit oder zumindest vor einer bestimmten Periode oder Schule in diesem Genre. (Dubrow 1982: 10)

Ulrich Suerbaum (1985: 58ff.) weist gleichermaßen auf die Bedeutung von Gattungsintertextualität für die Etablierung einer Textsorte hin. Eine Gattung besteht aus Texten, die ihren Zusammenhang als Reihe unter anderem dadurch erhalten, dass Segmente vorangegangener Texte derselben Gattung zitierend und in Anspielungen aufgenommen werden: „Autoren einer Reihe tendieren dazu, ihre Texte [...] an eine existierende Reihe, Gruppe oder Gattung anzubinden.“ (ebd.: 68) Die wichtigsten Autobiographen bzw. Diaristen, an denen sich Klemperer gattungsmäßig orientiert und mit denen er sich vergleicht, sind Shmarja Levin, Semjon Dubnow, Edwin Erich Dwinger und Heinrich Spiero. Nicht zufällig setzen sich diese vier Autoren mit Problematiken auseinander, die für Klemperer im Dritten Reich allgegenwärtig sind: Levin geht es um die Problematik von Judentum und Assimilation, Dwinger um Gefangenschaft, in Dubnows Autobiographie stehen Krieg, Angst und historisches Arbeiten zentral, Spiero betont als assimilierter Jude sein unabdingbares Deutschtum. Die Autobiographie des russisch-jüdischen Politikers Shmarja Levin hat – trotz dessen zionistischer Grundhaltung – gewaltige Wirkung auf Klemperer: „Ich lese

187 Klemperer interessiert sich in besonderem Maße für andere Autobiographien und fügt seine eigene autobiographische Schreibtätigkeit so in das Gattungsgedächtnis der Textsorte „Autobiographie“ ein. Im Tagebuch kommentiert er beispielsweise die Autobiographien des Japaners Seiji Noma (vgl. A 137: 310 [18.1.1937]), des Koreaners Younghill Kang (vgl. ebd.: 467 [27.3.1941]) und J.W. Goethes (vgl. ebd.: 476 [8.7.1941]). 188 Für detailliertere Überlegungen zum Begriff des intertextuellen „Gattungsgedächtnisses“ vgl. Erll und Nünning (2003: 11).

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Shmarja Levin: ‚Kindheit im Exil‘ (Childhood in Exile), 1935. Ein großes Kunstwerk. Inhaltlich ungeheuer interessant, sehr wichtig für das letzte Buch meines Curriculum.“ (ZAII: 13 [19.1.1942])189 Er betont, dass Levins Schilderung der schwierigen Lage der jüdischen Bevölkerung Rückschlüsse auf seine Situation im Dritten Reich zulasse und darum für den beabsichtigten letzten Band seiner Autobiographie – über die NS-Zeit – von Belang sei. Der Tagebuchautor fühlt sich in seiner Zeugenschaftsarbeit ferner insbesondere mit der Autobiographie des russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow, Mein Leben (1922), verbunden. Spuren zur Identifikation dieser Verbundenheit sind in Klemperers Tagebüchern nach der Lektüre der Autobiographie im August 1942 passagenweise vorhanden.190 Aus dem intertextuellen Rückbezug auf Dubnow, dem sich Klemperer aus zeitgeschichtlichen und biographischen Gründen besonders nahe fühlte, geht unübersehbar sein Wunsch hervor, ebenso wie der russische Historiker ein historisch bedeutsames autobiographisches Werk zu hinterlassen: Die letzten Kapitel in Dubnows Autobiographie erschüttern mich. Es ist oft, als sei es mein eigenes Tagebuch. Petersburg 1917/18 – ich schreibe in Dresden 1942 ganz, ganz Ähnliches. Die Angst um das Tagebuch. Es kann das Leben kosten. Wo versteckt man es? Aber wenn ich es nicht schreibe, werde ich meiner Aufgabe untreu! Die Sehnsucht, in historische Arbeit, in Erinnerung, in Geistiges unterzutauchen. Die Todesnähe, doppelte Todesnähe, da man gealtert – er ist damals 58, kein Unterschied zu meinen 60 – und furchtbar exponiert, die Sehnsucht, das Leben, die Arbeit zu retten, die Aufgabe durchzuführen. Ich glaube, ich darf mich vergleichen, denn schließlich, ein klein wenig habe als Historiker doch auch ich geleistet. (ZAII: 133 [16.6.1942])

Eine dritte Identifikationsfigur in Sachen Gattungsintertextualität in Klemperers Tagebüchern ist Edwin Erich Dwinger. Dwinger, der 1933 im Hitler-Regime Reichskultursenator wurde, geriet im Ersten Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft, von der er im Sibirischen Tagebuch (1929) Zeugnis ablegt. Klemperer entdeckt in Dwingers sibirischen Gefangenschaftsnotizen deutliche Parallelen zu seiner Situation als Diarist im Dritten Reich. Seine Identifikation geht so weit, dass er das Bedürfnis verspürt, sich der Originalität seiner eigenen Tagebücher zu vergewissern: „Manchmal fühle ich mich als Plagiator des ‚Chronisten‘ Dwinger. Aber meine Absicht des Zeugnisablegens stand längst fest, bevor ich ihn kannte.“ (A 138: 865 [12.5.1943]) Die gefühlsmäßige Nähe zu Dwingers Erfahrungen als

189 Klemperer zieht beispielsweise auch affirmativ ein Zitat eines in Levins Autobiographie dargestellten Zionisten heran, der die Verfolgung der Juden in der Pogromzeit schildert, welche Klemperer zufolge der Lage im Dritten Reich entsprechen mag: „Der Krieg geht trotzdem bestimmt für Deutschland verloren, aber wann? Und wer erlebt es? Mir geht immer das Wort eines russischen Zionisten in den Memoiren Levins durch den Kopf, an Gott gerichtet während der Pogromzeit: ‚Du kannst warten, für Dich sind tausend Jahre wie ein Tag – aber wir können nicht warten.‘“ (ZAII: 20 [8.2.1942]) 190 Den ersten Hinweis auf Klemperers Dubnow-Lektüre findet der Leser in ebd.: 115 [8.6.1942].

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Gefangener bringt Klemperer folgendermaßen zum Ausdruck: „Im ‚Sibirischen Tagebuch‘ beziehe ich so viele Seiten auf mein eigenes Schicksal. Die Hunde haben es besser als die Gefangenen, sagt er einmal.“ (ebd.: 837 [13.4.1943]) Heinrich Spiero – wie Klemperer konvertierter, patriotischer, deutsch-jüdischer Literaturhistoriker – betonte in seiner Autobiographie vor dem Hintergrund des immer aggressiver auftretenden Antisemitismus „aufs unbefangenste seine Deutschheit und seinen Protestantismus.“ (ebd.: 79 [7.5.1942]) Angesichts ihrer parallelen Lebensläufe verweist Klemperer auf Spiero als einen historischen Weggefährten: Ich las zuende: Heinrich Spiero, ‚Schicksal u. Anteil‘. Spiero ist ein Literat, der ungefähr mir parallel gearbeitet hat, etwa ein halbes Dutzend Jahre älter als ich. [...] Seine Autobiographie ist in der ersten Hälfte zugleich trocken und bloß anekdotisch, ohne Tiefe, mir peinlich durch weimarisch-klassisches Deutsch und Fühlen; in der zweiten Hälfte (Weltkrieg) wirklich bedeutend. Mein wesentliches Interesse am Ganzen liegt in dem selbstverständlichen Deutschtum des Buches. (ebd.)

Neben dem zeitgeschichtlich bedingten Interesse für die Tagebücher bzw. Autobiographien der vier oben genannten Autoren spielt auch das literarische Hintergrundwissen des Diaristen eine wesentliche Rolle für die Ausrichtung seiner Auseinandersetzung mit selbstbiographischen Quellen. Klemperer kannte als Romanist selbstverständlich die paradigmatische (fiktive) Autobiographie aus der französischen Literatur: Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in der dem Duft einer in Tee getunkten Madeleine, der dem Erzähler seine Kindheit ins Gedächtnis ruft, mehrere Seiten gewidmet werden. Das Gebäck gilt als auslösendes Objekt der Erinnerung, als mémoire involontaire. Genauso wie bei Proust die Madeleine, so öffnet bei Klemperer die Erinnerung an „große, glatte, feste weiße Äpfel“ aus dem Voigtschen Garten seiner Kindheit verschlossen geglaubte Türen in seinem Inneren (CVI: 27). Ihr „Geruch, der sich mit der Farbe, der Festigkeit, dem Knirschen, dem säuerlichen Geschmack zur Einheit verbindet und diese Einheit beherrscht“ (ebd.), versetzt den Autor wieder in die Atmosphäre seiner frühen Kindheit zurück. Die Gattungsintertextualität und Klemperers philologischer Berufshintergrund prägen deutlich den Verschriftlichungsmodus in seiner Autobiographie: Als Jahrzehnte später die neue Kunst gerühmt wurde, mit der Marcel Proust Kindererinnerungen aus dem Geruch und Geschmack einer Tasse Tee und des eingetauchten Gebäcks aufsteigen läßt, als ich selber pflichtgemäß gerade dieses Kapitel den Studenten meiner ‚Modernen französischen Prosa‘ vorsetzte, da kam mir das gar nicht so neu vor, und ich fragte mich, warum man eigentlich so viel Aufhebens davon machte. Aber in diesem Augenblick fragte ich mich, ob ich ohne Prousts Madeleines den Mut oder auch nur den Einfall gehabt hätte, hier meine Apfelerinnerung zu erwähnen, und weiter und peinlicher, was nun an meinen Äpfeln noch mir selber und mir ganz allein gehört. (ebd.: 27f.)

Durch die gattungskonstituierende Orientierung an Klassikern aus der Autobiographie- und Tagebuchliteratur spannt Klemperer ein literaturgeschichtliches Netz intertextueller Referenzen auf, in dem er seine Schreibpraxis angesichts einer

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langen Tradition literarischer bzw. dokumentarischer Selbstverschriftung zu verorten sucht.191 Neben der Gattungsintertextualität legen auch die rekurrierenden Motive „Que sais-je?“ und „Tout est possible, même Dieu“ den Rahmen fest, in dem Klemperer kritisch die Möglichkeiten und Grenzen seiner diaristischen Geschichtsbeobachtungen im Dritten Reich reflektiert. 3.1.4.2 Motive des Tagebuchschreibens In der letzten Juniwoche von 1941, als Klemperer von der Gestapo inhaftiert war, notiert der Diarist, die zwei richtungweisenden Schreibmotive seines Tagebuchs seien „Que sais-je und Tout est possible, même Dieu. Alles andere muß ich abwarten.“ (ZAI: 629 [23.6.-1.7.1941]) Beide Sätze stammen von französischen Autoren: ersterer vom Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592), letzterer von Ernest Renan (1823-1892), Literatur- und Religionskritiker, und beide Sätze könnte man vorbehaltlos als Schreibmotive von Victor Klemperers Tagebuchführung während des Dritten Reiches betrachten. Michel de Montaigne begründete im Anschluss an antike Traditionen – Pyrrhon von Elis, die Sophisten oder Timon von Phleios – den neuzeitlichen Skeptizismus. Der skeptische Gedanke, den Klemperer in seinen Notizen kritisch verfolgt, stellt für den Tagebuchautor eine philosophische Haltung dar, die objektives Erkennen grundsätzlich ausschließt und die Möglichkeit leugnet, über das Wesen der Dinge sichere Behauptungen aufstellen zu können. Selbst wenn man sich strikt durch empirisches Erfahrungswissen leiten lasse, so Klemperer, stelle sich die Frage, ob man auf die eigenen Sinne vertrauen könne. Mit der an sich selbst gerichteten Frage „Que sais-je?“ bringt Klemperer die Unsicherheit hinsichtlich der Einschätzung und der Bewertungsgrundlage seiner Beobachtungen zum Ausdruck.192 Obgleich er es sich für sein Tagebuch zum Ziel setzt, „in der Chronikordnung zu berichten,“ hinterfragt er doch die wissenschaftliche Realisierbarkeit seines Objektivitätsbestrebens (ZAII: 101 [29.5.1942]). Vor allem in Bezug auf die Einschätzung des politischen Tagesgeschehens zweifelt der Diarist daran, dass es überhaupt möglich sei, aus einer historisch objektiven Haltung zu beobachten und wiederzugeben. Im Jahre 1938 formuliert Klemperer seine geschichtswissenschaftlichen Reflexionen, in denen er die Spannung zwischen zeitnahem Geschichtszeugnis und nachträglicher historischer Forschung zum Ausdruck bringt, wie folgt: 191 Nach dem Ende des Dritten Reichs finden sich bei Klemperer weiterhin Referenzen auf andere Autobiographie- und Tagebuchautoren. Auch dem weltweit bekanntesten jüdischen HolocaustTagebuch, dem Tagebuch der Anne Frank, galt vor diesem Hintergrund sein Interesse. Wie aus Klemperers Notizen aus der DDR-Zeit hervorgeht, stand er ihren Tagebüchern allerdings besonders ablehnend gegenüber (vgl. SSII: 674 [14.2.1958]). Die jugendliche Verfasserin des Tagebuchs sei nur „ein armes Wurm – aber doch ein nichtig-alberner, etwas snobistischer Backfisch u. gar nichts anderes.“ (ebd.: 596 [26.12.1956]) 192 Auf seiner Ägäisreise im Jahr 1929 zeigte sich der Tagebuchautor bereits äußerst sensibel für Fragen epistemischer Art: „Immer die drei Fragen [...]: 1) Was sehe ich wirklich? 2) Was kann ich davon beschreiben? 3) Was bleibt mir als wirkliche Erinnerung?“ (LSII: 554 [20.8.1929])

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[V]on zweien eines: entweder der Historiker ist nicht persönlich dabei gewesen, dann muss er sich auf Dokumente stützen und weiß also nichts absolut genau, muß subjektiv auslegen. Oder er ist dabei gewesen, dann weiß er erst recht nichts vom objektiven Sachverhalt ... Wie kommt Geschichte zustande? [...] Was weiß ich von selbst erlebter Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus allernächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiß mehr? Und wer waren die wirklichen Weltbeweger in alledem? Wahrhaftig Hitler und Goebbels? (ZAI: 395f. [31.1.1938])193

Zu jener Zeit war dem Tagebuchschreibenden noch nicht gänzlich ersichtlich, welch massiven Zivilisationsbruch „Hitler und Goebbels“ durch den Holocaust auslösen würden. In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre volle Bedeutung erst im Nachhinein, wenn sie sich als „Konsequenzerstmaligkeiten“ (sensu Arnold Gehlen) erwiesen haben, d.h. als erstmalige Ereignisse mit wichtigen Konsequenzen für die Nachfolgezeit. In erfahrungsunmittelbaren Tagebucheinträgen kann die Bedeutung solcher Erstmaligkeitsereignisse unmöglich richtig eingeschätzt werden, und oft werden sie nicht einmal wahrgenommen, weil sie neu sind und somit nicht mit bereits vorhandenen Erfahrungen abgeglichen werden können.194 Dies dürfte erklären, warum beispielsweise Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 oder die „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938 nicht in der Aktualität des Geschehens aufgezeichnet wurden.195 Aus diesem Grund haben viele deutsche Juden das Ausmaß der katastrophalen Dynamik von Ausgrenzung und Diskriminierung nicht erkannt. Der Geschichtsverlauf besteht eben nicht aus isolierten Einzelbegebenheiten, sondern ist ein langsamer 193 Zur Veranschaulichung des Relativismus, den er in Bezug auf das historische Erkenntnisinteresse seiner Zeitzeugenschaft vertritt, legt der Diarist in einem späteren Eintrag den Akzent auf die prinzipielle Unmöglichkeit, das Jetzt in einen breiteren historischen Kontext einordnen zu können und das Zeitgenössische geschichtlich angemessen einzuschätzen und zu perspektivieren: „[K]ein Mitlebender weiß, was wirkliche Historie wird, u. was nur so vorbeiströmt u. versinkt. Zwanzig Jahre danach ist ein heute großes Begebnis versunken u. eine unbeachtete Winzigkeit geschichtliches Datum geworden.“ (A 138: 745 [5.12.1942]) In der myopischen Erfahrungsunmittelbarkeit des Zeitgenossen im hic et nunc sieht Klemperer den Hauptgrund, „warum man von erlebter Geschichte nichts weiß: das Zeitgefühl ist aufgehoben; man ist gleichzeitig zu stumpf und zu überreizt, man ist zu überfüllt mit Gegenwart.“ (ZAII: 582 [14.9.1944]) Auf analoge Weise registrierte Klemperer bereits im Jahr 1931 angesichts der Einflussnahme von Nationalsozialisten und Kommunisten in der Weimarer Republik: „Vollkommen blind u. hilflos lebt man jetzt hin, und hat keine Ahnung, was man durchlebt, was für Geschichte sich vollzieht, u. wer Geschichte macht.“ (LSII: 721 [16.7.1931]) Das historiographische Problem der Zeitzeugenschaft liegt, so Paul Ricoeur (2004: 271), darin, dass der Zeuge selbst keinen Abstand zu den Ereignissen hat, so dass die langfristige Bedeutung des Geschehenen schwer abzuschätzen ist. 194 Für einige kritische, sozialwissenschaftliche Überlegungen zum historischen Dokumentwert der „erlebten Zeitgeschichte“ – ihrer Möglichkeiten und Beschränkungen – in selbstbiographischen Gattungen vgl. Nassehi (1992). 195 Trotzdem muss angemerkt werden, dass sich der Tagebuchautor allerdings auch zeitnah zu gesellschaftlichen Großereignissen wie z.B. der Annexion Österreichs (vgl. ZAI: 399 [20.3.1938]), dem Münchner Abkommen (vgl. ebd.: 425 [2.10.1938]) oder dem Angriff auf Polen (vgl. ebd.: 482 [3.9.1939]) äußerte.

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Prozess, der erst retrospektiv mit Begriffen wie „Zäsur“ oder „Bruch“ auf ein einschneidendes Ereignis verdichtet werden kann. Die zeitliche Beschränktheit des Momentanen in Klemperers Tagebüchern verbietet eine verallgemeinernde Aussage zur historischen Bedeutsamkeit des gerade Geschehenen (vgl. ebd.: 592 [15.5.1941]). Der Tagebuchschreiber als Zeitzeuge ist stets an die Gegenwart gebunden. Vor diesem Hintergrund treten geschichtsskeptische Wertschätzungen des eigenen Augenzeugenstatus deutlich zutage, wie etwa dann, wenn Klemperer die Absicht zum Ausdruck bringt, das Misstrauen gegenüber historischer Wahrheitsfindung als Motto seines Curriculums zu wählen: Meinen Mottosatz zum Curriculum möchte ich jetzt so fassen: Wir wissen nichts von der fernen Vergangenheit, weil wir nicht dabeigewesen, wir wissen nichts von der Gegenwart weil wir dabeigewesen sind. Nur von der selbsterlebten Vergangenheit können wir im späten Erinnern ein wenig – sehr wenig sicheres – Wissen gewinnen. (ZAII: 157 [5.7.1942])

Mangels besserer Alternativen bildet die Zeitzeugenschaft Klemperer zufolge also die sicherste Grundlage für historische Darstellungen und Erklärungsmodelle. Aber auch angesichts „der selbsterlebten Vergangenheit“ sei eine kritische Haltung geboten, die in Klemperers Fall auf seine wissenschaftliche Bildung wie auch literaturgeschichtliche Arbeitsweise zurückgehen mag.196 Dieses beobachtungskritische Postulat kann als epistemologisches Leitprinzip von Klemperers historiographischen Auffassungen betrachtet werden: Der Verzicht auf letztgültige Wahrheiten schlägt sich deutlich in seinem autobiographischen Schreiben nieder. Da man aber nur über die eigenen Beobachtungen verfüge, um die Welt auszulegen, solle man sich stets des Zirkels von Privat- und Großgeschichte bewusst sein: Die „Terrorzeit“ findet unter dieser Prämisse in sein „privates Erleben“ Eingang, dessen Beschreibung wiederum einen festen gestaltenden Bestandteil des Gesamtœuvres – LTI, Curriculum Vitae und Tagebuch – darstellt: Ist jeder Mitlebende blind? – Zugleich schüttelt mich Freude u. Angst in einem: Wenn mir nur Zeit bleibt (es müßten schon mehrere Jahre sein!) mein Curriculum zu schreiben. Welch eine Möglichkeit: jetzt die erzwungene Muße des Rückbesinnens, des erweiterten, des Nichtfachstudiums. Die Ergebnisse dieses Studiums, das Allgemeine in mein privates Erleben hineinarbeiten. Mischung aus: Οίδα μή είδέναι u. ‚nun weiß ich‘ u. ‚nun sehe ich, daß man nichts wissen kann‘ ... Diese halb zufälligen, halb doch von mir gesteuerten [...] Studien, dazu das Material der LTI mit der Autobiographie, mit dem ‚Ich will Zeugnis ablegen!‘ in eins schmelzen, dem Ganzen die Erregung dieser Terrorzeit einflößen – es müßte ein ganz originelles, ein hinreißend interessantes Werk werden. (A 138: 674 [23.8.1942])

196 Den Geschichtsskeptizismus bringt Klemperer beispielsweise in einem Eintrag vom März 1942 wie folgt zum Ausdruck: „Es gibt ja sowenig eine Wissenschaft der Geschichte (man kennt höchstens, was geschah, nicht: wie es zustandekam) als eine Wissenschaft der Ästhetik. [...] Was ist der Esprit général? [...] Que sais-je? Und que sais-je?“ (ZAII: 41f. [8.3.1942]) Weitere Belegstellen zum kognitionskritischen Schreibmotiv „Que sais-je“ findet man in ebd.: 49 [19.3.1942]; ebd.: 51 [22.3.1942]; ebd.: 157 [5.7.1942]; A 138: 745 [5.12.1942]; ebd.: 1000 [15.1.1944]; ebd.: 1103 [19.6.1944]; ZAII: 582 [14.9.1944].

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Dieses Zitat gibt nun nicht nur empirische und historiographische Metareflexionen wieder, ihnen wohnt auch unwiderlegbar eine ideologiekritische Tendenz inne: Das Prinzip des anzweifelnden Denkens stellt gewissermaßen eine kritische Widerstandsleistung zur Eingleisigkeit des nationalsozialistischen Denkens, zum dogmatischen Manichäismus von Nationalismus und Antisemitismus dar. Dem dichotomischen Freund-Feind-Denken wird somit aus der Perspektive eines Skeptikers in LTI, Autobiographie und Tagebuch gleichermaßen eine klare Absage erteilt. Dem Geschichtsskeptizismus wird dermaßen viel Gewicht beigelegt, dass der Tagebuchautor sogar mit dem Gedanken spielt, einen mit „Que sais-je?“ betitelten quellenkritischen Zusatz zur Autobiographie zu verfassen, in dem Näheres zum historischen bzw. psychologischen Wert seiner Lebenserinnerungen dargelegt werden soll: Ich erwäge aus meiner jetzigen Studienlektüre heraus einen Nachtrag zum zweiten Curriculum-Band: Que sais-je. Was hab ich von den miterlebten Dingen wirklich miterlebt und wie? Das wäre psychologisch interessant und führte nachträglich ein paar allgemein wesentliche Daten ein. (ZAII: 56 [27.3.1942])

Das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Sicherheiten steht ganz im Gegensatz „zur nazistischen Sturheit und Selbstgewißheit“ (LTI: 95), deren Legitimität durch Gleichschaltung und Propaganda auf quasi-religiöse Weise inszeniert und durch Zensur und Terror durchgesetzt wird. Klemperer greift nicht nur auf de Montaignes Skeptizismus, sondern auch auf Renans Leitgedanken „Tout est possible, même Dieu“ zurück, um die totalitären Denkmuster des Nationalsozialismus abzuwehren: „Grenzverwischung, Unsicherheit, Schwanken und Zweifel [...]. Position Montaignes: Que sais-je, was weiß ich? Position Renans: das Fragezeichen – wichtigstes aller Satzzeichen.“ (ebd.) Er stellt in Anlehnung an de Montaigne und Renan jede Möglichkeit einer normativen bzw. ontologischen Erkenntnis von Realität und Wahrheit in Frage,197 was in eine – zum Leitprinzip seiner Betrachtungen erhobene – ethische Grundhaltung mündet, die radikal konträr zur auferlegten Monodoxie des Totalitarismus ausgerichtet ist. Dogmatismus und Fundamentalismus vertragen sich nicht mit kritischen Fragen: „Ich frage mich jetzt so oft nach Dingen [...], die mir fünfzig Jahre selbstverständlich waren. Hauptsache für die Tyrannis jeglicher Art ist das Unterdrücken des Fragetriebs.“ (ZAI: 402 [10.4.1938])198

197 Klemperer zweifelt vor diesem Hintergrund sogar den moralischen und pädagogischen Erkenntniswert des Geschichtswissens an: „Niemand kann aus der Geschichte lernen, weil sich nichts wirklich und ganz und ohne Variante wiederholt. Vielleicht ist Geschichtskenntnis geradezu schädlich: sie macht befangen. Vielleicht ist es mit dem Geschichtswissen wie mit der Askese: beide machen unfrei.“ (ebd.: 397 [22.6.1943]) 198 So genannte „letzte Wahrheiten“ und grundlegenden Ideale sind von Klemperer skeptisch in Frage gestellt und als bloße idées fixes entlarvt worden, und ihre Evidenz ist dementsprechend ins Wanken gekommen. Im Unterschied zu seinem ehemaligen Patriotismus und Nationalismus stellt Klemperer „[d]as Skeptischwerden den großen Ideen gegenüber, wie Vaterland, nationale Ehre, Heroismus“ fest (ZAI: 539 [9.7.1940]).

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Die Angemessenheit seines philosophisch-moralischen – und oft nicht intendierten – Festhaltens an besagten Momenten wie „Grenzverwischung, Unsicherheit, Schwanken und Zweifel“ (LTI: 95) sieht Klemperer in Ernest Renans Phrase „Tout est possible, même Dieu“ bestätigt. In abgewandelter Form heißt es beim Diaristen: „Ich bin zu skeptisch selbst zum Unglauben.“ (A 138: 1078 [20.5.1944]; vgl. ZAI: 76 [31.12.1933]) Dieser radikale Skeptizismus als moralische Lebenshaltung ermöglicht es dem Diaristen, sogar an den glücklichen Ausgang einer auf den ersten Blick ausweglosen Lage zu glauben. Seine Überzeugung von der radikalen Offenheit der Gegenwart und dem nichtlinearen Fortgang der Geschichte versetzt ihn in die Lage, selbst in den schlimmsten Phasen der Judenverfolgung den Mut nicht gänzlich aufzugeben, denn letztendlich, so schärft sich Klemperer unter Rückgriff auf Renan immer wieder ein, sei ja alles möglich, selbst sein Überleben, wie unwahrscheinlich es auch erscheinen mag.

3.2 Das Tagebuch als Schriftmedium: 3.2 Autographie, Heterographie, Historiographie DAS TAGEBUCH ALS SCHRIFTMEDIUM

Das Tagebuch stellt als Aufschreibesystem (sensu Friedrich Kittler 2003)199 ein materielles Gedächtnis dar, das kulturelle Informationen schriftlich speichert. Krisenzeiten ermöglichen auf ganz besondere Weise den Blick auf die eigene Kultur zu lenken, da sich Erklärungen für die neuartigen Erfahrungen und tiefgreifenden Veränderungen dem herkömmlichen Referenzsystem entziehen. Victor Klemperers unaufhörliche Sammelarbeit von Zitaten, Meinungen, Standpunkten, Anekdoten, Witzen, Versatzstücken aus Gelesenem und Gehörtem, detaillierten Beschreibungen von Selbsterlebtem brachte ein diaristisches Alltagsarchiv hervor, das Erinnerungsmomente der NS-Epoche textuell aufbewahrte. Der Diarist betrieb auf diese Weise eine Art Archäologie des Verschütteten und maß dem Schreibakt hierbei eine wichtige Rolle als Erkenntnisproduzent und Speicherverfahren zu. Die Tagebücher sind in einer spezifischen historischen und gesellschaftlichen Situation entstanden, sie repräsentieren einen Teil der materiellen Dimension von Kultur und sind folglich als kulturelle Objektivationen zu begreifen. Somit konstituiert sich das Schreiben über die eigene Person in einem metaphorischen Raum, der das Tagebuch zum materiellen Träger des eigenen Wissens und zum Repräsentanten der eigenen Person macht.200

199 Theo Stammen (2001: 282f.) bezeichnet das Tagebuch auf ähnliche Weise als „Aufschreibesystem“, das je nach zugrundeliegender Subjektivität und je nach Kommunikationssituation mehrere – sowohl in Form wie auch in Funktion – unterschiedliche Varianten zulässt. Gustav René Hocke (1978) differenziert vor diesem Hintergrund z.B. zwischen Selbstbeobachtung, Weltbeobachtung, Daseinsanalyse und Arbeitsjournal. 200 Zur Schriftlichkeit der mikrologischen Sammeltätigkeit in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen, welche in ihrer Ausgestaltung methodische Ähnlichkeiten mit Klemperers diaristischem Speicherverfahren aufweisen, vgl. Reisch (1991: 11; 21).

DAS TAGEBUCH ALS SCHRIFTMEDIUM

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Wie Walter J. Ong (1987: 84ff.) in Oralität und Literalität betont, ist Schreiben eine Technologie, die nicht nur als Gedächtnisstütze dient, sondern das Bewusstsein steigert. Schreiben ist mehr als ein künstliches Parallelsystem zur mündlichen Sprache. Durch die Dynamik der Textualität kann das Individuum sich selbst und die Welt reflektieren, Argumentationen entwickeln, Gedanken sammeln, sie speichern und nachlesen, wie es ohne die Schrift unmöglich wäre. Das Schreiben – a forteriori das autobiographische Schreiben – verändert das menschliche Bewusstsein. Der Akt des Schreibens als Medialisierung des Wahrgenommenen ist nicht bloß eine an sich bedeutungslose, technische Notwendigkeit der Diaristik, vielmehr ist sie als Primärphänomen zu verstehen, das die Dynamik und Semantik des Dargestellten mitprägt. Klemperers Tagebuch ist ein Zeugnis einer Inszenierungspraxis, einer medial fixierten Darstellung.201 Eine Annäherung an diese Tagebuchaufzeichnungen macht deutlich, wie die Materialität einer Aussage konstitutiv für diese Aussage selbst ist, die ein Medium, einen Ort und ein Datum benötigt, um sich als solche zu situieren Sobald sich diese situativen Indizes verändern, ändern sich auch Bedeutung und Identität der Aussage (vgl. Wirth 2002: 43). Diese Konzeptualisierung eröffnet die Möglichkeit, das Tagebuch nicht bloß als eine rein persönliche, literarische Gattung, sondern vorrangig „als kulturelle und mediale Praxis zu begreifen“ (Moser und Dünne 2008: 14). Die Medialität des Tagebuchschreibens war als Selbstvermittlung durch die Schrift grundlegend für den Diaristen. Paradigmatisch für die gesamte Tagebuchpraxis während des Dritten Reiches steht die folgende Szene, in der Klemperer – auf Minimalniveau – die große materielle Bedeutsamkeit des Bleistifts und des Blattes Papier als potentieller Reflexionskörper in den Mittelpunkt rückt. Während seiner Haftstrafe in einer Gestapo-Zelle im Jahre 1941 bedeutete die Möglichkeit, seine Gedanken zu materialisieren, zu Papier zu bringen, einen Umschwung in der Ödnis der Inhaftierung, die durch die Aufhebung zeitlicher, räumlicher und sozialer Bezugspunkte bestimmt wurde: Herr Wachtmeister, es ist für einen Professor scheußlich hart, hier so ohne jede Beschäftigung herumzuwandern. Ich tu’s nun schon vier Tage. Man hat mir Buch und Brille weggenommen. Aber wenn ich nur einen Bleistift und ein bißchen Papier hätte.‘ – ‚Sie sollen doch über Ihre Sünden nachdenken‘, sagte er lachend. Dann holte er ein Bleistiftchen aus der Tasche hervor und besah es. ‚Ich will es noch spitzen und ein Blatt Papier dazutun.‘ Wirklich brachte er beides gleich darauf. Im gleichen Augenblick war meine Welt ebensostark verändert wie neulich, als die Gefängnistür zuschlug. Alles war wieder lichter ja fast schon licht geworden. Plötzlich war mir bewußt, daß ich am heutigen Freitagmittag die ganze erste Hälfte meiner Strafzeit hinter mir haben würde. Nur noch vier Tage und was hatten sie so Schreckliches an sich; nun ich mich beinahe auf gewohnte Art beschäftigen konnte. (ZAI: 636f. [23.6.-1.7.1941]; vgl. ebd.: 641 [23.6.-1.7.1941]) 201 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem medialisierenden Charakter des Schreibakts ist für die Tagebuchhermeneutik grundlegend, weil das Schreiben den Inhalt der Einträge gewissermaßen steuert und lenkt. Dementsprechend soll betont werden, „dass die medialisierte Fortsetzung des Erzählens keine einfache Übersetzung des Gedachten ins Geschriebene darstellt, sondern den eigenen Gesetzmäßigkeiten des Schreibens unterliegt.“ (Marszałek 2003: 83)

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Nachdem ihm das Papier ausgegangen war, führte der Diarist seine Schreibaktivität – fast unleserlich – auf Toilettenpapier weiter (vgl. ebd.: 638 [23.6.1.7.1941]). Der Bleistift und das Papier, die Klemperer am vierten Tag seiner Haft von einem Wärter erhalten hatte, bedeuteten eine wesentliche Erleichterung der Inhaftierung. Sie dienten der existenziellen Selbstvergewisserung und der kontextuellen Orientierung, dank der er sich in der zeitgeschichtlichen Gegenwart verorten konnte. Die Standortbestimmung des Diaristen in der Gefängniszelle ist, so kann man Lothar Bluhm auf allgemeiner Ebene zustimmen, „nicht nur ein inhaltlicher, sondern auch ein prozessualer Akt, der sich im Schreiben selbst realisiert. Erst in der Konzentration auf das eigene Wort erhellt sich dem Tagebuchschreiber die eigene Existenz.“ (Bluhm 1991: 251) Klemperers diaristisches Schreiben im Dritten Reich ist Teil einer unermüdlichen Bemühung um möglichst vollständige und lückenlose Selbst- und Weltdokumentierung. Während die Tagebücher aus der Weimarer Zeit weitgehend auf sein Privatleben und sein berufliches Umfeld ausgerichtet sind, zeichnen sich die Tagebücher aus der NS-Zeit aufgrund der lebensbedrohlichen Lage im Dritten Reich durch einen vielmehr politisierten Blick auf die Zeitgeschichte aus. Klemperers Unternehmen, seine Lebensgeschichte durch das Festhalten an literalen Speichermedien zu dokumentieren, veranschaulicht auf besondere Weise die Verwobenheit von Schriftkultur und eigenem Lebenslauf, auf die der Begriff „Biographie“ sowohl als schriftlich fixierte Lebensgeschichte (‚γραφειν‘) wie auch als gelebtes Leben (‚βίος‘) hindeutet. Klemperers diaristische Praxis schildert die Geschichte seines Lebens, das dem Bedürfnis gehorchte, im Medium des Tagebuchs aufgeschrieben zu werden. Das Schreiben des Diaristen zeugt somit vom Verlangen, in diesem Medium die eigene Individualität und das Entschwindende der Zeitgeschichte lesbar und tradierbar zu machen. Die kontinuierliche Schreibarbeit wird dabei zu einer Realität des Lebens, das auch gelebt wird, um Stoff und Inhalt des Tagebuchs zu sein. Die Dichotomie öffentlich vs. privat, Welt vs. Ich, Zeitgeschichte vs. Lebensgeschichte kann die Komplexität von Klemperers diaristischem Unterfangen nicht ausreichend fassen. Seine diaristische Selbstkonzeption ist vor diesem Hintergrund prinzipiell heterolog, sie kennzeichnet sich durch das Sprechen über Anderes, vom Anderen: Das diaristische Ich reflektiert nicht nur sich selbst, es schreibt sich vielmehr mittelbar über den Anderen und über die Geschichtsreflexion im Medium des Tagebuchs fest. Es ist somit in der Heterologie bzw. Mehrstimmigkeit der offiziellen wie inoffiziellen, marginalen wie zentralen Diskurse seiner Zeit verhaftet. Mithilfe der Technik des Zitierens wird ein Aufschreibesystem entwickelt, das verschiedene Textebenen in den Tagebuchtext einschreibt. Auf die Gesamtheit des Tagebuchtextes bezogen, bilden die Zitate die Ebene eines deutlich ausgewiesenen Subtextes, der das heterologe Textgefüge bereits an der Textoberfläche erkennbar macht.202 Das Ich löst sich jedoch nicht als anonymer 202 Zur Strategie des zitierenden Aufschreibens im Tagebuch – veranschaulicht anhand der Tagebücher Arthur Schnitzlers – vgl. Sellner (1992: 37ff.).

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Systemeffekt im Text auf, nicht der Tod des Autors wird im Tagebuch veranschaulicht. Im Gegenteil konstituiert sich das diaristische Ich erst als selbstbewusstes und vom Wunsch zu überleben getriebenes Individuum durch diese zeitgenössischen Diskurse, die zirkulierenden Meinungen, durch das Gehörte und Gelesene. Die Differenz ist der Identität inhärent. Im Akt des Schreibens wird die Welt etabliert, eignet sich der Diarist die Welt an – oder versucht dies zumindest. Die Produktion von Subjektivität als grammatischem Sinneffekt hängt nicht nur an Sprache, sondern auch an ihrer Realisierung in einer bestimmten medialen Form. Die im Folgenden zu untersuchenden Speicher- und Reflexionsverfahren, die Klemperers Tagebuchpraxis zugrunde liegen, verfolgen die dynamische Kontur einer performativen Schreibtätigkeit in verschiedenen Dimensionen, die mit folgenden – idealtypisch getrennten – Begriffen umschrieben werden: „Autographie“, „Heterographie“ und „Historiographie“. Das Tagebuch als schriftlich fixiertes Medium wird somit als dreifache Spurensicherung lesbar. Es ist ein Reflexionsmedium, in dem sich das Subjekt mit sich selbst, den Anderen und der Zeitgeschichte auseinandersetzt. In diesen drei Themenkomplexen, die ein leitmotivisches Kontinuum in Klemperers Aufzeichnungen bilden, tritt die subjektkonstituierende Funktion der Schrift hervor: Durch das Tagebuchschreiben orientiert sich das diaristische Ich in der ihm feindlichen Gesellschaft, vergewissert sich seiner selbst und verschafft sich eine historiographische Aufgabe. Die drei konzentrischen diskursiven Konstellationen, denen im Folgenden das Interesse gilt, besitzen denselben thematischen Mittelpunkt: die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die äquidistante Beziehung zum selbsterschütternden Kernbereich des Totalitarismus führt dazu, dass eine Analyse von Klemperers Tagebuchnotizen aus der Zeit des Dritten Reiches sich stets an der alles überschattenden NS-Ideologie und -Diktatur zu orientieren hat. Angesichts dieser diskursiven Zentralität drängt sich die Frage nach Überlappungen, gegenseitigen Beeinflussungen und Durchdringungen der drei in diesem Kapitel zu untersuchenden Konstellationen auf. Diese stehen nämlich in einem interdependenten Verhältnis zueinander; ihre Kraftfelder überlagern einander und sind voneinander abhängig. Als Selbstreflexion beschäftigen sich die Notizen im Einzelnen mit der Identitätsfrage des Diaristen; in ihrer Qualität als Menschenbeobachtung versuchen sie die Volksstimmung – die vox populi – auszuloten; in ihrer Funktion als Zeitanalyse schließlich richten die Tagebücher den mikrologischen Blick auf den Alltag im Dritten Reich.

3.2.1 Autographie: Identität 3.2.1.1 Tagebuch und Identität: Victor Klemperer und das Judentum Klemperer [...] einen ‚jüdischen Schriftsteller‘ zu nennen, ist ein Skandal, haben doch seine Werke weder etwas mit jüdischem Glauben noch mit jüdischer Kultur zu tun. Zum ‚Juden‘ machten ihn erst die Nazis aus ‚rassenbiologischen‘ Gründen,

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die Klemperer als pseudowissenschaftlich einstufte. Das zu akzeptieren, wäre [...] der Sieg des faschistischen Rassenwahns gewesen. Ihn einen ‚jüdischen Schriftsteller‘ zu nennen, hätte er daher nur als Fortsetzung der Brandmarkung mit dem ‚gelben Stern‘ empfinden können. (Nerlich 1996b: 145)

Entgegen Nerlichs oben formulierter Auffassung, die Einstufung der Tagebücher Victor Klemperers als „jüdisch“ bzw. „deutsch-jüdisch“ sei schlichtweg ein postfaktischer Vollzug rassenbiologisch geprägter Diskriminierungspolitik, wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass die diaristischen Notizen in ihrer widersprüchlichen Komplexität einen erhellenden und geradezu charakteristischen Einblick in die Geisteslage der deutsch-jüdischen Assimilierten während des Dritten Reiches erlauben. Der Tagebuchautor setzt sich in seinen Tagebüchern aus der Zeit des Dritten Reiches – vor allem ab dem Jahr 1942 – intensiv und kraftvoll mit der Frage nach der Bedeutung von Assimilation und Akkulturation, von kultureller Differenz zwischen West- und Ostjudentum, von „jüdischer“ und „deutscher“ Kultur auseinander.203 Seine Stellungnahmen zum Judentum reichen von expliziter Verweigerung der Teilnahme an einem jüdischen Diskurs, die in der radikalen und polemischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten jüdischer Identität bzw. Volkszugehörigkeit und seiner Konversion zum Protestantismus zum Tragen kommt, über Enttäuschung und Unverständnis den Deutschen gegenüber bis hin zu einer – widerwilligen aber faktisch erzwungenen – Akzeptanz seines Judentums. Die Frage nach einer angemessenen, eindeutigen Definition des Judentums erscheint besonders heikel und erscheint im Voraus zum Scheitern verurteilt. Die Definitionskriterien, die sich anbieten, sind vielfältig und werden darüber hinaus auf höchst unterschiedliche Weise bewertet: Lässt sich Judentum durch Religion, Geschichte, Herkunft, Nation oder Selbstverständnis definieren? Klemperer war zum Protestantismus übergetreten und bot der Öffentlichkeit keinerlei Hinweise auf sein Judentum. In seinem Aufsatz „Wer ist Jude“ hebt Isaac Deutscher die negative Grundlage seiner eigenen jüdischen Identität hervor: [F]ür mich ist die jüdische Gemeinschaft […] nur negativ bestimmt. […] Und jetzt sollen wir die Vorstellung akzeptieren, daß ausgerechnet rassische Merkmale oder ‚Blutsband‘ die jüdische Gemeinschaft ausmachen? Wäre nicht genau das noch ein weiterer Triumph für Hitler und seine verkommene Philosophie? Wenn nicht die Rasse, was macht dann einen Juden aus? Religion? Ich bin Atheist. Jüdischer Nationalismus? Ich bin Internationalist. Nach keiner dieser Bedeutungen bin ich daher Jude. Wohl aber bin ich Jude kraft meiner unbedingten Solidarität mit den Verfolgten und Ausgerotteten. Ich bin Jude, weil ich die jüdische Tragödie als meine eigene empfinde. (Deutscher 1988: 91)

203 Für eine ausgezeichnete allgemeine Einführung in die Bestimmungskategorien deutschjüdischer Literatur verweise ich den Leser auf Kilcher (2000). Im von Andreas B. Kilcher herausgegebenen Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur ist Victor Klemperer mit einem Eintrag vertreten (vgl. Freytag 2000: 316-319).

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Ohne dieser Definition Allgemeingültigkeit zuzuschreiben,204 kann sie gewinnbringend auf Klemperers Selbstverständnis bezogen werden: Der Dresdener Romanist kann dementsprechend als deutsch-jüdischer Autor bezeichnet werden, nicht nur weil er im Nationalsozialismus als Jude gekennzeichnet, diskriminiert und verfolgt wurde, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, dass er sich selbst im Raum deutsch-jüdischer Interkulturalität und Geschichte positioniert und so den Diskurs über die Identität der deutschsprachigen Juden – für die Nachwelt – mitgestaltet, aktiv an ihm teilgenommen hat. Seine Diaristik hat in der Tat auf spezifische Art und Weise an der jüdischen Selbstbestimmung partizipiert, und dabei ist unerheblich, ob es sich dabei um Bejahung oder Ablehnung der jüdischen Kultur handelte. Die Frage nach der Selbstbestimmung nimmt in Klemperers Aufzeichnungen eine besondere Position ein, und vielleicht stellen sie gerade aufgrund der Identitätsunsicherheit, die aus ihnen spricht, und der daraus resultierenden Überbetonung eines der beiden Extrempole deutsch-jüdischen Selbstverständnisses – in Klemperers Fall: des deutschpatriotischen Pols – ex negativo ein Paradebeispiel deutsch-jüdischer Literatur dar. Vor diesem Hintergrund bemerkt Klemperer in Bezug auf das eigene, mithin schwer fixierbare Selbstverständnis: Vielleicht wollen wir Juden immer etwas anderes sein – die einen Zionisten, die anderen Deutsche. Aber was sind wir wirklich? Ich weiß es nicht. Und auch das ist eine Frage, auf die ich nie Antwort bekommen werde. Und das ist meine größte, meine berufliche Furcht vor dem Tode: daß mir aller Wahrscheinlichkeit alle Antworten schuldig bleiben wird. (ZAII: 626 [11.12.1944])

Unter Verweis auf die Kollektivbezeichnung „wir Juden“ unterstreicht Klemperer in der angeführten Passage seine – wenn auch negativ verstandene – jüdische Zugehörigkeit. Der Tagebuchautor reiht sich auf diese Weise – trotz tendenziell kritischer Distanzierung vom Judentum – in die deutsch-jüdische Literatur ein. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist es allerdings nicht, wie Andreas B. Kilcher (2000: xiv-xv) zu Recht hervorhebt, selbst festzulegen und präskriptiv zu bestimmen, was deutsch-jüdische Literatur sei oder welche literarischen Texte ihr Kor-

204 Die Frage, was jenseits von Opferbewusstsein, historischem Schicksal und antisemitischen Zuschreibungen der positive Sinn der jüdischen Identität sein kann, stellt sich Maurice Blanchot (1991: 181-193) in einem – teils gegen Sartre gerichteten – Aufsatz mit dem Titel „Jude sein“. In Bezug auf ein ausschließlich negatives Verständnis vom Jude-Sein fragt Blanchot provokativ: „Ist die jüdische Existenz indessen nur dies? Ist sie nur ein Mangel? Ist sie nur die Schwierigkeit zu leben, die der Haß der anderen einer bestimmten Kategorie von Menschen aufzwingt? Gibt es nicht eine Wahrheit des Judentums, die nicht nur in einem reichen kulturellen Erbe gegenwärtig ist, sondern lebendig und wichtig ist für das heutige Denken, selbst wenn dieses jedes religiöse Prinzip verwirft?“ (ebd.: 182) Die positive Antwort auf diese Fragen lautet einige Seiten später: der Aufbruch, der „Aufruf zu einer Bewegung“ (ebd.: 185) ist es, der Juden konstruktiv bestimmt. Das Ziel dieser Bewegung ist das Exil. Das verstreute exilierte jüdische Volk ist aber durch die Sprache verbunden, deren Aufgabe es ist, aus der unendlichen Trennung „den Ort der Verständigung zu machen, und wenn es einen unüberwindlichen Abgrund gibt, dann überquert die Sprache den Abgrund.“ (ebd.: 189)

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pus ausmachen. Sie soll nicht Normen, Kriterien und Parameter – wie etwa Stoffund Themenwahl – vorgeben, damit eine eindeutige Definition festgelegt werden kann. Vielmehr soll das Ziel darin bestehen, Selbstbestimmungsdiskurse zu untersuchen und zu hinterfragen, mit welchen Argumenten in jedem Text der irreduzibel vielgestaltige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Kultur konstruiert und interpretiert wird. Victor Klemperers Wechselbad der Gefühle dem jüdischen Volksverständnis gegenüber lässt sich nur adäquat erklären, wenn man den Blick weitet und auf die Lage der jüdischen Bevölkerung im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik lenkt. Es sei betont, dass es sich bei den Juden in dieser Ära um eine in politischer und kultureller Hinsicht äußerst differenzierte Gruppe handelte, auch was die Haltung gegenüber ihrer jüdischen Herkunft anbelangt. Angesichts Klemperers deutschpatriotischer Gesinnung und seiner Distanzierung vom jüdischen Glauben kann der Tagebuchautor der Kategorie der „nichtjüdischen Juden“ (sensu Deutscher 1988) bzw. der „deutschen Juden jenseits des Judentums“ (sensu Mosse 1985) zugeordnet werden, und als solcher gehört er in Deutschland einer inzwischen fast ausgestorbenen Gattung an.205 Wie HansJoachim Schoeps kurz nach der Machtübergabe 1933 hellsichtig bemerkte, lag das Kennzeichnende und zugleich Tragische dieser hyperassimilierten Juden gerade darin, dass man ihnen nicht nachrufen könne, daß sie Assimilanten gewesen seien; denn in ihnen war die Assimilation mindestens als Bewußtseinsprozeß schon beendet. Ihre Existenz war schon eine andere geworden. [...] Vom Judentum her konnten sie nicht mehr als Juden angesprochen werden; daß sie nicht Arier werden können, ist ihre objektive Tragik, da ihre Umwelt verlangt, sie müßten, ehe dies möglich würde, aus ihrer Haut herausfahren. (Schoeps 1934: 2)

Victor Klemperers Tagebücher aus der NS-Zeit zeigen, wie der Autor als prototypischer Verfechter des assimilierten und akkulturierten deutschen Judentums radikal antizionistisch und antikommunistisch auftrat und sich jeglicher Form jüdischen Partikularismus widersetzte. Seine Tagebücher geben auf anrührende Weise wieder, wie der Autor den Verfallsprozess seiner geistigen Welt – und gleichzeitig auch seine Identität als Deutscher – durch hoffnungslos widersprüchliche Bemühungen vor der totalen Auflösung zu retten versuchte (vgl. Aschheim 2002: 184f.). Um Ordnung in das komplexe Beziehungsgeflecht von Klemperers

205 Diese Begriffe zeigen, dass die Zugehörigkeit zum Judentum nicht notwendigerweise von Konfession oder Gemeinschaftsbindung abhängt. Das Judentum kann vor diesem Hintergrund „als eine Schicksals-, Werte- oder Mentalitätsgemeinschaft‘ ausgehend von der historischen Erfahrung der Gruppe begriffen werden, unabhängig von jeder religiösen Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft.“ (Karady 1999: 152). In diese Richtung geht auch Detlev Claussens Bezeichnung des „nichtjüdischen Juden“: „Der nichtjüdische Jude kann nur als kritischer leben, Negativität bildet sein Lebenselement, als Jude empfindet er sich nicht wegen der Religion oder der Nation, sondern wegen der Geschichte.“ (Claussen 1988: 24)

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wechselvollem Selbstverständnis zu bringen, soll zunächst ein bezeichnendes Licht auf den in diesem Kapitel verwendeten dynamischen Identitätsbegriff geworfen werden.206 3.2.1.2 Zeit, Selbst und Diaristik Im Folgenden soll im Hinblick auf die Identitätsfrage in Victor Klemperers Tagebüchern ansatzweise die Frage beantwortet werden, welche Begebenheiten oder Entwicklungen im Dritten Reich den konvertierten deutschen Juden Klemperer dazu bewogen haben, sein Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen zu überdenken. In Hinblick darauf ist klarzustellen, welche Brüche, aber auch welche Kontinuitäten sich in seinen Tagebüchern ausmachen lassen. Andererseits aber, komplementär dazu, soll die narrative Selbstdarstellung zum Gegenstand der Studie werden: Welche Techniken eignet sich das Subjekt im Medium des Tagebuchs an, die es ihm erlauben, sich im Dritten Reich neu zu orientieren? Erst aus dieser systematischen Doppelperspektive heraus, so der Grundgedanke, kann eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Identität, diaristischem Schreiben und subjektiver Selbstverortung im Dritten Reich erarbeitet werden. Die Tagebuchliteratur von NS-Opfern konstituiert sich im Hinblick auf die Identitätsfrage des jeweiligen Verfassers durch die Doppelrolle des Diaristen als Schreibsubjekt und als Objekt der Verfolgung. Als methodische Notwendigkeit ergibt sich aus dieser zweipoligen Schreibsituation die Erforschung der Beziehung zwischen den Verfolgungs- und Diskriminierungsmechanismen und deren subjektiven sprachlichen Verarbeitungsweisen, oder anders gewendet: zwischen gesellschaftlicher Marginalisierung und textueller Produktivität.207 Eine Grundfunktion des Tagebuchs ist die ständige Reflexion auf sich selbst. Das Tagebuch bildet ein Instrument der Selbstbeobachtung. Der Prozess der Identitätsbildung ist stets diachron und reflexiv: Innerhalb eines Lebens zeigen sich in Bezug auf die Identität des Subjekts schillernde Kontraste, Widersprüche und Gegensätze. Im Hinblick auf Klemperers religiöse Bekenntnisse zum Judentum bzw. Christentum in der Weimarer Republik, das Schwanken zwischen Deutschtum und Judentum im Dritten Reich und zwischen Liberalismus und 206 Wenn im Folgenden die Rede von der „deutsch-jüdischen“ Identität ist, so soll dies nicht als eine Vereinheitlichung der vielfachen sozialen, ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Unterschiede innerhalb der deutsch-jüdischen Gemeinschaft verstanden werden. Es gab wahrscheinlich ebenso viele deutsch-jüdische Identitäten, wie es deutsch-jüdische Geschichten gab. Das Judentum stellte eine Summe aus vielen Teilen dar. Diese Unterschiede kommen beispielsweise zwischen Ost- und Westjudentum oder zwischen Liberalen und Konservativen zum Tragen. Aber immerhin, so glaube ich, wird aus Victor Klemperers Tagebüchern ersichtlich, mit welchen typischen Problemen, Entscheidungen und Herausforderungen sich deutsche Juden jeder Couleur auseinandersetzen mussten. Zur Heterogenität der jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vgl. Faber (2005: 70ff.) und Wartoś-Szmigiero (2002: 333f.). 207 Einen besonderen Akzent auf die differenzierte Subjekt- und Objektposition im Schreibakt von Gefangenen legt Sigrid Weigel (1982: 18) in ihrer Arbeit über Gefängnisliteratur zwischen 1750 und 1933.

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Kommunismus in der DDR soll im Folgenden die ihnen zugrunde liegende Dynamik untersucht werden. Identität, so legt Marion Gymnich (2003: 31f.) mit Rückgriff auf Hans-Peter Frey und Karl Haußer nahe, ist keineswegs als individuelle Eigenschaft im Sinne eines dauerhaften Besitzes zu begreifen. Es handelt sich vielmehr um ein Phänomen, in dem auf komplexe Weise eine Innen- und eine Außenperspektive, individuelle Introspektion und gesellschaftliche Interaktion spannungsvoll ineinandergreifen. Diese Verzahnung erweist sich für das identitätssuchende Subjekt als ein über die Zeit hochgradig instabiler Balanceakt. In Paul Ricoeurs Darstellung von Identitätsbildung als narrativem Mechanismus wurde dafür der sinnvolle Begriff der „narrativen Identität“ im Gegensatz zur illusorischen „abstrakten Identität des Selben“ eingeführt.208 Der diaristische Schreibprozess wird durch eine nicht auf ein kohärentes Narrativ hinstrebende alltägliche Aufzeichnungspraxis gekennzeichnet. Im Unterschied zum autobiographischen Narrativ, das die Vergangenheit eigenen Lebens linear und logisch von der Gegenwart her betrachtet, ist für eine Auseinandersetzung mit der mobilen Identität in den Tagebüchern Klemperers vielmehr das von Ricoeur in seiner Theorie der narrativen Identität dargestellte Begriffspaar „Ipseität“ (ipse) und „Gleichheit“ (idem) angebracht (vgl. Ricoeur 1987: 57; Ricoeur 1996: 173206).209 Die idem-Identität impliziert die Behauptung von zeitlicher Permanenz als Annahme eines unveränderlichen, sich selbst gleich bleibenden Kerns der Persönlichkeit. Die Ipse-Identität im Gegensatz dazu kann und muss diese Annahme eines derartigen Kerns der Persönlichkeit nicht teilen.210 Auf das Tagebuch übertragen ließe sich sagen, dass sich das Subjekt in der diaristischen Schrift konstituiert „wie Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens.“ (Ricoeur 1991: 396) Das diaristische Ich ist keine fixe Größe, die im Text gespeichert ist, sondern soll als Fertigkeit im Alltag erworben werden; die Bildung des Selbst ist ein Entwicklungsprozess und wird als einheitliche Identität erst in den einzelnen Tage208 Pierre Bourdieu warnt vor diesem Hintergrund auf ähnliche Weise vor der „biographischen Illusion“, die der narrativen Disposition zugrundeliegt, welche generell dazu tendiert, eine Lebensgeschichte als geradlinigen, teleologischen Weg zu verstehen. Der Eigenname als Institution garantiere für die bezeichneten Individuen eine „Konstanz durch den Namen“ (Bourdieu 1990: 78), eine von der Sozialordnung erforderte Identität mit sich selbst. Diese aus Raum und Zeit herausgenommene Konstanz sei indessen eine Illusion: „Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindungen als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht, ist beinahe genauso absurd wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen.“ (ebd.: 80) 209 Für eine eingehendere Erwägung der narrativen Identität bei Paul Ricoeur vgl. Streib (1994: 183f.). 210 Im dritten Band von Zeit und Erzählung – Die erzählte Zeit – beschreibt Paul Ricoeur (1991: 396) den Begriff der Ipseität folgendermaßen: „Vom Selbst lässt sich [...] sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. [...] Die Ipseität ist [...] diejenige eines Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat.“

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bucheinträgen hervorgebracht. In der Beschäftigung mit Klemperers Tagebüchern wird deutlich, dass die Identität des Diaristen keine überzeitliche Kontinuität aufweisen kann. Die Ipseität des Diaristen, die im Tagebuch deutlich hervortritt, verdankt sich einem hermeneutischen Prozess reflektierender Selbstbetrachtung und -erkenntnis, aus dem ein Selbst hervorgeht, dem als wesentliches Merkmal Zeitlichkeit eigen ist (vgl. Streib 1994: 183). Angesichts der Judenverfolgung in der NS-Diktatur behauptet Klemperer, er sei „innerlich endgiltig verändert“ (ZAI: 430 [9.10.1938]), und betont vor diesem Hintergrund „[s]einen veränderten Standpunkt zum Ganzen“ (A 138: 928 [23.8.1943]). Klemperers ipse-Identität wandelt sich demnach andauernd unter Einfluss der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der lebensbedrohlichen Erniedrigung der Judenverfolgung, sie unterliegt gewaltigen emotionalen Schwankungen zwischen einem idealisierten Deutschtum und einem als von außen aufgezwungen empfundenen Judentum. Im Tagebuch tritt tatsächlich eine fragile Ipseität an die Stelle eines stabilen, mit sich selbst identischen Ich: Das Tagebuch zeichnet das sich in der Zeit verändernde diaristische Ich auf. Der Zeitraum des Dritten Reiches lässt sich als eine von Brüchen gekennzeichnete, diskontinuierliche Zeit verstehen, die dem Leser deutlich die Unsicherheit, die labile Gemütslage und das andauernde Schwanken Klemperers zwischen Deutschtum und Judentum vor Augen führt. Auf allgemeiner Ebene rückt Susanne zur Nieden die Identitätswidersprüche in der Diaristik aus der NS-Zeit in den Vordergrund: Unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Orientierungen gingen Lebensziele und Einschätzungen immer auch an den gesellschaftlichen Orientierungen vorbei und über sie hinaus. Scheinbar unvereinbare Gedanken und Gefühle konnten in den Tagebüchern nebeneinander stehen, ohne daß die Schreibenden dies selbst zu bemerken schienen. (zur Nieden 1993: 72)

Das Trauma des Nationalsozialismus und die ständige Todesangst führen zu einer Auflösung der bisher von Klemperer als unverrückbar betrachteten SelbstIdentität, die nunmehr im Tagebuch tagtäglich neu gesetzt wird. Diese diachrone Wandelbarkeit des Selbst kann adäquat mit Kategorien der narrativen Psychologie erfasst werden. Diese geht nämlich davon aus, dass wir unser ganzes Leben sowie unsere Beziehung zur Welt als Narrationen gestalten und auch die alltägliche Interaktion und die Organisation von Erlebtem narrativ betreiben (vgl. Polkinghorne 1998: 32). Der Ansatz einer narrativen Identität erweist sich als geeignet, um am Beispiel Klemperers die subjektive Konstruktion von Identitätsprojekten einerseits und ihre soziale Vermittlung andererseits zu analysieren. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass das Subjekt, sich und seine Erfahrungen erzählend, in Geschichten organisiert. Hervorzuheben ist, dass es sich dabei um Geschichten (im Plural) handelt, da die Lebensgeschichte keineswegs ein stabiles Konstrukt ist, sondern ein laufendes Projekt. Die transitorische Identität, der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse, wie Straub und Renn ihn nahelegen, verweist auf „die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen [...] Identität.“ (Renn und

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Straub 2002: 13) Die Erfahrung des Verlustes eines einheitlichen Selbstbildes sucht Klemperer in seinen Tagebüchern zu bewältigen, indem er seine Identität angesichts des Antisemitismus und der politischen Ereignisse neu reflektiert. Diese persönliche Identität könnte man als die vorläufige Identifikation des Subjekts mit einem bestimmten Narrativ bezeichnen, das die Beziehung des Selbst zu seiner Umwelt reflektiert.211 Das Tagebuch ist vor diesem Hintergrund kein „absoluter Raum, in dem die Schrift als ontologische Stätte einer Offenbarung, Geburtsort von Einzigartigkeit, oder Monument der Selbstpräsenz fungiert.“ (Regard 2000: 23) In der Gattung zeigt sich die diachrone Wandelbarkeit des Selbst (vgl. Laouyen 2004: 142). Demnach ist Identität nicht als stabil zu begreifen, sondern als ein höchst fluktuierender Zustand, der immer abhängig von persönlichen Anlagen und gesellschaftlicher Sozialisation ist. Bei Identitätsentwicklung handelt es sich somit um einen Konstruktionsprozess, der grundsätzlich nie zu einem Abschluss kommt. Das Selbstverständnis einer Person wird prinzipiell durch Kontingenz gekennzeichnet, und dieser unterliegt das Individuum zeitlebens: „Die Antwort auf die Frage, wer eine Person ist, wird zuerst zur Veränderung der Frage, die nun lautet, als wen sich die Person selbst entwirft, dann zur Reflexion dieser Frageform im Begriff z.B. einer ‚Identität im Übergang‘.“ (Renn und Straub 2002: 24)212 Die schriftliche Selbstkonstitution in den Tagebüchern erweist sich vor diesem Hintergrund als prekäres Grenzphänomen, dessen Zwischenstellung nie ein für allemal verfestigt werden kann, sondern aus einer ständigen Abgrenzungsarbeit von Selbst und diskursiver Ordnung besteht.213 Die Instabilität der Ich-Identität, 211 Trotz der fragmentierenden Ordnung des Tagebuchs ist es keineswegs so, dass sich das diaristische Ich im Alltag metareflexiv als gleichmäßig fragmentiertes Individuum auffasst. In der ReLektüre des eigenen Tagebuchs kann der Diarist im Nachhinein die Wandelbarkeit des eigenen Selbst beobachten. In Klemperers täglichen Eintragungen sucht der Tagebuchschreiber sich als Individuum wiederherzustellen: Jeder einzelne Eintrag, der eine narrative Miniatur darstellt, zeugt von dem Willen, sich selbst zu verstehen und sich tagtäglich als einheitliches Individuum, das im Totalitarismus entmenschlicht wird, zu behaupten. Das Diarium unterminiert nicht den Einheitsgedanken des Subjekts, sondern rückt seine Fragilität in den Vordergrund. Jacques Le Rider (2002: 19) hält dazu fest: „Das Tagebuch ist der Ort der Bestätigung und der Vertiefung des Gefühls der Identität, des Bildes von sich selbst, der Repräsentation und der Entwicklung von sich selbst, des Gefühls der Kontinuität [...] oder das der Diskontinuität des Selbst.“ Die Erzeugung von autobiographischer Kontinuität stellt eine psychische Notwendigkeit für jedes Individuum dar. Identität umfasst Formen und Prozesse der individuellen Herstellung von Kohärenz über die Zeit hinweg. Kohärenz ist das Band, das eine Person zusammenhält, auch wenn sie sich in unterschiedlichen Kontexten grundsätzlich unterschiedlich wahrnehmen und definieren kann. Sie ist das Band, das eine sich über die Zeit verändernde Person zusammenhält (vgl. Behringer 1998: 15; Echterhoff und Straub 2004: 171). 212 Diese Konzeption vom ständig im Werden begriffenen Subjekt kommt keineswegs einer postmodernen Negation des Subjekts gleich, ganz im Gegenteil: Die Auffassung eines sich ständig wandelnden und neu schaffenden Subjekts im Tagebuch ist der These von dessen Tod im Diskursgewirr diametral entgegengesetzt (vgl. Erbertz 2000: 57). 213 In diesem Kontext hebt Klemperer die Gefahr der ubiquitären Politisierung der Sprache durch die nationalsozialistische Ideologie hervor: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (LTI: 27) Der Autor versucht, entgegen dieser Tendenz, sich der

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die auch in Klemperers Tagebüchern prägnant hervortritt, ist „als eine Erfahrung der Relativität und Veränderung, des Bruchs unveränderlicher Gesetze“ (Regard 2000: 18) zu betrachten. Das Tagebuch – ähnlich dem Bildungsroman – ist demnach die topographische Aufzeichnung der wechselvollen Reise innerhalb des Selbst. Klemperer weist auf die subjektivitätsfördernde Performativität der autobiographischen Schrift hin, wie beispielsweise in der nachfolgenden Notiz aus dem Jahr 1941: „Der Bleistift hat mich wirklich von Grund auf verändert.“ (ZAI: 641 [23.6.-1.7.1941]; vgl. ebd.: 638 [23.6.-1.7.1941]) Die auffällige Häufung räumlicher Begriffe und Metaphern in Klemperers Sprechen über das Tagebuch lässt vermuten, dass es ihm als Refugium der schriftlichen Selbstmitteilung galt (vgl. z.B. ZAII: 182 [26.7.1942]): Er eignet sich durch den Schreibakt die ihm entfremdete Wirklichkeit bzw. den ihm verbotenen Handlungsraum wieder an. Für eine Erörterung von Victor Klemperers komplexem Selbstverständnis als Deutscher jüdischer Herkunft ist es unentbehrlich, in den Brennpunkt zu rücken, dass der Diarist zur Zeit des Tagebuchführens im Dritten Reich bereits „drei ganz verschiedene Atmosphären kennengelernt“ hatte (ZAII: 482 [6.2.1944]), die alle auf bestimmte Art und Weise Einfluss auf sein Leben und seine Identitätsfindung genommen haben: das Wilhelminische Kaiserreich und dessen Aufhebung durch den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, in der die Versuche, eine stabile Demokratie zu gründen, gescheitert waren und schließlich das Dritte Reich selbst. Um nun der Frage nachzugehen, welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als wiederkehrendes Thema in den Tagebüchern einnahm, sollen im Folgenden Kontinuitäten und Brüche seines nationalen, religiösen und politischen Selbstverständnisses aufgezeigt werden, das im Zeitraum des Dritten Reiches einer Extrembelastung ausgesetzt war. Dabei soll plausibel gemacht werden, dass Identität stets relational bedingt ist und sich Selbst- und Fremdwahrnehmung spiegelbildlich zueinander verhalten.214 Diesen Prozess einer sich verändernden Persönlichkeit gilt es anhand von Klemperers diaristischen Selbstreflexionen zu analysieren. Um die Grundlage von Klemperers Selbstverständnis im Dritten Reich zu klären, soll zunächst eine Genealogie seiner Assimilation im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit rekonstruiert werden, in deren Rahmen der emanzipierende Bildungsgedanke eine zentrale Stellung einnahm. 3.2.1.3 Bildung, Moderne und Judentum Dem Bildungsideal des assimilierten deutschen Judentums kam vor dem Dritten Reich geradezu die Bedeutung einer „Ersatzreligion“ zu (Wehler 1995: 732).215 rassischen Klassifizierungsmacht des NS-Diskurses zu entziehen, indem er seine nationale Identität gegen die antisemitische Eugenik und den Sozialdarwinismus des Nationalsozialismus in Schutz nimmt: „Über die Zugehörigkeit der Nation entscheidet weniger das Blut als die Sprache.“ (ZAII: 322 [28.1.1943]) 214 Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit der Frage der sozialen Relationalität der Selbstidentität des Ich in Ego-Dokumenten vgl. Fulbrook und Rublack (2010: 264ff.). 215 Die schulische bzw. akademische Bildung füllte in gewissen säkularen assimilierten Familien den Verlust religiöser Traditionen auf, wie Klemperer beispielsweise in Bezug auf die gottes-

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Die Bildungsidee wurde im Judentum nach der Emanzipation des 19. Jahrhunderts grundlegend als Schlüssel zur Integration bzw. Assimilation in die Gesellschaft betrachtet.216 Unter den aufstrebenden deutschen Juden herrschte die Ansicht, dass berufliche Anerkennung eine notwendige Bedingung für die Assimilation bedeutete und dass nur erfolgreichen bzw. gebildeten Juden Eintritt in die ehrbare deutsche Gesellschaft gewährt würde (vgl. Karady 1999: 142; Volkov 2000: 185).217 Diese Bildung, die die Teilhabe an der Emanzipation und dem „Allgemein-Menschlichen“ ermöglichen sollte, manifestierte sich in „leidenschaftliche[n] Äußerungen des Pazifismus und humanen Internationalismus.“ (ZAII: 592 [25.9.1944])218 Das humane Antlitz der jüdischen Geistesgeschichte, die in Politik, Philosophie und Literatur ihren Ausdruck findet, gründet in diesem universalistischen Emanzipationsbestreben: „Hunderte Jahre lang haben nichtjüdische Juden ihre Hoffnungen auf Emanzipation mit dem Kampf für die allgemein menschliche Befreiung verbunden.“ (Claussen 1988: 19; vgl. Mendes-Flohr 2004: 20) Vor diesem Hintergrund stellte Klemperer fest: „Die Juden haben ein elftes Gebot; es ist das einzige, das sie niemals übertreten, es ist die Ursache ihrer sämtlichen Erfolge u. ihrer sämtlichen Leiden. Es heißt: ‚Dein Sohn soll mehr lernen als du.‘“ (SSI: 226 [10.4.1946]) Die Betrachtung des Juden als Inbegriff der abstrakten und unpersönlichen Moderne durchzieht seit dem 19. Jahrhundert die abendländische Kultur. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Integration und kulturellen Assimilation wurden die deutschen Juden zum Symbol der urbanen und industriellen Moderne, die vielfach als Verlust traditioneller Werte und Ergebnis einer anonymen, entmenschlichten und fragmentierten Welt erlebt wurde. Im Unterschied zur „Tradienstähnliche, rituelle Feier für das Abitur der Kinder der befreundeten Dembers nahelegt: „Etwas bei Dembers Fest am 15. III. berührte mich stark. Das Abitur der beiden Kinder (Junge u. Mädchen) wurde wie eine Barmitzwa behandelt. [...] Die jüdische Familie. Der Rückhalt, zugleich die Transposition: Einsegnung des Jungen zu Abitur von Junge u. Mädchen.“ (LSII: 633 [3.4.1930]) 216 Victor Klemperer bestätigte in seinen Notizen das Stereotyp des hochgebildeten Juden und staunte dementsprechend über die „Dummheit“ – eine pauschalisierende Aussage über die damalige politische Situation – einer jüdischen Frau: „Ich berichtete von der Judenmutter an unserem Tisch. Sie tat etwas, was ich nie einem Juden zugetraut hätte: eine unverschämte Dummheit.“ (LSI: 481 [12.8.1921]) Nachher entschuldigte sich der Diarist bei den betroffenen nichtjüdischen Personen wegen „der Unvorsichtigkeit“ des Ausgesagten (ebd.). In einer Notiz aus dem Jahre 1942 hebt Klemperer in diesem Zusammenhang ebenfalls die überdurchschnittliche „mittlere Intelligenz“ der Juden hervor: „Genies sind überall selten u. Ausnahme. Die mittlere Intelligenz aber ist bei den Juden fraglos enorm hochgezüchtet.“ (A 138: 655 [4.8.1942]) 217 Zur Bedeutung von Bildung und Kultur als einem spezifisch deutschen Deutungsmuster vgl. vor allem Bollenbeck (1996). 218 Viele akkulturierte Juden im Kaiserreich – ungeachtet ihrer Herkunft – hegten die Hoffnung, durch Bildung und ihre bezeugte Liebe zu Deutschland, zur deutschen Sprache und zu den klassischen deutschen Kulturgütern die ihnen angemessene Aufnahme in der Gesellschaft zu finden. Jule Sebba, ein Freund der Klemperers, der von russisch-jüdischen Eltern abstammte, sei vor diesem Hintergrund, so der Diarist, „in seiner ganzen Bildung und Lebensführung Deutscher.“ (ZAI: 38 [9.7.1933])

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ditionalität“ des polnischen Judentums, repräsentierten Peter Gay zufolge die deutschen Juden „das Moderne“: „[D]er jüdische Deutsche [...] ist zugleich Deutscher und ‚Moderner‘, ein Symbol [...] der tiefen und oft traumatischen Veränderungen, die die abendländische Kultur zu der gemacht haben, was sie heute ist; er ist eine Metapher für Modernität.“ (Gay 1986: 9) Das emanzipierte Judentum stellte das Gegenteil der vormodernen, organischen Gemeinschaft dar und wurde mithin zu einer abstrakten Kategorie, zu einer Metapher der modernen Welt schlechthin verdichtet, die mit ökonomischer Rationalität und demokratischem Universalismus assoziiert wurde. Für viele Deutsche entsprach die Aufteilung zwischen „Arier“ und „Jude“ dem Konflikt zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Diese Dichotomie kommt in einem umfassenden binären Schema zum Tragen, das Codes umfasst wie ›Boden/Entwurzelung‹, ›Land/Stadt‹, ›Aristokratie/Bourgeoisie‹, ›Volk/Masse‹, ›Nationalismus/Kosmopolitismus‹, ›Weisheit/Intellektualismus‹, ›Metaphysik/Rationalismus‹.219 Der humanistische Bildungsglaube des deutschen Judentums kam in dem universalistischen Bestreben zum Tragen, durch moralische und intellektuelle Selbstentfaltung sämtliche Unterschiede hinsichtlich Nationalität oder Religion überwinden zu können. Dieses Bildungsideal war als identitätsstiftendes Moment grundlegend für das jüdische Selbstverständnis nach der Emanzipation von 1871. Vor allem in der Weimarer Republik, einer polarisierten Zeit, die durch Nationalismus und antagonistische politische Strömungen gekennzeichnet war, orientierten sich viele deutsche Juden an liberal-humanistischen Werten, den progressiven Kräften der Vernunft, der Rationalisierung des Irrationalen, der Vorrangigkeit von Kultur, der Liebe zu Wahrheit, von kritischem Geist und Selbstentwicklung (vgl. Aschheim 1996: 32f.; Buber 1935: 488). Victor Klemperer vertrat vor diesem Hintergrund einen – zuweilen vielleicht naiven – Bildungsoptimismus, der beispielsweise in seiner Darstellung der geplanten Volksschullehrerausbildung an der TH Dresden deutlich zum Ausdruck kommt: „Wenn wir ihnen [=den Volksschullehrern, A.S.] wirkliche Bildung geben, werden sie wirklich frei, harmonisiert. Ihr Freiheitsverlangen wird Verantwortlichkeitsgefühl. So dienen wir dem neuen Werk dem Volk.“ (LSI: 813 [29.5.1924])220 Klemperer rang um 219 „Der Jude“ tritt im Antisemitismus – je nach Kontext – immer als Gegensatz zum Selbst auf: Leo Pinsker rückte bereits im 19. Jahrhundert den gängigen Manichäismus zwischen „Jude“ und „Nichtjude“ in den Mittelpunkt: „Für den Lebenden ist der Jude ein toter Mann, für die Einheimischen ein Fremder und ein Landstreicher, für Vermögende ein Bettler, für die Armen und Ausgebeuteten ein Millionär, für Patrioten ein Mann ohne Land und für sämtliche Klassen ein verhaßter Konkurrent.“ (Pinsker zit. n. Mosse 1978: 172) Der Antisemitismus war eine Reaktion auf die mit der Moderne einhergehende Judenemanzipation. In der Überformung von christlichem Antijudaismus mit neuen „rassenwissenschaftlichen Einsichten“ wurde die Assimilation der Juden für unmöglich erklärt. Das binäre System weist hierbei offensichtliche Widersprüchlichkeiten auf, die die jüdische Bevölkerung als Sündenbock für Angriffe aus allen Bereichen von Politik und Gesellschaft hochgradig verletzlich machten: „Der Jude“ ist gleichzeitig Kapitalist und Kommunist, Industrieller und Bettler, körperlich schwächlich und politisch allmächtig. 220 Auch in der SBZ/DDR wirkte der humanistische Bildungsoptimismus fort (vgl. Frommer 1997: 57), den Klemperer mit dem Marxismus zu versöhnen suchte. Der Diarist wollte sich –

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die exklusive Zugehörigkeit zur deutschen Nation und hob emphatisch die Notwendigkeit der geistigen Orientierung an der deutschen Hochsprache221 und am deutschen Bildungskanon222 hervor, und so unterstreicht der Tagebuchautor auch im Hinblick auf das Selbstverständnis der deutschen Juden: „[U]nsere Geistigkeit ist deutsch und nicht palästinensisch.“ (CVI: 549) Auf ähnliche Weise betonte auch Ludwig Geiger, der reformiert-jüdische Gründer des Goethe-Jahrbuchs, seine Zugehörigkeit zur deutschen Sprache, Kultur und Nation in der Kaiserzeit: „[D]er deutsche Jude spricht nicht nur deutsch, er ist ein Deutscher in seiner Anschauung, Empfindung und seiner ganzen Bildung. Die jüdischen Kinder besuchen deutsche Schulen, sie werden gebildet in deutscher Literatur, Kunst und Musik.“ (Geiger 1983 [1905]: 155) Die assimilierten bzw. assimilierungswilligen jüdischen Intellektuellen identifizierten sich fast vollständig mit der deutschen Kultur, vor allem mit literarischen Größen wie Goethe (vgl. Bahr 2001). Der jüdischen Bildung kam auch im Dritten Reich, wie Fabius Schach 1936 in der liberalen Jüdischen Allgemeinen Zeitung schreibt, weiterhin eine wichtige Stellung zu. Sie sollte vor diesem Hintergrund im besten humanistisch sein, keinem anderen Zweck als der inneren Bereicherung dienen. [...] [L]ernen aus Liebe zur Wahrheit, ist der ideale Ausdruck des Talmud für wahres Herzensstudium, für Vereinigung von Kultur und Ethik, und man weiß, mit welcher Begeisterung, ja mit welcher Inbrunst Schiller und Goethe, Plato und Kant im Ghetto studiert wurden. (Schach 1936: 1)

Auch in der CV-Zeitung wurden die jüdischen Leser im Dritten Reich weiter dazu angehalten, sich unentwegt an den deutschen humanistischen Bildungsgrößen teils aus politischen, teils aus opportunistischen Gründen – als „freischwebender Intellektueller“ (Mannheim) für den Marxismus einsetzen: „Ich will der KPD begreiflich machen, daß ich in ihrem Interesse Humanismus und Nichtpolitik ins Centrum stellen möchte. Ich will Antigone an den Arbeiter heranbringen, ich will im Centrum unpraktisch sein.“ (US: 207 [14.12.1945]) In einem unpublizierten Referatsentwurf mit dem Titel „Die Intelligenz im Kampf um die Demokratie“ unterstreicht Klemperer auf vergleichbare Weise das kritische Potential der Intellektuellen: „Intelligenz ist kritisch, sie meckert, sie ist weniger leicht zu fangen und zu verführen als Dummheit und Unwissenheit.“ (A 742 [1.6.1946]) Das Selbstverständnis als kritischer Intellektueller steht in schroffem Gegensatz zur Anbiederung der deutschen Intelligenz mit dem NS-Regime. Dass Bildung nicht zwangsläufig vor ideologischer Schwärmerei schützt, rückt der Diarist mehrmals in den Mittelpunkt seiner Notizen (vgl. z.B. A 138: 835 [5.4.1943]; ebd.: 1011 [2.2.1944]; ebd.: 1373 [1.3.1945]). 221 Klemperers Bemerkungen zur jüdischen Volkssprache, die er durchgängig als „Jargon“ (ZAII: 381 [22.5.1943]; ebd.: 440 [30.9.1943]; ebd.: 604 [16.10.1944]) bezeichnet, zeigen, dass der Philologe den Grundannahmen des assimilierten deutschen Judentums verhaftet blieb. Das Jiddische sei partikular und im Grunde nicht gesellschaftsfähig. Der jüdische „Jargon“, unter dem er vergröbernd alle Varianten vom reinen Ostjiddischen bis zum östlich gefärbten Akzent verstand, sei eine „Verzerrung der deutschen Sprache“ und höre sich „rauh und häßlich“ an. Andererseits aber betont der Diarist im positiven Sinne, dass diese Sprache „die durch Jahrhunderte bewahrte Anhänglichkeit der Juden an Deutschland ausdrückt.“ (LTI: 105) Für eine Erörterung von Klemperers Haltung zur jiddischen Sprache vgl. Althaus (2001: 25ff.). 222 Vor diesem Hintergrund orientierten sich assimilierte, deutsche Juden am geltenden deutschen Bildungskanon. Es mag daher kaum verwundern, dass deutsch-jüdische Wissenschaftler eine wichtige Rolle in der Goetheforschung oder im Neokantianismus spielten (vgl. Sieg 2001: 94).

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zu orientieren, wie es als tröstlicher Zuspruch in einem Artikel vom Januar 1935 unter dem Titel „Menschliche Freiheit – die Grundlage jedes Staates. Denkt an Kant und Schiller!“ vielsagend zum Ausdruck gebracht wird (vgl. B.W. 1935: 2).223 Die humanistischen Bildungsideen aus dem frühen 19. Jahrhundert basierten auf der Auffassung einer „neutralen“ Gesellschaft als einem kulturellen und daher sozialen Raum, in dem religiöse oder ethnische Zugehörigkeit als irrelevant in Bezug auf die für den Beruf benötigten Qualifikationen betrachtet wurde. Die offenen Sozialstrukturen, denen das ursprüngliche Bildungsethos entsprang, wurden allmählich von nationalen Erwägungen eingegrenzt. Dank der Emanzipation hatten die Juden das Bürgerrecht erhalten, blieben aber von der genealogisch festgelegten Volkszugehörigkeit ausgeschlossen (vgl. Traverso 1993: 8; 34). Im Hinblick auf die jüdische Emanzipation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hält der Diarist im Jahre 1937 kritisch fest: „Man möchte so gerne untertauchen im Deutsch- und Christentum, fühlt sich bildungsmäßig deutsch, sieht sich aber 223 Die Orientierung am deutschen Kulturkanon stellte ein Wesensmerkmal des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums dar. Gegen diese Betonung der deutschen Kulturwerte entstand jüdischerseits jedoch eine kulturelle Oppositionsbewegung: Vor allem der Kulturzionismus plädierte dafür, den Blick erneut auf das Hebräische, das Jiddische und die spezifisch jüdische Kulturtradition zu lenken. Der Hauptunterschied zwischen Theodor Herzls politischem Zionismus und Hachad Ha’ams Kulturzionismus bestand letztlich darin, dass, während für den ersteren das Scheitern der Assimilation die größte Enttäuschung darstellte, der andere den Standpunkt vertrat, dass die Assimilation aufgrund der möglichen Desintegrierung der jüdischen Bevölkerung und der vollständigen Auflösung in das Deutschtum eine reelle Gefahr für die jüdische Kultur bedeutete. Um dem Verlust der kulturellen Eigenheit entgegenzutreten, sollte deshalb in Palästina ein geistiges Zentrum zur Erneuerung der jüdischen Kultur gebildet werden, und nicht einfach – wie in Herzls Zionismus – eine jüdische politische Struktur. Zum Kulturzionismus, zu dessen wichtigsten Vertretern auch Martin Buber zählte, vgl. Lamping (1998: 63ff.) und Mittelmann (2004: 62f.). Zwei wichtige Momente in der Kulturzionismus-Debatte im Bereich der deutschen Literatur waren Moritz Goldsteins Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnaß“ (1912) und Gustav Krojankers Band Juden in der deutschen Literatur (1922). Goldsteins Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnaß“ aus dem Jahre 1912 löste eine wichtige Debatte um den Ort der Juden in der deutschen Kultur aus. In dieser Diskussion wurde die Frage gestellt, ob die Assimilation als erfolgreich oder nicht bezeichnet werden sollte. Goldstein propagierte – gegen die Überbetonung des deutschen Kulturerbes – die Pflege nationaler jüdischer Kultur: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht.“ (Goldstein 1912: 283) Der Autor plädierte für eine Orientierung an jüdischen Themenbereichen, weil die Assimilation und die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung bloße Chimären seien: „Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – Wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch.“ (ebd.: 286) Gustav Krojanker gab 1922 den Band Juden in der deutschen Literatur – mit Beiträgen von u.a. Max Brod, Martin Buber und Arnold Zweig – heraus (vgl. Krojanker 1922a). Krojanker hob an der deutschjüdischen Literatur das spezifisch Jüdische hervor und bezeichnete sie somit als „jüdische Literatur“. Im Vorwort erklärt der Herausgeber, „den Juden innerhalb des deutschen Kulturkreises als eine Sondererscheinung zu sehen.“ (Krojanker 1922b: 7) Der von Krojanker herausgegebene Band wurde von Klemperer äußerst negativ rezipiert: Die kulturzionistische Tendenz des Buches habe ihn „zum Kotzen“ (A 138: 797 [12.2.1943] bzw. „zur Verzweiflung gebracht.“ (ZAII: 320 [28.1.1943]) Für weitere Textstellen, aus denen Klemperers Abneigung gegen Krojanker hervorgeht, vgl. A 138: 799 [14.2.1943]; ebd.: 801 [17.2.1943]; ebd.: 805 [22.2.1943].

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doch zurückgestoßen.“ (ZAI: 383 [27.10.1937]) Die deutschen Juden sahen sich in dieser Dynamik als Inbegriff der Wurzellosigkeit, des Internationalen, Überzeitlichen und Universalen hilflos zurückgelassen (vgl. Mendes-Flohr 2004: 24f.). Diese Entwicklung brachte natürlich auch folgenschwere Implikationen für die deutsch-jüdische Identität mit sich: Während deutsche Juden Bildung als kulturelle und soziale Grundlage ihrer nationalen Identität betrachteten, prägte die Deutschen eine Identität als Volksnation, die auf eine gemeinsame ethnische Genealogie und ein gemeinsames kollektives Gedächtnis zurückging, an denen die Juden de facto nicht partizipieren konnten (vgl. ebd.: 35f.). Wie Zygmunt Bauman vor diesem Hintergrund hervorhebt, bildeten die assimilierten Juden eine ambivalente „Nicht-Kategorie“, die sich zwischen allen Stühlen befand: Die Akkulturation gliederte die Juden nicht in die deutsche Gesellschaft ein, sondern transformierte sie in eine abgesonderte, ambivalente und inkongruente NichtKategorie, die Kategorie der ‚assimilierten Juden‘, die sich von der traditionellen jüdischen Gemeinschaft ebensosehr unterschieden, wie von den einheimischen deutschen Eliten. (Bauman 1992: 154f.)

Angesichts dieses unbequemen Nicht-Ortes der kulturellen Ambivalenz und sozialen Inkongruenz suchte sich der Diarist Klemperer an den identitätsbildenden Sicherheiten von deutscher Bildung und deutscher Kultur zu orientieren, die vor dem Dritten Reich in Wirklichkeit bereits hochgradig kontingent und unbestimmt geworden waren. Beruhigende bzw. beschwörende Selbstadressierungen wie die folgende sind in den Tagebüchern Legion: „Ich war in Deutschland geboren, ich hatte nichts anderes eingeatmet als deutsche Luft, als deutsche Geistigkeit; ich konnte nichts anderes sein als Deutscher.“ (CVII: 484)224 Klemperers Tagebücher zeichnen demnach den graduellen Verfallsprozess des Begriffs „Bildung“ und deren stufenweise Enthumanisierung und Nationalisierung durch die Gleichschaltung der Universitäten auf. Klemperer zeigte sich vor diesem Hintergrund über den „Verrat der Intellektuellen“225 am humanistischen Bildungsideal und an ihrer entsprechenden gesellschaftlichen Aufgabe besonders enttäuscht und 224 Klemperer bewahrte sich bis tief in die NS-Zeit die Illusion, die geleistete Bildungsarbeit mache eine Person wahrhaftig zum Teil der Nation (vgl. ZAI: 383 [27.10.1937]). Dementsprechend bezeichnet sich der Tagebuchautor sogar noch im Jahre 1945 als einen „seiner Erziehung, Bildung und Empfindung nach wirklich deutsche[n] Sternjude[n].“ (ZAII: 638 [14.1.1945]) Vor diesem Hintergrund betont Hadwig Klemperer im Hinblick auf das soziale Selbstbewusstsein des Philologen: „[W]as die Menschen wirklich trennt ist nicht die Sprache, ist nicht die Konfession, bloß der Bildungsunterschied.“ (Reuter 2002: 376) 225 Verwiesen wird hier auf Julien Bendas erstmals 1929 erschienenes Buch Der Verrat der Intellektuellen (1978), in dem der Autor als Aufgabe der Intellektuellen die Verteidigung klassischer, interessefreier Werte wie Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit betont. Ihr Verrat hingegen bestehe in deren freiwilliger Instrumentalisierung für partikulare ideologische Zwecke, wie beispielsweise für die pseudowissenschaftliche nationalsozialistische Rassenlehre. Die Gleichschaltung der Wissenschaft bzw. Wissenschaftler kommentiert der Diarist beispielsweise in ZAI: 13 [21.3.1933]; ebd.: 34 [30.6.1933]; ebd.: 47 [10.8.1933]; ebd.: 63 [23.10.1933]; ebd.: 86 [7.2.1934]; ebd.: 178 [16.1.1935]; ebd.: 365 [28.6.1937]; ebd.: 378 [12.9.1937]. Zu Klemperers kritischer Darstellung der regimetreuen Haltung der deutschen Intelligenz im Dritten Reich vgl. Stammen (2001: 290ff.).

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empört (vgl. ZAI: 198f. [7.5.1935]; ebd.: 296 [16.8.1936]; ebd.: 326 [31.12. 1936]; LTI: 285f.).226 Es grenzt an bittere Ironie des Schicksals, dass gerade die Juden, die sich als Pioniere und Vertreter der deutschen Kultur in Osteuropa verstanden, der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer fielen. Die einschneidende, identitätserschütternde Bedeutung der antisemitischen Politik im Dritten Reich für Victor Klemperer kann wohl kaum nachvollziehbar gemacht werden, ohne die Identitätsentwicklung des Diaristen im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu untersuchen. Im Akt des autobiographischen Schreibens, so soll im Folgenden verdeutlicht werden, zeigt sich, in welchem Ausmaß das schreibende Ich sich selbst als assimilierten deutschen Juden in der Gesellschaft zu verorten suchte und sich jeden Tag sukzessiv narrativ konstruierte. Eine kritische Auswertung von Klemperers persönlichen Aufzeichnungen ermöglicht darüber hinaus sinnvolle Anknüpfungen an die Kulturgeschichte des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 3.2.1.4 Assimilation I: Wilhelminisches Kaiserreich Klemperer tritt im Curriculum Vitae als artikulationsfähiger deutsch-jüdischer Intellektueller in Erscheinung, der sich durchaus der bürgerlichen Bildungstradition verpflichtet fühlt. Das Reformjudentum des Vaters, das Heranwachsen in der Metropole Berlin, die Vorbildwirkung und das Drängen seiner älteren Brüder hatten erheblichen Einfluss auf Victor Kemperers Verbürgerlichung, die er in seiner Autobiographie lebhaft nachzeichnet.227 Die Kindheit und Jugend Victor Klemperers in einem jüdischen familiären Umfeld prägten in erheblichem Maße seine spätere Einstellung zu Deutschtum und Judentum.228 Sowohl die Familienstruktur wie auch das Wertesystem zeigen eine tiefe Verwurzelung im assimilierten deutschen Judentum (vgl. Buhles 2003: 268). Wie stark diese Assimilation fortgeschritten war, konkretisiert sich mustergültig an Victor Klemperers Vater Wilhelm, der anfangs Rabbiner in Landsberg an der Warthe war. Wilhelm Klemperer war ein liberal-bürgerlicher Nationalist, der sich zutiefst befriedigt über den Ausgang der Einigungskriege 1866/1870 und den Sieg über Frankreich zeigte. Ursprünglich aus Böhmen stammend, wo er in Prag das Gymnasium besuchte, später in Breslau das Rabbinerseminar bezog und dort promovierte, be-

226 Auf ähnliche Weise notiert die deutsch-jüdische Ärztin Hertha Nathorff (1988: 39 [14.4. 1933]) desillusioniert in ihrem Tagebuch: „Die Hetzreden des Herrn Goebbels übersteigen alles, was an Hetze und Verlogenheit bisher da war, und das Volk hört es an und schweigt – und vor allem, die führenden Ärzte, die prominenten Professoren, was tun sie für ihre verratenen Kollegen?“ 227 Für detailliertere Erörterungen bzw. Rezensionen von Klemperers Curriculum Vitae vgl. Christmann (1993), Fischer (1990) und Misch (2001). 228 Für eine Erörterung von Klemperers Begriff des „Deutschtums“ und dessen Wandel über die Jahre hinweg vgl. Faber (1999: 51ff.), Misik (1997) und Wartoś-Szmigiero (2002).

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tonte der Rabbiner seine exklusive Zugehörigkeit zum Norddeutschen Bund: „[S]ein eigentliches Volk waren ihm eben die Deutschen, mit der deutschen Kultur vermochte sich keine andere zu messen, und der eigentliche Träger des Deutschtums war das Reich und nicht das wirre und buntscheckige Österreich.“ (CVI: 19)229 Das Schicksal der Glaubensgenossen im Osten, in den Schtetln, lag Wilhelm Klemperer unendlich fern. Der Rabbiner ließ sich darüber hinaus bedenkenlos „Prediger“ nennen, um der Vorrangigkeit seines Deutschtums Ausdruck zu verleihen: Offenbar sah man darin weder auf christlicher Seite eine Geheimniskrämerei noch auf jüdischer Seite einen Verrat. Es war einfach Ausdruck seines Willens zum Deutschtum. Er fühlte sich ganz als Deutscher, als Reichsdeutscher. [...] Er war liberal im Sinn des damals meistgelesenen Romanschriftstellers Friedrich Spielhagen, das heißt, indem er sich zum fortschrittlichen Bürgertum dem [...] Junkertum gegenüber bekannte, ohne sich über die harten, allzu materialistischen Probleme des Sozialpolitischen und Nationalökonomischen den Kopf zu zerbrechen. [...] Daß es eine Spannung zwischen seinem Deutschtum und seinem Judentum, seiner Pflicht als Rabbiner, geben könnte, darauf ist Vater [...] niemals verfallen. (ebd.: 17f.)

Die Annahme einer Stellung als zweiter Prediger in der äußerst liberalen230 Reformgemeinde in Berlin im Jahr 1891 bedeutete für die Familie eine wesentliche Zäsur. In dieser Gemeinde fand „der Wille zum Deutschtum seinen radikalsten Ausdruck.“ (ebd.: 41) Den Emanzipationswillen bemerkt der junge Victor, damals gut neun Jahre alt, auch bei seiner Mutter: Henriette Klemperer tätigte ihren Einkauf nach dem Erhalt des Telegramms, in dem ihr Ehemann ihr die Nachricht übermittelte, dass die Familie nach Berlin umsiedeln würde, nicht länger in der koscheren Metzgerei Bukofzer in Bromberg, sondern besuchte in aller Heimlichkeit einen Schlächterladen ohne hebräische Aufschrift: Am Spätnachmittag des Telegrammtages nun [...] gingen wir nicht wie sonst zu Bukofzer, sondern in eine fremde Straße, in einen fremden Schlächterladen ohne hebräische Buchstaben. Mutter sah sich vorsichtig um, ehe sie eintrat, sie verlangte mit etwas gezwungener Haltung, etwas erregter, deutlich beherrschter Stimme ‚gemischten Aufschnitt, von jeder Sorte ein bißchen‘, sie ging stolz und eilig hinaus. [...] Es schmeckte kaum anders, weder besser noch schlechter als die gewohnte Wurst. Aber Mutter nahm den Bissen mit einer gewissen Verklärtheit in den

229 Victor Klemperer, der von seinem preußischen Deutschtum schwärmt, hegte vor diesem Hintergrund – genauso wie sein Vater – eine klare Abneigung gegen das „exotische“ Österreich, wie er zum Beispiel im nachfolgenden Zitat anlässlich eines Besuches in Wien zu erkennen gibt: „Die österreichischen Offiziere [...] fand ich nicht märchenhaft fremdartig, sondern befremdlich, komisch und geradezu unwürdig. Ein Offizier mußte aussehen, wie er in Berlin aussah. Diese hier waren ‚Clowns in Affenjacken‘ und trugen ‚Schirmchen wie ein Affe auf einem Leierkasten‘.“ (CVI: 199) 230 Der Gottesdienst, so hält Klemperer in seinem Curriculum fest (vgl. ebd.: 41), wurde am Sonntag abgehalten, eine Orgel spielte zum deutschen Chorgesang, Mädchen und Jungen wurden mit fünfzehn oder sechzehn gemeinsam am Ostersonntag eingesegnet, die jüdischen Speisegesetze entfielen, und ebenso wenig galt das Fahr- und Schreibverbot am Schabbat. Der jüdische Kult wurde demzufolge fast aller identitätsbildenden Rituale entledigt.

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Mund. ‚Das essen die andern‘ sagte sie, ‚und das dürfen wir nun auch essen.‘ (ebd.: 44)231

Wie stark das Assimilationsbestreben der Familie war, kommt auch in der Erziehung der Söhne Georg, Berthold und Felix zum Tragen, die mit expliziter Billigung des Vaters zur evangelischen Kirche übertreten.232 Auch Victor Klemperer wurde zur Konvertierung gedrängt, weil dies den – zwar nie abgeleisteten – Militärdienst erleichtern sollte233 und eine unabdingbare Voraussetzung für die akademische Karriere eines Juden im Kaiserreich war. Eine Universitätskarriere wurde vom Vater und von den Brüdern stark forciert, da eine solche in sozialer Hinsicht „das große Los“ für die Familie Klemperer (ebd.: 187) darstellte.234 Ausschlaggebend für den beruflichen Erfolg jüdischer Nachwuchswissenschaftler war deren Förderung durch angesehene christliche Professoren, die dem Leistungsprinzip einen hohen Stellenwert beimaßen (vgl. Sieg 2001: 80), wie dies zum Beispiel bei Karl Vossler, bei dem sich Klemperer 1914 mit einer romanistischen Arbeit über Montesquieu habilitiert hatte, der Fall war. Die Möglichkeiten, an einer Universität angestellt zu werden, standen angesichts der wenigen Stellen und der antisemitischen Vorbehalte schlecht (vgl. ebd.: 78). Die wenigen etablierten jüdischen Wissenschaftler hatten überdies erheblich länger auf eine Festanstellung als ihre christlichen Kollegen gewartet. Die Assimilation durch die Taufe,235 so erhofften sich viele Juden in der Wilhelminischen Periode, sollte ihnen – in Heinrich Heines Worten – ermöglichen, ein „Entréebillet zur europäi231 In einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1927 erinnert sich der Diarist an dieses einschneidende Erlebnis, das dem jungen Victor Klemperer Eintritt in die nichtjüdische Gesellschaft gewährte: „Etwas von dem Schauer dieser Handlung ging wahrhaftig in meine Kinderseele über. Bald 40 Jahre wird das her sein – immer ist mir das Höchste gewesen: ins Deutschtum näher herüberzukommen. Dieses Stück Schinken hat [...] dazu Grundlagen geholfen.“ (LSII: 361 [6.8.1927]) 232 Trotz des Assimilationswillens des Vaters, der auch für seine Söhne eine assimilierte, protestantische Zukunft vorgesehen hatte, zeigte sich der Rabbiner als ein zwischen zwei Polen zerrissener Mann: „Für die strenggläubigen Juden blieb Vater ja unter allen Umständen ein Abtrünniger. Und innerhalb der Reformgemeinde gab es sehr viele, die auf einen Ausgleich zwischen Christentum und Judentum den größten Wert legten.“ (CVI: 119) Dieser Spannung zwischen jüdischem Glauben und vollkommener Assimilation war der Rabbiner bis zu seinem Lebensende ausgesetzt. 233 Nach den Plänen der älteren Brüder sollte Klemperer Reserveoffizier in der preußischen Armee werden (vgl. CVI: 349), weil diese Position ein wichtiges und der Familie noch fehlendes Statussymbol dargestellt hätte, dem in der preußischen Gesellschaft außerordentlich hohes Ansehen zukam. Klaus Vondung (1976: 31) weist darauf hin, dass das Wilhelminische Bildungsbürgertum über den Rang des Reserveoffiziers gegebenenfalls institutionelle Annäherung an den Adel finden konnte. 234 Zum sozialen Druck der Geschwister Berthold und Georg auf Victor Klemperers private und berufliche Lebensgestaltung vgl. Margraf-Buhles (2005: 197ff.). 235 Nach Marion Kaplan (2003: 320) konvertierten zwischen 1871 und 1919 etwa 23 000 Juden in der Hoffnung auf berufliches Vorankommen. Es handelte sich um eine relativ kleine Minderheit, deren Taufe von jüdischer Seite oft als eine Feigheit bezeichnet wurde. Die Konversion stellte nach Walther Rathenau in „Höre Israel!“, trotz seines Aufrufs zur totalen Angleichung an die deutschen Sprach- und Umgangsformen, ein unangemessenes Mittel zur Anpassung dar, weil sie lediglich einen „Antisemitismus gegen Getaufte“ verursachen und die Bildung einer jüdischen Oberschicht verhindern würde (Rathenau 1897: 457).

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schen Kultur“ zu erwerben (Heine 1972: 706). Diese Emanzipation war an den Prozess der Eindeutschung gebunden und stellte für Victor Klemperer das ultimative Ziel dar. Der Tagebuchschreibende empfand daher eine Hervorhebung des jüdischen „Partikularismus“ und die Abgrenzung vom Deutschtum als hochgradig entwürdigend und entblößend. Er gab folglich dem brüderlichen Druck nach und trat 1903 zum Protestantismus über, um endgültig ein „ganz normaler Deutscher“ zu werden. Vor diesem Hintergrund sagt er sich nach seiner Taufe sichtlich erleichtert: „Nun hast du eine ‚anständige Konfession‘, [...] nun bist du wirklich ‚ins Allgemeine‘ getaucht.“ (CVI: 352; vgl. ebd.: 369) Der Protestantismus war für Klemperer ein integraler Bestandteil des Deutschtums, des „Allgemeinen“ und die Taufe somit die logische und pragmatische Vorbedingung. So schrieb der Tagebuchautor: „Konfessionen betrachtete ich als Kleider, die man nach Orts- und Zeitsitte trug: Judentum war eine alte und undeutsche Tracht.“ (ebd.: 113) Die Taufe sollte die letzte zu überwindende Barriere auf dem Weg zum Aufstieg und Erfolg des jungen Klemperer sein. Dieser Konfessionswechsel war ihm 1903 aber „recht widerwärtig“ (ebd.), weil er nicht an das christliche Dogma glaubte und der Übertritt ihm im Grunde opportunistisch dünkte. Die Bereitschaft der jüdischen Gemeinschaft zur völligen Assimilation in der Kaiserzeit wird nicht nur durch die hohe Anzahl von Getauften dokumentiert, sondern ist auch durch die ständig zunehmenden Mischehen in dieser Ära belegt (vgl. Schütz 2000: 126). Ebenso wie seine Brüder Georg und Berthold unterstützten auch die Eltern für ihren jüngsten Sohn Victor das Prinzip der Assimilation durch Mischehe.236 Im Jahr 1906 machte er bei der Eheschließung mit der christlichen Eva Schlemmer seine Taufe rückgängig, weil er sich „im schroffen Gegensatz zum Strebertum“ seines Bruders Georg fühlte (CVII: 16).237 Die Rückkehr zum Judentum hatte für den Diaristen keineswegs 236 Die Haltung der Eltern gegenüber den Mischehen ihrer Söhne war dennoch zwiespältig. Victor Klemperers Mutter bereitete beispielsweise der christliche Namen der Frau des ältesten Sohnes Georg gewisse Schwierigkeiten: „Eigentümlich benahm sich Mutter. [...] [D]er allzu christliche Name der Schwiegertochter verursachte ihr Beschwerden, und sie versuchte es lange mit ‚Marie‘ oder ‚Mariechen‘, ehe sie sich an ‚Maria‘ gewöhnte.“ (CVI: 106) Marion Kaplan (2003: 337) nennt die Mischehe die „höchste Form der Eintracht“ zwischen Juden und Nichtjuden (im Original kursiv). Mischehen, so die Autorin, begannen oft sehr romantisch. Im Gegensatz zu bürgerlichen Eheschließungen, auf die die Eltern durch ihre Wahl der Ehepartner erheblich Einfluss nahmen, verliebten sich die Partner unterschiedlichen Glaubens ineinander, wie auch Victor Klemperer und Eva Schlemmer. Ihrer beider Familien wehrten sich gegen die Eheschließung. Evas Familie, verarmt, aber adeliger Herkunft, sträubte sich gegen Victors jüdische Abstammung. Seine Familie akzeptierte dagegen ohne Weiteres ihren Protestantismus, hätte aber für ihren Sohn eine reichere Frau gewünscht. Ihre auf Liebe gegründete Beziehung ließ Victor Klemperer letztlich den Holocaust überstehen. Vgl. zum Thema der Mischehe im Kaiserreich als Zeichen der vollständigen Assimilation Kaplan (2001a: 492-495). 237 Er gab als Glaube „mosaisch“ an, und von da an hat er grundsätzlich in „konfessioneller Bigamie“ gelebt (CVI: 405). Die faktische Annullierung der Konversion stellte einen jugendlichen Akt der Rebellion gegen seinen erfolgreichen ältesten Bruder dar: „Ich sah in Georg das eigentliche Familienoberhaupt, ich sah in ihm die Begriffe Familie, Bourgeoisie und Strebertum verkörpert, und so erweiterte sich meine Abneigung gegen ihn ins Prinzipielle.“ (ebd.: 369)

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religiöse Gründe, die auf eine emotionale Annäherung an den jüdischen Glauben hingedeutet hätten.238 Als er die Universitätswelt näher kennen lernte, hielt er es jedoch für angebracht, abermals überzutreten. Der Wunsch nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung ließen den atheistischen Philologen neuerlich die Taufe empfangen – weil ihm eine akademische Karriere mit dem Judentum unvereinbar erschien. Dem Priester gegenüber begründete Klemperer seine Motive, ein zweites Mal zum Protestantismus überzutreten, wie folgt: „Doch empfände ich das Christentum als ein wesentliches Element der deutschen Kultur, in die ich hineingeboren, der ich durch meine Bildung, meine Ehe, mein gesamtes Denken und Fühlen unlöslich verbunden sei. Dies sei das Motiv meines beabsichtigten Übertritts.“ (ebd.) Der Protestantismus, wie er von Lessing vertreten wurde,239 sei für ihn expressis verbis mit dem Deutschtum verknüpft.240 Die Taufe, die, so Gershom Scholem, meistens einer sozialen Motivation entsprang, bedeutete „eine Emanzipation nicht des Jüdischen, sondern vom Jüdischen, die damit beendet sein sollte“ (Scholem 1984: 244).

238 Sobald Klemperer bemerkte, dass er von jüdischer Seite zu sehr vereinnahmt wurde und man ihm die Orthodoxie oder den Zionismus näher bringen wollte, distanzierte er sich vom Judentum. Die Ambiguität gegenüber seinem Judentum kommt besonders hervorstechend in der Tatsache zum Ausdruck, dass er 1906 in seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller und Publizist einen Band mit übersetzten Talmud-Sprüchen veröffentlichte. Seine Publikation TalmudSprüche. Eine Kulturskizze wurde übrigens in einer Rezension in Ost und West, einer illustrierten Monatsschrift, die zum Ziel hatte, den assimilierten „Westjuden“ die Kulturleistungen der „Ostjuden“ näherzubringen, positiv rezipiert (vgl. N. 1906: 629ff.). Dieses positive Echo erscheint im Nachhinein besonders ironisch, da sich der Diarist zeitlebens als ein entschiedener Gegner des „unkultivierten“ Ostjudentums zeigte. Sein Interesse für hebräische Spruchweisheit findet sich auch in anderen – nicht veröffentlichten – Dokumenten aus den Jahren 1909 und 1910. Vgl. in diesem Zusammenhang A 826, A 826a und A 826b. 239 Gotthold Ephraim Lessing gilt dem Diaristen zufolge als mustergültiges Vorbild für weltoffenes Deutschtum und Christentum, in denen sich Juden widerspruchslos wiederfinden könnten (vgl. CVII: 16). Genauso wie Klemperers nationales Zugehörigkeitsgefühl grundsätzlich auf die geistesgeschichtliche Kulturtradition Deutschlands zurückzuführen ist – er orientiert sich als Philologe an Ikonen wie Kant, Hegel, Goethe und Schiller –, so stehen auch die literarischen Werke Lessings stellvertretend für die Bibel im Mittelpunkt seiner Auffassung vom Protestantismus: „Lessings Protestantismus würde ich immer als das Reinste und Deutscheste lieben, wahrhaftig als meine eigene Konfession.“ (ebd.: 445) Nach dem Zweiten Weltkrieg traten die Klemperers aus der evangelischen Kirche aus, weil sie beide von Haltung und Gebaren der Kirche im Dritten Reich zutiefst enttäuscht waren (vgl. US: 96 [19.8.1945]; ebd.: 74 [30.7.1945]). Zur ikonischen Bedeutung Lessings für das deutsche Judentum vgl. Mayer (1975: 332-349) und Petuchowski (1982); im Hinblick auf die spezifische Bedeutung von Nathan der Weise für das deutsch-jüdische Selbstverständnis verweise ich den Leser vor allem auf Fischer (2000) und Wessels (1979: 305-353). 240 Die zweite Taufe bekam indes für den Tagebuchschreiber im Nachhinein einen besonders negativen Beigeschmack. Als er am darauffolgenden Sonntag die Messe besuchte, erschien er sich selbst als Verräter und Heuchler: Er fühlte sich „unter den Hörern wie verloren [...] und im Besitz meines neuen Taufscheins wie ein Betrüger.“ (CVII: 17) Bei den wenigen Kirchgängen, die Klemperer – vor allem während des Ersten Weltkriegs – unternehmen sollte, erging es ihm ähnlich. Er war sich bewusst, dass er seine jüdische Herkunft niemals vollkommen ablegen konnte. Für weitere Beispiele für Klemperers abgeklärte Haltung zum Christentum vgl. beispielsweise ebd.: 433 und ebd.: 445f.

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Sein ältester Bruder Georg, angesehener Chefarzt und geachteter Verfasser eines weitverbreiteten Medizin-Lehrbuches, der aber letztendlich aufgrund seiner Herkunft in Berlin doch nur den Rang eines Außerordentlichen Professors einnehmen konnte, versuchte bei allen nur möglichen Gelegenheiten, seine jüdischen Wurzeln zu verschleiern. Ein vielsagendes Beispiel: Der Lebenslauf, vorangestellt der medizinischen Dissertation seines sechzehn Jahre älteren Bruders, beginnt mit den Worten: „‚Ich bin als Sohn eines Landesgeistlichen geboren.‘“ (CVI: 41)241 Obschon der Diarist dies zunächst als karrieristische Heuchelei ansieht und kritisch vermerkt, diese Verheimlichung sei „eine Verschleierung des Judentums“ und lasse „Schlimmes erwarten“ (ebd.), so verschweigt auch er kurz nach dem Ersten Weltkrieg in einem Lebenslauf für eine Universitätsprofessur den Beruf und Glauben seines Vaters: „Dr. phil. Wilhelm Klemperer u. Confession evang.“ (LSI: 154 [22.7.1919])242 Dem sich nach öffentlicher Anerkennung sehnenden Romanist schien es besonders schwer zu fallen, günstige Gelegenheiten zu finden, seine jüdische Abstammung in einem nichtjüdischen Umfeld anzusprechen. Mit der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung hatte das Kaiserreich diese de jure gleichgestellt, so dass eine Person jüdischer Herkunft sich im Grunde entscheiden konnte bzw. musste, ob sie sich ausschließlich als Deutscher oder gegebenenfalls auch als Jude darstellen wollte (vgl. Rieker 1997: 24). De facto lief diese Entscheidung vielfach auf eine Wahl zwischen einer Existenz als Paria oder Parvenu hinaus.243 Als Einzelpersonen hatten Juden vielleicht die 241 Auf Georgs dringenden Wunsch wurde auch der jüdisch klingende Name seiner Schwester Recha eingedeutscht und in „Grete“ umgewandelt, was „für sie fast das Versprechen einer freieren Zukunft bedeutet[e].“ (CVI: 58) In den Notizen aus der Weimarer Zeit schreibt Klemperer, Georgs ältester Sohn Otto – später ein berühmter Orchesterdirigent– habe erst mit sechzehn Jahren erfahren, dass er jüdischer Herkunft sei. Otto Klemperer entwickelte daraufhin einen „seltsam heißen Philosemitismus.“ (LSI: 282 [21.4.1920]) 242 Kurz nach dem Ersten Weltkrieg verschwieg der Romanist gegenüber den nichtjüdischen Scherners das Rabbinat seines Vaters. Nach einem Gespräch mit einem jüdischen Ehepaar, das den Rabbiner Wilhelm Klemperer kannte, stellte der Tagebuchschreiber beunruhigt fest: „Wenn nun die Scherners dabei gesessen hätten? Denen ich meinen Vater mehrfach als Philologen bezeichnet habe u. die von meiner jüdischen Herkunft nichts ahnen?!“ (ebd.: 56 [24.1.1919]) Gut ein Jahr später setzte der Romanist Scherner letztendlich darüber in Kenntnis, dass er „aus jüdischem Hause stammte.“ (ebd.: 276 [15.4.1920]) 243 Der Parvenu, so merkt Hannah Arendt (1981: 209) in ihrer Arbeit über Rahel Varnhagen auf höchst kritische Weise an, sei, im Gegensatz zum Paria, „ein Scheindasein zu führen verurteilt, [da er] von allen Gegenständen einer nicht für ihn eingerichteten Welt nur wie im Maskeradenspiel Besitz ergreift. Maskiert ist er, maskiert erscheint folglich alles, was er berührt; versteckt sein wahres Sein, wenn er hinzutritt, er, dem aus jedem Loch sein altes Pariasein herausschaut.“ Der Begriff des „Paria“ hat bei Arendt keineswegs ausschließlich die Funktion, die objektive Lage eines aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen zu bezeichnen. Vielmehr kommt eine subjektive Bedeutung hinzu: die Entscheidung, die geltenden Regeln dieser Gesellschaft nicht anzuerkennen und damit kritische Distanz zur Geschichte und zum Prozess der Vergesellschaftung zu bewahren. Die Existenz des Paria konfrontiert uns damit, dass Identität und Legitimität weitgehend auf einem Verlust an Menschlichkeit fußen. Der Paria ruft in Erinnerung, dass Fremdheit besteht, die nicht schlichtweg in einer bequemen Synthese aufgelöst werden kann. Darum unterstreicht Arendt anhand von Rahel Varnhagens Biographie, dass Fremdheit eine Freiheit der Wahrnehmung jenseits der Ordnung von Geschichte und Identität bedeute: „‚Fremdsein ist

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Möglichkeit, integriert zu werden, was für die Gesamtheit jedoch aussichtslos blieb. Eine widerspruchslose Identitätsfindung als Deutscher oder Jude erwies sich insbesondere für nichtreligiöse Juden als sehr schwierig: „Die Grenze zwischen Judentum und dem, was jenseits der Grenze ist, geht mitten durch den nichtjüdischen Juden hindurch.“ (Claussen 1988: 15; vgl. Nipperdey 1993: 407) Die Überzeugung, sich durch Assimilation und eine Kombination von beruflichem Erfolg, sozialem Prestige und universeller humanistischer Ethik den Weg zur vollständigen Integration in die bürgerliche Gesellschaft ebnen zu können, stellte sich später als eine tragische Täuschung heraus (vgl. Rieker 1997: 25). Infolge der unaufhörlich und zunehmend thematisierten „Judenfrage“ musste sich der assimilierte Bildungsbürger Victor Klemperer immer wieder – wider Willen – mit seiner eigenen Andersheit auseinandersetzen; von seinem Judentum schien er sich trotz aller Assimilationsversuche und Deutschtümelei nicht befreien zu können. Wie er im nachfolgenden Curriculum-Passus selbstkritisch zu erkennen gibt, verschloss er in der Kaiserzeit die Augen vor seiner unauslöschlichen Fremdheit und dem „Judenproblem“ in der Gesellschaft: In der Oberprima bekam ich es zum erstenmal mit der Judenfrage, deren Vorhandensein ich vorher nur wenig gespürt hatte, ernsthaft zu tun. Von da an hat sie mich nie mehr losgelassen. (Ich prüfe mich, ob ich dies nicht bloß unter dem Druck der Gegenwart schreibe, ob ich nicht in Wahrheit auf sehr langen Wegstrecken meines Lebens von dem Judenproblem unberührt geblieben bin.) Nein. Die Wahrheit ist, daß ich von ihm nicht berührt sein wollte, daß ich mir vorschrieb: ‚Es existiert nicht für dich.‘ (CVI: 246)244

In seinem Bestreben nach vollständiger Assimilierung blieben Klemperer die angestrebte gesellschaftliche Identität und Anerkennung aufgrund der antisemitischen Voreingenommenheit und der unzulänglichen Gleichberechtigung verwehrt. Ihm haftete immer noch „Jüdisches“ an, und die Vorurteile der Gesellschaft, denen er weitgehendst gegengesteuert hatte, hatten sich nur in beschränktem Maße verringert. Wenn sich deutsche Juden jedoch über drohenden Antisemitismus besorgt zeigten, dann geschah dies meistens im Hinblick auf die Dreyfus-Affäre in Frankreich und die Pogrome in Osteuropa. Die zuweilen beleigut‘.“ (ebd.: 75). Für eingehendere Erwägungen zur jüdischen Identitätsfrage und zu den Begriffen „Paria“ und „Parvenu“ in Hannah Arendts Varnhagen-Biographie vgl. Nordmann (1987: 200ff.). 244 Der Antisemitismus wurde für Victor Klemperer auch in der Kaiserzeit nachgerade – bewusst oder unbewusst – ein Auslöser für Konflikte um die Konstruktion der Identität. Die energische Hervorhebung seines Deutschtums und die nachdrückliche Verneinung seiner jüdischen Herkunft sind erst vor der Folie des Antisemitismus konkret nachzuvollziehen. Die „Judenfrage“ konnte idealtypisch zweierlei nach sich ziehen: eine verstärkte jüdische Identität oder ein Beharren auf dem Deutschtum. Klemperer lernte vor dem Ersten Weltkrieg in Wien den Schriftsteller Richard Beer-Hofmann kennen (vgl. CVI: 526ff.). Bei Beer-Hofmann führten diese Identitätskonflikte zu einer Verfestigung und Betonung seines Nationaljudentums, während sie sich bei Klemperer, wie bereits unterstrichen, in Form eines übersteigerten Patriotismus niederschlugen. Zum Unterschied zwischen Beer-Hofmann und Klemperer in puncto Identität vgl. Rieker (1997: 30f.).

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digende Behandlung der Juden fand in einer Atmosphäre statt, die auf noch nicht bewältigte Relikte aus vergangenen Zeiten schließen ließ, die aber keineswegs als Menetekel wahrgenommen wurden, die Böses befürchten lassen mussten (vgl. Gay 1998: 304f.). Auch Klemperer betrachtete den Antisemitismus als Rudiment aus der Vergangenheit, dessen endgültiges Verschwinden die Juden durch ihre Assimilation herbeiführen sollten. In Bezug auf den fortgeschrittenen Assimilationsgrad vieler deutscher Juden merkt Hannah Arendt höchst kritisch an: „Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft [...] kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.“ (Arendt 1981: 208) Klemperer, der mit der jüdischen Geschichte und den Umständen der äußerst mühsamen und widersprüchlichen Emanzipation nur unzulänglich vertraut war, war fest davon überzeugt, dass seine eigene, individuelle Assimilation ihm die vollkommene Aufnahme ins Deutschtum erlauben würde. Um diese Integration zu erreichen, bedeutete die von Arendt besagte „Assimilation an den Antisemitismus“ für ihn eine ständige Verführung. Vor diesem Hintergrund mag im Hinblick auf seine Haltung gegenüber dem Judentum der psychologisch-soziologische Begriff des „Selbsthasses“ aufschlussreich sein. Der „jüdische Selbsthass“ (sensu Lessing 1930), den man bei Autoren wie Karl Kraus, Joseph Roth und eben auch Victor Klemperer vorfindet, deutet auf die Verheimlichung, Maskierung, Scham, Zurückweisung der jüdischen Herkunft hin, die zu dem Zweck erfolgen, mittels Assimilation „unsichtbar“ in der nichtjüdischen Gesellschaft aufzugehen. Der „jüdische Selbsthass“, der symbolisch auf andere Juden übertragen werden kann, birgt die Gefahr des jüdischen Antisemitismus in sich. Auch in Klemperers autobiographischen Notizen scheint sich gelegentlich eine Dynamik zu entwickeln, die bei ihm „antisemitische Gefühle“ hervorruft (CVII: 427; vgl. ebd.: 362). Zu diesem Schamgefühl gegenüber selbstbewussten oder ihm zufolge als solche klar erkennbaren Juden gesellen sich deutliche Abneigung, schroffe Stereotypisierung und harte Urteile (vgl. z.B. ebd.: 678). Wenn er hätte wählen müssen, so gesteht der Diarist ein, „so bedeutete mir das Deutschtum alles und das Judentum gar nichts.“ (ebd.: 16) Nach dem Besuch einer Talmudschule in Wilna am Ende des Ersten Weltkriegs bringt Klemperer seine Aversion gegenüber dem orthodoxen Judentum zum Ausdruck: Nein, ich gehörte nicht zu diesen Menschen, und wenn man mir hundertmal Blutsverwandtschaft mit ihnen nachwies. Ich gehörte nicht zu ihnen und wenn noch mein eigener Vater hier gelernt hätte. Ich gehörte nach Europa, nach Deutschland, ich war nichts als Deutscher, und ich dankte meinem Schöpfer, Deutscher zu sein. (ebd.: 687)

Klemperers Distanzierung vom Judentum stellte die Kehrseite des Selbstvertrauens dar, mit dem der Diarist seine deutsche Identität geltend machte. Den antisemitischen Vorkommnissen wurde weniger Bedeutung beigemessen als der idealisierten deutschen Kultur, in der er sich gänzlich zuhause fühlte. Victor Klempe-

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rer war der leidenschaftlichen Überzeugung, dass – zumindest in der Kaiserzeit – die vollständige Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft möglich gewesen war.245 Die vielbeschworene deutsch-jüdische Symbiose, die von Gershom Scholem (1970: 30) als irreelles Wunschbild, als nostalgischer „Mythos“ bezeichnet worden war,246 war für Klemperer greifbare Realität im Wilhelminischen Kaiserreich, das für ihn die erfolgreichste Periode deutsch-jüdischen Zusammenlebens nach der jüdischen Emanzipation darstellte: Vor der Stoeckerzeit hat es in Deutschland eine lange Periode gegeben, in der der Antisemitismus vielfach ein sehr geringer war. Es herrschte im allgemeinen eine ungleich stärkere Spannung etwa zwischen Fabrikanten und Arbeitern oder Bayern und Preußen als zwischen Juden und Christen. Und trat ein Jude zum Christentum über und betonte dadurch seinen Willen, nichts als Deutscher sein und innerhalb Deutschlands keine Sonderexistenz führen zu wollen, so stieß er für seine Person kaum noch auf Hindernisse, und sein Sohn fand bestimmt keine Schwierigkeiten mehr. (CVI: 17)247

In dieser Passage aus der Autobiographie, vermutlich im Jahre 1939 verfasst, spiegelt sich die Nostalgie einer von Klemperer verklärten Zeit wider.248 Die Welt 245 Für viele deutsche Juden im kaiserlichen Deutschland bestand keinerlei Widerspruch oder Spannung zwischen Deutsch- und Jude-Sein, wie beispielsweise Gustav Landauer (1983 [1913]: 162) kurz vor dem Ersten Weltkrieg bewegend zum Ausdruck bringt: „[M]ein Deutschtum und Judentum tun einander nichts leid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder einträchtig miteinander leben, wo sie sich berühren und auch, wo jeder für sich seinen Weg geht, so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres oder Sekundäres.“ 246 Wie spannungsvoll der Begriff der „deutsch-jüdischen Symbiose“ sogar für ihre Gegner war, betont Schalom Ben-Chorin (1992: 94f.), der in Bezug auf Scholem darauf hinweist, dass sich bei diesem Theorie und Existenz antagonistisch gegenüberstehen. Scholem selbst sei ein paradoxes Beispiel des deutsch-jüdischen Gesprächs: Er schrieb in deutscher und hebräischer Sprache, seine Wirkung war in den letzten Jahrzehnten seines Lebens in Deutschland nicht weniger groß als in Israel, ihm wurden die höchsten deutschen und israelischen Staatsauszeichnungen verliehen. Genauso wie Theodor Herzl verkörpert Gershom Scholem den Typus des von Kurt Blumenfeld geprägten „postassimilatorischen Juden“ bzw. des „Rückkehrjuden“ (Traverso 1993: 55), der, aus assimiliertem Elternhaus stammend, den Weg ins Judentum zurückfand und sich daraufhin für eine Heimkehr nach Erez Israel entschied. Shulamit Volkov (1999: 166180) verwendet für diese Tendenz zur Rückkehr von assimilierten Juden ins Judentum den Begriff „Dissimilation“. 247 Ulrich Sieg (2001: 87f.) macht in Ablehnung an Shulamit Volkov darauf aufmerksam, dass auch im Wissenschaftsbetrieb des Wilhelminischen Deutschland Juden nur mangelhaft integriert waren. Die Kluft zwischen akademischer Leistung und der Position an der deutschen Universität blieb für jüdische Akademiker gewaltig. 248 Beim Zusammenbruch der Monarchie zeigte sich, wie zerbrechlich die jüdische Emanzipation und das Gleichgewicht zwischen Juden und Nichtjuden gewesen waren. In der Weimarer Republik trat die Ausgrenzungs- und Diskriminierungsbereitschaft in einer politisch polarisierten Gesellschaft immer deutlicher in den Vordergrund. Wolfgang Benz (1991: 168ff.) rückt in diesem Kontext ins Licht, dass die biologisch-organische Metapher „Symbiose“ das Zusammenleben von zwei Lebewesen bezeichne, die im gegenseitigen Austausch zu gegenseitigem Nutzen lebensnotwendige Funktionen erfüllen. Die Tendenz zur kulturellen Assimilation in der Weimarer Republik verführe zu der Auffassung, es habe ein authentisches, egalitäres Modell existiert, in dem sich Juden und Nichtjuden auf der Grundlage der Gleichberechtigung treffen

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des Kaiserreiches fungierte für ihn als Positivbild der Gleichberechtigung. Bildung und Konfessionswechsel, die im Mittelpunkt von Klemperers eigener Lebensgeschichte standen, waren ihm Wertmaßstab für die Juden im Kaiserreich. Im zweiten Band seiner Autobiographie formuliert er zur Spannung zwischen Judentum und Deutschtum noch im Jahr 1912: „Kam [...] eine Wahl in Betracht, so bedeutete mir das Deutschtum alles und Judentum gar nichts.“ (CVII: 16) Die deutsch-jüdische Symbiose stellte für den Tagebuchschreibenden eine konkrete Wirklichkeit dar (vgl. Combe 2000), die für ihn ohne Weiteres mit der totalen Aufgabe der jüdischen Identitätsmerkmale einherging: „Sollte es wirklich einen Unterschied zwischen reindeutsch und jüdisch-deutsch geben, was ich von mir aus bestritt, dann gehörte ich meinem Wollen und Denken nach auf die reindeutsche Seite. [...] Ich fühlte mich nicht als Jude, nicht einmal als deutscher Jude, sondern als Deutscher schlechthin.“ (CVI: 248) Dennoch zeigt das Bedürfnis, ständig seine Zugehörigkeit zu Deutschland zu bekräftigen und in Szene zu setzen, dass diese Identität alles andere als problemlos war. Vor diesem Hintergrund bot der Erste Weltkrieg deutschen Juden die ultimative Möglichkeit, ihre Liebe zum Vaterland unter Beweis zu stellen und die volle Gleichberechtigung zu erstreiten (vgl. Benz 1991: 170; Traverso 1993: 42f.). Von vielen Intellektuellen – darunter auch Klemperer – als Moment der erneuten Versöhnung von Kultur und Technik aufgefasst, wurde der militärische Zusammenstoß als ästhetisches Phänomen, als einzigartiges, mannhaftes Zusammentreffen von Mensch und Natur verklärt. Für den Diaristen stellte der Krieg eine „Katharsis“ dar, die das Individuum gänzlich mit seiner Gemeinschaft verschmelzen lassen sollte: Ich habe schließlich in meiner Kriegssehnsucht doch nur den Drang nach dem Erleben des Außerordentlichen. Der Krieg ist höchste Sensation und einzige dem Kulturmenschen noch gebliebene Katharsis. Deshalb ist er von keiner Friedensgesellschaft auszurotten. Der Krieg, das große historische Ereignis, kann ganze Geschlechter unsterblich machen. Wer als Müller oder Schulze der 3333. untergeht, glaubt erhalten zu bleiben als ‚zur großen Generation gehörig, welche...‘ Krieg ist also Massensurrogat für den Einzelruhm. (CVII: 175)

Auf höchst kunstvolle Weise wurden in der Kriegsbegeisterung kultureller Antimodernismus und technische Modernität miteinander verzahnt (vgl. Traverso 2003: 140). Arnold Paucker (1986: 8) hebt diesbezüglich den widersprüchlichen Begeisterungstaumel des Kaiserreiches hervor, der Individuen, Klassen, Parteien und Religionen zu einem einheitlichen nationalen Kollektivakteur verschmolz: konnten. In Bereichen wie Armee oder Universität waren dem Zugang jüdischer Bürger – trotz Taufe – dennoch erhebliche Schranken gesetzt. Der bürgerliche Antisemitismus spielte vor diesem Hintergrund vielleicht eine wichtigere Rolle als der „Radau- und Pöbelantisemitismus der Völkischen und Nationalsozialisten“ (ebd.: 169). Die Geschwindigkeit, Virulenz und Akzeptanz, mit denen die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in der Anfangsphase des Dritten Reiches geschah, spreche gegen eine solche Konzeption deutsch-jüdischen Zusammenlebens. Zur Debatte der Bedeutung der deutsch-jüdischen Symbiose vgl. stellvertretend für viele andere kritische Untersuchungen Traverso (1993: 54-61) und Braese (2001: 429-445).

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„Zum letzten Mal mobilisierte das alte Machtsystem noch einmal alle Kräfte, Unterprivilegierte und Minderheiten wie die Juden kämpften in einer gemeinsamen Stimmung um den Erhalt.“ Die Kriegseuphorie erfasste auch das jüdische Bildungsbürgertum, das Humanismus, Universalismus und Bildung zugunsten rauschhaften Kampfes und romantisierter Gewaltsehnsucht über Nacht den Rükken kehrte.249 Als Wilhelm II. bei Ausbruch des Krieges sagte, es gebe keine Parteien, keine Konfessionen mehr, nur noch deutsche Brüder, so bezogen die deutschen Juden dies auf ihre eigene Lage: Sie erhofften sich von diesem Krieg die endgültige Integration in die deutsche Gesellschaft, und sie hatten allen Grund anzunehmen, dass sie damit Recht behalten sollten (vgl. Gay 1998: 311). Unter den Befürwortern des Ersten Weltkrieges waren verhältnismäßig viele Juden, die – überzeugt von der Überlegenheit der deutschen Kultur250 und von der Berechtigung des Kampfes gegen das zaristische Russland, das ihnen aufgrund seiner Judenverfolgungen ohnehin verhasst war – ihre emotionale bzw. nationale Zugehörigkeit zum Heimatland emphatisch zum Ausdruck bringen wollten (vgl. CVII: 286).251 Der romantische Kulturbegriff, für den die unentzweibare organische Identität von Deutschland und Individuum grundlegend ist, kommt in Julius Babs Gedichten über den Ersten Weltkrieg glasklar zum Tragen. Victor Klemperer, der Babs Gedichtband im August 1943 zur Kenntnis nahm, zeigte sich von dessen Liebeserklärung an Deutschland, die auch seine eigene hätte sein können, zutiefst bewegt: Bab überschreibt ein Gedicht ‚Deutschland 1914‘, das nächste ‚Deutschland –! (Nach fünf Jahren aber mals)‘, hier am Schluß das Datum ‚Weimar 1919‘. Beide Gedichte, voll leidenschaftlicher, verzweifelter Liebe zu Deutschland, beginnen mit der gleichen Strophe: ‚Und liebst Du Deutschland? Frage ohne Sinn! / Kann ich mein Haar, mein Blut, mich selber lieben? / Ist Liebe nicht noch Wagnis und Ge249 Für zusätzliche Informationen über die deutsch-jüdische Teilnahme am Ersten Weltkrieg vgl. Kaplan (2003: 341ff.). Die Autorin hebt hervor, dass die Anfangseuphorie der jüdischen Soldaten bald in Enttäuschung umschlug. Sie wurden gezählt, rubriziert und von den anderen Deutschen unterschieden. Sie bekamen unentwegt zu spüren, dass sie Außenseiter waren. Insbesondere als die militärischen Rückschläge sich häuften, machte sich eine immer judenfeindlichere Stimmung breit. 250 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte Klemperer 1914/1915 als Privatdozent der Universität München eine Lektorenstelle in Neapel inne. Seine Kriegsbegeisterung und sein Patriotismus irritierten unter anderem auch Benedetto Croce maßgeblich. In dessen Randbemerkungen eines Philosophen zum Weltkrieg bezeichnete er seinen Kollegen Klemperer als „Deutsche[n] im verwegensten Sinn des Wortes, […] das heißt unfähig, die Psychologie und die geistige Verfassung anderer Völker zu verstehen.“ (Croce zit. in CVI: 315) Für weitere Aussagen von Croce über Klemperers patriotisches Deutschtum vgl. beispielsweise dessen Brief vom 9. Januar 1915 an Karl Vossler, der in die Croce-Briefedition aufgenommen wurde (vgl. Croce und Vossler 1991: 193 [9.1.1915]). 251 Die Diskrepanz zwischen zunehmendem Antisemitismus (vgl. ebd.: 278; ebd.: 362) und jüdischem Kriegseinsatz beschäftigte den Diaristen in wachsendem Maße. Die gehegte Hoffnung auf Integration der Juden erwies sich als bittere Täuschung: „‚Wofür kämpfen sie [=die Juden, A.S.]?‘ [...] Wirklich und ganz einfach für ihr Vaterland? Oder für die Erlangung eines Vaterlandes? Oder weil es sie ‚sehr stark in ihrer Laufbahn fördern‘ wird? Und ich selber?“ (CVII: 316)

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winn?! / Viel wahllos tiefer bin ich mir verschrieben / Und diesem Land, das ich, ich selber bin.‘ Er führt aus, wie er ganz aus Deutschem gemacht ist: ‚Was wär ich, dürft ich nicht mehr Deutschland sein!‘ Im zweiten Gedicht: ‚Ich kann mit Gott nur eine Sprache sprechen! / Ich kann vor keinem andern Gotte knien!‘ – [...] [I]m Gefühl stimme ich hier ergriffen überein. (ZAII: 416 [8.8.1943])

Trotz des Kriegsengagements der deutschen Juden, das auf deren Seite zu 12 000 Toten führte, wurden die Hoffnungen auf vollständige Integration bald enttäuscht. Der Krieg machte offenkundig, dass die soziale Integration der deutschen Juden nie vollkommen realisiert worden war (vgl. Mosse 1978: 169f.; Richarz 1979: 58).252 Die Wilhelminische Gesellschaft mit ihrem wirtschaftlichen Wohlstand und ihrer relativen Stabilität fand in der Kriegsniederlage ihr endgültiges Ende. Nach dem Krieg wurde die deutsch-jüdische Bevölkerung als Repräsentanz eines abstrakten Universalismus zur Zielscheibe ihr feindlich gesinnter deutschnationaler Strömungen, die sie für die Kriegsniederlage und die darauffolgende Erniedrigung durch das Versailler Abkommen sowie auch für den Aufstieg des Kommunismus verantwortlich machte.253 Die zunehmende Orientierung des deutschen Bürgertums an antiliberalen Rechtsparteien stand der wiederum isolierten, am Liberalismus orientierten jüdischen Bevölkerung gegenüber. 3.2.1.5 Assimilation II: Weimarer Republik Um der Identitätsfrage in den Notizen des Dritten Reiches näher zu kommen, erweist sich indessen eine Auseinandersetzung mit dem sich zuspitzenden Problem der Assimilation in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen als unerlässlich:254 Die Lektüre dieser Notizen korrigiert sowohl das Bild einer vollständigen Assimilation als auch das Selbstverständnis des Diaristen als anerkanntes Mitglied der deutschen Kulturgemeinschaft. Klemperers Selbstverständnis als deutscher Jude war in der Weimarer Zeit besonders widersprüchlich. Sein Deutschtum erscheint in dieser Epoche nicht als realisiert, sondern als Wunsch, den es zu verwirklichen gilt (vgl. Traverso 1997a: 42). Aufgrund der Identitätsunsicherheit, so scheint es, schärft sich der Tagebuchschreiber seine Zugehörigkeit zur deutschen Kultur und seine Distanz zum Judentum unaufhörlich ein. Klemperer inszeniert sich dementsprechend als patriotischer Deutscher, um seine Differenz, sein unaufhebbares Anders-Sein zu exorzieren. Es wäre allerdings verfehlt, aus der bequemen retrospektiven Distanz die Weimarer Republik als schicksalhaftes und logisches Vorspiel zum Dritten Reich 252 In Gershom Scholems Aufsatz „Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930“ (1984: 229-261) geht der Autor der Bedeutung des Ersten Weltkrieges für das (veränderte) Selbstverständnis der deutschen Juden nach (vgl. ebd.: 249ff.). 253 In Bezug auf die brennende Frage: „Wie konnte es in Deutschland nur zu der Hitler-Diktatur kommen?“, schreibt der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun (1940: 5) in seinen Memoiren: „Ich kann immer nur antworten: Versailles und Moskau.“ 254 Für eine eingehende Analyse von Klemperers Krisendiskurs in der frühen Weimarer Zeit verweise ich den Leser auf Sepp (2006a).

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zu sehen, das die Voraussetzungen für den Holocaust bereits im Keim enthielt. Angesichts der Erfahrung des Traditionsbruchs und der Zersplitterung einer ehemals ganzheitlichen Wahrnehmung des Subjekts erscheinen Detlev Peukert (vgl. 1987: 11) die Jahre der Weimarer Republik als Krisenzeit der Klassischen Moderne. Die Instabilität des Jetzt in der europäischen Moderne255 und besonders im angespannten deutschen politischen Kontext von 1918-1932 prägte das zeitgenössische Wahrnehmungsmuster: Zwischen einer umschriebenen Vergangenheit und einer offenen Zukunft erschien die Gegenwart als der Übergangsaugenblick – von mitunter gar nicht wahrnehmbarer Kürze –, in dem die menschlichen Handlungen im Sinne einer Wahl zwischen verschiedenen möglichen Zukunftsszenarios stattfanden. Mit anderen Worten, die Gegenwart wurde als etwas erlebt, das sich ständig von der Vergangenheit fortbewegt und in die Zukunft eintritt. (Gumbrecht 2001: 457f.)

Ab November 1918 werden auch in Klemperers Notizen der Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreichs, die Revolutionswirren der Münchener Räterepublik, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen des Versailler Friedensvertrags voller Desillusion als nationale Niederlage und als Ursachen der aus seiner Sicht aus den Fugen geratenen und hochgradig kontingenten Zeit dargestellt. In der Krise spiegeln sich für Klemperer die traumatischen Erfahrungen der vergangenen Jahre wider: Zum einen repräsentiert sie den Verlust einer sicher geglaubten Ordnung, verbunden mit der tiefen Kränkung des deutschen Nationalbewusstseins, und zum anderen die unsichere politische Zukunft. Ob diese nun zugunsten des Parlamentarismus oder der Räte ausfallen sollte – sie würde auf jeden Fall mit einem Einflussverlust des Bürgertums verbunden sein. Die Kritik Klemperers an der Revolution richtet sich vorrangig gegen die antibürgerlichen Elemente: „Ich habe nach allem was ich sehe u. höre die Meinung, daß ganz Deutschland zum Teufel geht, wenn dieser Soldaten- und Arbeiter-Unrat, diese Dictatur der Sinnlosigkeit u. Ignoranz, nicht bald herausgefegt wird.“ (LSI: 8f. [24.11.1918]) Die Resonanz des gesellschaftlichen Umbruchs ist geradezu omnipräsent in Klemperers Tagebuch aus der frühen Weimarer Zeit. Klemperers Diskursposition in den Tagebüchern entspricht soziologisch weitgehend dem Habitus des assimilierten bzw. konvertierten deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums. Die Kombination von Erfolg, Prestige und patriotischer Zugehörigkeit zum „Deutschtum“ galt in Klemperers familiärem Umfeld als einziger Weg zur vollständigen Integration in die deutsche Nation. Die unsichere gesellschaftliche Lage nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg sah Klemperer folglich als mögliche Gefährdung seiner materiellen wie geistigen Grundlage. Er befürchtete, dass die Krise zur Schwächung des Bürgertums und zur Verunsicherung der 255 Rüdiger Graf (2005: 95) legt nahe, dass die Krise (der Moderne) keinesfalls nur ein rein deutsches Phänomen darstellte, obwohl sie in der Weimarer Republik vielleicht prägnanter spürbar war als sonstwo in Europa. Das Gefühl des Untergangs abendländischer Zivilisation wurde in verschiedenen Diskursen durch eine mangelhafte internationale Ordnung hervorgerufen. Klemperer notiert in diesem Rahmen Anfang 1920 in seinem Tagebuch: „Es gibt kein Europa mehr.“ (LSI: 219 [18.1.1920])

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deutsch-jüdischen Assimilierten führen würde: Er bangte um die eigene soziale Position.256 Die Angst vor dem Verlust materieller Privilegien verrät in Klemperers Eintragungen die Sicht der wertekonservativen Bourgeoisie, die gegenüber der neuen, kaiserlosen Republik Skepsis und Argwohn hegt. Gerade die als entgleister Notstand diagnostizierte offene Gegenwart zieht sich als roter Faden durch Klemperers Tagebuchnotizen aus der Frühphase der Weimarer Republik. Die unkalkulierbare Unvorhersehbarkeit der Krise und die Offenheit des Ausgangs werden in seinen Einträgen extensiv kommentiert bzw. kritisiert: „Nun, alles ist jetzt in Wirrnis u. Dunkelheit, alles ist möglich, nie hat es so chaotisch in Deutschland ausgesehen.“ (ebd.: 41 [31.12.1918]) In ähnlicher Weise heißt es Anfang 1920 etwa: „Wir sind so stumpf u. fatalistisch geworden et carpimus diem.“ (ebd.: 228 [4.2.1920])257 In Hinsicht auf die Wertungen Klemperers artikulieren sich im Textkorpus zwei divergierende soziale Perspektiven: Idealtypisch seien, so Rüdiger Graf, eine „konservativ-nationalistische“ und eine „sozialistische“ Krisendeutung voneinander abzusetzen. Das konservativ-nationalistische Deutungsmuster, wie Graf nahelegt, geht auf die internationalen Beschränkungen Deutschlands in Folge des verlorenen Kriegs und die daran anschließenden Bestimmungen des Versailler Vertrags zurück (vgl. Graf 2005: 92). Kulturellem Pessimismus und Larmoyanz gegenüber dem verlorenen Imperium und einem traditionellen bürgerlichen Wertesystem wird in den Referenztexten breiter Raum gewährt. Es herrschen düstere Prognosen vor: Wir tun noch alle so, als wären wir die alten – aber es ist nicht wahr. Man bemüht sich krampfhaft, an die alten Formen und Vorstellungen anzuknüpfen – sie entgleiten einem unter den Händen, sind brüchig geworden, passen nicht mehr und stimmen nicht mehr. Es ist da ein neues Berlin, das erschreckend schnell heraufund heranwächst, und niemand kann sagen, wie es aussehen wird. Es wird scheußlich aussehen. (Brieger und Steiner 1920: 78) Heute erlebt unsere Welt eine Erschütterung, von der der Krieg nur ein leises Vorzeichen war. (Gogarten 1967 [1920]: 101) In der allgemeinen Verkrüppelung Europas steht der Deutsche als heillosester Krüppel da. Niemand hätte zu denken gewagt, daß ein halbes Jahrhundert Gedeihen und Macht ihn so seinen größten Traditionen entfremden konnte. (Michel 1920: 21f.)

256 Für nähere Informationen zum jüdischen Krisenbewusstsein in der Weimarer Republik, besonders in den 1920er Jahren, sei der Leser vorrangig auf Liepach (2001) verwiesen. In diesem Aufsatz wird die Aufmerksamkeit auf die steigende Judenfeindlichkeit und die daraus resultierende jüdische Identitätskrise in der Weimarer Zeit gelenkt. Aufgrund der inflationsbedingten Notlage und des Zerfalls der bürgerlich-liberalen Parteien und ihrer für das jüdische Bürgertum konstitutiven Werte machte sich graduell Verunsicherung in der jüdischen Bevölkerung breit. 257 In einem Artikel in Leipziger Neueste Nachrichten, für die er als Journallist gelegentlich Beiträge verfasste, stellt Klemperer (1919: 3) nach der Ermordung des sozialistischen Politikers Kurt Eisner in München die absolute Unvorhersehbarkeit des Ausgangs der Krise fest: „Und das einzig Gewisse ist die Ungewißheit.“

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Dieser konservativ-nationalistischen Wertung folgt auch Victor Klemperer,258 der angesichts der Einflussnahme der Räterepublik 1919 einen quasi-apokalyptischen Endzustand prognostiziert: „Ich glaube nicht mehr an den Bestand der jetzigen Dinge, ich glaube an schwersten Umsturz u. Zusammenbruch in nächster Zeit. Ich hätte gar zu gern einen Titel, eine äußere Position hinübergerettet ins Chaos. Aber ich habe keine Hoffnung.“ (LSI: 140 [3.7.1919]) Im sozialistischen Krisendiskurs hingegen wird die Gegenwart in positivem Sinne als Fundamentalkrise interpretiert, als letzter krisenhafter Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Das Pathos, mit dem der Aktualitätswert des Krisenzustandes hervorgehoben wird, dient der Betonung darauf, dass der Ausgang von der eigenen Aktivität abhängen würde. Die nachfolgende Kurzsammlung von Zitaten, die im Hinblick auf die Erfahrung einer allgegenwärtigen Krise deren Manipulierbarkeit in den Mittelpunkt rücken, zeichnet sich durch Bilder optimistischer Zukunftsaneignungen aus, die den eigenen utopischen Plänen emphatischen Nachdruck verleihen.259 Der Dreh- und Angelpunkt dieser Textstellen ist der Topos der Erneuerbarkeit der Welt, die sich gleich dem Phönix aus der Asche der kapitalistischen Vorzeit erheben soll: Was nun? Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. (Bloch 1984 [1919]: 121) In eurer Hand/liegt die ganze Zukunft offen -/liegt unser Land./Blickt vorwärts! Und fester schließt die Reihn – -/Wir wollen freie Menschen sein -! (Tucholsky 1996 [1920]: 234) Wer [...] seinen Inhalt [=des Rätesystems, A.S.] tief durchlebt, der findet darin etwas von einer magischen Formel, welche die Lösung der ganzen verzweifelten Situation in sich trägt, die durch die letzte Katastrophe des Kapitalismus über die ganze zivilisierte Welt gebracht wurde. (Müller 1920: 7)

Obwohl der Krise in beiden Deutungsmustern breiter Raum gewidmet wird, wird dem Prozess der umfassenden Entgrenzungen und Überschreitungen in der frühen Weimarer Zeit also keinesfalls durchgängig mit Ängsten und Skepsis begegnet, sondern auch oft mit Hoffnungen und Zuversicht. Der Verlust an gesell258 Klemperers konservative Einstellung äußert sich beispielsweise in der ablehnenden Haltung gegenüber Revolution sowie auch Demokratie: „Ich habe eine solche Verachtung des Volkes in mir, einen solchen Ekel vor allem Volk überhaupt. Demokratie in jeder Form ist noch blöder als Despotie. Blöder ist nicht das rechte Wort: verlogener, gemeiner, dümmer, sinnloser, unberechtigter ...“ (LSI: 40 [30.12.1918]; vgl. ebd.: 754 [22.10.1923]; CVII: 375) Victor Klemperer blieb in der Anfangsphase der Weimarer Republik im patriotischen Sinne wehmütig der Monarchie der Kaiserzeit verhaftet, die ihm als die sinnvollste Verkörperung der deutschen Nation erschien (vgl. LSI: 433f. [20.4.1921]). Im Laufe der Weimarer Zeit trat der Diarist immer mehr für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein (vgl. ebd.: 983 [8.12.1924]), weil diese ihm als die beste – liberale – Alternative gegenüber den aufkommenden völkischen Tendenzen erschien. Im Jahre 1930 schloss sich die DDP mit dem „Jungdeutschen Orden“ zusammen und wurde daraufhin zur „Deutschen Staatspartei“ (DStP). Bis zum Ende der Weimarer Republik wählte Klemperer die Demokraten (vgl. LSII: [15.9.1930]; ebd.: 765 [13.11.1932]). 259 Zum Thema des Handlungsoptimismus im sozialistischen Deutungsmuster der Krise in der Weimarer Republik vgl. Graf (2005: 105f.).

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schaftlicher und kultureller Homogenität und traditionellen Werten nach 1918 wurde mit deutlichen Grenzziehungen beantwortet: hermetisch-ästhetizistische Kunst gegen unterhaltende, technisch reproduzierte Massenkunst, abstrakte Seinsphilosophie gegen das technologisierte Großstadtleben, der Diskurs des reinen Volksgeistes gegen die sich zunehmend internationalisierende moderne Welt, das Eintreten für Diktatur oder die Verfechtung der Demokratie. Das spannungsreiche diskursive Feld der Weimarer Zeit bildet sich so gerade aufgrund der Gleichzeitigkeit verschiedener Entgrenzungen und Grenzziehungen heraus. Dieses Phänomen der Simultaneität von technischem Fortschritt, Rationalität und psychologischer Modernitätsverweigerung wurde von Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit (1935) als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet. Versteht man unter Moderne allgemein die Kontingenz von Lebensentwürfen und Deutungsangeboten (vgl. Makropoulos 2005: 51), so wurde die Moderne durch das Fundamentalereignis des Ersten Weltkriegs und seine Folgen in Deutschland drastisch als Realitätszerfall und Erfahrungsentwertung erlebt. Die Krisenhaftigkeit der Weimarer Jahre bestand nicht in der Wahrnehmung eines Niedergangs, sondern in der plötzlichen Offenheit und Pluralität der Gegenwart, die in der Ambivalenz von Verlust und Erneuerbarkeit, wie in den angeführten Textbeispielen verdeutlicht, als tabula rasa erfahren wurde. Die autobiographische Gattung „Tagebuch“ reagierte auf spezifische Weise auf die Krisenphänomene der Klassischen Moderne, auf die Wahrnehmung der Flüchtigkeit und des Verschwindens unmittelbarer Erfahrung sowie der Beschleunigung und der Kontingenzsteigerung. Die Kultur wird auch in Klemperers Tagebucheinträgen nicht mehr als einheitliches Ganzes betrachtet, sondern zeigt sich in diffuse, im Modus des Alltäglichen aufgezeichnete Miniaturen aufgelöst, aus denen – mit Blick auf den Ausgang – ein tendenziell negativer Krisenbegriff hervorgeht. Im nachfolgenden Auszug aus Adolf Bartels’ Aufsatz „Der Kampf der Zeit“ (1920) in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes Deutsches Schrifttum findet sich ein ebenso negativer Krisenbegriff und dazu ein neuartiges Koordinatensystem, an dem sich auch Klemperer orientiert, nämlich die Gleichsetzung von Deutschtum und Konservatismus einerseits und Judentum und Internationalismus andererseits: Nach den Wortführern der Revolution hat diese der Monarchie und der mit ihr verbundenen Klassenherrschaft, dem alten Obrigkeitsstaat, ein Ende gemacht, und den Volksstaat, in dem der reine Demokratismus herrscht, begründet. Wir von der anderen [=deutschvölkischen, A.S.] Seite sehen die Dinge ein wenig anders: Nach unserer Anschauung hat mit der Revolution der Internationalismus über den Nationalismus gesiegt, oder, bestimmter ausgedrückt, das Judentum über das Deutschtum [...]. Mit dem Fall des Kaisertums [...] ist für uns der dem deutschen Volkstum entsprechende Staat zugrunde gegangen, was an seine Stelle getreten ist, ist durchaus kein deutscher Volksstaat, sondern ein kosmopolitisches Gebilde, das das deutsche Volkstum nur endgültig zugrunde richten kann. (Bartels 1920: 1)

Diese von dem konservativen jüdischen Bildungsbürger Klemperer als neu empfundenen Codes führen zu seiner generellen Verunsicherung, da er als zum Chri-

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stentum konvertierter Jude wider Willen den Linken zugeordnet sieht und sich demnach in einem ideologischen Niemandsland befindet: „Allmählich geht es mir auf, welch neues unüberwindliches Hindernis der Antisemitismus für mich bedeutet. Und ich bin Kriegsfreiwilliger gewesen! Nun sitze ich, getauft u. national, zwischen allen Stühlen ...“ (LSI: 187 [27.9.1919]) Klemperer, der sich selbst als konservativ und sogar „contrarevolutionär“ bezeichnete (ebd.: 24 [15.12. 1918]), erschien das Kaiserreich in nostalgischer Verklärung als „gute alte Zeit“.260 Eine Weile später schreibt er in diesem Zusammenhang: „Ich bin mit meinen Sympathieen [sic] nirgends; muß ich aber wählen, dann lieber doch die Räterepublik als die Herren Leutnants u. Antisemiten.“ (ebd.: 250 [20.3.1920]) Dieses grundlegende Dilemma verfolgte den Philologen bis ans Ende der Weimarer Zeit: Victor Klemperer war national gesinnt bis zum Chauvinismus, doch die gesellschaftlichen Kräfte, die den deutschen Nationalismus in der Öffentlichkeit vertraten, waren geradezu ausnahmslos antisemitisch geprägt und mit den intellektuell-liberalen Überzeugungen des Romanisten nicht in Einklang zu bringen (vgl. Kraiker 1998: 283f.). In diesem Zusammenhang gibt Klemperer resigniert zu erkennen: „Wäre nur Nationalismus nicht so wider- widerwärtig [sic] mit Antisemitismus verknüpft.“ (LSI: 610 [25.8.1922])261 Als Reaktion auf den Antisemitismus in der Weimarer Republik – und gewissermaßen bereits im Wilhelminischen Kaiserreich – boten sich, grob formuliert, drei grundsätzlich verschiedene Wege für deutsche Juden an: 1.) Assimilation und Patriotismus, bei manchen – wie beim konservativen Liberalen Klemperer – bis hin zur Konversion; 2.) Zionismus, der eine Staatsgründung in Palästina anstrebte, eine Vorstellung, die allerdings zu jener Zeit nur am Rande ausgeprägt 260 In diesem Zusammenhang schreibt Klemperer in einer Notiz vom April 1921: „Mir ist das Kaisertum eine Fahne, ich sehne mich nach der alten deutschen Macht, ich möchte unendlich gern noch einmal gegen Frankreich schlagen können. Aber in wie ekelhafter Gesellschaft ist man bei den Deutsch-Völkischen!“ (ebd.: 433 [20.4.1921]) 261 Der konservative Professor musste diesbezüglich zu seinem Bedauern feststellen, dass der dem Nationalismus anhaftende Antisemitismus ihn allmählich dazu veranlasste, seine rechtsliberalen Positionen aufzugeben: „Der Antisemitismus treibt mich immer mehr linkswärts.“ (LSI: 265f. [3.4.1922]) Der Philologe blieb in der Weimarer Republik aber stets der liberalen, gemäßigt konservativen DDP bzw. DStP treu. Seine emotionale Identifikation mit Deutschland, die gleichzeitig durch den Aufstieg der NSDAP erheblich beeinträchtigt wird, drückt der Philologe beim Anblick eines Zeppelins, der für die USA bestimmt war, folgendermaßen aus: „Ich bin so patriotisch wie je – aber mein Haß auf die Hakenkreuzler ist bitter u. mein Gefühl zwiespältig.“ (ebd.: 874 [29.9.1924]; vgl. ebd.: 433 [20.4.1921]) Graduell findet in der Gesellschaft eine Abkoppelung vom humanistischen Diskurs statt wodurch die Weimarer Republik in extremen Volksnationalismus stürzt, gegen den die kleineren liberalen Parteien, die vom jüdischen Bürgertum bevorzugt gewählt wurden, keine Alternative mehr boten: „Was wird in Deutschland werden? [...] [D]ie Freiheit ist nicht mehr das Losungswort der Jugend, sondern die ‚Ordnung‘. Fascismus [sic] überall. Die Schrecken des Krieges sind vergessen; der russische Terror treibt Europa in die Reaction. [...] Nationalismus erzeugt Nationalismus.“ (LSII: 49 [27.4.1925]) Klemperer, der Hitler vor 1925 kaum wahrgenommen hatte, schätzte die Gefahr, die von diesem ausging, noch nicht richtig ein und stellte die NSDAP auf dieselbe Stufe wie die Kommunisten: Er könne „dem Hitlermann [...] nicht böser als einem Communisten“ sein. Er befürchtet zu jenem Zeitpunkt sowohl eine kommunistische wie auch eine faschistische Diktatur: „[D]er Himmel mag uns vor beiden behüten.“ (ebd.: 86 [20.7.1925])

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war; und 3.) Sozialismus bzw. Kommunismus, die die Überzeugung vertraten, dass eine klassenlose Gesellschaft alle nationalen Fragen im Geiste des Internationalismus lösen würde, darunter eben auch die jüdische Frage (vgl. Bergmann 2006: 254). Aufgrund seiner konservativen, aristokratisch-bürgerlichen politischen Auffassungen verabscheute Klemperer jegliche linke Alternative, und sein emphatisches Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland ließ ihm den Zionismus gleichermaßen als Alptraum erscheinen. Klemperers Konservatismus und Assimilationswille boten ihm jedoch keinen Schutz vor dem Antisemitismus. der ihn zunehmend in eine Identitätskrise trieb. Der Nexus zwischen Gesellschaftskrise und Judenfeindlichkeit schlägt sich deutlich in seiner deutsch-jüdischen Identität und seinem Willen zum Deutschtum nieder. So heißt es etwa in einem Eintrag aus dem Jahr 1919: „Die antisemitische Sache hat mir den Rest gegeben. Sie verrammelt mir alles u. verbittert mich. Wenn ich bei politischen Gesprächen mich stelle, komme ich mir unsinnig vor. Aber links habe ich auch nichts zu suchen. Ich bin unmöglich u. wurzellos in Deutschland.“ (LSI: 188 [29.9.1919])262 Die Konjunktur antisemitischer Stereotypie ist – wie bereits betont wurde – der allgemeinen Krisenthematik zuzuordnen – wurde doch in sich häufenden pauschalisierenden Äußerungen der jüdischen Bevölkerung eine wesentliche Urheberrolle für die zeitgenössische defizitäre Lage Deutschlands zugeschrieben.263 Die Tendenz in Klemperers Aufzeichnungen, diese Krisenphänomene auf einen tiefer liegenden geistigen bzw. sittlichen Abstieg der deutschen Nation zurückzuführen, entspricht seiner resignativen und zum Schluss abgeklärten Haltung infolge der gescheiterten deutschen Großmachtaspirationen. Er hält indes an der „Idee“ von Deutschland als Kulturnation fest, aber der Antisemitismus bedeutet einen schweren Schlag für sein Selbstverständnis: „Deutschland ist nur noch als Idee zu lieben; als Gegenwärtiges ist es in allen Teilen gleich widerwärtig.“ (ebd.: 351 [3.9.1920]; vgl. ebd.: 565 [14.3. 1922])

262 Das konservative Deutungsmuster der Krisensituation, auf dem Klemperers Wahrnehmung der chaotischen Lage fußt, gerät durch den Antisemitismus ins Schwanken. In dieser Hinsicht merkt Klemperer an: „Meine Neigung nach rechts hat [...] durch den ständigen Antisemitismus sehr gelitten. Die jetzigen Staatsstreichleute sähe ich herzlich gern an die Wand gestellt, für die meineidige Reichswehr begeistere ich mich wahrhaftig nicht – aber für die ‚rechtmäßige‘ EbertRegierung eigentlich auch nicht, u. für die radikale Linke noch weniger. Sie sind mir alle zuwider. Wo verkörpert sich die demokratische, wo die deutsche, wo die humane Idee? Ich bin neutraler Zuschauer.“ (LSI: 245 [14.3.1920]) 263 Die jüdische Gemeinschaft nahm die antisemitische Stimmung in der Weimarer Republik auch eindeutig als Krise wahr. So heißt es bei Franz Klupsch (1920: 22): „Der Antisemitismus kann einer der Faktoren des Unterganges werden [...]. Die endgültige Beseitigung dieses rostigen Folterwerkzeuges aus der Marterkammer erledigter Zeiten wird ein Kulturwerk ersten Ranges sein.“ Klemperer gibt in diesem Kontext zu bedenken: „Es ist ein furchtbares Unglück u. zugleich geradezu komisch mit den Juden, die an allem Schuld haben: am Krieg u. an der Revolution. Den Nationalen die Landesverräter u. Bolschewisten [...], den Revolutionären ‚die Kapitalisten‘ u. Kriegmacher. Niemand sympathisiert mit ihnen, niemand nimmt sie als Deutsche hin.“ (LSI: 179 [16.9.1919]; Hervorhebung A.S.)

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Positiv in dieser instabilen Periode war für Klemperer seine Anstellung als Ordinarius für romanische Philologie an der TH Dresden im Jahre 1920. Die angestrebte Universitätskarriere bedeutete für ihn die endgültige Ankunft im Bildungsbürgertum und konsolidierte somit seine Assimilations- und Bildungsbestrebungen: „Das ist das Schöne an meiner Berufung: ich bin auf alle Fälle im Hafen, u. doch liegt alles vor mir, fange ich jetzt erst so recht eigentlich an. Es kann mir nichts Übles mehr geschehen, und noch viel Gutes – ich meine in sozialer, wissenschaftlicher, finanzieller Hinsicht.“ (ebd.: 206 [15.12.1919])264 Viele säkularisierte jüdische Deutsche zeichneten sich durch eine besondere Begeisterung und Teilnahmebereitschaft für den wissenschaftlichen Bereich aus. Anlässlich einer in Aussicht gestellten Prager Dozentur lockte Klemperer beispielsweise die Vorstellung, „deutscher Kulturträger“ zu werden, „dort wo meine Vorfahren im Ghetto gelebt, wo Vater u. Mutter die Schule besucht haben.“ (ebd.: 438 [3.5.1921])265 Der akademische Beruf erschien dem Romanisten als Aufhebung der letzten Bindungen an das Judentum seiner Eltern. Der berufliche Ehrgeiz, das Streben nach sozialem Erfolg stellten wichtige Mittel zur gesellschaftlichen Integration bzw. ‚Entghettoisierung‘ dar, da er nicht mehr als Jude, sondern aufgrund seiner Leistungen beurteilt werden wollte. Sowohl Georg, Berthold wie auch Victor Klemperer zeigten dementsprechend überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz. Diese Arbeitswut war eine häufige Ursache für Unpässlichkeiten in der Familie Klemperer, wie der Diarist in einem Gespräch mit Georg im Hinblick auf ihren Bruder Berthold, der als Anwalt kurz vor einem Plädoyer einen Ohnmachtsanfall hatte, zu erkennen gibt: Es hat mich auch angefaßt als unser gemeinsames Schicksal. Wir sprachen gestern viel vom Ghetto, von den Bank-Klemperers, die ebendort herstammen u. den Geldweg gegangen sind, von den Posten, die wir mühselig errungen. Uns peitscht das Ghetto alle in frühen Tod. Wir wollen es vergessen machen, wir kämpfen um die Ehre des Namens. (ebd.: 282f. [21.4.1920])

264 Juden der Mittelschicht wurden zu auffälligen Anhängern der deutschen Hochkultur. Die Teilnahme am Kulturleben stellte einen Bestandteil von Klemperers Bildungsverständnis und Deutschtum dar, das kulturell codiert wurde, obschon er mehrmals sein persönliches Desinteresse an klassischer Musik oder Museen zu erkennen gab. Eva und Victor Klemperer besuchten oft das Theater (vgl. LSI: 416 [2.3.1921]; ebd.: 868 [16.9.1924]), die Oper (vgl. ebd.: 833 [12.7.1924]; LSII: 15 [3.3.1925]; ebd.: 64 [7.6.1925]; ebd.: 310 [12.12.1926]), Museen (vgl. LSI: 315 [27.6.1920]; ebd.: 834 [16.7.1924]; LSII: 723f. [25./26.7.1931]) und Konzerte (vgl. LSI: 431 [17.3.1921]; ebd.: 421 [26.3.1921]; ebd.: 432f. [20.4.1921]). 265 Während seiner Prag-Reise im Jahre 1910 fühlte sich Klemperer seinen jüdischen Wurzeln völlig entfremdet. Bei einem Besuch im dortigen jüdischen Viertel, wo er Läden mit seinem eigenen Familiennamen entdeckte, spürte er ganz besonders seine unlösliche Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die für ihn den Inbegriff der Moderne darstellte: „In Berlin waren wir eine deutsche Familie mit einem deutschen Namen – hier haftete dem Namen sein Judentum an; in Berlin waren wir angesehene Leute – hier gehörten die Klemperers zum Ameisenhaufen der armseligen Ghettohändler. [...] Ich wollte unsre Herkunft nicht verscharren, wie es meine Brüder taten, aber ich wollte mich doch mit jedem Gedanken und aller Herzenswärme zum Deutschtum bekennen. Und gerade in Prag wuchs diese Wärme zur Leidenschaft.“ (CVI: 523)

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Die Technische Hochschule Dresden sah Klemperer nur als vorläufige Durchgangsstation an, während er – vergeblich – auf einen Ruf an eine angesehene Universität wartete. Die 1920er Jahre stellten Victor Klemperers wissenschaftlich produktivste Zeit dar, in der er kontinuierlich und auf hohem Niveau publizierte, um seine akademischen Erfolgschancen zu steigern.266 Das Hauptproblem bezüglich einer Berufung an eine traditionsreiche Universität bildete für Klemperer aber vor allem der Antisemitismus im akademischen Bereich. Bei seinen Bewerbungen wurde er vielfach mit der Erfahrung konfrontiert, dass er – trotz Taufe – von den entsprechenden Gremien als Jude eingestuft wurde. Er wurde aufgrund seiner Herkunft kategorisiert, gezählt und von den „Deutschen“ unterschieden. Resignativ vermerkt der Diarist diesbezüglich: „Es gibt reactionäre u. liberale Universitäten. Die reactionären nehmen keinen Juden; die liberalen haben immer schon zwei Juden u. nehmen keinen dritten.“ (LSII: 312 [26.12.1926])267 Vor diesem Hintergrund schätzte er seine Chancen auf eine Professur an der Universität Leipzig268 gegenüber seinem direkten Konkurrenten Hans-Robert Curtius, der aus einem angesehenen evangelischen Elternhaus stammte, nüchtern ein: „Der Sohn eines Rabbiners bin ich, u. er ist der Sohn des Praesidenten der preuß. evangel. Landessynode.“ (ebd.: 643 [6.8.1930])269 Im akademischen Bereich wur-

266 Als Beispiele für seine akademische Produktivität seien einige seiner wichtigsten zwischen 1921 und 1929 erschienenen Monographien wie Einführung in das Mittelfranzösische (1921), Die moderne französische Prosa 1870-1920 (1923), Romanische Sonderart (1926) und Die moderne französische Lyrik von 1870 bis zur Gegenwart (1929) genannt. Weiter fungierte der Philologe mehrmals als Mitherausgeber verschiedener Sammelbände wie beispielsweise der Festschrift für Karl Vossler, Idealistische Neuphilologie (1921), oder Idealistische Philologie (1925). Für eine Auflistung von Klemperers Publikationen vgl. Jacobs (2000: 375f.) und das komplette Schriftenverzeichnis des Diaristen in Kunze (1958). Für eine Diskussion von Klemperers beruflichem Werdegang an der Technischen Hochschule Dresden in den Jahren 1920-1935 vgl. Lieber (2001). 267 Vorhaltungen bezüglich seiner unbequemen Identität als getaufter Jude bekam Victor Klemperer auch an der Universität am eigenen Leibe zu spüren. Die schroffe Aussage einer selbstbewussten ostjüdischen Studentin, Lydia Rabinowitsch, sie wolle keinen Kontakt zu getauften Juden haben, weil diese „Verräter ihres Volkes“ seien (LSI: 95 [10.4.1919]), wirkte sichtlich erschütternd auf Klemperers Gemüt, obschon er sein Judentum doch gänzlich abgelegt hatte: „‚Ich verkehre nicht mit convertierten Juden.‘ [...] Wieso darf man u. wieso darf diese Person uns zum Vorwurf machen, was ich privat getan? Was habe ich mit dem Ghetto zu schaffen? Mir hat das den ganzen Tag verstört u. verstört mich noch heute.“ (ebd.: 94 [8.4.1919]) In einem Gespräch mit dem Leipziger Romanistik-Professor Philipp August Becker empörte sich der Tagebuchautor darüber, dass dieser der Meinung war, eine Germanistik-Professur an einen Juden zu vergeben, sei schlichtweg unvertretbar: „Wir sprachen über Antisemitismus, u. er fand es begreiflich, daß man einem Juden kein germanistisches Ordinariat übertrage, weil ein Jude als ‚Nichtdeutscher‘ nicht den richtigen Grundton für deutsche Dichtung finden könne.“ (ebd.: 607 [11.8.1922]) 268 Im Hinblick auf die Ablehnung von Klemperers Kandidatur an der Universität Leipzig vgl. Wiemers (2000). 269 Zur Problematik des Antisemitismus im Hochschulbereich der Weimarer Zeit vgl. Buhles (2003: 278f.) und Court (1999: 54ff.). Frank-Rutger Hausmann (2000: 11) weist darauf hin, dass die Gesinnung in der Romanistik deutschnational und autoritär war, dass aber in puncto Antisemitismus der „Mikrokosmos der Romanisten [...] mit dem Makrokosmos von Staat und

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de Klemperer von seinen Kollegen primär als Jude betrachtet, und dies war dem konvertierten Romanisten stets ein Dorn im Auge,270 weil er befürchtete, allein aus diesem Grund um die Professorenkarriere gebracht zu werden. Klemperer war sich der negativen Fremdwahrnehmung der Umwelt in besonderem Maße bewusst, wie beispielsweise im Gespräch mit einem Kollegen zum Ausdruck kommt: „Ich schmeichelte ihm, er war höflich, wir berührten uns freundlich. Dabei dürften wir genau wissen, wie wir innerlich zueinander stehen. Ich bin ihm der Jud.“ (LSI: 401 [5.1.1921]) Angesichts derartiger enttäuschender Erfahrungen der beruflichen Randstellung aufgrund seiner jüdischen Herkunft erhellte sich für den Diaristen in bestimmten Augenblicken, dass meritokratische Ansichten für Juden im deutschen Universitätswesen nur schwer beizubehalten waren. Mit dem erstmals 1911 publizierten Aufsatz „Staat und Judentum. Eine Polemik“, in dem sich Walther Rathenau (1918 [1911])271 kritisch mit der preußischen Judenpolitik auseinandersetzte, rückte er im Hinblick auf die gesellschaftliche Lage der deutschen Juden das Defizit des Leistungsprinzips pessimistisch ins Licht: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Mal voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ (ebd.: 188f.)

Infolge der Spannung zwischen Deutschtum und Judentum sowie des Widerspruchs zwischen Leistung und Ergebnis geriet Klemperer in eine Double-BindSituation: Damit das Idealbild der Integration nicht infrage gestellt werden musste, wurde das Fremdbild internalisiert. Klemperer war – in gewissen Lebensabschnitten – davon überzeugt, die (religiösen) Juden trügen selbst Schuld bzw. Mitschuld am Scheitern der Integration. Die dominante Definitions- und Kategorisierungsmacht der Mehrheitskultur mündete bei Klemperer als kultureller Grenzgänger in eine aporetische Situation, die durch die Verlagerung des Gesellschaft“ korrespondierte. Nur von Karl Vossler war bekannt, dass er sich gegen den Antisemitismus auflehnte. 270 Der Diarist zeigte sich stets besonders gekränkt, wenn nichtjüdische Kollegen, wie im nachfolgenden Zitat des Dresdener Germanistikprofessors Christian J. Janentzky, die Bezeichnungen „Jude“ und „Deutscher“ einander entgegensetzten: „[I]mmer sagt er [=Janentzky, A.S.] Deutscher u. Jude, wie man Deutscher u. Franzose sagt.“ (LSII: 7 [6.1.1925]) 271 Rathenaus Auffassungen über das deutsch-jüdische Zusammenleben wurden im Laufe der Jahre gewaltig enttäuscht: Vierzehn Jahre zuvor, im Jahre 1897, hatte er den Aufsatz „Höre Israel!“ publiziert, in dem er die deutschen Juden zur vollkommenen Assimilation aufforderte. Dieser Aufsatz kann als deutliches Beispiel des „jüdischen Selbsthasses“ gelesen werden (vgl. Volkov 2000: 186) und wurde aus diesem Grund aufs Schärfste von Theodor Herzl kritisiert. In diesem Aufsatz wird die jüdische Gemeinschaft als ein der deutschen Gesellschaft völlig unangepasster „Menschenstamm“ dargestellt: „Wer ihre Sprache [=der Juden, A.S.] vernehmen will, mag an Sonntagen mittags um zwölf durch die Thiergartenstraße gehen oder abends in den Vorraum eines berliner Theaters blicken. Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig ausstaffirt [sic] und von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde.“ (Rathenau 1897: 454)

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deutsch-jüdischen Identitätskonflikts ins innere Selbst verursacht wurde. Dies führte keineswegs dazu, dass er sein eigenes Anderssein akzeptiert und auf eine Identifikation mit der deutsch-christlichen Gesellschaft verzichtet hätte. Ganz im Gegenteil: Er verteidigte ein ausschließlich deutsches Selbstverständnis. Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum der Diarist sich sogar im Dritten Reich fest an eine unipolare Identität klammerte (vgl. z.B. ZAII: 144 [25.6. 1942]) Es mag angemessen sein, dieses psychologische Assimilationsphänomen, das zwischen Selbstverleugnung und Selbstaffirmation schwankt, als „Selbsthass“ zu bezeichnen. Bei Theodor Lessing gründet der Begriff „jüdischer Selbsthass“, den er am Beispiel des Philosophen Otto Weininger geprägt hatte, auf einem psychischen Zwiespalt, einer Ambivalenz von Hass und Liebe, die das Subjekt durch eine „Verhäßlichung des Verhaßten“ zu bewältigen sucht. Dieser Projektionsmechanismus der „unglücklichen Feindesliebe“ (1930: 90) macht sich auch bei Klemperer bemerkbar. Der Selbsthass, der als soziales Phänomen keineswegs nur auf das Judentum beschränkt ist, ist weniger ein psychopathologisches Syndrom als vielmehr ein vom Außenseiter verinnerlichtes Wahnbild, das in der Leitkultur in Bezug auf den Außenseiter geschaffen wurde, um diesen zu definieren bzw. zu diffamieren. Was immer Klemperer auch unternahm, er blieb aufgrund des Antisemitismus dem Judentum verhaftet. Für Klemperer als Intellektuellen galt vor diesem Hintergrund, was Sander L. Gilman (1993: 225) auch in Bezug auf Karl Marx feststellte: „Die jüdische Substanz in Konflikt mit den westlichen Werten bringe den Selbsthasser hervor, den typischen Westjuden.“ Der assimilierte jüdische Intellektuelle erscheint bei Lessing als die typische Verkörperung dieses Phänomens (vgl. Benoit 2000: 32).272 Die Verleugnung seines Judentums – seines „verheimlichten Judenmakel[s]“ (LSI: 143 [6.7.1919]) – zeigt das Ausmaß der Krise von Klemperers komplexer Identität. Klemperer als ehrgeiziger, streberischer Parvenu fühlte sich kontinuierlich von seiner jüdischen Herkunft verfolgt und hätte nichts lieber gewollt, als diesem Fluch zu entgehen.273 Sich in akademischer Gesellschaft zur „Judenfrage“ äußern zu müssen und Position zu beziehen, war ihm dementsprechend zuwider (vgl. ebd.: 813 [29.5.1924]).274 Gegenüber Juden, die ihm aus unterschiedlichen 272 Für weiterführende Informationen über den jüdischen Selbsthass vgl. Mayer (1975: 414-421), Telaak (2003: 109ff.), Traverso (1993: 34f.) und insbesondere auch Shulamit Volkovs Aufsatz „Selbstgefälligkeit und Selbsthaß“ in Volkov (2000: 181-196). 273 Der jüdische Parvenu, so Enzo Traverso (1993: 117), zeichnet sich im Grunde durch fünf Definitionsmerkmale aus, die quasi ausnahmslos auf Victor Klemperer zutreffen: 1. Er strebte danach, von seiner Umgebung – inklusive von Antisemiten – anerkannt zu werden; 2. Er war bemüht, sich dem herrschenden System anzupassen; 3. Er suchte seine jüdische Identität zu verdrängen; 4. Wenn er unter Umständen innerlich sein Judentum annehmen wollte, so trieb ihn dies zugleich dazu, es zu verbergen bzw. zu verleugnen; 5. Er lehnte die ostjüdischen Einwanderer radikal ab. 274 Das paradoxe, zwiespältige Verhältnis zum Judentum kommt in den zahlreichen negativen Urteilen über jüdische Mitbürger zum Ausdruck. So ist die Rede von einem „rüpel- u. komoedienhaft aufgeblasenen Juden“ (LSI: 105 [28.4.1919]), an einer anderen Stelle bezeichnet er ei-

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Gründen als „zu jüdisch“ erschienen und folglich nicht mit seiner Vorstellung vom Deutschtum korrespondierten, hegte er eine profunde Antipathie, weil sie ihn in seinem Selbstverständnis verunsicherten. So bestätigt der Diarist gleichwohl paradoxerweise das Scheitern der deutsch-jüdischen Symbiose, für deren Befürworter er sich selbst hält, indem er dem öffentlichen Judentum das Existenzrecht in Deutschland abspricht. Über eine Gruppe als solche erkennbarer Juden schreibt Klemperer: „[I]ch hätte glatt Hitler wählen mögen. Eigentümlich anormal.“ (ebd.: 888f. [9.11.1924])275 Der Antisemitismus löst bei Klemperer kontinuierlich innere Konflikte aus, die er in letzter Konsequenz immer weniger mit einem idealistischen Begriff vom Deutschtum zu überbrücken vermag: „[I]mmer ist mir das Höchste gewesen: ins Deutschtum herüberzutreten. [...] Und jetzt stößt mich alles in Deutschland zurück zu den Juden. Aber wenn ich Zionist würde, käme ich mir noch lächerlicher vor, als wenn ich Katholik würde.“ (LSII: 361 [6.8.1927]) Parallel zu seinen ungemein scharfen Auslassungen zu Judentum und Juden tritt – in der Privatsphäre – eine Tendenz in den Vordergrund, die seine authentische Sympathie für intellektuelle, assimilierte Juden zur Schau stellt, mit denen er sich unschwer identifizieren und in deren Gesellschaft er sich ungezwungen verhalten konnte. Wiederholt hebt der Diarist hervor, dass er sich in besonderem Maße über gesellige Abende ohne „nichtjüdische Fremdkörper“ freue, weil er sich dann „freier“ fühlen könne (ebd.: 61 [26.5.1925]). Ungeachtet der öffentlichen Distanzierung von seinem Judentum bzw. dessen Verheimlichung fühlte sich der Tagebuchautor ganz offensichtlich wohler und entspannter im jüdischen Assimiliertenkreis, zu welchem er sich selbst rechnete. Der Zusammensetzung seines sozialen Umfeldes nach dem Muster ›Juden/Nichtjuden‹ war sich Klemperer stets bewusst: Die Differenz zwischen „nichtjüdisch“ und „jüdisch“, die er für sich selbst am liebsten aufgehoben sehen wollte, spielte nach wie vor eine wichtige Rolle in seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit. Klemperers gesellschaftliches ne Bekanntschaft als „compromittierlich jüdisch“ (ebd.: 293 [9.5.1920]), und eine unangenehme Studentin nennt er „ein unsympathisches Judenweib“ (ebd.: 308 [10.6.1920]). Klemperer zeigt sich mithin besonders anfällig für Vorurteile gegen Juden, wenn er beispielsweise einem Sanitätsrat ein „freches jüdisches Schauspielergesicht“ zuschreibt (ebd.: 85 [20.3.1919]) oder von einem jüdischen Kleinkind als „recht häßlichem dreijährigen Ghetto-Mädchen“ spricht (ebd.: 716 [23.7.1923]). Den Ostjuden galt unaufhörlich Klemperers schärfste Kritik: Einen ostjüdischen Kandidaten für den Pädagogischen Lehrstuhl in Dresden qualifizierte er als „ein ganz verschüchtertes galizisches Häufchen Judenunglück“ ab (ebd.: 803 [11.4.1924]). Einen anderen galizischen Juden charakterisiert Klemperer auf ähnlich negative und voreingenommene Weise als Paria, mit dem er überhaupt keine Bindung haben will: „Ein galizischer Jude, europäisch gekleidet aber mit Käppchen u. unverkennbaren Typs, klein, blond, bekneifert, reckte sich unsäglich komisch; jedes Glied, u. besonders die einwärts gesetzten Füße, bekannten sich einzeln zum Gott unserer Väter.“ (ebd.: 256 [28.3.1920]) Anderweitig hebt er seine Abneigung gegen „Bankjuden“ bzw. „die Geldjuden“ hervor (ebd.: 782 [29.1.1924]). Als Städte werden darüber hinaus – aufgrund der prominenten Anwesenheit von Ostjuden – Wien (vgl. CVI: 535) und Prag (vgl. ebd.: 523) im negativen Sinne als „jüdisch“ bezeichnet. 275 Vor diesem Hintergrund schreibt Hans Mayer (1975: 421), dass der angebliche jüdische „Selbsthass“ bloß beweise, dass die Aufklärung und mit ihr die jüdische Gleichberechtigung gescheitert seien.

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Leben war, wie er selbst feststellte, hauptsächlich jüdisch orientiert: „In unserem Verkehr [...] immer das gleiche Gewussel im selben ziemlich jüdisch centrierten Kreis.“ (LSI: 796 [10.3.1924]) In Klemperers Privatleben bestand zwischen Juden und Nichtjuden letztendlich noch immer eine Trennwand, wie dünn sie manchmal auch sein mochte.276 In den drei nachfolgenden Beispielen – im ersten in Bezug auf seinen entfernten Verwandten Dr. Ralf von Klemperer, in den beiden nächsten im Gespräch mit dem ursprünglich aus Wien stammenden Leipziger Romanistik-Kollegen Wilhelm Friedmann – tritt deutlich zutage, wie sehr sich der Tagebuchautor vor allem im bürgerlichen, jüdisch-assimilierten Milieu anerkannt fühlte und sich dementsprechend frei und ungezwungen verhalten konnte: Irgendwie liegt gemeinsame Prager Abstammung vor, wie, ist noch unergründet. Wir sprachen von Antisemitismus, von unseren Studien etc. Ich fühlte mich merkwürdig warm u. wohl dort. Kein Protzentum, kein falsches Christen-, kein aufdringliches Judentum, Natürlichkeit... (ebd.: 306 [6.6.1920]) Wir plauderten bis drei. Wir verstehen uns gut. Jüdisches Blut – es ist nun doch einmal ein Ding für sich. (ebd.: 537 [18.12.1921])277 Ich fragte: Wieso sehen wir uns so ähnlich u. so unähnlich? Er: ‚Weil wir Juden sind – ich aus Wien, Sie aus Preußen‘. Er sagte, er erwöge Rücktritt zum Judentum. Ich: Ich auch! (Und dies ist in den letzten Tagen noch wahrer geworden. Seit es keine demokratische Partei mehr gibt, nur noch die Staatspartei unter halber Führung des Jungdo, der ‚tolerant‘ ist, aber aus ‚rassischen‘ Gründen den ‚Arierparagraphen‘ für seinen Bund besitzt). (LSII: 643 [6.8.1930])278

Die Ambivalenz in Klemperers Selbstverständnis könnte plakativer nicht sein: Einerseits schämte sich der Diarist seiner jüdischen Herkunft, versuchte er durch Bildung dem jüdischen „Partikularismus“ zu entgehen und unterzog das sichtbare Judentum wütender Kritik; andererseits betrachtete er die Toleranz gegenüber dem Judentum als eine typisch deutsche Eigenschaft, er betonte mehrmals seine einzigartige Gefühlsverbundenheit mit assimilierten deutschen Juden, und in unbewachten Augenblicken entschlüpften ihm sogar Aussagen, die von der Existenz

276 Zum jüdischen Freizeit- und Gesellschaftsleben in der Weimarer Zeit vgl. Mauer (2003: 422425). 277 An einer anderen Stelle beschreibt Klemperer, wie er in jüdischer Gesellschaft mit viel Vergnügen „gemauschelt“ habe (LSI: 620 [20.9.1922]). 278 Es bleibt dahingestellt, ob es Klemperer ernst damit war, erneut zum Judentum überzutreten, doch legt der Diarist mit dieser Aussage eine ungeheure Spannung und ein spürbares Unbehagen innerhalb des deutschen Judentums in der späten Weimarer Zeit offen. In Antisemitismus als kultureller Code spricht Shulamit Volkov (1999: 167) in Abgrenzung zum Begriff „Assimilation“ von der „Dissimilation“ der deutschen Juden, womit die Autorin die dialektische Dynamik des Assimilationsprozesses bezeichnet und „die von innen heraus wirkenden Kräfte“ ins Licht rückt, „die die deutschen Juden sogar gegen ihren eigenen Willen wieder auf sich selbst zurückführten.“ Es machte sich angesichts des Antisemitismus und der ostjüdischen Einwanderer bei gewissen, bewusst und bereitwillig assimilierten Juden eine Tendenz bemerkbar, sich auf ihre jüdische Einzigartigkeit zu besinnen und diese wieder zur Geltung zu bringen.

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genetisch bedingter jüdischer Wesensmerkmale ausgingen.279 Das Verhältnis zwischen „Blut“ und „Geist“, Judentum und Deutschtum beschäftigt den Diaristen in besonderem Maße. Obschon er in der Öffentlichkeit jedes Anzeichen seines Judentums zurückweist, bleibt für ihn selbst nach wie vor die beklemmende Frage: Was macht nun das Blut aus? [...] [I]ch stamme ganz u. gar aus Prag, beide Eltern sind dort aufgewachsen. Und doch bin ich bestimmt ganz norddeutsch, ausgesprochen norddeutsch. Und doch wieder spricht manchmal Blut. Das ist auch eine der Fragen, über die man verrückt werden könnte. (ebd.: 660 [28.9.1930])

Immer wieder erweist sich Klemperer in den Tagebüchern als eine widersprüchliche Figur, die fortlaufend über sich selbst reflektiert und ihre schwierige Identität zwischen Deutschtum und Judentum eindeutig festzulegen, zum Stillstand zu bringen versucht. In diesen unruhigen Reflexionen bringt er die Zwiespältigkeit der Assimilation zum Ausdruck: Ich bin immer über all diesen Dingen u. über mir selber wie ein Flugzeug aufgehängt. Das ist übrigens das Jüdischste an mir. Vielleicht auch das Deutscheste. Aber der Deutsche findet doch irgendwie Gefühlseinheit. Der Jude bleibt auch über seinem Gefühl. (ebd.: 361 [6.8.1927])

Die Haltung des jüdischen Bürgertums gegenüber dem jüdischen Erbe erwies sich als höchst uneinheitlich. Aus der europäischen Moderne resultierten unterschiedliche Modelle von Selbstdefinition und Verhaltensweisen, die fortschreitend individualisiert wurden und im Laufe des Lebens mehrfach gewechselt werden konnten. Im Zuge der Säkularisierung wurde die Identität gewissermaßen zu einer Frage der freiwilligen Selbstgestaltung, zu einer Eigenkomposition verschiedener Identitätsangebote. Im Hinblick auf die Identitätsfrage in der deutschjüdischen Bourgeoisie hebt Gershom Scholem hervor: Die Haltung der jüdischen Bürgerschicht zur jüdischen Geschichte ist [gekennzeichnet] durch den Widerspruch [...] zwischen dem Wunsch, die eigene Geschichte nach Möglichkeit zu vergessen, und der Scheu weiter Schichten, die nicht so weit gehen wollten, sondern vielmehr in dem Bewußtsein lebten, von einer ganz anderen als der deutschen mitgeprägt zu sein. (Scholem 1984: 255)

Zwischen den Extrempolen der Verleugnung der jüdischen Herkunft und der Absage an die deutsche Kulturzugehörigkeit war eine ganze Reihe von Identitäts-

279 In diesem Zusammenhang unterstreicht Klemperer bei sich – im Gegensatz zu Nichtjuden – die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Todesgedanken: „Neulich, obwohl ich mich dessen schämte u. es sehr selten tue, sagte ich zu Eva: dies sei ein eingeborener Naturunterschied: uns (wahrscheinlich uns Juden, sicher: uns Geschwister, ich weiß es von Grete u. Marta) quält der Todesgedanke mehr als Dich.“ (LSII: 664 [9.10.1930]) Nicht nur der Todesgedanke, sondern auch der Zweifel als Grundeinstellung sei ein Merkmal des jüdischen Volkes: „Mir fehle die jansenitische Gnade, auf die alles ankomme. Vielleicht sei ich zu jüdisch. Eigentlich ist es seltsam, daß gerade den Juden, dem Glaubensvolk der Zweifel im Blut liege.“ (LSI: 244 [7.3.1920]; vgl. ebd.: 247 [14.3.1920])

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schattierungen zu erkennen, in denen das doppelte deutsch-jüdische Selbstverständnis als Verpflichtung und Wert angesehen wurde. Vor dem Hintergrund der brenzligen politischen Lage in der späten Weimarer Republik führte an der widersprüchlichen Identitätsunsicherheit der deutschen Juden verschiedenster Gesinnung kein Weg mehr vorbei. Die Gespaltenheit zwischen Deutschtum und Judentum nahm immer verheerendere Ausmaße an, die für assimilierte Juden wie Klemperer kaum noch überbrückbar erschienen: „Hie [sic] Juden – dort Arier. Und wo bleibe ich? Wo bleiben die vielen, die geistig deutsch sind?“ (LSII: 643 [6.8.1930]) Die Definition seiner Identität war von einer doppelten Unmöglichkeit gekennzeichnet: die Unmöglichkeit, aufgrund seiner Konversion, Bildung und Assimilation weiterhin Jude zu sein, und die Unmöglichkeit, aufgrund der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz Deutscher zu sein (vgl. Traverso 1997a: 43). Das Integrationskonzept des jüdischen Bildungsbürgertums war mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus allmählich zum Scheitern verurteilt. Die Assimilation der deutschen Juden, so bezeugen die Tagebücher aus der Weimarer Zeit, war also niemals so umfassend oder vollständig, wie oft angenommen wird. Paul Mendes-Flohr (2004: 17ff.) bemerkt, die Assimilation bzw. Akkulturation sei ein differenzierter Prozess, in dem jüdische Identität in unterschiedlichem Maße beibehalten wurde. Es handle sich in dieser Dynamik folglich nicht um eine vollkommene Preisgabe des Judentums, auch wenn sich Assimilierte wie Klemperer diese Option sicherlich manchmal gewünscht hätten. Dennoch waren die deutschen Juden aufgrund ihrer emphatischen Orientierung an Aufklärungswerten, deutscher Bildung und Kultur – aus Klemperers Perspektive – nicht mehr einfach oder eindeutig jüdisch zu nennen. Die deutschen Juden mussten sich mit einer komplexen, vielfältigen Identität und Kulturzugehörigkeit abfinden, die ständigem Wandel unterworfen war. Das Ideal der deutschjüdischen Symbiose wurde immer fragwürdiger, und die Zukunftsperspektive erscheint Klemperer immer düsterer: „Hitler ante portas [...]. Und was wird aus mir, dem jüdischen Professor?“ (LSII: 758 [7.8.1932]) Diese existenzielle Frage soll im Folgenden spezifisch am Problem von Klemperers deutsch-jüdischem Selbstverständnis im Dritten Reich erörtert werden. Die Selbstdarstellung in Tagebuchtexten stellt paradoxerweise stets auch eine Distanzierung zum Selbst dar, da sich der Schreibende in der Selbstthematisierung zwangsläufig zum Objekt der Aussage macht. Da das Schreiben unter dem Zeichen des Hakenkreuzes selbst bereits als performativer Akt zur Ausgestaltung einer Krisenidentität betrachtet wird, lässt es sich als konstitutives Merkmal zur Bildung innovativer kultureller Selbstidentitäten einordnen. Um sich dem zwiespältigen Verhältnis von jüdischer und deutscher Identität, den „zwei Seelen der deutschen Juden“ (sensu Mendes-Flohr 2004), in den Tagebuchnotizen anzunähern, sollen im Nachfolgenden zuerst die theoretischen Konzepte erläutert werden, die für ein adäquates Verständnis von Klemperers Identität im Dritten Reich unabdingbar sind: Die antisemitische Stigmatisierung und Hassrede zwangen den Philologen schließlich zu einer Auseinandersetzung mit dem Relevanzverlust seiner Assimilationsbemühungen und seiner Kennzeichnung als Jude.

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3.2.1.6 Das Ende der Assimilation: Das Dritte Reich In Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner heißt es auf ironische Weise in Bezug auf den assimilierten, nationalistischen Juden Leonard Schmidt, der von anderen Ghettobewohnern zum Scherz „Leonard Assimilinski“ (Becker 1982: 132) genannt wurde: „Er ist zu diesem Ghetto gekommen wie die Jungfrau zu ihrem Kind, es hat ihn auf Wegen angefallen, von denen er nicht im Traum gedacht hätte, daß sie die seinen sind.“ (ebd.: 127) Auch Victor Klemperer fiel dem Nationalsozialismus aufgrund des totalen Unverständnisses gegenüber der antisemitischen Rassenpolitik und Verfolgung anheim, sagt er doch über sich selbst: „[J]e ne peux ni ne veux être autre chose qu’allemand.“ (ZAI: 201 [15.5.1935]) Diese emphatische Selbstinszenierung als Deutscher nahm als Form des Selbstschutzes während des Dritten Reiches – im Vergleich zur Vorzeit – erheblich zu. Trotz seines expliziten Willens zum Deutsch-Sein schwankte er steuerlos zwischen Deutsch- und Judentum: „Wohin gehöre ich?“ (ebd.: 220 [5.10.1935]) Das Trauma des Nationalsozialismus, die Erniedrigung und die ständige Todesangst führen zu einer Verflüssigung der bisher als relativ stabil betrachteten Selbst-Identität, die tagtäglich neu gesetzt wird. Der Antisemitismus, die politische Ortlosigkeit, die alles Private durchdringenden Großereignisse wie die Machtübertragung an Hitler, die „Reichskristallnacht“, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, führen während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft zu einer lebensgeschichtlichen Phase erhöhter Selbstreflexivität und zu einer ständigen Neuformierung des Ich im Tagebuch. Der existenzielle Ich-Entwurf Klemperers, der als instabile Identität seinen Ausgangspunkt im Entschwinden von Beobachtungssicherheit und Handlungssouveränität findet, kann sich in jedem Eintrag jeweils neu gestalten. Im diaristischen Prozess stellt sich heraus, dass das Ich von heute nicht mit dem von gestern identisch ist.280 Klemperers Tagebücher der NS-Zeit werden mithin zum Ort eines Sozialisierungsprozesses, an dem der Autor seine politische, religiöse, soziale Identität gestalten bzw. neu gestalten kann. Gerade weil die Tagebücher im Schnittpunkt von Mikro- und Makrogeschichte stehen und durch Selbstdefinitionsprozesse gekennzeichnet werden, in denen sich Privates, Sozialhistorisches, Gesellschaftliches und Literarisches über280 Das Festhalten von Serien aktueller Ereignisse im Tagebuch steht im Widerspruch zur homogenisierenden Perspektive auf die Ich-Vergangenheit, die der Autobiographie eigen ist. Die Autobiographie produziert im Nachhinein eine Fiktion des kohärenten, stabilen Selbst. In Weiße Handschuhe (1995) weist John Kotre überzeugend darauf hin, dass der Bezugspunkt autobiographischer Erinnerungen eigentlich in der Gegenwart liegt und nicht in der Vergangenheit. Die Gegenwart lenkt die Inhalte der Erinnerung und deformiert das Erinnerte. Auch Anja Lemke (2002: 264) betont in Bezug auf Michel Leiris’ und Walter Benjamins Kindheitsautobiographien die Aktualitätsperspektive des autobiographischen Schreibens: „In der erzählten Erinnerung wird nicht das repräsentiert, ‚was gewesen ist‘, sondern ein im Hier und Jetzt sprachlich gestaltetes Erinnerungsbild geformt.“ Die Autobiographie stelle somit „eine narrative Umstrukturierung des Vergangenen in Anpassung an die jeweiligen Gegenwartsfordernisse“ dar (ebd.). In seiner Autobiographie Curriculum Vitae transformiert Klemperer dementsprechend die Erinnerung zu einer denkbaren Gestalt, passend zu seinen aktuellen ideologischen bzw. identitären Einstellungen.

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lagert, stellen sie einen interessanten Fall für eine identitätstheoretische Kulturwissenschaft wie auch für eine Alltagsgeschichte des konvertierten deutschen Judentums dar. In ihnen wird deutlich, wie und wodurch Klemperers Identitätsbildung beeinflusst wurde. Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise an die Tagebücher soll ein differenziertes Bild von der Identitätsunsicherheit des Tagebuchautors zeichnen. Anhand von Beispielen soll nachvollziehbar gemacht werden, wie der Tagebuchautor an jedem Tag seine Identität selbstreflexiv überdenkt, inszeniert und gegebenenfalls problematisiert. Die ständige Konstruktion und Dekonstruktion des Konfliktes zwischen ‚deutsch‘ und ‚jüdisch‘ wird bis zum Ende des Dritten Reiches ein grundlegendes Element der Tagebücher bleiben, in denen über die Jahre hinweg die widerstreitenden Gefühle und Gedanken nie endgültig in einer Synthese zur Ruhe kommen. Im Nachhinein stellt er in Sachen Selbstverständnis die „Wandlung meines Denkens durch Hitler“ (A 138: 1251 [18.11.1944]) fest. Diese Identitätswandlung führt dazu, dass sich der Tagebuchautor in seinem autobiographischen Gedächtnis auf die Suche nach der Bedeutung seiner ursprünglichen Heimat macht, um sich seiner Identität zu vergewissern. In einem Eintrag aus dem Jahr 1939 schreibt Klemperer: Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts. Beweis: die abertausende von ‚Halb-, Viertel-‘ etc. Juden und ‚Judenstämmlinge‘, Beweis für ihr gänzlich reibungsloses Leben und Mitarbeiten in allen Bezirken deutschen Lebens. Der immer vorhandene Antisemitismus ist gar kein Gegenbeweis. Denn die Fremdheit zwischen Juden und ‚Ariern‘, die Reibung zwischen ihnen war nicht halb so groß, wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken, oder zwischen Arbeitgebern und -nehmern, oder zwischen Ostpreußen etwa und Südbayern, oder Rheinländern und Berlinern. (ZAI: 456f. [1.10.1939])

Die Tagebücher vermitteln stellenweise den Eindruck, dass im Wilhelminischen Kaiserreich wie in der Weimarer Republik die Orte seines Lebens unverrückbar gewesen waren, dass Gemeinschaft und Zugehörigkeit genauso wie gesellschaftliche Anerkennung und Schutz zu Selbstverständlichkeiten zählten:281 „Ich war meines Deutschtums, meines Europäertums, meines Menschentums, meines zwanzigsten Jahrhunderts so sicher. Das Blut? Rassenhaß? Heute doch nicht, hier doch nicht – in der Mitte Europas!“ (LTI: 262) Am Ende des Dritten Reiches stellt der Autor aber schmerzhaft den Verlust dieser sicheren Heimat fest, ohne aber die gefühlte Zugehörigkeit zur deutschen Kultur pauschal aufzugeben. Die nationalsozialistische Herrschaft hat die patriotische Grundüberzeugung des assimilierten Bildungsbürgers Klemperer tief erschüttert. In einer Notiz vom 21. November 1942 drückt er die Erfahrung der 281 Die Machtübergabe an Hitler bedeutete für viele Assimilierte ein plötzliches, erschrecktes Aufwachen aus einem Traum. Victor Klemperer bringt das erschütternde Gefühl der Heimatlosigkeit angesichts der antisemitischen NS-Politik wie folgt zum Ausdruck: „[W]ie unsäglich habe ich mich mein Leben lang betrogen, wenn ich mich zu Deutschland gehörig glaubte, und wie vollkommen heimatlos bin ich.“ (ZAI: 401 [5.4.1938])

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innerlichen Veränderung bzw. Verunsicherung folgendermaßen aus: „[A]us der ganzen Umkehr oder Skepsis oder Brüchigkeit meiner Grundideen seit 1933 [spricht] die Erschütterung durch das 3. Reich.“ (ZAII: 280 [21.11.1942]) Die Diffusion und der Zerfall von Klemperers Grundüberzeugungen und somit auch seiner Identität werden von ihm als Spaltung einer Zeit erlebt, die nicht mehr – oder nur noch in beschränktem Maße – narrativ konfiguriert bzw. refiguriert werden kann (vgl. Renn und Straub 2002: 25). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind kaum noch miteinander in Einklang zu bringen. Das Dritte Reich bedeutet vor diesem Hintergrund für den Tagebuchschreiber „eine wirkliche und qualvolle Vita nova.“ (CVII: 9) Der Identitätssinn ist in hohem Maße auf die Zukunftsperspektive bezogen. Ein Bruch in der Kontinuität der Zeitperspektive, wie ein solcher mit der Machtübergabe an Adolf Hitler 1933 eintrat, hat zur unmittelbaren Folge, dass der Tagebuchschreiber sich mit der Bedeutung der deutschen Identität auseinandersetzen muss. Aufgrund der Tatsache, dass Menschen hinsichtlich der Sicherung ihrer Identität im Allgemeinen zielorientiert sind, resultiert aus dem Fehlen von Zukunftssicherung eine krisenhafte Identitätsdiffusion (vgl. Kraus 2000: 93ff.; Crossley 2000: 56f.).282 Die Bedrohung der Identität in der Zeit ruft folglich das Bedürfnis hervor, Orientierung bzw. Ordnung zu schaffen; es ist mithin kein Zufall, dass viele deutsche Juden in dieser Periode anfingen, ein Tagebuch oder eine Autobiographie zu verfassen, um die Sozialisation des Selbst nachzuzeichnen und zu reflektieren.283 Stigma und Identität Eine Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Identität Victor Klemperers während des Dritten Reiches erbringt Einsichten in die komplizierten Vernetzungen von Wissen, Welt und Selbst des Tagebuchautors. Identität ist kein dauerhafter Besitz, sondern ein Prozess, der ein ganzes Leben hindurch andauert. Ungeachtet dessen strebt jedes Individuum nach einer gewissen Stabilisierung der Selbsterfahrung und setzt sich Zielpunkte in seiner Selbstentwicklung. Eine relative Kontinuität in der Selbstwahrnehmung ist für die Herstellung von Identität 282 Reflexionen über die Zukunftsungewissheit durch Entrechtung und Holocaust finden sich allenthalben in Klemperers Tagebüchern. Vgl. dazu beispielsweise ZAI: 16 [31.3.1933]; ebd.: 47 [10.8.1933]; ebd.: 180 [7.2.1935]; ebd.: 245 [31.1.1936]; ebd.: 472 [3.5.1939]; ebd.: 491 [20.9.1939]; ebd.: 526 [21.5.1940]; ZAII: 349 [13.4.1943]; ebd.: 370 [4.5.1943]. Die Tagebuchnotizen, in denen der Philologe auf sich selbst reflektierte und Material fur seine geplante LTI und künftige Autobiographie sammelte, stellten einen Versuch dar, die Gedanken an die düsteren Aussichten in den Hintergrund zu drängen: „Ich arbeite krampfhaft genau so weiter, als sei ich meiner Zukunft noch immer gewiß.“ (A 138: 1072 [10.5.1944]) 283 Das orientierende Herstellen von „retrospektiver Teleologie“ in der Autobiographie (vgl. Brockmeier 2001) ist der Hauptgrund, warum Juden in dieser Zeit vielfach die Geschichte ihres Lebens schrieben: „Als ich das Curriculum begann, schrieb mir Georg, auch er arbeite an seiner Vita. Dann traf ich Gehrig: Er schrieb an seiner Vita. – [...] neulich kommt Frau Voß von einer ihrer Bridgepartien entzückt heim: Der Sanitätsrat habe so interessant aus einem Buch über den Arzt vorgelesen, es ist sein eigenes Leben. So schreiben jetzt alle herausgeworfenen Juden ihre Autobiographie.“ (ZAI: 570 [20.1.1941])

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unabdingbar; übermäßige Fluktuation können zur Identitätskrise führen (vgl. Gymnich, Nünning, Nünning und Wåghäll Nivre 2008: 2f.). Die nationalsozialistische Diskriminierung brachte Klemperer allmählich in Isolation und veränderte zugleich gewissermaßen dessen Auffassung von nationaler Identität. Wie sich die rassenbiologische Stigmatisierung im Dritten Reich in Klemperers Identität niederschlug und sie destabilisierte, soll im Folgenden untersucht werden.284 „Der Jude“ als biologische Verkörperung der zweckrationalen Moderne wurde zum Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie. Durch den „reinigenden“ Effekt seiner Vernichtung sollte die Technik befreit und erneut in den Dienst der Natur gestellt werden. Der reaktionäre Modernismus, der vom Nationalsozialismus vertreten wurde, bildete eine destruktive Synthese von Gegenaufklärung und Wissenschaft, Verfolgung und Rassenbiologie, Pogrom und bürokratisch organisiertem Massenmord (vgl. Traverso 2003: 149). Poliakov, Delacampagne und Girard (1984: 189f.) heben diesbezüglich hervor, dass der Andere für den Rassisten stets derjenige ist, der die Verkörperung eines Unterschieds darstellt, den Letzterer um jeden Preis beseitigen will. Der Unterschied, der dem Rassisten dabei am meisten Angst macht, ist ohne jeden Zweifel die nicht unmittelbar erkennbare Differenz, die angeblich eine interne Gefahr für die Integrität des Eigenen darstellt. Der Rassismus kommt um so heftiger zu Tragen, je näher der Fremde dem Rassisten ist, je enger er mit ihm zusammenlebt und je weniger er von ihm zu unterscheiden ist. In diesem Fall, wenn selbst die Wissenschaft dazu tendiert, intrinsische Unterschiede vollkommen auszuschließen, beruft sich der Rassismus auf eine in die Irre gegangene Wissenschaft, um trotzdem das biologische Fundament der Unterschiede hervorzuheben. Gerade „der Jude“ ist von allen „Anderen“ der am wenigsten „Andere“, derjenige, der am wenigsten verschieden ist. Infolge der Verquickung von Eigenem und Fremdem ist die jüdische Gemeinschaft häufig als Sündenbock missbraucht worden, insbesondere von „Individuen und Völkern, die vom Problem ihrer Integrität besessen waren, das heißt der Angst, daß sich das zerbrechliche Bild der Allmacht, mit dem sie sich identifizieren, auflösen kann.“ (ebd.: 190) In der nationalsozialistischen Propaganda, wie beispielsweise aus dem Lehrbuch Geschichte als nationalpolitische Erziehung (1939) hervorgeht, wird diese Angst vor der unsichtbaren Gefahr jüdischer „Verräter und Zerstörer“ systematisch geschürt. So heißt es etwa: „Juden, die sich als Deutsche getarnt haben,“ hätten in Europa wesentlich „zu Niedergang und Zerfall“ beigetragen (Klagge 1939: 37). Der Diarist stellt vor diesem Hintergrund den „übermäßig gesteigerte[n] Gebrauch von tarnen“ in der nationalsozialistischen Propaganda fest (ZAII: 125 [12.6.1942]), wenn es darum geht, auf den „schädlichen“ Einfluss der jüdischen Bevölkerung hinzuweisen (vgl. ebd.: 388 [5.6.1943]; A 138: 1313 [24.1.

284 Für eine ergiebige stigmatheoretische Auseinandersetzung mit Victor Klemperers Tagebüchern aus der Frühphase des Dritten Reiches sei in diesem Zusammenhang auf Raaz und Gentzel (2005) verwiesen.

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1945]).285 Aufgrund dieser vermeintlichen „Tarnung“ mussten Juden im Dritten Reich als solche explizit kenntlich gemacht werden. Die typologische Einordnung in die rassische Kategorie „Jude“ durch den Nationalsozialismus empfand der Diarist als erniedrigendes Stigma. Klemperers graduelle Diskriminierung liest sich dementsprechend, so Petzold (1996: 396), „wie ein Kapitel ‚angewandter Stigmatheorie‘.“ Um nun im Folgenden der Frage nachzugehen, welche Folgen diese Stigmatisierung, die Isolation und Kennzeichnung als Jude für Klemperers Selbstverständnis hatten, kann gewinnbringend auf Erving Goffmans Stigmatheorie, wie sie in seiner 1967 erschienenen Arbeit Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität erarbeitet wurde, rekurriert werden. Unter Stigma versteht Goffman eine substantielle Identitätsbedrohung, die durch das Gefälle zwischen diskursiv konstruierter „Normalität“ und „Anormalität“ gesellschaftlich hervorgerufen wird:286 Der Terminus Stigma wird [...] in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht [...], die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, daß es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend. (Goffman 1967: 11)

Die spannungsvolle Diskrepanz zwischen den dekretierten rassistischen Normalitätsvorstellungen und dem verordneten und vielfach akzeptierten Negativbild des „Juden“ zog Klemperers Selbstverständnis im Dritten Reich erheblich in Mitleidenschaft.287 Dem rassischen Code ›Arier/Jude‹ unterlagen sämtliche Gesell285 Auf dem Gestapo-Präsidium wird Klemperers Taufe dementsprechend während eines Verhörs als bloße Tarnung abgetan (vgl. ZAII: 7 [12.1.1942]). Dieser Linie folgend wird im NSDiskurs vielfach eine organische Krankheitsmetaphorik eingesetzt, in der die Rede von unsichtbaren bzw. getarnten jüdischen „Bazillen“ oder „Parasiten“ ist. In der NS-Ideologie heißt es, die jüdische Assimilation sei prinzipiell unmöglich und eine bloße Tarnung des „parasitären“ Charakters des Judentums. Diesbezüglich zitiert Klemperer empört den nachfolgenden Satz aus der NS-Propaganda: „Ein Volk kann sich so wenig mit den Juden friedlich verbinden, wie der menschliche Körper unfähig ist, ‚auf die Dauer auch Pestbazillen zu assimilieren.‘“ (A 138: 1011 [2.2.1944]; vgl. ZAII: 128 [13.6.1942]; A 138: 1019 [13.2.1944]; ebd.: 1313 [24.1. 1945]) Für eine ausführliche Erörterung der Semantik rassenantisemitischer Hassrede, insbesondere in Bezug auf die Rede von der Mimikry des „jüdischen Parasiten“ vgl. Bein (1965). 286 In diesem Rahmen soll allerdings vorweg darauf hingewiesen werden, dass Erving Goffmans Konzept des „Stigmas“ an erster Stelle auf einen Normalitätsbegriff, der in demokratischen, pluralistischen Gesellschaften gängig ist, zurückgeht. 287 Goffman (1967: 10) unterscheidet vor diesem Hintergrund zwischen „virtualer sozialer Identität“ und „aktualer sozialer Identität“. Der erste Begriff kann als gesellschaftlich akzeptiertes und tradiertes Muster von Eigenschaften und Dispositionen verstanden werden, während der zweite auf „[d]ie Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte,“ verweist. Wenn die Diskrepanz zwischen beiden Formen von sozialer Identität eklatant ist, so sei dies als Stigma zu bezeichnen. Der nationalsozialistische Totalitarismus generierte mittels Propaganda, Rassenlehre, Gesetzgebung und Sozialisation eine Kategorie des Wünschenswerten, des Normalen: die Kategorie des „Ariers“, die in schroffem Gegensatz zur aktualen sozialen Identität des „Juden“ stand. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Raaz und Gentzel (2005: 17) sowie Gentzel (2008: 173f.).

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schaftsbereiche, und auch das soziale Beziehungsgeflecht wurde größtenteils durch die rassische Norm beeinflusst bzw. aufgelöst.288 Die Lebenswelt wurde allmählich durch diese Zweiteilung konsequent und gewalttätig aufgespalten, wie Klemperer am Vorabend zur Boykott-Aktion feststellt: Immer trostloser. Morgen beginnt der Boykott. Gelbe Plakate, Wachen. Zwang, christlichen Angestellten zwei Monatsgehälter zu zahlen, jüdische zu entlassen. Auf den erschütternden Brief der Juden an den Reichspräsidenten und die Regierung keine Antwort. – Man mordet kalt oder ‚mit Verzögerung‘. Es wird ‚kein Haar gekrümmt‘ – man läßt nur verhungern. Wenn ich meine Katzen nicht quäle, bloß ihnen nicht zu fressen gebe, bin ich dann Tierquäler? – Niemand wagt sich vor. Die Dresdener Studentenschaft hat heute Erklärung: geschlossen hinter... und es ist gegen die Ehre deutscher Studenten mit Juden in Berührung zu kommen. (ZAI: 16 [31.3.1933])

Hannah Arendt (1996: 107) hebt hervor, dass in Zeiten der Verfolgung und Diskriminierung das besagte gesellschaftliche Stigma ein wichtiges defensives Definitionsmerkmal der jüdischen Identität werden kann bzw. muss: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich auch als Jude wehren.“ Eine solche affirmative Anerkennung der Attribuierung von außen liegt aber keineswegs in Klemperers Tagebüchern vor, weshalb der Diarist auch keine innere Solidarität zum jüdischen Kollektiv entwickelt. Dennoch rekurriert Klemperer im Hinblick auf die rassistische Ausgrenzung kontinuierlich auf die Kollektivform „wir“, um die Gruppe der jüdischen Verfolgten zu bezeichnen. Der Tagebuchautor bezeichnete sich als Jude, weil er dieser Gruppe der Verfolgten de facto angehörte, und nicht etwa, weil sich eine innerliche Wende bzw. Wandlung vollzogen hatte:289„[I]ch 288 Durch die rassische Klassifikation als Jude wurde Klemperer aus dem „deutschen Kollektiv“ ausgeschlossen, wie der Diarist schon bald nach dem Boykott vom 1. April 1933 zu spüren bekam: „Ich bin schon nicht Deutscher und Arier, sondern Jude und muß dankbar sein, wenn man mich am Leben läßt.“ (ZAI: 23 [20.4.1933]) Der Boykott bezeichnete eine wichtige Zäsur für die jüdischen Deutschen, weil sie zum ersten Mal seit der Emanzipation von dem bzw. ihrem Staat als Gruppe – ohne nennenswerten Widerstand seitens der deutschen Bevölkerung – verfolgt wurden. Schon dieser erste, abtastende Versuch des Naziregimes, die Juden auszustoßen, glückte in weitgehendem Maße (vgl. Büttner 1992: 73). 289 Der Diarist greift kontinuierlich auf die Kollektivform „wir“ zurück, um das gemeinsame Schicksal der von den Nationalsozialisten als „Juden“ bezeichneten Bevölkerungsgruppe zu kategorisieren. Hierbei handelt es sich, so stimme ich mit Heidrun Kämper (1996: 332) überein, um eine zeitweilige „unfreiwillige Gruppenidentität.“ Relevante Beispiele sind in diesem Zusammenhang: „‚Wir‘ – die bedrohte Judenheit“ (ZAI: 15 [30.3.1933]), „wir Juden“ (ebd.: 18 [3.4.1933]; vgl. ebd.: 429 [9.10.1938]; ebd.: 481 [29.8.1939]: ZAII: 407 [21.7.1943]; ebd.: 453 [5.12.1943]; ebd.: 606 [24.10.1944]), „wir J.-Leute“ (ZAI: 651 [18.7.1941]), „Wir Sternträger“ (ZAII: 497 [19.3.1944]), „[u]nsere Judenvertilgung“ (ebd.: 385 [29.5.1943]). Irene Heidelberger-Leonard (2000: 65) vertritt in diesem Zusammenhang die Meinung, Klemperer habe sich endgültig mit seinem Judentum versöhnt, aber es handelt sich hier meiner Meinung nach weniger um einen Gesinnungswandel oder jüdische Solidarität. Die „Wir“-Rede ist in hohem Maße auf die extrinsische Sachlage der institutionellen Verfolgung und Marginalisierung zurückzuführen, die eine äußerst heterogene Gruppe zusammenführt, wie sie Klemperer in seiner LTI in den Mittelpunkt stellt: „Aber nun waren wir eben die Gruppe der Dresdener Sternträger und die Gruppe der Fabrikarbeiter und Straßenkehrer, und waren die Bewohner der Ju-

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urteile als Jude, weil ich als solcher von der jüdischen Sache im Hitlertum besonders berührt bin.“ (ZAI: 588 [16.4.1941]; vgl. A 138: 889 [12.6.1943]; ebd.: 1451 [8.4.1945]) Vor diesem Hintergrund versteht der Diarist sein Judentum lediglich als administrative, rassistische Kategorie, die ihm von den Nationalsozialisten auferlegt wurde (vgl. ebd.: 846 [25.4.1943]).290 Klemperers jüdische Identität ist mithin hauptsächlich negativ und extrinsisch bedingt; nicht Volkszugehörigkeit, Geschichtsbewusstsein, Kultur oder Religion bestimmen seine SelbstIdentität, sondern Bildung, Beruf und sozialer Status, die ihrerseits indes als Bewertungsparameter in der rassistischen Codierung des Nationalsozialismus bedeutungslos geworden waren. Die von Klemperer hochgeschätzten Bewertungsmechanismen entlang beruflicher Leistung, Intelligenz und Vertrauen wurden mit einem Male diskreditiert und marginalisiert. In seinem sozialen und beruflichen Umfeld erfährt Klemperer bald nach der Machtübernahme Hitlers Respektverlust, Ignoranz, Marginalisierung und letztendlich geradezu totale Isolation. Die enge Verbindung von völkischer Propaganda, pseudowissenschaftlicher Rassenbiologie und sozialem Status generierte in der NS-Gesellschaft eine hegemoniale Kategorie des Normalen. Zwei augenfällige Themenkomplexe in der NS-Ideologie, von denen Klemperer seit Beginn des Regimes unmittelbar betroffen war, stellten der Antisemitismus und der Antiintellektualismus dar.291 Der Tagebuchschreiber als deutsch-jüdischer Professor, dessen Identität gerade auf den Pfeilern „Deutschtum“ und „Akademikerstatus“ beruhte, die ihm allerdings vom Nationalsozialismus abgesprochen wurden, fühlte sich demzufolge vollkommen verunsichert. Vor diesem Hintergrund zeichnet der Diarist – von Schrecken und Grauen erfüllt – die Propaganda gegen jüdische Professoren auf: Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): ‚Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er‘, er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher in deutscher Sprache müssen als ‚Übersetzungen‘ gekennzeichnet werden. – Ich notiere nur das Gräßlichste, nur Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht sind. (ZAI: 24 [25.4.1933])292 denhäuser und die Gefangenen der Gestapo; und wie im Gefängnis und wie beim Heer gab es sofort eine Gemeinsamkeit, die frühere Gemeinsamkeiten übertünchte.“ (LTI: 234) 290 In einer Notiz von kaum einer Woche später bekennt sich Klemperer, wenn er „wir“ schreibt, wieder zum deutschen Volk, das bedauerlicherweise von den Nationalsozialisten sozusagen entehrt worden sei: „Es ist nie so viel Schande auf ein europäisches Volk konzentriert worden wie jetzt auf uns.“ (ZAI: 20 [7.4.1933]) Das von Tag zu Tag bzw. Woche zu Woche zwischen Deutschtum und Judentum schwankende Selbstverständnis zeigt die Bedeutsamkeit der momentanen Gefühlslage, in der sich der Diarist infolge des wechselhaften Zeitgeschehens befand. 291 Dem Antiintellektualismus kam Klemperer zufolge eine zentrale Stellung im nationalsozialistischen Weltbild zu. Vgl. hierzu beispielsweise ZAI: 293 [13.8.1936]; ebd.: 105 [13.5.1934]; ebd.: 190 [23.3.1935]; ebd.: 192 [17.4.1935]. Klemperers Sozial- und Bildungskapital wurde somit angesichts des Nationalsozialismus unbedeutend. 292 Der Diarist suchte in der Frühphase des Dritten Reiches im akademischen Bereich vergeblich sein unabdingbares Deutschtum zur Schau zu stellen. In Bezug auf den – heuchlerischen – Vorschlag des Teubner-Verlags, sein Buch gleich auf Französisch zu schreiben, antwortete der Philologe: „Ich will dieses Buch schreiben und will es deutsch schreiben, weil ich es deutsch denke und fühle.“ (ebd.: 88 [16.2.1934]; vgl. ebd.: 91 [21.2.1934]) Aus dem Briefwechsel zwischen

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Diese symbolischen Gewaltakte führen bei Klemperer in der Frühperiode der NS-Herrschaft zu einer Form höchster Feinfühligkeit gegenüber Gesten, Handlungen, Wortgebrauch und politischen Meinungen in seinem sozialen Umfeld. Eva und Victor Klemperer unterhielten seit jeher enge Kontakte zu sowohl jüdischen wie auch nichtjüdischen Bekannten, die sie im Rahmen von Abendgesellschaften oft zu treffen pflegten. Die kommunikative Wahrnehmung Klemperers ist in diesen Gesprächen ab 1933 stets hochgradig durch die Erfahrung seines Stigmas sensibilisiert. Der Schmerz, den der Diarist in der NS-Gesellschaft empfindet, geht primär auf die plötzliche, rassistische Entsubjektivierung seiner Person zurück. In diesem Zusammenhang diagnostiziert Goffman auf allgemeiner Ebene: Wie [...] Individuen, die plötzlich eine Transformation ihres Lebens von dem einer normalen zu dem einer stigmatisierten Person erfahren, die Wandlung psychologisch überleben können, ist sehr schwierig zu verstehen; dennoch tun sie es sehr oft. [...] Der Schmerz plötzlicher Stigmatisierung mag [...] nicht von der Verwirrung des Individuums über seine Identität herrühren, sondern davon, daß es nur zu gut weiß, was es geworden ist. (Goffman 1967: 163f.)

Das Subjekt, das auf einmal mit einer Stigmatisierung konfrontiert und dementsprechend gesellschaftlichen Isolationsprozessen ausgesetzt ist, versucht sich durch Selbstreflexion und gesellschaftliche Relationalität neu zu bestimmen. Klemperer bemüht sich fortwährend, anhand direkter und indirekter Aussagen die Einstellung seiner Gesprächspartner zur nationalsozialistischen Identitätstypologie und somit zu seiner Person selbst zu ergründen. Im Hinblick auf seine Zwangsemeritierung zeichnet der Tagebuchautor auf: „Am Sonnabend waren Kühns bei uns, Wengler, Annemarie und Dressel. Man fand sich sehr leicht mit meiner Mattsetzung ab.“ (ebd.: 199 [7.5.1935]) Ihre Einstellung bestimmt seine künftige Bereitschaft zur Kommunikation mit diesen Personen. Auch Klemperers Ziehsohn Johannes Thieme, der sich während eines Besuchs begeistert zum Nationalsozialismus bekennt, wird zur persona non grata: Das war entsetzlich und war ein Ende. Mit einer solchen begeisterten Überzeugung und Verherrlichung bekannte sich Thieme – er! – zu dem neuen Regime. Alle Phrasen von Einigkeit, Aufwärts usw. gab er mit Andacht wieder. [...] Das verzeihe ich ihm nicht. (ebd.: 10f. [17.3.1933]; vgl. ebd.: 27 [15.5.1933])

Durch die Nürnberger Rassengesetze wurde das Stigma des Jude-Seins juridisch gefestigt und Klemperer damit in eine verschärfte kommunikative Isolation geder Verlagsredaktion und Victor Klemperer wird offenkundig, dass die Qualität seiner Publikationen längst irrelevant geworden war und nur noch als „jüdisch“ abgelehnt wurde: „[I]ch [habe] Sie ganz offen darauf hingewiesen, daß ich mir unter den jetzigen Verhältnissen keinen Erfolg von der Herausgabe des Bandes IV Ihrer Literaturgeschichte versprechen könne. Sie glaubten meine Bedenken zerstreuen zu können und wünschten an unserem Vertrage festzuhalten. Die Beruhigung, die nach Ihrer Meinung in einem Jahre eintreten würde, ist indessen ja nun keineswegs zur Wirklichkeit geworden, sondern es ist heute noch viel schwieriger denn je zuvor, Bücher von nichtarischen Verfassern herauszubringen.“ (A 469 [14.8.1935]; vgl. A 465 [24.1.1934]; A 466 [15.2.1934])

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drängt. Sein Beziehungsnetzwerk erleidet in den ersten Jahren des Dritten Reiches schwere Risse (vgl. z.B. ebd.: 75 [31.12.1933]). Vor dem Hintergrund seiner Ausgrenzung verfolgt Klemperer zunächst – in der Anfangsperiode der antisemitischen Maßnahmen – privative Kompensationsstrategien. Er organisiert zuhause Treffen mit Gleichgesinnten und Gleichbetroffenen, während er illoyalen Bekanntschaften den Rücken kehrt. Seine Kontakte zu Universitätskollegen beschränken sich seit der Entlassung 1935 auf den Briefwechsel mit den befreundeten emigrierten Professoren Dember und Blumenfeld. Seine privaten Kontakte werden im Laufe der Jahre immer seltener, und zu vielen früheren Freunden und Bekannten, die dem Zionismus, dem Kommunismus und der NSDAP nicht unbedingt feindlich gegenüberstehen, bricht er unmittelbar die Verbindung ab.293 Klemperer teilt seine Freunde und Bekannten im Hinblick auf deren Haltung gegenüber seiner Diskriminierung in drei unterschiedliche Kategorien ein: „Die Getreuen und Tapferen“, „An dem Schandpfahl“ und „Die Lauen“ (ebd.: 221 [5.10.1935]; im Original kursiv). Ehemalige Freunde brachen den Kontakt zu ihm ab, während er seinerseits wiederum den Kontakt zu bestimmten, ihm untreu gewordenen Personen einstellte: Wir werden immer einsamer, ich werde immer mißtrauischer. Besonders seit Martha Wiechmann zur Hitlerfront eingeschwenkt ist. Warum läßt Annemarie Köhler seit Monaten nichts von sich hören? Warum haben Johannes Köhlers nicht, wie verabredet, wegen einer gemeinsamen Autofahrt telefoniert? – Isakowitz’ rüsten zur Übersiedlung nach London, dann sind wir ganz allein. (ebd.: 258 [24.4.1936])294

Im beruflichen Bereich ging der Großteil der Kollegenschaft dem Romanisten bald wie einer „Pestleiche“ aus dem Weg (ebd.: 223 [19.10.1935]), und er sieht sich angesichts der raschen Aufhebung seiner persönlichen und sozialen Integrität durch das Regime „zur Negersklaverei, zum buchstäblichen angespuckten Pariatum verurteilt“ (ebd.: 426 [2.10.1938]). Die ab 1933 einsetzende soziale Ausgrenzung und politische Entrechtung der Juden mündeten im September 1941 in die verordnete Kennzeichnung mit dem so genannten „Judenstern“, die für Klemperer im Nachhinein den schwersten Schlag der zwölf Jahre NS-Diktatur bedeutete (vgl. LTI: 213).295 Die jüdische 293 So geht beispielsweise die Freundschaft zu den Ehepaaren Kaufmann und Kühn aufgrund ihrer entsprechenden politischen Überzeugungen in die Brüche. Die Kühns seien zu hitlerfreundlich: „Frau Kühn predigte mir bei ihrem letzten Besuch hier Fassung und war selber im Punkte des Nationalsozialismus allzu gefaßt. So denn auch: Schluß.“ (ZAI: 235 [1.1.1936]; vgl. ebd.: 313 [9.10.1936]) Die jüdische Familie Kaufmann hingegen erkenne den Rassenunterschied zwischen „Ariern“ und „Juden“ an (vgl. ebd.: 235 [1.1.1936]). 294 Für zusätzliche Belegstellen zur ständigen Einengung von Klemperers Freundes- und Bekanntenkreis unter Einfluss des Hitler-Regimes vgl. ebd.: 203 [30.5.1935]; ebd.: 259 [28.4.1936]; ebd.: 263 [16.5.1936]; ebd.: 340 [27.3.1937]; ebd.: 418 [10.8.1938]; ebd.: 474 [20.6.1939]; ebd.: 550 [30.8.1940]. 295 Das Trauma der Stigmatisierung und Marginalisierung durch die Kennzeichnung als Jude wird im Wortspiel Pour le Sémite ironisch konterkariert: In Anspielung auf den preußischen Verdienstorden Pour le mérite wird der Davidstern als Pour le Sémite bezeichnet. Dieser „Galgenhumor“ verbindet Seriosität und Komik und wendet – faute de mieux – die Diskriminierung ins

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Bevölkerung wurde auf diese Weise mit einem klar erkennbaren Stigma versehen.296 Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wurde mit schweren Geldund/oder Haftstrafen sanktioniert. Klemperer empfand dieses Erinnerungszeichen als eine Erniedrigung, die für die Zukunft nur Schlimmeres erahnen ließ: Die Judenbinde, als Davidsstern wahr geworden, tritt am 19. 9. in Kraft. Dazu das Verbot das Weichbild der Stadt zu verlassen. Frau Kreidl sen. war in Tränen, Frau Voß hatte Herzanfall, Friedheim sagte, dies sei der bisher schlimmste Schlag, schlimmer als die Vermögensabgabe. Ich selber fühle mich zerschlagen, finde keine Fassung. [...] Die Zeitung begründet: Nachdem das Heer die Grausamkeit etc. des Juden am Bolschewismus kennen gelernt, müsse den Juden hier jede Tarnungsmöglichkeit genommen werden, um den Volksgenossen jede Berührung mit ihnen zu ersparen. (ZAI: 663 [15.9.1941])297

Einige Tage später trägt Klemperer diesbezüglich in seinem Tagebuch ein: „Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir.“ (ebd.: 671 [20.9.1941]) Die Einführung des Judensterns bedeutete für den Romanisten den endgültigen und expliziten Ausschluss aus der deutschen VolksgePositive: „Manchmal betrachtet man ihn [=den Stern, A.S.] mit Galgenhumor: ich trage den Pour le Sémite ist ein verbreiteter Witz; manchmal behauptet man, nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selber, man sei stolz auf ihn.“ (LTI: 218) Dieser verharmlosende Euphemismus sei Klemperer zufolge in letzter Konsequenz „nur eine Flucht, eine Erholung,“ deren beschönigender oder verhüllender Ton ebenfalls in anderen Ausdrücken aufzufinden sei, wie z.B. in „Konzertlager,“ das für „Konzentrationslager“ stehe (vgl. ebd.: 236). 296 Eine Ausnahme bildeten hier die „privilegierten Mischehen“, die – nach den Verordnungen – aus einem jüdischen, aber getauften Eheteil bestanden und deren Kinder eine christliche Erziehung genossen bzw. genossen hatten. Der jüdische Ehepartner musste sich nicht als Jude kennzeichnen und das Ehepaar wurde nicht dazu gezwungen, die Wohnung als solche kenntlich zu machen (vgl. ZAII: 338 [2.3.1943]; A 138: 880 [1.6.1943]). Der Unterschied zwischen „privilegierten“ und „nichtprivilegierten“ Mischehen führte innerhalb der Dresdener jüdischen Gemeinde auf Seiten der „Privilegierten“ zum Gefühl des Legitimiertseins bzw. der Überlegenheit: „Frau K. ist der naiven Meinung, es als sternlose Privilegierte mit Recht besser haben zu müssen als Sternträger.“ (ebd.: 1295 [4.1.1945]) Andererseits wurde der Unterschied für die „Nichtprivilegierten“ zu einer bitteren Quelle des Neides: „Durch die Trennung in Privilegierte u. Sternträger hat der Natsoc. Neid u. Haß unter die Juden gesät, eine Meisterleistung!“ (ebd.: 1295f. [4.1.1945]) Für nähere Informationen zur Spannung zwischen „Privilegierten“ und „Nichtprivilegierten“ sei der Leser auf LTI: 217f. verwiesen. Zur Lage der deutsch-jüdischen Mischehen im Dritten Reich vgl. ebenfalls Kaplan (2001b: 124-130) und vor allem die Forschungsarbeiten von Nathan Stoltzfus (1995; 1999). 297 Vielerorts kommentiert der Tagebuchautor en détail die Verordnung des „Judensterns“: „Der ‚Judenstern‘ schwarz auf gelbem Stoff, darin mit hebräisierenden Buchstaben ‚Jude‘, auf der linken Brust zu tragen, handtellergroß, gegen 10 Pf uns gestern ausgefolgt, von morgen 19. 9. ab zu tragen. Der Omnibus darf nicht mehr, die Tram nur auf dem Vorderperron benutzt werden. – Eva wird, wenigstens vorläufig alles Besorgen übernehmen, ich will nur im Schutz der Dunkelheit ein bißchen Luft schöpfen.“ (ZAI: 669 [18.9.1941]) In der Jahresbilanz zu Silvester 1941 heißt es: „Schwerster Schlag, schwerer als die Gefängniswoche im Sommer: der Judenstern seit 19. 9. 41. Seitdem vollkommen abgeschlossen.“ (ebd.: 703 [31.12.1941]) Am ersten Jahrestag der Einführung des Judensterns bringt Klemperer noch einmal die persönliche Bedeutung dieser Zäsur auf den Punkt: „Heute vor einem Jahr wurde der Judenstern aufgeheftet. Welch namenloses Elend ist in diesem Jahr über uns gekommen. Alles Vorherige scheint leicht demgegenüber.“ (ZAII: 247 [19.9.1942]) Das LTI-Kapitel „Der Stern“ (LTI: 213-219) enthält eine detaillierte Darstellung der psychischen Belastung, die dieses Stigma auslöste.

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meinschaft – aus dem „Allgemeinen“, in das er durch die Assimilation so gerne hätte abtauchen wollen (vgl. CVI: 352). Eine rekurrente Kompensationstaktik gegen seine erzwungene Randstellung besteht in der sprachkritischen Demontierung des Rassendenkens, um – wie in der nachstehenden Notiz – die Ungültigkeit und Illegitimität des „primitiven“ Antisemitismus nachzuweisen: Wenn Natur < nasci als Physis genommen wird, so ist es das Kennzeichen der menschlichen Natur sich von der Natur fortzubewegen, die Physis dem Geistigen dienstbar zu machen, die Physis abzuschwächen. Mann und Frau sind nicht mehr der starke Gegensatz der primitiven Zeit, Rassen verlieren ihre Bedeutung. (ZAII: 200 [8.8.1942])

Obwohl sich Klemperer gegen die Herabwürdigung und Stigmatisierung wehrt, indem er auf seiner geistigen Universalität und Unverletzlichkeit beharrt, ist das geradezu körperliche Gefühl der Erniedrigung kaum zu umgehen (vgl. ZAI: 632f. [23.6.-1.7.1941]).298 Die Beschädigung seiner Identität durch die Stigmatisierung mit dem Judenstern, durch die er darüber hinaus auch einer realen physischen Gefahr ausgesetzt ist, wird insbesondere durch die negative Singularisierung299 seiner Person in der „arischen“ Gesellschaft ausgelöst: Dieses Warten vor den Läden, das mich häufig trifft, ist besonders schauderhaft. [...] [A]lle Welt mustert meinen Stern. Tortur – ich kann mir hundertmal vornehmen, nicht darauf zu achten, es bleibt doch Tortur. Auch weiß ich von keinem Vorübergehenden, Vorüberfahrenden, ob er nicht zur Gestapo gehört, ob er mich nicht beschimpfen, anspucken, verhaften wird. (ZAII: 117 [9.6.1942])

Dem Tagebuchschreiben und den darin vorhandenen LTI-Überlegungen kam für Klemperer der Stellenwert einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu. Der Diarist beanstandete in dieser Linie das auf den ersten Blick „unkritisch“ erscheinende Ausgeliefertsein der jüdischen Gemeinschaft. Diese Meinung wurde auch von anderen geteilt: In einem Brief von Joseph Roth (1970: 281 [1.10.1933]) an Carl Seelig geht der österreichisch-jüdische Schriftsteller sogar soweit, die Juden selbst wegen ihrer „Passivität“ für den Antisemitismus verantwortlich zu machen. Victor Klemperer distanzierte sich aus denselben Gründen von der jüdischen Bevölkerung (vgl. ZAI: 178 [16.1.1935]). Obschon er angesichts der Einführung des Zwangsnamens „Israel“ 1939, der Eingemeindung ins „Judenhaus“ 1940 und des Tragens des Davidsterns 1941 sich dazu angehalten fühlte, zum Judentum Position zu beziehen, gingen diese Stellungnahmen in der Regel kaum mit Loyalität gegenüber der jüdischen Gemeinschaft ein298 Der Tagebuchschreiber notiert im „Judenhaus“ die unterschiedlichsten Reaktionen auf die Einführung des Judensterns, die von Stolz über Selbstisolation bis hin zu Scham reichen. Eine Leidensgefährtin versucht beispielsweise, mit einem katholischen Kreuz das Stigma zu neutralisieren: „Kätchen Sara trägt ostentativ ein Kreuz am Hals [...], um den Judenstern zu paralysieren.“ (ZAI: 669 [17.9.1941]) 299 Im Jahre 1943 gab es nach Klemperers Angaben in Dresden nur noch „60 Besternte“ (ZAII: 393 [12.6.1943]). Durch die Kennzeichnung mit dem Stern trage, so der Diarist, „jeder Sternjude [...] sein Ghetto mit sich, wie eine Schnecke ihr Haus.“ (LTI: 216)

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her: „Die Juden sind bestimmt im Unglück und im Recht; aber durchweg sympathisch? Nein danke.“ (ZAII: 517 [20.5.1944])300 Der Tagebuchschreibende zeigte sich zunehmend verärgert über die scheinbare Verinnerlichung antisemitischer Denkmuster durch die Juden, was ihm zufolge auf das desaströse Wirkungspotential der antisemitischen Hassrede schließen ließ. Hassrede und Identität Die unterbrochene Kontinuität im eigenen Lebenslauf und die Identitätsverletzungen durch die antisemitische Vernichtungspolitik schufen für Klemperer ein existenzielles Vakuum, in dem er die Entfremdung gegenüber der eigenen Existenz mittels Tagebuchführen zu konterkarieren suchte. Eine der Hauptfunktionen jüdischer Diaristik im Dritten Reich stellt die Identitätsbewahrung dar, eine Art Schutzmechanismus angesichts Stigmatisierung, Herabwürdigung und Todesangst, der „den Gehetzten, Galgenbedrohten, den Bespuckten“ (A 138: 1477 [29.4.1945]) gewissermaßen erlaubt, sich als Mensch und Individuum zu behaupten. In Haß spricht erläutert Judith Butler auf einleuchtende Weise, wie das verletzende Sprechen subjektkonstituierend wirkt. Sich an John L. Austins Begriff der „Performativität“301 und Louis Althussers Konzept der „Anrufung“302 anlehnend, versteht Butler Identität als Ergebnis einer diskursiven Bezeichnungspraxis, die durch regulierte Wiederholung materielle Effekte hervorbringt. Performative Sprechakte generieren dasjenige, was sie bezeichnen und haben somit wirklichkeitserzeugenden Charakter: Die Performativität lässt sich mithin als „ständig wiederholende und zitierende Praxis verstehen, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt.“ (Butler 1995: 22) Butler spricht wie Althusser von einem unterworfenen Subjekt, das durch die Benennung von außen eine Identität zugesprochen bekommt. Die Beschreibung dieses Prozesses, die Butler im Hinblick auf geschlechtliche Identität vornimmt, trifft auch auf rassische bzw. rassistische Kategorisierungen zu: Die rassische Zuordnung „Jude“ durch die Nationalsozialisten erschafft zugleich eine jüdische Identität bei konvertierten Assi300 Vor diesem Hintergrund rückt Walter Laqueur (1996: 257) die angeblich mangelhafte Solidarität des Dresdener Romanisten mit der jüdischen Gemeinschaft in den Vordergrund: Klemperer sei – überspitzt formuliert – „alles andere als ein guter Jude.“ 301 Judith Butler geht unter Rückgriff auf John L. Austins Zur Theorie der Sprechakte (2002) von der sprachphilosophischen These aus, dass Worte, indem sie ausgesprochen werden, Handlungen vollziehen. Im Gegensatz zu konstativen Äußerungen ist für performative Sprechakte wesentlich, dass sie einerseits zu einer Handlung auffordern und andererseits glücken oder nicht, statt wahr oder falsch zu sein (vgl. Austin 2002: 153). Vgl. auch Sepp (2014) für nähere Informationen zur Performativität der antisemitischen Hassrede. 302 In Ideologie und ideologische Staatsapparate formuliert Althusser (1977: 140) die wichtigste These seiner Ideologietheorie in nuce wie folgt: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.“ Laut dem französischen Philosophen kann man diesen Prozess der Subjektivierung mit einer Anrede eines Polizisten auf der Straße vergleichen: „He, Sie da!“ (ebd.: 142) Im Moment, wo sich jemand angesprochen fühlt und umdreht, ist er von der Ideologie schon subjektiviert worden aufgrund der Tatsache, dass er durch seine Handlung „anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt.“ (ebd.: 143)

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milanten wie Klemperer. Weil es sich bei der rassenbiologischen Kategorisierung um eine illokutionäre Sprachform handelt, die im Augenblick des Sprechens verletzt und das Subjekt gerade durch diese Verletzung konstituiert, übt sie eine adressierende Funktion aus (vgl. Butler 2006: 44). Für Klemperer wird der Akt der Anerkennung als Jude vor diesem Hintergrund zu einem Akt der Konstitution (vgl. ebd.: 46f.): Klemperer wird als jüdisches Subjekt ins Leben gerufen. Die „Aufdrängung“ der jüdischen Perspektive ist ihm jedoch widerwärtig: „Da bin ich doch wieder beim jüdischen Thema angelangt. Ist es meine Schuld? Nein, es ist die Schuld des Nazismus, und nur dessen Schuld.“ (LTI: 109) Obwohl dieses negative Verständnis von jüdischer Identität heftig umstritten ist und von verschiedenen Seiten abgelehnt wird, schreibt sich Victor Klemperer nolens volens in diese Logik ein. So analysiert der Diarist den NS-Alltag „sub specie judaeorum“ (A 138: 935 [26.8.1943]) bzw. „[d]urch die jüdische Brille.“ (ZAI: 579 [20.2.1941]; Kursivdruck im Original). Wie bereits an früherer Stelle angesprochen, geht Klemperer von einer negativen Bestimmung jüdischer Identität aus, der eindeutig die nationalsozialistische Gewalt inhärent ist.303 Klemperer 303 Das LTI-Kapitel „Die jüdische Brille“ (LTI: 233-242) schildert in allen Einzelheiten die Haltung der Juden gegenüber der nationalsozialistischen Diskriminierung und Verfolgung. Der Diarist urteilte vor diesem Hintergrund in seinem Tagebuch: „Mögen sie ins Ghetto zurückgedrückt, ganz und gar getreten und geschändet sein, mögen ihre Kinder die Heimat verloren haben – wenn sie nur wieder Geschäfte machen können, ist ‚der Tiefpunkt überwunden‘. Es ist so unendlich schamlos und ehrlos gedacht, daß man beinahe mit den Nationalsozialisten sympathisieren möchte. Eva sagte nachher, manche Leute ließen sich mit Klosettbürsten ins Gesicht schlagen, ohne es übel zu nehmen. Mir kommt es wie Atavismus aus der Ghettozeit des Mittelalters vor.“ (ZAI: 92f. [24.2.1934]) Klemperer empörte sich vor diesem Hintergrund vor allem über die anscheinende „Passivität“ der jüdischen Bevölkerung, die sich ihm zufolge dem Regime zu fügen schien. In der Frühphase des Dritten Reiches ärgerte er sich beispielsweise über die „Ghettogesinnung, neu erwacht. Man tritt uns, das ist nun einmal so. Wenn wir unsere Geschäfte machen können und kein Pogrom kommt. Besser Hitler als ein Schlimmerer!“ (ebd.: 171 [30.12.1934]; vgl. ebd.: 111 [13.6.1934]) Ab der Einführung des Judensterns im September 1941 beobachtete Klemperer in zunehmendem Maße die Abstumpfung, Selbstkriminalisierung und „innerliche Unterwerfung“ (ZAII: 324 [30.1.1943]) der jüdischen Bevölkerung. Anlässlich der Bestattung eines „Mischehemanns“, der von der Gestapo aus unbekannten Gründen verhaftet und nachher im Polizeipräsidium erhängt aufgefunden worden war, notierte der Tagebuchschreiber: „Die Juden gleichmütig und abgestumpft. Auch schon ganz Knechtschaftgewohnt. Der Tod des Mannes schien ihnen fast schon eine gerechte Sache: Er hätte wissen müssen, daß Privilegierte, deren Kinder im Ausland, neuerdings den Stern tragen müssen. Er war also schuldig! Ähnliche Urteile höre ich jetzt so oft.“ (ebd.: 354 [18.4.1943]) Klemperers distanzierte Kritik an der vermeintlichen „Passivität“ und „Ergebenheit“ der Juden zeigt erneut, dass er sich zu der Zeit nicht als Mitglied der jüdischen Gemeinschaft verstand. Die oft gehörte Frage, warum die Juden als Kollektiv keinerlei Widerstand geleistet hätten, setzt – und da schließe ich an Traverso (1997b: 338, Fußn. 88) an – die Existenz eines einheitlichen jüdischen Bewusstseins voraus, das es angesichts der Identitätsdiversität der jüdischen Bürger nicht existierte. Der Philologe entwickelte im Verlauf des Holocaust kaum ein inneres Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Judentum. Das ablehnende Urteil gegenüber den Juden kommt beispielsweise in den rekurrierenden, negativ besetzten Begriffen „Judenwelt“ (ZAI: 563 [10.12.1940]; ebd.: 584 [14.3.1941]) und „Judenheit“ (ebd.: 6 [21.1.1933]; ebd.: 178 [16.1.1935]; ebd.: 583 [11.3.1941]; ebd.: 653 [21.7.1941]; ebd.: 658 [7.8.1941]; ZAII: 95 [23.5.1942]; ebd.: 341 [6.3.1943]; ebd.: 528 [10.6.1944]) zum Tragen. Die jüdischen Insassen

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ist de facto dazu gezwungen, dem völkischen Gegensatzpaar ›deutsch/jüdisch‹ als analytischem Leitfaden seiner Beobachtungen zu folgen. Die rassische Dichotomie reduziert Menschen auf ein dominantes Merkmal, so dass ein Kollektivsubjekt entsteht, an dem Menschen gemessen und entweder akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Die Desorientierung durch die diskriminierende Einordnungsgewalt und Ungewissheit der Zukunft führt beim Subjekt zu einer generellen Verunsicherung und einem Gefühl des totalen Kontrollverlusts: Durch das Sprechen verletzt zu werden bedeutet, daß man Kontext verliert, also buchstäblich nicht weiß, wo man ist. Vielleicht macht tatsächlich gerade das Unvorhersehbare des verletzenden Sprechens die Verletzung aus, der Adressat wird seiner Selbstkontrolle beraubt. (Butler 2006: 13)

In einem Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1938, so zeichnet Klemperer detailgetreu auf, wird die jüdische Bevölkerung dazu aufgefordert, ihr Jude-Sein durch die administrative Hinzufügung „Israel“ bzw. „Sara“ auch namentlich kenntlich zu machen: Weil man [...] den deutschen Volksgenossen nicht nur vor den jüdischen Namen beschützen will, sondern noch viel mehr vor jeder Berührung mit den Juden selber, so werden diese aufs sorgfältigste abgesondert. Und eines der wesentlichsten Mittel solcher Absonderungen besteht in der Kenntlichmachung durch den Namen. Wer nicht einen unverkennbar hebräischen Namen trägt, wie etwa Baruch oder Recha, der hat seinem Vornamen ein ‚Israel‘ oder ‚Sara‘ beizufügen. (LTI: 103; vgl. ZAI: 419 [24.8.1938])

Bereits der Benennung als Israel bzw. Sara liegt die unmittelbare Ankündigung einer von den Nationalsozialisten geplanten Handlung zugrunde: Die Namen Israel und Sara stehen nicht länger für die Geburt der Benannten als Teil des auserwählten Volkes, sondern, ganz im Gegenteil, für deren Todesurteil (vgl. Günter 2002: 35). Die diskursive Herstellung von Andersheit, die Victor Klemperer schmerzlicherweise zu „Ich, Victor Israel Klemperer“ (ZAI: 421 [24.8.1938]) werden lässt, funktioniert über eine semantische Verschiebung, die die Bezeichnung der Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft in eine rassische Kategorie umwandelt; aus einem „Juden“ wird folglich pauschalisierend „der Jude“.304 Der verallgemeinernde Gebrauch des allegorisierenden Singulars zielt auf des Dresdener „Judenhauses“, in das Klemperer 1940 eingewiesen wurde, werden auf ähnlich negative Weise als „der zusammengepropfte Judenrest“ bezeichnet (ebd.: 442 [9.10.1943]). 304 Im Kapitel „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“ aus Dialektik der Aufklärung weisen Adorno und Horkheimer auf die Entkonkretisierung und Stereotypisierung des Judenbildes im modernen Zeitalter hin: „Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied.“ (Adorno und Horkheimer 2003: 199f.) Klemperers Tagebücher liefern ein aussagekräftiges Beispiel dafür, wie im Nationalsozialismus das Individuum zur „Spezies“ reduziert wurde. In der NS-Propaganda wurde den Eigennamen jüdischer Personen immer die Gattungsbezeichnung „der Jude“ hinzugefügt, wie zum Beispiel bei Karl Marx oder Heinrich Heine: „Der Jude Marx, der Jude Heine, nicht Marx oder Heine allein zu sagen,

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die Herabsetzung bzw. Diffamierung der jüdischen Bevölkerung und ist als Verfahren gängiges Mittel agitierender Rede- und Textformen im Nationalsozialismus: „Bis zum letzten Wahnsinn gesteigert ist [...] die Konzentration des Hasses. Nicht England oder USA oder Rußland – nur, in allem nur und einzig der Jude.“ (ZAII: 74 [28.4.1942]) Der Holocaust zielt offensichtlich nicht nur auf die Vernichtung des Körpers ab, sondern schlägt sich auch in der Sprache nieder. Die sprachliche Verletzung305 ist der Effekt des Anredemodus, der das Subjekt – so stellt Butler in Anlehnung an Louis Althusser fest – anruft und als solches konstituiert. Die Anrufung bzw. Kategorisierung als „der Jude“ stellt die gesellschaftliche Ausgrenzung des Subjekts dar und bildet den Angelpunkt seiner Zerstörung.306 Die verletzende Anrede – wie in „Du hast zu stehen, Jude!“ (ebd.: 45 [16.3.1942]) oder „geh herein, Jude!“ (ebd.: 290 [11.12.1942]) – ist in der stereotypisierenden und entpersonalisierten Reduktion eines Individuums auf seine maßgebliche Volks- und Rassenzugehörigkeit zu verorten, wie sie Klemperer hinsichtlich seiner amtlichen Bezeichnung durch die Gestapo registriert: „Wenn von mir amtlich die Rede ist, heißt es immer ‚der Jude Klemperer‘; wenn ich mich auf der Gestapo zu melden habe, setzt es Püffe, falls ich nicht ‚zackig‘ genug melde: ‚Hier ist der Jude Klemperer‘.“ (LTI: 104)307 Das propagierte realitätsferne Stereotyp des dämonischen ist eine Sonderanwendung des stilistischen Einhämmerns, das schon im antiken Epitheton ornans auftritt.“ (LTI: 338f.) 305 Thomas Pegelow (2006) stellt dar, wie das von der NSDAP und staatlichen Einrichtungen verbreitete rassische bzw. rassistische Kategoriensystem von „Deutschen“ und „Juden“ als Form „sprachlicher Gewalt“ identifiziert werden kann. In diesem dichotomischen Kategoriensystem werden die soziale Stellung, berufliche Beschäftigung oder gesellschaftliches Verdienst einer Person vollkommen bedeutungslos, denn sie ist nur noch „deutsch“ oder „jüdisch“. Das frühere Professorenamt Klemperers ist demgemäß für die Gestapo nur ein weiterer Grund zur Demütigung: „So bin ich bespuckt worden: ‚Du hast unsere Jungen unterrichtet?!‘“ (ZAII: 200 [8.8. 1942]) Zum Begriff der „sprachlichen Gewalt“ im Nationalsozialismus vgl. ebenfalls Gay (1999: 23f.). Für eingehendere Erwägungen im Hinblick auf Klemperers Erfahrungen mit der antisemitischen Kommunikation im Dritten Reich vgl. Kämper (2000: 30f.). 306 Vor diesem Hintergrund stellt auch das Duzen der jüdischen Bevölkerung seitens Gestapo und Polizei einen eindeutig herabsetzenden Sprechakt dar, der aus axiologischer Perspektive den Weg zur physischen Vernichtung ebnet. Die Tilgung der Höflichkeitsform bedeutet zugleich eine Tilgung des Subjekts. Dementsprechend stellt der Diarist fest: „Die Gestapo duzt den Juden, um ihm Verachtung auszudrücken.“ (A 138: 908 [21.7.1943]) Victor Klemperer, als preußisch geschulter Professor, war sich – geradezu übermäßig – seiner beruflich-sozialen Stellung in der Gesellschaft bewusst. Mithin war es ihm zuwider, dass ihn offizielle Machtträger in respektlosem Ton anredeten: Ein „Polizeimann [...] duzt mich: ‚Nimm deinen Mist (Mappe und Hut) vom Tisch. Setz den Hut auf. Das ist doch bei euch so. Da wo du stehst ist geheiligter Boden.‘“ (ZAII: 7 [12.1.1942]) In Bezug auf das Gestapo-Verhalten registriert der Tagebuchautor das Einhergehen von sprachlicher mit körperlicher Gewalt: „[D]ie Gestapo duzt, spuckt, prügelt.“ (ebd.: 189 [29.7.1942]; vgl. ebd.: 290 [11.12.1942]) 307 Durch den Namen, den man erhält, so legt Butler (2006: 10) nahe, wird man nicht nur angeredet, sondern, je nachdem, wie verletzend diese Anrede ist, entsprechend herabgesetzt und erniedrigt. Der axiologische Effekt von hate speech ist äußerst wirkungsvoll – die verletzende Anrede wirkt sozusagen als „Schlag ins Gesicht“: Die antisemitische Hassrede stellt somit nicht nur Gewalt dar, sie ist Gewalt. Die „administrative“ Kennzeichnung als Jude und die Auslöschung als Jude gehen geradezu untrennbar ineinander über. Im Tagebuch zeichnet Klemperer vor die-

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„Weltjudentums“ kollidierte zwangsläufig mit dem Aussehen und Verhalten konkreter jüdischer Individuen. Im persönlichen Kontakt mit der Gestapo war der Philologe dazu aufgefordert, sein – an sich unsichtbares phylogenetisches Stigma – in Erinnerung zu rufen. In der örtlichen Gestapodienststelle in der Bismarckstraße wurde er demgemäß dazu gezwungen, sich explizit als „Ich bin der Jude Victor Israel Klemperer“ anzumelden: Ein Gestapokerl neben dem Schalter: ‚Scher dich nach hinten, du Schwein!‘ Oben in dem ‚milderen‘ Zimmer 68 [...] ein kleiner Kerl in der Tür höhnisch grob. – ‚[...] Du hast laut und deutlich zu sagen: ‚Ich bin der Jude Victor Israel Klemperer.‘ Jetzt gehst du heraus und kommst wieder und sagst es ...‘ Geschieht. (ZAII: 414 [2.8.1943])308

Die herabsetzende und distanzierende Entmenschlichung durch das immer wiederkehrende Schimpfwort „Schwein“ bzw. „Judenschwein“309 und die Entsubjektivierung durch die verpflichtende Selbstdarstellung als „der Jude“ gehen mit dem Gefühl der Ohnmacht und Rechtlosigkeit genauso wie mit einem Schwund des Selbstwertgefühls einher. Die dualistische Logik des Kollektivsymbols „Tier“ in der Hassrede dient einer kategorialen Distanzierung von den Opfern. Der inflationäre und manichäische Gebrauch der Kollektivsingulare „der Deutsche“ und „der Jude“ stellte einen staatlichen Angriff auf die Universalität des Individuums dar und hatte folgenschwere, ominöse Auswirkungen auf die „arische“ Volksmeinung. Die Benutzung des NS-konformen ethnischen bzw. administrativen Gegensatzpaares ›deutsch/jüdisch‹ durch Frau Belka, eine Arbeiterin in der Firma, wo Klemperer zwangsangestellt war, stellt für den Tagebuchautor seinen schmerzlichen Ausschluss aus der Gemeinschaft unter Beweis: Die Wirkung der Propaganda: Frau Belka fragte mich schon wiederholt: ‚Haben Sie eine deutsche Frau?‘ – ‚Hat Jacobi eine deutsche Frau?‘ Usw. Mich erschüttert das mehr als das Fremdwort ‚arisch‘. Es zeigt, wie sehr die ‚totale Abschnürung‘ der Juden im Volksbewußtsein geglückt ist. (ebd.: 511 [3.5.1944])

Die zitierte Frage, ohne vielleicht bewusst und unverhohlen antisemitischer Ausprägung zu sein, zeigt, wie sehr sich der Diskurs der rassischen Segregation in der Alltagssprache der „arischen“ Bevölkerung eingenistet hatte. Solche Aussagen sem Hintergrund auf: „Gestern nachmittag [...] im Judenhaus Strehlener Straße. An jeder Tür ein Zettel: ‚Hier wohnte der Jude Weiler ...‘ – ‚Hier wohnte die Jüdin ...‘ Das sind die Evakuierten, deren Mobiliar versiegelt ist und allmählich abgeholt wird.“ (ZAII: 47 [16.3.1942]; vgl. ZAI: 324 [8.12.1936]; ebd.: 527 [22.5.1940]; ebd.: 582 [4.3.1941]; ZAII: 441 [7.10.1943]; ebd.: 592 [25.9.1944]) 308 Der Diarist zeichnet aber auch Ausnahmen auf, aus denen hervorgeht, dass man sich deutscherseits gelegentlich weigerte, den Namenszusatz „Israel“ oder „Sara“ zu verwenden. Der Straßenarbeiter, der das Schneeschippen beaufsichtigte, lässt eine solche Benennung bewusst aus: „Verteilung der Lohnbeutel. Namen ohne ‚Israel‘. (Straßenmeister: ‚Dazu bin ich zu taktvoll.‘)“ (ebd.: 29 [22.2.1942]) 309 Die Beleidigung durch das Schimpfwort „Schwein“ war gang und gäbe während des Holocaust, so stellt der Tagebuchautor am eigenen Leibe fest. Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise ebd.: 97 [25.5.1942]; ebd.: 119 [11.6.1942]; ebd.: 125 [13.6.1942]; ebd.: 220 [23.8.1942]; ebd.: 352 [16.4.1943]).

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wirken auf Klemperer besonders verletzend, weil sie seinen bis dahin gehegten Glauben an die deutsch-jüdische Symbiose unterminieren, deren Misslingen er auch im Dritten Reich nicht immer wahrhaben wollte.310 Aber nicht nur in der „arischen“ Bevölkerung drang das „Gift der LTI“ (LTI: 27; vgl. ebd.: 82; ZAII: 319 [27.1.1943]) ein, auch das jüdische Selbstverständnis war von der sprachlichen Gewalt der Nationalsozialisten betroffen (vgl. Drawert 2013: 404), indem man sich durch die Reartikulierung der Dichotomie deutsch/jüdisch tatsächlich in die völkische Matrix einordnete. Es erwies sich als ungemein schwierig, sich dem Hegemonialdiskurs zu entziehen und von den gängigen, eingetrichterten Floskeln der Propaganda in der eigenen Rede Abstand zu halten. Vor diesem Hintergrund kritisierte Klemperer empört: „Ich ärgere mich über das Nachplappern der LTI-Wörter durch die Juden und sündige doch selbst.“ (ebd.: 483 [6.2.1944]; vgl. LTI: 233)311 Ungewollt wurde so die judenfeindliche Logik von Juden selbst übernommen und die Fremdwahrnehmung auf die Selbstwahrnehmung projiziert. Die antisemitische Anredeweise als „Jud’ x“ (vgl. ebd.: 104),312 die Juden sprachlich verletzt, benachteiligt und ausschließt, wurde beispielhaft vom jüdischen Dr. P., der „sich vor 1933 ganz und gar als Deutscher“ gefühlt hatte, adaptiert: Er [=Dr. P., A.S.] eignete sich alle judenfeindlichen Äußerungen der Nazis, speziell Hitlers, an und bewegte sich immerfort derart in dieser Ausdrucksweise, daß wahrscheinlich er selber nicht mehr beurteilen konnte, wieweit er den Führer, wieweit er sich selber verspottete, und wieweit ihm diese Sprechart der Selbsterniedrigung zur Natur geworden war. So hatte er die Gewohnheit, keinen Mann seiner Judengruppe anzureden, ohne die Bezeichnung Jude vor seinen Namen zu setzen. ‚Jude Löwenstein, du sollst heute die kleine Schneidemaschine bedienen.‘ – ‚Jude Mann, hier ist dein Krankenschein für den Zähnejuden‘ (womit er unsern Zahnarzt meinte). (ebd.: 248) 310 Während Gershom Scholem die Tatsächlichkeit des deutsch-jüdischen Gesprächs anzweifelte, war Martin Buber (1993 [1939]: 152) der Meinung, die Juden hätten bis zum Beginn des nationalsozialistischen Regimes in einer fruchtbaren Symbiose gelebt, die „durch ein eigentümliches Zusammenwirken deutschen und jüdischen Geistes beglaubigt“ wurde. Klemperer haderte im Dritten Reich mit seinem Schicksal und konnte das das Ende der Symbiose lange Zeit nicht akzeptieren. 311 Klemperer führt verschiedene Beispiele für das jüdische „Nachplappern“ der LTI an, darunter Elsa Glauber und Carl Jacoby. Elsa Glauber, jüdische Leidensgefährtin im „Judenhaus“ in der Dresdener Zeughausstraße, zeigte sich sehr empfänglich für die sprachliche Kontaminierung durch die NS-Lexik, indem sie betonte, ihre beiden Söhne müssten „fanatische Deutsche sein,“ um das Vaterland „von der jetzigen Undeutschheit“ reinzuwaschen (LTI: 244f.). Insbesondere weil das Adjektiv „fanatisch“ ein Schlüsselwort des nationalsozialistischen Jargons darstellte (vgl. ebd.: 77-83), reagierte der Diarist empört: „Wissen Sie denn nicht, daß Sie die Sprache unserer Todfeinde sprechen und sich damit besiegt geben und sich damit ausliefern und damit Verrat üben gerade an Ihrem Deutschtum.“ (ebd.: 245) Auf analoge Weise beobachtete Klemperer bei dem in Mischehe lebenden Carl Jacoby, der ins „Judenhaus“ in der Fiedlerstraße eingewiesen worden war, den Einfluss der totalitären Sprache: „LTI. Jacoby spricht immer wieder von ‚jüdischen Menschen‘, von ‚Umbruch‘ etc. Die Sprache des Siegers.“ (A 138: 1012 [2.2.1944]) 312 Die herablassende, apostrophierende Rede vom „Jud’ x“, wie beispielsweise in „Jud’ Mandel“, ist eine eindeutig erniedrigende Bezeichnung für Juden, wie der Diarist feststellt: „Der Apostroph ist Mittelalterwürze und Pejorativ (Pessimativ).“ (ZAI: 527 [22.5.1940])

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Der Einfluss des nationalsozialistischen Dogmas und der entsprechenden Lexik führt zu einer eigenartigen Rollenverwirrung von Opfer und Täter.313 Die zitierte Passage rückt eindrucksvoll in den Vordergrund, wie sich die Sprache des aufgeklärten akkulturierten Bildungsbürgers Dr. P., der früher „keine Zeit an Probleme der Religion und der Rasse vergeudet[e]“ (ebd.), ins diskursive Gegenteil verkehrt. Es ist unklar, ob es sich in der Nachahmung des antisemitischen Diskurses um Hass oder Selbsthass, Spiel oder Ernst handelt, oder eben alles zugleich zur Wirkung kommt.314 Sie bringt allerdings die zwiespältige Haltung des deutschjüdischen Assimilanten zum Ausdruck, der sein emphatisches Deutschsein unter Beweis stellen wollte, aber indes zum Scheitern verurteilt war, da er für das NSRegime aus rassischen Gründen definitiv und ausschließlich als Jude galt. Die Übernahme der LTI deutet auf ein kaum bewältigbares Bewusstsein um seine Andersheit hin (vgl. Wohlfarth 2000: 131).315 Das Einschleichen der NS-Sprache und der entsprechenden Rassenideologie in die Psyche der Opfer ist für Victor Klemperer buchstäblich höchst schmerzhaft: „Jeden Tag war es mir von neuem ein Schlag ins Gesicht, schlimmer als das Du und die Schimpfworte der Gestapo, nie bin ich mit Protest und Belehrung dagegen aufgekommen, nie bin ich dagegen abgestumpft.“ (LTI: 243) Gegen die rassische, „blutbedingte“ Trennung von Juden und Deutschen, die ihm höchst künstlich erschien, beharrt Klemperer auf der Vorrangigkeit von Sprache und Kultur für das nationale Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums: 313 Diese paradoxe und besonders schmerzhafte Rollenvertauschung, die in extremem Maße auf die jüdische Identifizierung mit Deutschland zurückgeht, stellt Klemperer auch bei Herrn Katz fest, einem jüdischen Insassen im „Judenhaus“: „Herr Katz, Kaufmann, hat den Krieg als Offizier mitgemacht, ist Monomane des deutschen Soldatentums, gebärdet sich nationalistischer als jeder Nazi, freut sich der deutschen Siege, verachtet die Entente. ‚Wir‘ werden England aushungern, ‚wir sind unwiderstehlich, unbesiegbar‘. – Die englische Blockade? ‚Nebbich die Blockade!‘“ (ebd.: 532 [31.5.1940]) 314 Der deutsch-jüdische Arzt, der Obmann einer Gruppe Zwangsangestellter in der Fabrik war, wo auch Klemperer arbeitete, reproduziert die ideologische Grundstruktur des nationalsozialistischen Diskurses, der einerseits Marxismus und andererseits Kapitalismus unmittelbar mit dem Judentum in Verbindung bringt. Aus dem Assimilierten, der sich nicht um Rasse und Religion kümmerte, ist im Holocaust ein jüdischer Antisemit geworden, der sich durch „ein Sichanklammern an Deutschland [auszeichnete], ein Lieben, das nichts wissen wollte von seinem Geschmähtsein.“ (LTI: 263) Aus antisemitischer Perspektive sagt Dr. P. beispielsweise: „Der Marxismus trachtet danach, die Welt planmäßig in die Hand des Judentums überzuführen“, oder in ähnlicher Manier, in Bezug auf das „Schachern“ von Börsengeldern: „Auf dem Umweg der Aktie schiebt sich der Jude in den Kreislauf der nationalen Produktion ein und macht sie zum Schacherobjekt.“ (ebd.: 249) 315 Bukowzer, einer der zwangsangestellten Arbeiter, war genauso wie Dr. P. vor 1933 ein deutsch fühlender, assimilierter Jude, schlug aber eine entgegengesetzte Richtung ein: Er wurde zum überzeugten Philosemiten, der „das Deutschtum, den Liberalismus und Europäismus seiner Vergangenheit bereute“ (ebd.) und sich gegen die Rede des Dr. P. verwehrte. Hierbei griff er wiederholt zu dem Hitler´schen Fetischwort „diffamieren“: „Ich lasse mich nicht diffamieren, ich dulde nicht, daß unsere Religion diffamiert wird!“ (ebd.: 250) Die traurige Ironie der „beiden LTI-Hörigen“ (ebd.) besteht gerade darin, dass diese Männer diametral entgegengesetzte Positionen einnehmen, ihren Disput aber in der Sprache des Feindes führen, die zu ihrer eigenen geworden ist.

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Im Sprachstrom [...] schwimmen sämtliche Kulturelemente, die man bewußt oder unbewußt in sich aufnimmt. Musik, Malerei, Architektur geben Einzelaspekte – Sprache enthält das gesamte Geistige. Und das gesamte Geistige ist von der Sprache nicht zu trennen. […] Bin ich einmal in einer Sprache aufgewachsen, dann bin ich ihr für immer verfallen, ich kann mich von dem Volk, dessen Geist in ihr lebt, auf keine Weise, durch keinen eigenen Willensakt abwenden, durch keinen fremden Befehl absondern lassen. – Im Sinn des Nutrimentum spiritus ist das Sprichwort umzukehren: Wes Lied ich singe, des Brot ich esse. (ZAII: 322 [28.1.1943])316

Die Akzeptanz des Rassendenkens, das sich Klemperers Meinung nach beispielhaft in der generischen Verwendung des bestimmten Artikels – der Jude – niederschlage, werfe den Menschen auf eine animalische Existenz zurück und klammere die abendländische Zivilisation und ihre Geistesgeschichte völlig aus.317 Angesichts der schlagartigen Bedeutungslosigkeit seines Bildungsstandes als Romanistik-Professor und seiner lebenslangen Assimilationsbemühungen, durch die er sich gesellschaftliche Anerkennung erhofft hatte, fühlt sich der Diarist in seinem Menschsein gedemütigt. In der pseudowissenschaftlichen Rassenlehre sieht Klemperer grundlegende Merkmale der NS-Ideologie verkörpert, wie Antiindividualismus, Antihumanismus, Antiintellektualismus, Pauschalisierung und Gefühlsüberschwang (vgl. ZAI: 498 [18.10.1939]; vgl. CVII: 481). Besonders in einer Zeit der Bedrohung der persönlichen Integrität entfaltet das Tagebuch eine beinahe heilende Funktion, die dem Subjekt hilft, sich auf sich selbst zu besinnen (vgl. ZAII: 492 [4.3.1944]). Die diaristische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität gestaltet sich als bewusste Anstrengung und Selbstkontrolle. Das tägliche Schreiben unterstützt die Arbeit der SelbstGestaltung, indem es eine Einwirkung auf sich selbst darstellt. Im Tagebuch des Dritten Reiches geht der Diarist, dessen frühere, unhinterfragte Sicherheiten bis ins Mark erschüttert wurden, der Frage nach, wer er im Moment des Schreibens tatsächlich ist: „Ich war doch wer – u. ganz aus mir heraus! – Aber wer bin ich jetzt?“ (A 138: 758 [26.12.1942]) 316 Aus diesem Grund wählt Klemperer als Motto für seine sprachkritische Arbeit LTI Franz Rosenzweigs Diktum „Sprache ist mehr als Blut“ (LTI: 8; im Original Fettdruck). Nicht das Rassenprinzip soll dem Diaristen zufolge beobachtungsleitend sein, sondern das Geistige, die Sprache, die das Individuum mit einer spezifischen Tradition und einer bestimmten Kultur verbindet. Geist und Bildung standen zeitlebens im Mittelpunkt von Klemperers nationalem Zugehörigkeitsgefühl. Die seelische, gefühlsmäßige und intellektuelle Verbundenheit mit dem Vaterland machte ihn zum selbstbewussten Deutschen, nicht die Rasse: „Was war denn schon das Blut – auf die geistige Zugehörigkeit kam alles an, das unterschied den Menschen vom Tier.“ (CVI: 19) Ein rassisches Verständnis von nationalen Wesensmerkmalen komme einer schmählichen Entmenschlichung gleich, wie der Diarist in Bezug auf die völkische Rede von der angeblichen Objektivität des Deutschen anmerkt: „In einer andern Rede: ‚Deutsch sein heißt klar sein‘ als Wahlspruch herausgestellt. (Was ist ihm Klarheit? Primitivität! Ich variiere: Deutsch sein heißt Tier sein.).“ (ZAI: 143 [11.9.1934]) 317 Der Begriff „Rasse“, so hebt Klemperer hervor, sei durch seine terminologische Unschärfe gekennzeichnet und stelle Unterschiedliches dar, das die Nationalsozialisten auf „das Volk“ reduziert hätten: „Rasse ist [...] ein dehnbarer, ein Gummi-, ein Zwiebelbegriff. Rasse: die ganze Menschheit gegenüber Tier und Pflanze, Rasse das Volk, der Stamm, das Geschlecht gegenüber der jeweils weiteren Gruppe.“ (ZAII: 320f. [28.1.1943])

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Das Tagebuch schafft für Klemperer somit einen Ort der Selbstbeobachtung, der Bestätigung und/oder Hinterfragung seines Selbstverständnisses, von Kontinuität und Brüchen in seiner Lebensgeschichte. Vor diesem Hintergrund stellt das Tagebuch eine unverzichtbare Orientierungshilfe für den Diaristen dar, dessen Schreiben im Dritten Reich somit als wirkungsvolles Instrument der SelbstTechnik zu verstehen ist. Die nachfolgenden Erwägungen zum Zusammenhang zwischen Identitätskonstitution und dem Akt des diaristischen Schreibens in den Tagebüchern Victor Klemperers bieten einen Erklärungsansatz, welche Rolle die diaristische Schrift bei der Herausbildung von Identität und Subjektivität spielt. Unbeständige Identitäten: Zwischen Deutschtum und Judentum Im Jahr 1938, in der August-Ausgabe der jüdischen Zeitschrift Der Morgen, einige Monate vor dem endgültigen Erscheinungsverbot, schreibt Emanuel bin Gorion: „Der Jude, der an der europäischen Kultur gebildet wurde, sich irgendwelcher Isolation lebenslang nicht bewußt war und unvermutet erfährt, daß er ohne Heimat ist – woran soll sein Geist sich klammern?“ (bin Gorion 1938: 214) Für Victor Klemperer, assimilierter deutscher Jude, aufgewachsen im Wilhelminischen Kaiserreich, war eine der wichtigsten Stützen zur Selbstbewahrung im Dritten Reich das emphatische Festhalten an seiner deutschen Identität, was sich in seinen Tagebüchern der NS-Zeit – wider besseres Wissen – in der Hypertrophie der Heimatliebe niederschlug. Das Auseinanderfallen einer als einheitlich imaginierten Welt und das Verlangen nach Sicherheit machen die beiden Pole eines Spannungsfeldes aus, in dem die Metapher der Heimat für Klemperer als Sehnsuchtsbegriff fungiert.318 Für die meisten in Deutschland verbliebenen Juden war Heimat nach 1933 – und sicherlich nach 1938 – nur noch das Echo einer längst untergegangenen Welt. Den Spuren der empfindlichen Spannung zwischen Heimat und Fremde begegnet man allenthalben in den deutsch-jüdischen Medien, wie im nachfolgenden Zitat aus der CV-Zeitung vom April 1933: „Wir fühlen uns wie Verbannte, die im eigenen Heimatlande bleiben dürfen. Wir sitzen im deutschen Exil an den Strömen Deutschlands, aber wir weinen nicht.“ (H. 1933: 1) In Der Morgen vom 1. April 1937 drückt Mala Laaser das Gefühl der verlorenen Heimat folgendermaßen aus: Über wenig hundert Jahre waren meine Leute hierzulande Gast. Sie wissen aber, wie das tut, wenn man lange zu Gast in einem Lande lebt? Kommt da nicht der Tag, wo man meint, daheim zu sein? Und so war es immer: am Tag, da dem Gast die Fremde zur Heimat werden will, zwingt ihn das Schicksal zu sich selbst zurück. Man hat geträumt, und man wurde geweckt. (Laaser 1937: 13)

318 Bernhard Schlink (2000: 32) rückt in diesem Zusammenhang die Melancholie des Verlustes als Grunderfahrung des Heimatgefühls in den Mittelpunkt: „Heimat ist Utopie. Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt; das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh. Aber auch wenn man nicht weg ist, nährt sich das Heimatgefühl aus Fehlendem, aus dem, was nicht mehr [...] ist.“

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Angesichts des Verlusts der vertrauten stabilen Fixpunkte wie nationale Zugehörigkeit, soziales Ansehen, Zukunftszuversicht, psychische Integrität wird sich der Tagebuchautor im untenstehenden Zitat schmerzlich seiner definitiven Außenseiterstellung bewusst. Im Laufe seiner Marginalisierung vollzieht sich ein Sinneswandel in seiner Selbstwahrnehmung. Dadurch kommt nicht nur die Temporalität der Gattung Tagebuch zum Tragen, sondern auch die innerliche Veränderung des schreibenden Subjekts. Infolge der Judenverfolgung steht der Romanist Heimat und Vaterland wesentlich selbstkritischer gegenüber als in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, wie die nachfolgende Erinnerung an seine Schulzeit in Landsberg vor Augen führt: Im ‚Stürmer‘ (der an jeder Ecke aushängt) sah ich neulich ein Bild: zwei Mädchen im Seebad, Badekostüm. Darüber: ‚Für Juden verboten‘, darunter: ‚Wie schön, daß wir jetzt unter uns sind!‘ Da fiel mir eine längst vergessene Kleinigkeit ein. September 1900 oder 1901 in Landsberg. Wir waren in der Unterprima 4 Juden unter 16, in der Oberprima 3 unter acht Klassenschülern. Von Antisemitismus war weder unter den Lehrern noch unter den Schülern Sonderliches zu spüren. Genauer rein gar nichts. Die Ahlwardtzeit und Stoeckerei kenne ich nur als historisches Faktum. Ich wußte nur, daß ein Jude weder Verbindungsstudent noch Offizier werde. [...] Am Versöhnungstag nahmen also die Juden nicht am Unterricht teil. Den nächsten Tag erzählten die Kameraden ohne alle Bösartigkeit lachend (so wie das Wort bestimmt auch von dem durchaus humanen Lehrer bestimmt nur scherzend gesprochen wurde), Kuhfahl der Mathematiker habe zu der verkleinerten Klasse gesagt: ‚Heut sind wir unter uns‘. Das Wort nahm in der Erinnerung eine geradezu grausige Bedeutung für mich an: Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen Volkes auszudrücken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele verkörpert, daß er wirklich ‚Deutschland‘ bedeutet, und daß er sich deshalb halten und zu Recht halten wird. Womit ich denn nicht nur äußerlich vaterlandslos geworden bin. Und auch wenn die Regierung einmal wechseln sollte: mein innerliches Zugehörigkeitsgefühl ist hin. (ZAI: 372f. [17.8.1937]; vgl. ebd.: 393 [18.1.1938])

Dieser Heimat- bzw. Identitätsverlust zeitigte unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstverständnis vieler deutscher Juden.319 Das Selbst wird stets in Beziehung zu anderen figuriert und definiert sich durch diese soziale Eingebundenheit. Klemperers anfängliche Weigerung, Deutschland und Nationalsozialismus bzw. Deutsche und Nationalsozialisten gleichzusetzen, erfolgt aus seiner weitgehenden emotionalen Identifikation mit dem Vaterland. Durch die tief greifenden rassistischen Identitätsdefinitionen, die 1935 in den Nürnberger Gesetzen von den Nationalsozialisten pseudorational ausformuliert wurden, kam der Tagebuchautor in ein Wechselbad der Gefühle und der schwankenden Selbstdefinitionen. Die Nürnberger Ge319 Die deutsch-jüdische, vollkommen assimilierte und in Mischehe lebende Ärztin Hertha Nathorff (1988: 50f. [30.8.1933]) bringt in einem in ihr Tagebuch aufgenommenen Gedicht das durch den Nationalsozialismus brüchig gewordene Identitätsgefühl schmerzhaft zum Tragen: „Von deutschen Eltern ward ich deutsch erzogen/Und deutsch zu denken und zu fühlen hat man mich gelehrt./Die deutsche Heimat ward mir heilig/Und alles Deutsche lieb und wert/Und das alles will man mir nehmen/Ich sei nur ungebetener Gast.“

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setze besiegelten de facto und de jure das Ende der „deutsch-jüdischen Symbiose“: Die Fremdheit der jüdischen gegenüber der „arischen Rasse“ wurde durch die Gesetzgebung juridisch festgelegt, wobei der Begriff des Jüdischen so weit wie nur möglich gefasst wurde (vgl. Traverso 1993: 61).320 Dennoch klammerte sich der Diarist am Deutschtum fest und weigerte sich dementsprechend, den Begriff „nichtarisch“ für sich anzuerkennen. Als er nach dem Inkrafttreten der Rassengesetze aufgefordert wurde, dem „Bund nichtarischer Christen“ beizutreten, trägt er in seinem Tagebuch ein: „[I]ch ging nicht darauf ein, es wäre mir sonst eine Anerkennung der Hitlerei gewesen.“ (ZAI: 675 [28.9.1941]) Klemperer lag es ferne, die Idee der deutschen Heimat aufzugeben, sah er sie doch als notwendigen Hintergrund von Identitätsstiftung an. Der Romanist, den dank seiner Mischehe mit Eva Schlemmer nicht das Schicksal der dem Holocaust zum Opfer gefallenen Juden ereilen sollte, befand sich – trotz der ständigen Herabwürdigung und Bedrohung – allerdings in einer Ausnahmesituation, die es ihm erlaubte, nicht pauschal von seinem idealisierten Deutschlandbild abrücken zu müssen. Das Tagebuch, an das er sich während der 12 Jahre des Dritten Reiches tagtäglich klammerte, war für ihn das entsprechende Medium, sich gegen die Herabwürdigung durch den Nationalsozialismus mit seiner eigenen Identität auseinanderzusetzen. Als Gegenzug zu seinem brüchig gewordenen Selbstbild, so Jack Zipes, führte Klemperer Tagebuch, „um eine Heimat zu schaffen inmitten der Heimatlosigkeit.“ (Zipes 1997: 37) Für die Tagebücher Klemperers lässt sich feststellen, dass die chronikalische Kontinuität in der Tagebuchführung sowohl über die Jahre hinweg als auch in der strukturellen Organisation jedes einzelnen Eintrags einen autobiographischen Zusammenhang produziert, der in der planmäßigen Verschriftlichung der eigenen Existenz aus dem Nachvollzug des Gewesenen einen Entwurf für die Zukunft gewinnt. Die Notizen bilden die Folie eines Gestern als Bereich der Identität, vor dem sich die Gegenwart als Horizont der Differenz und des Neuen abzeichnen kann. Darüber hinaus soll die besondere Stellung des Tagebuchs zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Selbst und Anderem, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit unterstrichen werden. Die Veröffentlichungspraxis der Tagebücher verstärkt gerade die Ambiguität der letzteren Opposition. Auch wenn das Tagebuch nicht mehr strikt geheim bleibt, imitiert es noch immer die Geheimhaltung (vgl. Marszałek 2003: 50). Das Tagebuch, im Unterschied zu konsequent narrativischen autobiographischen Formen (wie Memoiren oder Autobiographie), 320 Im Jahre 1935 wurde unter dem einheitlichen Namen der „Nürnberger Rassengesetze“ neben dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutsche Ehre“ – dem so genannten „Blutschutzgesetz“ –, das unter anderem Ehen und außereheliche Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verbot, auch das „Reichsbürgergesetz“ erlassen, das der jüdischen Bevölkerung die Reichsbürgerschaft absprach. Victor Klemperer protokollierte anlässlich dieser Gesetze seinen krankmachenden „Ekel“ (ZAI: 219 [17.9.1935]). Auch Hertha Nathorff als Ärztin war die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung der „Rassenschande“ unerträglich (vgl. Nathorff 1988: 74f. [2.10.1935]).

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ist übrigens auf der Mikro-Ebene, auf der Ebene jeder einzelnen Tageseintragung, narrativ organisiert, obwohl die Textstränge oft keine fortlaufenden Geschichten oder Argumentationen entwickeln, sondern selbst wiederum in unzählige Detailbeschreibungen zerfallen. Das moderne Tagebuch dient auf diesem MikroNiveau, im Festhalten von Serien aktueller Ereignisse, in erster Linie der Artikulation der Vielfältigkeit des widersprüchlichen und instabilen Selbst. Der Tagebuchschreibende Victor Klemperer kann die Notizen führen, um eine Fiktion des kohärenten, stabilen Selbst zu produzieren, er kann aber im diaristischen Prozess auch erkennen, dass das Ich von heute nicht mit dem von gestern identisch ist.321 Die Konstrukthaftigkeit der Subjektivität in der Moderne trifft also a forterio auch für den Bereich des modernen Tagebuchs zu. Insistieren wir hier kurz auf den theoretischen Grundlagen der narrativen Psychologie, die im Rahmen dieser Studie für die Bestimmung diaristischer Subjektivität fruchtbar gemacht werden können. Die narrative Psychologie hat sich insbesondere mit der Frage befasst, wie narrative Operationen im Hinblick auf die personale Identität funktionieren. Im Gegensatz zu vormodernen Zeiten werden Menschen in westlichen Gesellschaften nicht mehr mit einer kohärenten und stabilen Definition des Selbst versorgt. In der Moderne ist das Tagebuch nicht mehr der analytischen Introspektion, dem bloßen moralischen bzw. religiösen Bekenntnis vorbehalten. Das Ich wird nicht mehr einfach durch das Schreiben gezähmt, sondern läuft im Gegenteil Gefahr, sich im Akt des Schreibens selbst zu verlieren und zu verfließen. Das Selbst kann demzufolge als eine Fertigkeit betrachtet werden, welche im alltäglichen sozialen Leben erworben werden muss (vgl. Polkinghorne 1998: 32). Eine Äußerung zur eigenen Person ist stets eine narrative Sinnproduktion, die die Identität eines Subjekts nicht unmittelbar zeigt. Der Tagebuchschreiber konstituiert sich im täglichen Text jeweils neu. In jedem Eintrag versucht er – vergeblich, so stellt sich später heraus –, sich an einer stabilen Selbstdefinierung, an seinem unabdingbaren Deutschsein, festzuhalten. Für Klemperer, konvertiert, assimiliert und Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, bedeutet die Diskriminierung durch den Nationalsozialismus einen harten Schlag, da die judenfeindliche NS-Ideologie die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung rücksichtslos zunichte machte. Als er 1935 amtlich entlassen wird,322 stellt er zuerst verbittert fest, dass seine Assimila321 Aus manchen Textstellen wird deutlich, dass der Diarist die innerliche Veränderung seiner Identität erkannte. So hob er beispielsweise hervor, er sei nicht meht der Patriot und Nationalist, der er früher mal gewesen sei: „Wie es auch politisch kommen mag, ich bin innerlich endgiltig verändert. Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für immer.“ (ZAI: 430 [9.10.1938]) 322 Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das dazu diente, „nichtarische“ Personen aus der Beamtenschaft zu entlassen, galt Klemperer ab dem 7. April 1933 endgültig als Jude. Drei Tage später trug Klemperer noch einigermaßen erleichtert in seinem Tagebuch ein: „Die entsetzliche Stimmung des ‚Hurra, ich lebe‘. Das neue Beamten-‚Gesetz‘ lässt mich als Frontkämpfer im Amt – wahrscheinlich wenigstens und vorläufig.“ (ebd.: 20 [10.4.1933]) Nur der Frontkämpferstatus verzögerte Klemperers sofortige Entlassung – um zwei Jahre.

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tion, seine Taufe, sein Patriotismus und sein Kriegseinsatz für die Nationalsozialisten augenscheinlich keineswegs von Bedeutung sind, weil für sie nur „das Blut“ entscheidet: „Also hat man mich nicht einsparungshalber hinausgeworfen. Sondern als Juden. Obschon ich im Felde war.“ (ZAI: 198 [4.5.1935]; vgl. ZAII: 414 [2.8.1943]; ebd.: 592 [25.9.1944]) Der Diarist, Träger des bayerischen Verdienstkreuzes, wurde zu seiner großen Enttäuschung aus rassischen Gründen „entpflichtet“.323 Victor Klemperer klammerte sich als Kompensationsstrategie an einem kultivierten Wunschbild des Deutschtums fest.324 Nach der Lektüre von Sammy Gronemanns Roman Tohuwabohu schärft er sich gebetsmühlenartig ein, er hätte mit seinem Übertritt zum Protestantismus und der Verwerfung seiner jüdischen Herkunft die richtige Wahl getroffen. Zionismus und Nationalsozialismus stellen, so Klemperer, undeutsche, weil rassenideologische, antiaufklärerische Extrempositionen dar: Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran festhalten: Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Komödie wäre von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen. (ebd.: 83f. [11.5.1942])325 323 Das Verdienstkreuz war dem Romanisten ein wichtiges Symbol des Deutschtums. Am Wahlsonntag vom 5. März 1933 steckte er sich wie eine Art Amulett das „Königlich Bayerische Verdienstkreuz 3. Klasse mit Schwertern“ an, mit dem er im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden war, um den Sieg der Nationalsozialisten in Bayern abzuwenden. Vergebens: „Ich hatte zum Scherz, weil ich auf Bayern hoffte, mein bayrisches Verdienstkreuz angesteckt. Dann der ungeheure Wahlsieg der Nationalsozialisten. Die Verdoppelung in Bayern.“ (ZAI: 8 [10.3.1933]) Robert Gellately (2002: 46f.) weist diesbezüglich nach, wie zur Zeit des Boykotts viele jüdische Ladenbesitzer, um als Akt des Widerstands ihre Liebe zu Deutschland zu demonstrieren, ihre Kriegsauszeichnungen zur Schau stellten. In Berlin malten einige von ihnen ihre Medaillen selbst an die Schaufensterscheiben. Ein anderes Widerstandssymbol aus der kaiserlichen Zeit war für Victor Klemperer die schwarz-weiß-rote Reichsfahne. Anlässlich der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 hisste Klemperer als Zeichen leisen Widerstands gegen die Fülle an Hakenkreuzfahnen in der Nachbarschaft seine „schwarzweißrote ‚Judenfahne‘“ (ZAI: 177 [15.1.1935]), die Flagge des Deutschen Kaiserreichs. 324 Klemperers unablässige Orientierung am Deutschtum als ethischem Bezugspunkt ist in Earl Jeffrey Richards’ Aufsatz „National Identity and Recovering Memories in Contemporary Germany“ (1999) Zielscheibe einer virulenten Kritik. Richards bezeichnet Klemperers tendenziell ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum als unkritische Selbstverleugnung: „Er [=Victor Klemperer, A.S.] suchte Schutz im irreführenden und obsessiven Trugbild des Deutschtums.“ (ebd.: 125f.) Der Tagebuchautor selbst wird darüber hinaus auf fragwürdige Weise für die reaktionäre Rezeption seiner Tagebücher in den 1990er Jahren verantwortlich gemacht, weil er, so Richards, aufgrund seines jüdischen Selbsthasses antisemitisch veranlagt gewesen wäre und somit zwangsläufig dem Nationalsozialismus nahe gestanden hätte (vgl. ebd.: 136f.). 325 Victor Klemperer sah seine Assimilation als eine Erfolgsgeschichte, durch die er sich vollkommen von der jüdischen Religion und Kultur seiner Vorfahren losgelöst hatte (vgl. Faber 2005: 158f.). Die Taufe und die darauffolgende Mischehe waren für ihn „Beweis für gänzlich reibungsloses Leben [...] in allen Bezirken deutschen Lebens.“ (ZAI: 456f. [10.1.1939]) Vor diesem Hintergrund erschütterte es den Tagebuchschreibenden, dass ein junger Mann, Sohn einer Mischehe, „getauft, durchaus europäisch und deutsch gerichtet, vom ‚Volk der Juden‘“ sprach (ebd.: 695 [17.12.1941]). Indem er nach den ersten Kriegsmonaten die Beitrittsanfrage der jüdischen Gemeinde Dresden ablehnte, betonte er sein Selbstverständnis als assimilierter, kon-

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Klemperers persönliche Entscheidung bestand in der Absage an das nationalsozialistische Verständnis von Deutschtum und Judentum. Nach seiner – polemischen – Auffassung war Jude, wer das zu sein beschlossen hatte, und nicht jemand, der eine festgeschriebene Identität empfangen hatte. Auf diese Weise gewährte er sich selbst einen gewissen Identitätsfreiraum im Dritten Reich, der es ihm erlaubte, sich weiterhin als Deutschen begreifen zu können. In einer vielsagenden Notiz über seine einwöchige Haftstrafe in einer SS-Zelle im Jahre 1941 hält Klemperer fest: Es ist ehrenhaft, jetzt gefangen zu sein, es wird einem künftigen Leumundszeugnis zugute kommen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, ich bin nicht wegen meiner Verdunklungssünde in Haft, sondern als Jude im Gefängnis. Nichts kann mich wahrhaft demütigen, jede Demütigung erhöht mich nur und sichert meine Zukunft. (ZAI: 613 [23.6.-1.7.1941])

Durch die Ablehnung des jüdischen Identitätsangebots gelingt es dem Tagebuchschreibenden gewissermaßen, sein Verfolgtsein nicht als Verneinung und Demütigung seines Selbstverständnisses anzusehen, sondern als Zukunftssicherung in der ersehnten Nachkriegszeit. Der innere Kampf, sein idealisiertes Deutschtum bis zum Letzten gegen die Nationalsozialisten – und sekundär auch gegen die Zionisten – zu verteidigen, ist deshalb aufschlussreich, weil dieser, jenseits von Antisemitismus und Politik, die Schwierigkeit eines Individuums zeigt, im Spannungsfeld von Selbsterschaffung und äußerer Restriktion eine Identität zu definieren, zu etablieren und zu verhandeln (vgl. Haase 2003: 12). Klemperers Tagebücher aus der nationalsozialistischen Zeit werden mithin zum Ort eines Prozesses, in dem der Autor seine politische, religiöse und soziale Identität zu gestalten vermag. Alles Private durchdringende Ereignisse wie die Machtübernahme Hitlers, die „Reichskristallnacht“, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust bedingen während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft eine lebensgeschichtliche Phase erhöhter Selbstreflexivität und folglich eine ständigen Neuformierung des Ich im Tagebuch. Der existenzielle Ich-Entwurf Klemperers, der als problematische Identität seinen Ausgangspunkt im Entschwinden von Beobachtungssicherheit und Handlungssouveränität findet, kann sich in jedem Eintrag jeweils neu gestalten. Klemperer schreibt diesbezüglich: „[M]orgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.“ (LTI: 19f.) Angesichts der formalen Unabgeschlossenheit der Gattung Tagebuch stellen jüngere Eintragungen nicht notwendigerweise eine Korrektur älterer Notizen dar (vgl. Faber 2005: 163). Eine geradlinige Entwicklung der Identitätskonstruktionen des Diaristen lässt sich somit keineswegs ausmachen. vertierter Deutscher, der sich nicht als Jude verstehen wollte: „Die israelitische Gemeinde Dresden fragt an, ob ich ihr beitrete, da sie die Reichsvereinigung der Juden örtlich vertrete; die Bekenntnischristen fragen an, ob ich bei ihnen bleibe. Ich habe den Grüberleuten geantwortet, ich sei und bliebe Protestant, ich würde der Jüdischen Gemeinde gar keine Antwort geben.“ (ebd.: 483f. [3.9.1939]) Ein paar Jahre später bringt der Diarist paradoxerweise seine Enttäuschung über seine Isolation innerhalb der jüdischen Gemeinde zum Ausdruck: „Die Leute haben für die getauften Juden nichts übrig.“ (ebd.: 584 [14.3.1941])

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Einen Gegensatz zwischen Deutschtum und Judentum gab es für Klemperer in keinem Fall: „Sich alles assimilieren können und doch seine Eigenart bewahren, sie aber nie an die große Glocke hängen [...], das ist deutsch.“ (CVII: 195)326 Die (gelungene) Assimilation war für ihn ein deutsches Phänomen par excellence, und nach 1933 sah er sich des Öfteren außerstande, von seinem Idealbild abzurücken, ganz im Gegenteil: Er ließ sich nicht „entdeutschen“ und verstand sich selbst als Vertreter der humanistischen deutschen Werte und Tugenden, die vom Nationalsozialismus ad absurdum geführt worden waren: „in meinem Lager ist Deutschland!“ (ZAI: 110 [13.6.1934]; vgl. ebd.: 216 [16.9.1935])327 Die Verfolgung führte – bis in das Jahr 1942 hinein – zu einer Phase kämpferischer Bereitschaft, seine deutsche Identität zu behaupten. Die Assimilierten wurden somit zu den wahren Deutschen schlechthin hochstilisiert: Die Umkehr der assimilierten Generation – Umkehr wohin? Man kann nicht zurück, man kann nicht nach Zion. Vielleicht ist es überhaupt nicht an uns zu gehen, sondern zu warten: Ich bin deutsch und warte, daß die Deutschen zurückkommen; sie sind irgendwo untergetaucht. (ZAII: 105 [30.5.1942])328

Das Zitat erweckt den Eindruck, es handle sich hier um einen Appell an das eigene Durchhaltevermögen und das eigene vertraute Selbst- und Weltbild (vgl. Faber 2005: 137). Das Misslingen seiner Assimilation, die mit der Zeit die Form einer unerwiderten Liebe angenommen hatte, wollte Klemperer kaum wahrha326 Die deutsch-jüdische Symbiose, von deren Realisierbarkeit der Diarist fest überzeugt war, bildete für ihn den Kern der deutschen Aufklärungsidee der Toleranz. Als Klemperer während seines Studienaufenthaltes in Genf eine offen antisemitische Berliner Studentin kennenlernte, gab er sich beleidigt als Jude, der er nach seiner Taufe „offiziell“ eigentlich nicht mehr war. Diese Reaktion ist weniger als Verteidigung des Judentums zu verstehen denn als Abwehr gegen einen Angriff auf die Idee des Deutschtums überhaupt, der Bildung, Freiheit und Toleranz inhärent seien. Die Vorurteile der Kommilitonin waren somit mit seiner Auffassung des Deutschen nicht in Einklang zu bringen: „‚Wie ist das möglich? Das wächst mitten in Berlin auf, das hat gute Schulbildung, das ist nicht eigentlich dumm und gewiß nicht schlecht und denkt so!‘“ (CVI: 302). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Misch (2001: 150f.). 327 Diese Formulierung erinnert natürlich an Ernst Kantorowicz’ aus dem Jahre 1936 stammende geflügelte Worte „In unserem Lager ist Deutschland“ (Kantorowicz 2006: 11-12; 55-58), denen für die deutschen Exilanten eine ermutigende Bedeutung zukam. Kantorowicz verteidigte das „wahre“ Deutschland einerseits gegen die Nationalsozialisten, „die mit jedem ihrer Worte, die mit jeder Tat den Begriff ‚Deutsch‘ schänden, was haben sie mit Deutschland zu tun?“ (ebd.: 55) Andererseits richtete sich seine Kritik gegen diejenigen, die „verwirrt von Hass, Hitler mit Deutschland gleichsetzen, die nun gegen alles hetzen, was deutsch ist.“ (ebd.: 12) Der überzeugte deutsch-jüdische Nationalist, der sich als Vertreter des „wahren deutschen Schrifttums“ verstand, war Mitbegründer der „Freiheitsbibliothek“ in Paris und des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“ im Exil und verkörperte das legitime, weltoffene Deutschtum. Heinrich Mann (1971: 169) betont in seinem erstmals 1938 erschienenen Aufsatz „Über Goethe“ auf ähnliche Weise, das „wahre“, humanistische Deutschtum eines Goethe sei mit dem antihumanen Nationalsozialismus fundamental unvereinbar: „Der ganze Goethe widerspricht dem heutigen Zustand seines Volkes gründlich.“ 328 Der Tagebuchautor sah sich gezwungen, die Attribuierung von außen anzunehmen, doch seine Entfernung aus dem Deutschtum als ethisch-kulturellem Prinzip konnte er nicht anerkennen: „Es handelt sich nicht darum, was die andern von mir glauben, über mein Deutschtum entscheidet allein mein Gewissen.“ (ZAI: 592 [15.5.1941])

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ben. Je größer die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität wurde, desto größer wurde das Verlangen, die Kluft durch die übersteigerte Betonung seines Deutschtums auszufüllen, um diese aus der Welt zu schaffen.329 Das unzweideutige, patriotische Bekenntnis zum Deutschtum erwies sich indes als immer unhaltbarer, ohne aber jemals gänzlich aufgegeben zu werden.330 Es handelt sich bei dem zuletzt zitierten Eintrag um eine einheitliche narrative Selbstdarstellung, die dem emanzipatorischen deutsch-jüdischen Assimilationswunsch verhaftet bleibt, jedoch allmählich durch multiple Identitäten ersetzt wird. Am 14. September 1943 notiert Klemperer beispielsweise: „Gibt es den Deutschen, gibt es den Juden?“ (ZAII: 426f. [14.9.1943]) Gegen Ende des Krieges heißt es auf durchaus ähnliche Weise: „Wer sage: der Deutsche, der Pole, der Jude, habe immer Unrecht.“ (ebd.: 704 [21.3.1945])331 Victor Klemperers Tagebücher des Dritten Reiches werden durchkreuzt von unbeständigen Spuren und unsicheren Versuchen einer persönlichen Verortung. Der antisemitische Diskurs gilt im Tagebuch als Auslöser für die weitgehend dominierende Auseinandersetzung des Ich mit dem Alltag und führt zu einer Neudefinition der eigenen Identität. In seinem Aufsatz Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein beschreibt Jean Améry die gesellschaftliche Dynamik der Identitätsbildung bzw. -zuschreibung dahingehend, dass man Jude sei nur „durch die bloße Tatsache, daß die Umwelt [...] [einen] nicht ausdrücklich als Nichtjuden fixiert. Etwas sein kann also bedeuten, daß man etwas anderes nicht ist.“ (Améry 1977: 147) Dementsprechend hält Victor Klemperer fest: „[I]ch urteile als Jude, weil ich als solcher von der jüdischen Sache im Hitlertum besonders berührt bin, und weil sie in der gesamten Struktur, im ganzen Wesen des Nationalsozialismus 329 Zur deutsch-jüdischen Symbiose als einseitige Liebe der deutschen Juden bzw. als Monolog vgl. Traverso (1993: 56). 330 Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass vor allem in den beiden letzten Kriegsjahren das Tagebuch verhältnismäßig wenig zur Identitätsproblematik aussagt. In dieser Periode nehmen andere – vordergründig tagespolitische und situationsbedingte – Themenbereiche den Hauptraum ein: das Leben im „Judenhaus“, der Kriegsverlauf, Reflexionen über das Leben nach dem Krieg, die Irrwege durch Bayern nach der Bombardierung Dresdens. Die Einträge haben vielmehr berichtenden als reflexiven Charakter. Darüber hinaus scheint Klemperers Selbstverständnis in jenen Jahren ein vorläufiges Gleichgewicht erreicht zu haben – mit der Aufgabe des Nationalismus bei Aufrechterhaltung der Orientierung an Deutschland und am Deutschtum. Für nähere Informationen über die Jahre 1944-1945 in Klemperers Tagebüchern vgl. Faber (2005: 142f.). 331 Bereits im Jahre 1938 legte Klemperer nachdrücklich dar, seine nationalistischen Auffassungen seien unter dem Zeichen des Hakenkreuzes revisionsbedürftig geworden. Das Deutschtum als vergeistigtes Prinzip der Bildung und Kultur wurde allerdings nicht aufgegeben: „Wie es auch politisch kommen mag, ich bin innerlich endgiltig verändert. Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für immer. Mein Denken ist jetzt ganz und gar das voltairisch kosmopolitische. Jede nationale Umgrenzung erscheint mir als Barbarei. [...] Voltaire und Montesquieu sind mehr als je meine eigentlichen Leute.“ (ZAI: 430 [9.10.1938]; vgl. ZAII: 88 [18.5.1942]) Hans Reiss (1998: 65) betont vor diesem Hintergrund, dass Klemperers Entwicklung im Verlauf der NS-Herrschaft durch einen „Übergang von extremem Nationalismus hin zum Kosmopolitismus“ gekennzeichnet war. Dem soll sicherheitshalber hinzugefügt werden, dass bis zum Ende des Krieges der Diarist vorrangig am Ideal der deutschen Geistesgeschichte orientiert war und somit nationalen Denkmustern verhaftet blieb.

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zentral steht und für alles andere uncharakteristisch ist.“ (ZAI: 588 [16.4.1941]) In Bezug auf die von ihm als aufoktroyiert und künstlich empfundene jüdische Identität schreibt Klemperer einige Monate später provokant: „Hitler hat buchstäblich das ‚Volk der Juden‘, das ‚Weltjudentum‘, den Juden geschaffen.“ (ebd.: 695 [17.12.1941])332 Das Judentum erscheint in dieser Weise schlichtweg als Produkt feindseliger externer Zuschreibungen. Der Antisemitismus kreiert dem Diaristen zufolge das Judentum als eine negative Zugehörigkeit:333 Juden, ohne den Druck des Antisemitismus oder und vor allem ohne die Furcht vor diesem Druck, werden in ihrem gesamten Fühlen und Denken andere Menschen sein – sie werden aufgehört haben, Juden zu sein, sie werden ganz zu den Nationen gehören, in deren Mitte sie leben. (ZAII: 321f. [28.1.1943]; vgl. ebd.: 248 [21.9.1942]; ebd.: 360f. [26.4.1943])334

Der Philologe orientiert sich also während des Holocaust weiterhin an dem Desiderat der Assimilation und der Integration in die Gesellschaft der jeweiligen Diaspora-Staaten. Sein Deutschtum stellt einen Ort der Sehnsucht, ein Wunschbild dar, das er konsequent gegen ethnisch-biologische Einstufungen und Kategorisierungen verteidigt. Das Tagebuch, wie sich aus diesen Überlegungen zeigt, ist für Klemperer ein wichtiges Mittel sozialer bzw. kultureller Identitätsbildung, dem für den Diaristen im Dritten Reich eine deutlich autotherapeutische Funktion zukommt, indem das Niederschreiben von Erlebtem und Gedachtem dazu dienen konnte, es zu bewältigen. Das Journal wird folglich zum einzigen Ort, an dem sich Klemperer seines Eigenwertes und seiner Heimat bewusst bleiben kann. In einem Eintrag aus dem Jahr 1942, in dem er bereits – vorgreifend und sich selbst Mut machend 332 Über die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, so Klemperer, sollte nicht der Nationalsozialismus, sondern nur auf freie und bewusste Weise das Gewissen der Einzelperson entscheiden. Klemperer zufolge, der sich als selbstbewusstes, hoch gebildetes Individuum verstand, wäre ein jüdisches Selbstverständnis ein Zeichen der persönlichen Schwäche gewesen: „Dem Volk gehört an, wer Durchschnitt und nicht Persönlichkeit ist.“ (ZAII: 320 [28.1.1943]) Im Gegensatz dazu – und dies zeigt wieder einmal die rekurrente Identitätsunsicherheit des Philologen – kann Klemperer die spezifischen und in sich selbst präsenten – Gruppenmerkmale von Juden und Deutschen nicht verneinen: „Was ist also mit dem Juden, dem Deutschen etc.? Und doch existieren Gruppencharaktere.“ (ebd.: 158 [6.7.1942]) 333 Die Gefahr dieser These liegt meiner Ansicht nach darin, dass ein Zusammenhang zwischen jüdischer „Realität“ und ihrer feindlichen Erfassung durch den Antisemitismus impliziert wird. Slavoj Žižek (1991: 116) weist zu Recht darauf hin, dass der Judenhass nicht durch reale Merkmale realer Personen hervorgerufen wird: Die phantasmagorische antisemitische „Vorstellung von den Juden hat mit den Juden nichts zu tun; die Gestalt des Juden ist ein Versuch, den Riß in unserem ideologischen Gebäude zu kitten.“ 334 Dem Judentum spricht Klemperer überdies auch eine eigenständige, kulturelle Tradition ab. Nach der Lektüre einer Studie Simon Dubnows zur jüdischen Geschichte betont der Diarist dementsprechend, es gebe keine spezifisch jüdische Kulturtradition oder Geistesgeschichte: „Ich habe [...] die Dubnowbroschüre ‚Jüdische Geschichte‘ gelesen u. notiert. Auf dem Blatt stehen auch meine Einwände. Es gibt keinen ‚zweiten Teil‘ specifisch jüdischer Geistgeschichte. Isoliert sind die Juden nach der alttestamentarischen Leistung steril. Sie werden productiv überall da, aber auch nur da, wo sie mit ihrer neuen Umwelt gehen, mit Arabien, mit Scholastik – Descartes etc.“ (A 138: 655 [4.8.1942])

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– an eine ersehnte Zeit nach dem Krieg denkt, schreibt der Tagebuchautor: „Und wenn ich auch Deutschland haßte, [...] ich könnte mir das Deutsche nicht ausreißen. Und ich möchte hier wieder aufbauen helfen.“ (ebd.: 148 [28.6.1942]) Obwohl Klemperer ab 1942, aus seiner Sicht dem schwersten Jahr der nationalsozialistischen Judenverfolgung, seinen Patriotismus und Nationalismus weitgehend aufgegeben hat, steht sein Selbstverständnis als Deutscher und seiner Zugehörigkeit zu Deutschland nach wie vor im Mittelpunkt der Tagebucheinträge. Seine deutsche Identität bleibt für ihn eine individuelle Entscheidung und infolgedessen eine Tatsache, die von NS-Verordnungen nicht widerlegt werden kann. Auf diese Weise verschafft er sich eine gewisse geistige Freiheit, die es ihm erlaubt, sein ideelles Deutschlandbild nicht völlig verloren zu geben (vgl. Faber 2005: 144). Klemperers Tagebücher spiegeln in ihrer Auseinandersetzung mit der Bedeutung von nationaler Identität die Situation vieler deutscher Juden, die sich als nationalbewusste und kulturstolze Deutsche verstanden, aber vom NS-Regime unter dem Zeichen einer menschenentwertenden Rassenideologie als Juden ausgegrenzt und aus ihrem beruflichen wie sozialen Umfeld und ihrer staatlichen Zugehörigkeit ausgestoßen wurden. Die Tagebücher geben einen aufschlussreichen Einblick in das Ausmaß dieser Kränkung und Verletzung eines als natürlich empfundenen nationalen Selbstverständnisses. Der Tagebuchautor legt in gewissen Eintragungen das Widerspruchsgeflecht von Meinungen und Handlungen, die immer wieder zu korrigieren sind, rückhaltlos offen, befragt und relativiert sich stets neu, so dass seine Verfehlungen, Irrungen und Vorurteile nachvollziehbar werden. Die schonungslose Selbstdarstellung offenbart sich beispielsweise in seinem „Treueeid auf den Führer“, den er 1934 leistete (vgl. ZAI: 163 [20.11. 1934]) und im Nachhinein zutiefst bereute: Ich habe 1933 [sic] unter sophistischer Beruhigung meines klarsehenden Gewissens der Regierung Hitler den Treueid geschworen, ich habe an meinem gemein gewordenen Amt geklebt, bis man mich hinausgeworfen hat – und ich sollte über Vaters Frühstück am Versöhnungstag zu Gericht sitzen? (CVI: 42)335

Diese anfangs loyale Haltung zeichnete sich gewissermaßen auch bei anderen Juden ab: Ende 1933 erklärte beispielsweise Leo Baeck, die „nationale Revolution“ gegen den Bolschewismus könne mit der Unterstützung der jüdischen Gemeinde rechnen (vgl. Traverso 1993: 120). Klemperer legte seinen Schwur im Jahre 1934 daher nicht nur bloß aus opportunistischen Gründen ab: Er kapitulierte nicht etwa vor dem Regime, sondern identifizierte sich mit Deutschland und den staatlichen Institutionen. Verschiedene Motive begründen diese Haltung gegenüber Deutschland, von dem er sich weder als geistiges Prinzip noch als geographische Heimat verabschieden wollte: Das Streben nach vollkommener Assimilation, um 335 In der Rückschau, nach seiner Amtsenthebung im Jahre 1935, lässt Klemperer moralische Bedenken gegen seinen 1934 abgelegten Schwur erkennen: „Ich habe im letzten Amtsjahr auf Hitler geschworen, ich bin im Lande geblieben – ich bin nicht besser als meine arischen Mitmenschen.“ (ZAI: 264 [16.5.1936])

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vollwertiges Mitglied der deutschen Gesellschaft zu werden, entsprang dem Bedürfnis, sein Deutschtum demonstrativ unter Beweis zu stellen. Die Orientierung an einem verklärten Deutschlandbild, die sich in unterschiedlicher Intensität fast bis zum Ende des Krieges beobachten lässt, war Ausdruck seines verzweifelten Versuchs, an der Legitimität seiner von Kind an gepflegten Grundüberzeugungen festzuhalten. Deutschland war für den Philologen das Land des Humanismus, er wiederholte immer wieder, „in Deutschland lebe doch eine bessere Menschheit, und ein gütiges Schicksal habe mich als Deutschen zur Welt kommen lassen.“ (CVII: 252) Nach Klemperers kulturkundlicher Überzeugung stand der Nationalsozialismus als deutsches Phänomen in schroffem, ja anachronistischem Gegensatz zur zivilisatorischen Überlegenheit der deutschen Kultur: „Wenn Italiener so etwas tun – na ja, Analphabeten, südliche Kinder und Tiere ... Aber Deutsche.“ (ZAI: 12 [17.3.1933])336 Diese Verinnerlichung deutscher Überzeugungen und Tugenden machte es vielen Juden, darunter auch Klemperer, so schwer – zumindest bis zum Novemberpogrom 1938 (vgl. ebd.: 443-447 [15.12.1938]) – auf Flucht zu sinnen und sich ins Ausland zu retten (vgl. Benz 1997: 68f.). Der Holocaust schien zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar, denn Deutschland war schlussendlich, wie Peter Gay betont, „ein hochzivilisiertes Land.“ (Gay 1999: 130) In der Anfangszeit des Nationalsozialismus zeigte sich Klemperer einerseits gekränkt, andererseits besorgt darüber, dass seine deutschpatriotische Haltung von anderen jüdischen Mitbürgern offenbar nicht mehr geteilt werden konnte. Vor diesem Hintergrund demonstrierte Klemperer ein gewisses „Verantwortungsgefühl“ gegenüber Deutschland, indem er auch angesichts der NS-Diktatur von seine Überzeugungen nicht abrücken wollte. Der Tagebuchautor verstand sich, so Omer Bartov (1998: 41-42; 2003: 212-215), als „den letzten Deutschen“, den letzten wahrhaften Vertreter des deutschen Emanzipationsgedankens.337 Er beteuert in diesem Zusammenhang, dass er „ganz und gar Deutscher sei und bis zum 336 Die deutschen Juden, die entschieden für die Assimilation eingetreten waren, sahen Deutschland als Speerspitze der europäischen Moderne an. In der März-Ausgabe der jüdischen Zeitschrift Abwehr-Blätter heißt es im Hinblick auf die Machtübergabe an Hitler: „Der Antisemitismus des Nationalsozialismus [...] drückt Deutschland auf das tiefe Kulturniveau Polens, Rumäniens und des alten Rußland herab.“ (Schr. 1933: 35) 337 Bartov (2003: 214) nennt diese Haltung, mit der der Diarist sein Deutschtum gegen sowohl Judentum wie auch Nationalsozialismus ausspielt, eine „bewundernswerte Arroganz,“ die sein unerschütterliches Vertrauen in die deutsche Kultur, die auch für die Schandtaten des Nationalsozialismus verantwortlich war, zum Ausdruck bringt. Während Klemperer angesichts der Verfolgung an einer betont deutschen Identität festhielt, verstärkte die NS-Herrschaft für die meisten verfolgten Juden ihr jüdisches Selbstverständnis. In Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah bringt Simha Rottem das Gefühl, nach der Räumung des Warschauer Ghettos der letzte Jude zu sein, folgendermaßen zum Ausdruck: „Ich begegnete keiner einzigen lebendigen Seele. In einem bestimmten Augenblick, so erinnere ich mich, fühlte ich eine Art Frieden, eine Gemütsruhe. Ich sagte mir: ‚Ich bin der letzte Jude. Ich warte auf den Morgen und auf die Deutschen‘.“ (Rottem in Lanzmann 1985: 200) In Menschen in finsteren Zeiten schreibt Hannah Arendt (1989: 33), dass sie „auf die Frage: Wer bist Du? die Antwort: Ein Jude, für die einzig adäquate gehalten habe, nämlich für die einzige, die der Realität des Verfolgtseins Rechnung trug.“

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äußersten in Deutschland bleiben wolle.“ (ZAI: 82 [27.1.1934])338 Nach der „Reichskristallnacht“ im Jahre 1938 aber wird die quälende Auswanderungsfrage immer prominenter, und der Autor macht sich – ohne viel Überzeugung – auf die Suche nach einer Auslandsstelle: „Gehen oder Bleiben? Zu früh gehen, zu lange bleiben? Ins Nichts gehen, im Verderben bleiben?“ (ebd.: 436 [27.11. 1938])339 Peter Gay beleuchtet in seiner Kindheitsautobiographie Meine deutsche Frage die prinzipielle Schwierigkeit vieler deutscher Juden, sich – in sowohl emotionaler als auch geographischer Hinsicht – während der NS-Herrschaft – in der Praxis zwischen 1933 und 1938 – vom Heimatland zu verabschieden und auszuwandern: Selbsternannte Kommentatoren hatten es, zumal Jahrzehnte nach dem Geschehen, nur allzuleicht, die deutschen Juden kollektiv zu tadeln: ‚Und ihr habt wirklich, selbst nach den Nürnberger Gesetzen und anderen Greueln, immer noch geglaubt, ihr wäret Deutsche?‘ Aber wir waren ja Deutsche, Deutschland, das waren nicht die Verbrecher, die die Herrschaft an sich gerissen hatten – wir waren es. [...] Doch meine Eltern und ich dachten nicht, unser Leben sei ein Wahn. Zwar war unser Deutschland ins Exil geflohen oder in den Untergrund gegangen, und Widerstand gegen die Naziunterdrückung schien unmöglich. Aber wir glaubten, daß die Nazis kein Recht hatten, uns ihre Perversion der Geschichte und Biologie aufzuzwingen. (Gay 1999: 129f.)340 338 Für ähnliche Belegstellen vgl. ebd.: 317 [18.10.1936]; ebd.: 388 [28.12.1937]. Georg Klemperer, der in früheren Zeiten alle Spuren seines Judentums löschen wollte und seinen jüngeren Bruder ausdrücklich darin bestätigt hatte, zum Protestantismus überzutreten, ließ bereits im Jahre 1935 in einem Brief sein Unverständnis angesichts des fortdauernden Patriotismus seines Bruders, für den das Verlassen Deutschland keine Option darstellte, erkennen: „Deine Anschauungen teile ich nicht ganz wie Du weißt. Ich würde ja an Deiner Stelle einen Auslandsplatz erstreben u. wirken, solange es möglich ist. Ob Du recht hast, Dich an Dein Haus zu binden? Das kannst Du aber nur allein beurteilen. Wenn das Gesetz uns unserer Staatsbürgerschaft entkleidet, kann ich nicht in Deutschland bleiben.“ (A 371 [23.5.1935]; vgl. A 370 [22.2.1934]) 339 Der Diarist erkannte gut anderthalb Wochen nach der „Reichskristallnacht“, dass aus der Diskriminierung eine Verfolgung geworden war, und er für sich eine Emigration nicht mehr prinzipiell ausschließen konnte (vgl. ZAI: 431 [22.11.1938]). Eine Auswanderung kam ihm vor allem in der Frühphase des Dritten Reiches überhaupt nicht in den Sinn, denn, so schreibt Klemperer, er könne „nur Geistesgeschichte vortragen, und nur in deutscher Sprache und in völlig deutschem Sinn. Ich muß hier leben und hier sterben.“ (ebd.: 39 [9.7.1933]) Klemperer bewarb sich nach 1938 im Ausland um verschiedene Stellen, betonte aber mehrmals emphatisch, er wolle Deutschland im Grunde nicht verlassen – wie im folgenden Zitat hinsichtlich einer Stelle in Spanien: „Ich werde diese Stelle nie bekommen, wir beide wollen sie nicht haben [...]. Ich sage mir immer wieder: Entweder ich überlebe den Krieg, dann brauche ich nicht fort; oder ich überlebe ihn nicht, dann brauche ich auch nicht fort, und während des Krieges kann ich nicht heraus.“ (ebd.: 556 [14.10.1940]) Darüber hinaus belastete ihn der Gedanke, außerhalb Deutschlands ohne die Hilfe seiner erfolgreicheren Geschwister – allen voran Georg – nicht überleben zu können 340 Amos Elon widerlegt in Zu einer anderen Zeit den Mythos einer angeblichen Symbiose zwischen Christen und Juden in Deutschland. Die Tatsache, dass viele jüdische Deutsche nach 1933 in Deutschland blieben, war Elon (2003: 388) zufolge nicht sosehr Ausdruck einer inneren Zugehörigkeit zu Deutschland, sondern vielmehr auf die Überzeugung von dem vorüber-

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Als 1933 viele Juden ihre deutsche Identität fundamental in Frage stellten, beharrte Klemperer darauf, dass „ich Deutscher sei und gerade ich.“ (ZAI: 67 [9.11.1933])341 Das Zitat spricht eindeutig die Problematik des assimilierten bzw. säkularisierten deutschen Judentums an, die wie ein kontinuierlicher roter Faden Klemperers Tagebucheinträge durchzieht. Mit dem Zusammenbruch des Narrativs der Weimarer Republik und der ihr entsprechenden Werte ist Klemperer folglich dazu veranlasst, seine Haltung bzw. Identität zu reflektieren und sich neu zu orientieren. Das Tagebuch wird im Dritten Reich zum Ort einer Autohospitalität, die in Zeiten von Heimatlosigkeit für das Ich einen festen Wohnsitz bedeutet, ja den einzigen Raum, in dem der aus dem Heute ausgebürgerte Autor noch willkommen ist. So formuliert Ottmar Ette (2005: 49) etwa: „Der Belagerungszustand des Ich führt zur Schaffung von Räumen des Widerstands, die im Körper-Leib des Ich jenseits des Denkens ihren eigentlichen (Zufluchts-)Ort finden.“ Was Ette hinsichtlich des Körper-Leibs feststellt, lässt sich auch auf das Textkorpus des Tagebuchs Klemperers übertragen. Auch das Tagebuch kann als Refugium gelten, genauer gesagt, als „(Zufluchts-)Ort“ der schriftlichen Selbstmitteilung: Ich rette mich immer wieder […] in diese Notizen […]. Ich bin nicht nur kalt bei all den Gräßlichkeiten, ich habe immer auch eine gewisse Wonne der Neugier und Befriedigung: ‚Also auch davon kannst du persönliches Zeugnis ablegen, auch das erlebst du […]!‘ Und dann komme ich mir mutig vor, dass ich alles zu notieren wage: Ich bin schon so oft davongekommen – warum soll es nicht auch diesmal glükken? (ZAII: 182f. [26.7.1942])

Im Journal fallen Erleben und Schreiben idealiter zusammen; die Erfahrungsunmittelbarkeit der von Tag zu Tag festgehaltenen Aufzeichnungen ist geradezu ein Wesensmerkmal dieser Textgattung: Es sieht aus, als wäre das Erleben selbst von der Tatsache des Tagebuchschreibens kontaminiert. Die Tagebücher Klemperers weisen mithin stark „autographische“ Züge auf, indem sie das sich-selbst-schaffende Subjekt inszenieren. Für die schriftgestützte Selbstkonstitution des diaristischen Subjekts spielt neben dem Schreibakt an sich auch die Lektüretätigkeit eine wesentliche Rolle. Lektüre jüdischer Literatur Im Laufe der Isolierung im „Judenhaus“ beschäftigt sich der Tagebuchautor zunehmend mit jüdischer Geschichte, Philosophie und Literatur. Diese Lektüretätigkeit geht weniger auf eine freiwillige Entscheidung als vielmehr auf den ergehenden Charakters der Schrecken zurückzuführen. Viele deutsche Juden hielten den Nationalsozialismus „für eine Verirrung [...], die ohne Katastrophe vorübergehen würde.“ (LTI: 248) Auch Victor Klemperer kam es erst in einer späteren Phase der Diktatur – nach der Reichkristallnacht, als es bereits zu spät war – in den Sinn, zu emigrieren. 341 Der französisch-deutsche Schriftsteller und Essayist Georges-Arthur Goldschmidt (2002: 246) stellt ebenfalls das musterhafte Engagement der deutschen Juden für ihr Vaterland in den Brennpunkt: „Die deutschen Juden waren deutscher als die Deutschen selbst. [...] Waren die Nazis Deutsche? Das ist eine offene Frage. Sie haben auf jeden Fall Deutschland vernichtet.“

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schwerten Zugang zu „nichtjüdischen“ Büchern zurück.342 Aufgrund des im Spätjahr 1940 verordneten Verbots, weiterhin Leihbibliotheken zu besuchen, hatte Klemperer keinen Zugang mehr zu nichtjüdischen Werken und war somit hochgradig abhängig von Unterstützung aus dem Bekanntenkreis.343 Oft erhielt Klemperer Bücher von zum Abtransport bestimmten Schicksalsgefährten, und so las er Hans-Joachim Schoeps, Sammy Gronemann, Arthur Eloesser, Franz Rosenzweig, Theodor Herzl, Martin Buber, Ismar Elbogen, Shmarja Levin, Joachim Prinz. Seine negativen Beurteilungen dieser Intellektuellen sind nur adäquat und folgerichtig aus der existenziell bedrohten Lage des Diaristen zu verstehen. Klemperers Auseinandersetzung mit jüdischer Literatur erfüllte im „Judenhaus“ dreierlei Funktionen: er vertiefte sein Wissen über das Judentum;344 er untersuchte die Bedeutung dieser Literatur für die deutsch-jüdische Zeitgeschichte (im Hinblick auf Zionismus und Nationalsozialismus), und die Lektüre löste persönliche, selbstbezogene Reflexionen zum Thema deutsch-jüdischer Identität aus (vgl. ZAII: 320 [28.1.1943]). Die Lektüre der genannten Autoren, die dem Diaristen als Resonanzkörper dienten, führte also zu einer diskursiven Konfrontation mit der eigenen – problematisch gewordenen – Identität. In seiner Studie Buchgestützte Subjektivität weist Christian Moser (2006: 9f.) überzeugend nach, wie die Lesetätigkeit integraler Bestandteil der Selbsthermeneutik sein kann. Lesend kann sich der illokutionäre Sprechakt in einen perlokutionären wirklichen Akt verwandeln, wie Uwe Wirth (2002: 31) in Anlehnung an Paul de Man nahelegt: Der Text kann als persuasive Performanz auf den Rezipienten wirken. Dementsprechend beschränkt sich Klemperers Lektüre jüdischer Literatur nicht ausschließlich auf die herme342 Der Tagebuchautor war im „Judenhaus“ vor diesem Hintergrund für seine Lektüre de facto auf „jüdische“ Titel angewiesen. Für die Beschaffung dieser Literatur war der Diarist weitgehend von seinem Bekanntenkreis im „Judenhaus“ abhängig: „Jetzt, in den vierziger Jahren, gab es längst keine jüdischen Zeitschriften und öffentlichen jüdischen Predigten mehr. Dafür fand man in den Judenhäusern spezifisch jüdische moderne Literatur. [...] Besonders Freund Steinitz hatte eine reiche Auswahl solcher Dinge. [...] Bei ihm fand ich Schriften von Buber, Gettoromane, die jüdische Geschichte von Prinz, die von Dubnow usw.“ (LTI: 251) 343 Im „Judenhaus“ wurden im Jahre 1942 alle „nichtjüdischen“ Bücher von der Gestapo beschlagnahmt. Den jüdischen Einwohnern des „Judenhauses“ war es ab diesem Augenblick ausnahmslos verboten, weiterhin über „arische“ Literatur zu verfügen. Die Hirschels, assimilierte jüdische Bekannte, die eine beachtliche Bibliothek mit unterschiedlichster Literatur besaßen, konnten nur einige der Titel behalten, wie der Diarist festhält: „Ihre Bibliothek mußten Hirschels abgeben, ‚freiwillig‘ – ‚wir könnten Sie ja auch einsperren...‘ Zurückbehalten werden durften nur Bücher jüdischer Autoren und Herausgeber. Auf diese Weise wurden einige Klassikerausgaben gerettet.“ (ZAII: 264 [27.10.1942]) Unter den Klassikerausgaben, die sie zu retten vermochten, befand sich unter anderem das von einem jüdischen Germanisten herausgegebene Gesamtwerk Goethes, während andere Werke aus rassischen Gründen abgegeben werden mussten: „Sie hat behalten dürfen, was von jüdischen Autoren stammt, auch Werke, die von Juden herausgegeben sind. So konnte sie einen ‚jüdischen‘ Gesamt-Goethe retten, während ihr Schiller und Kleist daran glauben mußten.“ (ebd.: 294 [21.12.1942]) 344 Hadwig Klemperer attestiert vor diesem Hintergrund, dass der Diarist kaum religiöse oder geistesgeschichtliche Kenntnisse über das Judentum besaß: „Er wusste von seiner eigenen Konfession nichts.“ (Reuter 2002: 367)

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neutische Erfassung von Sinn. Um als konstitutives Element zu funktionieren, muss der Sinn mit Wirkungskraft ausgestattet werden: Das Lesen im „Judenhaus“ begreift der Diarist als produktive Tätigkeit, die Einblicke in die eigene Persönlichkeit zu verschaffen und sie zu transformieren bzw. bestätigen vermag. Der Diarist nimmt das Wissen nicht bloß passiv oder distanziert zur Kenntnis,345 sondern macht das Gelesene zur Grundlage seiner Identität und Lebensführung, wie er beispielsweise im nachfolgenden Passus hervorhebt: An Elbogens ‚Geschichte der Juden in Deutschland‘, die ich jetzt ganz durchgeakkert habe und notieren will, erschüttert es mich, auf einer wie dünnen Bodenschicht ich in meinem Deutschtum stehe. Erst 48 Gleichberechtigung der Juden, in den fünfziger Jahren noch einmal eingeschränkt. Dann in den siebziger Jahren schon wieder starker Antisemitismus und eigentlich die ganze Hitlertheorie bereits entwickelt. Ich habe von alledem wenig gewußt – wirklich, intensiv gewußt: gar nichts, vielleicht nichts davon wissen wollen. (ZAII: 56 [27.3.1942])

Schreibend macht sich der Tagebuchschreiber das Gelesene zu eigen, er verortet und orientiert sich in der deutsch-jüdischen Geschichte und festigt die Überzeugungen, die er durch die Lektüre gewonnen hat. Ismar Elbogens Geschichte der Juden in Deutschland lässt Klemperer begreifen, dass die Gleichstellung der deutsch-jüdischen Bevölkerung erst jüngeren Datums und alles andere als selbstverständlich ist. Sein patriotisches Selbstverständnis wird somit nachhaltig korrigiert und problematisiert. Der Tagebuchautor legt also schreibend darüber Zeugnis ab, wie er anhand der Lektüre identitätsstiftende Elemente verinnerlicht, die für seinen Lebenslauf von Bedeutung sind (vgl. ebd.: 77 [3.5.1942]). Aus Klemperers Tagebüchern stellt sich mithin heraus, dass zwischen der Lektüretätigkeit und dem diaristischen Schreiben eine enge Beziehung besteht. Den antiken Hypomnemata ähnlich steht das Lesen nicht nur im Zeichen der Selbsterkenntnis, sondern auch der Selbstformung.346 Sein diaristisches Schreiben ist keine bloße Darstellung des eigenen Ich, sondern hat eine ethopoietische Funktion,347 indem es 345 Klemperers Bildungsoptimismus tritt auch deutlich in seinen Auffassungen über Sinn und Zweck der Lektüretätigkeit hervor. Das Lesen diente seiner Meinung nach in performativem Sinne der Erweiterung des Selbst. Ein Buch trage die Möglichkeit in sich, das Wahrnehmungssystem und somit auch die Identität einer Person zu verändern, wie Klemperer in einer Notiz aus dem Jahr 1931 in Bezug auf sich selbst hervorhebt: „Jedes Buch übermittelt mir ein Vielfaches an Sinn u. Inhalt, seinen eigenen Inhalt u. den seiner Zeit u. den seines Autors. Ich bin sehr reif geworden. Den Fünfzig entgegen...“ (LSII: 706 [9.5.1931]) 346 Der Zusammenhang zwischen Lesen, Schreiben und Selbstkonstitution kommt beispielhaft in den antiken Hypomnemata zum Tragen. Diese Hypomnemata sind als Notizbücher zu verstehen, die zur Aufnahme des Niederschlags der Lektüreaktivität – Zusammenfassungen, Exzerpte, Kernsätze, Lebensregeln – bestimmt sind (vgl. Moser 2006: 70; 727). Die Lektürenotizen umfassen in Klemperers Originalmanuskript hunderte Seiten und führen immer wieder zu einer Verortung und Selbstdefinition des Ich in der Welt, die für die psychische Hygiene des Diaristen geradezu unentbehrlich sind (vgl. ZAII: 492 [4.3.1942]). 347 Zum Begriff der Ethopoietik schreibt Michel Foucault (2004: 297f.) in Hermeneutik des Subjekts: „Ethopoios ist etwas, das die Eigenschaft hat, die Seinsweise, die Lebensweise eines Individuums zu verändern. [...] Wenn ein Wissen oder eine Erkenntnis eine Form hat oder so funktioniert, daß es fähig ist, ethos hervorzubringen, ist es nützlich.“ Lesen und Schreiben erfüllen

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der Selbstverortung und Disziplinierung des schreibenden Subjekts dient (vgl. ebd.: 301 [31.12.1942]). Seine tendenziell ablehnende Rezeption der jüdischen Autoren, die dem Diaristen eine ihm bis dahin fremde Geisteswelt eröffneten, ist dem Kontext seiner Zwangslage zuzuschreiben (vgl. Nowojski 2004: 44). In einer äußerst seltenen Passage, der einzigen im ganzen Tagebuchœuvre, die ein positives Bild vom Zionismus vermittelt, hält Klemperer nach der Lektüre von Shmarja Levin fest: Ich lese Shmarja Levin, ‚Kindheit im Exil‘ (Childhood in Exile), 1935. Ein großes Kunstwerk. Inhaltlich ungeheuer interessant, sehr wichtig für das letzte Buch meines Curriculum. Der Mann, Ende der 60er Jahre in Rußland geboren, Swislowitz an der Beresina, wächst im Ghetto auf, wird Vorkämpfer des Zionismus. Zum erstenmal geht mir auf: Zionismus ist Humanismus. (ZAII: 13f. [19.1.1942])

Auch in dieser Notiz hebt Klemperer die Relevanz des Gelesenen für seine eigene Lebensgeschichte hervor, da es ihm im Hinblick auf seine Identität neue Einsichten erschließt. In diesem Zusammenhang gilt Klemperers Sympathie im Besonderen Simon Dubnow, der in seinem Werk Jüdische Geschichte (1897) für ein nationales und säkulares Selbstverständnis des Judentums eintritt und für rechtliche Emanzipation und Autonomie in Sprache und Selbstverwaltung in den jeweiligen Diaspora-Staaten plädiert (vgl. ZAII: 135f. [19.6.1942]; ebd.: 177 [24.7.1942]). Die Sympathie Dubnow gegenüber zeigt zweifelsohne den Mentalitätswandel in puncto jüdischer Selbstakzeptanz, den Klemperer im Laufe des Dritten Reiches durchlaufen hat, ohne jedoch dem Zionismus weniger misstrauisch gegenüberzustehen: Dubnow, den ich heute notiere, ist nicht Zionist. Aber er ist überzeugt von dem Vorhandensein des ‚jüdischen Volkes‘, das in verschiedenen Umgebungen u. Muttersprachen u. Geistigkeiten zuhause ist, das aber doch überall jüdisches Volk bleibt u. überall die Rechte ‚völkischer Minderheiten‘ beanspruchen muß. Früher wäre mir das ganz absurd erschienen, außer allenfalls in bezug auf die Ostjuden; heute mag ich es für mich immer noch nicht anzuerkennen, aber für absurd halte ich es nicht mehr. Es gibt jetzt wirklich ein über alle Welt verstreutes ‚Volk der Juden‘. Die Wechselwirkung zwischen Nationalsozialismus u. jüdischem Nationalismus interessiert mich immer mehr. Dubnow steht mir menschlich näher, viel näher als Levin – Er spricht auch von dem Propagandisten Levin mit Abneigung. (A 138: 610 [17.6.1942])

Ab dem Jahr 1941, als die Handlungsfreiheit im „Judenhaus“ kontinuierlich eingeengt wurde und die Bewohner zur Außenwelt folglich immer weniger Kontakt halten konnten, verändert sich die Struktur der Notizen: Die Auseinandersetzung mit Gronemanns satirischem Roman Tohuwabohu (1920) gibt Klemperer Anlass zu einer ausführlichen Reflexion über die Bedeutung seiner eigenen deutschjüdischen Identität. Obschon sich er sich nicht ganz vom Roman überzeugen dementsprechend bei Klemperer im „Judenhaus“ eine ethopoietische Funktion, weil er sich lesend und schreibend Einsicht in die Beschaffenheit der Welt und seiner selbst verschafft und dies in seiner Psyche zur Wirkung bringt.

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lässt, relativiert er seine früher gehegte Überzeugung von der Überlegenheit des deutschen Volkes: [I]ch las auf einen Sitz die letzten hundert Seiten von ‚Tohuwabohu‘ vor. Ich muß mir ein Notizblatt dazu anlegen. Ein überraschend gutes Buch. Aber bekehren kann es mich nicht. Aus dem Deutschtum kann ich nicht heraus. Über den Nationalismus freilich bin ich ganz hinweg. Und für ein auserwähltes Volk halte ich die Deutschen nicht mehr. (ZAII: 88 [18.5.1942]; vgl. ebd.: 83f. [11.5.1942])348

Die Auseinandersetzung mit dem Religionsphilosophen Martin Buber, der die menschliche und geistige Erneuerung aus dem Geist des Chassidismus anstrebte, machte den Diaristen „förmlich krank.“ (ebd.: 145 [25.6.1942]) Buber ging es im Gegensatz zu Herzl nicht um Zion als Staat, sondern als geistig-religiösen Fluchtpunkt aller Juden. Der Philosoph kritisierte vor diesem Hintergrund nicht nur den nationalen bzw. nationalistischen Zionismus, sondern auch die liberalen, assimilierten Juden, die nur um individuelle Emanzipation bemüht waren und somit das gemeinsame religiöse, soziale und kulturelle Band zwischen den Angehörigen des jüdischen Volkes durchschnitten hatten.349 Bubers „jüdische Mystik“ stellt Klemperer zufolge, der höchsten Wert auf rationale Aufklärungsgedanken legte, „versinnlichende Schwärmerei“ dar (ebd.: 321 [28.1.1943]), die er auf keinste Weise nachvollziehen konnte.350 Somit bricht er seine wissenschaftlichen Studien zu dem österreichisch-jüdischen Philosophen im März 1943 gereizt ab – der „Romantiker und Mystiker“ Buber verkehre „das Wesen des Judentums in sein Gegenteil.“ (LTI: 272)351 Der Tagebuchautor spielt in seinen Lektürenotizen 348 In seinen Lektürenotizen bringt Klemperer seine zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Roman zum Ausdruck: Einerseits schätzt er dessen literarische Qualität und die Tatsache, dass Gronemann dem Deutschtum wohl gesinnt ist, andererseits widerstrebt ihm die Vorstellung, Juden könnten nie vollwertige Deutsche werden, weil sie zur „jüdischen Nation“ gehören. So schreibt der Diarist über Tohuwabohu: „Das Buch ist gut, so sehr es mir widerstrebt.“ (A 138: 597 [6.6.1942]) Und in derselben Notiz: „Deutschtum schneidet nirgends schlecht ab. Aber Juden können für Gronemann nicht Deutsche werden, sie gehören zur jüdischen Nation u. Deutschland lehnt sie ab.“ (ebd.: 598 [6.6.1942]) 349 In seinem Aufsatz „Das Judentum und die Juden“ bringt der kulturzionistische Religionsphilosoph Martin Buber (1983 [1910]: 112f.), der für einen religiösen Sozialismus plädierte und dementsprechend später den jüdischen Kommunitarismus prägte, die Identität von Volk und Selbst zum Ausdruck. In einer Synthese von westlicher Lebensphilosophie und chassidischer Mystik kommt dem Prinzip der Dialogizität zwischen Individuum und Gott bzw. Individuum und Mitmensch eine Hauptbedeutung zu: „Wenn wir uns [...] aus tiefster Selbsterkenntnis bejaht haben, wenn wir zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz ja gesagt haben, dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich. [...] Meine Seele ist nicht bei meinem Volke, sondern mein Volk ist meine Seele.“ 350 Für weitere Tagebuchstellen, aus denen Klemperers negative Einstellung zu Martin Bubers Schriften hervorgeht, vgl. A 138: 719 [27.10.1942]; ZAII: 344 [17.3.1943]; ebd.: 343 [15.3. 1943]. 351 Das Wesen des Judentums, so Klemperer, liege gerade in seinem rationalen, universalen und kritischen Charakter: „Die entscheidende Eigenart der Juden ist wohl der starke Rationalismus, das abstrahierende Denken.“ (ebd.: 790 [4.2.1943]) In ähnlicher Weise zeichnet sich dem Diaristen zufolge die Eigenart des Judentums durch die „glaubensunfähige, skeptische Intelligenz des Juden“ (LTI: 87) aus. Aufgrund des romantischen und irrationalen Volksmystizismus, in

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zur jüdischen Literatur deutschen Idealismus gegen religiöses Judentum aus. In einer binären Logik schreibt Klemperer die Aufklärungsmetaphorik von Licht und Dunkel fort und unterstreicht die unüberbrückbare Dichotomie von Humanismus und Romantik, Säkularismus und Religiosität. Solcherart wird das religiöse Judentum strukturell in die Nähe des menschenfeindlichen Nationalsozialismus gerückt. Klemperers Appell an die Aufklärung, der mit der harschen Kritik jüdischer Philosophie einhergeht und ihr aus assimilierter Perspektive oft kaum gerecht wird, droht indes das Erwünschte mit dem Seienden zu verwechseln und zeigt gleichzeitig das erstaunlich deutschgesinnte Beharrungsvermögen des Philologen.352 Der angebliche religiöse Irrationalismus in der jüdischen Literatur bildet die Hauptangriffsfläche in Klemperers Lektürenotizen. Auch den Theologen und Historiker Franz Rosenzweig, Verkünder des neuen existenziellen Denkens in der deutsch-jüdischen Philosophie der 1920er Jahre, bedachte Klemperer aus diesem Grund mit schärfster Kritik. Rosenzweig vetraute nicht auf die Harmonie von Judentum und deutsch-jüdischer Kultur, weil der jüdische Glaube in Deutschland von der religiösen Kultur isoliert und darum gewissermaßen leblos geworden war. Sein religionsphilosophisches Hauptwerk Der Stern der Erlösung (1921) bescherte dem Diaristen eine „[v]erzweiflungsvolle Lektüre“ (ZAII: 545 [17.7. 1944]). Klemperer lehnte das Werk pauschal ab: „Er vaut nicht die aufgewendete peine und Zeit“ (ebd.: 552 [22.7.1944]; vgl. A 138: 1121 [15.7.1944])353 Weist er Rosenzweig ab, weil dieser zu jüdisch und zu gläubig ist, so kritisiert der Diarist ebenso den jüdischen Pangermanisten Hans-Joachim Schoeps, weil dieser eine Sturmtruppe junger jüdischer Kämpfer in den Dienst des NS-Regimes stellen wollte: Schoeps gründete den Nationalverband der deutschen Juden namens Der deutsche Vortrupp und stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber (vgl. Traverso 1993: 120).354 Die gegen den Zionisten Joachim Prinz gerichtete Streitschrift Wir deutschen Juden rief bei Klemperer nur Kopfschütteln hervor: „die greuliche Broschüre von Schoeps ‚Wir deutschen Juden‘. [...] Die Seegurke des Nationalsozialismus, noch zehntausendmal schlimmer als der Zionismus.“ (ZAII: 170f. [16.7.1942]) Die Erschließung eines wissenschaftlichen Zugangs zur jüdischen Geschichte und Literatur erwies sich für den Diaristen als eine wechselvolle Erfahrung von dem Klemperer den Kern von Bubers Philosophie sieht, vergleicht er ihn mit nationalsozialistischen Philosophen wie Alfred Rosenberg (vgl. ebd.: 274). 352 Zu diesem dichotomischen Erklärungsmuster in Klemperers Kritik am Judentum vgl. die kritische Lektüre in Wohlfarth (2000: 140). 353 Andererseits, trotz seiner vehementen Kritik, erkennt Klemperer das beachtliche intellektuelle Verdienst von Rosenzweigs Arbeiten an: „Rosenzweig ist der typische hochbegabte junge Judenjunge aus reichem Hause. [...] Aber welche Kenntnisse, wieviel gelernt!“ (A 138: 1120 [15.7.1944]; vgl. ebd.: 1125 [23.7.1944]) 354 Vor diesem Hintergrund stellt Klemperer in der Frühphase des Dritten Reiches zu seinem Entsetzen den extremen deutschen Nationalismus mancher Juden fest, die ihre Loyalität sogar gegenüber dem Nationalsozialismus bekunden: „[D]er neueste jüdische Snobismus bestehe im Sympathisieren mit den Nazis.“ (ZAI: 210 [21.7.1935])

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Lust und Unlust, Anziehung und Abstoßung. Seine Abneigung gegenüber der jüdischen Geistestradition wurde keinesfalls gemildert, sondern durch die Lektüre noch verstärkt (vgl. ebd.: 77 [3.5.1942]). Die ab dem Jahr 1942 einsetzende kritische Beschäftigung mit jüdischer Literatur, Philosophie und Geschichte zieht sich auch durch zwei weitere wichtige Themenbereiche in Victor Klemperers Tagebüchern: die Diskussion um das Ostjudentum und den Zionismus. Ostjudentum und Zionismus Mit der Bezeichnung „Ostjude“ ist ein kultureller Typus gemeint, der aus westeuropäischer Perspektive geprägt wurde.355 In Abgrenzung zum „Ostjuden“ suchten die „Westjuden“ ihre moderne akkulturierte oder säkularisierte Identität zu betonen. Die geographische Bestimmung von Ost- und Westjudentum muss allerdings relativiert werden: Für Deutsche galten polnische Juden als „Ostjuden“, diese ordneten ihrerseits wiederum die litauischen Juden dieser Kategorie zu.356 Die Typologisierung ist somit vorrangig kultureller Art und mit unterschiedlichen Entwicklungszuständen und Einstellungen verbunden. Während die jüdische Bevölkerung aus Polen, Russland oder Galizien gemeinhin diesem Typus zugerechnet wurde, traf der Begriff zumeist nicht auf die stärker assimilierten Juden in Böhmen, Mähren, Ungarn oder Ostpreußen zu. Das Jiddische,357 der mystisch geprägte Chassidismus und äußere Kennzeichen wie Kaftan, Bart und Schläfenlocken stellten für Klemperer die Kehrseite der europäischen Moderne dar. Bei Franzos verkörpern die Ostjuden als die problematischen Juden, die Recht- und Heimatlosen, den Antitypus des aufgeklärten Westjudentums, und gerade darum fand sich Klemperer als glühender Verfechter der deutschen Kultur problemlos in Franzos’ kritischen, assimilatorischen Stellungnahmen zum Ostjudentum wieder.358 355 Zum Begriff „Ostjude“ und zum Unterschied zwischen „Ostjudentum“ und „Westjudentum“ vgl. Herzog (2001: 7ff.) und Lamping (1998: 59-62). Nähere Informationen über das Spannungsverhältnis und die Dynamik zwischen deutschen und polnischen Juden bietet auch Kapitel 9 „Die Dynamik der Dissimilation: Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer“ in Volkov (2000: 166-180). 356 Ein Bekannter behauptete dem Philologen gegenüber, die jüdischen Franzosen seien gegen die Aufnahme deutsch-jüdischer Auswanderer, weil diese im französischen Bewusstsein als die unbeliebten „Ostjuden“ galten (vgl. ZAI: 222 [5.10.1935]). 357 Zu Klemperers negativem Urteil über das Jiddische siehe Althaus (2001). 358 Im literarischen Bereich schätzte Klemperer vor allem den österreichisch-jüdischen Schriftsteller Karl-Emil Franzos, der viele Romane und Erzählungen über das jüdische Ghettoleben verfasst hatte, darunter das bekannte Werk Der Pojaz (1905), und aufgrund seiner Abscheu gegen jüdische Orthodoxie viel Beifall von Klemperer erntete (vgl. A 138: 762 [28.12.1942]). Der umfassenderen Annäherung bzw. „Anpassung“ des Judentums an die deutsche Kultur, die Franzos sich wünschte und die er paradigmatisch im Pojaz zum Ausdruck brachte, pflichtete Klemperer eindeutig bei. Nicht die Herkunft, sondern die geistige und kulturelle Zugehörigkeit entscheide über die Identität einer Person: „Gibt es einen besseren Deutschen als Franzos’ Pojaz, den die Sehnsucht aus Halbasien nach Deutschland führt? Der Geist entscheidet von sich aus...“ (CVII: 485; vgl. CVI: 497) Obschon Karl-Emil Franzos’ Pojaz für den „Westjuden“ Klemperer als Vorbild wünschenswerter jüdischer Assimilation galt, teilt der Tagebuchschreiber letzten Endes auf paradoxe Weise die Enttäuschung des assimilationsbestrebten „Ostjuden“ im Pojaz, der die

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Da die Bildung, so der Tagebuchschreibende, es ermöglichen sollte, Unterschiede in Religion oder Nationalität durch individuelle Entwicklung aufzuheben, erfüllte das orthodoxe „Ostjudentum“ ihn geradezu mit Scham, weil es eine rückständige, „unkultivierte“ Bevölkerungsgruppe darstelle (A 138: 782 [25.1. 1943]).359 Gleichzeitig ganz ähnlich und ganz fremd, hielten sie ihm sein eigenes, unerwünschtes Anderssein vor. Die unablässige Einwanderung von Ostjuden, die das alte Stereotyp des frommen Juden und kleinen Spekulanten lebendig hielten, veranlasste die Assimilierten in verstärktem Maße dazu, sich von ihnen zu distanzieren. Die Ostjuden waren eine unangenehme Erinnerung, ein lebendiges Beispiel für die negativen Aspekte jüdischen Lebens vor der Assimilation.360 Für die Assimilierten verkörperten sie eine „Unterart des Juden“ (Gilman 1993: 36), das negative Bild des Juden, das all das beinhaltete, wovon die Westjuden sich abgekehrt hatten und das deren Entfremdung vom Judentum vertiefte: „[D]ie sogenannte Judenfrage [...] war vielleicht dasjenige Thema, das mehr als jedes andere den deutschen Juden ständig einen Prozeß machte, den man kaum mehr leugnen konnte und praktisch akzeptieren mußte.“ (Volkov 2000: 171) Klemperer wälzte in seinen Notizen die Schuld für das Entstehen des Antisemitismus vielfach auf die Ostjuden ab, obwohl das Aufflackern alter Vorurteile im Zuge ihrer Immigration nur marginal zum deutschen Antisemitismus beigetragen haben mag. Er fürchtet in besonderem Maße die „Dissimilation“, den ostentativen Rückgang der Assimilation, die mit einer Vermischung von „Kaftan“ und „Krawatte“, von Altem und Modernem einher gehen und folglich sein entjudaisiertes Deutschtum ad absurdum führen würde. Die westjüdische Antipathie gegenüber der Einwanderung aus Osteuropa würde angesichts dieser Hybridform ihre interne Hauptangriffsfläche verlieren. Im Hinblick auf die Vermischung von Ost- und Westjudentum hält der Philologe fest: „Die schlimmsten Exemplare sind die äußerlich westeuropäisch auftretenden, dabei innerlich ganz ostjüdischen. Sie wollen im selben Athemzug Deutsche sein u. Nicht- u. Antideutsche.“ (A 138: 1007 [25.1.1944])

deutsche Kultur nicht mehr als alleinig seligmachend und emanzipierend zu betrachten vermag, wenn er sagt: „Da hab’ ich da einen bunten Flicken auf meinen Kaftan geheftet und dort einen – wie ich sie eben bekommen konnte, aber ein deutscher Rock ist’s nicht geworden.“ (Franzos 1905: 318) Für mehr Informationen über die Darstellung des galizischen Ostjudentums bei Victor Klemperer vgl. Sepp (2012c). 359 Der Bildungsmangel stellte laut Klemperer den Hauptgrund für den schlechten Ruf der Ostjuden dar. Daher sah der Diarist die Lösung darin, dass man dem „ungehinderten Zustrom des bloß geldsüchtigen Ostjudentums“ vorbeugen könnte, indem man „ein Bildungsexamen vor die Einwanderung“ setzte (ZAII: 157 [5.7.1942]). 360 Jüdische religiöse Bräuche und Rituale – wie jüdische Hochzeiten oder Essensgebote – hielt der Diarist für sowohl unzeitgemäß als auch uneuropäisch. Zu Gast auf einer jüdischen Hochzeit fühlte er sich vor diesem Hintergrund ins „Morgenland u. Mittelalter“ versetzt (LSI: 507 [29.9.1921]), und ein Jude, der sich an die vorgeschriebenen Speisegesetze hielt, erschien ihm „wie ein Asiat unter Europäern“ vor (ebd.: 723 [2./3.8.1923]).

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Interessant in diesem Zusammenhang ist die Position, die Franz Rosenzweig im Hinblick auf das Ostjudentum vertritt. In einem Brief an seine Eltern vom Juni 1916 schreibt er hinsichtlich der Diskriminierung von Ostjuden: Es gibt eben keine Ostjudenfrage, es gibt nur eine Judenfrage [...]. Überlegt euch übrigens nur, daß die ganze deutsche Angst vor den Ostjuden ja nicht auf die Ostjuden als solche, sondern auf dieselben als zukünftige Westjuden (also euresgleichen) geht. (Rosenzweig 1979: 189 [7.6.1916])361

Während Rosenzweig hervorhebt, der Antisemitismus richte sich nicht primär gegen die Ostjuden, sondern gegen die Juden an sich, versucht Klemperer im Gegensatz dazu zu argumentieren, dass die – seiner Meinung nach berechtigte – deutsche Feindschaft gegen die ostjüdischen Einwanderer nicht eine Frage des Antisemitismus, sondern in erster Linie auf Klassenunterschiede zurückzuführen sei. Klemperers kritisches Urteil im Hinblick auf „lärmende proletarische Landjude[n]“ (ZAII: 30 [22.2.1942]), die sich in ihrem „Schnorrergeschäft“ (A 138: 597 [6.6.1942]) durch „ostjüdische Moral od. Unmoral in negotiis“ kennzeichnen (ebd.: 905 [13.7.1943]),362 sucht die Ursache für die gesellschaftliche Marginalität dieser Bevölkerungsgruppe in ihrem Pauperismus. Allein aus diesem Grund sollte die „Ostjudenfrage“ nach Klemperer in sensu stricto von der „Judenfrage“ unterschieden werden: Zu trennen hiervon [=von der ‚Judenfrage‘, A.S.] ist die Ostjudensache, die ich aber auch wieder nicht als eine spezifische Judenfrage ansehe. Denn seit langem strömt aus dem Osten, was entweder zu arm oder zu kulturgierig oder beides ist, nach westlichen Ländern und bildet dort eine Unterschicht, aus der Kräfte nach oben strömen. (ZAI: 457 [10.1.1939])

Die liberale jüdische Intelligenz, zu der Klemperer zählte, stand den „fremden“ Juden verständnislos gegenüber und weigerte sich, nach innen, auf ihre eigene jüdische Herkunft zu blicken. Die Ostjuden und Emigranten aus der Provinz erinnerten sie an die eigenen Eltern, Großeltern oder ganz einfach an das religiöse Judentum an sich, von dem sie sich distanziert hatten. In Abgrenzung gegenüber diesen verelendeten, frommen Juden führten sie ihre bildungsgestützte Assimilation unbeirrt fort (vgl. Volkov 2000: 194). Bei dieser Ablehnung handelte es sich 361 Unter dem Druck des Nationalsozialismus besonnen sich – im Gegensatz zu Victor Klemperer – viele deutsche Juden auf die gemeinsame Tradition von Ost- und Westjudentum, was als religiöser Schulterschluss in schwierigen Zeiten zu interpretieren sein mag. Sie waren nicht (mehr) dazu bereit, sich voneinander abzugrenzen. Ignaz Maybaum (1934: 407f.) schreibt diesbezüglich nicht lange nach der Machtübernahme Hitlers: „Der Glaube Israels läßt uns nicht die Möglichkeit, zwischen West-Judentum und Ost-Judentum uns für die eine gegen die andere Seite zu entscheiden. Wo der Glaube Israels lebendig ist, ist der Gegensatz zwischen OstJudentum und West-Judentum aufgehoben.“ 362 Polnische Juden werden in Klemperers Tagebuchnotizen ausnahmslos als mala fide Schacherer porträtiert, wie zum Beispiel Sandel, der ihn beim Hausbau um 240 Reichsmark betrogen haben sollte: „Der polnische Jude Sandel. Er hat angegeben, die 240 M, die er von mir erhalten, seien ihm bei einer Zecherei abhanden gekommen.“ (ZAI: 44 [28.7.1933]; vgl. ebd.: 30; 33; 35f. [30.6.1933])

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um einen Vorgang, in dem Westjuden positive Stereotype wie die Vorrangigkeit der Bildung, die sie zu potentiellen Mitgliedern der Machtgruppe machen konnten, für ihre Selbstdefinition nutzten, während die negativen Elemente der Vorurteile – wie Geldgier – auf die Untergruppe des Ostjudentums übertragen und als Inbegriff der Fremdheit vom eigenen Selbstverständnis abgetrennt wurden (vgl. Telaak 2003: 112, Fußn. 5). Während einer Reise in die ehemalige Tschechoslowakei, so hält Klemperer in seiner Autobiographie fest, konnte er sich keinesfalls mit den galizischen Juden identifizieren: „Die unförmlich Dicken, die galizischen Juden mit den langen Kaftanen und den langen Schläfenlocken [...] fand ich nur seltsam fremdartig [...].“ (CVI: 199) Durch die Exterritorialität und Orientierungslosigkeit als assimilierter, konvertierter Jude im Dritten Reich verspürt Klemperer durch die Vermittlung des (ost-)jüdischen Anderen in sich selbst, was Fremdheit eigentlich bedeutet; die Ähnlichkeit in der Differenz wird offensichtlich und bildet den schmerzlichen Hauptgrund für seine dermaßen ablehnende Haltung gegenüber Ostjuden. Durch diese Haltung gerät Klemperer indes in eine argumentative Sackgasse: Indem er die Ablehnung der antijüdischen Außenwelt auf die Chassidim projiziert, billigt er implizit die Übertragung und Definition von negativ konnotierter Andersheit, genauso wie ihren Gegensatz, die Norm der deutschen Volksgemeinschaft. Auf paradoxe Weise schließt sich auf diese Weise der Kreis der antisemitischen Stereotypisierung durch Zutun eines der Aufklärung verschriebenen jüdischen Philologen.363 Psychoanalytisch gesehen, so betont Carola Erbertz (2000: 80f.) in Anlehnung an Emmanuel Lévinas, erzeugt das Wiederfinden der eigenen, inneren Unheimlichkeit im Äußeren Erschrecken vor dem eigenen Fremden, den Klemperer vor der NS-Zeit relativ erfolgreich – zumindest in der Öffentlichkeit – zu exzidieren versucht hatte. Der Diarist protestiert heftig gegen die Ähnlichkeit von Ostjuden und Westjuden, zu heftig: Aus seiner virulenten Reaktion treten nämlich eine tiefgründige Identitätsunsicherheit und eine tiefe Angst vor Selbstverlust ans Licht.364 Klemperer übernimmt zum Schutz seiner idealisierten Idee vom Deutschtum in diesem Zusammenhang nolens volens das Wahrnehmungsmuster des nationalsozialistischen Antisemitismus.365 Augenfällig ist allerdings, 363 Zum Zusammenhang zwischen Ostjudentum und „jüdischem Selbsthass“ vgl. Telaak (2003: 110f.). 364 Klemperers Identitätsverständnis basierte auf der Überzeugung, dass die geographisch bedingte Kultur des Residenzlandes das Selbstverständnis einer Person bestimme. Er erkannte somit aufgrund der jüdischen Diaspora die Existenz einer einheitlichen jüdischen Kultur, von der im Zionismus ausgegangen wird, nicht an. Die Ähnlichkeit der Ostjuden in Deutschland und Litauen erschütterte mithin kurzzeitig seine Ansichten, die er rasch wieder revidierte: „Aber im Überdenken erschien mir die Sache weniger komisch, ja sie erschütterte einen Augenblick meine Überzeugungen. Welche Verflochtenheit zwischen den Ostjuden diesseits und jenseits der Grenze! Ließ sich die Trennung behaupten, die mir so wesentlich war? Aber ich fand meine Sicherheit wieder. Für mich bestand die Kluft. [...] Ich notierte in meinen Tagebuchbriefen: ‚Wäre ich in Paris geboren, ich wäre Christin geworden‘, sagte die Mohammedanerin Zaïre. Die kulturelle Atmosphäre entscheidet, nicht das Blut.“ (CVII: 484) 365 Adorno und Horkheimer (2003: 192f.) legen nahe, dass – indem die assimilierten Befürworter des Universalismus festgelegte jüdische Merkmale auf das Ostjudentum oder auf noch nicht

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dass, nachdem der Diarist sich während des Holocaust mehr und mehr mit jüdischen Leidensgenossen anfreundete und ihre differierenden Ansichten zur Kenntnis nahm, er in seltenen – aber bedeutungsvollen – Fällen seine pauschale Abneigung gegen das Ostjudentum und das Judentum im Allgemeinen gewissermaßen korrigierte, wie sich an der nachstehenden Reaktion auf die Aussage eines Assimilierten, der die Ostjuden ausnahmslos als „Schacherer“ bezeichnet hatte, ablesen lässt: Der Ostjude, sagt Lang, ist durchweg Schacherer. Im Osten mag er Handwerker sein; sobald er herkommt, wirft er das Handwerk weg u. schachert statt zu arbeiten. In diesem Punkt redet u. denkt Lang genau wie Hitler. Es mag stimmen, aber man muß doch bedenken, wieviel Auftrieb in diesen Ostjuden steckt. Sie wollen höher kommen, wenn der Vater schachert, wird der Sohn studieren Rechtsanwalt – u. vielleicht auch schon Physik oder Literatur oder Soziologie. (A 138: 1047f. [21.3.1944])366

Victor Klemperer distanziert sich in seinen Tagebüchern in der Regel nicht nur radikal von den Ostjuden, sondern auch vom Zionismus.367 Der jüdischen Orthodoxie und dem Zionismus kommt die Bedeutung einer Negativfolie zu, vor der er sein Deutschtum behaupten und sich gegen die nationalsozialistische Rassenideologie schützen kann. Die geradezu obsessive, aggressive Auseinandersetzung mit Zionismus und jüdischer Orthodoxie kann nur angemessen interpretiert werden als symbolisches Auflehnen gegen den Zusammenbruch seines Weltbildes, das sich maßgeblich um bildungsbedingte Assimilation drehte. Am Zioganz Assimilierte projizierten – die liberale These der Einheit der Menschen, die als bereits verwirklicht angesehen wurde, zur Apologie des Bestehenden beitrug. Die radikale Kritik an Ostjuden, die sich durch Klemperers Tagebücher zieht, wird vom Diaristen, wenn sie nicht von Juden vorgebracht wird, als nationalsozialistisch bewertet. Aus dieser Haltung geht paradoxerweise Klemperers zwiespältiges jüdisches Selbstverständnis hervor, denn nur Selbstkritik an der eigenen Gemeinschaft wird als legitim akzeptiert: „Am Freitag nachmittag und abend war die Bibliothekarin Roth bei uns. Erbitterte Gegnerin der Nazis – aber: ‚Wenn sie die Ostjuden ausgebürgert [...] hätten, das wäre allenfalls begreiflich gewesen.‘ Also das wäre auch ihr recht nicht als absolut böse erschienen. Also ist Hitler auch hier nicht ohne Basis.“ (ZAI: 319 [18.10. 1936]) 366 Gegen seine frühere Weigerung, sich inhaltlich und emotional zum Judentum zu bekennen, zeigt sich der Philologe im letzten Kriegsdrittel wesentlich solidarischer. In einem Gespräch mit einem Zwangsarbeiter ergreift Klemperer für die Juden Partei: „Ich warf ihm, wie schon manchmal, mit Recht Antisemitismus vor, er verallgemeinere seine üblen Chemnitzer Erfahrungen mit Ostjuden. Ich verstieg mich: ‚Was wäre Deutschland ohne die Juden geworden?‘ Er nannte das typische jüdische Überheblichkeit. Wir sahen beizeiten unsere Überreiztheiten und Extremismen.“ (ZAII: 426 [1.9.1943]) Andererseits sei darauf hingewiesen, dass seine feurige Parteinahme auf gewisse Weise gleich wieder zurückgenommen wird, indem er seine defensiven Äußerungen als „Extremismen“ und „Überreiztheiten“ qualifiziert. 367 In Hinblick darauf, dass Klemperer sich die Zionisten als einheitliche Gruppe vorstellte und sie in ihrer Einheitlichkeit pauschal verurteilte, soll darauf hingewiesen werden, dass im Zionismus divergente Strömungen vertreten waren. Sie teilten sich in Pangermanisten (Theodor Herzl), jüdisch-deutsche Kulturzionisten (Martin Buber), spirituelle Zionisten, die Judentum und Deutschtum einander gegenüberstellten (Gershom Scholem) und sozialistisch geprägte Zionisten (Arnold Zweig) auf. Zur politischen Diversität des Zionismus vgl. Traverso (1993: 55) und Schoeps (1983: 20-27).

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nismus und dem Ostjudentum ermisst und erkundet der Diarist abtastend Form, Sinn und Bedeutung der eigenen Identität. Die diaristische Identitätsfrage ist wesentlich an das Paradox gebunden, wiederholt – in jedem Tagebucheintrag – strukturierte Antworten auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Warum bin ich, wie ich bin?“, zu suchen, ohne dass diese jemals das letzte Wort sein könnten (vgl. Echterhoff und Straub 2004: 171). Das macht die Dynamik des Tagebuchschreibens aus: Der Autor fertigt unaufhörlich Momentaufnahmen von Selbst und Welt an. Der Themenkomplex „Zionismus“ in Klemperers Aufzeichnungen wirft vor diesem Hintergrund ein bezeichnendes Licht auf die doppelte Ausrichtung des Tagebuchs: Einerseits offenbart es die Selbst-Identität des Diaristen, andererseits, weil diese nicht selbstgenügend ist, die Gemeinschaft, in deren Geschichte sich das Individuum einschreibt (vgl. Carron 2002: 35). Klemperers Konstruktionen des Eigenen erfolgen vor diesem Hintergrund notwendigerweise über die Konstruktion des Anderen. So betrachtet erscheint das Eigene stets auch als Fremdes: Klemperers Kritik am Herzl’schen politischen Zionismus ist ebenso ein notwendiger Vorgang, um sich selbst zu definieren. Der Diarist ist durch die Verfolgung dazu gezwungen, sein Selbstbild zu revidieren und zur „Judenfrage“ Position zu beziehen, doch der Zionismus erscheint ihm als Kapitulation vor dem Nationalsozialismus. Die deutschen Zionisten, die sich seit dem Jahr 1897 in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) organisiert hatten, legten das Hauptgewicht auf das Aufbauwerk in Palästina und unterstützten ideell und finanziell die Auswanderung von europäischen Juden, die Alijah, nach Erez Israel. Die ablehnende zionistische Haltung gegenüber der deutsch-jüdischen Assimilation fand in der Wilhelminischen Zeit nur äußerst bedingt Zustimmung in der jüdischen Bevölkerung, die mehrheitlich Deutschtum und Judentum zu einer logischen Einheit verbinden wollte.368 In der Weimarer Republik gewann die Bewegung wesentlich an Einfluss, ihr Erfolg war jedoch auch in dieser Periode zahlenmäßig eher beschränkt (vgl. Richarz 1982: 35; Plum 1988: 43ff.). In der Anfangsphase des Dritten Reiches – zwischen 1933 und 1938 – erreichte der Zustrom zum Zionismus einen Höhepunkt: Die Bewegung unterstützte ihre Anhänger bei der sozialen und kulturellen Ablösung von der deutschen Heimat und bot ihnen im Gegenzug eine neue Identität und die Hoffnung auf eine neue, jüdische Heimat in Palästina. Auch Assimilierte, im deutschen Sinne national fühlende Juden gaben nicht selten ihre Überzeugungen auf und schlossen sich zionistischen Organisationen an (vgl. Wetzel 1988: 368 In seinem 1905 veröffentlichten Aufsatz „Zionismus und Deutschtum“ plädiert Ludwig Geiger (1983 [1905]: 154f.) leidenschaftlich gegen den Zionismus und hebt, ganz ähnlich wie Klemperer, das Primat der alleinigen Zugehörigkeit zur deutschen Nation hervor: „Der Zionismus ist innerlich unberechtigt, weil er ein jüdisches Volkstum konstatiert; die deutschen Juden wissen aber nur von einem Volke: dem deutschen.“ (im Original kursiv) Dementsprechend sollten den Zionisten die deutschen Bürgerrechte aberkannt werden, weil sie von assimilierten Juden als unmittelbare Bedrohung ihrer Gleichberechtigung empfunden würden: „Die Entziehung der bürgerlichen Rechte halte ich für eine notwendige Konsequenz der deutschen Gesetzgebung gegen den Zionismus, die einzige Antwort, die das deutsche Volksbewußtsein dem Zionismus geben kann und muß.“ (ebd.: 157)

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432f.).369 Das Aufgeben der Idee der Assimilation zugunsten des Zionismus war für Klemperer ideologisch nicht mit seinem kultivierten bzw. sakralisierten Deutschtum vereinbar: „[S]ie [=die Assimilation, A.S.] darf nicht endgiltig gescheitert sein, ich kann mit Zion so wenig anfangen wie mit dem dritten Reich.“ (A 138: 597 [6.6.1942]) In seiner programmatischen Schrift Der Judenstaat vertritt Theodor Herzl (1896) die für Klemperer inakzeptable These, die Assimilation in Europa sei seit langem gescheitert und solle endlich dem Bewusstsein Platz machen, dass das jüdische Volk eine Kultur-, Religions-, und Blutsgemeinschaft sei, die wie jedes Volk das gewohnheitsrechtlich anerkannte Recht auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation habe: Wir sind ein Volk, Ein Volk. Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten [sic] und Wissenschaften, ihren Reichthum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen. (ebd.: 11)

Für Victor Klemperer wäre eine Entscheidung für den Zionismus – vor dem Hintergrund der realen Existenz einer jüdischen Rasse bzw. jüdischer „Stammesgenossen“ (ebd.: 13) – einer Bestätigung der nationalsozialistischen antijüdischen Rassenpolitik gleichgekommen. Zum Programm des Zionismus schreibt der Diarist in diesem Zusammenhang: „Ungemeine Verwandtschaft mit Hitlerismus. Nur daß sich Herzl an der Blut-Definition vorbeidrückt.“ (ZAII: 142 [23.6. 1942]; vgl. ebd.: 178 [24.7.1942]) Diese Beobachtung hatte der Tagebuchschreiber bereits in der Weimarer Zeit gemacht, als er von den Zionisten behauptete, sie seien „nicht weitstirniger als die Leute vom Hakenkreuz.“ (LSI: 706 [29.6. 1923]) Um der Bedeutung und dem Erfolg des Zionismus nachzugehen, untersuchte der Diarist vor allem ab dem Jahr 1942 die Veröffentlichungen von dessen Begründer Herzl. Neben direkten Bezügen auf Herzls zionistische Schriften und Tagebücher setzt sich Klemperer anlässlich dieser Lektüre vor allem mit Fragen nach der jüdischen Identität und der deutsch-jüdischen Symbiose auseinander. Noch bevor er die Primärliteratur gelesen hatte, hob der Tagebuchschreiber bereits hervor, der Zionismus sei im Grunde „der reinste Nazismus und mir [...] widerwärtig.“ (ZAI: 454 [1.1.1939])370 Die Idee eines jüdischen Staatsgebildes 369 Über die Frage der Auswanderung nach Palästina schieden sich die Geister in der deutschjüdischen Gemeinschaft. Für weiterführende Überlegungen zur Emigrationsfrage in Klemperers Tagebüchern vgl. Faber (2005: 220-257). 370 Auch in LTI vertritt Klemperer in puncto Zionismus eine ähnliche Position. Das „Zion“Kapitel in LTI, in dem er genauso wie in den Tagebuchnotizen das „Rassendenken“, den „Nationalismus“ und „Imperialismus“ im Zionismus aufs Korn genommen hatte (vgl. LTI: 257274), brachte ihm in der SBZ einige Probleme ein. In der SBZ grämte sich Klemperer über die pro-zionistische Haltung innerhalb der KPD/SED am Ende der 1940er Jahre. Paul Merker,

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stellte für Klemperer eine „Sektiererangelegenheit“ dar, die in schroffem Gegensatz zur „Allgemeinheit“ stehe (ebd.: 457 [10.1.1939]). In der intendierten Konstruktion eines Staates sah der Philologe eine künstliche Lösung, die keinesfalls der Heterogenität des Judentums gerecht werde.371 Die Gleichsetzung von zionistischen und nationalsozialistischen Positionen wird zur ausgesprochenen Verteidigungstaktik im Sinne der Aufrechterhaltung des heilen Selbstbildes des aufgeklärten, kosmopolitischen, liberalen deutsch-jüdischen Intellektuellen. Der Nationalsozialismus, so lautet Klemperers Hauptargument, habe die „Judenfrage“ geschaffen, und dementsprechend sei Hitler „der bedeutendste Förderer des Zionismus.“ (ebd.: 695 [17.12.1941])372 Die Lösung der „Judenfrage“373 sah Klemperer einzig und allein in der „Mattsetzung ihrer Erfinder“ (ebd.: 457 [10.1.1939]), lies: der Beseitigung des Antisemitismus. Klemperer vetritt in diesem Zusammenhang eine hoch problematische These: Die Zionisten würden die Wirklichkeit entlang den Kategorien ›jüdisch/nichtjüdisch‹ einteilen und den Nationalsozialisten somit die Möglichkeit verschaffen, die zu bekämpfende jüdische „Rasse“ überhaupt erst ins Leben zu rufen. Zugleich verstärke der extreme Antisemitismus den Wunsch nach einem jüdischen Staatsgebilde, das auf der Grundlage der Rassenidee gegründet werden sollte (vgl. Faber 2005: 156).374 Die

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nichtjüdischer Pro-Zionist, mahnte den Diaristen nach der ersten – 1947 erschienenen – Ausgabe der LTI ausdrücklich, das Zion-Kapitel auszulassen (vgl. SSI: 635 [10.4.1949]). Im Gegenzug versprach Merker, „dafür zu sorgen, daß etwas aus meiner LTI in ein Schullesebuch aufgenommen werde.“ (ebd.: 640 [10.4.1949]) Diese Haltung geht auf den pro-israelischen Kurs der UdSSR zwischen 1948 und 1950 zurück: Die Sowjetunion war Mitte 1948 der zweite Staat – nach der Tschechoslowakei –, der Israel offiziell anerkannte (vgl. Elbers 1999: 50f.). Nach 1950 fiel Merker wegen seines „Connex[es] mit dem Staat Israel“ stalinistischen Strafmaßnahmen zum Opfer und wurde als „zionistischer Agent“ verfolgt, worüber sich Klemperer geradezu hämisch freute: „Zugleich Triumph meines Capitels in der LTI.“ (SSII: 354 [24.1.1953]) In die dritte Auflage der LTI, die 1957 im Verlag VEB Max Niemeyer erschien, wurde das Zion-Kapitel wieder aufgenommen. Klemperers Antizionismus in der SBZ spricht Hadwig Klemperer in einem Gespräch mit Bernard Reuter an; vgl. diesbezüglich Reuter (2002: 375). Thomas Haury stellt in seiner Studie Antisemitismus von Links (2003) auf überzeugende Weise den Zusammenhang von Kommunismus, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR dar und legt insbesondere auch den Akzent auf den Fall Paul Merker. Vgl. diesbezüglich auch Aschheim (2001: 93) und Watt (2003). Das Fehlen einer gemeinsamen jüdischen Sprache stellt für Klemperer ein weiteres Argument für die Aussichtslosigkeit des Zionismus dar. Das Hebräische sei lediglich „ein künstliches Gemisch aus modernen europäischen und amerikanischen mit altjüdischen Elementen.“ (ZAII: 323 [28.1.1943]) Bereits im Jahre 1935 findet sich eine Aussage des Zahnarztes Isakowitzes, die diese Beobachtung vorwegnimmt: „In fünfzig Jahren wird man wohl erkennen, daß er [=Hitler, A.S.] kommen mußte, damit die Juden wieder ein Volk würden (Zion!).“ (ZAI: 219 [5.10.1935]) Im Hinblick auf die „Judenfrage“ schreibt Herzl (1896: 22) in aller Kürze in Der Judenstaat: „Ich werde nun die Judenfrage in ihrer knappsten Form ausdrücken: Müssen wir schon ‚raus‘? und wohin? Oder können wir noch bleiben? und wie lange?“ An dieser Stelle soll allerdings der Vollständigkeit halber hervorgehoben werden, dass man – auch in der orthodoxen und zionistischen Ausprägung des Judentums – als Nichtjude zum jüdischen Glauben übertreten kann, was Klemperers Betonung der rassischen Grundlage von Zionismus und Chassidismus zu widersprechen scheint.

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Rassenideologie wird auf diese Weise als Zirkelschluss zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Für Klemperer ist der Zionismus, überpointiert formuliert, das jüdische Pendant zum Nationalsozialismus.375 In der jüdischen Gemeinschaft wurde diese angebliche Affinität kontrovers diskutiert: Von zwei miteinander unvereinbaren, gegensätzlichen Standpunkten aus schienen Zionisten und Antisemiten zu analogen Schlüssen gekommen zu sein. Diese vermeintliche Affinität, von den jüdischen Gegnern des Zionismus weidlich ausgeschlachtet, wurde bald ihrerseits zum Gegenstand bitterer Auseinandersetzungen unter den Juden – ein weiteres Anzeichen für die Tiefe der Ressentiments und das Ausmaß an Rivalität im eigenen Lager. (Volkov 2000: 78)

Aus Herzls Zionismus scheint die Identitätskrise eines assimilierten Juden zu sprechen, die in eine jüdische Variante des Pangermanismus umschlägt. Doch genauso wie Klemperer sich nach der Aufhebung seiner Andersheit sehnte, so war Herzls Idee des Judenstaates, eines jüdischen Zufluchtsortes, darauf gerichtet, das jüdische Pariatum aufzuheben (vgl. Wohlfarth 2000: 137, Fußn. 52). Der deutschtümelnde Assimilant und der jüdische Nationalist dürften damit zwei Seiten derselben Medaille darstellen: Beide sind als Juden auf der Suche nach der geeignetsten Form des Zusammenlebens, wie Julius H. Schoeps prägnant auf den Punkt bringt: Emanzipation und Assimilation haben jenen Typus des entwurzelten Juden geschaffen, der nirgends zugehörig, sich in einer ständigen Identitätskrise befand. Ob es nun die Entscheidung für den Zionismus oder für das Deutschtum war, beide Einstellungen waren jeweils Ausdruck einer notwendigen persönlichen Entscheidung, die von subjektiven Überzeugungen, Erfahrungen und Empfindungen motiviert wurde. (Schoeps 1983: 28)

Klemperer zitiert dazu den Assimilanten Fritz Markwald, einen Schicksalsgenossen im Dresdener „Judenhaus“: „Von gescheiterter oder rückgängig zu machender Assimilation könne nicht die Rede sein; ausrottbar seien die deutschen Juden wohl – aber zu entdeutschen nicht, auch dann nicht, wenn sie selber an ihrer Entdeutschung arbeiteten.“ (LTI: 265) Die „Entdeutschung“ der deutschen Juden erscheint Klemperer ebenso unmöglich wie Zionisten ihre „Entjudung“. Weil die deutschen Zionisten nie von der Tatsächlichkeit der vielbeschworenen deutsch-jüdischen Symbiose überzeugt gewesen waren, konnten sie Adolf

375 Klemperer verneinte die Legitimität eines jüdischen Staates Israel im Nahen Osten. Er ergriff Partei für die palästinensische Bevölkerung und gegen kapitalkräftige Juden. In diesem Zusammenhang schrieb der Diarist in einer Tagebuchnotiz aus der Frühphase des Dritten Reiches in Bezug auf einen Bekannten, der nach Israel ausgewandert war: „Walter Jelski ist nach Palästina gegangen. Möglich, daß dort sein Weizen blüht. Das ist schließlich eine romaneske Angelegenheit. Ich kann mir nicht helfen, ich sympathisiere mit den aufständigen Arabern dort, denen das Land ‚abgekauft‘ wird. [...] In Erinnerung an den Fall Gerstle schimpfte Gusti auf ‚die Saujuden‘ in Palästina, die kapitalistisch über die Araber herfallen. Erziehung zum Antisemitismus durch Nationalsozialisten!“ (ZAI: 65 [2.11.1933])

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Hitlers Machtübernahme als Beweis für die Richtigkeit ihrer Weltanschauung interpretieren und sich von den traumatisierenden Folgen erheblich schneller erholen als nichtzionistische Juden. So wendet der zionistische Journalist Robert Weltsch die Stigmatisierung der Juden ins Positive, indem er Anklage gegen die Akkulturierten und Konvertierten erhebt. In seinem Artikel „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ auf der Titelseite der Jüdischen Rundschau vom 4. April 1933 schreibt Weltsch: Dies ist ein Denkzettel für alle Verräter am Judentum. Wer sich von der Gemeinschaft wegstiehlt, um seine persönliche Lage zu verbessern, soll den Lohn dieses Verrates nicht ernten. [...] Der Jude, der sein Judentum verleugnet, ist kein besserer Mitbürger, als der, der sich aufrecht dazu bekennt, Renegatentum ist eine Schmach. Aber solange die Umwelt Prämien darauf setzte, schien es ein Vorteil. Nun ist es auch kein Vorteil mehr. Der Jude wird als solcher kenntlich gemacht. (Weltsch 1933: 1)

Diese zionistische Devise musste das deutschgesinnte Judentum in vollkommene Ratlosigkeit versetzen, weil sie die schlimmsten Befürchtungen im Hinblick auf die Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose bestätigte. Weltsch übersteigert in der vorangehenden provokativen Aussage die Schuldzuweisung an die deutschen Juden, die ihr Judentum verraten hätten und an ihrer bedauerlichen Situation selbst Mitschuld trügen. Die Ablehnung des Liberalismus und der Assimilationsbereitschaft eines Großteils der (deutschen) Juden beruhte ideologisch auf der Annahme, dass die Juden eine Rasse bilden. Auf diese Weise traten Nationalsozialismus und Zionismus in ein komplexes Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Der Zionismus ist als Reaktion auf die Rassenpolitik zu betrachten, und der Nationalsozialismus berief sich seinerseits zynischerweise auf den Zionismus, um in einer ersten Phase seine Judenpolitik voranzutreiben (vgl. Eckert 2006: 186ff.). Im NS-Diskurs hieß es vor diesem Hintergrund, im Zionismus „habe das Judentum aus sich heraus eine Gesinnung erzeugt, die die Substanzmimikry in der Wurzel aufhebe.“ (Bein 1965: 151) Zu diesem spannungsvollen, schicksalshaften Spiegelverhältnis schreibt Julius H. Schoeps: Der ohne Zweifel vorhandene völkische Anspruch des Zionismus brachte die Nationaljuden in eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den antisemitischen deutsch-völkischen Theoretikern. [...] So paradox es klingen mag, aber Nationalsozialisten und Zionisten haben sich hier in der Auffassung entgegengearbeitet, das Deutschtum der Juden sei als etwas Widernatürliches zu betrachten oder allenfalls als ein Irrtum, der schleunigst korrigiert werden müsse. (Schoeps 1983: 30; vgl. Schmitz-Berning 2000: 417f.)

In einem Gespräch mit dem russischen Zionisten Seliksohn stellt Klemperer dessen Übernahme der „Sprache des Siegers“ dort fest, wo dieser der antisemitischen Hetzparole „Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er“ offen zuzustimmen scheint. Diese Aussage geht Klemperer in besonderem Maße gegen den Strich, weil gerade die Verbundenheit zur deutschen Sprache und Kultur den Kern seines Selbstverständnisses ausmacht:

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‚[...] Es ist wirklich schon so, wie es am Schwarzen Brett Ihrer Hochschule stand und auch sonst zu lesen war: ‚Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er!‘‘ ‚Es ist zum Verzweifeln, keiner von Euch entgeht der Sprache des Siegers, nicht einmal Sie, der Sie in allen Deutschen nur Feinde sehen!‘ (LTI: 259)376

Das Gespräch mit Seliksohn verfolgte den Diaristen tagelang (vgl. ebd.: 261), da ihm der Zionist zu verstehen gegeben hatte, dass er Klemperer ebenso als Mitschuldigen an der Nazi-Katastrophe ansah. Im Gegensatz zur zionistischen wie auch nationalsozialistischen Absage an das Deutschtum der deutschen Juden hielt Klemperer jedoch an der Assimilation als die einzig mögliche Lösung der Judenfrage fest.377 Die Rassenidee, so der Diarist, gründe in einer „pervertierten Romantik“ (ebd.: 106), die schlichtweg antiquiert sei. Der Erfolg des zionistischen Gedankengutes sei im Wesentlichen kontraproduktiv, weil die zionistischen Juden das „Spiel“ der Nationalsozialisten mitspielten, indem sie sich „als politische Einheit [...] sehen und als ‚Weltjudentum‘ zusammenfassen“ (ebd.: 260): „Man läßt sich von den Nazis um Jahrtausende zurückwerfen. Die betroffenen deutschen Juden begehen ein Verbrechen – freilich muß man ihnen mildernde Umstände zubilligen –, wenn sie auf dieses Spiel eingehen.“ (ZAI: 457f. [10.1.1939])378 Die Beschäftigung mit Theodor Herzls Schriften im Juni und Juli 1942 führt im Tagebuch zur regen, emotional aufgeladenen Reflexion des zionistischen Programms. Klemperer unterzog den Zionismus einer radikalen Kritik, weil er in ihm einen politischen Partikularismus beschlossen sah, der mit den liberalhumanistischen Werten – Freiheit, Universalismus, Menschenwürde – unvereinbar sei. Aus diesem Grund sei auch jegliches politische jüdische Engagement verfehlt, weil partikular. Klemperers jüdische Herkunft nahm im Hinblick auf sein Selbstverständnis während des Holocaust keine prominentere Stellung ein: „[I]ch denke deutsch, ich bin deutsch – ich hab’ es mir nicht gegeben, ich kann es mir nicht ausreißen. Was ist Tradition? Alles beginnt bei mir.“ (ZAII: 56 [27.3. 1942]) Herzl, so Klemperer, habe „für Millionen Unrecht. Ich bin nur deutsch. Alles andere wäre für mich Komödie.“ (ebd.: 144 [25.6.1942]) Als Angehöriger 376 Für weitere Kommentare in Bezug auf die von den Nationalsozialisten verkündete Unangemessenheit der deutschen Sprache für Juden vgl. ZAI: 24 [25.4.1933]. Auch auf jüdischer Seite – wie der Philologe in dem von Gustav Krojanker herausgegebenen Sammelband Juden in der deutschen Literatur (1922) ausfindig machte – werden jüdische und deutsche Kultur streckenweise in Opposition zueinander definiert (vgl. A 138: 805 [22.2.1943]). 377 Die Assimilation betrachtete Herzl (1896: 12ff.; 26) als einen Trugschluss der europäischen Juden, denn früher oder später würde die Judenfeindschaft wieder die sich sicher wähnenden Assimilierten aus ihrem Traum erwecken. Darüber hinaus sei die Mischehe, eine der Hauptpfeiler der fortgeschrittenen Assimilation, aufgrund der „Racenvermischung“ (ebd.: 12) eine Gefahr für den Fortbestand des jüdischen Volkes. 378 Gegen die Bedeutungslosigkeit seines deutschen Selbstverständnisses, das vom Zionismus als bloße Sinnestäuschung abqualifiziert wird, betont der Diarist hin und wieder die unabänderliche Qualität seiner philosophischen und kulturellen Ansichten: „Die Jüdischen Gemeinden in Deutschland tendieren heute alle schroff zum Zionismus; den mache ich genau so wenig mit wie den Nationalsozialismus oder den Bolschewismus. Liberal und deutsch for ever.“ (ZAI: 499 [12.11.1939])

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der „Assimilierten-Generation“ (ebd.: 105 [30.5.1942]), der fest „in der selbstverständlich gewordenen Emancipation“ verwurzelt ist (A 138: 644 [24.7.1942]), kann Klemperer der Abkehr der Juden von der deutschen Kultur überhaupt kein Verständnis entgegenbringen. Während einer Prag-Reise reagiert der Diarist in einem Gespräch mit dem deutsch-böhmischen Dichter Friedrich Adler voller Unglauben auf dessen Information, Arthur Schnitzler stehe dem Zionismus nahe: [W]ie kann ein deutscher Dichter Zionist sein? [...] Wer in deutscher Bildung aufgewachsen war und in deutscher Sprache schrieb, war damals für mich mit Selbstverständlichkeit ein deutscher Schriftsteller und ist es noch heute, wo ich so viele Einwände dagegen gehört habe. (CVI: 526)

Im bürgerlichen Judentum wurde eine Emigration nach Palästina nur relativ selten erwogen. Das nationale Empfinden vieler assimilierter deutscher Juden erschwerte erheblich das endgültige Aufgeben der eigenen, deutschen Heimat.379 Zudem ließen die Nachrichten aus Palästina, wie Klemperer sie durchgehend aufzeichnete,380 auf eher abenteuerliche Lebensbedingungen schließen (vgl. Doerry 2002: 139f.). Klemperer setzt sich auf höchst kontroverse Weise wiederholt damit auseinander, dass Hitler und Herzl „sehr weitgehend vom gleichen Erbe zehren.“ (LTI: 270) Der Zionismus sei mithin ganz einfach „Verrat und Hitlerei“ (ZAI: 193 [22.4.1935]) und „Herzls Rassenlehre [...] Quelle der Nazis.“ (ebd.: 564 [10.12.1940]; vgl. A 138: 610 [17.6.1942]) Die provokative Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Zionismus fand sich auf ähnliche Weise auch bei anderen assimilierten Juden. In einer Antwort an Stefan Zweig, der einen der wichtigsten Vertreter und Verfechter des Zionismus seiner Zeit, Chaim Weizmann, um Unterstützung für eine eine ProtestPetition gegen den Nationalsozialismus gebeten hatte, reagierte beispielsweise der österreichisch-jüdische, monarchistisch orientierte Schriftsteller Joseph Roth mit ungewöhnlicher Härte: Ein Zionist ist ein Nationalsozialist, ein Nazi ist ein Zionist. Ich glaube gerne, ich bin dessen sogar gewiß, daß Herr Weizmann mehr ist als nur ‚ein Jude‘. Aber seine Funktion sperrt ihn im Judentum ein, gar im nationalen. [...] Ich sehe also nicht ein, wieso Sie gerade durch einen Bruder des Nationalsozialismus [...] einen Kampf gegen Hitler beginnen wollen, der ja nur ein blöder Bruder des Zionismus ist. Sie können damit vielleicht das Judentum beschützen. Aber mir kommt es darauf an, Europa und den Menschen zu beschützen, vor Nazis und vor Hitler-Zionisten. (Roth 1970: 420f. [14.8.1935]) 379 Zwischen 1933 und 1939 wanderten zwischen gut 52 000 und 60 000 deutsche Juden nach Palästina aus. Für eingehendere Informationen zu den deutsch-jüdischen Auswanderungszahlen vgl. Eckert (2006: 196) und Wetzel (1988: 453). 380 Klemperer wehrte sich gegen die Auswanderung nach Palästina; aus ideologischen Gründen, weil der Diarist die Idee eines nach rassischem Modell gebildeten Staates ablehnte: „Wir hören jetzt viel von Palästina; es sagt uns nicht zu. Wer dort hingeht, tauscht Nationalismus und Enge für Nationalismus und Enge aus.“ (ZAI: 38 [9.7.1933]), und aus praktischen Gründen, weil ihm das Erlernen des Hebräischen, einer seiner Meinung nach künstlichen und nutzlosen Sprache, nicht zusagte: „Schwieriges und sinnloses Hebräischlernen – nur das Kind in der Schule lernt rasch (und wird in ein Scheinwesen hineingepreßt).“ (ebd.: 92 [24.2.1934])

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Ganz ähnlich wie Klemperer verwischt Roth aufgrund der profunden Abneigung gegen auf die Rasse bezogenen Nationalismus den Unterschied zwischen auf Völkermord ausgerichtetem Totalitarismus und zionistischem Verlangen nach nationaler Selbstbestimmung. In der Auswanderungsfrage des Zionismus schieden sich in der jüdischen Gemeinschaft die Geister. Die zionistische Organisation wurde anfangs von den Nationalsozialisten unterstützt, da diese in der Frühphase des Dritten Reiches ihren eigenen Interessen in besonderem Maße entgegenkam (vgl. Wetzel 1988: 431). Die zionistischen und nationalsozialistischen Ideen über die Notwendigkeit einer Segregation von Deutschen und Juden waren Klemperer zutiefst zuwider: [I]n Zion ist der Arier gerade das, was hier der Jude. Par nobile fratrum! Mir sind die Zionisten, die an den jüdischen Staat von anno 70 p. C. (Zerstörung Jerusalems durch Titus) anknüpfen, genauso ekelhaft wie die Nazis. In ihrer Blutschnüffelei, ihrem ‚alten Kulturkreis‘, ihrem teils geheuchelten, teils bornierten Zurückschrauben der Welt gleichen die durchaus den Nationalsozialisten. [...] Das ist das Phantastische an den Nationalsozialisten, daß sie gleichzeitig mit Sowjetrußland und mit Zion in Ideengemeinschaft leben. (ZAI: 111f. [13.6.1934])

Victor Klemperers Wiedereingemeindung durch den Einzug in ein „Judenhaus“ im Jahre 1940 änderte nichts an seiner Distanz gegenüber dem Zionismus. Im Jahre 1942 unterzieht Klemperer Theodor Herzls Zionistische Schriften und den ersten Band seiner Tagebücher einer eingehenden Lektüre. Wie Rieker (1997: 31) zu Recht hervorhebt, gilt Klemperers Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus ausschließlich „dem ideologisch-weltanschaulichen Bereich“, keineswegs aber der „Ebene des politischen Handelns,“ die sich im Nationalsozialismus ganz eindeutig aus Entrechtung, Diskriminierung, Verfolgung und schlussendlich Genozid zusammensetzte: Ich habe sie mit einer Erschütterung gelesen, die an Verzweiflung grenzte. Meine erste Tagebuchnotiz darüber lautet: ‚Herr, beschütze mich vor meinen Freunden! In diesen zwei Bänden läßt sich bei entsprechendem Willen Beweismaterial für vieles finden, was Hitler und Goebbels und Rosenberg gegen die Juden vorbringen, es bedarf dazu nicht übermäßigter Geschicklichkeit im Auslegen und Verdrehen.‘ Später habe ich mir in einigen Stichworten und Zitaten die Ähnlichkeiten Hitlers und Herzls vor Augen gestellt. Es gab Gott sei Dank auch Unähnlichkeiten zwischen ihnen. Vor allem: Herzl geht nirgends auf Unterdrückung und nun gar Ausrottung fremder Völker aus, er verficht nirgends die allem nazistischen Greuel zugrunde liegende Idee von der Auserwähltheit und dem Herrschaftsanspruch einer Rasse oder eines Volkes der gesamten niedrigeren Menschheit gegenüber. (LTI: 266)

Herzl, so Klemperer, war kein ungebildeter „Fanatiker“, er hing an der deutschen Bildung und Sprache, er predigte keinen Rassenhass und rief nicht zur Gewalt auf:381 Er war „kein genialer, aber ein warmherziger und interessanter Mensch.“ 381 Nach einem Gespräch mit dem russischen zionistischen Journalisten Seliksohn zitierte er affirmativ für sich einen Satz von seinem Freund Jule Sebba: „Wenn ich schon einen Nationalismus mitmachen muß, dann wähle ich den jüdischen, der mich nicht verfolgt.“ (ZAII: 148 [28.6.

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(ebd.: 267) Zunächst sollte Herzl zufolge für die von ihrem Umfeld unterdrückten Ostjuden ein sicherer Zufluchtsort geschaffen werden.382 Seiner Meinung nach waren sämtliche Assimilationsversuche gescheitert, daher sollten auch die nicht unmittelbar bedrohten Westjuden ihre Abgrenzung zu den europäischen Nationen kenntlich machen. Die Zionisten sahen, im Gegensatz zu Victor Klemperer, Deutschland nicht als Heimat an und bezeichneten die jüdische Diaspora als Ausnahmezustand, der nicht länger Bestand haben sollte (vgl. Faber 2005: 73). Gershom Scholems zionistische Auffassungen sind vor diesem Hintergrund besonders aufschlussreich: Wir wollen die Scheidelinie zwischen Europa und Juda ziehen: ‚Meine Gedanken sind nicht deine Gedanken und deine Wege sind nicht meine Wege.‘ Wir haben nicht soviel Menschen, um sie freiwillig dem Moloch in den Rachen zu werfen. Nein, wir brauchen Menschen, Menschen, die den Mut haben, ihre Gedanken, ihre jüdischen Gedanken zuende zu denken, Menschen, die den Mut des Radikalismus in Gedanken und Taten haben, die ihrem Volke nahe [...] sind [...]. Denn wir wollen trunken werden und berauscht an unserem eigenen Volke. (Scholem 1995: 297f.)383

Vor der „Scheidelinie zwischen Europa und Juda“, die Scholem so leidenschaftlich proklamierte, verschließt Klemperer die Augen. In seinen Erinnerungen an die Begegnungen mit orthodoxen Juden in Litauen und Italien in den 1910er Jahren streicht der Philologe seinen aufgeklärten deutsch-französischen Humanismus heraus, der ihm als sicherste Zuflucht vor Vorurteilen gilt und mit der Lebensweise der Chassidim nicht in Einklang zu bringen sei: Gemeinschaft der Blutkörper und der Hautfarbe habe ich mit den Leuten in Kowno und Neapel, Gemeinschaft des Geistes nur mit dem, was europäisch, engste und letzte Gemeinschaft nur mit dem, was deutsch ist. Immer ist mir die Gesinnung verhaßt gewesen, die aus Gronemanns Buch spricht, und heute ist sie mir verhaßter als je, denn sie gibt Hitler recht und hat ihm vorgearbeitet, und manchmal 1942]) Hiermit hebt Klemperer de facto den Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Zionismus hervor. 382 Enzo Traverso (1993: 41) weist darauf hin, dass der frühe Zionismus, bevor er eine ethnischkulturelle Ausrichtung erfuhr, eine philanthropische Strömung innerhalb des Judentums darstellte, die die Gründung eines jüdischen Staates primär für die verfolgten Ostjuden im Zarenreich anstrebte, nicht für die deutschen Juden. 383 In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1914 kritisiert Gershom Scholem vor diesem Hintergrund aufs Schärfste die moderne, bildungsbürgerliche Tendenz im europäischen Judentum, Bildung als notwendigen Schritt zur gesellschaftlichen Emanzipation anzusehen. Die in der „fremden“ Kultur erworbene Bildung lenke vom wahren, gefühlsbedingten Glauben ab: „An mein Volk. Es ist die Stimme eines Rufers: Wehe denen, die da Kultur an sich gesogen haben und Bildung in ihrem nagenden Herzen, die ihrem Volke Bildung brachten und ihren Brüdern Verderben und Tod. Willst du sterben – ruft dein Gott, so gehe hin auf dieser Bahn, weiter, weiter, bis an des Todes Pforten. [...] Kein Friede mit den Gebildeten – spricht mein Gott. Ihr Völker und Nationen, die ihr gesund bleiben wollt, an Leib und Seele, bleibet fern den Stätten der Kultur. […]. Denn es ist dies eure Todeskrankheit, ihr vom Hause Israel, daß ihr zu viel der Bildung habt und allzuviel der schlimmen Wege ihrer Lande. Werdet, was ihr wart, das ist, werdet natürlich, denn dies ist euer Heil und eure Rettung allein.“ (Scholem 1995: 61 [26.11. 1914])

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ist es mir wahrhaftig zweifelhaft, ob ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen einem Nationalsozialisten und einem Zionisten ... (CVII: 481)

Irving Wohlfarth (2000: 138ff.) beanstandet die Unausgewogenheit von Klemperers Kritik am Zionismus, wie sie beispielsweise im obenstehenden Zitat zum Ausdruck kommt. Klemperer nimmt in seiner Zionismus-Analyse eine massive Unterscheidung zwischen Gegenaufklärung und Aufklärung vor: Auf der einen Seite stehen Nationalsozialismus, Antisemitismus, Zionismus, Kommunismus und Romantik, auf der anderen Seite Aufklärung, Rationalismus, Deutschtum, Preußentum, Bildung und Assimilation. Diese von Klemperer durchgängig unterstrichene Dichotomie müsste in dreifachem Sinne relativiert werden: Erstens macht sich in den Tagebüchern eine Tendenz bemerkbar, die – ausgehend von den unleugbar vorzufindenden Berührungspunkten zwischen Nationalsozialismus und einem bestimmten Zionismus – pauschalisierend die unterschiedslose Verschränkung von beiden Ideologien postuliert. „Les extrêmes se touchent,“384 so betont der Tagebuchschreibende mehrmals (LTI: 265), aber dies bedeutet noch nicht automatisch, dass die Extreme bruchlos ineinander übergehen. Zweitens bleibt durch die säuberliche Dichotomie zwischen Fortschritt und Gewalt die Modernität von Nationalsozialismus und Antisemitismus oft unerkannt:385 Aufklärung und Gewalt, Voltaire und Robespierre, stellen zwei Seiten der Moderne dar, wie Detlev Claussen (2005: 52) in Anlehnung an Adorno und Horkheimer hervorhebt: „Seit Beginn der Aufklärung droht hinter dem Menschheitspathos die pädagogische Zuchtrute, die mit der brutalen Methode mittelalterlicher Zwangsbekehrung mehr gemein hat als mit Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.“ Drittens fällt Klemperer, der sich als wissenschaftlicher Unbeteiligter „auf hohem, Überblick schenkendem Posten“ (LTI: 265) glaubt, der Illusion anheim, es gebe einen Ort unversehrter Sprachlichkeit, die nicht von Ideologie oder Zweckrationalität ergriffen sei. Klemperers liberaler Aufklärungsglaube an unbefangene Objektivität und Rationalität geht mit einer essentialisierenden Sichtweise einher, die die Dialektik der Aufklärung nicht wahrnimmt.386 Dem klaren Gegensatz von 384 Der undifferenzierten Grenzverwischung zwischen verschiedenen politischen Denksystemen wie Kommunismus, Nationalsozialismus und Zionismus begegnet man allenthalben in Klemperers Aufzeichnungen. Sie werden geradezu nivellierend auf dieselbe Stufe gestellt: „Die zionistischen Bolschewisten sind reinste Nationalsozialisten!“ (ZAII: 77 [3.5.1942]; vgl. ZAI: 319 [18.10.1936]) Die strukturelle Identität von Faschismus und Bolschewismus, die beide, so Klemperer, nur in einem totalitären Staatssystem existieren können, ist eine wiederholte Behauptung in seinem politischen Diskurs: „Der Nationalsozialismus ist jetzt ganz oder fast ganz mit dem Bolschewismus identisch geworden.“ (ebd.: 98 [19.3.1934]; vgl. ebd.: 594 [21.5. 1941]; ZAII: 210 [17.8.1942]; ebd.: 748 [21.4.1945]) 385 Der Nationalsozialismus stellt für Klemperer eine Chimäre aus der dunklen Vorzeit dar: „Und ich habe mir immer eingebildet: 20. Jahrhundert und Mitteleuropa sei etwas anderes als 14. Jahrhundert und Rumänien. Irrtum.“ (ZAI: 15 [30.3.1933]; vgl. ebd.: 13 [21.3.1933]; ebd.: 309 [27.9.1936]) 386 Die fehlende Einsicht in die Ambivalenz der Moderne kommt auf geradezu rührende Weise exemplarisch in Klemperers fester Überzeugung zum Tragen, der Nationalsozialismus sei gerade deswegen undeutsch, weil Deutschland auf idealtypische Weise die fortschrittliche Moderne

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einerseits Aufklärung und andererseits Zionismus und Faschismus liegt anscheinend eine Sehnsucht nach einer Ordnung zugrunde, in der die Spuren des Anderen im Eigenen und die inhärenten Ambivalenzen der Sprache aufgehoben wären.387 Es gibt keinen Ort, an dem man unbefangen etwas über die verlogene, verarmte, grau gewordene Sprache aussagen kann als mitten in dieser selbst (vgl. Wohlfarth 2000: 146). Klemperer musste nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich begreifen, dass Deutschtum nicht nur auf die Ideen- und Kulturgeschichte verwies, nicht nur Kant, Lessing, Goethe und Humboldt bedeutete, sondern auch Holocaust und Ignoranz. Die emanzipatorische Bedeutung seines Bildungskapitals und seine Orientierung am klassischen deutschen Kulturerbe erwiesen sich als eindeutig revisionsbedürftig. Viele deutsche Intellektuelle jüdischen Ursprungs hatten bis in die 1930er Jahre das gleiche Verhältnis zu Deutschland und der deutschen Sprache wie Klemperer, aber denjenigen, die den Holocaust überlebt hatten, erschien diese deutsche Identität nach 1945 in der Regel als bloße Erinnerung an eine untergegangene Geisteswelt, während Klemperer aus tiefster Seele glaubte, sie in erneuter Form in der DDR wiederzufinden. 3.2.1.7 Heimatlosigkeit als Geisteslage: Zwischen allen Stühlen In seinem Aufsatz Gott schütz uns vor den guten Menschen lenkt der österreichischjüdische Schriftsteller Robert Schindel den Blick auf die Dialektik von Heimat und Heimatlosigkeit als grundlegende Erfahrung der jüdischen Identität: verkörpere. Das Dritte Reich, so Riccardo Bavaj (2003: 53), habe den negativen Höhepunkt der destruktiven Elemente des Modernisierungsprozesses dargestellt, der in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in eine selbstzerstörerische Dynamik geraten war. Das Dritte Reich war dementsprechend nicht undeutsch und vormodern, sondern auch deutsch und ausgesprochen modern. Wie in einer Bewegung der selbsterhaltenden Abwehr wandte sich Klemperer von der hässlichen Seite des Janusgesichts des Deutschtums bzw. der liberalen Aufklärung, den zwei Grundpfeilern seines intellektuellen Selbstverständnisses, ab und wollte ihre Widersprüche nicht wahrhaben. In Bezug auf den Nationalsozialismus hielt Klemperer anfangs fest: „In Deutschland [...] sei diese Form [=der Faschismus, A.S.] nirgends in der Geschichte zu finden, sie sei absolut undeutsch und deshalb ohne eine irgendwie endgiltige Dauer.“ (ZAI: 41 [13.7.1933]; vgl. LTI: 75) In der unmittelbaren Nachkriegszeit hieß es im umgekehrten Sinne: „Die Degradierung der Vernunft: das ist die Wurzel des Unheils, die tiefste, die eigentlich deutsche.“ (US: 59 [17.7.1945]) 387 Klemperer suchte bis in die 1940er Jahre hinein Zuflucht zur Ebene des Universalismus, der universalen Menschheitsrechte und -ideale, denen die deutschen Juden ihre Emanzipation verdankten. Erst in der Endphase des Dritten Reiches wurde ihm allmählich klar, dass das Deutschland, das er kannte – oder als Phantasiegebilde in Gedanken in einem Schrein eingeschlossen hatte –, in den letzten Zügen lag. Das dialektische Doppelverhältnis des Fortschritts zu Befreiung und Grausamkeit, vor dem Klemperer als jüdischer Aufklärungsforscher die Augen verschloss, zeigt sich paradoxerweise in der Figur des assimilierten Juden selbst: Die jüdische Emanzipation, so legen Adorno und Horkheimer in Dialektik der Aufklärung dar, führte ihn aus der ursprünglichen Gemeinschaft zum neuzeitlichen Bürgertum, das indes bereits damals unaufhaltsam auf dem Wege zur „reinrassischen“ Reorganisation war (vgl. Adorno und Horkheimer 2003: 193f.).

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Heimat zu produzieren inmitten der Heimatlosigkeit selbst. Hier geht es um den Unterschied, der darin besteht, ob ich eine Heimat vorfinde, in die sie hineingeboren werde, oder ob ich eine Heimat nach und nach erst produzieren muß, in die vorgefundene Umwelt hinein, denn diese Umwelt hat uns Juden stets gelehrt, daß sie unsere Heimat nicht sein mag. (Schindel 1995: 33f.)

Dem Gefühl der Heimatlosigkeit kommt auch in Klemperers Tagebüchern nach und nach eine zentrale Rolle zu.388 Die umwälzenden geschichtlichen Ereignisse im Dritten Reich werden jedoch soweit wie möglich vom unerheblichen Gang des täglichen Lebens und von der kontinuierlichen Praxis des Registrierens konterkariert. Die Aufzeichnungen schaffen somit ein Reservat der Ordnung und der Hoffnung im Ausnahmezustand und erweisen sich als kompensatorische Alternative der Defizite, Widersprüche und Zwänge der Wirklichkeit. Das unentfremdete Leben, seine nationale Identität und persönliche Autonomie, die die nationalsozialistische Gesellschaft verwehrt, rückt Klemperer in der imaginären Innenwelt des Tagebuchs, die er im täglichen Schreibprozess erst herstellt, in greifbare Nähe. Die diaristische Zeitzeugenschaft Victor Klemperers gilt vor diesem Hintergrund auch insofern als spiegelverkehrte Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, als in den Tagebüchern die beschriebene historische Lebenswelt zur Spiegelung der eigenen Ausgrenzung, der eigenen Heimatlosigkeit wird. Doch immer mehr wird diese Suche nach einem stabilen Selbst zu einer HeimSuchung, zu einem unheimlichen Versuch, die Verbindung mit der eigenen Herkunft wiederherzustellen. Sogar unmittelbar nach dem Kriegsende schwanken Klemperers Identitätszuschreibungen zwischen kritischer Distanz und nationaler Loyalität zu Deutschland.389 Kurz nach der Kapitulation heißt es in einem Eintrag: „Am Schweizer 388 Je länger der Krieg und die Judenverfolgung andauerten, desto offensichtlicher wurde auch dem Diaristen Victor Klemperer der Zusammenhang zwischen sozialen Lebensumständen und Identitätskonstruktion. Das Bewusstsein um das fragile Gleichgewicht zwischen Selbst- und Fremdbestimmung rückte in den Mittelpunkt von Klemperers Reflexionen über seine Identität. Aufgrund ihrer Unsicherheit als Exterritorialisierte, so der Tagebuchautor, seien Juden immer auf der Suche nach einer ausgesprochenen politischen, beruflichen oder nationalen Selbstidentität: „Das eigentlich unterscheidende Merkmal, und buchstäblich die faculté maîtresse des modernen Juden ist seine Unsicherheit – die Gegner und die Poetisierenden sagen Ahasver. Die Unsicherheit treibt ihn in die Abschließung des Ghettos und des Talmud, treibt ihn in die Überbetonung des Deutschtums, Franzosentums usw., treibt ihn in Internationalismus und in politischen Zionismus; treibt ihn in bestimmte Berufe [...]. In dem Augenblick, wo ihm Sicherheit gegeben, wird er ein anderer sein.“ (ZAII: 321 [28.11.1943]) 389 Bereits vor dem Kriegsende, zwischen Januar und April 1945, lässt sich diese Zwiespältigkeit verzeichnen. Klemperer betrachtet das Ende des Krieges nicht nur unter dem Zeichen der Befreiung, sondern auch als gedemütigter deutscher Staatsbürger, der sich der faschistischen Verballhornung der deutschen Kultur schämt: „[I]ch finge an rot zu sehen, wenn ich bloß das Wort ‚deutsche Kultur‘ hörte.“ (ebd.: 640 [15.1.1945]) Der Philologe schämte sich „des Verfalls und der Verräterei deutscher Intelligenz, deutscher Sittlichkeit.“ (ebd.: 705 [21.3.1945]) Das Wort „deutsch“ war somit nicht mit „Massenmord“ oder „Totalitarismus“ identisch geworden, sondern besaß für Klemperer noch immer die Aura des Humanen und Universellen. Patriotismus und Nationalismus hatte er aufgegeben, aber sein Selbstverständnis als Deutscher und seine Zugehörigkeit zu Deutschland waren nach wie vor intakt. Als er auf der Flucht in

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Rundfunk erschütterte und packte mich der Satz einer alliierten Erklärung: Deutschland habe ‚aufgehört, als souveräner Staat zu existieren.‘“ (ZAII: 778 [17.5.1945])390 Dem Verlust der Souveränität Deutschlands stand Klemperer mit gemischten Gefühlen gegenüber, wie in der nachfolgenden Textstelle – in der die amerikanische Militärpräsenz in München kritisch beleuchtet wird – eindrucksvoll zum Tragen kommt: Und durch den Staub, den Schutt, das Lärmen des Sturms rasten immerfort die Cars der Amerikaner. [...] Sie fahren eilig und nonchalant, und die Deutschen trotten demütig zu Fuß, sie spucken überallhin die Fülle ihrer Zigarettenstummel, und die Deutschen sammeln die Stummel auf. Die Deutschen? Wir, die Befreiten, schleichen zu Fuß, wir bücken uns nach den Stummeln, wir die wir gestern noch die Unterdrückten waren, und die wir heute die Befreiten heißen, sind schließlich doch nur die Mitgefangenen und Mitgedemütigten. Merkwürdiger Konflikt in mir: Ich freue mich der Rache Gottes an den Henkersknechten des 3. Reichs [...], und ich empfinde es doch als grausam, wie nun die Sieger und Rächer durch die von ihnen so höllisch zugerichtete Stadt jagen. (ebd.: 788f. [22.5.1945])

Der Diarist urteilt sowohl als jüdischer Geretteter wie auch als deutscher Besiegter: Das „Wir“ in der vorangehenden Passage referiert auf die sich in München befindlichen jüdischen Überlebenden, denen jedoch, so Klemperer, in der Realität das gleiche Los wie den Deutschen beschert war: Demütigung und Mitgefangenschaft.391 Dieses hoch ambivalente Verhältnis zwischen deutschem und jüdischem Selbstverständnis kommt ebenfalls in seiner Beschreibung der massiven Bombardierung Dresdens zum Ausdruck. Sein Überleben dieses Angriffs erscheint dem Diaristen als ein zwiespältiges Privileg gegenüber den vielen deutschen Toten. Ins Auge fällt in diesem Zusammenhang die psychologische Identifikation des Diaristen mit der deutschen Zivilbevölkerung, aus deren Mitte er ausgestoßen worden war: „Manchmal spiele ich jetzt wirklich mit dem Gedanken der Vorsehung. Aber wieso bin ich besser als die 200 000 Toten? Und was haben die verschuldet?“ (A 138: 1357 [22.2.1945]) Der Zerstörung der Elbe-Stadt, obwohl sie für KlemOberbayern drei jungen waffenlosen deutschen Soldaten begegnet, bringt er ihnen kein Misstrauen entgegen, er empfindet nur Mitleid: „Die geduckten und hilflosen drei Soldaten waren wie eine Allegorie des verlorenen Krieges. Und so leidenschaftlich wir den Verlust dieses Krieges ersehnt haben, und so notwendig dieser Verlust für Deutschland ist (und wahrhaftig für die Menschheit) – die Jungen taten uns doch leid.“ (ebd.: 760 [29.4.1945]) 390 Die Aporie der deutsch-jüdischen Identität machte sich bereits vor Kriegsende bemerkbar. Bei den Gesprächen im so genannten „Judenkeller“ in der Kartonagenfabrik Adolf Bauer, der Klemperer zur Zwangsarbeit zugeteilt war, bemerkt der Diarist während eines Luftalarms die Widersprüchlichkeit der deutsch-jüdischen Identität: „[M]it der gleichen Selbstverständlichkeit und der gleichen Leidenschaft hängt jeder von uns am deutschen Heer des ersten Weltkriegs und an dessen Gegnern in diesem zweiten Weltkrieg.“ (ebd.: 533 [21.6.1944]) 391 In einem Interview mit Bernard Reuter hebt Hadwig Klemperer, die zweite Ehefrau des Diaristen, hervor, es sei ihm nicht schwer gefallen, sich nach dem Holocaust erneut für Deutschland zu entscheiden, weil er sich nach wie vor als deutschen Staatsbürger betrachtete: „[A]uf dem Rückweg von Bayern nach Dresden, da leidet er wie ein normaler Deutscher unter der Besatzungsmacht. [...] Und später, nach 1945 das Potsdamer Abkommen, Gott leidet der! Der leidet wie ein ganz deutscher Deutscher.“ (Reuter 2002: 372)

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perer erstrangig die Befreiung aus der Verfolgung und Repression bedeutete, stand der Diarist voller Ambiguität gegenüber, denn nicht nur die verhassten Nationalsozialisten wurden damit besiegt, auch sein heiß geliebtes und idealisiertes Deutschland wurde zur internationalen Bedeutungslosigkeit, zum „kleine[n] Ackerstaat“ (US: 80 [4.8.1945]) degradiert,392 da es allem Anschein nach von den Alliierten administriert werden würde: „Als unser Dresden zerstört wurde, fiel deutscherseits kein einziger Abwehrschuß mehr, stieg deutscherseits kein einziges Flugzeug mehr auf – die Vergeltung war da, aber sie traf Deutschland.“ (LTI: 294) Das Deutschland, von dem hier die Rede ist, ist nicht das nationalsozialistische Deutschland, es ist das Land eines entmaterialisierten, übersinnlichen Deutschtums, wie es Klemperer mustergültig bei Kant, Lessing und Goethe vertreten sah.393 In der Endphase des Krieges und der Nachkriegszeit zeigt sich in seltenen Momenten, dass sich der Diarist ein gewisses jüdisches Selbstverständnis bewahrt und das Identifikationsangebot der letzten Jahre – als Jude – auch tatsächlich angenommen hat: „Sooft ich an den Schutthaufen Zeughausstraße 1 und 3 dachte und denke, hatte und habe doch auch ich das atavistische Gefühl: Jahwe! Dort hat man in Dresden die Synagoge niedergebrannt.“ (ZAII: 675 [15.2.-17.2. 1945])394 Für Klemperer manifestierte sich in der unmittelbaren Nachkriegsperiode ein deutliches Solidaritätsgefühl mit den jüdischen Überlebenden, die nun in der Sowjetischen Besatzungszone Schlüsselpositionen einnahmen: „Sieg – aber um welchen Preis! O Jahwe!“ (US: 184 [20.11.1945]) Andererseits befürchtete 392 Dieser Zwiespältigkeit dem Untergang Deutschlands gegenüber liegen auch persönliche, karrierebedingte Interessen zugrunde, weil er im Hinblick auf seine Laufbahn fürchtete, „nie wieder hochkommen werden“ zu können (US: 80 [4.8.1945]). 393 Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab der Diarist sein Ideal vom aufgeklärten preußischen Deutschtum nicht auf: „Was mich an den Antifaschismus-Kundgebungen der KPD [...] am meisten stört, ist die Identification von ‚Preußengeist‘ und natsoc. Mentalität. Das stimmt nicht.“ (US: 124 [10.9.1945]) Klemperers „Vorliebe für mein Preußen“ (CVII: 365) stützte sich auf die Konzeption des aufgeklärten Staatsdenkens unter Wilhelm II., das laut Klemperer das Gegenstück zum „romantischen“, irrationalen Nationalsozialismus darstellte. Dieser polemische Gegensatz rückt in den Hintergrund, dass der Nationalsozialismus eine konsequente fanatische Fortsetzung der Aufklärung darstellt. In Dialektik der Aufklärung heißt es im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Aufklärung und Gewalt: „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Adorno und Horkheimer 2003: 19) Zu Klemperers idealistischer Auffassung vom „Preußentum“ vgl. Birken (1999: 35ff.). 394 Das (zwiespältige) jüdische Moment in Klemperers Identität scheint auch darin zum Ausdruck zu kommen, dass der Diarist unmittelbar nach dem Krieg – im Juli 1945 – seinen neuen Kater Moritz in „Moische“ umtaufte (vgl. US: 62 [20.7.1945]). Der Tagebuchschreiber stellte überdies sehr zu seinem Bedauern die Dezimierung der Dresdener jüdischen Gemeinde fest: „[H]ier in Dresden hat es vor 33 eine Judengemeinde von 4stelliger Zahl gegeben, sie ist ausgerottet, es werden heute keine 100 Juden mehr hier leben.“ (ebd.: 195 [7.12.1945]) Eine weitere außergewöhnliche Szene, aus der eine melancholische bzw. nostalgische Grundhaltung hervorgeht und die seine jüdische Sozialisation in den Vordergrund rückt, stellt seine Reaktion auf die Theateraufführung von Anne Franks Tagebuch dar: „Ich dachte an meine JudenhausErlebnisse. Ein Höhepunkt die Chanuka-Szene mit dem hebräischen Gesang – die Melodie habe ich vor vielen Jahrzehnten gehört.“ (SSII: 647f. [14.2.1958])

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der Diarist, dass der besagte jüdische „Sieg“ – ein schicksalhafter Pyrrhussieg – neuerliche Judenfeindlichkeit nach sich ziehen würde: „Es wird sehr bald heißen: sie [=die Juden, A.S.] drängen sich vor, sie rächen sich, sie sind die Gewinner: Hitler und Goebbels haben recht gehabt.“ (ebd.: 10 [17.6.1945]); vgl. ebd.: 195 [7.12.1945]) Vor diesem Hintergrund war Klemperer besonders davor auf der Hut, sich als Jude darzustellen oder Kritik an Deutschen zu üben. Er fürchtete sich vor antisemitischen Repressalien: „Ich mag nur nicht als jüdischer Rachgeist und Triumphator erscheinen.“ (ebd.: 15 [20.6.1945]) Obwohl Klemperer der emotional-symbiotische bzw. nationalistische Heimatbezug zu Deutschland nach dem Holocaust weitgehend abhanden gekommen ist, herrscht für ihn weiterhin ein politisch-identifikatorisches Solidaritätsbekenntnis zum Vaterland, zum deutschen Staat vor. Der Tagebuchschreibende äußert explizit den Willen, „am Wiederaufbau meines Vaterlandes mitwirken zu können; ich betonte ‚meines‘, denn was mir auch geschehen ist, ich kann kein anderes haben.“ (ebd.: 88 [12.8.1945]) Die Gründung der DDR bedeutete für Klemperer eine Wiederanknüpfung an die Universalität und den Humanismus. Der Diarist und mit ihm eine Reihe jüdischer Remigranten – Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle – hofften erneut auf eine durch den staatlich verordneten Antifaschismus gesicherte deutsch-jüdische Symbiose, die mit der vollständigen Entnazifizierung der SBZ/DDR einhergehen sollte (vgl. Jung 1999: 67). Klemperers berufliche und soziale Lage blieb indes auch in der DDR hochgradig unbequem. Er wollte es nicht weiter hinnehmen, in allen Lebensbereichen der Kategorie „Jude“ zugeordnet zu bleiben, er suchte vielmehr ganz allgemein395 Anerkennung als Mensch, als deutscher Staatsbürger, als Wissenschaftler und – trotz seiner früheren Abneigung gegen den Marxismus – sogar als Kommunist. Vor diesem Hintergrund ist es besonders aufschlussreich, dass Victor Klemperer im Jahre 1953 anlässlich einer geplanten Laudatio, für die er bereits vorher die Druckfassung zu Gesicht bekommen hatte, seinen Unmut darüber kundtat, dass in der Ansprache „etwas viel vom Sohn des Rabbiners, Judenleid etc. die Rede war. Ich schrieb [...] mit eindeutigster Klarheit: mir sei Philosemitismus genauso peinlich wie Antisemitismus. 395 Der Allgemeinheit und dem Kampf gegen jeglichen Partikularismus galt bis zum Ende Klemperers Bestreben. Als ihn beispielsweise die DDR-Zeitung Deutschlands Stimme darum bat, einen Augenzeugenbericht über die Zerstörung Dresdens zu verfassen, schrieb der Diarist als Order an sich selbst im Tagebuch: „[I]ch mag nicht die Judenerinnerung schreiben, ich muß mich allgemein halten.“ (SSII: 6 [7.1.1950]) Bei einer Versammlung der Opfer des Faschismus 1947 zeigte sich der Tagebuchautor sichtlich verstört über die ständige Dichotomisierung von „deutsch“ und „jüdisch“ in den vorgetragenen Reden. Eine Überbetonung des Jüdischen war Klemperer, weil sie eine Art Enthüllung seiner eigenen Andersheit darstellen hätte können, die er der Außenwelt um jeden Preis verheimlichen wollte, außerordentlich unangenehm. Die Bezeichnung „rassisch Verfolgte“ und das Plädoyer für eine „paritätische Berücksichtigung der Juden“ waren ihm dementsprechend zuwider. Der Diarist wandte vor diesem Hintergrund in parteikonformer Weise Folgendes ein: „Ich hatte eingegriffen u. betont, daß ich alle Differenzierungen von Jud u. Christ ablehnte u. nur Faschisten u. Antifaschisten anerkennte.“ (SSI: 340 [19.1.1947]) Der kommunistische Code ›antifaschistisch/faschistisch‹, genauso wie zuvor der Code ›deutsch/undeutsch‹, kam für den Diaristen der Verhüllung der jüdischen Herkunft gleich.

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Ich bin deutscher u. Kommunist, sonst nichts. Übrigens sei die Folge des Philosem. bestimmt nur eine neue Verstärkung des Antisem.“ (SSII: 351 [2.1.1953]; vgl. ebd.: 353 [19.1.1953]) Peter Gay bezeichnet den neu aufkommenden „Philosemitismus“ der Deutschen, ihre „neuentdeckte Liebe für alles Jüdische“ als „weißen Antisemitismus“: 1945 gab es etwa 15 000 Juden im Lande verglichen mit einer halben Million 1933, und sie wurden von den nichtjüdischen Deutschen mit einer Art schmieriger Zuvorkommenheit behandelt, mit auffälliger Bewunderung für alles, was Juden sagten, taten oder glaubten. Mit tiefer Ironie verspotteten jene, denen diese Behandlung galt, die neuentdeckte Liebe für alles Jüdische, gleich wie ehrlich, als ‚weißen Antisemitismus‘. (Gay 1999: 213)

Dieser „Philosemitismus“ war nicht zuletzt deswegen weit verbreitet, weil er eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der eigenen Einstellung zum Regime und den nationalsozialistischen Freveltaten an der Menschheit überflüssig zu machen schien (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 79; Greiner 1997: 150). Ein weiterer Grund bzw. Hintergedanke für diese plötzlich auflebende Vorliebe für die jüdischen Mitbürger mochte darin liegen, dass einstige Parteimitglieder der NSDAP die Gunst früherer jüdischer Bekannter zu erwerben suchten, um sie in einem nächsten Schritt um einen Entlastungsschein für ihre Entnazifizierung zu bitten. In einem Eintrag vom September 1945 hält Klemperer einen solchen Vorgang fest: Einmal traf ich unterwegs Schnauder, den durchaus freundlichen Prokuristen der Firma Schlüter […]. Gestern schickte er seinen Sohn zu mir mit der Bitte um ein Attest, daß er trotz seines Hakenkreuzes judenfreundlich gewesen. […] Ich schrieb das Zeugnis. (US: 117f. [6.9.1945])

Der Antisemitismus war indes noch immer präsent, und seine erneute Zunahme wird in den Tagebüchern ausdrucksvoll beschrieben.396 Die Tagebücher aus der 396 Die Angst vor einer neuen Welle des Antisemitismus beschäftigte Klemperer von Kriegsende an (vgl. US: 137 [18.9.1945]), was ihn besonders sensibel für die Fremd- und Selbstdarstellung des Jüdischen machte. Auf einem Kongress der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) im Jahre 1947 hielt Julius Meyer eine Rede, in der er vom „jüdischen Volk“ sprach und dieses gänzlich von den Deutschen abgrenzte. Victor Klemperer war – seinem lebenslangen Assimilationsbestreben entsprechend – mit dem Konzept eines ethnisch oder politisch definierten jüdischen Kollektivs keineswegs einverstanden und zeigte sich erbost darüber, dass der Redner über Juden sprach „wie man von den Polen u. Russen spricht, u. isolierte sich feindselig, nicht von den Nazis, sondern von Deutschland überhaupt. ‚Wir werden es nie vergessen, nicht die Kristallnacht, nicht die 6 Millionen Tote.‘“ (SSI: 354 [28.2.1947]) Die Furcht vor einem erneuten Höhepunkt des Antisemitismus zieht sich unaufhörlich durch die Tagebücher aus der DDR-Zeit. Der Tagebuchautor stellte ängstlich fest: „Ständiges Wachsen des Antisemitismus, auch in der SED.“ (ebd.: 614 [16.12.1948]) Auch Bekannte und Freunde der Klemperers brachten in Briefen und Gesprächen aus den ersten Nachkriegsjahren gleichermaßen ihre innerliche Unruhe und Besorgnis über die unterschwellige und nicht abnehmende Judenfeindschaft in der ostdeutschen Bevölkerung zum Ausdruck. Der Tagebuchautor zeichnet vor diesem Hintergrund die Aussagen dreier Bekanntschaften auf: „Kussy [...]: die Jugend sei durchaus nazistisch, durchaus gegen Kommunisten u. Russen. – Ein Brief Frau Lisl Stühlers aus München: Nazismus u. mehr Antisemitismus als je. Bernhard St: ‚Wenn meine Mitschüler wüßten, daß ich Jude bin, verkehrte keiner mit mir!‘“ (ebd.: 247 [25.5.1946]) Für weitere Beispiele antise-

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DDR-Zeit stellen mit aller Deutlichkeit den Entscheidungsprozess des apolitischen, liberalen Bildungsbürgers Klemperer für die DDR dar, der sich – trotz der Tatsache, dass im Kommunismus der „Professor [...] als Arbeiter tertio loco“ steht (ebd.: 167 [26.10.1945]; im Original kursiv) – mit dem neuen System abzufinden versucht, um „am Auspumpen der Jauchengrube Deutschland mitzuarbeiten.“ (ZAII: 876f. [20.6.1946]) Zwischen seinen konservativen Werten aus der Vorkriegszeit und den kommunistischen Idealen, die ihm in der DDR abverlangt werden, sieht sich Klemperer wiederum in einen Zustand der Anomalie versetzt. Die Kritik am Kommunismus, den er unter dem Hitler-Regime noch durchgehend mit dem Nationalsozialismus verglichen hatte,397 geht nun in ein – ambivalentes – Engagement zugunsten der DDR über (vgl. Aschheim 2002: 186). Einerseits hält Klemperer die DDR für „innerlich verlogen“ (SSI: 692 [12.10. 1949]), andererseits schärft er sich ein: „Ich glaube aber, ich muß bei der radikalen u. russophilen Linie bleiben, sie ist nicht schön, aber doch wohl notwendig.“ (ebd.: 426 [2.9.1947])398 Der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR erschien ihm trotz all seiner Schwächen als der sicherste Schutz vor Antisemitismus, als „das kleiner [sic] Übel“ (US: 56 [14.7.1945]).399 Die DDR setzte sich ideologisch radikal vom Dritten Reich ab, und man versprach sich von der Neugründung des Staates, die im offiziellen Diskurs auf quasi-messianische Weise dargestellt wurde, eine gleichermaßen radikal neue Zukunft: „Die DDR koppelte sich von der deutschen Geschichte ab und erscheint in ihrem Selbstverständnis als kopfgeborene Territorialisierung offiziell-idealisierter KPD-Geschichte.“ (Diner 1987a: 63) Vor diesem Hintergrund war der Tagebuchautor, der die Deutschen in der Kaiserzeit sogar für das „auserwählte Volk“ hielt (vgl. CVI: 315), dafür, die ostdeutsche Souveränität zugunsten sowjetischer Bevormundung aufzugeben. Die transitorische Identität des Individuums lässt sich in den Tagebucheinträgen besonders deutlich beobachten, indem die Brüche und Paradoxa im eigenen Wertemitisch geprägter Bemerkungen bzw. Begebenheiten in der SBZ vgl. ebd.: 175 [4.1.1946]; ebd.: 242 [11.5.1946]; ebd.: 460 [12.11.1946]; ebd.: 417f. [14.8.1947]; ebd.: 512 [22.2.1948]; ebd.: 614 [16.12.1948]. 397 Die weitgehende Identität von Kommunismus und Nationalsozialismus war ein ständig wiederkehrendes Thema in Klemperers zeitgeschichtlichen Analysen des Dritten Reiches. In einem für viele andere stellvertretenden Beispiel heißt es: „[G]anz Deutschland zieht Hitler den Kommunisten vor. Und ich sehe keinen Unterschied zwischen beiden Bewegungen; beide sind sie materialistisch und führen in Sklaverei.“ (ZAI: 69 [14.11.1933]; vgl. ebd.: 75 [31.12.1933]; ebd.: 92 [24.2.1934]; ebd.: 98 [19.3.1934]; ebd.: 105 [13.5.1934]; ebd.: 217 [16.9.1935]; ZAII: 636 [4.1.1945]) 398 Kritik an Victor Klemperers „opportunistischer“ Angleichung an den Stalinismus übt beispielsweise Mohr (1996). 399 Die Kritik an der politischen Kontinuität und mangelnden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der BRD bildet eine Konstante in Klemperers DDR-Notizen: „Mit all unsern Schwächen: wir sind doch die besseren Leute, Wahrheit u. Zukunft ist doch bei uns. Womit ich die SU u. die DDR meine. Ohne gegen die Engen u. Verkehrtheiten unsererseits blind zu sein.“ (SSII: 245 [10.2.1952]) Adenauers Bonner Republik, der er unterschwelligen Faschismus vorwirft, stößt den Tagebuchschreibenden noch mehr ab als die DDR-Diktatur: „[S]timmungsmäßig hänge ich an unserer Sache und hasse den Bonner Nazismus noch mehr als unsere stupide u. geistlose Diktatur.“ (ebd.: 607 [1.3.1957]; vgl. Klemperer 1959: 249)

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system prägnant in den Vordergrund treten. Der frühere Antikommunist Klemperer wandelt sich graduell zu einem Befürworter der Sowjetbesatzung: Die Wandlung in mir! Als mir Wollschläger vor einer Zeit sagte, er wünschte, wir hier würden Sowjet-Bundesstaat, war ich erschüttert. Jetzt wünsche ich’s selber. Ich glaube nicht mehr an die einige deutsche Patria. Ich glaube wir könnten sehr wohl deutsche Kultur pflegen als sowjetischer Staat unter deutscher Führung. (SSI: 187 [3.2.1946])400

Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der von der sowjetischen Armee niedergeschlagen wurde, interpretierte Klemperer – in Übereinstimmung mit der offiziellen kommunistischen Parteilinie – als faschistische Kontrarevolution.401 Die sowjetischen Behörden riefen den Ausnahmezustand aus und übernahmen so de facto die Regierungsgewalt über die DDR, womit sich Klemperer völlig einverstanden erklärte: „Für mich wirken die sowjetischen Panzer als Friedenstauben. Ich werde mich genauso lange sicher in meiner Haut u. Position fühlen, als die sowjetische Herrschaft bei uns währt.“ (SSII: 390 [22.6.1953]) Als Opfer des Faschismus avancierte er ungewollt zum „Vorzeigejuden“ und verkörperte somit den Geist der kommunistischen Ideologie: die Personifizierung des Antifaschismus. Die innerlichen Spannungen zwischen bürgerlichem Habitus und gesellschaftlichem Anerkennungsdrang waren indessen gewaltig: Sein Weltbild war unverändert von dem universalistisch-bürgerlichen Bildungsgedanken aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik geprägt, und der bürgerliche Humanismus und Individualismus, wie sie von Klemperer vertreten wurden, fanden wohl kaum Berührungspunkte mit dem Marxismus (vgl. Jacobs 2000: 330). Besonders skeptisch stand der Tagebuchautor der marxistischen Ästhetik gegenüber, wie er bereits in einer Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1950 bekannte: „[W]elche Enge, daß der Dichter nur seine eigene Klasse zu schildern vermag! Überhaupt steht hier Klasse wie bei den Nazis Art steht.“ (SSII: 24 [16.4.1950])402 Die zahlreichen Vorträge, die Klemperer im neuen Staat hält, sind im Gegensatz zu seinen ursprünglichen Überzeugungen meistens „scharf russophil“ geprägt (ebd.: 12 [12.2.1950]) und rekurrieren auf die Rhetorik des stalinistischen „Humanismus“. Er nennt sich dabei selbstironisch eine „Humanismuswalze“ (ebd.: 400 Der Tagebuchschreiber hatte nach Kriegsende von seinen völkerpsychologischen Auffassungen gelöst und hatte eine neue antinationalistische Haltung verinnerlicht. Den Reichsgedanken schien er gänzlich aufgegeben zu haben: „Was liegt schon daran, ob das Rheinufer deutsch oder französisch ist?“ (US: 40 [1.7.1945]) 401 Zu Klemperers politischer Haltung in Bezug auf den Juni-Aufstand sowie zur allgemeinen Geisteslage der Intelligenz im Jahre 1953 im Hochschulbereich vgl. Prokop (2003: 96; 107ff.; 135). 402 Anlässlich einer romanistischen Disputation, bei der Klemperer als Mitglied der Prüfungskommission fungierte, wurde ersichtlich, in welchem Maße er sich mit seinem bürgerlichindividualistischen Referenzrahmen als Fremdkörper in einem kommunistischen akademischen Umfeld empfand. Sozialistischer Realismus und marxistische Ästhetik interessierten ihn nicht besonders: „Von mir aus Farce. Ich fragte Literatur (Realismus u. Aufklärung); er antwortete, mir unverständlich, soziologisch marxistisch; ich ließ ihn reden u. sagte: sehr gut.“ (SSII: 95 [12.10.1950])

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85 [12.9.1950]) und tadelt selbstkritisch die Fülle an immer gleichartigen Reden, wenn er die „141. Currysauce zum gleichen Humanismusreis“ serviere (ebd.: 256 [23.3.1952]).403 Ihm war sehr daran gelegen, nach so vielen Jahren endlich eine Spitzenposition innezuhaben; umso mehr freute er sich über die Karrieremöglichkeiten, die ihm geboten wurden (vgl. SSI: 532 [19.4.1948]). Der ehrgeizige Philologe wollte – seiner Skepsis gegenüber Kommunismus und sozialistischem Realismus zum Trotz – nach dem Kriegsende möglichst rasch die verlorene Zeit wieder einholen, die versäumte Arbeit nachholen. Ihn interessierte grundsätzlich nur eines: seine Karriere fortzusetzen und deshalb „sofort versuchen [...], ins Spiel zu kommen“ (ZAII: 778 [17.5.1945]): „Mein egoistischer Hintergedanke ist immerfort das Univ.-Katheder.“ (US: 213 [23.12.1945]) Das Erreichen dieser Position war allerdings mit der Mitgliedschaft in der SED verbunden. Genauso wie Victor Klemperer in der Kaiserzeit zum Protestantismus übergetreten war, um nicht am Rande zu stehen, so konvertierte er in der DDR zum Kommunismus. Seine politische Konversion war größtenteils eine rein zweckmäßige Entscheidung404 und kann aus ideologischer Perspektive auch hier wohl kaum überzeugen, denn der wertekonservative Bildungsbürger war alles andere als Marxist und hatte bereits vor dem Dritten Reich den Kommunismus aufs Schärfste kritisiert: „Es ist zwischen Hakenkreuz u. Sowjetstern kein Unterschied des Niveaus. Geistige Freiheit, bloßer geistiger Anstand fehlen.“ (LSII: 752 [14.5.1932]) Sein Parteieintritt lässt sich hauptsächlich durch den sehnlichen Wunsch erklären, nach dem Holocaust wieder von der Gesellschaft aufgenommen zu werden und an ihr teilzuhaben. Das Geschenk des Überlebens griff der Diarist mit beiden Händen, um die verbleibende Zeit voll und ganz auszunutzen und zum vermutlich letzten Mal in seinem Leben – Klemperer war 1945 bereits 64 Jahre alt – auf einen klaren Neuanfang zu setzen. Diese persönliche und lebensphilosophische Wende ging mit einer Neudefinition des Selbst einher. Die Hinwendung zum Kommunismus bedeutete einen gewaltigen Schritt für Klemperers Selbstverständnis, denn diese Ideologie mit seinen liberal-individualistischen Überzeugungen in Einklang zu bringen, war ein delikater Vorgang. Gleichzeitig musste der Romanist sein Selbstbild als Deutscher, das zuvor ein bedeutender Teil seiner Identität gewesen 403 Ein Beispiel für die vielen Humanismus-Vorträge findet der Leser im unpublizierten Referatsentwurf mit dem Titel „Humanismus, Humanität und wieder Humanismus,“ wo es heißt: „Im Nazireich hatten es Wort und Begriff Humanismus und Humanität sehr schlecht: Humanismus war wenig beliebt und wurde selten erwähnt; Humanität war geradezu missachtet und verhasst und wurde sehr häufig in verächtlichem Ton und meist unter Zusatz eines spöttischen und [...] schimpfenden Beiwortes ausgesprochen. Und nun ist uns alles daran gelegen, ja hängt im tiefsten Deutschlands Zukunft davon ab, dass die verpönten Begriffe wieder zu Ehren kommen und mit dem Herzen erfasst werden.“ (A 733 [Maschinendurchschlag]) Für nähere Informationen zur Bedeutung des „Humanismus“ für Klemperer in der DDR-Zeit vgl. Heintze (2011: 103-124) und Zieske (2013: 158-186). 404 Für zusätzliche Eintragungen, in denen die Gründe für einen Eintritt in die kommunistische Partei erläutert werden, vgl. US: 72 [26.7.1945]; ebd.: 77 [1.8.1945]; ebd.: 85 [8.8.1945]; ebd.: 186 [20.11.1945]; ebd.: 187 [23.11.1945].

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war, tiefgreifend korrigieren. Seine Entscheidung beruhte auf einem komplexen Beziehungsgeflecht von persönlichem Geltungsdrang, beruflichem Opportunismus, sozialem Eigeninteresse und einem gewissen humanistischen Idealismus (vgl. Aschheim 2002: 188f.). Unter dem Aspekt des beruflichen Aufstiegs erreichte der Diarist in der DDR den gesellschaftlichen Erfolg, auf den er bis dato hatte verzichten müssen. 1947 stieg er im Kulturbund in den Präsidialrat auf, 1948 wurde er Vorsitzender dieser Institution für Sachsen-Anhalt, 1950 wurde er als Fraktionsmitglied des Kulturbundes zum Volkskammerabgeordneten gewählt: „Hier bin ich jemand, hier bin ich reich, hier bin ich vir doctissimus.“ (SSII: 598 [13.1.1957]) Mit einiger Selbstüberschätzung sah sich Klemperer aus der Rückschau auf diese Erfolgsjahre als „Paradepferd der DDR“ (ebd.: 750 [6.6.1959]). Klemperer stand jedoch dem System der DDR mit stetig wachsenden Zweifeln gegenüber. Bereits in früherer Zeit hatte er „die Halbheit [s]einer Natur“ (CVI: 399) der Obrigkeit gegenüber festgestellt, und auch in der DDR stellt er mit Entsetzen fest, dass er wider Willen zu den „Russenknechten“ gehörte: „Ich rechne zu den Russenknechten, ich bin vorgemerkt, ich werde wahrscheinlich nicht ‚in meinem Bette sterben‘.“ (SSI: 692 [12.10.1949])405 Klemperers ChinaReise 1958 bedeutete eine einschneidende Zäsur, die seinem immerhin zwiespältigen Engagement für den Kommunismus einen schweren Schlag versetzte. Sein Eintreten für den Marxismus-Leninismus gehörte somit endgültig der Vergangenheit an: Es ist mir [...] klar geworden, daß der Kommunismus gleicherweise geeignet ist, primitive Völker aus dem Urschlamm zu ziehen und civilisierte in den Urschlamm zurückzutauchen. Im zweiten Fall geht es verlogener zu Werk und wirkt nicht nur verdummend sondern ersittlichend, indem er durchweg zur Heuchelei erzieht. Ich bin gerade durch meine Chinareise u. bei der Anerkennung der gewaltigen Leistungen hier zum endgiltigen Antikommunisten geworden. (SSII: 723 [24.10.1958])

Trotz dieses grundlegenden ideologischen Unbehagens war seine öffentliche Haltung durch absolute Solidarität mit Moskau charakterisiert. Klemperer kam aus diesem gesellschaftlichen Zwischenbereich nie wirklich heraus, er war stets halb Karrierist, halb Außenseiter. Diese Ambivalenz wurde geradezu zum selbstgewählten Motto des Tagebuchschreibens in der DDR: „Zwischen den Stühlen, immer zwischen den Stühlen – das müßte mein Ex libris sein!“ (SSI: 637 [10.4.1949]) Diese unbequeme Zwischenlage verfolgte den Diaristen in allen Lebenslagen wie ein Schatten. So fühlte er sich der Philologe bis zu seinem Lebensende „am Platz der Nicht-für-voll-Geltung. Von Judenstern zu Judenstern.“ (SSII: 601 [1.2.1957])406 Sein Judentum, sein Aufwachsen in einer Rabbiner405 Am religionsähnlichen Stalinkult der 1940er Jahre, der viele Ähnlichkeiten mit dem Hitlerkult im Dritten Reich aufwies, nahm der Tagebuchschreiber immer mehr Anstoß: „Und immer wieder Stalin. Dreimal bei besonders feierlicher Nennung seines Namens stand alles auf u. die Musik spielte. Primitive Vergottung weit über den Hitlerismus hinaus!!“ (SSI: 699 [6.11.1949]) 406 Auch in den 1950er Jahren setzte sich der Antisemitismus im DDR-Alltag fort. Nachdem Stalin kurzzeitig den Staat Israel unterstützt hatte, wandte er sich aufgrund des US-orientierten

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Familie in Westpreußen, seine Schwierigkeiten in der Weimarer Zeit, mit seiner Abstammung zu einem Lehrstuhl zu kommen, seine Verfolgung im Dritten Reich, die Hochstilisierung zum VVN-„Vorzeigejuden“ in der DDR ließen ihn nie los, immer konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, nicht allein aufgrund seiner Fähigkeiten und seiner inneren Werte beurteilt zu werden. Der Diarist hatte sich vom Judentum zwar losgesagt, doch das Judentum holte ihn immer wieder ein. Auch im Arbeiter- und Bauernstaat musste sich Klemperer im fortgeschrittenen Alter darüber klar werden, dass sein Streben nach der Aufhebung seines Judentums ein im Grunde gescheitertes Projekt war: „[I]ch [gräme] mich über meine Blindheit. So bin ich durchs Leben gegangen, u. jetzt bin ich am Ende. Ich war damals allein – Jude, unbestimmt liberal u. in einer Gesellschaft, die mich nicht achtete; ich bin heute in einer Gesellschaft, die mich mißachtet.“ (SSII: 504 [23.8.1955])407 Selbst die Assimilation durch religiöse oder politische Konversion konnte Klemperer nicht davor bewahren, ein ewiger Außenseiter zu bleiben – wovor er gerne die Augen verschlossen hätte. Angesichts der schmerzlichen Ausgrenzung im Nationalsozialismus mag es kaum verwundern, dass Klemperer, der in der DDR – dem Staat des offiziell verordneten Antifaschismus – wiederum die akademische Karriere anstrebte, die explizite Hervorhebung als Jude, die vorher „zum Schimpfwort gestempelt“ worden war (ZAI: 612 [23.6.-1.7.1941]), gänzlich zurückwies. Anlässlich einer Aufführung von Lessings Nathan der Weise, der ersten Theateraufführung nach dem Kriegsende in Dresden, zu der er vom Bürgermeister persönlich eingeladen worden war, kritisiert der Diarist die „aufdringliche“ Betonung des Jüdischen im Stück. Obschon dem Nathan aufgrund der von Lessing entwickelten Postulate zwischenmenschlicher Solidarität und tugendhaften Handelns im Kontext der Emanzipation der Juden (vgl. Mayer 1975: 344ff.; Wessels 1979: 305-353) und auch in Klemperers Tagebüchern der NS-Zeit eine Schlüsselstellung zugekommen war, war ihm die deutsche Hervorhebung des „guten Juden“ im Stück nicht geheuer (vgl. Fischer 2000: 146). Ob Versöhnung heischendes Spiel nach den Kurses Israels Anfang der 1950er Jahre ab. Zu Klemperers Erfahrungen mit dem Antisemitismus in dieser Periode vgl. Papp (2006: 237-239). 407 Auch gegenüber seiner mehr als vierzig Jahre jüngeren Frau Hadwig Klemperer und deren Eltern, die katholischen Glaubens waren, konnte sich der Diarist nicht des unheimlichen Gefühls von Fremdheit entledigen: „Ich selber fühle mich in der Minderheit – drei gegen einen – ich fühle mein Fremdsein: ein halbes Jahrhundert, ein Glaube, eine völlig andere Vergangenheit.“ (SSII: 478 [12.4.1955]) Im letzten Kapitel von Hannah Arendts Varnhagen-Buch – „Aus dem Judentum kommt man nicht heraus“ (Arendt 1981: 201-211) – legt die Philosophin dar, wie Rahel Varnhagen, paradigmatische Verkörperung des Dilemmas jüdischen Lebens im Kontext der Emanzipation in Preußen, obwohl sie durch Taufe in die protestantische Kirche eingetreten war, unterschwellig immer schon die Position der Paria eingenommen hatte. Laut Arendt hatte sie sich am Ende ihres Lebens mit ihrem Judentum versöhnt: „Rahel ist Jüdin und Paria geblieben.“ (ebd.: 210) Auch Victor Klemperer war, trotz seines lebenslänglichen Ringens um Anerkennung, als Paria ewiges Opfer der Willkür und des Zufalls von Gesellschaft und Geschichtsverlauf. Die „Position zwischen allen Stühlen“ (SSI: 340 [19.1.1947]) verfolgte Klemperer nolens volens bis zum Ende seines Lebens. Keine Religion, keine Ideologie, kein Volk, keine Nation konnte ihn endgültig beheimaten.

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Nazi-Untaten, Versuch der Wiedergutmachung oder Wiederbelebung der Toleranz – Klemperer erschien es verlogen, gleich nach dem Holocaust das Hohelied der Humanität, das so eng mit der jüdischen Emanzipationsgeschichte verbunden war, anzustimmen: „Nathan freilich empfand ich als aufdringliche Taktlosigkeit, Iphigenie wäre mir lieber gewesen.“ (US: 51 [11.7.1945]) Und weiter, im selben Tenor: „Sehr peinlich, wie gesagt, fand ich die Wahl des Judenstücks, obwohl mir wie schon vor Jahren auffiel, daß es sich gar nicht um eine Glorifikation der oder DES Juden handelt – ‚was heißt denn Volk?‘“ (ebd.: 54 [11.7.1945])408 3.2.1.8 Victor Klemperer und die Aporie der deutsch-jüdischen Identität Dasjenige Deutschtum, das über lange Zeit hinweg für Klemperers Selbstverständnis grundlegend war und von ihm gelegentlich bis ins Nationalistische überhöht wurde,409 stellte keine empirisch feststellbare Größe dar, sondern diente ihm vielmehr als eine rein vergeistigte Norm für Kultur, Bildung und Menschlichkeit, die einer liberalen und individualistischen Weltanschauung verhaftet war. Wie Heide Gerstenberger (1997: 18) hervorhebt, ist dieses Konzept „ein aus deutschem Kulturgut gewonnener Wesensbegriff.“ Dieses Deutschtum war als Konzept von der sozialen Wirklichkeit abgehoben, denn es bezog sich keineswegs auf die konkrete Art und Weise, wie sich Deutsche verhielten (vgl. Aschheim 2007: 164). Die deutsche Nation, die Klemperer mehrfach massive Ablehnung entgegen gebracht hatte, entsprach nicht seinem Idealbild. Er hatte sich demnach ein „platonisches Bild der Deutschen“ (CVI: 287) konstruiert, das im Grunde nicht der Realität entsprach. Die Tragödie des Victor Klemperer rührt vor allem von der Unmöglichkeit her, seine jüdische Herkunft mit der Zugehörigkeit zu 408 Die Betonung des jüdischen Moments nach dem Sturz der Hitler-Diktatur empfand Klemperer als eine Aufdringlichkeit, die den Antisemitismus zusätzlich schüren hätte können. Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext: In der unmittelbaren Nachkriegsperiode wurde im Radio ein Teil aus dem ersten Gottesdienst der ersten Synagoge in Berlin übertragen. Diese Übertragung, die im Rundfunk zwischen Kabarettstücken gesendet wurde, kommentierte Klemperer folgendermaßen: „Scheußlich, einmal als Geschmacklosigkeit zwischen den Amüsements, Ent- nicht Einweihung, sodann als Betonung des jüdischen Sieges noch scheußlicher. Es unterstützt den bekämpften Natsoc.“ (US: 62 [20.7.1945]) 409 In Klemperers Autobiographie der Kaiserzeit kommt der Nationalismus des Philologen strekkenweise überdeutlich zum Tragen: Sein Glaube an die kulturelle und intellektuelle Überlegenheit der Deutschen, seine Überzeugung von der Legitimät der deutschen Vorherrschaft in Europa, seine glühende Unterstützung des Krieges, seine uniformierende Festlegung des dem deutschen unterlegenen französischen Volkscharakters in Romanische Sonderart (1926) betonen die chauvinistische Seite seines Deutschtums. Im Dritten Reich distanzierte sich der Tagebuchschreibende allmählich von seinen vereinheitlichenden völkerpsychologischen Überzeugungen, die – stellenweise – einer kritischeren Haltung gegenüber Deutschland Platz machten: „Und all mein Glaube an die Völkerpsychologie – wo ist er hin? Vielleicht freilich ist der gegenwärtige Wahnsinn typisch germanischer Wahnsinn.“ (ZAI: 25 [25.4.1933]) Gegen Ende des Krieges ist sich Klemperer im Klaren, dass man mit der Völkerpsychologie die Welt grundsätzlich den eigenen nationalen Wunschvorstellungen anpasst, und – wie mit Statistik – schließlich alles beweisen kann – oder nichts: „Völkerpsychologie ist eine Hure wie die Statistik ihre Schwester.“ (A 138: 1281 [20.12.1944])

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einem Deutschland in Einklang zu bringen, das ihn abgewiesen hatte, obwohl er es als moralische Aufgabe und Norm verstand. Klemperers Deutschtum stellte demzufolge als Abwehrmechanismus eine Art transzendenten Idealzustand dar, der es ihm erlaubte, auch – oder besser: gerade – während des Holocaust sein Deutschsein zu behaupten und es den Tätern und Mitläufern abzusprechen.410 Victor Klemperer war repräsentativ für viele der ausgegrenzten jüdischen Minderheit, die in gutem Glauben deutsche Tugenden und Überzeugungen verinnerlicht hatten. Eine Auseinandersetzung mit Klemperers Schicksal und seiner komplexen Identität kann hilfreich sein, das Ausmaß der den Juden beigebrachten Kränkung zu begreifen.411 Trotz aller Unterschiede in puncto Religion, Politik, deutsches und jüdisches Selbstverständnis, Nationalismus, Assimilation und Zionismus, die Klemperer auf den ersten Blick prinzipiell von gläubigen, selbstbewussten und/oder engagierten deutschen Juden aus der Weimarer Zeit wie etwa Gershom Scholem, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Hannah Arendt trennen –412 und hier knüpfe ich wieder an die anfangs in diesem Kapitel zitierte Behauptung Michael Nerlichs an, es wäre eine „Schande“, Klemperer als „jüdischen Schriftsteller“ zu bezeichnen –, liegt der Lebenslauf des Dresdener Philologen, nicht weniger als der von beispielsweise jüdischen Nationalisten wie Martin Buber, die ihn wegen seines „rabiate[n] Assimilantentum[s]“ (A 138: 806 [22.3. 1943]) höchstwahrscheinlich verachtet hätten, fest in der deutsch-jüdischen Geschichte verankert. Gewissermaßen sind diese so unterschiedlichen Menschen Gegenpole, die durch ihren humanistischen Universalismus, ihr Bildungsideal, ihre gesellschaftlich aufgezwungene Andersheit und ihr gemeinsames Geschichtsschicksal – viel410 Der idealistische Begriff des Deutschtums wurde im Laufe der Kriegsjahre nach und nach ausgehöhlt. Obgleich positive Aussagen zum Deutschtum in quantitativer Hinsicht noch deutlich überwiegen, findet sich in manchen Eintragungen eine geschichtsbewusste Distanzierung von diesem Konzept. Nach der Lektüre von Theobald Zieglers Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. u. 20. Jahrhundert in der Ausgabe von 1916 verzeichnet Klemperer seine Enttäuschung darüber, dass die Gleichberechtigung der deutschen Juden erst 1848 anerkannt wurde und bereits nach 1870 verstärkter Antisemitismus auftrat: „Wie absolut wurzellos ist mein Deutschgefühl, eine wie junge u. von vornherein schwache Pflanze haben die Nazis ausgerupft, als sie uns das Bürgerrecht nahmen.“ (ebd.: 1155 [28.4.1944]; vgl. ZAII: 56 [27.2.1942]) 411 Für eine tiefgreifende Diskussion der extremen Loyalität der nationaldeutschen Juden zu (NS-) Deutschland vgl. Benz (1997), der in einer Fallstudie das Leben des Erwin Goldmann beleuchtet. Der „Reichsverband nationaldeutscher Juden“ wurde 1921 von Max Naumann gegründet, der zu einer bewussten und vollkommenen Aufgabe der jüdischen Identität aufrief. Er polemisierte vor allem gegen die Ostjuden, die er im rassenbiologischen Diskurs als schädliche „Bakterien“ im deutschen „Volkskörper“ bezeichnete. Klemperer kritisierte aufgrund der Übernahme des organischen Rassendenkens die „Naumannjuden heftig, die allen Fußtritten zum Trotz [...] um Aufnahme in die NSDAP betteln.“ (ZAI: 229 [11.11.1935]) Sie gingen, so Klemperer, von der Existenz einer minderwertigen jüdischen und einer überlegenen „arischen“ Rasse aus, und hätten ihre Seele dem Nationalsozialismus verkauft: „[W]ieviele dieser Nationaljuden wären Hitlerianer geworden, wenn sie nur arisches Blut gehabt.“ (A 138: 1134 [2.8.1944]) Für nähere Informationen zu Max Naumann und den „nationaldeutschen Juden“ vgl. Schoeps (2003: 29). 412 Das Verhältnis zwischen Arendt, Scholem und Klemperer wird auf außerordentlich fruchtbare Weise von Steven Aschheim (2001; 2007) untersucht.

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leicht wider Willen – eng miteinander verknüpft sind. Eine Schande wäre es mithin keinesfalls, an Victor Klemperers Tagebüchern die Unbeständigkeit, Unsicherheit und das ständige Reflexionsbedürfnis deutsch-jüdischer Identität hervorzuheben. Klemperers komplexe Identitätsfrage zeigt durch Kontingenz, Unabgeschlossenheit, Widerspruch und Fragmentierung die Künstlichkeit der dichotomischen Grenze zwischen Selbst und Anderem, Heim und Fremde, deutsch und jüdisch. Die Grenze zwischen beiden Teilen lief durch Klemperers Selbstverständnis hindurch. Somit hielten sich die Enttäuschung über die Existenz des Nationalsozialismus auf seiner deutschen Seite wie die Enttäuschung über die Existenz des Zionismus auf der jüdischen Seite die Waage. Die Künstlichkeit klar abgetrennter (Teil-)Identitäten kommt in einer Gattung wie dem Tagebuch exemplarisch zum Tragen, weil es durch das Fehlen einer kohärenten, teleologischen narrativen Ordnung gekennzeichnet ist. Das Tagebuch hat vom konkret Geschehenen und Erlebten noch nicht abstrahiert. Die datierte Aneinanderreihung von Propositionen enthüllt somit die Schwierigkeit des handelnden und wahrnehmenden Subjekts, ein über die Zeit stabiles Selbst zu schaffen. Das diaristische Ich vermittelt täglich seine Identität zwischen Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung. Klemperers Reflexionen zur deutschen und jüdischen Identität sind somit keine Kopfgeburten einer einzelnen Privatperson, sondern gründen in sozialem Austausch, sind abhängig von der Art und Weise, wie sich die Umwelt zu ihm verhält. Dementsprechend fällt besonders in Victor Klemperers Tagebüchern ins Auge, dass Identität stets sozial vermittelt und kontextabhängig ist. Diesen Aufzeichnungen kommt vor diesem Hintergrund eine wichtige kulturhistorische Bedeutung zu, da ein scharfsinniges, komplexes Psychogramm des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums geschildert wird. Aus Klemperers Tagebüchern wird ersichtlich, dass Identität eine Leistung bzw. ein Versuch des Subjekts ist, die täglich aufs Neue erbracht werden muss, um die Erfahrung von persönlicher Kohärenz zu sichern. Wie schwierig es ist, am Ende des Tages – a forteriori in Krisenzeiten – eine solche Kohärenz des Selbst zu erreichen, zeigen auf eindrucksvolle Weise die Tagebücher des Grenzgängers Victor Klemperer, die die Komplexität multipler Identitäten bezeugen.

3.2.2 Heterographie: Vox populi 3.2.2.1 Mentalitätsgeschichte, Kulturkunde und vox populi Dieser Abschnitt zielt auf die Erfassung des kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Moments in Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen, und zwar aus doppelter Perspektive: zum einen im Sinne einer Erkundung ethnographischer Denkfiguren und Schreibverfahren,413 zum anderen als sprachkritische Untersu413 Daniel Fabre (1997: 37) bezeichnet Klemperer dementsprechend als „Ethnograph des Totalitarismus.“ Benedikt Faber (2005: 182; 218) weist seinerseits unter Verweis auf Clifford Geertz ebenso daraufhin, dass Klemperer – obschon der Tagebuchschreiber seine Aufzeichnungen

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chung der zirkulierenden Meinungen und Diskurse im Nationalsozialismus. Die Klemperer’sche Analyse des Dritten Reiches geschieht größtenteils über sprachliche Beobachtungen; der Tagebuchautor interpretiert „Sprachgeschichte als Kulturgeschichte und Kulturgeschichte als Sprachgeschichte.“ (Schober 1988: 188) Dieser hermeneutischen Dialektik wohnt die sprachidealistische bzw. völkerpsychologische Auffassung inne, das „Volkswesen“ einer Gemeinschaft bzw. Nation könne über deren Sprache erhellt werden. Klemperers philologische Grundauffassung lässt sich dementsprechend wie folgt zusammenfassen: „Nichts führt uns dichter an die Seele eines Volkes heran als die Sprache.“ (LTI: 203) Im Jahre 1928 resümierte Klemperer den Begriff „Kulturkunde“, in deren idealistischer Tradition er forschte, folgendermaßen: Die Erfassung eines Mittleren, das den Einzelnen an eine Menschengruppe bindet und diese Gruppe von der Gesamtheit der Menschen – nicht etwa gänzlich abtrennt, wohl aber unterscheidet, die Erfassung gleichbleibender Wesenszüge innerhalb eines Volkes, die Erfassung eines Volkscharakters. (Klemperer 1928: 273)414

Die unveränderlichen „Wesenszüge“ (ebd.) bzw. die „nationalen traits éternels“ (ebd.: 276) eines Volkes seien, so Klemperer, nur durch sprachliche Analyse nachweisbar, weil in Sprache Mentalität vergegenständlicht wird. Das Befassen mit „dem Fremden“ diene dazu, „ein seines Wesens bewußter deutscher Mensch zu werden.“ (ebd.: 280) Klemperer situierte seine Tagebucheintragungen aus der NS-Zeit, in denen einer der Schwerpunkte die Aufzeichnung der vox populi war, im Kontext dieser philologischen Herangehensweise. Unter dem immer wiederkehrenden Schlagwort „vox populi“ sammelte der Diarist äußerst penibel alle Informationen – Meinungen, Gesten, Witze, Gerüchte, Anekdoten, offizielle und inoffizielle Meldungen usw. –, die die „Mentalität“ der deutschen Gesellschaft und – vor allem mit Kriegsbeginn – das Wissen und die Haltung im Hinblick auf den Holocaust erschließen konnten,415 um die Denk- und Verhaltensmuster, die Einstellungen nicht explizit als ethnographische Studie begreift –, eine vergleichbare Zielsetzung wie Ethnographen verfolgt: die Sozialstruktur und das dominante Auffassungs- und Wertesystem der betreffenden Kultur möglichst detailliert zu beschreiben und verstehen. 414 Obschon Victor Klemperer in seinen vox populi-Beobachtungen weitgehend einer abgeschwächten Form der Kulturkunde verhaftet bleibt, weil er sich nach wie vor zur Aufgabe macht, die Grundnatur der Deutschen zu erkunden, distanziert er sich indessen von seinen früheren völkerpsychologischen Auffassungen, die, so bedauert er im Nachhinein, zur Etablierung der Idee der „Herrenrasse“ beigetragen haben mögen: „In den Jahren meiner Bemühungen um die Kulturkunde warf mir Eugen Lerch ein später oft zitiertes Spottwort entgegen, ich hätte den ‚Dauerfranzosen‘ erfunden [...]. Und als ich dann mit ansah, wie schmählich die Nationalsozialisten mit einer durch und durch verlogenen Kulturkunde ihr Geschäft betrieben [...], da habe ich mich oft verzweifelt geschämt, eine Rolle, und sogar eine führende, in dieser Bewegung gespielt zu haben.“ (LTI: 168) 415 Die erste Referenz auf die leitmotivische Wendung „vox populi“ findet sich am 1. August 1934. In diesem Eintrag erkundigt sich der Tagebuchautor beim Milchmann und beim Buttermann nach dem Gesundheitszustand Hindenburgs, und stellt sich bei ihren Antworten die Frage, ob „die Nazis nun Meister im Behandeln der öffentlichen Meinung [sind] oder nicht.“ (ZAI: 130 [1.8.1934])

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und kollektiv geteilten Gefühle von „einfachen Leuten“ (ZAI: 361 [20.6.1937])416 sprachkritisch zu erfassen. Die politische Brisanz von Entrechtung, Diskriminierung, Enteignung und Verfolgung bestimmte die Stoßrichtung von Klemperers Erforschung der Stimmung seiner Zeit: Das Dritte Reich führte zu einer radikalen Verfremdung des patriotischen Romanisten von Deutschland, das er vor der Machtübergabe an Adolf Hitler durch und durch zu kennen glaubte, und mit dem er sich geradezu symbiotisch verbunden fühlte. Diese Verfremdung ging bei Victor Klemperer mit einem Krisengefühl einher. Seine tradierten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster erschienen nicht mehr adäquat, um die eingreifenden Veränderungen in diesem „neuen“, von Hitler geprägten Deutschland zu erklären. Bereits früh nach der Machtübernahme fragte sich der Diarist: „Ist Deutschland wirklich so ganz und im Kern anders geworden, hat es so ganz sein Wesen geändert, daß dies Bestand haben wird?“ (ebd.: 85 [2.2.1934]) Die beobachtungsleitende Grundfrage, die den Diaristen über nahezu den ganzen Zeitraum des Dritten Reiches hinweg beschäftigt, lautet andernorts weitgehend ähnlich: „Wie war der grauenvolle Gegensatz der deutschen Gegenwart zu allen, wirklich allen Phasen deutscher Vergangenheit möglich?“ (LTI: 167) 3.2.2.2 Der Begriff „vox populi“: Bedeutung und Reichweite In der Studie Vox Populi. Essays in the History of an Idea (1969) geht George Boas der Begriffsgeschichte des auf die jüdisch-christliche Glaubenstradition zurückgehenden Sprichwortes „vox populi, vox dei“ nach, das in abgewandelter Form im Alten Testament im Buch Jesaja (66,6) zu finden ist. Auch der hochmittelalterliche französische Theologe Petrus von Blois und der frühmittelalterliche Gelehrte Alkuin verweisen auf unterschiedliche – und manchmal negative – Weise auf das Sprichwort.417 Victor Klemperer seinerseits diente der Begriff als Leitmotiv seiner 416 An erster Stelle handelt es sich in Klemperers vox populi-Darstellungen um die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung zum Hitler-Regime und seine Machenschaften. Zweitrangig wird der Blick auch auf die Stimmung der jüdischen Bevölkerung – „die communis opinio, die vox populi Judaeorum“ (A 138: 1252 [19.11.1944]) – gerichtet. Vor allem nach der Einweisung in das „Judenhaus“ in der Caspar-David-Friedrich-Straße, der Beschränkung der Ausgangszeit, dem Rückgang der Besuche nichtjüdischer Freunde und Bekannter, dem Verbot, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und nichtjüdische Bücher und Zeitungen zu lesen, war Klemperer immer mehr auf Gerüchte und Informationen aus der jüdischen Gemeinschaft angewiesen. Bei jeder Beerdigung in der jüdischen Gemeinde wurden von der „Nachrichtenzentrale Jüdischer Friedhof“ rege Nachrichten, Gerüchte und selbst erlebte Erfahrungen ausgetauscht (ZAII: 530 [17.6.1944]). Ironisch bezeichnete Klemperer diese Informationen, die oft Ausdruck der Hoffnungen der jüdischen Opfer waren, als die „Jüdische Märchenagentur.“ (LTI: 237) Die jüdische Angst vor dem Mithören und Denunziert-Werden, die Klemperer als „[j]üdische Psychose“ bezeichnet (ZAII: 547 [20.7.1944]), erschwerte den Informationsaustausch in der jüdischen Gemeinschaft erheblich. 417 Alkuin, der wichtigste Berater Karls des Großen, geht gegen das Sprichwort „vox populi, vox dei“ vor, indem er beispielsweise in Brief 132 in der von Ernst Dümmler (1895: 199) herausgegebenen Briefsammlung proklamiert: „Nec audiendi qui solent dicere: ‚Vox Populi, Vox Dei‘ cum tumultuositas vulgi semper insanie proxima sit.“ („Höre nicht auf diejenigen, die zu sagen

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philologischen Beobachtungen zur Untersuchung der öffentlichen Meinung im Kontext einer künftig zu verfassenden LTI-Studie:418 Der Tagebuchautor sammelte einerseits Meinungen zum Regime, zum Antisemitismus und zur Judenverfolgung und andererseits Informationen zum Wissensstand der Bevölkerung im Hinblick auf den Holocaust, deren Inhalt und Reichweite er später für eine tiefgreifende Analyse und Erklärung des NS-Systems auswerten wollte. Klemperers Gebrauch des Begriffs „vox populi“ ist an sich schwer festzulegen, aber das Konzept kann am besten als die inoffizielle Gesamtheit aller mündlichen Aussagen, die im Dritten Reich – jenseits von nationalsozialistisch geeichten Medien und Propagandameldungen – zirkulierten, umschrieben werden.419 Das auf den ersten Blick regellose Stimmengewirr lässt sich nie erschöpfend beschreiben, weswegen der Diarist geradezu kontinuierlich zwischen der Feststellung einer einheitlichen vox populi und der differenzierenden Ansicht einer Vielzahl an voces populi schwankt. Ausgewiesenes Ziel der Aufzeichnungs- und Interpretationsarbeit des Philologen ist es, anhand der kursierenden Meinungsäußerungen, die zugrundeliegenden, regelhaften Bedingungen, unter denen das „Gemurmel“ entsteht, existiert und wieder verschwindet, aufzudecken. Das Konzept „vox populi“ ist somit als umfassendes Aussagen- und Wissenssystem zu begreifen, das Aufschluss über handlungsleitende Normen und Werte, den Wissensstand der NSEpoche sowie die Denk- und Gefühlsstrukturen der Bevölkerung geben kann. Klemperer verzeichnete demgemäß variierende Stimmen, die ihm idealerweise Einblicke in die vom Volk in puncto Politik und Moral vertretenen Ansichten verschaffen sollten. Das „Volk“, so hält Boas (1969: 3) fest, ist allerdings ein schwer identifizierbares Objekt: Über lange Zeit hinweg Zielscheibe des Spotts in Witz und Theater, sodann abstrakte Mitleidsfigur und später Objekt idealisierter ästhetischer Darstellung, galt der Volksmeinung erst in der Moderne, nach der Französischen Revolution, ernsthaftes Interesse. Im Totalitarismus gehörte der Begriff „Stimmung“ zum Grundvokabular der Diktatur, die darum bemüht war, die Volksstimmung vollkommen zu steuern und zu prägen. In einer Rede am 16. März 1936 in der Festhalle von Frankfurt am Main spielt Hitler explizit auf das

pflegen, ‚Volkesstimme ist Gottesstimme‘, da die Verworrenheit des Volkes dem Wahnsinn immer ganz nah ist.“) 418 Zur Bedeutung der Erörterungen der vox populi im breiteren Rahmen der sprachkritischen Arbeit vgl. Jacobs (2000: 262-270) und Rox-Helmer (1999: 25). 419 Das von Klemperer benutzte Konzept der vox populi entspricht weitgehend Régine Robins und Marc Angenots Begriff des discours social (vgl. v.a. Robin und Angenot 1985: 54f.). Ihr Verständnis des sozialen Diskurses, der sowohl schriftliche wie auch mündliche Aussagen umfasst, ist grundlegend auf demokratische Gesellschaften anwendbar, in denen eine freie Öffentlichkeit vorhanden ist, die Meinungen ohne auferlegten ideologischen Grundcode erlaubt. Aus diesem Grund beschränkt Klemperer seine Beobachtungen vordergründig auf inoffizielle, mündliche Meinungen und Aussagen der „gewöhnlichen“ Deutschen, an denen, so seine These, der ideologische Partizipations- und Zustimmungsgrad bemessen werden kann. Zweitrangig versucht er indes auch den begrenzten Informationswert der gleichgeschalteten deutschen Presse realistisch einzuschätzen und erweitert streckenweise die Reichweite seiner Interpretationen auf Meldungen aus internationalen Zeitungen und Radiosendungen.

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Sprichwort vox populi, vox dei an, das von ihm allerdings – entgegen der originären demokratischen Interpretationsrichtung – völkisch überdeterminiert wird: Über allen Paragraphen steht das von Gott den Menschen gegebene natürliche Lebensrecht und die Freiheit des Lebensrechts. Die Völker sind ewiger, als schlechte Verträge sein können. Die Völker leben länger, als unvernünftige Verfügungen oder Erpressungen zu leben vermögen. [...] Ich warte auf deine Entscheidung, und ich weiß, sie wird mir recht geben! Ich werde deine Stimme annehmen als des Volkes Stimme, die Gottes Stimme ist. (Hitler 1973: 607)420

Es handelt sich im obigen Zitat um ein auf „Arier“ reduziertes Volkskonzept, das Hitler für sich beanspruchte: Die Zuhörer werden in dieser Rede als organisches Ganzes in der zweiten Person Singular adressiert, auf diese Weise entindividualisiert und zum abstrakten Vertreter der völkischen Hauptkategorie „Volk“ hochstilisiert. Adolf Hitler wandelt hier vox populi, vox dei im nationalsozialistischen Sinne um. In Anlehnung an Eric Voegelins Verständnis vom Nationalsozialismus als innerweltlicher Religion421 kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass in der NS-Ideologie der transzendente Gott verdrängt und durch einen abstrakten Volksgeist ersetzt wird, der sich als „des Volkes Stimme“ kenntlich macht. Volk und Gott sind letztlich in einer messiasähnlichen Figur – der des Adolf Hitler –

420 Die Doppelung von „Volk“ und „Gott“ wird in einer vergleichbaren Bewegung zur Identität zwischen „Volk“ und „Führer“. Im selben Wahlkontext erklärte Hitler in einer Rede vom 14. März 1936 in München beispielsweise: „Dieses Urteil [=die Unterstützung Hitlers, A.S.] erwarte ich. Und ich weiß, es wird meine größte geschichtliche Legitimation werden. Und ich werde dann vor die Welt hintreten und sagen können: ‚Nicht ich spreche, sondern das deutsche Volk hat gesprochen!‘“ (Hitler 1973: 606) 421 Der Nationalsozialismus lässt sich – in der Perspektivierung von Eric Voegelins bahnbrechender Arbeit Die politischen Religionen (1996) – als säkulare Religion bzw. als Ziviltheologie bezeichnen: Die NS-Ideologie habe sich durch rein weltliche Intentionen sowie durch die Ersetzung Gottes durch den Volksgeist ausgezeichnet. Aus theologischer Sicht war es vor diesem Hintergrund für Klemperer „interessant, wie LTI überall Gott ausschalte, göttliches Walten durch den Menschen ersetze.“ (ZAI: 666 [17.9.1941]) So stellt der Diarist fest: „Die gesamte nationalsozialistische Angelegenheit wird [...] aus der politischen in die religiöse Sphäre gehoben.“ (LTI: 49) Eric Voegelin weist auf ähnliche Weise auf die Tatsache hin, dass in der NSPropaganda das Volk in geradezu mystischer Weise eins mit dem „Führer“ wird: „Die Erzeugung des Mythus und seine Propaganda durch Zeitung und Rundfunk, die Reden und Gemeinschaftsfeiern, die Versammlungen und das Marschieren, die Planarbeit und das Sterben im Kampf sind die innerweltlichen Formen der unio mystica.“ (Voegelin 1996: 55) Die Nation und die Rasse werden mithin „vergöttlicht“. Menschen wurden im Nationalsozialismus instrumentalisiert und verloren zwangsweise ihre Personalität: „Wenn an die Stelle Gottes die innerweltliche Kollektivexistenz rückt, wird die Person zum dienenden Glied des sakramentalen Weltinhalts; sie wird Instrument.“ (ebd.: 54) In der neueren Geschichtsforschung – wie bei Greiner (1997: 146f.) und Evard (1999: 82f.) – schenkt man der religiösen Seite des Totalitarismus die ihr gebührende Aufmerksamkeit, denn in ihr spiegelt sich die besondere – religionsähnliche – Beziehung zwischen Führung und Gefolgschaft. Für weitere Belegstellen in Klemperers Tagebüchern, die die „Religiosität“ des Nationalsozialismus beleuchten, vgl. ZAI: 7 [21.2.1933]; ebd.: 67 [11.11.1933]; ebd.: 225 [26.10.1935]; ebd.: 365 [28.6.1937]; ebd.: 402 [30.10.1938]; ebd.: 623 [23.6.-1.7.1941]; ZAII: 587 [20.9.1944]; ebd.: 635 [1.1.1945]; A 138: 777 [14.1.1943]; LTI: 148f.

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vereint. Die politische Theologie der vox populi, vox dei stellt im Faschismus eindeutig eine Säkularisierung des Religiösen dar.422 Die nationalsozialistische Mythisierung des Volkes wurde in Fackelzügen, in Massenveranstaltungen wie der Bücherverbrennung im Jahre 1933, auf den Nürnberger Parteitagen und in Parteitagsfilmen ästhetisch inszeniert und orchestriert. Der Bedrohung der molochartigen Körperlichkeit der begeisterten Menschenmasse auf den ästhetisierten Großveranstaltungen des Dritten Reiches wird beispielsweise in der Exilzeitschrift Die Tribüne kräftig und zugleich voll Furcht Ausdruck verliehen. Lewin (1940) bezeichnet in einem Beitrag unter dem Titel „Volkesstimme....“ das deutsche Volk in mythisch-religiöser Manier als eine alles verheerende Naturkatastrophe, die mit einer einzigen, mächtigen Stimme spricht: Dicht draengte sich das Volk, eine Mauer von Willen, Entschlossenheit und Fanatismus. Da... erhob es seine Stimme. Erst ging es wie ein bedrohliches Atemholen ueber den Platz, dann schwoll es an mit Naturgewalt, ebbte ab, brach wieder los, zum Orkan, ein einziges Keuchen, ein Vulkan der aus tausenden von Kratern speit. (ebd.: 382)

Der Volksstimmung bzw. Volksstimme in ihrer irrationalen, unberechenbaren Emotionalität stand die jüdische Bevölkerung argwöhnisch gegenüber. In Bezug auf die misslungene Emanzipation der Juden gesteht Gerhard Neumann (1935) in der aufgeklärt-orthodoxen Zweimonatsschrift Der Morgen die jüdische Fehleinschätzung der verfänglichen deutschen Volksstimmung ein. Die bittere Feststellung, man stehe außerhalb des „Volksbewußtsein[s],“ hätte, so Neumann, vielleicht durch eine realistischere Beurteilung der vox populi vermieden werden können: Die Juden [...] haben die Volksstimmung und die inneren Grundlagen der Emanzipation falsch beurteilt; sie haben geglaubt, allein unter dem Schutz der Gesetze – d.h. ohne echte Einbettung in das Volksbewußtsein – ihr Leben gestalten zu können. Warnungen vor der Katastrophe wurden in den Wind geschlagen. (ebd.: 39)

Angesichts der eingetretenen Spannung zwischen Idealbild und Realität sucht Klemperer sich im Dritten Reich geistig neu zu verorten. Er ringt durchgängig um die richtige Einschätzung der kollektiven Volksstimme, was sich angesichts der Unterbindung der freien Meinungsäußerung als besonders schwierig erweist. Die institutionell organisierte Differenz, der freie Journalismus und die Gewaltenteilung demokratischer Verfassungsstaaten wurden vom NS-Regime zugunsten einer Gleichschaltung aller Gesellschaftsbereiche abgeschafft: Der öffentliche

422 Gegen Ende des Krieges, als Klemperers Schicksal immer bedrängter wurde, schien der Diarist die Uneinheitlichkeit und Undurchsichtigkeit der Volksstimmung auf die abgeklärte Formel „vox populi, vox bovi“ zu bringen. Der Romanist zeigte sich vor diesem Hintergrund von dem früher von ihm so idealisierten deutschen Volk tief enttäuscht: „Wieso, wieweit ist vox populi: vox Dei? Unsinn ist sie! Nichtig entstanden oder schlau gelenkt!“ (A 138: 1312 [23.1.1945]) Aus diesem Zitat spricht das Misslingen einer differenzierten Analyse der kursierenden Meinungen der Bevölkerung, das später in diesem Kapitel näher zu erläutern sein wird.

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Raum gehorchte dem formatierenden Diktat eines möglichst homogenen Denkens und Handelns, Schreibens und Redens: [A]lles, was in Deutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus parteiamtlich genormt; was irgendwie von der einen zugelassenen Form abwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung und Behördenzuschrift und Formulare einer Dienststelle – alles schwamm in derselben braunen Soße, und aus dieser absoluten Einheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch die Gleichheit der Redeform. (LTI: 22)423

Im Hinblick auf die Zensur und die Auflösung der demokratischen Öffentlichkeit notiert der Diarist in seinem Tagebuch: „Keiner fühlt sich irgend einer Meinung sicher. Meinungen auszutauschen hat jeder Verlangen, weil aus Zeitungen gar nichts mehr entnommen werden kann.“ (ZAI: 170f. [30.12.1934]; vgl. ebd.: 13 [20.3.1933]; ebd.: 106 [13.5.1934])424 Demzufolge sahen sich die Deutschen für nicht-systemkonforme Aussagen bald auf ihre Privatsphäre zurückgeworfen, die, obwohl die NS-Führung sie nie vollständig zu durchdringen vermochte, eine Ersatzöffentlichkeit zu bilden nicht imstande war. Aus diesem Grund wäre es verfehlt, im Rahmen des Totalitarismus unreflektiert von einer „öffentlichen Meinung“ oder einer volonté générale (Rousseau) zu sprechen, eher trifft der Terminus „unöffentliche Meinung“ zu, der Prozesse inoffizieller kollektiver Verständigung einschließt (vgl. Aly 2006: 10f.). Auch Victor Klemperer hat in der Regel Schwierigkeiten mit der Einschätzung der gängigen Meinung im Nationalsozialismus, aus der in den meisten Fällen der „Wankelmut der Volksstimmung“ (ZAII: 673 [15.2.-17.2.1945]) bzw. deren „unübersichtlich[er] und zwiespältig[er]“ Charakter (ebd.: 676 [19.2.1945]) hervorgehe. Er setzt sich durchgängig mit der Frage auseinander, wie es um die angebliche ideologische Einstimmigkeit bzw. Übereinstimmung der Bevölkerung bestellt sei. „Ich höre immer auf Symptome“ (ZAI: 22 [12.4.1933]): So formuliert der Tagebuchautor das Vorhaben, die „Stimmung dieser Zeit“ (ebd.: 28 [15.5.1933]) systematisch zu erfassen. Mit unaufhaltsamer Tüchtigkeit und Arbeitswut wirft sich Klemperer – von Anfang bis zum Ende der NS-Herrschaft – auf diese sich selbst gestellte Aufgabe. Seine Aufmerksamkeit richtet sich in seinen vox populi-Beobachtungen einerseits auf die Haltung der „arischen“ Bevölkerung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft und der nationalsozialistischen Politik, andererseits geht Klemperer durchgehend der Frage nach, wie die Volksstimmung in Bezug auf die militärische, politische, wirtschaftliche und soziale Lage im Dritten Reich zu charakterisieren und zu bewerten sei. Zu diesem Zweck untersucht er im Einzelnen, in welchem Ausmaß sich die Deutschen kriegsbegeistert und führungskonform, füh423 Trotz der Gleichschaltung der Presse hält der Diarist an seinem linguistischen Forschungsprogramm fest und gibt seine Lektüre der Dresdener Neuesten Nachrichten nicht auf, denn „man muß wenigstens wissen, was gelogen wird.“ (ZAI: 223 [5.10.1935]) 424 Am 31. Mai 1935 entscheidet sich Klemperer demzufolge, keine Zeitung mehr zu lesen (vgl. A 136: 200 [31.5.1935]) – was er aber nicht durchhält.

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rungskritisch, eingeschüchtert, gleichgültig oder widerständig zeigten. Diese Informationen haben für den Diaristen durchaus wissenschaftlichen Wert, denn, so betont er, sie „sind Material meiner einstigen Studie über das Dritte Reich.“ (ebd.: 173 [30.12.1934]) Dieses wissenschaftliche Erkenntnisinteresse weist nach Würzner (1997) auffällige Ähnlichkeiten mit der Oral History auf, die auf das individuelle Erleben von Geschichte fokussiert. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine repräsentative Datenerhebung, sondern vielmehr um eine Aufzeichnung subjektiver Einstellungen und Mentalitäten (vgl. Offermans 2004: 190ff.). Obgleich er für seine Notizen naturgemäß keine formalisierten Befragungen verwenden konnte, ermöglicht Klemperers Verschriftlichungsmodus des Alltäglichen und Mündlichen einen Zugang zu Aussagen jener subalternen gesellschaftlichen Gruppen, die in der Regel keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Diesen Meinungen breiter Teile der Bevölkerung kommt in den Einträgen eine zentrale Stelle zu: „Es ist jetzt Sport (bloß jüdischer Sport?), Volksstimmung zu ergründen. Im Restaurant. Im Laden.“ (ZAI: 597 [9.6.1941]) Klemperers Erörterungen zur vox populi erweisen sich vor diesem Hintergrund als fruchtbar bzw. nützlich in zwei Bereichen: einerseits für die Sozialgeschichte des NS-Alltags, andererseits für die Untersuchung subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen im Dritten Reich. Die Tagebuchaufzeichnungen können indes nicht als historiographische Norm angesehen werden. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an das Tagebuch soll in ihrer Interpretationsarbeit stets darauf bedacht sein, den habitus- und situationsbedingten Subtext der Beobachtungen und ihre blinden Flecken aufzudecken. Zwischen das individuelle Erleben der realen Person Victor Klemperer im Dritten Reich und die verstehende Rekonstruktion des Erlebten durch den Literaturwissenschaftler ist stets unhintergehbar der Tagebuchtext des diaristischen Ich geschaltet. Das Verhältnis zwischen Erlebnis, Text und wissenschaftlichem Verstehen ist keineswegs ein unilineares.425 Eine kritische historische bzw. kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern, die sich der Grenzen und Möglichkeiten der Gattung bewusst ist, ermöglicht eine Ergänzung der traditionellen Geschichtsschreibung mit Hilfe der aufgezeichneten mündlichen Stellungnahmen zu Krieg, Politik, Wirtschaftslage, Antisemitismus und Holocaust. In der Aufzeichnung verschiedenartigster mündlicher Äußerungen, so merkt Mieder (2004: 292; vgl. ders. 2000a: 75f.; ders. 2000b: 19f.; ders. 2000c: 317f.) zu Recht an, „kommt Klemperer den Resultaten dieser sozialwissenschaftlichen und somit auch volkskundlichen Forschungsrichtungen [...] sehr nahe.“ Nichtsdestoweniger sind Klemperers Aufzeichnungen zur vox populi als höchst widersprüchlich zu bezeichnen – sie sind durchzogen von Selbst- und Enttäuschungen, von Zweifeln und Widersprüchen. 425 In diesem Zusammenhang legt Armin Nassehi (1992: 170) nahe, dass ein Zeugnis selbst erlebter Zeitgeschichte manchmal auf kritische Weise „gegen den Strich gebürstet werden [muss], damit man seine latenten Strukturen, man könnte auch sagen: die Bedingungen seiner Möglichkeit, auf den Begriff zu bringen vermag.“

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3.2.2.3 Ethnographie des Durchschnitts: Vox populi als Forschungsprogramm Klemperers Tagebücher verweisen in vielfältiger Weise auf das „kulturelle Wissen“ ihrer Entstehungszeit.426 In ihrem mentalitätsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse sind sie zwischen Literatur und Anthropologie zu verorten. Im dicht geknüpften Netz aus brisanten zeitgenössischen Themen und Evokationen geht der Diarist den der vox populi zugrundeliegenden Bedingungen des Sagbaren, Denkbaren und Wissbaren nach. Zu diesem Zweck verfolgt er eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise, die auf Repräsentativität und Nachvollziehbarkeit abzielt. In seinen Beobachtungen legt er – genauso wie in seinen literaturhistorischen Werken – methodische Strenge an den Tag: „[D]er Philologe [...] ist zum realistischen Wiedergeben, zum dokumentarischen Beleg verpflichtet.“ (A 138: 1467 [23.4.1945]) Von der Sprache der deutschen „Volksgenossen“ her sucht der Romanist mit fachkundigem Fingerspitzengefühl der Mentalität und den ideologischen Auffassungen der deutschen Bevölkerung auf die Spur zu kommen. Am Stil der verwendeten Sprache, so der Diarist, könne jede kleine Veränderung in der öffentlichen Stimmung eruiert werden (vgl. A 137: 339 [8.8.1937]). Die philologische Archivierung der zirkulierenden voces populi stellt ein Teilprojekt von Klemperers sprachkritischem LTI-Unterfangen dar. Der Zeitgeist und die Kultur werden aus der Perspektive der einzelnen Stimmen und die einzelnen Stimmen wiederum aus der Perspektive des Ganzen gedeutet und damit verständlich: [F]ür sie [=für die LTI, A.S.] sammle und registriere ich absichtslos, beim Aufwachen morgens fällt mir ein: da sagte doch gestern der Herr neben mir ... Aus ihrer Sprache ihren Geist feststellen. Das muß den allgemeinsten, den untrüglichsten, den umfassendsten Steckbrief ergeben. So bin ich auf meine alten Tage doch noch zum Philologen geworden. (ZAI: 621 [23.6.-1.7.1941])

Klemperers Tagebuch als heterographische Schriftform versucht, empirische Erkenntnisse über den Menschen im Dritten Reich zu gewinnen. Das schriftliche Medium Tagebuch kann vor diesem Hintergrund als grundlegendes anthropologisches Reflexionsmedium begriffen werden, das der fundamentalen menschlichen Verfasstheit Ausdruck verleiht: Klemperer bringt in seinen Aufzeichnungen Angst, Wut, Enttäuschung, Demütigung, Stolz, Liebe, Scham, Selbsterhaltungsdrang usw. zum Ausdruck. Die mikrologische Auflösungsschärfe der Tagebücher verzichtet auf Abstraktionen und systemisch angelegte Analysen. Vielmehr schafft Klemperer ein Archiv, in dem er an erster Stelle Informationen speichert; die ex426 Michael Titzmann (1989: 48) definiert den Begriff ‚kulturelles Wissen‘ als „die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt.“ Dasselbe Konzept wird von Birgit Neumann (2006: 43) auf eine vergleichbare Art und Weise definiert: als der „Bestand kulturell möglicher Denk-, Orientierungs- und Handlungsmuster [...], die innerhalb der jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen als gesellschaftlich gültig und wertvoll gelten.“ Das kulturelle Wissen einer Gesellschaft existiert verstreut über alle kulturellen Objektivierungen und Praktiken.

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plizite Auswertung und Analyse findet im Tagebuch in der Regel nicht oder nur in geringem Maße statt. Die umfassende Archivierung der heterogenen Stimmen im Dritten Reich entspricht in vielerlei Hinsicht Clifford Geertz’ ethnographischem Verschriftungsverfahren der „dichten Beschreibung“.427 Obschon die Ethnographie traditionell – nicht-westliche, schriftlose – Stammesgesellschaften untersucht, ist sie als interdisziplinär angelegte Sozialwissenschaft auf alle Bereiche der Kultur übertragbar.428 Der Verschriftlichung des „sozialen Diskurses“ – der Gesamtheit zeitgenössischer Rede- und Handlungsformen – gilt ihr Hauptaugenmerk: Der Ethnograph ‚schreibt‘ den sozialen Diskurs ‚nieder‘, er hält ihn fest. Indem er das tut, macht er aus einem flüchtigen Ereignis, das nur im Moment seines Stattfindens existiert, einen Bericht, der in der Niederschrift des Geschehenen existiert und wieder herangezogen werden kann. (Geertz 1983: 28)429

Eine dichte Beschreibung der Stimmen und Meinungen aus der NS-Zeit ermöglicht einen Zugang zu den äußerst seltenen Freiräumen des Totalitarismus, zur inoffiziellen Vielstimmigkeit und zu den Dissonanzen.430 Diese Beschreibung ist immer schon vorfokussiert und beinhaltet bereits die Deutung des Schreibenden – das „Gesagte“ des sozialen Diskurses „dem vergänglichen Augenblick zu entreißen,“ indem es schriftlich dokumentiert wird (ebd.: 30). Im Verfahren der „dichten Beschreibung“ geben Episodisches und scheinbar Nebensächliches oft auf schlaglichtartige Weise Aufschluss über die gesamtkulturelle Lage (vgl. Auberlen 2004: 87).

427 Eine dichte Beschreibung ist definiert als eine besonders detaillierte Aufzeichnung kultureller „Daten“, die deren Deutung bereits impliziert (vgl. Geertz 1983: 14). Zu diesem Konzept vgl. Simonis (2004c: 115). 428 Geertz (1983: 7-43) nennt in seinem programmatischen Essay „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“ vier Merkmale der ethnographischen Beschreibung: 1. Der Ethnograph versucht den „Ablauf des sozialen Diskurses“ in nachvollziehbarer Form festzuhalten, indem er ihn verschriftlicht (ebd.: 30); 2. Ethnographische Darstellungen sind einerseits Beschreibungen, andererseits zugleich Deutungen (vgl. ebd.: 22); 3. Das Deuten besteht in der dauerhaften Fixierung und somit in der Aufhebung der Vergänglichkeit des flüchtigen Augenblicks (vgl. ebd.: 28); 4. Die Beschreibungen sind mikroskopisch, indem sie einzelne, konkrete Szenen darstellen. Anhand präziser Charakterisierungen von Dialogen, Handlungen usw. in ihrem jeweiligen räumlichen und zeitlichen Kontext können generelle Aussagen über die Kultur und das kollektive Leben getroffen werden (vgl. ebd.: 40). 429 Dass die Praxis des „extrovertierten“ Tagebuchschreibens Ähnlichkeiten mit dem oben skizzierten ethnographischen Schriftmodus aufweist, wird von Remi Hess (1998) bestätigt: In La pratique du journal. L’enquête au quotidien untersucht der Autor die Gattung Tagebuch aus ethnosoziologischer bzw. ethnographischer Perspektive. In diesem Zusammenhang legt Hess einen besonderen Wert auf das diaristische Zeugnis, das vor allem in Krisenzeiten weit verbreitet ist (vgl. ebd.: 41-61). 430 Allerdings dürfen Klemperers Bemerkungen zur Meinungspluralität unter dem Nationalsozialismus, die den Beweis dafür erbringen, dass die Machtdurchdringung nicht total war, keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel des Totalitarismus genau darin bestand, jegliche Spontaneität und Individualität – bis in die privateste Lebensäußerung hinein – aufzuspüren und zu liquidieren (vgl. Arendt 1998: 936; 958).

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Mithilfe der Technik des Zitierens entwickelt Klemperer die Strategie eines Aufschreibesystems, das eine textimmanente Konstruktion der gesellschaftlichen Mehrstimmigkeit erlaubt. Der – im Vorverständnis der Gattung – monologische Tagebuchtext wird auf diese Weise zum polyphonen Schauplatz des täglichen Schreibens. Das Tagebuch Victor Klemperers ähnelt mithin stark einer Kladde mit Feldnotizen zu den Anschauungsformen, Selbst- und Weltbildern und insbesondere zur Mentalität der „kleinen Leute“, des so genannten „Durchschnittsmenschen“.431 Möglichst genau zitiert er die Quellen seiner Notizen, oft in Dialogform und mit Erläuterungen zu Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Intonation und Stimmlage, unabhängig von ihrer ideologischen Überzeugung. Auf diese Weise ergibt sich ein kaum auf einen Nenner zu bringendes, mosaikartiges Bild resonierender Stimmen, das dem Stereotyp – und dem nationalsozialistischen Gesellschaftsprogramm – einer organischen und entindividualisierten Masse im Totalitarismus zu widersprechen scheint. Ohne an dieser Stelle bereits eine inhaltliche Analyse der vox populi-Notizen ansetzen zu wollen, soll vorweg anhand zweier Beispiele auf die formalen Merkmale dieser Erörterungen hingewiesen werden. Der Diarist gibt die Meinungen anderer, die ihm aus erster, zweiter oder sogar dritter Hand zugänglich wurden, in der Regel in der direkten Rede und gelegentlich auch in der indirekten Rede wieder. In einer Notiz aus dem Jahre 1945 hält Klemperer schnappschussartig das rege Durcheinander der Meinungen zur Kriegslage fest und bringt für einen Augenblick das Stimmengewirr „gewöhnlicher“ nichtjüdischer Zeitgenossen zum Stillstand: Voces populi. In Klotzsche. Eine junge Lübeckerin: ‚Sie wollen uns durch den Terror zur Kapitulation zwingen. (Mit ehrlicher Erbitterung:) Sie sollen sich getäuscht haben!‘ Ein paar ratschende Weiber, popularissime, die in Dresden waren und etwas aus dem Keller gerettet haben. ‚Mutschmann war da.‘ – ‚Hätten Sie ihm doch gleich einen Stein in die Fresse gehauen!‘ Bei Tisch, eine Grauhaarige: Man könne den Heeresbericht nicht verstehen, weil die Junge gegenüber genüber so laut rede. Die Junge: ‚Ich lasse mir den Mund nicht verbieten. Ich habe genug Führerreden gehört!‘ Ein andermal eine Matrone: ‚Unser guter Führer, der sooo den Frieden gewollt habe – aber die Feinde, und jetzt die Verräter unter uns, die an allem schuld sind, nur die Verräter sind schuld!‘ (ZAII: 676 [19.2.1945])

Durch die Form des Notierens rückt diese Szene in Distanz zum Persönlichen; sie wird gewissermaßen verfremdet und formalisiert. Der Tagebuchschreiber tritt hinter das persönliche Erleben, verfremdet es und bezieht zugleich eine imaginierte Öffentlichkeit in den Text ein, auch wenn zunächst allein er die Zuschau-

431 Ben Highmore (2007: 231) legt in Anlehnung an Michel de Certeau nahe, dass gerade Literatur – auch autobiographische Literatur – ein privilegierter Ort sein kann, in dem die „Kultur im Plural“ veranschaulicht wird. Texte, die das Stimmengewirr des Alltags medial re-präsentieren – wie dies Klemperers Tagebücher tun –, „versuchen, etwas von dem Übermaß des Gewöhnlichen aufzunehmen und zu registrieren, [sie sind] textuelle Formen, die das Potential für eine Neu-Konzeption einer Ethnographie des Alltags haben.“

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errolle übernimmt.432 In der obigen Passage beobachtet Klemperer die Meinungsdifferenz eines präzisen Augenblicks: Regimetreue und Regimekritik wechseln sich innerhalb desselben Eintrags auf vielfärbige Weise ab. Diese Mehrstimmigkeit zeigt, dass die Mentalität eines Kollektivs – selbst im Totalitarismus – nicht als homogener Block zu konzeptualisieren ist.433 Die Genauigkeit, mit der Klemperer die Stimmung wiederzugeben versucht, fällt auch in der nachstehenden Eintragung aus dem Jahre 1943 ins Auge. Der Diarist zeigt sich besonders sensibel für die kleinsten Änderungen im System von Kollektivvorstellungen oder für die Andeutungen von Brüchen in der Unterstützung des Regimes. Nach der militärischen Niederlage in Stalingrad registriert er an der „Heimatfront“ einen deutlichen Knick in der Kriegsmoral und der Psyche der Bevölkerung. Die Personen, die diesbezüglich im Tagebuch zu Wort kommen, sind ein Kaufmann, ein anonymer Passant, eine Schaffnerin und zwei Arbeiter, also Menschen, deren Stimme sich ohne Klemperers Verschriftlichung im steten Fluss der Zeit verflüchtigt hätten: Im Volk sei ein Stimmungsumschlag in dieser Hinsicht bereits deutlich zu spüren. Charakteristisch sei das Verhalten eines gewissen Leuschner, eines sehr judenfeindlichen Kaufmanns, der im Gemeindehaus wohnt, der bisher das brutalste Benehmen gehabt und einige Juden buchstäblich ‚auf dem Gewissen habe‘; er spiele neuerdings den Judenfreund, auch die Juden, habe er erklärt, seien für ihn Menschen usw. Eisenmann sen., sonst sehr pessimistisch, erzählte es mir gestern abend im Garten, dazu den Churchill-Helena-Witz und einige entsprechende Erlebnisse auf der Straßenbahn. (Er tritt versehentlich einem Herrn auf den Fuß und bittet um Entschuldigung, worauf ihn der Getretene wortlos auf die Schulter klopft. Eine Schaffnerin sagt: ‚Kommen Sie doch in diese Ecke, da zieht es weniger‘... Ein Arbeiter: ‚Müßt Ihr immer noch die Lappen (sc. stellam) tragen?‘ Ein anderer: ‚Na Kamerad, Mut! Der eine von den Hunden (sc. Duce) ist ja nun weg!‘ Ich: ‚Aber die Kinder auf der Straße quälen mich mehr als früher.‘) (ebd.: 421f. [23.8.1943])

In solchen höchst detaillierten Einträgen legt der Romanist kumulativ ein Korpus des Gemurmels seiner Zeit an, aus dem die Disposition der Mentalitäten hervorgeht. In diesem Archiv bringt die Sprache der Zeitgenossen ihre Einstellungen zur Wirklichkeit ans Licht und wird damit zu einer wichtigen Quelle für die Rekonstruktion der Mentalität der Bevölkerung. Sprache ist das Instrument, so Klemperers Ausgangshypothese, mit dem Wirklichkeit gestaltet und Sinn gebildet wird. Im Dritten Reich geht der Tagebuchautor vor diesem Hintergrund weiterhin von der „These [aus], Sprache sei geistige Tätigkeit und Ausdruck nationaler Eigenschaften eines Volkes.“ (Nerlich 1996c: 425) 432 An dieser Stelle sei für nähere Informationen zum Gebrauch des Zitats im Tagebuchgenre auf Sellner (1992: 42) verwiesen. 433 Susanne Spekat (2003: 49) zufolge bedeutet die offensichtliche Vielgestaltigkeit des discours social nicht zwangsläufig, dass sich keine dominanten Leitlinien herauskristallisieren ließen. Die Literaturwissenschaftlerin differenziert in Anlehnung an Dinzelbacher zwischen einer „Grundmentalität“, die alle Mitglieder einer Gesellschaft mehr oder weniger miteinander vereint, und „gruppenspezifischen Mentalitäten“, die kontrovers innerhalb einer Grundmentalität koexistieren können.

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Aufgrund der Gleichschaltung aller Gesellschaftsbereiche im Dritten Reich war man primär aus jüdischer – lies: ausgegrenzter und zwangsläufig distanzierter – Perspektive dazu imstande, die Mentalität der deutschen Bevölkerung kritisch auszuloten.434 Die spezifische Subjektivität seines Zeugnisses erhebt Klemperer, so Irene Heidelberger-Leonard (2000: 67), zum einzig legitimen Beobachter der „arischen“ Gesellschaft: „Nur als Jude“ könne man „den Zustand der ‚arischen‘ Deutschen beschreiben.“435 Diese Beschreibung diente Klemperer stets auch einer identitätsrelevanten Selbstverortung im Nationalsozialismus, der ihm sein Deutschtum abgesprochen und ihm sein abgelegtes Judentum wieder aufgezwungen hatte. Angesichts des Traumas der gescheiterten Emanzipation war es dem Diaristen prinzipiell unmöglich, die Volksstimmung wiederzugeben, „ohne die Spannung Deutsch-Jüdisch ins Zentrum zu stellen.“ (ZAII: 75 [28.4.1942]) In der Einführung zu seiner Studie Rembrandt und Spinoza merkt Julius Bab 1934 auf ähnliche Weise an: „[W]enn ein deutscher Jude heute ein Buch schreibt – das Thema mag laufen wie es wolle – so wird er auch wissen müssen, daß er einen Beitrag liefert zu der zentralen Frage seines Daseins – der Frage nach seiner Existenz als Deutscher und Jude.“ (Bab 1934: 1) In der Bewertung der vox populi stellt sich diese Existenzfrage auch Victor Klemperer, ohne die Stimmen jedoch aus strategischen Gründen bewusst egalisieren oder homogenisieren zu wollen. Die Tagebücher geben in äußerst detaillierter Weise den Umfang der zivilen Beihilfe zu den antisemitischen Maßnahmen des Nationalsozialismus wieder, die umfassende Bandbreite von moralischen Verhaltensweisen, die von zelotischer Unmenschlichkeit, beruflichem Opportunismus, aber ebenso von Hilfsbereitschaft und regimekritischen Sympathiebekundungen in der Bevölkerung zeugen. Darüber hinaus liefern seine Aufzeichnungen eine Fülle an Belegen über das Ausmaß des Wissens über den Holocaust, sowohl über die Deportationen jüdischer Mitbürger als auch über die Existenz und Funktion der Vernichtungslager. Die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte, die regelmäßig von Polizei, Gestapo und Sicherheitsdienst erstellt wurden, sind kaum für eine mentalitätsgeschichtliche Erforschung der vox populi einsetzbar, da sie zu stark die subjektive 434 Benedikt Faber (2005: 196) hebt in diesem Rahmen aus gutem Grund hervor, dass Klemperer, obgleich er nach nationalsozialistischer Definition „Nichtdeutscher“ war, sich als deutscher Jude dennoch als Teil des von ihm beobachteten Ganzen verstand. Diese Perspektive des jüdischen Verfolgten im NS-Deutschland ergibt in analytischer Hinsicht eine aufschlussreiche Mischung aus Innen- und Außenperspektive, die den Tagebüchern ihren einzigartigen Wert verleiht. 435 An dieser Stelle sei allerdings auf die literaturgeschichtliche Übersichtsarbeit Friedrich Denks, Die Zensur der Nachgeborenen (1995) verwiesen, in der der Autor auf eine Reihe von Schriftstellern (wie etwa Ernst Wiechert, Albrecht Haushofer, Stefan Andres und Ricarda Huch) aufmerksam macht, die seiner Meinung nach im Dritten Reich (implizit) regimekritische Literatur – und nicht bloß apolitische Literatur der Inneren Emigration – verfasst und veröffentlicht haben. Auch die heimlich geführten Tagebücher von Friedrich Reck-Malleczewen (1981) und von Ruth Andreas-Friedrich (1986) sind Beispiele für deutsche regimekritische Literatur, die innerhalb der Reichsgrenzen entstanden ist. Obgleich minoritär, stellen diese Aufzeichnungen trotz Zensur, Propaganda und Unterdrückung unter Beweis, dass auch deutscherseits – ohne Exil – eine reflektierte, antinationalsozialistische Haltung möglich war.

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bzw. ideologische Meinung der Berichterstatter wiedergeben und, noch wichtiger, als ideologisches Steuerungsinstrument der öffentlichen Meinung gedacht waren.436 Aus diesem Grund mögen die Klemperer-Tagebücher – obschon sie als historische Quellen stets kritisch hinterfragt werden müssen – ein bezeichnendes Licht auf das Ausmaß der Unterstützung des Regimes und der Mitwisserschaft vom Holocaust seitens der Zivilbevölkerung werfen. Für den quellenkritischen Umgang mit Klemperers Tagebüchern als Auseinandersetzungen mit der deutschen Volksmeinung ist es unerlässlich, sich mit deren Entstehungsbedingungen und den Absichten des Verfassers zu beschäftigen. Die Gleichschaltung aller Einrichtungen und Systeme der Zivilgesellschaft im Dritten Reich hob den freien öffentlichen Raum auf: Meinungsaustausch in der Presse, an Schulen und Universitäten, in Vereinen und Gewerkschaften, in Parteien und am Arbeitsplatz war prinzipiell unmöglich gemacht, und sogar im privaten Bereich war Kritik am Regime nicht ohne jede Gefahr. In der Frühphase der NS-Herrschaft versuchte man sich angesichts der Ausschaltung der freien Presse noch im privaten Umfeld zu treffen, um die politische Lage zu diskutieren. Während des Zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Isolation die jüdische Bevölkerung hingegen musste zur Informationsbeschaffung verstärkt auf Gerüchte zurückgegriffen werden.437 Eva Klemperer teilte ihrem Ehemann, dessen Handlungsspielraum und Informationszugang aufs Engste eingeschränkt worden waren, häufig die ihr von Nichtjuden erzählten Gerüchte mit, die der Diarist daraufhin wortgetreu in sein Tagebuch aufnahm. Der folgende Abschnitt, in dem vom britischen Bombardement auf Lübeck vom 28. März 1942 berichtet wird, ist ein typisches Beispiel für die Rolle von Gehörtem in Klemperers Notizen: Lange erzählte Eva, er habe von einem Kameraden gehört, es lägen noch Hunderte oder gar Tausende unter den Trümmern, es gebe 40 000 Obdachlose in Lübeck. Von dem allen mag das Wenigste wahr sein, aber etwas ist doch wahr, und man (unendlich viele Mans) glauben dem Gerücht oder Mundfunk sehr viel mehr als der verschwiegenen und verlogenen Zeitung. (ZAII: 69f. [19.4.1942])

Der Diarist setzte sich immer auf höchst kritische Weise mit der Zuverlässigkeit solcher informellen Quellen auseinander und behielt eine möglichst sachliche Distanz zum Gehörten: „Sic crescit fama. Latrine oder ein Gran Wahrheit?“ (ebd.:

436 Peter Longerich (2006: 316f.) weist ebenfalls darauf hin, dass die Stimmungsberichte des Regimes – Gestapo-Berichte, Berichte der Justiz, SD-Berichte, Berichte der NSDAP, Berichte der Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten – keineswegs die Funktion einer demoskopischen Analyse der „wahren“ Volksstimmung erfüllten. Dessen ungeachtet registriert Hannes Heer (1997: 133) eine „stupende Übereinstimmung von Klemperers Notizen und den SD-Berichten,“ ohne beide aber einer eingehenden Quellenkritik zu unterziehen. 437 Unter Rekurs auf Jean-Noël Kapferer macht Sybille Große (2000: 359) darauf aufmerksam, dass das Gerücht den manifesten oder latenten Ängsten und Hoffnungen der Menschen entspricht. Gerüchte haben stets inoffiziellen Charakter: Ihr Wahrheitsgehalt und ihre offizielle Bestätigung sind somit keine unmittelbar relevanten Definitionsmerkmale, aber die Plausibilität in einem gegebenen Kontext muss wohl vorhanden sein.

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515 [12.5.1944])438 Michael Nerlich (1996a: 140) schreibt in diesem Zusammenhang: „Atemberaubend seine [=Klemperers, A.S.] dialektische Auslegung der NS-Nachrichten: das Gegenteil von dem, was verkündet wurde, mußte wahr sein und war es meist auch. Ingeniös die kritische Auswertung der Gerüchte.“439 Das Vorhandensein von Öffentlichkeit gilt seit deren Anfängen im 18. Jahrhundert als Grundvoraussetzung für die Bildung öffentlicher Meinung, die als kollektiver Lernprozess verstanden wird. In einem totalitären Regime wie dem Dritten Reich erscheint der Begriff „Öffentlichkeit“ unangebracht, weil demokratische Leitprinzipien wie freie Meinungsäußerung, die konkurrierende Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und der freie Zugang zu Informationen gänzlich außer Kraft gesetzt wurden. Der öffentliche Raum wurde durch ideologische Symbole und formalisierte Rituale ausgefüllt: Feiern, Aufmärsche, Großveranstaltungen und Herrschaftsarchitektur sollten kontinuierlich die Formung der Menschen bewerkstelligen. Andererseits wurde dem Volk die explizite „fanatische“ Zustimmung der nationalsozialistischen Ideologie abverlangt: der HitlerGruß, das Hissen der Hakenkreuzflagge, Teilnahme an Großveranstaltungen, Spendenbereitschaft usw.440 Mangelnde Zustimmung oder gar Kritik wurde vor diesem Hintergrund strengstens bestraft (vgl. Longerich 2006: 23-28). Aus Klemperers Tagebüchern geht deutlich hervor, dass die Bevölkerung auf individueller und privater Ebene keineswegs in einem Zustand absoluter Uniformität lebte, sondern dass es abweichende Meinungen und Verhaltensweisen gab, die dem Diaristen gegenüber – unter vier Augen – zum Ausdruck gebracht werden konnten, weil von seiner Seite keine Denunziation zu befürchten war. Angesichts der protokollierten Mehrstimmigkeit der vox populi kommt der Diarist vielerorts zum Schluss, eine synchrone Analyse der selbsterlebten Zeitgeschichte sei kaum durchzuführen (vgl. z.B. ZAII: 157 [5.7.1942]; ebd.: 582 438 Diese Distanz bringt Klemperer auch oft durch den Gebrauch des Konjunktivs zum Ausdruck. Im Konjunktiv wird die Konfrontation von „dokumentarischer und kommentierendinterpretierender Absicht des (Auf)Schreibens“ zum Ausdruck gebracht (Sellner 1992: 57). Er bietet dem Diaristen die Möglichkeit, auf grammatikalischer Ebene Zweifel am Gehörten mitzuformulieren. Im folgenden Beispiel heißt es vor diesem Hintergrund: „Vormittags war Steinitz lange bei uns. Auch er wußte nichts. Nur Gerüchte. Danach sollten fünftausend Offiziere etc. verhaftet und erschossen worden, es sollten auch – und das wäre ungeheuer wichtig – zahlreiche Berliner Arbeiter verhaftet sein.“ (ZAII: 553 [23.7.1944]) Für weitere Beispiele des Konjunktivgebrauchs zur kritischen Distanzierung von Gerüchten vgl. ZAI: 177 [15.1.1935]; ebd.: 450 [31.12.1938]; ZAII: 162 [10.7.1942]; ebd.: 170 [14.7.1942]; ebd.: 263 [27.10. 1942]. 439 Zu den Schwierigkeiten des Diaristen Victor Klemperer, die offiziellen Mediennachrichten im Dritten Reich im Hinblick auf die „wahre“ Sachlage zu interpretieren vgl. Garbarini (2006: 73ff.). Der Diarist drückt die Schwierigkeit, die Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, häufig mit der italienischen Formel „Forse che sí, forse che no“ („Vielleicht ja, vielleicht nein“) aus (vgl. beispielsweise ZAI: 146 [27.9.1934]; ZAII: 13 [18.1.1942]; ebd.: 565 [20.8.1944]; ebd.: 697 [8.3.1945]). 440 Es ist vor diesem Hintergrund aufschlussreich, dass Goebbels in einem von Klemperer zitierten Artikel mit dem Titel „Die Urheber des Unglücks der Welt“ den staatlichen Antisemitismus mit der Manipulation der Öffentlichkeit gleichsetzte: „[D]er Antisemitismus, d.h. auf gut deutsch die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Judenfrage.“ (A 138: 1313 [24.1.1945])

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[14.9.1944]). Ungeachtet dessen setzt er wie ein Archivar seine Sammeltätigkeit im „Volk“ fort, in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt die Informationen mit dem Vorteil der retrospektiven Einsicht auswerten zu können. Arbeiter, Handwerker, Kleinhändler, niedere Beamte, Grundschullehrer machen aus Klemperers abwertender Perspektive die „kleinen Leute“ (ZAI: 361 [20.6.1937]) bzw. das „gemeine Volk“ aus, das sich in der Regel von intuitiven Regungen leiten lasse: ein ungebildetes, irrationales Ganzes ohne Selbstbewusstsein, dem im Hinblick auf seine Überzeugungen schwer beizukommen sei: Was weiß man vom ‚Volk‘? Wer darüber schreibt, gehört nicht zum Volk. Und wenn er als Analphabet u. im tiefsten Elend angefangen hat – im Augenblick wo er über das ‚Volk‘ schreibt, sich seiner Zugehörigkeit zum ‚Volk‘ rühmt, ist er nicht mehr ‚Volk‘, denkt u. empfindet er nicht mehr volksmäßig. Sodaß wir also von der Volksseele genau so viel wissen wie von der Tierseele. (Da beide in ihrer Reinheit dort aufhören, wo das intellektuelle Bewußtsein anfängt). Das ist der Grund, weshalb sich die Volksmeinung nicht vorausberechnen u. auch während des Ablaufs der Ereignisse feststellen läßt. (A 138: 1254 [23.11.1944]) 441

In diesem Zitat klingt die negative – bildungsbürgerliche – Bewertung des Populären und Volksnahen an, die bereits in den Tagebuchaufzeichnungen aus der Weimarer Zeit beobachtbar war (vgl. z.B. LSI: 40 [30.12.1918]; ebd.: 754 [22. 10.1923]). Für Klemperer fällt die „gewöhnliche“ Kultur des „Volkes“ auf die Seite der Oralität und der Unreflektiertheit. Das gesprochene Wort wird somit zum Anderen der Schrift, und in derselben Bewegung stehen sich im Tagebuch „Volk“ und „Bürgertum“ bzw. „Intelligenz“ antonymisch gegenüber. Der Diarist spricht hier als akademischer Vertreter der modernen Schrift-Dispositive. Die skripturale Ökonomie der Moderne, so Michel de Certeau (1988: 242), „wird von der doppelten Loslösung des ‚Volkes‘ (von der ‚Bourgeoisie‘) und der ‚Stimme‘ (von der ‚Schrift‘) begleitet. Daher die Überzeugung, daß das ‚Volk‘ außerhalb der ökonomischen und administrativen Mächte ‚spricht‘.“ Das Paradoxon der Verschriftlichung, die dem Mündlichen nie vollkommen gerecht werden kann und ihre Flüchtigkeit und Verborgenheit künstlich festlegt, bestehe darin, dass die „Stimmen des Volkes“, nur „im Textgewebe der Schriftsysteme vernommen werden, wo sie weiterhin lebendig“ (ebd.) sein können. Aus ethnographischer Perspektive bewegt sich Klemperers Schreiben, das sich dem Verdrängten in seiner Pluralität widmet, an den Rändern und in den Zwischenräumen des Totalitarismus. Dem Hörensagen und den oralen Zeitzeugnissen verschiedenster Pro-

441 Die Reflexionsfähigkeit eines Menschen unterscheide ihn, so der Diarist, vom „Volk“, das als Kollektiv eine unreflektierte, instinktive Seele habe. Die Entzifferung der Gesetzmäßigkeiten der Volksstimmung unterliege dementsprechend einer Vielzahl emotionsbeladener Variablen: „Das unlösbarste [...] Rätsel ist die Stimmung im Volk. Was glaubt es?“ (ZAI: 512 [17.3.1940]) Fünf Jahre später, gegen Ende des Krieges, lautet Klemperers Antwort auf diese Frage illusionslos, das „Volk“ sei mehrheitlich und hemmungslos den Nationalsozialisten gefolgt: Die „Masse der Mittelmäßigen, des Durchschnitts“ sei „in einheitliches, ‚gewissenloses‘, ‚stures‘, ‚fanatisches‘ Handeln gestürzt“ worden (A 138: 1424 [24.3.1945]).

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venienz wird vor diesem Hintergrund durch Klemperers Akt des archivierenden Schreibens dauerhaft Form verliehen. An die Stelle des Kollektivsingulars „Deutsche Geschichte“ tritt auf diese Weise eine Vielzahl von Geschichten und Stimmungen im Plural, von lokalen Erzählungen, Anekdoten, Witzen, Gerüchten und Details, die sich immer wieder neu arrangieren lassen. Sie bilden zwar unter dem Stichwort „vox populi“ eine leitmotivische Konstruktion, sind aber innerhalb der Notizen weit verstreut, ohne in gebündelter Form systematischer Analyse unterzogen zu werden. In den Tagebüchern liegt somit ein komplexes netzwerkartiges Muster von Querverweisen wie von Widerspiegelungen und Brechungen des NS-Alltags vor. Dem präreflexiven Charakter der Alltagserfahrung entsprechend stellen die Tagebücher in der Tat disparatestes Material – dem Tagesraster folgend – in sehr unterschiedlichen Konfigurationen bereit. Mit diesem enthierarchisierenden Textverfahren, das eine einheitliche Argumentführung verbietet, das Zentrales und Peripheres, Großereignis und fait divers assoziationsartig zusammenführt, versucht der Diarist eine intuitive Echoortung der Meinungsbildung im Dritten Reich vorzunehmen.442 Der Tagebuchschreiber zeichnet nicht nur kohärente Beobachtungen und selbst geführte Gespräche auf, sondern nimmt ebenso vereinzelte und aus dem Kontext gerissene Gesprächsbruchstücke ins Tagebuch auf.443 Er stellt sich angesichts dieses ungeordneten Wusts an Information durchgängig die Frage nach der richtigen Einschätzung der Volksstimmung: „Immer wieder die Frage: Was ist Volksstimmung, wer kann sie begründen?“ (ZAI: 595 [24.5.1941]; vgl. ebd.: 600 [22.6. 1941]) Darüber hinaus befasst sich der Autor en détail mit der Gewichtung der unterschiedlichen Stimmen in der Bevölkerung: „Die Orgel der Volksstimmen. Welche Stimme dominiert und bringt die Entscheidung?“ (ZAII: 406 [19.7.

442 Die Frage nach der vox populi in der NS-Diktatur ist eng mit dem – von der Geschichtswissenschaft oft vernachlässigten – Problemkomplex der Emotionen in totalitären Gefügen verbunden (vgl. von Klimó und Rolf 2006: 12-23). Die Gefühle der Beherrschten wurden durch Ästhetisierung des Politischen, Propaganda und Ideologie unaufhörlich stimuliert bzw. manipuliert und vom Überwachungsapparat kontrolliert. Den Emotionen – wie der emotionalen Codierung des Antisemitismus – ist stets eine performative Dimension eingeschrieben, die mit dem alltäglichen Gebrauch des Wortes zu tun hat. Daher ist für Klemperer die Annäherung an die Volksstimmung unlösbar mit einer Analyse der LTI verbunden. Das Tagebuch stellt vor diesem Hintergrund ein Medium dar, in dem der Spannung zwischen den Meinungen des Selbst und denen der Anderen Ausdruck verliehen wird. Dem Alltagshistoriker Alf Lüdtke (2006: 49ff.) zufolge sind deshalb Ego-Dokumente, wie Tagebücher, als „Logbücher der Gefühle“ zu verstehen, die eine „Innensicht“ auf das Spektrum an Auffassungen und Gefühlen im Totalitarismus erlauben. 443 Klemperer ist sich der Ausschnitthaftigkeit gewisser, von ihm aufgefangener Gesprächsfetzen durchaus bewusst. Vor dem Hintergrund der Atomisierung unterschiedlicher Meinungen ergibt sich ein geradezu dezentrierter Raum zirkulierender Stimmen, die sich dem Leser als unhierarchisierte Masse anbieten. Im Jahre 1945 vermerkt der Diarist beispielsweise: „Wo unter den zahllosen – alle um die gleichen Themen Ausbombung u. Flüchtlingsnot rotierenden – selbstgeführten u. aufgeschnappten Gesprächen u. Gesprächsbrocken dieser fast 24stündigen Reise bis hierher, die voces populi laut wurden, sie sich mir einprägten, weiß ich nicht mehr.“ (A 138: 1380 [7.3.1945]; vgl. ZAI: 578 [20.2.1941])

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1943])444 Er versucht, so bekundet er des Öfteren im diaristischen Metatext, ein ethnographisches Programm zu realisieren. Für die Verschriftlichung der kursierenden Volksstimmen prägt sich der Tagebuchschreiber ein: „Ich muß [...] auf besonders krasse Exempel achten und sie gleich notieren.“ (ebd.: 118 [10.6.1942]) In diesem Bestreben weist seine Herangehensweise – wie anfangs bereits angesprochen – implizite Ähnlichkeiten mit der Ethnographie auf und nimmt gewissermaßen bestimmte Leitgedanken der Mentalitätsgeschichte vorweg. Diese methodischen Ähnlichkeiten lassen sich teilweise auf Klemperers kulturkundliche Forschungen aus den 1920er Jahren zurückführen.445 Seine Auswertung der Volksstimmung basiert in der Tat auf einer nahezu quantitativen Methode, die seinem wissenschaftlichen Habitus zu entsprechen scheint: „Man zählt, wie viele Leute in den Geschäften ‚Heil Hitler‘, wie viele ‚Guten Tag‘ sagen. Das ‚Guten Tag‘ soll zunehmen. ‚Beim Bäcker Zscheischler sagten fünf Frauen ‚Guten Tag‘, zwei ‚Heil Hitler‘.‘ Hoch. Beim Ölsner sagten alle ‚Heil Hitler‘. Tief.“ (ZAI: 661 [2.9.1941]) In vielfacher Hinsicht ergeben sich hervorstechende Berührungspunkte zwischen Klemperers vox populi-Konzept und dem in der neueren Kulturwissenschaft vertretenen Mentalitätsbegriff. Beide lassen sich als heterogenes Ensemble aus kognitiven und intellektuellen Dispositionen, Denkmustern und Empfindungsweisen bezeichnen, aus denen sich Kollektivvorstellungen einer Gesellschaft zusammensetzen.446 Jacques Le Goff, Hauptvertreter der Nouvelle Histoire und bedeutendster Erbe und Fortsetzer der französischen Annales-Schule, erläutert die Zielrichtung des mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes wie folgt: Die Ebene der Mentalitätsgeschichte ist die des Alltäglichen und des Automatischen, dessen, was den individuellen Subjekten der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht, dessen, was Cäsar mit dem letzten Soldaten seiner Legionen, Ludwig der Heilige mit den Bauern seiner Ländereien, Christoph Columbus mit den Matrosen seiner Caravellen gemein hat. (Le Goff 1989: 21)

Eine solche Definition der Mentalitätsgeschichte rückt das kollektive bzw. plurale Erkenntnisinteresse in den Vordergrund, das der klassischen Geistesgeschichte, die von der Leitvorstellung der histoire totale und vom epochenprägenden Einfluss individueller Genies ausgeht, kritisch gegenübersteht. Stattdessen soll (grup444 Das Wissen um die Kontingenz und die Pluralität der vox populi begleitet als methodische Kritik unaufhörlich Klemperers ethnographisch ausgerichtete Aufzeichnungspraxis. Die Vielfältigkeit der Volksstimmen, so betont der Diarist durchgängig, ist in der Gegenwart kaum auf einen Nenner zu bringen. Vor diesem Hintergrund schreibt der Diarist zum Beispiel: „Vox populi? Voces populi? Welche der vielen entscheidet.“ (A 138: 943 [13.9.1943]) Und ganz ähnlich notiert Klemperer am nächsten Tag: „Was sei vox populi, welche von den zehntausend voces populi [...] entscheiden?“ (ebd.: 945 [14.9.1943]) Erst im Nachhinein, in der zeitlichen Distanz, so stellt sich heraus, kann Zeitgeschichte adäquat bewertet werden. 445 Klemperer war bereits im Wilhelminischen Kaiserreich daran gelegen, die zeitgenössische Volksstimmung in seinen Tagebüchern einzufangen (vgl. CVII: 186). 446 Für eine eingehendere kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „Mentalität“ sei an dieser Stelle auf Simonis (2004a: 440) verwiesen.

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penspezifisch) geteilten Einstellungen, Wertehaltungen und Vorstellungen, Meinungen und Diskursen nachgegangen werden. An dieser Stelle lässt sich die konzeptuelle Nähe von Victor Klemperers halb wissenschaftlichem, halb autobiographischem Vorhaben, die Volksmeinung bzw. das Gemeingut der NS-Epoche zu erforschen, zum Programm der Mentalitätsgeschichte beobachten: Die von Klemperer untersuchte vox populi im Dritten Reich – ebenso wie die Mentalität in der Nouvelle Histoire – kann im Schatten der spektakulären Zäsuren nur an den alltäglichen Umgangsformen abgelesen werden (vgl. Simonis 2004b: 441). Den sich dem Diaristen kundgebenden Gesamtkomplex von Kollektivvorstellungen, Denkweisen, Werten und Normen, die sich in den zirkulierenden mündlichen Stellungnahmen zu Wirtschaftslage, Krieg, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust manifestieren, versucht Klemperer differenziert zu rekonstruieren. Die alltägliche vox populi wird im Tagebuch nicht zu einer Abstraktion, die zu allzu schneller Vereinheitlichung verführen würde. Wieder und wieder hebt der Autor die Kontingenz und Kurzlebigkeit der Volksstimmung hervor, wie im nachstehenden Zitat vom März 1945 im Hinblick auf den Ausgang des Krieges: „Voces populi – wer kann 5 vor 12 sagen, welches die siegende Volksstimmung um 12 Uhr sein wird?“ (A 138: 1381 [7.3.1945]) Der Tagebuchautor erhofft sich – der Unausgegorenheit und Ungewissheit des Informationswertes von Gerüchten zum Trotz – eine Einsicht in die Meinungen und Beweggründe der deutschen Zivilbevölkerung zu erschließen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass als Quelle für ein Gerücht nicht notwendigerweise eine konkrete soziale Gruppe oder Schicht zur Verfügung stehen müsse, sondern die Unzufriedenheit mit der politischen bzw. gesellschaftlichen Zeitlage und das Verlangen nach Veränderung für die Ausprägung eines Gerüchtes bestimmend sind. Sybille Große (2000: 361) zufolge sind es der subjektive Wunsch und die eigene Überzeugung, die den Unterschied zwischen „Information“ und „Gerücht“ ausmachen.447 Aus diesem Grund gilt Klemperers Hauptinteresse nicht dem Wahrgehaltsgehalt in sensu stricto, sondern der zugrundeliegenden politischen Stoßrichtung der zirkulierenden Aussagen: Das Gerücht stellte in zeitgeschichtlicher Hinsicht ein erhellendes, diskursives Kleinereignis dar. Gerüchte werden kollektiv gestaltet, sie werden weitergegeben, angepasst, erweitert, so dass im Endeffekt eine aufschlussreiche, geballte Informationsquelle entsteht. Lenken wir vor diesem Hintergrund kurz den Blick auf das nachstehende Zitat: Im Herbst 1941, als von einem raschen Kriegsende keine Rede mehr sein konnte, hörte ich viel von Hitlers Wutanfällen erzählen. Erst waren es Wut-, bald danach Tobsuchtanfälle, der Führer sollte in ein Taschentuch, in ein Kissen gebissen haben, dann hatte er sich auf den Boden geworfen und in den Teppich gebissen. Und dann – die Erzählungen stammten immer von kleinen Leuten, von Arbeitern, von Hau447 Das Fehlen einer demokratischen Öffentlichkeit und die krisenhafte Offenheit der Zukunft führten dazu, dass man den Wahrheitsgehalt von Gerüchten kaum überprüfen konnte. Der Informationsmangel ließ somit keine adäquate Einschätzung der Zeitlage zu: „Wo ist die Wahrheit, hier oder beim [...] Gerücht? Und wenn beides zutrifft – was entscheidet?“ (ZAII: 387 [1.6.1943])

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sierern, von unvorsichtig zutraulichen Briefträgern –, dann hatte er ‚die Fransen eines Teppichs gefressen‘, pflegte sie zu fressen, trug den Namen ‚Teppichfresser‘. (LTI: 85)448

Ob dieses Gerücht nun in letzter Konsequenz wahr oder nicht ist, ist nicht Klemperers Hauptsorge. Die Tatsache, dass Hitler im obigen Passus als tobsüchtiger Hysteriker, der mit seinem Latein am Ende zu sein scheint, dargestellt wird, soll den Rezipienten hellhörig machen: Das besagte Gerücht bringt die Schwäche des Regimes zum Ausdruck. Nicht der manifeste Inhalt, sondern der politische Subtext ist von Belang für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit: „Immerhin: daß solche Gerüchte im Umlauf sind, ist charakteristisch.“ (ZAII: 386 [1.6.1943]) In totalitären Gesellschaften wie dem Dritten Reich, in denen Zensur und Repression die Meinungsfreiheit nahezu gänzlich ausgeschaltet hatten, stellte öffentliche Kritik am Regime einen unmittelbar staatsgefährdenden Akt dar. Das Defizit an Informationen führte dazu, dass man auf der Suche nach Erklärungen für die gegenwärtige Lage sowie nach plausiblen Voraussagen für die Zukunft das Vakuum mit persönlichen Vorstellungen und Wünschen ausfüllte.449 Aus Gerüchten, Klatsch und Tratsch, denen er einen „recht hohen Zeugniswert“ beilegt (ebd.: 297 [28.12.1942]), sucht der Diarist ideologische und politische Leitüberzeugungen zu destillieren. Vor diesem Hintergrund erweist sich beispielsweise der Friseursalon nach Klemperers Ansicht als auserlesener Ort der informellen Demoskopie: „Heute hörte ich zum erstenmal einen Unzufriedenen. Den Barbier, also sozusagen konzentrierte vox populi.“ (CVII: 205)450 Der Philologe Victor Klemperer legt im Umgang mit dem Gehörten methodische Strenge an den Tag und hinterfragt kritisch dessen Aussagegehalt. Diese wissenschaftliche Herangehensweise an das Thema lenkt den Diaristen von der ständigen lähmenden Angst 448 Im LTI-Kapitel „Autochtone Dichtung“ (LTI: 84-88) zeichnet Klemperer eine Reihe Gerüchte aus der NS-Zeit auf, die für die Auseinandersetzung mit Klemperers ethnographieähnlicher Aufzeichnungspraxis besonders aufschlussreich sind. 449 Im Totalitarismus wird die Lebenswelt gänzlich durch das System aufgesogen und Kommunikation wird nur noch als inszenierte Kommunikation zugelassen. Die Öffentlichkeit existiert somit nur noch als Partei- und Propaganda-Öffentlichkeit. Das Tagebuch erweist sich als privilegiertes Medium, sich mit der Stimmung im Dritten Reich auseinanderzusetzen und aus dem wirren Mosaik zirkulierender Meldungen ein schlüssiges Gesamtbild zu erstellen. Viele kritische Diaristen versuchten, jenseits von Zensur und Propaganda aus dem Gehörten die Wahrheit zu destillieren. Im Hinblick auf die von den Geschwistern Scholl im München verteilten Flugblätter hält Ruth Andreas-Friedrich (1986: 104f. [10.3.1943]; vgl. ebd.: 109 [27.3.1943]) in ihrem Tagebuch fest: „Was geht in München vor? In München soll irgend etwas geschehen sein. Etwas Illegales, Rebellisches. Die Studenten hätten sich erhoben, erzählt man. Anschriften stünden an den Mauern: ‚Nieder mit Hitler! Es lebe die Freiheit!‘ Wir horchen herum. Wir brennen, Genaueres zu erfahren. Geht der Sturm weiter? Hat man ihn schon erstickt? [...] Die Wahrheit! Die Wahrheit wollen wir wissen!“ Zur Auseinandersetzung mit Gerüchten um die „Weiße Rose“ vgl. auch das Tagebuch Ursula von Kardorffs (1994: 82 [11.5. 1943]). 450 Auch in den Tagebüchern des regimekritischen Maschinenbauingenieurs Karl Dürkefälden aus der NS-Zeit nimmt der Friseur als zuverlässige Informationsquelle eine wichtige Stellung ein (vgl. z.B. Dürkefälden 1985: 103; 124 [ohne Datum]).

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ab, dient aber gleichzeitig als aufschlussreiche und gewinnbringende Erkenntnismethode (vgl. Faber 2005: 218). Das literaturwissenschaftliche bzw. -historische Verfahren erweist sich als anschlussfähig an die alltagsgeschichtliche Orientierung an den „Leben der Opfer und ‚kleinen Leute‘“ (Wippermann 1989: 108). Die mikrohistorische Exemplifizierung der vox populi sucht Klemperer bei eben diesen ‚kleinen Leuten‘. Er versucht also möglichst viele Quellen anzuzapfen, die berufsbedingt mit Menschen unterschiedlicher Provenienz – aber vor allem mit solchen aus einfachen Verhältnissen – zu tun haben. Als idealtypische Vertreter der Volksmeinung versteht Klemperer somit folgende Personen: „vox populi (Buttermann, Journalmann, Kassenbote der Gasgesellschaft etc. etc.).“ (ebd.: 482 [3.9.1939]) Händler wie der jüdische Fleischgroßhändler Albert Konrad (vgl. ZAII: 385 [29.5.1943]),451 der Dölzschener Kaufmann Vogel (vgl. ZAI: 335 [28.1.1937]) und Lieferanten wie der Milchmann (vgl. ebd.: 228 [9.11. 1935]; vgl. ebd.: 130 [1.8.1934]) sowie auch der Zigarrenhändler, der Krämer, die Putzfrau und der Kohlenträger (vgl. ebd.: 513 [17.3.1940]; LTI: 285) geben dem Tagebuchschreibenden detaillierte Auskünfte über das Gesagte und Geschriebene. Auch Bekannte, darunter der Leihbibliothekar Jordan Natscheff (vgl. ZAI: 403 [10.4.1938]; ebd.: 543 [26.7.1940])452, der Gemeindevorsteher Hirschel (vgl. ZAII: 228 [30.8.1942]; ebd.: 597 [29.9.1944]) und die Englischlehrerin Anna C. Meyer (vgl. ebd.: 319 [27.1.1943]), liefern dem Diaristen aus erster, zweiter oder gar dritter Hand Informationen zur Wahrnehmung der Zeitlage durch die deutsche Bevölkerung. Dank ihnen gelangt er ebenfalls an Berichte aus internationalen Zeitungen und Rundfunksendungen.453 Klemperers volkskundlichen Bestreben zielt darauf ab, an den vereinzelten Stimmen die Dispositionen und Verhalten der Bevölkerung abzuschätzen und sie gesamtgesellschaftlich zu extrapolieren: „Vox populi communis opinio.“ (ZAI: 493 [29.9.1939]) Im Tagebuch wird zu diesem Zweck der sich verflüchtigende Kommunikationskreislauf von Gesprächen, Beschimpfungen und Sympathiebe451 Der ehemalige kaufmännische Leiter einer Schweine-Großschlächterei, Albert Konrad, stellt im Tagebuch eine wichtige Quelle für neue Nachrichten dar. „Konrad, der gut informierte“ (ZAII: 428 [16.9.1943]), wie er von Klemperer bezeichnet wurde, fungierte in der Firma Willy Schlüter als Obmann des jüdischen Teils der Belegschaft und war immer besonders gut über den Handel und Wandel der „Arier“ informiert, weshalb der Diarist oft „Konrad als vox populi“ heranzog (A 138: 1284 [25.12.1944]). Später wurden Konrad und Klemperer von den Firmen Thiemig & Möbius und Bauer verpflichtet. 452 Der Bibliothekar Natscheff, der Klemperer auch nach dem Bibliotheksverbot Bücher lieh und den Diaristen über die letzten Gerüchte informierte, war eine besonders wichtige Informationsquelle und folglich ein wichtiges Element in seiner zu schreibenden Kulturgeschichte der NSZeit: „Der Mann [...] gehört in die Dresdener Kulturgeschichte dieser Jahre und so in mein Curriculum.“ (ZAII: 317 [27.1.1943]) 453 Vgl. beispielsweise die folgenden Tagebuchstellen, in denen der Diarist anhand von Nachrichten aus internationalen Zeitungen und Zeitschriften – wie aus Manchester Guardian, New Review und La Stampa – die Lage in Deutschland zu interpretieren sucht: ZAI: 166 [25.11.1934]; ebd.: 450f. [31.12.1938]; ebd.: 459 [22.1.1939]; ebd.: 510 [13.1.1940]; A 137: 432 [11.2. 1940]. Freunde und Bekannte teilen dem Tagebuchschreibenden regelmäßig den Inhalt illegal gehörter Rundfunksendungen mit. Vgl. hierzu z.B. ZAI: 442 [6.12.1938]; ebd.: 697 [22.12.1941]; ZAII: 266 [29.10.1942]; ebd.: 547 [19.7.1944]; ebd.: 558f. [8.8.1944].

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zeugungen, deren mündlichem Charakter schriftlich Dauerhaftigkeit verliehen wird, möglichst wortgetreu festgehalten. Die nahezu protokollartige Überführung von Dialogen und Gesprächsfetzen gibt der Diarist in extenso wieder. Die versuchsweise Annäherung an das geltende Werte- und Normensystem der „gewöhnlichen“ Deutschen sollte es ihm nicht nur ermöglichen, eine alltagsorientierte „Kulturgeschichte des Krieges“ zu verfassen (A 138: 1128 [24.7. 1944]): Der Rahmen seiner Aufzeichnungen war viel breiter gesteckt. Der Diarist machte es sich zur Aufgabe, mehr als das Kriegsgeschehen zu kommentieren, nämlich eine Kulturgeschichte der NS-Herrschaft zu schreiben (vgl. ZAII: 12 [17.1.1942]). Die Auswahl der thematischen Schwerpunktsetzungen richtet sich im Folgenden nach wesentlichen Aspekten des nationalsozialistischen Regimes, die Klemperer im Hinblick auf die Volksmeinung ausloten wollte. Seine Darstellung und Interpretation der Volksstimmung geben Aufschluss über Bereiche des Alltagslebens und des Wertesystems, über Konsens und Dissens innerhalb der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich. Diese Aussagen werden stets in Beziehung zur subjektiven Geschichte des Diaristen gesetzt. Klemperer geht in seinen vox populiBeobachtungen der weit gefassten Frage nach der Mentalität der deutschen Zivilbevölkerung nach. Innerhalb einer gruppenspezifischen „Mentalität“ kommt den „Einstellungen“ eine besondere Bedeutung zu, weil sie in bedeutendem Maße das Verhältnis des Menschen zur Welt bestimmen. „Einstellungen“ umfassen Meinungen, Werturteile, Vorurteile, Klischees, die zur Präferenz für eine bestimmte Handlungsdisposition führen (vgl. Spekat 2003: 49). Um gezielt den Blick auf die komplexe Problematik der „Volksmentalität“454 in der Hitler-Zeit zu lenken, soll zunächst untersucht werden, wie sich in Victor Klemperers Tagebüchern die Auseinandersetzung mit den politischen, ideologischen, sozialen und moralischen Einstellungsmustern von drei – eng miteinander verbundenen – Themenkreisen gestaltet: Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust. 3.2.2.4 Vox populi und Nationalsozialismus: Angst, Rausch und Normalität Trotz des höchst persönlichen Zugangs zum Zeitgeschehen wird der Nationalsozialismus als System und Ideologie in den Tagebüchern nicht ausgeblendet, sondern steht sogar im Mittelpunkt von Klemperers Aufzeichnungen. Der Diarist entdeckte in den eigenen Erlebnissen im Dritten Reich die typische Signatur der 454 Hierbei soll allerdings einer essenzialisierenden Sichtweise auf nationale Eigenheiten vorgebeugt werden. Eine differenzierte Herangehensweise an die Frage der nationalen Eigenheit der Deutschen stellt Norbert Elias’ Prozesssoziologie dar. In seiner soziologischen Arbeit Studien über die Deutschen zielt Elias (1989) darauf, den nationalen Habitus der Deutschen herauszuarbeiten, der einen Erklärungsansatz für den Zivilisationsbruch durch den Holocaust liefern kann. Zu diesem Zweck setzt er die Entwicklungen im nationalen Habitus mit dem langfristigen deutschen Staatsbildungsprozess in Verbindung (vgl. ebd.: 7ff.). Im besonders lesenswerten und informativen Kapitel „Der Zusammenbruch der Geschichte“ untersucht der Autor die Wurzeln der deutschen Autoritätshörigkeit im Dritten Reich (vgl. ebd.: 391-516).

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Zeit. Aus diesem Grund war ihm nicht (nur) daran gelegen, eine Chronik der politischen Großereignisse verfassen: Im Vordergrund stand das Festhalten seiner täglichen bzw. alltäglichen Erfahrungen (vgl. z.B. ZAI: 434 [25.11.1938]).455 Brüche und Kontinuitäten sind demnach nicht an historischen Eckdaten verankert, sondern werden in den Tagebuchaufzeichnungen aus der Perspektive des Einzelnen zum Sprechen gebracht. Um dieses kakophonische Sprechen zu speichern und zu interpretieren, sammelt Klemperer unaufhörlich Meinungen und Standpunkte zum Regime, er setzt sich zur Aufgabe, den fragmentierten sozialen Diskurs zu rekonstruieren, und versucht, Zusammenhänge zu interpretieren und Kausalbeziehungen herzustellen (vgl. Faber 2005: 202). Sämtliche Befunde dokumentiert er schriftlich in extenso. In den Jahren 1933 und 1934 – in der ständigen Hoffnung, das HitlerRegime würde entweder gestürzt oder bald in sich zusammenbrechen – beschäftigte sich der Diarist vor allem mit der Frage, ob man an der schwankenden Volksstimmung die Stabilisierung oder aber den Zerfall der Diktatur ablesen könne. In dieser Frühphase richtete der Diarist weniger den Blick auf Bekundungen antisemitischer Art, sondern bemühte sich primär um die Einschätzung der „Popularität“ Hitlers.456 In diesen ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft, so geht aus den Tagebüchern hervor, hofft er, von den Reaktionen der Bevölkerung die innerliche Ablehnung gegenüber dem Hitler-Regime ablesen zu können.457 Das Ausbleiben einer organisierten Auflehnung wirft ihn indes auf die vorherrschende Terror-Angstpsychose zurück, die das Volk fest in ihrem Griff hält. Diese Argumentationslogik ließe sich an vielen Beispielen zeigen. Zum Beleg sollen 455 Klemperer hält daran fest, so heißt es ähnlich an anderer Stelle, „die jämmerlichste Alltagsmisere in seine Memoiren“ zu schreiben (ZAI: 343 [15.4.1937]). 456 Unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 beobachtete Klemperer immer öfter die breite ideologische Unterstützung für das Hitler-Regime (vgl. ebd.: 21 [10.4.1933]), ohne sie anfangs für Ernst zu nehmen. Die Anhängerschaft Hitlers seien seiner Meinung nach bloß „hysterische Weiber und Kleinbürger.“ (ebd.: 122 [14.7.1934]) In Anmerkungen zu Hitler betont Sebastian Haffner (2001: 57-86), dass Hitler von 1930 bis 1941 eine erstaunliche Reihe innen- sowie auch außenpolitischer Erfolge errungen hatte, die den Totalitarismus weiter legitimierten. Diese Erfolge führten zu einer weitgehenden Zustimmungsbereitschaft breiter Teile der Bevölkerung. In einer Studie über die nationale Namensmode für Neugeborene im Dritten Reich weist Oliver Lorenz (2006) nach, dass gerade in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft der Name „Adolf“ auf dem Höhepunkt seiner Popularität war. Auch die Namen „Horst“ (nach Horst Wessel) und „Hermann“ (nach Hermann Göring) waren in dieser Phase äußerst beliebt. Hieraus leitet Lorenz die anfängliche Euphorie im Hinblick auf die Machtübernahme ab, die aber mit Kriegsbeginn kontinuierlich abnahm. 457 Der Diarist glaubt in der Frühphase des Regimes – trotz der weitaus umfangreicheren Gegenindizien – vielerlei Anzeichen für die Instabilität und geringe Akzeptanz der Diktatur seitens der Bevölkerung bemerken zu können, wie er beispielsweise in der folgenden Notiz zum Ausdruck bringt: „‚Trauertag für die Gefallenen der NSDAP. Die Partei und die öffentlichen Gebäude flaggen Halbmast. Die Bevölkerung wird aufgefordert ebenso zu flaggen.‘ Ich sehe mit Freuden, daß in unserer Nachbarschaft reichlich die Hälfte der Häuser ohne Flaggen geblieben ist.“ (ZAI: 162 [9.11.1934]) Für weitere Tagebuchstellen aus den Jahren 1933 und 1934, in denen Klemperer im nichtjüdischen Umfeld den inneren Widerstand gegen den Nationalsozialismus registriert, vgl. ebd.: 7 [21.2.1933]; ebd.: 57 [19.9.1933]; ebd.: 114 [13.6.1934]; ebd.: 132 [2.8.1934]; ebd.: 161 [4.11.1934]; ebd.: 168 [16.12.1934].

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nur einige aufschlussreiche Passagen herangezogen werden, die Klemperers Orientierungslosigkeit angesichts der Erstmaligkeitserscheinungen der totalitären Herrschaft veranschaulichen. Die Möglichkeit eines festen ideologischen Rückhalts in der Bevölkerung entzieht sich Klemperers Verständnis: Ich kann und kann nicht glauben, daß die Stimmung der Massen wirklich noch Hitler stützt. Zu viele Anzeichen dagegen. Aber alles, buchstäblich alles erstirbt in Angst. Kein Brief mehr, kein Telefongespräch, kein Wort auf der Straße ist sicher. Jeder fürchtet im andern Verräter und Spitzel. (ZAI: 50f. [19.8.1933])

Gut ein halbes Jahr später notiert der Diarist unter Bezugnahme auf die Meinung „anständiger“, nichtjüdischer Bekannter zuversichtlich, dass die Diktatur innerhalb kurzer Zeit fallen müsse: Am Sonnabend waren wir zum Abendbrot bei den ‚anständigen‘ Köhlers in der Waltherstraße. Es tut wohl, wie diese ganz ‚arischen‘ Leute aus ganz andern Gesellschaftskreisen [...] an ihrem leidenschaftlichen Haß gegen das Regime festhalten und an ihrem Glauben, es müsse in absehbarer Zeit stürzen. (ebd.: 85 [7.2.1934])

Im Hinblick auf eine Rede aus dem Jahre 1934 meinte Klemperer, so heißt es in einer weiteren Passage, in Hitlers Wortgebrauch und Rhetorik die verzweifelte Hoffnungslosigkeit eines Besiegten hören zu können: „Heute las ich die ganze Rede im ‚Freiheitskampf‘. Ich habe fast ein menschliches Mitleid mit Hitler. Der Mann ist verloren und fühlt es; zum erstenmal redet er ohne Hoffnung.“ (ebd.: 122 [14.7.1934])458 Ab 1935, nach Klemperers Zwangsentlassung (vgl. ebd.: 195 [2.5.1935]) und nachdem sich die Saar-Abstimmung als ein großer Sieg für die NSDAP herausgestellt hatte (vgl. ebd.: 177 [15.1.1935]), ging dem Diaristen allmählich auf, dass das Regime viel fester im Sattel saß, als er angenommen hatte. Die Mehrheit der Bevölkerung schien sich mit dem politischen Status quo zufrieden zu geben. Mit dieser Systemstabilisierung änderten sich Klemperers Blickwinkel und Erwartungsmuster erheblich (vgl. Heer 1997: 124f.). Er bezeichnete die – demokratisch gewählte – Diktatur nicht mehr als einen verzeihlichen faux pas, als ein vorübergehendes Phänomen, das sich bald wieder von selbst auflösen und rektifizieren würde. Die Hoffnung auf ein baldiges Zusammenbrechen des Regimes wurde angesichts der Gleichgültigkeit, der politischen Billigung bzw. der abgeklärten Kosten-Nutzen-Analyse der Bevölkerung bis auf Weiteres aufgegeben: Schon vorher hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, daß viele sonst wohlmeinende Menschen abgestumpft gegen inneres Unrecht und speziell das Judenunglück nicht recht erfassend, sich neuerdings halbwegs mit Hitler zufriedengeben. Ihr Urteil:

458 Klemperer versuchte, durch Vergleiche und Deutungen der offiziellen Medien die Zeitlage möglichst genau einzuschätzen. Der Plausibilität seiner Befunde ging der Diarist mittels der Erörterung der Stimmung in seinem Umfeld nach: „Ich lese nur die Zeitungsdepeschen und Hetzanschläge und -verse auf den Straßen. Aber ich frage jeden Besucher und jeden, den ich treffe, nach seiner Meinung, seinen Neuigkeiten. Alle schwanken oder haben gegenteilige Meinung.“ (ebd.: 215 [16.9.1935])

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Wenn er um den Preis innerpolitischen Rückschritts die äußere Macht Deutschlands wiederherstellt, so verlohnt sich dieser Preis. (ZAI: 206f. [20.6.1935])459

Zwischen den Jahren 1935 und 1938 sieht sich Klemperer noch relativ selten mit öffentlichem Antisemitismus konfrontiert. Vielmehr zieht er das Mitläufertum „kleine[r] Würdenträger des dritten Reiches“ in den Blick (ebd.: 333 [24.1. 1937]), die seiner Meinung einen modus vivendi als Mitläufer finden müssen, um ihren Beruf ohne Schikanen weiter ausüben und ihr Privatleben schützen zu können. Ein Beispiel für diesen „harmlosen“, „unpolitischen“ Opportunismus stellen die befreundeten Scherners dar, die in Falkenstein im Vogtland eine Apotheke betreiben: „Sie [=die Scherners, A.S.] sind keine Nazis, sie hängen mit Liebe an uns [=Victor und Eva Klemperer, A.S.], aber das Bild des Führers hängt in der Apotheke, und die Politik scheint ihnen ganz gleichgültig. Sie vegetieren bourgeoishaft und sind alles in allem zufriedene alte dicke gute Leute.“ (ebd.: 371 [6.8.1937])460 Zum Opportunismus gesellt sich, so Klemperer, der „Antibolschewismus“ als wichtigstes Erklärungsmuster für die – zuweilen zwiespältige – Unterstützung der NS-Diktatur. Vor diesem Hintergrund lässt der Diarist Freunde aus Dölzschen zu Wort kommen, die berichteten, was man überall hört, von absoluter Unzufriedenheit in allen Kreisen, auch im Dorf. Interessant war mir und charakteristisch für den Kleinbürger die Angst vor Rußland. Bolschewismus halten sie – vielleicht mit Recht – für das noch größere Übel. Die Judenhetze durchschauen sie und mögen sie nicht, aber sie nehmen alles in den Kauf aus Angst vor Rußland. (ebd.: 303 [5.9.1936]; vgl. ebd.: 249 [6.3.1936]; ebd.: 512 [17.3.1940])

Das Jahr 1938 brachte die Verhärtung des innenpolitischen Regierungsmodus mit sich und bedeutete auch auf persönlicher Ebene – aufgrund der rasanten Aufeinanderfolge antijüdischer Gesetze – eine Zäsur in Klemperers Aufzeichnungen aus der NS-Zeit. Dem Tagebuchschreiber kam immer mehr – obschon nur halbherzig – die Idee der Emigration in den Sinn. Im Verlauf des Jahres wurde die Lage immer hoffnungsloser für Klemperer, bis eine Auswanderung prinzipiell unmöglich erschien.461 Der Anschluss Österreichs bedeutete eine weitere Verfesti459 Die Überzeugung von einem raschen Systemzusammenbruch tritt Mitte der 1930er Jahre in den Hintergrund: „[S]o recht an das wirklich nahende Ende glaube ich nicht mehr; es ist niemand da, der sich wirklich auflehnt, weder im In- noch im Ausland. Und alle Karten fallen zugunsten dieser Regierung.“ (ebd.: 320 [30.10.1936]) Weitere Beispiele, in denen Klemperer die breite – passive oder aktive – Unterstützung des NS-Regimes kommentiert, findet der Leser an folgenden Stellen: ebd.: 251 [23.3.1936]; ebd.: 264 [16.5.1936]; ebd.: 319f. [18.10.1936]; ebd.: 378 [12.9.1937]; ebd.: 497 [18.10.1939]. 460 Nach der Flucht aus Dresden wurden Victor und Eva Klemperer im März 1945 bei Hans Scherner, trotz eigener Ängste, freundlich aufgenommen. Sie konnten sich bei ihm einige Tage erholen, obschon der Mann Mitglied der NSDAP war: „Scherner selbst trägt den Parteiknopf und im Privatkontor hängt das Hitlerbild.“ (ZAII: 696 [8.3.1945]) 461 Das Jahr 1938 stellt für den Diaristen in puncto Judenfeindlichkeit das schlimmste Jahr überhaupt in der Vorkriegszeit dar. Vor allem die Pogrome vom November 1938 stürzten die deutsch-jüdische Gemeinschaft in Verzweiflung: „Seit der Grünspan-Affäre das Inferno.“ (ZAI: 449 [31.12.1938]) Im Folgenden in Kürze die wichtigsten vom Diaristen 1938 verzeichneten

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gung der Legitimität Adolf Hitlers, die dem Diaristen zufolge die Kompatibilität von „Hitlers Gesinnung“ und dem deutschen „Volksgeist“ zum Ausdruck brachte: „Wie tief verwurzelt Hitlers Gesinnung im deutschen Volk, wie gut war seine Arierdoktrin vorbereitet.“ (ebd.: 401 [5.4.1938]) Klemperer registriert vor diesem Hintergrund in Deutschland nicht Unmut, stattdessen „Vergnüglichkeit, Sattessen, vollkommene Ruhe“ (ebd.: 422 [2.9.1938]; vgl. ebd.: 417 [27.7.1938]). In den Jahren 1939 bis 1941, als die deutschen militärischen Siege dicht aufeinander folgten, registrierte der Tagebuchschreibende auf Seiten der Zivilbevölkerung das weitgehende innerliche Einverständnis mit dem Regime (vgl. z.B. ebd.: 468 [9.4.1939]), das Interesse am Schicksal der Juden erschien geradezu gänzlich in den Hintergrund gedrängt. Zum Angriff auf Polen vom 1. September 1939 notiert der Tagebuchschreiber: „[D]er ungeheure Sieg läßt alle inneren Unzufriedenheiten zurücktreten; Deutschland regiert die Welt – was kommt es da auf ein paar Schönheitsfehler an.“ (ebd.: 493 [29.9.1939])462 Aus Klemperers Aufzeichnungen geht hervor, dass die Deutschen dem Ausbruch des Krieges mehrheitlich voll Zuversicht gegenüberstanden und ihn gut hießen (vgl. ebd.: 475 [4.7.1939]; ebd.: 482f. [3.9.1939]; ebd.: 491 [20.9.1939]; ebd.: 525 [16.5. 1940]). Auch die Invasion der Sowjetunion im Sommer 1941 fand breite Unterstützung in der Bevölkerung (vgl. ebd.: 595 [24.5.1941]; ebd.: 601 [22.6.1941]). In den nächsten Jahren – von 1942 bis 1945 – traten die Reflexionen über die ideologische Zustimmung zur NS-Ideologie weitgehend in den Hintergrund und machten a contrario stufenweise der Auseinandersetzung mit der deutschjüdischen Identität, dem Akzeptanzgrad des Antisemitismus und den Informationen über den Holocaust Platz. Klemperer bezieht sich für diese Informationen auf „Gerücht[e] oder Mundfunk“ (ZAII: 70 [19.4.1942]), um die Mentalitäten und die ihnen zugehörigen sozialen Akteure selbst zum Sprechen zu bringen. Auf der Basis der „Gerüchte im Volk“ (ZAI: 509 [13.1.1940]) sucht er die soziale und politische Lage seiner Gegenwart möglichst akkurat einzuschätzen. In diesem Zusammenhang ist für ihn auch der Einfluss der Propagandamedien auf die Volksmeinung von Interesse

antisemitischen Gesetze: die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens (vgl. ebd.: 418 [10.8.1938]); die Einführung des Gesetzes zur Änderung von Familien- und Vornamen (vgl. ebd.: 419 [24.8.1938]); das Verbot, Theater und Kinos zu besuchen (vgl. ebd.: 441 [6.12.1938]); die Verordnung über eine Sühneleistung (vgl. ebd.: 438 [2.12.1938]); die „zeitliche und örtliche Beschränkung im Straßenverkehr“ (vgl. ebd.: 438 [3.12.1938]); die Entziehung des Führerscheins und der Zulassungspapiere (vgl. ebd.: 442 [6.12.1938]). 462 Klemperer registrierte, dass der politische Konsens der deutschen Bevölkerung in materieller Hinsicht vorrangig situationsbedingt war und weniger auf bewusst gewählten ideologischen Auffassungen gründete: „Zwei satte Tage machen das Volk vergessen, was an Not hinter ihm und was an Not vor ihm liegt.“ (ZAII: 189 [29.7.1942]) Als ihm Rößler, einer der Fabrikarbeiter, im Jahre 1943 sagte, es gehe seiner Familie ganz gut und sie hätten mehr als genug zu essen, wurde dies im Hinblick auf die ganze Arbeiterklasse bestätigt: „Bergmann, der Apotheker, hatte zugehört. Nachher sagte er mir: ‚Denen geht es gut. Und den Arbeitern auch. Die haben so reichlich zu essen und mehr Geld als je. Die machen keine Revolution, denen liegt nichts am Kriegsende.“ (ebd.: 387 [1.6.1943])

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(vgl. z.B. ZAII: 388 [5.6.1943]).463 Klemperers beachtliches Korpus von Primärund Sekundärzitaten zeigt einen polyphonen und disparaten Querschnitt durch die Epoche des Nationalsozialismus, archiviert als gespeicherte Vielfalt an Stimmen, die er in LTI als kohärent angeordnete Themenblöcke bzw. Kapitel arrangiert: So stellen beispielsweise Kapitel 18 „Ich glaube an ihn“ (LTI: 134-154), Kapitel 21 „Die deutsche Wurzel“ (ebd.: 167-182) und Kapitel 26 „Der jüdische Krieg“ (ebd.: 220-232) eine kritische Auseinandersetzung mit der religiösen, romantischen bzw. antisemitischen Grundlage des Nationalsozialismus dar. Die Einstellungen zum Regime waren, wie Klemperers Tagebuchaufzeichnungen durchgehend belegen, keinesfalls in ein bequemes „Dafür“ oder „Dagegen“ zu teilen. Zwang und Konsens schlossen sich im Dritten Reich nicht gegenseitig aus: Systemkritik und Interessenanpassung konnten bruchlos mit der Aufhebung bürgerlicher Freiheiten, der Schändung der Souveränität anderer Staaten, der Manipulation der Medien korrespondieren, und umgekehrt ging die Kooperation mit dem NS-Apparat nicht selten auch mit Reibung und Disharmonie einher. Es war also durchaus möglich, als nicht-antisemitische, nicht-nationalsozialistisch orientierte Person – aus Angst und/oder beruflichem bzw. finanziellem Opportunismus – Mitglied der NSDAP zu sein und sich am Holocaust zu beteiligen. Die Bandbreite der Handlungs- und Verhaltensformen im Dritten Reich war damit äußerst vielfältig: ideologische Zustimmung, angstvolles Mitmachen, opportunistische Ausnutzung über notgedrungene Anpassung und widerwilliges Hinnehmen bis hin zur Distanzierung und – viel seltener – zum Widerstand machten die Reichweite der Einstellungen aus, wobei allerdings die Mischformen überwogen.464 Darüber hinaus konnten sich je nach Zeitlage die Auffassungen und das Verhalten von einzelnen Personen höchst unterschiedlich gestalten (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 17f.).465 Eine eindeutige Festlegung oder Beschreibung der Volksstimmung erweist sich daher als besonders schwierig. 463 Die NS-Propagandamedien beeinflussten keineswegs nur die „arische“ Bevölkerung, sondern – zweitrangig – auch die Juden, wie Klemperer voller Ablehnung am Beispiel des „privilegierten“ jüdischen Zwangsarbeiters Fritz Glaser darlegt: „Von Glaser fühlte ich mich trotz freundlicher Aufnahme u. Bewirtung abgestoßen. Dieser Glaube an die Wahrhaftigkeit der deutschen Presse, an die Unbesiegtheit u. Unbesiegbarkeit des nat.soc. Deutschlands geht mir auf den Magen.“ (A 138: 1073 [12.5.1944]) 464 In der Phase der festen Etablierung der NS-Herrschaft, als Hitler einen außenpolitischen Erfolg nach dem anderen verbuchte, vertrat der Diarist die Meinung, „daß die NSDAP die Volksstimmung ganz richtig bewertet hat.“ (ZAI: 308 [27.9.1936]) Diese ernüchternde Feststellung läuft zuweilen auf eine Unterminierung von Klemperers Überzeugung hinaus, Hitler und das deutsche Volk könnten unmöglich auf derselben Wellenlänge liegen: „Und ich bin immer überzeugter, daß Hitler wahrhaftig der Sprecher so ziemlich aller Deutschen ist.“ (ebd.: 379 [29.9.1937]) 465 Frank Bajohr und Dieter Pohl (2006: 65ff.) sowie Götz Aly (1995: 373) heben vor diesem Hintergrund hervor, dass nach der Niederlage von Stalingrad im Frühjahr 1943 und den darauffolgenden britischen Luftangriffen auf deutsche Städte der „antijüdische Konsens“ der Bevölkerung brüchig und stufenweise durch schlechtes Gewissen, Angst vor Repressalien der Alliierten und gelegentlich auch Widerstand im Hinblick auf die Massenmorde ersetzt wurde. Auch Regimebefürworter gaben beizeiten kleinlaut zu, dass die Lage in Stalingrad immer dra-

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Die gattungstypische, zeitnahe Kookkurenz von Erfahrung und Schreibakt erhellt das unbeständige Spiel von Information, Gerücht und Wahrheit, wie Klemperer beispielsweise im folgenden Notat vor Augen führt: „Ich glaube umschichtig (sechsmal am Tag wechselnd), Deutschland müsse in den nächsten Wochen zusammenbrechen, und Deutschland werde sich halten.“ (ZAII: 588 [20.9. 1944])466 Sein Fazit im Hinblick auf die ideologische Involviertheit der deutschen Bevölkerung fällt im Jahre 1942 noch bemerkenswert milde aus: „[A]uf einen [...] Gläubigen kommen doch wohl fünfzig Ungläubige.“ (ebd.: 39 [6.3.1942]); deshalb kann er über lange Zeit hinweg am Antagonismus von „Nationalsozialismus“ und „Deutschtum“ festhalten (vgl. ebd.: 147 [28.6.1942]). Nach 1942 fokussiert der Diarist immer mehr auf die Stellung der staatlich verordneten Judenfeindschaft in der „vox populi“. 3.2.2.5 Vox populi und Antisemitismus: 3.2.2.5 „Anständigkeit“ und der antijüdische Konsens Klemperer sucht auszuloten, in welchem Maße die Bevölkerung die Doktrin des Antisemitismus übernommen hat und inwieweit das Verhalten der Deutschen von Angst oder äußere NS bestimmt wird. Hinsichtlich des Stellenwerts des Antisemitismus in der NS-Ideologie vertritt Klemperer die Ansicht, dass die „Judenfrage [...] A und O“ des Nationalsozialismus sei (ebd.: 385 [29.5.1943]).467 Der Diarist schwankt in diesem Zusammenhang zwischen der Feststellung einer einheitlichen (judenfeindlichen) vox populi und der differenzierenden Ansicht einer Vielzahl an voces populi. So heißt es beispielsweise in einem Eintrag aus dem Jahr 1943: Voces populi: Auf dem Weg zu Katz, ein älterer Mann im Vorbeigehen: ‚Judas!‘ Auf dem Korridor der Krankenkasse. Ich pendle als einziger Sternträger vor einer besetzten Bank auf und ab. Ich höre einen Arbeiter sprechen: ‚Eine Spritze sollte man ihnen geben. Dann wären sie weg!‘ Meint er mich? Die Besternten? Ein paar Minuten später wird der Mann aufgerufen [...]. Ich setze mich auf seinen Platz. Eine ältere Frau neben mir: ‚Das war gemeene! Vielleicht geht es ihm mal so, wie er’s Ihnen wünscht. Man kann nichts wissen, Gott wird richten!‘ (ebd.: 483f. [7.2.1944]) matischer würde (vgl. ZAII: 15 [29.1.1942]; ebd.: 283 [26.11.1942]; ebd.: 283 [28.11.1942]; ebd.: 318 [27.1.1943]). 466 Die Voraussagen zum herannahenden Regimezusammenbruch gestalteten sich stellenweise gebetsmühlenartigen, an sich selbst adressierten Durchhalteparolen ähnlich. Der Tagebuchautor verfocht beispielsweise bereits im Jahre 1943 „strikte die Meinung, daß das Regime am Niederbrechen sei – so strikte, daß ich mir’s fast selber einredete. Aber im Innersten bin ich doch recht hoffnungslos.“ (ebd.: 303 [1.1.1943]) 467 Dass man der NS-Ideologie nicht ohne eine tiefgreifende Analyse des Antisemitismus, in deren Mitte er lokalisiert war, beikommen kann, betonte Klemperer auch nach 1945: Der Antisemitismus habe, so der Philologe in LTI, „das entscheidende Moment des gesamten Nazismus gebildet,“ er sei „politisch sein engstirniger Grundgedanke.“ (LTI: 171) Dem Diaristen zufolge stellt der Antisemitismus einen der Hauptunterschiede zwischen Faschismus und Nationalsozialismus dar: „Fascismus [sic] kennt nicht den blutmäßigen Haß:/:Judentum. Denn Rom setzt den Staatsbegriff primo loco, nicht das Blut.“ (A 138: 677 [29.8.1942])

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An solchen alltäglichen Erfahrungen versucht Klemperer die allgemeine Stimmung der deutschen Bevölkerung abzulesen, die sich in den Tagebucheintragungen als äußerst heterogen erweist. Das Hauptaugenmerk von Klemperers Einträgen galt den handlungsleitenden Normen und Werten, dem Wissensstand der NS-Epoche sowie den Denk- und Gefühlsstrukturen der Deutschen, wobei er nicht auf eine undifferenzierte Pauschalverurteilung der deutschen Zivilbevölkerung abzielte (vgl. Ossar 2003: 665).468 Der Tagebuchautor ringt in diesem Zusammenhang um eine möglichst präzise Beurteilung der „faits nouveaux“ (ZAII: 212 [19.8.1942]) – jedes Zeichen der Anerkennung, jeder Ausdruck der Hilfsbereitschaft und jede Bekundung der Ablehnung der Judenverfolgung – jede Art von Äußerungen, die seiner Meinung nach im klaren Gegensatz zur staatlichen Judenfeindlichkeit standen. Recht häufig werden dem mit dem Judenstern gekennzeichneten Romanisten solche Sympathiebeweise in Kaufläden zuteil, wie beispielsweise in der nachfolgenden Szene aus dem Jahre 1943:469 Die Inhaberin, als die Reihe an mir: ‚Sauerkraut leider nur auf Kundenkarte; Streichhölzer – nein, Salz – nein.‘ [...] Die Frau mitleidig, zögernd: Einen Rotkohl könnte ich allenfalls haben. Wiegt ihn aus [...], holt auch noch eine Tüte Salz (großes Entgegenkommen!). ‚75 Pf.‘ Wie ich die Brieftasche ziehe, sagt die Oma neben mir: ‚Lassen Sie – ich zahle das für Sie.‘ Mir wurde wirklich heiß. Ich dankte ihr und reichte den Markschein über den Tisch. Sie: ‚Aber lassen Sie mich doch zahlen.‘ Ich: ‚Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, ich danke Ihnen herzlich – aber es geht ja nicht ums Geld, nur um die Karte.‘ Jetzt die Inhaberin: ‚Kommen Sie doch mal gegen Abend, da gebe ich Ihnen mehr. Bei Tage – ich beliefere hier SA, ich muß vorsichtig sein. – Ich, es sei mir nur von drei bis vier erlaubt. – Sie: Sie nähme es nicht so genau. Ich: ‚Sie nicht – aber wenn es ein anderer sieht und anzeigt, kostet es mich das Leben.‘ Die Inhaberin: ‚Dann kommen Sie in Ihrer Zeit vorbei – ich werde Ihnen ein Zeichen geben, wenn die Luft rein ist.‘ Ich ging beinahe erschüttert fort. (ebd.: 331f. [18.2.1943]; vgl. ZAI: 677 [4.10.1941])

Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit von den aufgezeichneten – positiven – Befunden auf die grundlegende Mentalität der NS-Epoche hochgerechnet werden kann. Jenseits von ehrlicher Zuvorkommenheit, Gefälligkeit und Freundlichkeit ziehen Nichtjuden gelegentlich Klemperer als idealen Ansprechpartner heran, um risikolos ihren kriegsbedingten Problemen Luft zu machen und Kritik 468 Klemperer gibt sich gelegentlich sogar verständnisvoll der deutschen Zivilbevölkerung gegenüber, weil ihnen der Tatbestand des Holocaust vom Regime verheimlicht werden sollte: „Gegen die Juden wird maßlos gehetzt – aber die schlimmsten Maßnahmen gegen sie werden vor den Ariern verheimlicht. Selbst nahestehende Leute kennen weder die kleinen Schikanen noch die grausigen Morde.“ (ZAII: 324 [30.1.1943]) Zu den „nahestehende[n] Leute[n]“ gehörte auch Annemarie Köhler, die nach Klemperers Angaben offensichtlich nichts von dem Ausmaß der antijüdischen Entrechtungen, den Vorschriften und Plünderungen wusste (vgl. ebd.: 103 [20.5.1942]). 469 Das Ausmaß des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung ist ein ständiges Thema in der Gruppe der jüdischen Zwangsarbeiter, zu denen auch Klemperer gehörte. Der Diarist vertrat – oft im Gegensatz zu seinen Leidensgenossen – immer die Meinung, die Deutschen seien nicht einheitlich antisemitisch. Für einige aufschlussreiche Textstellen vgl. ebd.: 379 [20.5.1943]; ebd.: 387 [4.6.1943]; ebd.: 441 [7.10.1943].

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an der NS-Herrschaft von sich zu geben, wie der Diarist im folgenden Abschnitt in einer Szene aus der Straßenbahn schildert: Unterwegs auf dem Vorderperron der 5, als es gegen Zschertnitz hin leer wird, der Fahrer, Mann in den Vierzigern mit Kriegsorden: ‚Führt uns herrlichen Zeiten entgegen, nicht wahr? – Es bleibt nicht so – noch zwei Jahre, höchstens noch vier –, es kommt anders... Ganz gut, Ihr Zeichen, da weiß man, wen man vor sich hat, da kann man sich mal aussprechen!‘ Dann stieg ein neuer Fahrgast auf, und der Fahrer war still. (ebd.: 673 [25.9.1941])

Die für Klemperer tief erniedrigende Stigmatisierung durch den Davidstern wird vom Tramfahrer ins Positive verkehrt, was aber dessen grundlegenden Mangel an Einfühlungsvermögen für die Notlage der jüdischen Bevölkerung zum Ausdruck bringt. Der Preis, den Klemperer für dieses Gespräch, wie auch für andere, als „peinlich“ empfundene regimekritische Stellungnahmen mancher Deutschen bezahlt (vgl. LTI: 113), bemisst sich darin, dass der Philologe als Verfolgter zur reinen Projektionsfläche der Lebenswelt der „arischen Volksgenossen“ wird: Das Leiden der Gekennzeichneten wird verneint und ignoriert. Im Jahre 1940, sieben Jahre nach der Boykott-Aktion, fünf Jahre nach der Einführung der Nürnberger Rassengesetze, zwei Jahre nach der Reichspogromnacht, ein Jahr nach der offenen Vernichtungsandrohung in Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 trifft Klemperer einen auf den ersten Blick freundlich scheinenden Beamten des Ruhegeldamtes, dem der Diarist seine schmerzliche Lage – Zwangsenteignung, Verhaftung, Zwangspensionierung, Verbot, das Weichbild der Stadt zu verlassen – geschildert hatte, ist dieselbe Blindheit vor der Verfolgtenperspektive zu beobachten: Daß man mein Haus genommen, daß ich Dresden nicht verlassen kann, daß ich verhaftet war usw. usw. – All das wußte er nicht. ‚Ich dachte, Sie als Frontsoldat ... Können Sie nicht an einem andern Ort wohnen, wo Sie besser vergessen können? ... Können Sie Ihre Pension nicht im Ausland erhalten?‘ Er war ehrlich entsetzt. Dabei nationalsozialistisch geeicht: ‚Daß es Sie so trifft! Aber Sie müssen doch zugeben, daß uns der Jude ungeheuer geschadet hat ... wir hatten Ihre Steuer erst falsch berechnet, wir wußten nicht, daß Sie Jude – entschuldigen Sie – sind.‘ [...] ‚Aber das wird ja jetzt anders – Sie können doch unmöglich an unserm Sieg zweifeln‘. Ich deutete leisen Zweifel an, auch das wirkte offenbar erschütternd und war sehr unvorsichtig von mir. (ZAI: 554 [27.9.1940])470 470 Dass nationalsozialistische Denkmuster auch von Menschen übernommen wurden, die auf den ersten Blick nicht antisemitisch gesinnt waren, erschien Klemperer besonders tragisch. Die Tatsache, dass der Massenmord im Dritten Reich juristisch festgelegt worden war, vermittelte den Eindruck, dass der Rechtsstaat nicht aufgehoben war und man demensprechend nicht „ohne Grund“ tötete: „Gegen die Juden wird maßlos gehetzt – aber die schlimmsten Maßnahmen gegen sie werden vor den Ariern verheimlicht. Selbst nahestehende Leute kennen weder die kleinen Schikanen noch die grausigen Morde. [...] Frau Eger sagte neulich: ‚Das ist das Schrecklichste für mich, daß die Leute immer sagen: ‚Etwas muß doch Ihr Mann gemacht haben, man tötet doch niemanden ohne Grund!‘‘. (Ich kenne etwas noch Schrecklicheres, daß nämlich in solchem Fall auch Juden sagen: ‚Etwas wird er sicher getan haben, den Stern verdeckt oder nach acht auf der Straße gewesen‘.)“ (ebd.: 324 [30.1.1943])

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Slavoj Žižek (2005: 243) legt vor diesem Hintergrund nahe, dass der Diarist, der letztlich das eigentliche Opfer des Regimes ist, sich – gegen die Alliierten – mit dem Überleben eben dieses Systems identifizieren hätte sollen, dessen Ziel seine Auslöschung war.471 Der Tagebuchautor wird auf diese Weise in jenes Projekt mit einbezogen, das für die Vernichtung der Juden verantwortlich ist.472 Taktgefühl, systemkritischer Zuspruch und Höflichkeit können – wie in den beiden obigen Textpassagen zum Tragen kommt – stets auch ein Schutzschild sein, hinter dem sich eine eiskalte Ablehnung des Anderen, in casu „des Juden“, verberge.473 Im Gegensatz zu dieser oberflächlichen, zwiespältigen Freundlichkeit zeichnet der Diarist auch Bezeugungen selbstloser Sympathie und Solidarisierung mit Juden auf, die nach der Einführung des Judensterns jedoch strengstens untersagt waren: Frau Reichenbach erzählte – Reichenbachs waren gestern unsere und Kätchens Gäste –, ein Herr habe sie in der Ladentür gegrüßt. Ob er sich nicht in der Person geirrt habe? – ‚Nein, ich kenne Sie nicht, aber Sie werden jetzt öfter gegrüßt werden. Wir sind eine Gruppe, ‚die den Judenstern grüßt‘. (ZAI: 688 [24.11.1941])474

471 Klemperer begegnete ebenso auch Nicht-Nationalsozialisten, die die antisemitische Kriegspropaganda dermaßen interiorisiert hatten, dass sie dem „Weltjudentum“ die Schuld für den Ausbruch des Krieges gaben (vgl. ebd.: 498 [19.3.1944]). 472 Eine ähnliche Erfahrung machte die jüdische Ärztin Hertha Nathorff (1988: 44 [17.5.1933]) in der Frühphase des Dritten Reiches, als manche ihr wohl gesinnten Patienten sie paradoxerweise arglos in den antisemitischen Diskurs hineinzogen: „‚Frau Doktor, jetzt geht es uns bald gut, wenn die Dreckjuden alle aus Deutschland fort müssen‘, sagte mir heute eine Patientin.“ 473 Charakteristisch für das Verhalten vieler höflicher, nicht unbedingt antisemitisch eingestellter Menschen war oft die Skrupellosigkeit, mit der sie sich an Juden bereicherten und ihre Besitztümer beschlagnahmten. Das Dritte Reich war im Hinblick auf die Verfolgung der jüdischen Bürger – wie Bajohr und Pohl (2006: 17f.) nahelegen – eine „Zustimmungsdiktatur“: einerseits gab es eine staatliche Verfolgungspolitik, die untrennbar mit Terror und Repression einherging, andererseits waren weite Teile der deutschen Gesellschaft in unterschiedlichem Maße am Verfolgungsprozess beteiligt, in den sie ihre eigenen Interessen einbrachten. Diese zwei Ebenen wirkten oft reibungslos zusammen. Der innerliche, moralische Widerstand gegen die Verfolgung stand keineswegs automatisch in Widerspruch zu deren Nutzbarmachung. Am Beispiel Bergers, der das Haus der Klemperers mietete, aus dem sie 1940 ausgewiesen wurden, wird ein solches Benehmen deutlich. Der Diarist zählte Berger zu den „Anständigen“: „Der Krämer Berger, der unser Haus bekommt und einen Stufenzugang zur Terrasse baut, ist täglich mindestens einmal hier. Ein ganz gutartiger Mensch, hilft uns mit Kunsthonig usw. aus, ist gänzlich antihitlerisch.“ (ZAI: 521 [8.5.1940]; vgl. ebd.: 513 [17.3.1940]) Allmählich wird aber offensichtlich, dass er seine Vermieter, die sich im „Judenhaus“ in wirtschaftlicher Notlage befinden, finanziell ausnutzt, indem er allerlei Kosten auf sie abwälzt: „Mein Mieter Berger schickte ohne Erklärung Rechnung über 38 M für Schuttabfuhr im vergangenen Sommer und setzte den Betrag von der Miete ab.“ (ebd.: 566 [20.12.1940]) Spätestens im Jahre 1942 lernte der Diarist das wahre Gesicht seines Mieters kennen: „Von Berger, der so freundschaftlich und antinazistisch war, bin ich betrogen worden.“ (ZAII: 53 [24.3.1942]) Zum Profil der Interessenten und Nutznießer der „Arisierung“, der Konfiszierung jüdischer Güter und Enteignung von Immobilien im Rahmen der „Entjudung“ des Deutschen Reiches vgl. Kwiet (1988: 569ff.). 474 Der Kennzeichnung durch den Judenstern wurde keineswegs von allen Seiten zugestimmt, wie von verschiedenen deutschen – jüdischen sowie auch nichtjüdischen – Tagebuchautoren dargestellt wird. Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise Andreas-Friedrich (1986: 82f. [19.9.

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Die Analyse der vox populi führt Klemperer häufig dazu, sich mit der Bedeutung seines „Deutschtums“ auseinanderzusetzen, das er nach wie vor als humanen Gegenpart zu Faschismus und Antisemitismus betrachtet. Immer wieder aufs Neue ergreift er darum Partei für die „arische“ Bevölkerung, die er – entgegen der Meinung der meisten jüdischen Verfolgten – nicht pauschal mit dem Nationalsozialismus assoziieren will: Im Betrieb ständige Diskussion, wieweit das Volk antisemitisch sei. Lazarus und Jacobowicz (sic) behaupten den absoluten Antisemitismus aller deutschen Klassen, den eingeborenen, allgemeinen, unausrottbaren; ich bestreite ihn, entschlossener als ich selber glaube, und finde da und dort Unterstützung. Konrad: ‚Wäre das Volk wirklich judenfeindlich, dann wäre bei dieser Hetze längst kein einziger von uns mehr am Leben.‘ Frank: die Arbeiter nicht – nur die Akademiker. (ZAII: 379 [20.5.1943])475

Die Bestandsaufnahme der vox populi erreichte ihren ersten Kulminationspunkt nach der Einführung des „Judensterns“. Mit der zunehmenden Judenhetze vermerkte Victor Klemperer – oft im genauen Wortlaut – jede judenfeindliche Attacke.476 Die aufgezeichneten Einzelreaktionen zeigen stellenweise ein bewusstes Handeln, ein Sich-Abreagieren an den entrechteten Juden in Form von Beleidigungen, Erniedrigungen und Einschüchterungen. In der untenstehenden Zitatenliste kommen in den verbalen Aggressionen die Autoritätsgläubigkeit und das innerliche Einverständnis mit der Judenverfolgung deutlich zum Ausdruck: Zum erstenmal antisemitische Bemerkung eines jungen Passanten: ‚Laßt die nur arbeiten! Gut, daß sie auch mal arbeiten.‘ (ebd.: 28 [19.2.1942]) Dicht vor unserm Haus rief mir ein junger Mensch [...] von seinem Auto aus zu: ‚Du Lump, warum lebst du noch?‘ (ebd.: 65 [18.4.1942]; vgl. LTI: 214f.) Ein älterer Arbeiter [...] rief mir vom Rade herab zu: ‚Du Judenluder!‘ (ebd.: 75 [28.4.1942])

1941]), Haecker (1949: 243f. [13.9.1941]) und Reck-Malleczewen (1981: 115 [9.1941]; ohne Tagesangabe). 475 Klemperer führte immer wieder Beispiele dafür an, dass der Antisemitismus von der Arbeiterschaft offensichtlich nicht unterstützt würde: „Wie tief haftet der Antisemitismus im Volke? Ich schleppe mit dem Obmann Konrad eine schwere Teekiste. Ein arischer Arbeiter zu mir: ‚Das ist nichts für Sie, lassen Sie mich!‘ – ‚Lassen Sie nur; so klapprig bin ich noch nicht.‘ – ‚Nun, geben Sie her, soviel Fleisch kriegen Sie nicht.‘“ (ZAII: 372 [5.5.1943]; vgl. ebd.: 418 [14.8. 1943]) Die Diskussion um die Unterstützung des NS-Regimes und des entsprechenden Antisemitismus im deutschen Volk gestaltet sich in Klemperers Tagebüchern in besonders widersprüchlicher Weise, ohne je ein Gleichgewicht zu finden. Indem Klemperer zwischen antisemitischem Nationalsozialismus und irregeführtem Deutschtum differierte, war es ihm nach wie vor möglich, sich seiner deutschen Identität sicher zu sein. Die Möglichkeit deutsch-jüdischen Zusammenlebens in der Mischehe war ihm der beste Beweis gegen die von manchen jüdischen Zwangsarbeitskollegen vertretene These, „daß alle Deutschen, auch die Arbeiter, durchweg Antisemiten seien. Eine umso unsinnigere These, als ja ihre Vertreter in Mischehe leben.“ (ebd.: 387 [4.6.1943]) Die Realität und Realisierbarkeit der deutsch-jüdischen Symbiose sah der Diarist, so ist auch Grünberg (2002: 124f.) der Meinung, privat in der Ehe mit Eva verwirklicht. 476 Für eine Erörterung der von Klemperer verzeichneten antisemitischen Verbalangriffe vgl. Faber (2005: 208f.) sowie Sepp (2014).

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Ein Passant rief mir in der Strehlener Straße zu: ‚Was macht ihr Juden mit dem Gepäck?‘ Ein paar Gestapooffiziere (wahrhaftig Offiziere) riefen am Eingang des Hauses: ‚Ihr Moischelumpen!‘ (ebd.: 95 [23.5.1942]) Vox populi: Eine Gruppe radelnder Jungen, vierzehn bis fünfzehn Jahre, um zehn abends in der Wormser Straße. Sie überholen mich, rufen zurück, warten, lassen mich passieren. ‚Der kriegt einen Genickschuß … ich drück’ ab ... Er wird an den Galgen gehängt – Börsenschieber ...‘ und irgendwelch Gemauschel. Es hat mich tiefer und nachhaltiger verbittert und schwankend gemacht, als mich den Abend vorher die Worte des alten Arbeiters erfreuten. (ebd.: 398 [24.6.1943]) Auf dem Heimweg kränkten mich Beschimpfungen eines gutgekleideten intelligent aussehenden Jungen von etwa elf, zwölf Jahren. ‚Totmachen! – Alter Jude, alter Jude!‘ (ebd.: 420 [7.8.1943]) Am Mittwoch rief mir ein weißbärtiger Mann in der Frauengasse laut zu: ‚Judenhund!‘ (ebd.: 505 [29.4.1944]) Ein bieder und gutmütig aussehender Mann kommt mir entgegen, einen kleinen Jungen sorgsam an der Hand führend. Einen Schritt vor mir bleibt er stehen: ‚Sieh dir den an, Horstl! – der ist an allem Schuld!‘ (LTI: 213f.; vgl. ZAII: 398 [23.6.1943])477

Wut empfindet Klemperer kaum angesichts dieser antisemitischen Beleidigungen und verbalen Anfeindungen. Auf bemerkenswerte Weise bleibt der Diarist von dieser offensichtlichen Feindlichkeit innerlich unversehrt, gerade weil er die Haltung der ihn angreifenden Menschen auf Unbildung und Leichtgläubigkeit, nicht aber Bösartigkeit zurückführt. Der Diarist berichtet vor diesem Hintergrund in seinen Notizen zum antijüdischen Verhalten übermäßig häufig von judenfeindlichem Benehmen seitens deutscher Kinder und Jugendlicher, woraus er folgert, der Antisemitismus sei bloß ein Zeichen der intellektuellen und moralischen Unreife: Wenn ich vom Friedhof durch die Fiedlerstraße nach Hause gehe, komme ich an einer großen Schule [...] vorbei. Oft strömen die Schüler heraus, und dann mache ich immer die gleiche Erfahrung: Die größeren Jungen gehen anständig an mir vorüber, die kleinen dagegen lachen, rufen mir ‚Jude‘ nach und ähnliches. In die Kleinen also ist es hineingetrichtert worden – bei den größeren wirkt es schon nicht mehr. (ZAII: 313 [17.3.1943]; vgl. ebd.: 286f. [3.12.1942]; ebd.: 422 [23.8. 1943])478 477 Im Hinblick auf diese Liste sei der Vollständigkeit wegen angemerkt, dass der Diarist nicht nur selbsterlebte Zeugnisse expliziten Antisemitismus´ aufzeichnet. Einerseits ließ er auch kleine, alltägliche Demütigungen Revue passieren, wie beispielsweise das Gefühl der Unsichtbarkeit, der Inexistenz, das ihm manche Nichtjuden vermittelten. In Läden wurden besternte Juden ignoriert, Nichtjuden reklamierten den Vorrang gegenüber Juden (vgl. ZAII: 90 [19.5.1941]; ebd.: 561f. [16.8.1944]). Andererseits wurden auch die von Leidensgenossen erzählten Erlebnisse im Tagebuch zur späteren Verwendung gespeichert (vgl. ZAI: 696 [22.12.1941]). 478 Der Diarist bezeichnete das judenfeindliche Verhalten der Kinder schlichtweg als Folge einer schlechten Erziehung, die ihnen judenfeindliche Klischees vermittelt habe (vgl. ZAII: 420 [17.8.1943]). Das Benehmen der Kinder, so meine Meinung, ist aber als weitaus problematischer zu deuten: Die gedemütigten und mit dem Stern gekennzeichneten Juden stellten für Kinder – vor allem während des Zweiten Weltkrieges, als die Verfolgung zügellos durchgeführt

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In den schlimmsten – vielmehr seltenen – Momenten der Enttäuschung kommt Klemperer zu dem Schluss, der Nationalsozialismus sei in seinem Ordnungs- und Gründlichkeitsbestreben ausgeprägt „deutsch“, er sei „gemeingermanisch und typisch.“ (ZAI: 393 [18.1.1938])479, und er betont resignativ, „daß der Nationalsozialismus im Kern ein deutsches Gewächs“ sei (ZAII: 209 [17.8.1942]).480 Diese pathologische Metaphorik behält der Tagebuchautor auch andernorts bei, um seine Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen und seine einstige Überzeugung, das NS-Regime sei „undeutsch“ (vgl. ZAI: 41 [13.7.1933]; ebd.: 143 [12.9. 1934]; ebd.: 210 [21.7.1935]; ZAII: 84 [11.5.1942]), dem aktuellsten Stand der Dinge und seiner entsprechenden Gefühlslage anzugleichen: „An das ganz undeutsche Wesen des Nationalsozialismus kann ich nicht mehr glauben; er ist ein deutsches Eigengewächs, ein Karzinom aus deutschem Fleisch, eine Spielart des Krebses, wie es eine spanische Grippe gibt.“ (ebd.: 140f. [23.6.1942])481 Die bewurde – keine respektgebietenden Personen mehr dar. Ihnen gegenüber konnten sie die Umkehrung der gesellschaftlichen Normen schadenfroh und ungestraft zum Ausdruck bringen. Dass beispielsweise auch bei Deportationen die Präsenz von lachenden und johlenden Kindern und Jugendlichen üblich war, deutet darauf hin, dass die Erniedrigung als eine gesellschaftliche Normsetzung inszeniert wurde und sogar eine „erziehende“ Funktion hatte (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 48f.). 479 In solchen seltenen Fällen legt Klemperer die Verantwortung für die Machtübernahme und Verfestigung der Diktatur in die Hände des Volkes, das in letzter Konsequenz politische Haftung für das Regime trägt: „Aber aus Bernardin de Saint-Pierre zitierte ich: ‚Wenn die Regierung korrupt ist, so ist das korrumpierte Volk daran schuld‘.“ (ZAI: 427 [2.10.1938]) 480 In ähnlicher Manier stellte sich Klemperer bereits ein Jahr zuvor die Frage, ob die völkische Gesinnung in der Bevölkerung auf die historische, psychologische und ethnische „Grundnatur“ des deutschen Volkes zurückzuführen sei: „Ich frage mich immer: Wer von den ‚arischen‘ Deutschen ist wirklich unberührt vom Nationalsozialismus? Die Seuche wütet in allen, vielleicht ist es nicht Seuche, sondern deutsche Grundnatur.“ (ebd.: 681 [25.10.1941]) Aus diesem Grund, so zeichnet der Diarist später auf, müsste Deutschland „von vorn anfangen, in kleinen Verhältnissen, und mit dem Abc der Moral, ohne die Macht, zu schaden.“ (ZAII: 325 [5.2.1943]) In ihrem erstmals 1945 veröffentlichten Aufsatz „Das ‚Deutsche Problem‘. Die Restauration des alten Europa“ widersetzt sich Hannah Arendt (1999: 25f.) ausdrücklich der Idee eines „eliminatorischen Antisemitismus“, wie diese später auf eine besonders kontroverse und problematische Art und Weise von Daniel Goldhagen vertreten wurde, genauso wie der Auffassung, der Nationalsozialismus sei ein typisch deutsches Phänomen, das der nationalen „Grundnatur“ entspräche (vgl. Goldhagen 1996: 487ff.). Entgegen der Sonderweg-Perspektive – der Identifizierung des Faschismus mit dem Nationalcharakter Deutschlands – betont Arendt vielmehr die komplexe europäische Dimension der Katastrophe. Der deutschen Geistesgeschichte sei dabei keine Schuld zuzuschreiben: „Der Nazismus verdankt sich keinem Teil der abendländischen Tradition, ganz gleich, ob es sich um den deutschen, katholischen, protestantischen, christlichen, griechischen oder römischen Anteil an dieser Tradition handelt. Es ist unerheblich, ob wir [...] Luther, Kant, Hegel oder Nietzsche mögen [...], sie tragen nicht die geringste Verantwortung für das, was in den Konzentrationslagern geschieht.“ Ungeachtet punktueller Unmutstöne (vgl. z.B. ZAII: 206 [14.8.1942]; A 138: 1430 [28.3.1945]; SSII: 280 [5.5.1952]) stellt insgesamt bei Klemperer gerade das humanistische Erbe der deutschen Kulturgeschichte – Musik, Literatur, Malerei, Philosophie – das beste Beweismittel gegen das „spezifisch Deutsche“ am Holocaust dar. 481 Die Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung angesichts gewalttätiger Übergriffe gegen die Juden – wie in der „Reichskristallnacht“ – kritisiert der Diarist in seinem Silvesterfazit 1939: „Die Pogrome im November 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als

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sagte Verinnerlichung der judenfeindlichen Ideologie ließe, einem von Klemperers jüdischen Schicksalsgefährten zufolge, für die Zukunft wenig Gutes erahnen: „‚In Deutschland wird es für uns nie wieder gut; der Antisemitismus war immer da, ist jetzt zu tief eingeprägt.‘“ (ebd.: 370 [4.5.1943]) Im Gegensatz zu diesen Unmutstönen gibt der Diarist in der Regel das Vertrauen in das deutsche Volk nicht auf und bestreitet leidenschaftlich dessen Verantwortung für den Holocaust. Die nichtjüdische Bekannte Elsa Kreidl, die dem Philologen Bücher leiht, Kartoffel- und Kaffeemarken schenkt, aber gleichzeitig ihrem Gestapo-Mieter wohlwollend gegenübersteht, nennt Klemperer schlicht blind für die „Grausamkeiten“ der Judenverfolgung: Elsa Kreidl spricht in großen Tönen von der Güte ihres Mieters, eines Kriminalrats bei der Gestapo. Der Mann sei wirklich gut, er bearbeite gerade die Judenfälle, er lasse keine Übergriffe seiner Beamten zu! – Weiß Frau Kreidl wirklich nicht, daß man auf solchen Posten nur als Bewährter kommt? Weiß sie nicht, welche Grausamkeiten geschehen? Weiß sie nicht, daß sie unmittelbar mit den Mördern ihres Mannes paktiert? (ebd.: 375 [10.5.1942])

Die ideologische Codierung des Antisemitismus wurde Tag für Tag wirklich in der Art, in der sie gefühlt und dann wiederum in konkrete feindselige Handlungen umgesetzt wurde (vgl. Lüdtke 2006: 51). Klemperer behandelt vor diesem Hintergrund in seinen Notizen eine der Kardinalfragen der Geschichte des Dritten Reiches: Wie antisemitisch waren die Deutschen? Er ist der Meinung, der Nationalsozialismus habe in seiner wohlüberlegten Organisation, in seinem schlüssigen Diskurs und seiner aufhetzenden Propaganda das „einfache“, beeinflussbare Volk zum Antisemitismus verführt.482 Die Nationalsozialisten hätten somit – und hier tritt erneut die von Klemperer hervorgehobene Differenz zwischen „deutsch“ und „nationalsozialistisch“ zutage – das gutgläubige deutsche Volk mit der vom Regime betriebenen „Volksverführung“ (LTI: 70) in den Abgrund gestürzt.483 Nicht innerliche Verlogenheit oder Bösartigkeit der Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten.“ (ZAI: 508 [31.12.1939]) Hertha Nathorff (1988: 121 [10.11.1938]) trägt nach dem Anblick der zerschlagenen Schaufensterschreiben jüdischer Läden in ihrem Tagebuch ein: „Was haben sie [=die Nazis, A.S.] bloß wieder gemacht?, denke ich. Da höre ich eine gutangezogene Dame im Vorbeigehen zu ihrem Mann sagen: ‚Recht geschieht es der verdammten Judenbande, Rache ist süß!‘ [...] Wohl höre ich einige unwillige Bemerkungen über diese Vorgänge aus den Reihen der Passanten; die meisten aber gehen scheu und still durch die Straßen.“ Genauso wie Klemperer rückte Nathorff die relative Passivität und Hinnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung angesichts der Pogromnacht in den Mittelpunkt. 482 Diese Meinung vertritt auch Stephan Müller, ein jüdischer Zwangsarbeiter in der Teefabrik Schlüter, der vor 1933 Mitglied der NSDAP und SA-Mann war, bis er 1934 von seiner jüdischen Herkunft erfuhr und demzufolge ausgeschlossen wurde: „Müller ist erbittert deutsch [...]; er bestreitet das Vorhandensein der jüdischen Rasse, er bestreitet den durchgängigen Antisemitismus des deutschen Volkes, er bestreitet, daß Hitler und sein Regime dem Wesen des deutschen Volkes völlig entspreche.“ (ZAII: 441 [7.10.1943]) Klemperer schreibt in diesem Zusammenhang zustimmend, er „gehe weit mit Müller zusammen.“ (ebd.) 483 Shulamit Volkov weist in Antisemitismus als kultureller Code darauf hin, dass im Antisemitismus Stereotyp, Identität und Handlung verknüpft werden. In ihm werden sozialer Konsens und

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sei die Triebfeder der Unterstützung des NS-Regimes, sondern die Furcht vor Konsequenzen: „Angst vor dem einen Prozent Regierungstreuer, vor Gefängnis, Beil und Kugel bindet sie.“ (ZAII: 500f. [2.4.1944]) Die Passivität und Verblendung der Bevölkerung finden Klemperer zufolge ihren Ursprung in Furcht und Gehirnwäsche. Die Meinung des „gewöhnlichen“ Volkes war für ihn in letzter Konsequenz eine vox bovi, die Stimme der unkritischen, beeinflussbaren Masse, über die er sich erhaben fühlte und auf die er von oben herabsah: „Wenn ich, Professor usw., lebenslang auf Denken geschult, mir so viele und so naheliegende Fragen durch fünfzig Jahre nicht gestellt habe, wie soll dann das Volk aufs Fragen kommen? Man braucht es eigentlich gar nicht zum Gegenteil erst anzuhalten.“ (ZAI: 402 [10.4.1938]) Entgegen den rassistischen Feindseligkeiten, die Klemperer im Dritten Reich am eigenen Leibe zu spüren bekommt, versucht er, sich an jedem kleinen Zeichen der Anerkennung, an jedem Zuspruch aufzurichten und sich so der Kontinuität seines Deutschtums zu versichern. Im krassen Gegensatz zur Menschlichkeit, die Klemperer aufrecht hält, steht die kontinuierliche Angst vor der Deportation und der gefürchteten Gestapo, die einen ständig wiederkehrenden Themenkomplex in Klemperers Tagebüchern darstellt. Hier zeigt sich, wie sehr die Angst vor einer als allmächtig angesehenen Kontroll- und Repressionsorganisation den Alltag der Verfolgten beherrschte: „Es gibt nichts Grauenhafteres als die jüdische Angst vor der Gestapo.“ (ZAII: 584 [15.9.1944])484 Herbert Müller (2004: 96ff.) zeigt in seiner Studie Die Gestapo war nicht allein... einleuchtend auf, dass es sich bei der Allmacht und Allwissenheit der Gestapo als autonom funktionierender Polizeiapparat um einen inszenierten Mythos gehandelt hatte, der in der Vorstellung der jüdischen Bürger jedoch durchaus real gewesen war. Für das zweckmäßige Funktionieren der personell relativ schwach besetzten Gestapo war jedoch die Informationsversorgung durch die deutsche Zivilbevölkerung fundamental. Denunziationen aus den Reihen der Bekulturelle Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht. Ein bestimmtes Wort oder eine Redewendung knüpft assoziativ an eine Reihe von Vorstellungen an, die den Antisemitismus als Code ausmachen, als ein Zeichen kultureller Identität: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er zum ‚kulturellen Code‘ geworden. Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager.“ (Volkov 2000: 23) Der Diarist notierte: „[D]er Jude ist in jeder Hinsicht Zentralpunkt der LTI, der ganzen Epochen-Betrachtung.“ (ZAII: 547 [20.7.1944]) Inwiefern der Antisemitismus auch jenseits des Hitler-Regimes wirkungsvoll war, zeigt die folgende Passage, in der Klemperer die antijüdische Äußerung eines jungen Mädchens wiedergibt. Einerseits begriff sie sehr wohl die Katastrophe der totalitären Gewalttätigkeit des NS-Regimes, sagte andererseits aber, „sie glaube an das Recht aller Völker, die Überheblichkeit und Verrohung in Deutschland sei ihr zuwider – ‚nur die Juden hasse ich, da bin ich doch wohl ein bißchen beeinflußt‘. Ich hätte sie gern gefragt, wieviele Juden sie kenne, unterdrückte es aber und lächelte bloß. Und merkte mir selber an, wieviel demagogische Berechtigung der Nationalsozialismus hatte, als er den Antisemitismus ins Zentrum stellte.“ (ebd.: 704 [21.3.1945]) 484 Der Angst vor der Allmacht der Gestapo wird in Klemperers Tagebuchnotizen eine ausdrucksvolle Stimme verliehen. Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die folgenden Stellen: ebd.: 103 [29.5.1942]; ebd.: 500 [2.4.1944]; ebd.: 656 [11.2.1945].

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völkerung485 gehörten vor diesem Hintergrund zur Normalität des Dritten Reiches (vgl. Schuchalter 1998: 23f.). Klemperers Überzeugung, Gestapo und Volk seien zwei vollkommen unterschiedliche Akteure, fußt auf seiner Ausgangsthese, „Nationalsozialismus“ und „Deutschtum“ stünden in klarem Widerspruch zueinander. Sein Vertrauen in die Humanität, Redlichkeit und Unschuld der deutschen Bevölkerung blieb bis weit in die Kriegsjahre hinein bemerkenswert intakt. Der Diarist berichtet im Jahre 1942 beispielsweise von Frau Dr. Strüver, die ihm und anderen jüdischen Menschen verschiedentlich Hilfe anbot und um Verzeihung bat, wenn sie ihn auf der Straße nicht gegrüßt hatte. Diese erfreulichen Sympathiebezeugungen, die sie den Juden des „Judenhauses“ kundtut, empfindet der Tagebuchautor als ausgesprochen wohltuend, wie er im Nachfolgenden zu erkennen gibt: „Ich sagte ihr, und es war mehr als Phrase, es mache mich immer glücklich, wenn ich auf Deutsche stieße, die es mir ermöglichten, mein Gefühl für Deutschland zu bewahren.“ (ZAII: 224 [25.8.1942]) Die Reaktionen der Deutschen, denen Klemperer auf der Straße begegnet, bewegen sich auf einer Skala zwischen offener Feindschaft und Anteilnahme. Die Notizen bezeugen, dass die möglichen Reaktionen keinesfalls in eine einzige Richtung gingen, sondern von der Verbalinjurie „Judensau“486 über freundliches Händeschütteln bis hin zur Verwünschung zum Tode reichten: ‚Du Judensau wirfst ja doch nur Junge, um sie zu Hetzern großzuziehen!‘ Ausspruch der Gestapo zu der ‚hinbestellten‘ siebzigjährigen Frau Kronheim, wie uns deren Tochter gestern erzählte. (‚Hinbestellen‘ – auf stundenlange Spaziergänge schicken, sich immer wieder zu immer neuen Beschimpfungen und Püffen melden lassen ist die übliche Tortur im Anschluß an die Haussuchung.) Aber gestern auch dies. Auf dem Wasaplatz zwei grauhaarige Damen, etwa sechzigjährige Lehrerinnen, wie ich sie oft in meinen Vorlesungen und Vorträgen antraf. Sie bleiben stehn, die eine kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu, ich denke: eine alte Hörerin, und lüfte den Hut. Ich kenne sie aber doch nicht, und sie stellt sich auch nicht vor. Sie schüttelt mir nur lächelnd die Hand, sagt: ‚Sie wissen schon, warum!‘ und geht fort, ehe ich ein Wort finde. Solche Demonstrationen (gefährlich für beide Teile!) sollen des öftern stattfinden. Gegenstück zum neulichen: ‚Warum lebst du noch, Du Lump?!‘ Und dies beides in Deutschland, und mitten im 20. Jahrhundert. (ebd.: 79f. [8.5.1942]) 485 Aus den Untersuchungen des kanadischen Polizeihistorikers Robert Gellately geht hervor, dass gut die Hälfte der Denunziationen gegen Juden und polnische Zwangsarbeiter auf Meldungen aus der Bevölkerung zurückging (vgl. Gellately 2002: 219; 226; 234). Die Gestapo war also für ihr Funktionieren eindeutig auf die Bevölkerung angewiesen. 486 Das judenfeindliche Bild der „Judensau“ stellt ein im westlichen Europa seit dem 15. Jahrhundert vielfach variiertes und kombiniertes Motiv dar. Diese Beleidigung, die das vorgeblich „Andersartige“ am Juden visuell-aggressiv – in Form einer Tiermetapher – zur Schau stellte, wirkte exponentiell im Dritten Reich weiter (vgl. Schachar 1974: 64). Zur Begriffsgeschichte dieses antisemitischen Topos vgl. vor allem Beimel (1990: 28) und Bruinier (1995: 4ff.). In Bezug auf eine Gestapo-Haussuchung bemerkt Klemperer die sprachliche Armut der Beschimpfungen, die nahezu alle das obszöne Bild des Schweins aufgreifen: „Die Reihe der unflätigen Schimpfworte war eigentlich eng. Immer wieder ‚Schwein‘, ‚Judenschwein‘, ‚Judenhure‘, ‚Sau‘, ‚Miststück‘ – mehr fällt ihnen nicht ein.“ (ZAII: 119 [11.6.1942]; vgl. LTI: 124)

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Auf den Ausschluss der Juden aus dem „arischen“ Kollektiv reagierten „gewöhnliche“ Deutsche also auf unterschiedliche Art und Weise. So wird Klemperer beispielsweise beim Einkaufen mit unterschiedlichsten Reaktionen konfrontiert, die einen Bogen von höflicher Behandlung und zusätzlichen Lebensmittelgaben bis hin zum strikten Befolgen der NS-Rationierungsrichtlinien für Juden spannen: Heute nachmittag bei Paschky. Es werden auf Nährmittelkarten Sardinenbüchsen ausgegeben. ‚Ihre Karte, Herr Professor.‘ – ‚Der Abschnitt ist weggeschnitten.‘ – Der Mann erstarrt, murmelt leise: ‚Das ist doch ...‘, geht herüber zur Fischausgabe und schneidet mir ein Stück von dem ungemein knappen und seltenen Vorrat herunter. Bei Vogel erhielt ich markenfrei ein Brot. Erhebender, erfolgreicher Einkaufstag. Aber das Fräulein Zwiener verweigert Tabak. ‚Nur noch an Dauerkunden, an ‚eingeschriebene‘.‘ Die üblichen Freuden und Leiden des Einkaufs. (ZAI: 653f. [21.7.1941])

Der Diarist weiß um die Problematik des Zeugniswertes disparater Aussagen: Die Frage nach der Ermessbarkeit und Repräsentativität seiner Einzelfunde hinsichtlich der Stimmungslage im Dritten Reich beherrscht von Anbeginn an Klemperers Beobachtungsmethode, die sich notwendigerweise als grobkörnig und differenzierungsbedürftig erweist. Die empirische Erkenntnis, die Klemperer aus eigener Wahrnehmung und Beobachtung gewinnt, ist zwangsläufig intuitiver Art: „Natürlich habe ich keine Umfrage veranstalten können, aber ich hatte im Augenblick eine sozusagen intuitive Gewißheit.“ (LTI: 190) Wie der Autor im nachfolgenden Zitat metareflexiv zu erkennen gibt, laufe man stets Gefahr, sich durch Voreingenommenheit bzw. Wunschdenken beeinflussen zu lassen: „So horche und horche ich auf jede Regung, aber schließlich ist es doch wohl immer das Rauschen im eignen Ohr bei großer Stille.“ (ZAI: 362 [20.6.1937]) Die ständig lauernde Gefahr des „Rauschen[s] im eignen Ohr“ bei der Beurteilung der öffentlichen Meinung erscheint umso größer in einer Gesellschaft, in der die freie Meinungsäußerung aufgehoben wurde. Die Lektüre von Tagebüchern aus der NS-Zeit offenbart die Schwierigkeiten voneinander isolierter Individuen, der Propaganda eine Gegenposition entgegenzustellen, deren Repräsentativität man sich nie sicher sein konnte (vgl. Longerich 2006: 27). Klemperer notiert: „Wer kann Volksstimmung beurteilen, bei 80 Millionen, Unterbindung der Presse und allgemeiner Angst vor dem Mundauftun?“ (ZAI: 480 [29.8.1939]) Die nicht auf einen absoluten Nenner zu bringende Pluriformität der Volksstimmung, der Klemperers Interesse bis zum Ende des Krieges ungebrochen gilt, resümiert der Diarist auf seine typische Weise – in lateinischer Sprache – mit „nil pluriformius populi voce.“ (A 138: 1467 [23.4.1945])487 Die alltägliche Erfahrung legt offen, 487 Fast zeitgleich, am 20. April 1945, bringt die anonyme Tagebuchautorin der unter dem Titel Eine Frau in Berlin veröffentlichten Notizen die Ungewissheit der derzeitigen „Vox Populi“ zum Ausdruck. Aus der Perspektive einer deutschen Frau versucht sie fruchtlos die Stimmung in Bezug auf die heranrückende Rote Armee auszuloten. Weil spätestens in der Endphase des Krieges die Glaubwürdigkeit der NS-Propaganda im Schwinden war, blieb der Autorin – genauso wie Klemperer – keine andere Möglichkeit, als ins alltägliche Stimmengewirr (beim Bäkker, Fleischer, Milchmann ...) hineinzuhören: „Heute morgen beim Bäcker ging das Gerede:

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dass die öffentliche Meinung immer von bestimmten Interessen durchkreuzt und überdeterminiert wird. Weil die Interessen – je nach der Lage der Personen, für die sie von Vor- bzw. Nachteil sind – ständigem Wandel unterworfen sind, erweisen sich die Meinungen in der Praxis immer als entsprechend vielfältig, 488 selbst in totalitären Diktaturen, wenn auch dort in der Regel verdeckt (vgl. Militz 2001: 181). Der Zwiespalt zwischen NS-Ideologie und konkreter Lebenserfahrung bzw. zwischen Propaganda und Realität – die vor allem ab 1944, als die Lage an der „Heimatfront“ zusehends prekärer wurde, immer deutlicher zutage trat – führt bei Klemperer zu „höchst entgegengesetzte[n] Erlebnisse[n]“ mit ‚arischen‘ Deutschen: Gestern nachmittag kam auf dem Bahnübergang vor unserm Hause ein wildaussehender Arbeiter dicht an mir vorbei und sagte laut: ‚Kopf hoch! Die Lumpen sind bald zuende!‘ – Stühler hatte ein ähnliches Erlebnis. Aber solche Erlebnisse haben wir seit Jahren alle paar Tage, und ebenso haben wir seit Jahren alle paar Tage höchst entgegengesetzte Erlebnisse. Nichts läßt sich hieraus schließen, und nichts aus der Kriegslage, so verzweifelt sie auch im Westen und Osten für Deutschland sei. (ZAII: 567 [24.8.1944])

Die Frage nach dem Ausmaß der Zustimmung zu Hitler und dem Antisemitismus, die schier unmöglich zu beantworten ist, wurde in der historischen Forschungsliteratur bereits kontrovers diskutiert.489 Im Jahre 1992 veröffentlichte David Bankier seine Studie The Germans and the Final Solution: Public Opinion under Nazism.490 Diese auf alltägliche Verhaltensweisen fokussierende Studie, die die Erinnerungen von Zeitzeugen sowie die Berichte ausländischer Diplomaten und Journalisten mit einbezieht, unterstreicht überzeugend – wie auch aus Klemperers Tagebüchern hervorgeht – dass der Antisemitismus keine homogene Erscheinung innerhalb der deutschen Öffentlichkeit war. Bankier argumentiert, dass, um dem Phänomen des Antisemitismus auf den Grund gehen zu können, Kategorien wie Klasse, Region, Grad der Verstädterung und Konfession zu untersuchen seien. Der Antisemitismus während der NS-Zeit sei weniger als feste Größe denn als historischer Prozess zu betrachten. Die Reaktionen der deutschen ‚Wenn die kommen, holen sie alles Eßbare aus den Häusern. Die geben uns nichts. Die haben ausgemacht, daß die Deutschen erst mal acht Wochen hungern sollen. In Schlesien laufen sie schon in die Wälder und graben nach Wurzeln. Die Kinder verrecken. Die Alten fressen Gras wie die Tiere.‘ Soweit die Vox Populi. Man weiß ja nichts.“ (Anonyma 2003: 12f. [20.4.1945]) 488 Anderweitig, diesmal hinsichtlich der Reaktionen auf die Kriegsdrohung im Frühjahr 1940, vermerkt Klemperer: „Gerüchte und Stimmungen wechseln von Tag zu Tag, von Person zu Person. Wen sehe, wen höre ich? Natscheff, den Krämer Berger, den Zigarrenhändler in der Chemnitzer Straße, der Freimaurer ist, die Aufwartefrau, deren vierzigjähriger Sohn im Westen steht und eben Urlaub hat, die Kohlenträger. Vox populi zerfällt in zahllose voces populi.“ (ZAI: 513 [17.3.1940]) 489 Die vorliegende Studie stützt sich im Hinblick auf diese Frage vorrangig auf Aly (2006), Bajohr und Pohl (2006), Bankier (1992), Gellately (2002), Johnson (2000) und Longerich (2006). 490 Vgl. zur Haltung gegenüber dem Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung vor allem Kapitel 4 in David Bankiers Arbeit The Germans and the Final Solution (1992: 67-88).

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Öffentlichkeit auf antisemitische Maßnahmen zeigten sich an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft durchaus variabel. Laut Bankier waren die Motive und Verhaltensweisen der Gesellschaft komplex und sowohl von praktischen als auch ideologischen Faktoren beeinflusst. Während der Großteil der deutschen Bevölkerung offene Gewalt und Verfolgung missbilligte, wurden bestimmte Maßnahmen, wie z.B. die Entfernung der Juden aus öffentlichen Ämtern, akzeptiert.491 Trotz der Missbilligung der Pogrome in den meisten Kreisen der Bevölkerung war hinsichtlich der weiteren gesetzlichen Verschärfung der Unterdrückung – wie sie in den Nürnberger Gesetzen formuliert wurde – kaum Kritik zu vernehmen (vgl. Büttner 1992: 77). Der Antisemitismus der Nationalsozialisten wurde nur selten aufgrund ethischer Prinzipien abgelehnt, und es kam kaum Entrüstung über die Verletzung humanitärer Werte auf. Der banale Opportunismus im Hinblick auf die Judenverfolgung wird von Klemperer in einer Notiz vom Mai 1936 bestätigt: Die Mehrzahl des Volkes ist zufrieden, eine kleine Gruppe nimmt Hitler als das geringste Übel hin, niemand will ihn wirklich los sein, alle sehen in ihm den außenpolitischen Befreier, fürchten russische Zustände, wie ein Kind den schwarzen Mann fürchtet, halten es, soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlichen Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit zu empören. Und alle haben Angst um ihr Brot, ihr Leben, alle sind so entsetzlich feige. (Darf ich es ihnen vorwerfen? Ich habe im letzten Amtsjahr auf Hitler geschworen, ich bin im Lande geblieben – ich bin nicht besser als meine arischen Mitmenschen.) (ZAI: 264 [16.5.1936])

In eine ähnliche Richtung deutet die desillusionierte Notiz, in der Klemperer sein Unverständnis über das praktische Einverständnis der deutschen Bevölkerung äußert und der verlorenen Hoffnung auf einen Systemzusammenbruch nachtrauert: „In politicis gebe ich allmählich die Hoffnung auf; Hitler ist doch wohl der Erwählte seines Volkes. [...] Es ist im deutschen Volk soviel Lethargie und soviel Unsittlichkeit und vor allem Dummheit.“ (ebd.: 340 [27.3.1937]; vgl. ebd.: 410 [25.5.1938]; ebd.: 417 [27.7.1938]; ebd.: 422 [2.9.1938]) Der Diarist rügt das mangelnde Unrechtsbewusstsein der deutschen Bevölkerung gegenüber der real gewordenen Verfolgung, das seiner Ansicht nach vor allem der ausgeklügelten Propaganda des Regimes zuzuschreiben sei. Über weite Strecken492 entschuldigt Klemperer daher das deutsche Volk für seine Zustimmung zum Nationalsozialismus, weil es „allzu versklavt und von Lügen ideali491 Wolfgang Benz (1991: 172) weist darauf hin, dass die Deutschen eher widerwillig – jedoch widerstandslos – die nationalsozialistischen Großinszenierungen wie den Boykott vom 1. April 1933 oder die „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 hinnahmen und die formal verabschiedeten Nürnberger Gesetze im Jahre 1935 ohne Weiteres akzeptierten. 492 Die tendenzielle Schuldentlastung der deutschen Zivilbevölkerung, die auch Nathan Stoltzfus (2001: 547) im Hinblick auf Klemperers Tagebücher in den Mittelpunkt rückt, schlug im Jahre 1945 – bei seiner Flucht durch Bayern – in eine Verurteilung der Passivität des deutschen Bevölkerung sowie der Feststellung der deutschen Kollektivschuld um.

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stisch-nationaler Art betäubt“ (ebd.: 191 [3.4.1935]; vgl. ebd.: 459 [22.1.1939]), „besoffen“ (ebd.: 22 [12.4.1933]) und „berauscht“ (ebd.: 525 [16.5.1940]) sei und eben deshalb so „dumm, daß es alles glaubt.“ (ebd.: 378 [12.9.1937]) Die Nationalsozialisten zeigten, so der Diarist, ernsthafte psychopathologische Symptome: „Die NSDAP ist ganz offenbar mehr noch die Partei der Geisteskranken als der Verbrecher.“ (ebd.: 229 [11.11.1935]) Er unterstrich in dieser Linie die besondere Anfälligkeit der Deutschen für die krankhafte Weltanschauung und Bewegung des Nationalsozialismus. Dementsprechend kennzeichnete er die Haltung des deutschen Volkes gegenüber dem Regime, wie aus dem lexikalischen Gebrauch von Begriffen wie „Betäubung“, „Berauschung“, „Hysterie“, „Geisteskrankheit“ und „Umnebelung“ hervorgeht, als kollektive Psychose bzw. als gesellschaftliches Krankheitsphänomen (vgl. z.B. ebd.: 11 [17.3.1933]; ebd.: 43 [28.7. 1933]; vgl. ebd.: 113 [13.6.1934]; ebd.: 122 [14.7.1934]). Stellenweise machte er seinem Unmut über die leichte Manipulierbarkeit der Zivilbevölkerung Luft: „Das Gräßliche ist, daß ein europäisches Volk sich solch einer Bande von Geisteskranken und Verbrechern ausgeliefert hat und sie noch immer erträgt.“ (ebd.: 122 [14.7.1934]; vgl. ebd.: 378 [12.9.1937]; ebd.: 133 [4.8.1934]; ebd.: 459 [22.1.1939]; ebd.: 624 [23.6.-1.7.1941]). Auf ähnliche Weise kritisiert ReckMalleczewen in seinem Tagebuch die Hysterie der deutschen Bevölkerung anlässlich Hitlers Geburtstag am 20. April 1939: „Kein Strahlen, kein Funkeln und Leuchten eines Gottgesandten [...] Und dennoch dieses sture und auf die Dauer schier idiotisch wirkende Heilgebrüll... hysterische Weiber ringsum, Halbwüchsige in Trance, ein ganzes Volk im Geisteszustand heulender Derwische.“ (ReckMalleczewen 1981: 66 [4.1939]; ohne Tagesangabe) Die Hervorhebung „der kindlichen Seite der Volkspsyche“ (ZAI: 106 [13.5. 1934])493 geht zweifellos auf Klemperers Selbstverständnis als gebildetes, kritisches Individuum zurück. Die deutsche Gesellschaft kranke an einem Bildungsdefizit, und die „79 Millionen [...] simplicitates in Deutschland“ hätten sich folglich, bedingt durch das Fehlen kritischer Reflexionsfähigkeit, nach allen Regeln der Kunst betrügen lassen (ebd.: 533 [11.7.1940]).494 Der Tagebuchautor folgt mithin einer machiavellistischen Manipulationsthese, die die psychische und lin493 Die vorgebliche Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit des italienischen Volkes hinsichtlich Politik, die Klemperer 1914 während seines Lehrtätigkeit in Neapel diagnostizierte, hätten dem Tagebuchautor zufolge unter dem Hitler-Regime auch für Deutschland gegolten: „Damals dachte ich: Analphabeten-Mentalität kindlicher Völker! Bei uns in Deutschland wäre es unmöglich! Und jetzt?“ (ebd.: 309 [27.9.1936]) Die zutiefst desillusionierte Antwort auf diese Frage lautet im Jahre 1943: „[N]iemand ist politisch unreifer und so von seiner Regierung eingeschätzt als der Deutsche.“ (ZAII: 391 [9.6.1943]) 494 Diese Auffassung wendet Hermann Glaser (1989: 30) ins Negative, indem er die Fügsamkeit nicht auf unbewusste Manipulierbarkeit, sondern auf das bewusste Einverständnis der Bevölkerung, für das sie haftbar gemacht werden konnte, zurückführt: „Die nationalsozialistischen Verbrechen waren nur möglich, weil die Täter mit ihrer Weltanschauung und Propaganda, ihren Aktionen und Planungen auf ungeheure Resonanz stießen; weil die Begeisterung für den ‚Führer‘ und das NS-Regime kaum, auch nicht durch unverhüllte Barbarei zu erschüttern sei.“ (ebd.: 33)

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guistische Dimension der Folgebereitschaft der deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt rückt. Durch die zuvor ungekannte, „undeutsche“ Propaganda, so lautet Klemperers Ausgangspunkt, hätten die Nationalsozialisten „die Masse gewinnen und auf entsetzlich lange Dauer fesseln und in Unterjochung halten“ können (LTI: 73). Die nationalsozialistische Sprache hätte unter diesem Blickwinkel wie eine „Seuche“ um sich gegriffen, gegen die die Deutschen sich kaum erwehren konnten, weil es ihnen nicht möglich war, dagegen „Antikörper“ zu entwickeln (vgl. A 138: 1245 [13.11.1944]). Zusammenfassend bringt der Philologe seine sprachkritische Leitthese wie folgt zum Ausdruck: „Hitlers schamlos offene Rhetorik [mußte] gerade deshalb so ungeheure Wirkung tun [...], weil sie mit der Virulenz einer erstmalig auftretenden Seuche auf eine bisher von ihr verschonte Sprache eindrang, weil sie im Kern so undeutsch war.“ (LTI: 75)495 Der Philologe zeichnet das Bild des Dritten Reiches als ein individualitätsfeindliches Gebilde (vgl. ZAII: 218 [21.8.1942]), in dem das menschliche Selbstbewusstsein zugunsten der organischen Volksgemeinschaft ausgelöscht wurde. Der NS-Totalitarismus wies den bürgerlichen Individualismus als dekadentes Symptom der Weimarer Zeit zurück: Das Individuum wurde im totalitären System vollkommen kollektivisiert und somit als Person aufgehoben (vgl. ZAI: 75 [31.12.1933]; ebd.: 144 [14.9.1934]; ebd.: 564 [10.12.1940]; A 138: 1256 [26.11.1944]). Die jüdische Bevölkerung wurde im Dritten Reich kategorisiert, stigmatisiert und gesetzlich zur Unperson gemacht. Nach der Kennzeichnung mit dem Davidstern machte sich, wie der Diarist verzeichnet, bei bestimmten Deutschen allerdings Unmut breit, der auch ihm gegenüber gelegentlich kenntlich gemacht wurde.496 Tröstende Passanten, höfliche Beamte, großzügige Verkäuferinnen, hilfsbereite Freunde, Bekannte und sogar Unbekannte liefern dem Tagebuchschreibenden vor diesem Hintergrund „kleine Tröstungen voce populi.“ (ZAII: 351 [16.4.1943])497 Auf der (einsamen) Straße, bei der Zwangsarbeit und 495 Sowohl die NS-Propaganda wie auch die Nationalsozialisten an sich galten für Klemperer noch im Jahre 1942 als grundsätzlich „undeutsch“. Stets von Neuem – einige Ausnahmen ausgenommen – prägt sich der Tagebuchautor ein, es gebe einen klaren Unterschied zwischen moralischem Fehlverhalten und deutschem Ideal: „[D]ie Nationalsozialisten seien nicht das deutsche Volk, das gegenwärtige deutsche Volk sei nicht das ganze Deutschland.“ (ZAII: 147 [28.6.1942]) Klemperers Manipulationsthese wird von Sönke Landt (2002: 26) einer höchst polemischen Kritik unterzogen, weil der Diarist den „Faschismus nationalistisch kritisiert, als ein verbrecherisches Regime, das das deutsche Volk ver- und in den Abgrund geführt habe.“ (vgl. ebd.: 16f.) 496 Longerich (2006: 171-182) belegt anhand von Berichten zeitgenössischer Beobachter sowie des Sicherheitsdienstes (SD) überzeugend, dass die Einführung des Judensterns am 19. September 1941 in gewissen Teilen der Bevölkerung überwiegend negative Reaktionen auslöste. Kurz danach – im Oktober 1941 – wurde eine Gestapo-Regelung erlassen, dass Personen, die in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden erkennen ließen, bis zu drei Monaten in einem Konzentrationslager inhaftiert werden sollten. 497 Ein Arbeiter wollte Klemperer Mut machen, indem er ihm – gut gemeint – sagte: „Mach dir nichts aus dem Stern, wir sind alle Menschen, und ich kenne so gute Juden.“ Für den Diaristen stellten solche Aussagen eine tiefe Kränkung dar, weil dieser Arbeiter „Juden“ dennoch als eine gesonderte – und vordergründig negativ konnotierte – Kategorie betrachtete. Darum fügt der Diarist dem Gehörten das Bedenken hinzu: „Solche Tröstung ist auch nicht sehr erfreulich.“

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in der Bahn begegnete der Diarist relativ häufig Menschen, die ihre Solidarität mit ihm als gekennzeichnetem Juden zum Ausdruck brachten. Als kleine Blütenlese aus Klemperers Aufzeichnungen seien folgende fünf repräsentative Passagen zur „judenfreundlichen“498 Gesinnung mancher deutschen Bürger und Amtspersonen zitiert: Ein Diener kam, den ich nur vom Sehen kenne; er trug SA-Uniform; er drückte mir mit deutlicher Herzlichkeit die Hand. (ZAI: 204 [31.5.1935]) Sie klopften an, sie behielten nicht den Hut auf dem Kopf, sie baten um Entschuldigung und ‚wollten nicht stören‘, und alles das, trotzdem doch unsere Plätt- und Wohnküche den Judenstern an der Tür trägt. Welche ungewohnte, welche demonstrative, welche für die Ausübenden buchstäblich gefährliche Höflichkeit! (ZAII: 249 [24.9.1942]) ‚Kopf hoch!‘ Ich sehe ihn groß an. Darauf er: ‚Diese verfluchten Schweine – was die mit den Leuten machen – in Polen – ich hab auch eine Wut auf sie. Kopf hoch, das bleibt nicht... noch einen Winter können sie in Rußland nicht aushalten – Kopf hoch, es kommt anders ...‘. (ebd.: 352 [16.4.1943]) Als ich Sonntag nachmittag vom Friedhof kam, ging im Parkweg der Lothringer Straße ein alter Herr – weißer Spitzbart, etwa siebzig, pensionierter höherer Beamter – quer über den Weg auf mich zu, reichte mir die Hand, sagte mit einer gewissen Feierlichkeit: ‚Ich habe Ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich verurteile die Verfemung einer Rasse, und viele andere tun das ebenso.‘ Ich: ‚Sehr freundlich – aber sie dürfen nicht mit mir reden, es kann mich das Leben kosten und Sie ins Gefängnis bringen.‘ Ja, aber er habe mir das sagen wollen und müssen. – Die Orgel der Volksstimmen. Welche Stimme dominiert ...? (ebd.: 406 [19.7.1943]) [W]ir [hatten] die stupendeste Judenkontrolle. In Begleitung Waldmanns erschien in unserem Zimmer, während wir aßen, ein mittelalterlicher ‚Polizeimeister‘. [...]

(ZAI: 683 [1.11.1941]) Auch Hertha Nathorff prangerte die heuchlerische „arische“ Sympathie für die guten „Ausnahmejuden“ an, hinter der sich oft die eiskalte Ablehnung des Judentums verbarg: „Immer das gleiche dumme Gerede: ‚Sie meinen wir nicht. Sie sind anders, als die andern‘. Wie viele solche andere laufen in Deutschland herum, die sie gern schützen möchten? Wie dumm und doch wie gut ist dieses Volk im Grunde?“ (Nathorff 1988: 45 [2.6.1933]) In solchen Sympathiebekundungen klingt auf schaurige Weise die Referenz auf den „anständigen Juden“ in Himmlers berüchtigter Posener Rede vom 4. Oktober 1943 auf einer SS-Gruppenführertagung an. Albert Speer (1981: 355) zitiert daraus folgenden vielsagenden Abschnitt: „Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist klar, die anderen sind Schweine, aber dieser ist ein prima Jude.“ Bereits im Jahre 1936 durften Beamte, so lautete eine entsprechende Verordnung, „nicht mit Juden, auch nicht mit sogenannten anständigen Juden“ Kontakt pflegen (ZAI: 259 [28.4.1936]). 498 Der Begriff „Judenfreundlichkeit“ wird von Klemperer durchgängig verwendet. Im Gegensatz zu Else R. Behrend-Rosenfeld (1988), die in ihrem Tagebuch mit dem Titel Ich stand nicht allein ihre Rettung durch deutsche Nichtjuden schildert, erlebte der Dresdener Diarist äußerst selten, dass sich Menschen konkret für seine Belange einsetzten und sich eventuell dafür in Gefahr brachten. Unter Judenfreundlichkeit versteht der Tagebuchschreiber einerseits äußerliche Etikette wie „Höflichkeit“ und „Freundlichkeit“ und andererseits privat geäußerte – und darum relativ risikoarme – Systemkritik. Zu Klemperers Gebrauch des Begriffs „Judenfreundlichkeit“ vgl. z.B. ZAI: 647 [12.7.1941]; ZAII: 68 [19.4.1942]; ebd.: 73 [26.4.1942]; ebd.: 240 [11.9.1942]; ebd.: 287 [11.12.1942]; ebd.: 353 [16.4.1943]; ebd.: 408 [24.7.1943].

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Freundlichstes ‚Guten Abend‘ – na, da wolln wir mal ein bißchen kontrollieren – essen Sie ruhig weiter, Mutter!‘ [...] Der Polizeier mitleidig zu mir, ob ich denn Pension bekäme. ‚Seit November 43 keinen Pfennig mehr.‘ Betroffenes Schweigen. Dann mir die Hand schüttelnd. ‚Also guten Abend, Herr Professor. Das kommt schon wieder anders, Sie werden Ihr Amt zurückerhalten!‘ Das in Uniform, im Amt [...]! Man wird für weniger hingerichtet. (ebd.: 649 [29.1.1945]) 499

Solche Worte wärmten dem Philologen das Herz (vgl. ebd.: 353 [16.4.1943]), weil sie es ihm ermöglichten, sein „Gefühl für Deutschland zu bewahren.“ (ebd.: 224 [25.8.1942]) Klemperer kommt durch solche – strafbaren – Sympathiebekundungen und Höflichkeitsbeweise vereinzelter „arischer“ Bürger mitten im Holocaust zu dem Schluss, es herrsche im Volk kaum Antisemitismus. Aufgrund von Gestapotyrannei und Denunziantentum sei die deutsche Bevölkerung bloß zu ängstlich, um gegen die Nationalsozialisten aufzubegehren, wie er bereits im Jahre 1941 registrieren zu können glaubte: „Alle Welt fürchtet sich, im geringsten in Verdacht der Judenfreundlichkeit zu kommen.“ (ZAI: 578 [20.2.1941])500 Diesem Befund entsprechend stellt sich der Diarist eine Frage, die zutiefst widersprüchlich klingt: „Irgendwo müssen die Anhänger des Regimes doch wohl sitzen, irgendwo muß die nationalsozialistische Propaganda doch wirken.“ (ZAII:

499 Weitere Beispiele für Zuneigung, Sympathie und Ermutigung, die man Klemperer bekundet, findet der Leser in ZAI: 467 [7.4.1939]; ebd.: 659 [10.8.1941]; ebd.: 683 [1.11.1941]; ebd.: 688 [24.11.1941]; ebd.: 695 [17.12.1941]; ZAII: 9 [12.1.1942]; ebd.: 39 [6.3.1942]; ebd.: 79f. [8.5.1942]; ebd.: 112 [6.6.1942]; ebd.: 126 [13.6.1942]; ebd.: 223 [25.8.1942]; ebd.: 252 [5.10.1942]; ebd.: 381 [21.5.1943]; ebd.: 387 [4.6.1943]; ebd.: 398 [23.6.1943]; ebd.: 418 [14.8.1943]; ebd.: 422 [23.8.1943]; ebd.: 436 [28.9.1943]; ebd.: 493 [4.3.1944]; ebd.: 567 [24.8.1944]. Obschon diese Zeugnisse aufschlussreich sind und die These eines weit verbreiteten Judenhasses in der deutschen Bevölkerung relativieren mögen (vgl. Brady 1997: 28), mag es dennoch dahingestellt bleiben, ob es sich im Hinblick auf diese risikoarmen Zeichen der Sympathie um Beweise für genuinen Antifaschismus handelte. Utz Maas (1999: 103) und Heidrun Kämper (2000: 31) zufolge bewirkte der staatliche NS-Antisemitismus im Volke entweder ein „Dafür“ oder ein „Dagegen“. Der Nationalsozialismus sei, so Maas, das System, „dessen Welt die des Entweder-Oder, Freund oder Feind, ‚Arier‘ oder Jude ist, das die Haltung ja oder nein bewirkt, das sich in der Sprache der Beleidigung, des Befehls, der Verspottung ausdrückt oder in der des Bedauerns, des Bekenntnisses, der Freundlichkeit.“ Vielmehr zeigen aber Klemperers Tagebücher, dass es zwischen diesen beiden Polen – zwischen „ja oder nein“ – eine differenzierte Grauzone gab, die sich von sowohl von grausamer Tortur wie auch von heroischem Widerstand abhob. 500 Die deutsche Bevölkerung – vor allem aber die Arbeiterschaft – wurde von Klemperer „in ihrer Gesamtheit“ von der Judenfeindschaft freigesprochen; ihre Schuld wurde einerseits auf die Nationalsozialisten und andererseits auf einige vereinzelte Denunzianten übertragen: „Immer wieder beobachte ich das durchaus kameradschaftliche, unbefangene, oft geradezu herzliche Benehmen der Arbeiter und Arbeiterinnen den Juden gegenüber. Gewiß, irgendwo wird immer ein Spitzel oder Verräter zwischen ihnen sein. Aber das hindert nichts an der Tatsache, daß sie in ihrer Gesamtheit bestimmt nicht Judenhasser sind.“ (ZAII: 387 [4.6.1943]) Der Diarist stellt durchgängig die Zuneigung und das Entgegenkommen der nichtjüdischen Arbeiter und Arbeitgeber in den Betrieben in den Vordergrund (vgl. z.B. ebd.: 372 [5.5.1943]; ebd.: 437 ebd.: 455 [11.12.1943]; ebd.: 469 [5.1.1944]). Der Romanist bekommt in den Betrieben z.B. kostenlose Mahlzeiten und zusätzliche Essensrationen.

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186 [27.7.1942])501 Angesichts der vorgeblichen „Judenfreundlichkeit“ und Missbilligung der Kennzeichnung mit dem Judenstern seitens nicht weniger Mitmenschen, denen er begegnet, folgert der Diarist: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“ (ZAI: 677 [4.10.1941])502 Diese beiden letztzitierten Aussagen bestätigen Klemperers geradezu unerschütterlichen Glauben an den humanistischen Volkscharakter der Deutschen. Dazu soll unterstrichen werden, dass „Judenfeindschaft“ und „Judenfreundlichkeit“ in der Praxis keine absolut entgegengesetzten Extrempole darstellten. Der antijüdische Konsens in der Bevölkerung, wie Bajohr und Pohl (2006: 10) nahelegen, war bei der übergroßen Mehrheit der Menschen nicht mit einem allgemeinen Konsens zur Auslöschung der Juden identisch.503 Der Antisemitismus war in der Regel keineswegs von einer den Menschen inhärenten, persönlichen Willen zum Mord motiviert. Dennoch hatten die Mehrheit der Täter und ein beachtlicher Teil der nicht unmittelbar beteiligten Zivilbevölkerung das jüdische Feindbild verinnerlicht, ohne sich notwendigerweise einzelnen Juden gegenüber feindlich, unhöflich oder aggressiv zu verhalten. Der antisemitische Diskurs gegen das „Weltjudentum“ als theoretisches Konstrukt504 stellte einen fundamental anderen Sachverhalt dar als der direkte Kontakt zu einer einzelnen jüdischen Person. Der österreichisch-jüdische Historiker Walter Grab erinnerte sich vor diesem Hintergrund an die Haltung eines antijüdischen Häschers namens Lichtenegger, ein ehemaliger Klassenkamerad, mit dem er in der Grundschule befreundet war. 501 Im Gegensatz zu seinen jüdischen Zwangsarbeitskollegen hielt Klemperer – das Kriegsende vorwegnehmend – an Deutschland als Vaterland fest. Wie eine unsichere Selbstvergewisserung bzw. ein frommer Wunsch klingt das folgende Zitat im Hinblick auf die Zukunft der Juden in Deutschland: „Im Werk sagen sie: Wie auch der Krieg ausgehe, die Juden kämen hier nie wieder zur Ruhe, der Antisemitismus hafte zu tief. Ich: Er hat sich übernommen, er hat sich demaskiert, er wird abgewirtschaftet haben.“ (ebd.: 372 [5.5.1943]) 502 Derartige Vermerke finden sich ab 1933 bis Anfang 1945 allenthalben in Klemperers Tagebüchern. Der Diarist registrierte im öffentlichen Raum des Dritten Reiches relativ wenig gegen ihn persönlich gerichteten Antisemitismus, wie er beispielsweise in der folgenden Notiz aus dem Jahre 1940 aufzeichnete: „Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll. Die Frauen im Fischgeschäft, Vogel, Berger, Frau Haeselbarth.“ (ZAI: 513 [17.3.1940]) 503 Die Kopplung von Antisemitismus und Mordlust fand sich beispielhaft bei dem GestapoSchergen Clemens, der gegenüber dem jüdischen Gemeindevorsteher Kurt Hirschel seinen Judenhass wie folgt formulierte: „‚Ich hasse dich so furchtbar, sei gewiß, ich mache dich noch einmal kalt!‘ Hirschel, der oft mit ihm zu verhandeln hat, erwiderte: ‚Warum eigentlich hassen Sie mich so?‘ Clemens: ‚Das kann ich dir ganz genau sagen: Weil du Jude bist. Bestimmt werde ich dich umbringen.‘“ (ZAII: 316 [24.1.1943]; vgl. ebd.: 293 [21.12.1942]) 504 Detlev Claussen (2005: 62) betont diesbezüglich, der Antisemitismus erzwinge die Identität von jüdischer Natur und gesellschaftlicher Existenz, um seine eigene Existenz rechtskräftig zu behaupten. Dieses Recht sei die Wiederkehr des mittelalterlichen Faustrechts, des Rechts der Stärkeren, dessen Prinzip im Dritten Reich durch die gesellschaftliche Akzeptanz der „Blutrache“ an den Juden zum Ausdruck gebracht wurde. Der Antisemit schaffe somit „den Juden“ nach seinem eigenen Bilde, um die widerrechtliche Benachteiligung durch die „jüdische Rasse“ in den Vordergrund zu rücken: „Der Antisemit leuchtet in die verborgenen Winkel, er entlarvt, er deckt die Machenschaften auf, er weiß, daß hinter allen Sachzwängen Menschen stecken. Er weiß sie zu benennen: die Juden. Nicht als Individuum, sondern als Prinzip: der Jude.“

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Während einer antisemitischen Pöbelei – einer erniedrigenden „Reibaktion“ – wurde Grab plötzlich klar, dass sein früherer Schulfreund ihn einerseits als Vertreter der „jüdischen Rasse“ zutiefst hassen musste, ihm jedoch andererseits als sympathischem Mitmenschen nichts Böses wünschte: Und dieser ehemalige Schulkamerad Lichtenegger sieht mich – und erkennt mich ebenso, wie ich ihn erkannte. Dieses Erkennen war ihm unangenehm und peinlich. Das merkte ich in dieser Blitzsekunde; ich spürte, daß er nicht mich, also den Juden, den er kannte, erniedrigen wollte, sondern den anonymen Juden, den jüdischen Popanz des nazistischen Rassenwahns. ‚Der Jude‘ ist das Ungeziefer, das man zertreten, vernichten muß, aber den Schulkameraden Grab, den hat er ja als Mitmenschen gekannt, den hat er nicht gemeint. (Grab 1989: 49)

Die Sympathie und der Respekt für konkrete Juden und die Höflichkeit ihnen gegenüber, die Klemperer als willkommene Belege für „Judenfreundlichkeit“ und „Antinazismus“ verstand, konnten unter bestimmten Umständen geradezu bruchlos mit einer ideologisch untermauerten antisemitischen Einstellung und Mitgliedschaft der NSDAP einhergehen.505 Geradezu wie ein subjektloser verselbständigter Prozess entsprach die Judenverfolgung Klemperers Ansicht nach einer Kette verhängnisvoller Begebenheiten, die, angestiftet vom Nationalsozialismus, das deutsche Volk in einem alles verblendenden Rausch mitriss.506 Dieser Auffassung entsprechend wird das persönliche Verhalten des Einzelnen entsubjektiviert und gleichzeitig entmoralisiert, wodurch jegliche letztgültige Antwort auf die Schuldfrage prinzipiell ad absurdum geführt wird.507 Der Romanist begegnet des 505 Stellvertretend für viele andere wird der Geschäftsführer Möbius genannt, der aus opportunistischen Gründen NSDAP-Mitglied geworden war, ohne ideologischer Antisemit zu sein. In seiner Taschenfabrik begegnete der Philologe vordergründig Solidarität und Zuvorkommenheit. Der Diarist stellte ihm demzufolge nach dem Krieg einen Entnazifizierungsschein aus (vgl. US: 207f. [14.12.1945]). 506 Klemperers Betonung des anonymen Systemcharakters von Antisemitismus und Nationalsozialismus führt unwillentlich zu einer Transzendentalisierung der NS-Herrschaft, die den Nachkriegsaussagen der Täter und Mitläufer, sie seien nur ein kleines, unbedeutendes Rad im mörderischen Räderwerk eines unaufhaltsamen Getriebes gewesen, Glaubwürdigkeit und Prägnanz verleiht. Die vox populi, so der Romanist, sei prinzipiell dezentriert, ungelenkt und regellos: „Immer wieder die gleiche Frage: Welches ist die wahre communis opinio, welches die wahre vox populi, die wahre, die entscheidende Stimmung bei Volk und Heer? Niemand weiß es. Entscheidung kommt von irgendeinem Anstoß, irgendeiner Gruppe, irgendeiner um sich greifenden Stimmung, Entscheidung kommt von dem, was man Gott, Zufall, Schicksal, x nennen mag – nicht von bewußt lenkenden Menschen.“ (ZAII: 473 [15.1.1944]) Dieser Befund zeigt, wie schwer dem Autor die Erfassung der extrapolierbaren Gesetzmäßigkeiten der Volksstimmung in der Diktatur fiel. 507 Ein gutes Beispiel für einen beachtlichen Teil der Klemperer-Forschung, die den Aufzeichnungen des Dresdener Romanisten objektiven historischen Erkenntniswert zuschreibt und einseitig auf seine punktuelle Hervorhebung der Unschuld der deutschen Zivilbevölkerung fokussiert, stellt Michael Nerlichs Klemperer-Interpretation dar. Seiner Meinung nach sei Klemperer prinzipiell zuzustimmen, wenn dieser sage, das „Böse“ sei erstrangig den nationalsozialistischen Zeloten anzudichten: „[D]ie Antisemiten, denen er in jener Zeit der Rechtlosigkeit jüdischer Bürger begegnet, tragen entweder Gestapo-Uniform oder sind dumme Hitler-Jungen, bilden auf jeden Fall eine Minderheit gegenüber denen, die Klemperer Zeichen von Solidarität geben oder gar konkret helfen.“ (Nerlich 1997: 35) Nicht nur wird Nerlich auf diese Weise der Komplexi-

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Öfteren Parteimitgliedern, die sich ihm gegenüber durchaus „anständig“ benehmen, wie beispielsweise der Gymnasiallehrer und Außerordentliche Professor Rudolph Zaunick: Zaunick [...] kommt neulich an den Wagen, als wir Bismarckplatz stehen. Parteiabzeichen. Könnte bequem vorbeigehen, ohne uns zu bemerken, könnte allenfalls grüßen. Parteiabzeichen! Kommt aber mit offenbar herzlicher Freude heran. Wie es mir gehe... Herzliches Händeschütteln und betrübter Abzug. Mitglied der Partei! (ZAI: 362 [20.6.1937]; vgl. ebd.: 246 [11.2.1936]; ebd.: 366 [13.7.1937]; ZAII: 504 [12.4.1944])508

Der Philologe suchte den Schock, den das Wissen um die Parteimitgliedschaft vieler Bekannter bei ihm auslöst, dadurch abzufedern, dass er ihnen unterstellt, keine andere Wahl gehabt zu haben. Solchen Vermerken, die Klemperers Auffassung einer spannungsfreien Kopplung von Parteimitgliedschaft und „Philosemitismus“ veranschaulichen, liegt die Idee einer allmächtigen totalitären Machtelite zugrunde. Die Manipulationsthese dient somit dem psychischen Auffangen der traumatisierenden Einsicht, zu welcher „Barbarei“ (A 138: 734 [20.11.1942]) das deutsche Kulturvolk fähig sei. Gleich dem Rattenfänger von Hameln habe Hitler mit seiner „undeutschen“ Rhetorik und Propaganda das deutsche Volk gegen seinen Willen ins Unheil gestürzt, so Klemperers Leitgedanke.509 Ein Bibliotheksmitarbeiter der Dresdener Landesbibliothek, ebenfalls Mitglied der NSDAP, sei vor diesem Hintergrund „ganz bestimmt kein Nazi,“ sondern sei nach Klemperers Annahme unzweifelhaft unter Druck gesetzt worden: An der Landesbibliothek ist ein Diener, der mich seit Jahren in sein Herz geschlossen hat, der mir die Hand drückte, als er mich das erste Mal nach dem Lesesaalverbot sah, der bestimmt und ganz bestimmt kein Nazi ist. Gestern begrüßten wir uns wieder sehr freundschaftlich. Aber gestern trug er das Parteiabzeichen. Es gibt sicher Millionen solcher Parteimitglieder. (ZAI: 407 [10.5.1938])

Seine Liebe zu Deutschland ließ den Philologen die beispiellose zivilisatorische Abwärtsspirale verkennen, in der man sich bereits vor Kriegsausbruch befand. So verklärte er gewissermaßen die „gewöhnlichen“ Deutschen, die von den „undeuttät von Klemperers biographiebedingter Darstellungsweise, die einem deutsch-jüdischen Wunschdenken verhaftet ist, nicht gerecht, sondern ebenso wenig den Aporien des Geschichtsverlaufs: Die Antisemiten setzten sich, so Nerlich, ausschließlich aus Nazis zusammen, die entweder „schlecht“ (Gestapo) oder „dumm“ (HJler) waren. Klemperers Tagebücher werden vor diesem Hintergrund als Beleg herangezogen, um mit einem Mal die moralisch und historisch hochgradig komplexe und sensible Debatte um die Schuldfrage der Deutschen abzuschließen. 508 Das NSDAP-Mitglied Meincke bezeichnete der Tagebuchschreiber dementsprechend als „Antinazi, Judenfreund“, der seiner Meinung nach aus entlastenden Gründen wie Opportunismus und Angst vor dem Terrorregime der Partei angehörte (vgl. ZAI: 581 [25.2.1941]). 509 Roger Woods (2014) betont, dass die historische Bedeutung der Tagebücher gerade in der Repräsentation von Klemperers sozialer Interaktion mit nichtjüdischen Deutschen liege. Der Widersprüchlichkeit genauso weinig wie den Fehleinschätzungen in den Tagebuchaufzeichnungen wird Woods indes nicht gerecht, da die habitus- und identitätsbedingte Überdeterminierung von Klemperers Reflexionen über die Unterstützung des Antsemitismus außen vor gelassen wird (vgl. z.B. ebd.: 347).

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schen“ nationalsozialistischen Führern in die Irre geführt worden waren. Paradoxerweise werden die Mitglieder der NSDAP in der unteren und mittleren Parteihierarchie zu terrorisierten Opfern des Regimes umgedeutet. In einer höchst widersprüchlichen Umkehrung der Täter-Opfer-Perspektive erteilt der geächtete Jude Klemperer den Sündern – Antisemiten, Mitläufern und Nationalsozialisten unterschiedlichster Couleur – auch ohne deren Schuldbekenntnis die Absolution.510 Eine vergleichbare Inversion der Verfolgungslogik, die einen bewegenden Glauben an die altruistische Hilfsbereitschaft der deutschen Mitbürger zum Ausdruck bringt, findet sich bei Elisabeth Katz, einer Leidensgefährtin des Romanisten. Frau Katz, die im Jahre 1942 nach Riga deportiert wurde und seitdem verschollen ist (vgl. ZAII: 265 [27.10.1942]), sagte noch ein Jahr zuvor: „‚Jeder Jude hat seinen arischen Engel‘.“ (ZAI: 653 [21.7.1941]) Der Diarist, der sich als Vertreter des „wahren“ – sprich: freiheitlichen, weltoffenen, liberalen – Deutschtums verstand, hebt in einer nahezu sakralen Geste die Sünden der vom rechten Weg abgekommenen „arischen“ Mitbürger auf. Vor diesem Hintergrund attestiert Klemperer beispielsweise dem Hausverwalter Richter – trotz seiner offensichtlichen Mitarbeit am Verfolgungsprozess und seiner „Distanzierung“ vom Verfolgten – seine Unschuld: Er [=Richter, A.S.] entsetzte sich – ‚Die Schweine! Die Hunde!‘ –, als ich ihm von unseren Schicksalen erzählte, er wollte mir – ich lehnte ab – durchaus ein Stück Rasierseife schenken ... ‚Und dabei muß ich mich doch von Ihnen streng distanzieren!‘ ‚Gewiß, Herr Richter, Sie haben Frau und Kind, Sie sind ganz unschuldig.‘ [...] Ich sagte ihm des nicht allzufernen Zusammenbruchs sei ich so gewiß wie er; nur fürchtete ich einen allgemeinen Pogrom vor dem Debakel. Er widersprach nicht, er nahm mit einer Art gerührter Feierlichkeit von mir Abschied; so als wenn ich an die russische Front ginge. (ZAII: 241f. [11.9.1942])511

Wenn schon nicht an die russische Front, so hätte Klemperer als Jude während des Holocaust sehr wohl in ein Konzentrationslager geschickt werden können. 510 Klemperer, das wirkliche Opfer der Judenverfolgung, erweckte streckenweise den Eindruck, er übte Nachsicht mit den „gewöhnlichen“ Antisemiten, weil sie letzten Endes für die „Volksverdummung“, von der sie selbst betroffen waren, nicht verantwortlich gemacht werden könnten. In einer aufschlussreichen Passage aus dem Jahre 1944 heißt es in diesem Zusammenhang beispielsweise: „Bestimmt glaubt dieser Mann, der fraglos kein Nazi ist, daß Deutschland in Notwehr und in aufgedrungenem Krieg und in vollem Recht sei, bestimmt glaubt er mindestens zum größten Teil an die Schuld des ‚Weltjudentums‘ usw. usw. In der Kriegführung mögen sich die Nationalsozialisten verrechnet haben, in der Propaganda bestimmt nicht. Ich muß mir immer wieder Hitlers Worte ins Gedächtnis rufen, er rede nicht für Professoren.“ (ZAII: 498 [19.3.1944]) 511 In The Fragility of Empathy after the Holocaust erstellt Carolyn J. Dean (2004: 96-100) eine eindringliche Analyse von diesem Textpassus in Klemperers Tagebüchern. Richter erscheint in Deans Analyse als typisches Beispiel des mitschuldigen Zuschauers: Er normalisierte Klemperers nahenden Tod und löschte ihn somit sowohl als Mensch wie auch als deutschen Staatsbürger. Henry Ashby Turner Jr. (1999: 389) kommt zu einer vollkommen entgegengesetzten Schlussfolgerung, indem er ohne Weiteres der Argumentführung des Diaristen folgt: Ashby Turner Jr. ist der Meinung, Richter sei ein Paradebeispiel des wohlmeinenden Beamten im Dienste des Nationalsozialismus.

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Der „Arier“ Richter und der „Jude“ Klemperer waren im NS-Deutschland alles andere als Gleichgestellte, aber der Diarist betrachtete sich nach wie vor dem deutschen Kollektiv zugehörig. Das Festhalten an dieser Chimäre gab dem Diaristen seine einzigartige psychische Überlebenskraft im Dritten Reich: Nicht er wurde gedemütigt, so der psychologische Subtext in den Notizen, denn er hatte den wahren Glauben, das wahre Deutschtum; die anderen – die schweigende Mehrheit und die Täter – seien dagegen unehrenhafte Betrogene bzw. Abtrünnige, die Deutschland und die deutschen Werte und Tugenden entehrt und geschändet hätten. Die augenscheinliche formale Zuvorkommenheit von Beamten, Polizisten, Parteimitgliedern, offiziellen Mitarbeitern im Rahmen des Arisierungs- und Verfolgungsprozesses interpretiert Klemperer als impliziten innerlichen Widerstand gegen das Regime und dessen krankhaften Antisemitismus.512 Im Gegensatz zu dieser Interpretationsrichtung legt Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem nahe, dass gerade die Normalität dieser Menschen – obschon die Grade der persönlichen Involvierung natürlich je nach Verantwortungs- und Führungsniveau variierten – ein beunruhigendes Zeichen einer unbewussten Aushöhlung moralischer Universalien war, die keine Gewissensprüfung mehr möglich bzw. notwendig machte. Das Verbrechen wurde im Dritten Reich legalisiert und auf diese Weise zur Norm gemacht. Das Gefühl für das Unmenschliche im Bösen kam Personen wie Adolf Eichmann vor diesem Hintergrund mit katastrophalen Folgen abhanden: Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Gräuel zusammengenommen, denn sie implizierte [...], dass dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden. (Arendt 1990: 425)

Das Menschlich-allzu-Menschliche ist der Grund dafür, so Arendt, dass man sich situativ zum Guten oder zum Bösen hinorientieren kann. Das Verständnis für das Böse wurde im Dritten Reich für eine Mehrheit der Bevölkerung zur Normalität und somit banalisiert und entproblematisiert. Das Banale von Hausverwalter Richters indirekter Mitarbeit am Verfolgungssystem kam in seiner Freundlichkeit und Höflichkeit zum Ausdruck, die die eigene Rolle im Ganzen verdeckten. Vor diesem Hintergrund wäre es meiner Meinung nach verfehlt, alle Zeichen der Sympathie und des Zuspruchs, denen Klemperer begegnet, ohne Weiteres – wie 512 Von den Vertretern des Verwaltungs- und Polizeiapparates setzt der Diarist immer wieder erneut die gewalttätigen, ungebildeten und schonungslosen SS-, SA- und Gestapo-Mitglieder ab, die er als – für das Volk unrepräsentative – Wächter und Peiniger des Regimes kennzeichnete (vgl. z.B. ZAII: 75 [28.4.1942]; ebd.: 153 [3.7.1942]). Klemperer bringt beispielsweise den Unterschied zwischen Polizei und Gestapo wie folgt zum Ausdruck: „Die Polizei ist immer höflich, steht immer im betonten Gegensatz zur Gestapo.“ (ebd.: 189 [29.7.1942])

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jedoch in der Forschungsliteratur regelmäßig zu lesen ist (vgl. z.B. Frei (1997: 97) – als „judenfreundliche“ Güte zu bezeichnen. Die typischen Vollstrecker des Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses waren in der Regel nicht Fanatiker oder Sadisten, sondern, so Arendt (1990: 543) weiter, „Spießer“. Den „Spießer“ definiert die Philosophin als den modernen Massenmenschen, der durch das Verschwinden der öffentlichen Tugend ausschließlich auf die eigene private Existenz fixiert ist. Er gibt „bei der geringsten Gefährdung der Sekurität alles – Ehre, Würde, Glauben – preis[...].“ (ebd.) Die Aufzeichnungen zur vox populi werden also, so meine These, durch die deutschpatriotischen Identitätsauffassungen, die entsprechende Idealisierung des deutschen Volkes und die Ausnahmesituation des Philologen unmittelbar bedingt und bestimmt. Die Einschätzung der Volksstimmung, das „unlösbarste und dabei entscheidende Rätsel“ (ZAI: 512 [17.3.1940]), versuchte Klemperer unter Rekurs auf die dem Totalitarismus innewohnende Praxis von Gehirnwäsche und Drohungen zu lösen. Er attestierte den Mitläufern keine bösen Absichten, sondern vielmehr mangelnde Bildung und infolgedessen unzureichendes kritisches Denkvermögen. Angesichts des spezifischen Blickwinkels des Diaristen bieten Klemperers Tagebücher – wie auch Susanne Heim (2000: 325) zu Recht betont – kein Korrektiv zur vorherrschenden historischen Holocaustforschung. Aufgrund der Vielstimmigkeit, der Ambivalenzen und Sinnwidrigkeiten der Tagebücher verbietet es sich, Klemperers Tagebuch in historischer Hinsicht zur norma normans zu machen. Klemperer postuliert – je nach persönlicher Stimmungslage und Erfahrung – zugleich die Schuld und die Unschuld des deutschen Volkes, seine Heuchelei und seine Aufrichtigkeit. Diese contradictiones in terminis und die Unstetigkeit der Gefühle und Gedanken machen eines der Hauptmerkmale der gegenwartsorientierten Tagebuchgattung aus. Sie erschweren es dem Literaturwissenschaftler erheblich, in den Notizen klare Entwicklungslinien und eine einheitliche Argumentationsführung zu eruieren. Die für die Tagebuchhermeneutik wichtige Frage, welche der sich innerhalb des Tagebuchs widerstreitenden Aussagen gerechtfertigt seien, kann somit von verschiedenen Seiten unterschiedlich beantwortet werden. Mit Sicht auf die faktische Rezeptionsgeschichte der Tagebücher muss man sich darüber im Klaren sein, dass Klemperers Aufzeichnungen zu einer widersprüchlichen Lektüre Anlass geben können. Im Hinblick auf den historischen Wert der Klemperer-Tagebücher schreibt Eva Auf der Maur (1999: 299), sie seien „als Zeugnis für die Nazi-Zeit [...] belanglos,“ während von Walter Laqueur (1996: 253) „ihr großer Wert für die Nachwelt“ hervorgehoben wird.513 513 Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls die literarische Rezeption der Tagebücher interessant, die eine gewisse Tendenz zur erinnerungspolitischen Verzerrung der Aufzeichnungen aufweist: Sowohl deutsche Schuld wie auch deutsche Unschuld können mit etwas schlechtem Willen im absoluten Sinne aus den Tagebüchern herausgelesen werden, während aus den Notizen gerade die spannungsvolle Abwechslung von beiden Perspektiven hervorgeht. Victor Klemperer erscheint als fiktionale Figur in Martin Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit (1991: 302ff.) und in Antonio Muñoz Molinas Roman Sepharad (2004: 67-86). In Walsers Werk stellt

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Das Tagebuch ist eine historische Erkenntnisquelle, aber keine Wahrheitsinstanz. Um der Klemperer-Tagebücher in ihrer Widersprüchlichkeit gerecht zu werden, müssen sie in quellenkritischer Hinsicht stets mit Vorsicht und Ausgewogenheit behandelt werden. Weder bestätigen noch widerlegen die Aufzeichnungen die umstrittene These der ausnahmslosen Schuld des deutschen Volkes, sie stellen vielmehr dar, dass Schuld und Unschuld neben einander her und noch öfter in einander übergingen. Diese unheimliche Aufhebung der klaren Differenz zwischen Gut und Böse tritt auch im folgenden Abschnitt zu Haltung und Wissensstand der deutschen Bevölkerung im Hinblick auf die Judenvernichtung prägnant hervor. 3.2.2.6 Vox populi und Holocaust: Nichtwissen, 3.2.2.6 Wissensverweigerung und Schuldfrage Mit der Kennzeichnung durch den Judenstern am 19. September 1941 wurde Klemperers Zugang zu Informationen von „Ariern“ erheblich erschwert. Der Diarist durfte sich nur noch zu gewissen Zeitpunkten und an gewissen Orten außerhalb des „Judenhauses“ aufhalten. Jede Kontaktaufnahme zwischen Juden und „Ariern“ war für beide Dialogpartner strafbar (vgl. z.B. ZAII: 406 [19.7.1943]). Er suchte somit die Stimmungs- und Wissenslage der deutschen Bevölkerung durch mitgehörte Gespräche, Alltagsszenen auf der Straße und in Läden, von Händlern erhaltene Informationen, Nachrichten, die Eva über Dritte mitgehört hatte, Berichte von jüdischen und nichtjüdischen Mitarbeitern in der Fabrik, Nachrichten aus dem ausländischen Rundfunk und – zwischen den Zeilen – aus offiziellen deutschen Zeitungsmeldungen und durch Gespräche mit den jüdischen Leidensgefährten im „Judenhaus“ auszuloten.514 Das detaillierte Wissen

Klemperer eine Projektionsfläche für die deutsche Selbstexkulpation dar. Individuelle Schuld wird negiert, und die geographische Determiniertheit des Individuums als unentrinnbares und handlungssteuerndes Schicksal ins Licht gerückt. Vgl. Taberner (1999: 722ff.) für eine Auseinandersetzung mit der Klemperer-Darstellung im besagten Roman Walsers. Muñoz Molinas fiktionalisierte Renarration von Klemperers Erfahrungen im Dritten Reich mündet ihrerseits – im Gegensatz zu Walser – in eine undifferenzierte Darstellung der einheitlich nationalsozialistischen Gesinnung der deutschen Gesamtgesellschaft, die somit zu einer allzu einfachen, dämonischen Karikatur wird. Für eine kritische Analyse der Klemperer-Rezeption in Sepharad vgl. Sepp (2006b). 514 Wolfgang Benz (1992: 60f.) legt nahe, dass es in Deutschland ein mehr oder weniger deutliches Wissen um den organisierten Massenmord in Osteuropa – die Massenerschießungen, die Gaswagen, die Konzentrationslager – gab. Die zirkulierende Information wurde entweder nicht internalisiert oder anders interpretiert oder negiert: Das vermeintliche Nichtwissen der deutschen Zivilbevölkerung sei ihm zufolge vor diesem Hintergrund lediglich als Selbstschutz zu deuten. Ursula Büttner (1992: 68) schreibt im Hinblick auf die psychologische Verdrängungsthese der Deutschen: „Viele Deutsche hatten tatsächlich nichts ‚gewußt‘, weil sie es vermieden hatten, aus Berichten und eindeutigen Hinweisen die zwangsläufige Schlußfolgerung zu ziehen. Das Wissen um den Judenmord wurde nicht nachträglich verdrängt, sondern schon zur Zeit, als er geschah, beiseite geschoben.“ Das angebliche Nichtwissen der „gewöhnlichen“ Deutschen dementiert auch Walter Laqueur (1981: 26), der den Wissensstand der Bevölkerung noch ein-

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über die Bedeutung, den Verlauf und das Ausmaß des Holocaust, das Klemperer aus der Perspektive eines isolierten, verfolgten Juden im Reich an den Tag zu legen vermochte, ist durchaus erstaunlich und scheint im Hinblick auf die bis auf heute kontrovers diskutierte Frage um das vielbeschworene Nichtwissen der deutschen Zivilbevölkerung einen wichtigen zeitgeschichtlichen Beitrag zu leisten. Der Genozid, so formulieren es überspitzt Bajohr und Pohl (2006: 13), „fand [...] in aller Öffentlichkeit statt.“ Der Holocaust stellte vor diesem Hintergrund, so auch der Titel und die Ausgangsthese ihres Buches, ein „offenes Geheimnis“ dar.515 In seiner vielbeachteten Ansprache im Plenarsaal des Bonner Bundestags im Jahre 1985 anlässlich des 40. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkriegs betonte demgemäß der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäkker (1990: 35), der die deutschen Täter und die nicht-deutschen Opfer in den Mittelpunkt rückte, dass auch jeder einzelne Deutsche aufgrund seines verhängnisvollen Abwendens vor den Anzeichen des Genozids für die Verbrechen des NS-Regimes hafte: Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß. [...] Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler [...], nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.516

Im Alltag des Nationalsozialismus waren Maßnahmen, die von Anderen ausgeführt, aber von der deutschen Zivilbevölkerung zur Kenntnis genommen wurden, gang und gäbe; in Hinblick auf die Bevölkerung kann aus logischen Gründen daher unmöglich von Nichtbetroffenen die Rede sein. Harald Welzer (2007: 24f.) weist darauf hin, dass der rasch vollzogene öffentliche Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der Sphäre der moralischen Verbindlichkeit mit einer faktischen Erhöhung des Stellenwertes der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft einher ging.517 Die Deutschen wurden als Überlegene in die Herrenrassentheorie eingemal wie folgt auf den Punkt bringt „Es ist zwar richtig, daß nur eine Handvoll Deutscher alles über die Endlösung wußte, aber nur sehr wenige wußten gar nichts.“ 515 Götz Aly (1995: 371-374) bezeichnet den Holocaust auf ähnliche Weise als „öffentliches Geheimnis“. So soll dem deutschen Historiker zufolge die zu stellende Frage nicht lauten „Wieviel wurde gewußt?“, sondern „Warum wollten die Deutschen so wenig wissen?“ (ebd.: 373) 516 Richard von Weizsäckers Rede stellte ein wichtiges Ereignis in der deutschen Erinnerungskultur dar, weil sie den Übergang von der „Schamkultur“ der 1950er Jahre hin zur „Schuldkultur“ markierte. Wie aus dem zitierten Passus hervorgeht, stellt Schuld in der schuldkulturellen Betrachtungsweise eine Kategorie der persönlichen Integrität dar. Der Einzelne wird vor diesem Hintergrund als selbstverantwortliche Instanz allgemeingültiger Normen und Werte verstanden. Für ein Erörterung von Weizsäckers Rede im Hinblick auf die deutsche Erinnerungspolitik vgl. Hurrelbrink (2006: 106ff.). 517 Riccardo Bavaj (2003: 77f.) zeigt anhand der überaus reichen Forschungsliteratur zum sozialen Bewusstsein im Dritten Reich, dass in großen Teilen der deutschen Bevölkerung ab 1933 ein verändertes Lebensgefühl konstatiert werden konnte. Unter dem Nationalsozialismus wurde eine private Öffentlichkeit geschaffen, in der sich die Deutschen in zunehmendem Maße als

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bunden, was sich auf psychologischer Ebene als ungemein zustimmungsfähig erwies und ein Gefühl verringerter sozialer Gefährdung hervorbrachte: Zur „arischen Volksgemeinschaft“ gehörte man zeitlebens durch Geburt, genauso wie Nichtarier unabänderlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen blieben. In der Endphase des Krieges wurde die Schuldfrage in der Regel auf eine kleine Minderheit von Bösewichten in den höheren Führungsetagen projiziert, die ausschließlich haftbar für das Schicksal der Juden in Deutschland gewesen seien (vgl. Benz 1992: 52). Angesichts der Vielstimmigkeit und der Differenziertheit der Meinungen in den letzten Kriegsmonaten und in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlaubt sich Klemperer nicht, allgemeingültige Pauschalurteile zu fällen. In dieser Periode lautet immer wieder sein Fazit: „Das ist nun die neue Vox populi. Die oder eine?“ (US: 61 [18.7.1945]; vgl. ZAII: 676 [19.2.1945]; US: 147 [30.9.1945])518 Auf Victor und Evas Irrfahrt durch Bayern nach der Flucht aus dem zerbombten Dresden begegnet der Diarist den unterschiedlichsten Stellungnahmen zu Hitler, Nationalsozialismus, Krieg und Antisemitismus. Einerseits notiert er Aussagen von Menschen, die bis ans Ende des Krieges ihren unerschütterlichen Glauben an Adolf Hitler bekennen und ihr Vertrauen in den Endsieg äußern: Aber das habe der Führer nicht verdient, daß er besiegt werde, er habe alles so gut gemeint und geordnet. Und er werde auch nicht unterliegen. Die bisherigen Niederlagen seien durch Verrat zustande gekommen, schon lange vor dem 20. Juli sei Verrat im Spiel gewesen, und jetzt, am Geburtstag des Führers, am 20. April, werde unsere neue Offensive einsetzen und den Osten befreien. Ganz gewiß schien er dessen aber doch nicht zu sein. (ZAII: 727 [15.4.1945])

Andererseits – und viel häufiger – zeichneten sich angesichts der militärischen Niederlage Einwände und Bedenken gegen das Regime und die NS-Führung ab, die auf erwartete Bestrafungen, Vergeltungsängste und schlechtes Gewissen zurückzuführen sein mochten (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 78f.). Solche Reaktionen beeinflussten maßgeblich die westdeutsche Gedächtnis- und Erinnerungspolitik, die die Deutschen als manipulierte Opfer einer verbrecherischen Diktatur darstellte. Angesichts des Näherrückens der alliierten Truppen in der Endphase des Krieges hält Klemperer mehrmals Beispiele von Personen fest, die ihm und anderen Juden gegenüber ihren langjährigen „Philosemitismus“ beteuern (vgl. z.B. ZAII: 583 [14.9.1944]; ebd.: 654 [8.2.1945]).519 Erst jetzt erwachen bei Klempe„Volksgenossen“ definieren konnten. Das NS-Regime vermittelte über die Suggestion einer klassenlosen, völkischen, modernisierten Gesellschaft die attraktive Idee, einer nationalen Leistungsgemeinschaft anzugehören, in der sich alle aufgrund ihrer gemeinsamen „Herrenrasse“ gleichzeitig ebenbürtig und doch überlegen fühlen konnten. 518 In der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte der Tagebuchautor auch die rücksichtslose Manipulation und Lenkung der vox populi durch die kommunistischen Medien in der SBZ an den Pranger (vgl. US: 94 [16.8.1945]; ebd.: 77 [1.8.1945]). 519 Ein junger deutscher Soldat, der vor dem Wehrdienst Jurastudent gewesen war, gab Klemperer gegenüber fast großmütig die Verbrechen des unpersönlichen „Man“ an den Juden zu, andererseits aber glaubte er immerhin an die Güte und Gerechtigkeit Adolf Hitlers: „Man habe zu viel gewollt, man habe übertrieben, man habe Grausamkeiten verübt, wie man in Polen und Ruß-

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rer gewisse Zweifel an der Authentizität dieser Bekundungen. Die Aufrichtigkeit von Aussagen, die der Wendehals-Mentalität entspringen, wird vom Tagebuchschreiber angezweifelt, ohne sie aber vehement anprangern oder bestreiten zu wollen: „Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich immer gewesen wären...“ (ebd.: 761 [1.5.1945]) In Bayern trifft der Tagebuchautor häufig auf Menschen, die nach eigenen Angaben immer gegen das Hitler-Regime gewesen seien: Niemand am dortigen Ort will Nazi gewesen sein. Und immer rätselhafter, trotz Versailles, Arbeitslosigkeit und eingewurzeltem Antisemitismus, immer rätselhafter wird mir, wie sich die Hitlerei durchsetzen konnte. Hier tut man jetzt manchmal so, z.B. bei Flamensbeck, als sei Hitlerei im wesentlichen eine preußisch-militaristische-unkatholische-unbayrische Sache gewesen. Aber München war doch ihr ‚Traditionsgau‘. (ebd.: 768f. [5.5.1945])

Einige Wochen danach protokolliert Klemperer ein Gespräch mit einer Frau, die angeblich von Staatsterror und Judenverfolgung nichts gewusst hatte. Ihr familiäres Umfeld sei darüber hinaus nie ideologisch in den Nationalsozialismus involviert gewesen. Ohne vorweg solche Aussagen als Lüge und Heuchelei abzutun, ohne jede Empörung, Verurteilung oder Bitterkeit zeichnet der Diarist ihre Antwort auf, wobei insbesondere – trotz seiner direkten Betroffenheit – die emotionale und moralische Ausgewogenheit seiner Darstellung ins Auge fällt: Die Frau sagte: ‚Was ist eigentlich ‚Gestapo‘; ich habe das nie gehört. Ich habe mich nie um Politik gekümmert, ich weiß nichts von den Judenverfolgungen...‘ etc. Ist dieses Nichtwissen wahr oder erst jetzt eingetreten? Sie sagt von den Dachauern immer nur: ‚Die Sträflinge‘, sie unterhält sich mit ihnen, aber sie hält doch ängstliche Distanz. Ihr Vater, sagt sie, sei Sozialdemokrat gewesen [...], ihr Mann [...] ‚unpolitischer‘ Mechaniker. Was an diesem Nichtwissen ist Wahrheit? (ebd.: 797 [25.5.1945])520

Die verschiedenen Reaktionen auf die jüdische Präsenz im NS-Deutschland erweisen vor allem in der Endphase des Krieges als besonders differenziert. Einerseits werden Juden nach wie vor als Fremdkörper behandelt, andererseits wagen land mit den Menschen umgegangen sei, unmenschlich! ‚Aber der Führer hat davon wohl nichts gewußt‘, der Führer sei schuldlos, man sage ja, Himmler habe regiert.“ (ZAII: 766 [4.5.1945]) 520 Jürgen Straub (1991: 124), einer der Hauptvertreter der narrativen Psychologie, erklärt in Anlehnung an Alexander Mitscherlich, dass der distanzierende Ausschluss fremden Leides keineswegs auf bloße Lücken in der Wahrnehmung zurückzuführen ist, sondern das Verhalten des Täters, Mitläufers oder Zuschauers vielmehr durch markante Abwehrmechanismen zustande kommt, wie etwa die Verleugnung gewisser Fakten, die Projektion gewisser Verhaltensweisen auf andere, die Verdrängung der eigenen Erinnerungen, die ex post nicht mit dem eigenen Idealverhalten in Einklang zu bringen sind. Solches Verhalten könne die Veränderungs- und Entwicklungschancen des Subjekts blockieren. Klemperer hält vor diesem Hintergrund im Hinblick auf die Geschichtsvergessenheit der deutschen Bevölkerung fest: „Das Volk ist absolut geschichtslos, in jeder Hinsicht. [...] Ich fragte die Frau, ob sie etwas von Hitler und den anderen Größen der NSDAP gehört habe; nein, danach zu fragen hatte sie gar keine Zeit gehabt, anders ausgedrückt: Das interessierte sie nicht mehr. Das 3. Reich ist schon so gut wie vergessen, jeder ist sein Feind gewesen, ‚immer‘ gewesen.“ (ZAII: 773 [11.5.1945])

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es auch immer mehr Menschen in der Öffentlichkeit – z.B. im Luftschutzkeller –, ihre Sympathie zum Ausdruck zu bringen: Zwar Steinitz erzählt: Jacobi habe neulich in einen öffentlichen Luftschutzkeller gemußt und auf der Schwelle gezögert. Man habe ihn aber freundlich aufgenommen, und ein Arbeiter habe gerufen: ‚Komm doch rein, Kamerad!‘ Jacobi: ‚Das dürfen Sie aber nicht sagen.‘ Der Arbeiter (laut): ‚Alle sind wir Kameraden – und bald werden wir es auch wieder laut sagen können.‘ [...] Gleich gab es das peinlichste Gegenstück zu Jacobis Erlebnis; was ist nun vox populi? [...] Daß deren große Diele den ‚arischen‘ Luftkeller des Hauses vorstellt, wußte ich nicht. Allerhand Leute standen da, ich drückte mich still in eine Ecke. Gleich kam eine kleine schwarzhaarige Frau auf mich zu: ‚Sie dürfen sich hier nicht aufhalten!‘ [...] Unmittelbar darauf wandte sich auch schon der alte Leuschner an mich: ‚Was machen Sie hier?‘ (ebd.: 643f. [20.1.1945])

Neben der Erfassung der Haltung von „Ariern“ gegenüber Juden ist einer der Hauptschwerpunkte von Klemperers Tagebucheintragungen zur vox populi die Auswertung von zirkulierenden Informationen zum Holocaust, mittels derer der Diarist den Vernichtungsprozess und den Kriegsverlauf zu rekonstruieren versucht.521 Abgesehen von Selbstgehörtem war Klemperers Informationsbeschaffung hauptsächlich von anderen jüdischen Quellen abhängig, über Eva bekam er aber auch Zugang zu nichtjüdischen Informationen. Anfänglich versagte seine Vorstellungskraft vor dem Ausmaß und der Grausamkeit der Judenvernichtung. Mordaktionen und Arbeitseinsätze verliefen in der Frühphase der Shoah 1941/1942 parallel, wodurch dem Tagebuchschreiber ein konsistentes Totalbild der Katastrophe verweigert blieb. Daher hielt er es zunächst für ein bloßes Gerücht, „daß Judentransporte bei der Ankunft abgeschossen würden. Aber es ist offenbar ungeheurer Mangel an Arbeitskräften, und was kann ein toter Jude arbeiten?“ (ebd.: 11 [17.1.1942])522 Wie viele andere klammerte sich der Diarist noch an der Fiktion des Arbeitseinsatzes im Osten fest. Nach und nach verdichtete sich die Informationsvielfalt zu einem relativ einheitlichen Bild von Bedeutung, Vorgehensweise und Ziel der Shoah. Der Diarist hörte zum Beispiel von der Erzählung eines beurlaubten Soldaten, der berichtet habe, dass die Juden im Osten massenhaft ermordet wurden: 521 In ihrer Dissertation über Holocaust-Tagebücher, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, legt Alexandra Garbarini (2006: 58-94) nahe, dass der Versuch, die Nachrichten und Gerüchte über den Kriegsverlauf zu interpretieren und ihre Plausibilität verschiedenartig zu überprüfen, einen festen Bestandteil der meisten jüdischen Tagebücher darstellte. Auf diese Weise setzte man es sich zur Aufgabe, über die Ghetto- bzw. Lagermauern hinaus zu schauen, um ggf. Hoffnung zu schöpfen und – entgegen der Zeit- und Perspektivlosigkeit während der Shoah – am Geschichtsverlauf teilzuhaben. Dieses Thema steht im Mittelpunkt von Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner (1982). 522 Die Deportationen der deutschen Juden aus dem „Altreich“ im Herbst 1941 gingen meistens noch nicht mit dem systematischen Massenmord einher. Obschon die Selbstmordrate unter den verzweifelten Deportierten besonders hoch war, klammerte man sich an die Vorstellung des Arbeitseinsatzes im Osten (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 59). Für Tagebucheintragungen, in denen der Diarist die Deportationen im Herbst 1941 kommentiert, vgl. beispielsweise ZAI: 680 [25.10.1941]; ebd.: 686 [18.11.1941]; ebd.: 688f. [28.11.1941]; ebd.: 692 [5.12.1941]).

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Bei Windes wurde wieder einmal vom Bericht eines Urlaubers erzählt: schauerliche Judenmorde im Osten. Die Truppe mußte Schnaps bekommen. ‚Wenn wir Schnaps bekamen, wußten wir schon immer, was kommen würde.‘ Einige Leute hätten Selbstmord verübt, ‚um das nicht ein zweitesmal mitansehen und auf das Gewissen nehmen zu müssen.‘ Das ist nun schon zu häufig und von zu vielen arischen Seiten übereinstimmend berichtet worden, als daß es Legende sein kann. Und es stimmt ja doch auch zum hier Erlebten. (ebd.: 616 [26.11.1944])

Einige Monate zuvor hatte ihm Werner Lang, ein in „Mischehe“ lebender jüdischer Schicksalsgefährte, bereits einen durchaus ähnlichen Bericht aus dem Munde eines aus Polen zurückgekehrten Soldaten weitererzählt: Auf dem Heimweg erzählte Werner Lang: Ein Soldat habe ihn auf dem Tramperron angesprochen: ‚Sie sind noch hier, wieso das? (im unaggressiven Ton) – ‚Weil ich in Mischehe lebe.‘ – ‚Das ist ja anständig; aber in Polen habe ich so gräßliche Sachen gesehen, so gräßliche! Das muß sich rächen!‘ Dies ganz laut, während andere Leute zuhörten. Der Mann riskierte seinen Kopf. (ebd.: 565 [20.8.1944])

Klemperer hatte bereits zwei Jahre vorher von Soldaten, die auf Heimaturlaub aus Polen zurück waren, gehört, dass „die Juden täglich zu Hunderten erschossen“ würden (ebd.: 270 [2.11.1942]). Im Juni 1942 erfasste Klemperer Informationen seitens des jüdischen Gemeindevorstehers über das „Sammellager Theresienstadt, von wo aus Verteilung nach Polen erfolgt“ (ebd.: 131 [16.6.1942]).523 Anfang 1943 kursierten Gerüchte, dass im Osten Juden in „Viehwagen während der Fahrt vergast“ würden (ebd.: 335 [27.2.1943]). Diejenigen, die trotz strengsten Verbots Auslandssendungen (vor allem die deutschsprachigen BBC-Sendungen) hörten – für Juden war der Besitz eines Radioapparates verboten (vgl. ebd.: 380 [21.5.1943]) –, wussten spätestens ab Mitte 1942, dass eine Massenvernichtung der europäischen Juden im Gange war.524 Schrittweise und bruchstückhaft

523 Die meisten Dresdener Juden wurden nach Theresienstadt abtransportiert. Das KZ Theresienstadt in Böhmen bezeichnete der Diarist, den Nachrichten und Gerüchten nach, anfangs als „Altersghetto“ bzw. als „relativ menschlichen Ort“: „Es scheint die allgemeine Stimmung der Judenheit, die Evakuierung nicht mehr so sehr zu fürchten wie früher und nun gar Theresienstadt als einen relativ menschlichen Ort anzusehen.“ (ZAII: 176 [24.7.1942]) Diese Auffassung wurde aber rasch korrigiert, als Klemperer einige Monate später hörte, dass im Lager bereits viele Todesfälle eingetreten wären (vgl. ebd.: 264 [27.10.1942]). Für weitere Kommentarstellen zur Funktion dieses Konzentrationslagers während der Shoah vgl. ebd.: 199 [8.8.1942]; ebd.: 238 [8.9.1942]; ebd.: 393 [12.6.1943]; ebd.: 489 [21.2.1944]; ebd.: 550 [21.7.1944]; A 138: 1202 [26.9.1944]. Zu den Theresienstadt-Transporten aus Dresden im Zeitraum vom 1. Juli bis zum 22. September 1942 vgl. die historische Darstellung in Grygleweski (1998: 125-131). 524 Ein bemerkenswertes Dokument, das plausibel macht, dass die deutsche Zivilbevölkerung viele Möglichkeiten vorfand, von den NS-Verbrechen zu erfahren, stellt das Tagebuch des deutschen Maschinenbauingenieurs Karl Dürkefälden dar. Vom Massenmord an den Juden hat Dürkefälden über die BBC-Sendungen zum ersten Mal im Herbst und Winter 1942 erfahren: „Im Dezember 1942 brachte der engl[ische] Sender Zahlen über die bisher ermordeten Juden. [...] Polen sei das größte Schlachthaus, in das die meisten Juden gebracht würden. Nach früheren Angaben [...] müsse das Gros der Juden auf Befehl bis Ende 1942 vernichtet sein.“ (Dürkefälden 1985: 126 [ohne Datum]) Seine Tagebücher weisen eindrücklich nach, dass ab Frühjahr 1942 aus unterschiedlichen Quellen genügend Information verfügbar war, um sich ein Bild über den

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konnte der Diarist auf diese Weise den Fortgang des Massenmords an den Juden rekonstruieren.525 Der Name Auschwitz trat in Klemperers Tagebuch bereits im März 1942 zum ersten Mal526 in Erscheinung und galt ihm bald danach als „schnell arbeitendes Schlachthaus“ (ebd.: 259 [17.10.1942]), in dem, wie er gegen Ende des Krieges mit beachtlicher Genauigkeit protokolliert, „sechs bis sieben Millionen Juden […] geschlachtet genauer: erschossen oder vergast worden sind.“ (ebd.: 606 [26.11.1944])527 Im April 1942 hörte der Diarist über Eva Gerüchte über Massenerschießungen unweit von Kiew. Diese Informationen bezogen sich wahrscheinlich auf das Massaker in Babi Jar, das bereits Ende September 1941 stattgefunden hatte: Eva wurde an der Tramhaltestelle vom Zimmermann Lange (in Gefreitenuniform) angesprochen. Sie ging mit ihm in ein Lokal, und erzählte bei einem Glase Bier. Er ist als Fahrer bei der Polizeitruppe mehrere Wintermonate (bis Weihnachten) in Rußland gewesen. Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen, Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen, einen Hügel gesprengt und die Leichenmasse unter der explodierenden Erde begraben. (ebd.: 68 [19.4.1942])

Diese detaillierten Aufzeichnungen zeigen, dass der Philologe relativ früh über die Organisation des Massenmordes Bescheid wusste und veranschaulichen damit die Genozid zu verschaffen. Vgl. hierzu weiter ebd.: 108 [ohne Datum]; ebd.: 110 [ohne Datum]; ebd.: 118 [ohne Datum]; ebd.: 122 [ohne Datum]. 525 Zu Klemperers detailliertem Wissen um den Holocaust vgl. Gellately (2002: 219). Klemperer verfügte über relativ genaue Informationen in puncto Ausmaß, Methode und Ziel des Holocaust. Ich verweise den Leser vor diesem Hintergrund auf folgende Tagebuchstellen, in denen Klemperer die zirkulierenden Informationen zum Holocaust verzeichnet: ZAI: 60 [9.10.1933]; ebd.: 431f. [25.11.1938]; ebd.: 443 [6.12.1938]; ebd.: 578 [20.2.1941]; ZAII: 9 [13.1.1942]; ebd.: 11 [17.1.1942]; ebd.: 14 [19.1.1942]; ebd.: 24 [15.2.1942]; ebd.: 35 [1.3.1942]; ebd.: 60 [5.4.1942]; ebd.: 67 [19.4.1942]; ebd.: 131 [16.6.1942]; ebd.: 146 [26.6.1942]; ebd.: 154 [4.7.1942]; ebd.: 161 [9.7.1942]; ebd.: 176 [24.7.1942]; ebd.: 179 [25.7.1942]; ebd.: 194 [6.8.1942]; ebd.: 206 [14.8.1942]; ebd.: 252 [4.10.1942]; ebd.: 259 [17.10.1942]; ebd.: 268 [30.10.1942]; ebd.: 269 [2.11.1942]; ebd.: 272 [6.11.1942]; ebd.: 273 [13.11.1942]; ebd.: 275 [16.11.1942]; ebd.: 299 [29.12.1942]; ebd.: 310f. [14.1.1943]; ebd.: 336 [27.2.1943]; ebd.: 438 [30.9.1943]; ebd.: 564 [19.8.1944]; ebd.: 606 [24.10.1944]; ebd.: 616 [26.11.1944]. 526 In dieser ersten Referenz auf das KZ Auschwitz schreibt der Diarist: „Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen.“ (ebd.: 47 [16.3.1942]) 527 Immer wieder belegt sein Tagebuch, dass Klemperer besonders gut über die konkreten Orte und Opferzahlen der Vernichtungspolitik informiert war. Die zahlenmäßige Akkuratesse zeigt sich beispielsweise auch in Bezug auf Klemperers Einschätzung des Umfangs des Konzentrationslagers Theresienstadt, das er korrekterweise für mehr als 100 000 Häftlinge konzipiert sah (vgl. ebd.: 161 [9.7.1942]). Im Jahre 1943 hatte Klemperer Zugriff auf die offiziellen Statistiken der Reichvereinigung der Juden, die einen genauen Einblick in das Ausmaß der Judenverfolgung verschafften: „Am 1. 3. befanden sich in ganz Deutschland noch 43 000, am 1. 4. nur noch 31 000 Juden. Von den 12 000 Deportierten dieses letzten Monats sind 8 500 aus Berlin fortgeschafft worden.“ (ebd.: 349 [13.4.1943]) Im Hinblick auf die Lage der Juden in Dresden vermerkte Klemperer im März 1943 „[g]enaue Ziffern: Evakuiert wurden 290 Juden, hier in Dresden befinden sich im ganzen nun noch reichliche 300, von denen 130 Sternträger sind.“ (ebd.: 340 [4.3.1943]) Gut drei Monate später registrierte der Diarist, es gebe nur noch 30 „Sternträger“ in Dresden (vgl. ebd.: 393 [12.6.1943]).

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Wissensverweigerung des deutschen „Normalbürgers“ in Bezug auf Verfolgung und Unrecht.528 Eine große und unheimliche Lücke klafft zwischen Klemperers erstaunlichem Detailwissen über den Holocaust und dem augenscheinlichen Nichtwissen der deutschen Zivilbevölkerung. Bis in die Kriegsjahre hinein registriert Klemperer auf Seiten der „Arier“ die „Ahnungslosigkeit im Punkt des Judenelends“ (ebd.: 66 [19.4.1942]):529 Der Oberzollinspektor Otto und ein weiterer „nicht nazistischer, nicht antisemitischer Arier“ seien nicht darüber informiert gewesen, dass die Tram für Juden verboten war (vgl. ebd.: 66f. [19.4.1942]). Der Bürgermeister von Dölzschen will wiederum nicht gewusst haben, dass Klemperer an die Stadtgrenze gebunden war und keine Fahrtberechtigung hatte (vgl. ebd.: 324 [30.1.1943]). Bis in den Sommer 1944 hinein begegnet der Romanist wiederholt Personen, die augenscheinlich nicht wussten, dass der Judenstern ab September 1941 verpflichtend war und sein Nicht-Tragen unter strengster Strafandrohung stand. Als der Diarist beispielsweise der Arbeiterin Frau Wittich mitteilte, er sei „dienstentpflichtet“ worden und müsse somit keine Zwangsarbeit in der Papierverarbeitungsfabrik Thiemig & Möbius mehr leisten, erwidert sie Folgendes: ‚Sie werden sich nun erholen können und etwas vom Sommer haben!‘ Ich sagte ihr, mit dem Stern würden Spaziergänge besser vermieden. Darauf sie ganz harmlos und unwissend: ‚Dann würd’ ich ihn doch draußen nicht tragen!‘ Sie war verwundert und ungläubig, als ich ihr sagte, daß das buchstäblich das Leben koste. (ebd.: 536 [24.6.1944])530

Der Tagebuchschreiber stellt die Authentizität der Unwissenheit der Arbeiterin nicht in Frage und geht davon aus, für ihre Ignoranz seien, genau wie die vieler anderer Deutscher, die Propaganda und die Verheimlichung des Machtapparates verantwortlich. Es wäre wohl eine unzulässige ex post-Vereinfachung, den Schluss zu ziehen, die zitierte Äußerung sei bloß fingiert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass viele Menschen tatsächlich keine Kenntnisse von den Verbrechen hatten 528 Das „Nichtwissen“ der deutschen Zivilbevölkerung ist bis auf den heutigen Tag ein kontroverses Thema. Einen aus alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive aufschlussreichen Einblick in die Primärerfahrungen von nichtjüdischen Deutschen im Dritten Reich gewähren EgoDokumente wie die äußerst interessanten, im Jahre 2003 herausgegebenen Briefe des „gewöhnlichen“, nationalsozialistischen Ehepaars Ingeborg Heuer und Alfred Molter. In einem Brief an ihren Ehemann am Ende des Krieges heißt es beispielsweise: „Du, ob das alles wahr ist, was wir mit den Juden gemacht haben sollen? Fred, ich finde gar nicht mehr zurecht. Du, das wäre ja Wahnsinn? Und dann die Schauergeschichten über die SS. Ich kenne mich einfach nicht mehr aus. Nie hätte ich deutschen Männern solche Schandtaten zugetraut.“ (Heuer in Wirrer 2003: 323 [17.4.1945]) 529 Diese augenscheinliche „Ahnungslosigkeit“ wird auch vom „arischen“ Hausverwalter Richter bestätigt, der – ob aufrichtig oder nicht – Partei für die jüdischen Gedemütigten ergreift: „Richter war entsetzt. Immer wieder: ‚diese Bestialität‘, ‚dieser Sadismus!‘, immer wieder: Es herrsche überall tiefe Unzufriedenheit, und dem Volk seien die Grausamkeiten in judaeos kaum bekannt.“ (ZAII: 102 [29.5.1942]) 530 Für weitere Tagebucheinträge, in denen das vermeintliche Nichtwissen der Nichtjuden in Sachen Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung hervortritt, vgl. beispielsweise ZAI: 57 [19.9.1933]; ebd.: 671 [20.9.1941]; ZAII: 366 [27.4.1943].

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bzw. haben wollten, da die Voraussetzung für die Aufnahme von Informationen zunächst einmal die Bereitschaft ist, zuzuhören und auch sich selbst Fragen zu stellen (vgl. Obenaus und Obenaus 1985: 26f.). Klemperers Nachsicht mit dem Desinteresse seiner Mitmenschen ließ in den letzten Kriegsmonaten graduell – aber nie vollständig – nach. Dementsprechend veränderte sich der Tenor seiner vox populi-Notizen grundlegend in der Endphase des Krieges, in der sein Fazit lautete: Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung habe vor den Untaten der Nationalsozialisten die Augen verschlossen und weggeschaut.531 Klemperer betont vor diesem Hintergrund, dass die Bevölkerung durch ihre „vollkommene Gleichgültigkeit ja die Hauptschuld an den [...] Übeln trägt.“ (A 138: 1433 [30.3.1945]) Trotz der Tatsache, dass die Verbrechen vom Regime konsequent verschleiert wurden (vgl. ebd.: 1495 [11.5.1945]; ZAII: 324 [30.1.1943]), hätten, so der Diarist, die Deportationen, die öffentlichen Anspielungen,532 die verschlüsselten Informationen und die allgegenwärtigen Gerüchte hellhörig machen müssen. Das von Klemperer angeklagte Wegschauen der Bevölkerung war Wolfgang Benz (1992: 61) zufolge von der Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Gewissen ausgelöst. Zwar umfasste die Wahrnehmung – von der Ahnung über die Vermutung hin zum (Halb-) Wissen – die Wahrheit über den Genozid, man verbot sich jedoch, Zeuge und damit Mitwissender bzw. Mitschuldiger dieser Realität zu werden. Zwischen Wissen und Unwissen verlief also eine breite Grauzone, die gekennzeichnet wurde durch Gerüchte, verordnete Propaganda und sich selbst auferlegte Kommunikationsbeschränkungen, durch die Flucht in die Unwissenheit (vgl. Longerich 2006: 328). Die Bevölkerung nahm die Verheimlichungstaktik des Regimes, so Götz Aly (1995: 363; 374), dankbar an. Die auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 konzipierten Tarnbegriffe zur Bezeichnung des Genozids wurden demzufolge kaum hinterfragt, sondern als Angebot zur Verdrängung und Gleichgültigkeit von vielen Seiten akzeptiert. Die „Tarnsprache“ diente somit nicht nur der 531 Die kritische Auseinandersetzung mit der Schuldfrage der deutschen Bevölkerung findet vordergründig im Jahre 1945, nach der Flucht aus Dresden statt, als der Diarist bereits eine gewisse Distanz zum Geschehenen gewonnen hatte und nicht mehr unmittelbar um Abtransport und Ermordung bangen musste. In diesem Zeitabschnitt (vgl. ZAII: 673-799 [15.-17.2.1945 – 26.5.1945]) setzt sich der Diarist auf weitaus kritischere Weise als zuvor mit der Frage nach moralischer Verantwortung auseinander. 532 Im Verlauf einer mehrstündigen Reichstagsrede am 30. Januar 1939 kündigte Hitler unverblümt die Vernichtung der „jüdischen Rasse“ in Europa an. Die schauderhafte Realisierbarkeit dieser Androhung, die Klemperer sichtlich entrüstete (vgl. ZAI: 461 [5.2.1939]), wollten zu jener Zeit viele nicht wahrhaben. Während des Zweiten Weltkrieges konnte Klemperer die expliziten Hinweise auf den Massenmord in den Propaganda-Medien nicht mehr ignorieren. Johannes von Leers, der extrem antisemitische Chefredakteur der NS-Monatsschrift Wille und Weg, schrieb im Dresdener Freiheitskampf offen über die „Ausrottung“ der Juden, was Klemperer besonders beängstigte. Im Tagebuch notiert der Romanist diesbezüglich: „Sehr wesentlich der Satz: ‚Es gibt heute Menschen genug, die sich darüber beklagen, daß wir die Juden aus Europa ausrotten – sie sollten sich erst einmal darüber beklagen, in welch namenloses Elend die Juden...‘.“ (ZAII: 385 [29.5.1943])

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Geheimhaltung, sie sollte auch die Ausführung der Massenvernichtung mittels „aseptischer“ und administrationstechnischer Begriffe verwaltbar und tolerierbar machen und bot dem bürokratischen und polizeilichen Apparat die Möglichkeit, eine passive Komplizenschaft einzugehen, die nach wie vor eine künftige Verweigerungsmöglichkeit zuließ. Diese lexikalische Tarnung der Verbrechen – wie beispielsweise in den Termini „abwandern“, „abschieben“, „durchschleusen“ oder „aussiedeln“ – war für Victor Klemperer jedoch leicht zu durchschauen: Beachte zu LTI: ‚Abgewandert‘ für abgewandert worden. Harmloses Wort für ‚vergewaltigen‘, ‚vertreiben‘, ‚in den Tod schicken‘. Gerade jetzt ist nicht mehr anzunehmen, daß irgendwelche Juden lebend aus Polen zurückkehren. Man wird sie vor der Räumung töten. Übrigens wird längst erzählt, daß viele Evakuierte gar nicht einmal erst lebend in Polen ankommen. (ZAII: 335 [27.2.1943])533

Die euphemistische nationalsozialistische Maskierung der Judenvernichtung wurde beispielsweise von der arischen‘ Diaristin Ruth Andreas-Friedrich – trotz ihres regimekritischen Engagements – zum psychologischen Selbstschutz nur allzu gerne akzeptiert. Andreas-Friedrich, die als Widerständlerin Juden vor der SS versteckte, wusste – wie aus ihrem Tagebuch deutlich hervorgeht – sehr genau über die Ermordungen in den östlichen Konzentrationslagern Bescheid, verdrängte sie aber im Hinblick auf ihre jüdischen Bekanntschaften. Das NichtWahrhaben-Wollen stellte für sie wie für viele andere, darunter mehrheitlich dem Nationalsozialismus nicht unbedingt feindlich Gesinnte, eine Taktik im Umgang mit dem Grauen dar: So unvorstellbar ist das Grauen, daß die Phantasie sich sträubt, es als Wirklichkeit zu begreifen. Irgendein Kontakt setzt hier aus. Irgendeine Folgerung wird einfach nicht gezogen. Zwischen dem theoretischen Wissen und der Anwendung auf den Einzelfall – gerade jenen Einzelfall, um den wir sorgen, bangen, uns vor Angst verzehren –, klafft eine unüberbrückbare Kluft. Es ist nicht Heinrich Mühsam, den sie in die Gaskammern schicken. Es kann nicht Anna Lehmann sein, nicht Margot Rosenthal oder Peter Tarnowsky, die irgendwo in weltferner Einöde unter den Peitschenhieben der SS ihr Grab schaufeln müssen. Und ganz gewiß ist es nicht die kleine Evelyne, die so stolz war, in ihrem vierjährigen Leben schon einmal eine Birne gegessen zu haben. Auf sie lassen sich die entsetzlichen Gerüchte bestimmt nicht anwenden. Sie dürfen sich auf diese Menschen nicht anwenden lassen. Wir erlauben unserer Einbildungskraft nicht, sie auch nur im geringsten damit in Zusammenhang zu bringen. (Andreas-Friedrich 1986: 126 [4.2.1944])

Viele Deutsche im Dritten Reich schotteten sich im Sinne von emotionalem Selbstschutz auf ähnliche Weise gegen eine genaue Vorstellung der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung und der Gräuel des Massenmordes ab.534 Man ver-

533 Als weitere Tarnbegriffe nennt der Diarist beispielsweise „Herzschwäche“ (vgl. ZAII: 136 [19.6.1942]) und „Fluchtversuch“ (vgl. ebd.: 275 [16.11.1942]), die beide auf die Ermordung im Konzentrationslager hindeuten. 534 Vor diesem Hintergrund ist es jedoch unerlässlich hervorzuheben, dass dasjenige, was heute unter „Shoah“ als stringent vorgehender Völkermord an den europäischen Juden verstanden

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suchte, durch die Abkapselung vor dem Ausmaß des Frevels eine bestimmte Gewissensruhe zu bewahren, um in der Nachkriegszeit ein „normales“ Leben weiterführen zu können.535 Der versagende moralische Verantwortungssinn bei der Mehrheit der Zivilbevölkerung findet in Klemperers Tagebüchern seinen Ausdruck paradigmatisch in der Figur des durchaus höflichen aber wegschauenden Forstmeisters Fritzsche, der dem antisemitischen sächsischen Gauleiter und Reichsstatthalter Martin Mutschmann „ein ganz gutmütiges Herz“ (ZAII: 201 [10.8. 1942]) attestierte, was den Tagebuchschreiber zutiefst aufregte: Der Forstmeister will nicht sehen, was ihm peinlich wäre, darin liegt seine Mitschuld, und darin ist er typisch und repräsentativ für eine ungeheure Schicht [...]. Diese Schicht ist mitschuldig und muß mitbüßen. Andernfalls, um es pathetisch auszudrücken, ist Deutschlands Seele für Zeit und Ewigkeit verloren. (ebd.)536

Der Forstmeister steht hier idealtypisch für die Haltung weiter Teile der deutschen Zivilbevölkerung, die sich durch weitgehendes Desinteresse am verhängnisvollen Schicksal der Juden auszeichnete. Gleichgültigkeit und Indifferenz schützten allerdings nicht davor, nolens volens in die Mitschuld mitgerissen zu werden. In den Kriegsjahren, vor allem ab dem Jahr 1942, war die deutsche Bevölkerung vor allem mit dem eigenen Überleben beschäftigt und stellte sich, wie der Tagebuchschreiber feststellt, keinerlei Fragen nach dem Los der Juden im Reichsgebiet oder im Osten. Die „Judenfrage“ galt somit in der Vorstellung als de facto gelöst, weil die vollständige physische und geistige Scheidung von Deutschen und Juden längst vollzogen war: „Es geht wohl allen schlecht; aber wie schlecht es den Juden geht, wissen selbst die nicht, die mit ihnen in Konnex sind und sympathisieren.“ (ebd.: 211 [18.8.1942]) Die Frage nach dem Schicksal der deportierten Juden geriet angesichts der zunehmenden Gefahr und materiellen Entbehrungen aus dem Blick. Hans Scherner, der Leipziger Apothekerfreund – selbst Parteimitglied –, bei dem Victor und Eva Klemperer nach der Flucht aus Dresden in Falkenstein Unterschlupf fanden, war angeblich nicht über die Verfolgung und Vernichtung der Juden informiert und zeigte sich folglich „abgestumpft“ gegenüber Klemperers Geschichten über die antijüdische Drangsalierung: „Unsere eigene Geschichte wird mit Rührung und Abscheu, aber doch auch wieder mit einiger Abgestumpftheit aufgenommen. Vielleicht aber ist die Stumpfheit nur das Nichtwissen, das Sich-nicht-vorstellen-Können.“ (ebd.: 696 [8.3.1945]) wird, für die Deutschen damals kein geschlossenes Gesamtbild darstellte, das bereits seit den Anfängen eindeutig als Genozid zu interpretieren war (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 59). 535 Die Aussage eines „antinazistischen“ Mannes, der als Soldat an der Ostfront war, dort aber keine Grausamkeiten gesehen hatte und der behauptete, die Shoah habe nie stattgefunden und sei eine bloße Erfindung gewesen, sei – so der Diarist – musterhaft für die Nachkriegsstimmung in der SBZ. Im Hinblick auf die an ihn gerichtete Frage „‚Glauben Sie wirklich, daß es Massenvergasungen gegeben hat?‘“ (SSI: 417 [14.8.1947]) hält der Diarist im Tagebuch seinen Unmut fest: „Der Zweifel hieran wird genährt, ist verbreitet. Was nützt da alles Aufklären?“ (ebd.) 536 Für weitere Tagebuchstellen, in denen der Diarist das Wegschauen der „gewöhnlichen“ Deutschen beleuchtet, vgl. ZAI: 57 [19.9.1933]; ebd.: 671 [20.9.1941]; ZAII: 66ff. [19.4.1942]; ebd.: 102 [29.5.1942]; ebd.: 211 [18.8.1942]; ebd.: 241 [11.9.1942]; ebd.: 324 [30.1.1943]; ebd.: 366 [27.4.1943].

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Zur heiklen Frage nach der Mitschuld der deutschen Zivilbevölkerung an den NS-Verbrechen legt Hannah Arendt nahe, dass Verlogenheit und Lebenslüge zum Leben deutscher Zivilisten unter dem Nationalsozialismus gehörten: „Allen war [...] zur Gewohnheit geworden, sich selbst zu betrügen, weil dies eine Art moralischer Voraussetzung zum Überleben geworden war.“ (Arendt 1990: 98) Dieser Selbstbetrug, der symptomatisch in Desinteresse und Apathie zum Ausdruck kam, entlaste die Bevölkerung nicht, so hält Klemperer nach dem Krieg in der SBZ fest. In einem Brief aus dem Jahre 1947 an Hans Hirche, der ehemals Major im Generalstab der Wehrmacht war und Ende 1946 Klemperer um ein Entlastungszeugnis bat, schreibt der Diarist: Sie und so viele mit Ihnen sagen immer wieder, wir haben es nicht gewußt. Aber hat denn nicht einer von Ihnen den Hitler-Kampf gelesen, wo doch alles nachher Ausgeführte mit schamloser Offenheit vorher geplant ist? Und haben denn all diese Morde, all diese Verbrechen, wohin man auch den Blick wandte, nur uns – ich meine jetzt keineswegs nur die Juden, sondern alle Verfolgten – offengelegen? [...] Nein, wenn ich die Dinge rein sachlich sehe, kann ich nirgends volle Schuldlosigkeit anerkennen. (US: 222f. [6.1.1947])537

Harald Welzer (2007: 21f.) erklärt in diesem Zusammenhang, dass der Holocaust nicht nur Herrschaftszweck der Nationalsozialisten war, sondern auch Herrschaftsinstrument, das gewissermaßen von der Bevölkerung gebilligt werden musste. Aus dieser Feststellung erfolgt, dass man dem Holocaust mit der deutschen Figurenkonstellation von einerseits Tätern, die die Verbrechen planten und begingen, und andererseits Unbeteiligten oder Zuschauern, die in unterschiedlichem Maße von dem Genozid wussten, nur schwer beizukommen vermag. Es kann nur von einem Kollektiv von Menschen ausgegangen werden, die gemeinsam eine soziale Wirklichkeit herstellten, die einen bewusst ideologisch engagiert und offen antisemitisch, die anderen vielleicht skeptischer, kritischer oder gleichgültiger.538 537 Klemperer betonte schon im Jahre 1944, dass die Mitschuld der gebildeten Klasse am NSTotalitarismus unverzeihlich sei: „[D]ies Buch [=Mein Kampf, A.S.] lag vor, und man machte diesen Menschen [=Hitler, A.S.] zum Führer und ließ ihn bis jetzt elf Jahre führen! Das ist der deutschen Oberschicht nie zu verzeihen.“ (ZAII: 484 [10.2.1944]) Den mangelnden Widerstand und die Passivität seitens der deutschen Zivilbevölkerung, die Klemperer in seinen Aufzeichnungen einer systematischen Kritik unterzieht, stößt beim Diaristen bis Kriegsende auf Unverständnis: „Und niemand in Deutschland macht dieser mörderischen Regierung ein Ende.“ (ebd.: 713 [1.4.1945]) In dieselbe Richtung weist auch die folgende Notiz: „Die Leute sind resigniert – das sei kein Krieg mehr, nur noch ein Schlachten, die Russen seien in ihrer Übermacht nicht aufzuhalten usw. usw. –, aber sie sind eben nur resigniert und müde [...] und keineswegs defätistisch oder gar rebellisch.“ (ebd.: 684 [21.2.1945]) Die Frage nach der Schuld der deutschen Bevölkerung stellt sich Klemperer auch im LTI-Kapitel „Die deutsche Wurzel“ (LTI: 167-182) und in einigen unveröffentlichten Quellen wie A 745 [undat. 2 Bl. Maschinenschrift]. 538 In ihrem Tagebuch aus den Jahren 1942-1945 hat es den Anschein, als nivelliere die Berliner Journalistin und Publizistin Ursula von Kardorff (1994: 149 [13.1.1944]) die Täter- und Opferperspektive. Sie umgeht die Frage nach der Verantwortung und Schuld der Deutschen und betrachtet die Bombardements der Alliierten als Ausgleich für den Holocaust. Auf problemati-

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Gegen Kriegsende und in der Nachkriegszeit lösten sich der antisemitische und nationalsozialistische Konsens weitgehend auf. Allerorts stellte Klemperer während seiner Flucht durch Bayern die schwindende Solidarität mit dem Regime fest, die sich vielfach in Schuldabwehr manifestierte. Das Gros der Bevölkerung fühlte sich im Jahre 1945, so belegen Klemperers Aufzeichnungen, als Opfer und Betrogene eines Regimes, das sie im Stich gelassen und ihnen eine Kriegsniederlage beschert hatte. Nach der Flucht aus Dresden begegnete Klemperer regelmäßig Deutschen, die sich in einem Opfer-Selbstbild einzuigeln schienen (vgl. Bajohr und Pohl 2006: 78). Ein älterer Wirt überträgt alle Schuld für die Misere der Zivilbevölkerung pauschal auf Hitler: Ein alter Mann, sehr rüstig, mit gutgeschnittenem und rasiertem Gesicht, Wirt oder Vater des Wirtes, setzte sich zum eigenen Frühstück an den Tisch und sprach laut und unverblümt über das unsägliche Elend, an dem er [=Adolf Hitler, A.S.] schuld sei, er allein, und das er, der Wirt, längst habe kommen sehen. (ZAII: 679 [20.2.1945])539

Viele Menschen änderten in kürzester Zeit grundlegend ihren politischen Standpunkt und dementierten jegliche Verbindung zum Verbrecher-Regime, wie der Tagebuchautor feststellt: „Wieweit wird nun der Mantel nach dem Wind gedreht, wieweit darf man trauen?“ (ebd.: 761 [1.5.1945]) Der Philologe erkennt durchaus die juristische und ethische Verfänglichkeit der Schuldfrage: „Wo fängt die Schuld an?“ (A 138: 1431 [28.3.1945]) Diese Frage, die sich Klemperer im Hinblick auf die Schuldfeststellung bei der deutschen Zivilbevölkerung stellt, zeigt sein Bewusstsein um die Komplexität und Differenziertheit der Schuldfrage und um das Dilemma der Festlegung objektiver Kriterien zur Verurteilung von Involviertheit im NS-System. Klemperers Position scheint hier jener Karl Jaspers sehr nahe: In seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1945 – in krassem Gegensatz zu früheren Aufzeichnungen – neigt er dazu, der Bevölkerung die von ihr beteuerte Schuldlosigkeit abzusprechen, auch dort, wo keine unmittelbare Mittäterschaft im Spiel war (vgl. Traverso 1997b: 336, Fußn. 83). In seiner erstmals 1946 erschienenen Studie Die Schuldfrage setzte sich Karl Jaspers analytisch mit der philosophischen Frage nach Schuld und Verantwortung in Bezug auf die Verbrechen des NSsche Weise stuft sie somit die Deutschen bereits vor dem Kriegsende als Opfer ein: „Ging vorhin die Augsburger Straße entlang, an einem ausgebrannten Laden vorbei. Hinter dem notdürftigen Brettervorschlag ein Mann, der mich mit verschrecktem Blick ansah. Ich überlegte, wo ich dieses Bild schon einmal gesehen hatte – dann fiel es mir ein: am 9. November 1938. Damals waren es die Juden, heute sind wir es.“ 539 Auf vergleichbare Weise zeichnet der Diarist die Meinung eines Bauern auf, der – analog dem oben zitierten Wirt –, seine Opposition zu Hitler betonte: „Er, der Bauer, u. seine Landsleute hier, seien nie für Hitler gewesen; diese Verbrecher hätten das Land am liebsten ganz vernichtet, um nicht allein unterzugehen.“ (A 138: 1496 [10.5.1945]) Allerseits offenbarten sich im Nachkriegsdeutschland Schuldabwehr und Opferbewusstsein. Klemperer bezichtigt beispielsweise den Dresdener CDU-Abgeordneten Max Georg von Loeben seines mangelnden Schuldbewusstseins, denn „er sieht alle Nazisünder, selbst die Richter, als beinahe schuldlose Opfer an, soweit sie nicht die eigentlichen Führer waren.“ (US: 136 [18.9.1945])

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Regimes auseinander. Jaspers sucht einer Übersteigerung des Schuldbegriffs ins Mystische durch eine differenziertere Auffächerung verschiedener Schuldformen bzw. -stufen zu entgehen. Neben krimineller, politischer und moralischer Schuld entwickelt er das Konzept der metaphysischen Schuld.540 Der kriminelle Schuldbegriff bezieht sich auf objektiv-strafrechtlich feststellbare Gesetzesverstöße;541 politische Schuld fußt auf der Mitverantwortung des Einzelnen, der der politischen Entfaltung des verbrecherischen Regimes seine Unterstützung angeboten hat; die moralische Schuld verweist auf Handlungen, die formal gesehen nicht strafbar sind, weil sie nur befohlen wurden oder nicht der Sphäre des Strafrechts angehören. Die metaphysische Schuld schließlich, die auch am schwersten festzulegen ist, deutet auf die Mitverantwortung an Unrecht hin, weil man nicht alles Menschenmögliche unternommen hat, um geschehendem Unrecht entgegen zu wirken: Metaphysische Schuld ist der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die moralisch sinnvolle Aufforderung schon aufgehört hat. Diese Solidarität ist verletzt wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, dass ich mein Leben mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht und wenn ich dabei war und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiss: dass ich noch lebe, ist meine Schuld. (Jaspers 1987: 48)

Im totalitären Regime wird der Unterworfene in dieser Hinsicht geradezu zwangsläufig in die kollektive Mitschuld hineingezogen,542 weil die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit als Basis der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben 540 Jaspers’ Bemühungen, wie Büttner (1992: 68) hervorhebt, durch eine stärkere Differenzierung des Schuldbegriffs die pauschale Abwehrhaltung der Deutschen in der Nachkriegszeit aufzuweichen, zeigten wenig Wirkung. Daran anschließend, so die Autorin, wurden nach 1945 die ermordeten Juden kaum betrauert, weil das Verschwinden der jüdischen Minderheit vielerorts kaum als Verlust empfunden wurde (vgl. ebd.: 81). 541 Dabei handelt es sich vordergründig um die Schuld der prominenten, organisierenden NSVerbrecher. In einem Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers betont die Philosophin, der Begriff „kriminelle Schuld“ blende das Entsetzliche, das juristisch überhaupt nicht zu fassen sei, völlig aus: „Mir ist Ihre Definition der Nazi-Politik als Verbrechen (‚kriminelle Schuld‘) fraglich. Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus [...]. Göring zu hängen ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat.“ (Arendt und Jaspers 1985: 90 [17.8.1946]) 542 Anson Rabinbach (1996: 155f.) hebt in Anlehnung an Jaspers hervor, dass die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht an den NS-Verbrechen beteiligt war und darum auch nicht kollektiver Straftaten beschuldigt werden könne. Ihre Schuld sei vielmehr auf politischer, moralischer und metaphysischer Ebene angesiedelt. Dennoch fiel es Juden nach dem Holocaust verständlicherweise äußerst schwer, wieder ein „normales“ Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen aufzubauen. Der Dichter Julius Bab, der nach New York ausgewandert war, und mit dem Klemperer kurzzeitig in Briefkontakt stand, lehnte Einladungen nach Deutschland immer wieder ab. Unter Verweis auf einen Brief von Bab schreibt Klemperer: „Es gehe ihm [=Bab, A.S.] ‚sehr bescheiden‘, er habe ‚gute Angebote‘ nach Deutschland, werde aber nicht kommen. Ihm seien 100 Freunde u. Verwandte ermordet, die Nazis liefen frei herum, er würde immer fürchten, jemandem die Hand zu schütteln, der vielleicht seine kleine Nichte in den Gasofen gestoßen habe.“ (SSI: 593 [30.9.1948])

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ist: Der totalitäre Staat, wie Hannah Arendt (1976: 39) nahelegt, hat es erreicht, „die private Existenz jedes Individuums auf deutschem Boden davon abhängig zu machen, daß es Verbrechen entweder begeht oder ihr Komplize ist.“ Das gesamte deutsche Volk sei auf diese Weise direkt oder indirekt am Holocaust beteiligt gewesen, und dies hätte fatalerweise zur Folge gehabt, dass das menschliche Verlangen nach Gerechtigkeit durch die Mitschuld aller Bürger verloren ging und somit unbefriedigt blieb (vgl. ebd.: 42).543 Wie Arendt in Eichmann in Jerusalem darlegt, erschien das Böse nur noch in der Flachheit und Gedankenlosigkeit der Ausführenden, die sich massiv auf den Gesetzesgehorsam beriefen: Im Dritten Reich hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran. Viele Deutsche und viele Nazis [...] haben wohl die Versuchung gekannt, nicht zu morden. [...] Aber sie hatten, weiß Gott, gelernt, mit ihren Neigungen fertig zu werden und der Versuchung zu widerstehen. (Arendt 1990: 189)

Das Böse in seiner Banalität hervorzuheben, wie es Arendt am Beispiel des Eichmann-Prozesses tut und wie es in Klemperers Tagebüchern an manchen Stellen beispielhaft in den Vordergrund tritt, bedeutet nicht seine Verharmlosung, sondern lässt es in seinem grauenvollen Wesen erst tatsächlich hervortreten.544 Die metaphysische Mitschuld an Entrechtung, Diskriminierung und Mord, der man kaum entgehen konnte und mit der man sich individuell – vor Gott sozusagen – zurechtfinden musste, stellte eines der perfiden Merkmale der totalitären Unterwerfung dar. Susanne Heim (2000: 324) ist der Ansicht, dass Klemperers aufgezeichnete Belege von solidarischem Verhalten in der deutschen Zivilbevölkerung seine niedrigen Erwartungen an Nichtjuden widerspiegeln: Einige tröstende Worte, ein Händedruck, eine Kartoffelspende, ein Gruß oder ein Lächeln eines Vorübergehenden, die höfliche Anrede eines Polizisten oder Beamten hielt er bereits für eine „tapfere Tat“ (ZAI: 686 [18.11.1941]).545 Dementprechend attestiert der Dia543 In seinem Essay „Schuld und Abwehr“ legt Adorno (2003: 121-324) nahe, dass die Abspaltung der Schuld vom eigenen Ich dazu führt, dass für die Durchführung des Holocaust insgesamt die Person Hitler oder eine führende Gruppe NS-Prominenter verantwortlich gemacht werden. Die Nationalsozialisten sind somit immer die Anderen. Die Deutschen können auf diese Weise entschuldet werden, ohne die „blinde Identifikation mit der Nation als Kollektiv“ aufzugeben (ebd.: 151). Die Normalisierungsbestrebungen, die bereits in der Bonner, aber vor allem jetzt in der Berliner Republik zu beobachten sind, stellen vor Adornos Interpretationsfolie eine „deutsche Neurose“ dar (ebd.: 146), weil der Verlust des Nationalstolzes als kollektives Trauma noch immer weiterlebe. 544 In Mémoire du mal, tentation du bien (2000) hebt Tzvetan Todorov hervor, die besagte Banalität des Bösen bzw. das Böse im Namen des „Guten“, im Namen eines menschenfeindlichen Ideals zu machen sei geradezu das Wesensmerkmal des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. 545 Die äußerst niedrigen Ansprüche, die Juden an Deutsche stellten, verärgerten den Diaristen in erheblichem Maße, wie er in einer Notiz zu erkennen gibt. Die jüdischen Geächteten – darunter indes eben auch Klemperer – seien auf Minimalniveau bereits froh darüber, nicht angeschrien oder beleidigt zu werden: „Grausig ist das ewige: ‚Er war sehr anständig zu mir‘ (der Schutzmann, der kleine Beamte irgendwelcher Art usw.). Man hat keinen Anspruch mehr, kaum noch Hoffnung auf ‚anständige‘ Behandlung.“ (ZAI: 686 [11.11.1941])

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rist im Jahre 1938, nicht lange nach der „Reichskristallnacht“, beispielsweise dem freundlichen Polizisten Radke seine „Judenfreundlichkeit“ und seine moralische Autonomie: Vor einiger Zeit war der Gendarm Radke vom Gemeindeamt hier, ich solle wegen der Kennkarte heraufkommen. Wir unterhielten uns freundschaftlich, der Mann schüttelte mir die Hand, sprach mir Mut zu. Wir wissen von früher her, dass er gewiß kein Nazi ist, daß seine Schwester Schwierigkeiten hat, weil ihr Mann ein Gärtner eine arische Großmutter zu wenig besitzt. Als ich dann anderntags ‚oben‘ war, kam er gerade durch das Zimmer; er ging starr in die Luft blickend möglichst fremd an mir vorbei. Der Mann repräsentiert in seinem Verhalten wahrscheinlich 79 Millionen Deutsche, eher eine halbe Million mehr als weniger. (ebd.: 447 [15.12.1938])

Aufgrund der Tatsache, dass Klemperer fast bis Kriegsende der Ansicht war, die Beamtenschaft, das Polizeiwesen und die Zivilbevölkerung seien im Innersten größtenteils „unnazistisch“ oder sogar „antinazistisch“ eingestellt gewesen, unterstreicht Istvan Deak (2000: 95), dass die Klemperer-Tagebücher in keinem Fall dazu beitragen, das „Dämonische“ des Holocaust und die Perfidität des Totalitarismus, die alles Menschliche, alle zwischenmenschliche Solidarität austreibt, zu verstehen. Während der Diarist ein bisweilen besonders mildes Urteil für die nichtjüdischen Mitbürger und manchmal auch für Antisemiten und Parteimitglieder abgibt, äußert er sich umso härter über die jüdische NS-Kollaboration, die in den Aufzeichnungen paradigmatisch von Willy Nathan Estreicher versinnbildlicht wird, der ab Dezember 1939 Leiter der Wohnungsvermittlung in der Jüdischen Gemeinde in Dresden war. Estreicher sei, so Klemperer, „Spion, Denunziant, nehme Schmiergelder“ (ZAI: 516 [19.4.1940]), habe „sich an den wehrlosen Juden bereichert“ (ZAII: 54 [22.2.1942]) und stelle als Jude somit das schlimmere Pendant des „arischen“ Nazis dar: „Der Mann ist eine üblere Erscheinung als irgendein richtiger Nazi.“ (ZAI: 519 [29.4.1940])546 546 Estreicher, der „Genosse der Gestapo, Nutznießer des Regimes“ (ZAII: 154 [4.7.1942]) wurde von Klemperer scharf angegriffen, weil dieser seiner Meinung nach die Wahl gehabt hätte, mit den Nationalsozialisten zu „kollaborieren“ oder nicht. Die „echten“ Nationalsozialisten hingegen seien Klemperer zufolge verlogene, verkommene oder irregeleitete Geschöpfe, die jeglichen Menschensinn und somit jede moralische Urteilskraft verloren hätten. Der „Verrat“ jüdischer „Kollaborateure“ gründet tief im jüdischen Holocaust-Trauma, wie Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem hervorhebt: „Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte. In dieser Frage der Kooperation gab es keinen Unterschied zwischen den weitgehend assimilierten jüdischen Gemeinden in Mittel- und Westeuropa und den jiddisch sprechenden Massen des Ostens. In Amsterdam wie in Warschau, in Berlin wie in Budapest konnten sich die Nazis darauf verlassen, daß jüdische Funktionäre Personal- und Vermögenslisten ausfertigen, die Kosten für Deportationen aufbringen, frei gewordene Wohnungen im Auge behalten und Polizeikräfte zur Verfügung stellen würden, um die Juden ergreifen und auf die Züge bringen zu helfen – bis zum bitteren Ende, der Übergabe des jüdischen Besitzes zwecks ordnungsmäßiger Konfiskation.“ (Arendt 1990: 220f.) Der umstrittene Historiker Konrad Löw (2004a: 239) greift vor diesem Hintergrund nur allzu gerne die angebliche „Kollaboration“ von Judenräten, jüdischen Polizisten und sogar Sonderkommandos in Vernichtungslagern als Ausgangspunkt auf, um seine Umkehrung der Täter-Opfer-Perspektive zu untermauern. Im Gegensatz dazu soll allerdings

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Es mag ersichtlich geworden sein, dass sich Klemperers Interpretation der vox populi in puncto Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust im Dritten Reich durch identitätspolitische – aber durchaus verständliche – Aprioris kennzeichnet, angesichts derer eine grundlegende quellenkritische Analyse der Aufzeichnungen erforderlich ist. Klemperers erfahrungsunmittelbare Wirklichkeitswahrnehmungen, die zeitnah am Geschehen verschriftlicht wurden, erlaubten in den einzelnen Einträgen keine ex post-Verifizierung, keinen Rückgriff auf alternative Quellen oder Wissensbereiche. Die Einschränkungen, die sich aus seiner widersprüchlicher Identität als deutscher Jude, als patriotischer Humanist, aus seiner spezifische Lage durch seine „Mischehe“ und auch durch das gattungsspezifische Fehlen der retrospektiv-korrigierenden Sicht im Tagebuch ergeben, machen darauf aufmerksam, dass die Aufzeichnungen des Diaristen in historiographischer Hinsicht nicht schlichtweg zum Nennwert erhöht werden können, obschon sie ohne jeden Zweifel aufschlussreiche und hellsichtige Darstellungen der Stimmung unter dem NS-Regime liefern. Klemperers Tendenz zum situationsbedingten Überbelichten der kritischen Stimmen innerhalb der vox populi tritt sehr deutlich in seiner Sammlung und Auswertung regimekritischer Witze hervor. 3.2.2.7 Humor als Hoffnung: Vox populi, Systemkritik und Witz Historiker wie Robert Gellately, Bill Niven und Eric A. Johnson, die Victor Klemperers Tagebücher als kostbares Quellenmaterial zur Unterstützung ihrer jeweiligen mikrohistorischen Thesen affirmativ herangezogen haben, weisen kritisch darauf hin, dass sich die gängigen historischen Interpretationen übermäßig vom ideologischen Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus haben leiten lassen und sich darum hauptsächlich mit dem Herrschaftsapparat befassten. Die Einstellung der „Volksgemeinschaft“ zum Regime sowie auch die mikrokapillare Einverleibung der Machtstrukturen in die Psyche der Betroffenen wurden dabei weitgehend außer Acht gelassen. Witze stellen kollektivpsychologische Vergegenwärtigungen des Terrorsystems dar. Im Stile literarischer Miniaturen bringen sie in Klemperers Tagebüchern eindrucksvoll ans Licht, auf welche Weise sich das Subjekt im Dritten Reich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen konnte. Diesem kritischen Humor wurde von Klemperer als Quelle der Hoffnung auf innerdeutschen (geistigen) Widerstand viel Gewicht beigemessen. Der Witz, der Schuller und Schmidt (2003: 7) zufolge „als Inbegriff einer Figur des Kleinen gelten“ kann und sich deshalb „einer allgemeinen Theorie“ widersetze, nimmt in Klemperers mikrologischer Bestandsaufnahme der voces populi im NS-Alltag eine herausragende Stellung ein. Der Witz stellt aufgrund seiner inhärenten Adressatenbezogenheit stets einen sozialen Vorgang dar, dem in Kribetont werden, dass auch der „Spion“ Estreicher Holocaust-Opfer war – er wurde im Dezember 1941 von der Gestapo verhaftet, im Februar 1942 in das KZ Buchenwald deportiert und dort später auch ermordet (vgl. in dieser Reihenfolge die entsprechenden Vermerke: ZAI: 693 [9.12.1941], ZAII: 31 [22.2.1942] und ebd.: 154 [4.7.1942]).

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sensituationen umso mehr Bedeutung beigemessen wird.547 Besonders dem politischen Witz, so lässt sich in den Klemperer-Tagebüchern feststellen, wird durch die Diktatur zum Aufschwung verholfen.548 Dem Tagebuchschreibenden war es bekanntlich daran gelegen, unter dem Schlagwort „LTI“ unterschiedlichste Informationsquellen heterogener Herkunft – darunter eben auch systemkritische Witze – extensiv zu befragen, um die gegenwärtige Stimmung unter dem Nationalsozialismus zu erhellen. Die zusammengetragene Materialbasis hat aufschlussreichen anthropologischen Erkenntniswert, da Klemperer ausgehend von den kursierenden Witzen die kulturellen, sozialen und politischen Denk- und Verhaltensmuster zu rekonstruieren versucht und um ihre genaue mentalitätshistorische Einstufung bemüht ist. Der Tagebuchschreiber zeichnet solche aussagekräftigen Witze auf, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, denn nachdem ihr Aktualitätsinteresse nachgelassen und die mündliche Überlieferung an Prägnanz verloren haben würde, wären sie Gefahr gelaufen, für die Nachwelt schlichtweg verlorenzugehen. Analog dem deklarierten historiographischen Ziel, das kulturelle Wissen seiner Zeit zu verzeichnen, zu archivieren und auszuloten, rückt der Diarist anhand dieser diskursiven Kleinereignisse die sprachlichen und ideologischen Konturen des historischen Kontexts des Dritten Reichs in den Brennpunkt.549 Der Witz, so lässt sich auf einer allgemeinen Ebene aussagen, setzt – neben der zum Teil persönlichen Erfindungsgabe des Erzählers – eine diskursive Sagbarkeitsgrenze voraus, ohne die die persönliche Erfindung überhaupt nicht hätte stattfinden können.550 Die aufgezeichneten Witze aus der NS-Zeit signalisieren eine Diskursgrenze als Grenze des Sagbaren bzw. Wissbaren und eröffnen damit eine Innenansicht des Dritten Reichs. Der Lacherfolg jüdischer bzw. regimekriti-

547 Vgl. an dieser Stelle das Kapitel „Der Witz als sozialer Vorgang“ in Sigmund Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1992: 153-171). Freud (ebd.: 156) interpretiert in diesem Kapitel den Witz als Gruppenphänomen, das – im Gegensatz zum Traum – immer soziale Funktion hat: „Den Witz [...] ist man mitzuteilen genötigt; der psychische Vorgang der Witzbildung scheint mit dem Einfallen des Witzes nicht abgeschlossen, es bleibt etwas übrig, das durch die Mitteilung des Einfalls den unbekannten Vorgang der Witzbildung zum Abschlusse bringen will.“ 548 Für eine kritische kommunikationswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem politischen Witz im Nationalsozialismus sei auf Gutschik (2005) hingewiesen. Besonders lesenswert ist der Abschnitt zu den Funktionen des Witzes im Dritten Reich (vgl. ebd.: 69-89), in dem der Autor zwischen Unterhaltungs-, politischer, psychischer und sozialer Funktion differenziert. 549 Der von Klemperer erhobene mikrohistorische Anspruch besteht darin, „das gerade Aktuelle,“ wie es sich ihm im Moment des Hörens, Lesens oder Sehens gerade kundgibt, minutiös festzuhalten (A 138: 855 [2.5.1943]). Im Witz ist ein kulturhistorischer Erkenntniswert eingelagert, weshalb er in den kulturellen Kontext eingeordnet werden soll, um ihn dort zu deuten. Demnach geht es Klemperer maßgeblich darum, „[d]ie großen Linien der Historie [zu] überlassen, das kleine Selbstbeobachtete für Curriculum [zu] notieren. [...] Eben ging noch der Witz: Der Krieg wird drei Tage dauern, beginnt nach der Tannenbergfeier, also am 28., und kämpfen werden die Polen (sie ganz allein) ‚bis zum Letzten‘.“ (ZAI: 480 [29.8.1939]) 550 Zu einer kurzen interdiskursiven Analyse des Phänomens „Witz“ vgl. Link (2005).

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scher Witze551 lässt sich durch die Überschreitung der Sagbarkeitsgrenze des totalitären Diskurses erklären. Die Generierung und Zirkulation politischen Humors ist vor diesem Hintergrund ausgeprägt gemeinschaftsbedingt und sogar gemeinschaftsfördernd, indem anderen – hegemonialen – Gesellschaftsgruppen dieser diskursive Raum verschlossen bleibt. Aus dem gemeinsamen Lachen über einen Witz spricht ein kollektives „Wir“, das sich durch soziale und ideologische Komplizenschaft auszeichnet (vgl. Blasius 2003: 12; Wiener 1994: 13). Der kritische Flüsterwitz bringt somit in der Art eines Schocks eine Öffnung des offiziellen Diskursraumes hervor und befreit infolgedessen – kurzweilig und unter Lebensgefahr552 – von der einschüchternden Omnipräsenz des völkischen Dogmas in allen Gesellschaftsbereichen: Der Flüsterwitz schuf eine Gemeinsamkeit, deren einigendes Band die Opposition gegen Hitler war, und oft war er die einzige Möglichkeit, den wahren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Es war ein Akt des Widerstandes von Menschen, die ansonsten ohnmächtig dem sie bedrückenden System gegenüberstanden. (Wiener 1994: 131)

Dementsprechend bemerkt auch Sigmund Freud in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, dass durch die emotionale Solidarisierung mit Gleichgesinnten sich der Witz gegen Autorität und Sinn richten kann.553 Der „tendenziöse“ Witz gehorche dem Aggressionstrieb und befreie somit vom beeinträchtigenden Druck der Obrigkeit: Die Verhinderung der Schmähung oder beleidigenden Entgegnung durch äußere Umstände ist ein so häufiger Fall, daß der tendenziöse Witz mit ganz besonderer Vorliebe zur Ermöglichung der Aggression oder der Kritik gegen Höhergestellte, die Autorität in Anspruch nehmen, verwendet wird. Der Witz stellt dann eine Auflehnung gegen solche Autorität, eine Befreiung von dem Drucke derselben dar. In diesem Moment liegt ja auch der Reiz der Karikatur, über welche wir selbst dann lachen, wenn sie schlecht geraten ist, bloß weil wir ihr die Auflehnung gegen die Autorität als Verdienst anrechnen. (Freud 1992: 119)

Daher kann der Witz, wie Peter Gay (1992: 19) hervorhebt, zur Waffe gegen den Machthaber werden, die „die Zensur überrumpelt“ und auf indirekte Weise ausspricht, „was nicht ausgesprochen werden darf.“ Ähnlich fasst Klemperer das kritische Potential des antifaschistischen Witzes zusammen: „[D]er Witz steht immer im Dienst einer Weltanschauung, die nun freilich den durchgängigen u. absolu551 Einen systematischen Überblick über eine Sammlung jüdischer Witze aus der NS-Zeit bietet Gamm (1963: 117-132). Die erste nach dem Krieg veröffentlichte deutsche Sammlung regimekritischer Witze findet sich im Buch Vox Populi (1946: 21-141). 552 Gemäß dem „Heimtückegesetz“ war jede Verbreitung regimekritischer Witze strengstens untersagt. Das entsprechende Strafmaß variierte von Haft über Deportation bis hin zu Exekution. Vgl. zu den juristischen Rahmenbedingungen des politischen Witzes im Nationalsozialismus Samson (2002: 329). Zur Gefahr des Verbreitens kritischer Witze in der Frühphase des Dritten Reiches vgl. beispielsweise ZAI: 79 [13.1.1934]. 553 Einen ausgewogenen Versuch, Freuds Witztheorie im Rahmen einer umfassenderen Theorie des Komischen zu verorten, unternimmt Gutschik (2005: 34-39).

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ten Gegensatz zur natsoc. Weltanschauung bedeutet. Im Dienst der absoluten Negation, absoluten Skepsis, absoluten Haltlosigkeit.“ (A 138: 1160 [29.8. 1944])554 Der Witz, hinter welchem dem Tagebuchautor zufolge stets „eine ganze Philosophie, eine ganze Psychologie“ steht (ZAI: 626 [23.6.-1.7.1941]), sei für die Entschlüsselung grassierender politischer Auffassungen von wesentlicher wissenschaftlicher Bedeutung: „Ist nicht der Witz und seine Aufnahme für jede soziologische und politische Untersuchung wichtig?“ (LTI: 49) Im Gegensatz zur voluntaristischen und – vielleicht übermäßig – zuversichtlichen Auffassung des subversiven Potentials des Witzes in der NS-Diktatur sollte man sich allerdings davor hüten, die Wirkung des Witzes zu überschätzen und ihm allzu viel Bedeutung beizumessen: Der regimekritische Witz im Dritten Reich „ist oft nicht Zeichen, sondern höchstens Anzeichen des Widerstandes.“ (Ronge 1946: 19) Analog macht Peter Gay (1992: 21) auf die Ambiguität dissidenten Humors aufmerksam. Er weist darauf hin, dass der Witz „Rebellion und Resignation zugleich“ sei, da er in modernen totalitären Staatsgefügen sehr wohl gefährlich sein könne, andererseits aber revolutionäre politische Energien möglicherweise in Gelächter ersticke und so zu Passivität führe. In seinem Tagebuch eines Verzweifelten rückte der anti-nationalsozialistische, ostpreußische Schriftsteller Friedrich Percyval Reck-Malleczewen die Gefahr der Lethargie, die das Erzählen kritischer Witze birgt, ins Licht: Sehr schön, fraglos, sehr schön. Lieber wäre mir es freilich, wenn der deutsche Protest sich in Partisanenbildungen statt in diesen mehr oder weniger geistvollen Witzen austoben wollte, in denen sich doch nur unser ganzes Elend, die Feigheit, die Lethargie, die den Nazis restlos gelungene Entmannung des deutschen Volkes spiegelt. (Reck-Malleczewen 1981: 156f. [2.7.1944])

Dennoch hat der Witz als diskursives Kleinereignis einen erhellenden Informationswert in Bezug auf die psychologische Auswirkung von Propaganda und Terror auf das Individuum. Eingebunden in einen spezifischen zeitlichen und räumlichen Rahmen stellt er eine aussagekräftige miniaturhafte Reflexion der Gegenwart dar. Der politische Witz vermag „mit wenigen Worten Alltagsgeschichte zu schreiben, die Ängste, Sorgen und Probleme einer Zeit sichtbar zu machen, und vermittelt so den Eindruck einer psychologischen Realität, die sich aus anderen Dokumenten kaum gleichermaßen erschließen läßt.“ (Wöhlert 1997: 24) Aus diesem aktualitätsspezifischen bzw. alltagsgeschichtlichen Grund fragt sich Klemperer denn auch, „[o]b irgendjemand die heimlichen, die lebensgefährlichen Witze der Hitlerzeit sammeln wird? Eigentlich gehören sie auch zur LTI“ (ZAI:

554 Gegen eine solche Lesart wendet sich jedoch Meike Wöhlert (1997). Ihre Interpretation bedeutet eine klare Absage an die Idee, die Existenz politischer Witze sei als Beweis für einen weitverbreiteten Antifaschismus in der Bevölkerung anzuführen. Unter Rückgriff auf Ralph Wieners Forschungsarbeiten über schwarzen Humor im Dritten Reich – vgl. Wiener (1994) – betont sie, dass „das hilflose Lachen über die Mächtigen [...] nur sehr wenig mit Widerstand zu tun hat, ja daß ein politischer Witz nicht einmal auf eine oppositionelle Einstellung der Person schließen läßt, die ihn zum Besten gab.“ (Wöhlert 1997: 26)

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640 [23.6.-1.7.1941]).555 Dem Inventarisieren dieser Witze liegt sein philologisch-historisches Interesse zugrunde, sie auf ihre anthropologische und linguistische Ergiebigkeit hin zu prüfen. Die Ergebnisse dieses wissenschaftlichen Bestrebens sollen sich, so Klemperer, nach dem Krieg in einem eigenen „Witz-Capitel“ der LTI niederschlagen (A 138: 1185 [14.9.1944]). Zu diesem Zweck archiviert bzw. lemmatisiert er unter dem „Artikel Witz“ (ZAI: 578 [20.2.1941]) kontinuierlich unterschiedlichste Witze und versucht damit, eine Begriffsgeschichte des Witzes im Dritten Reich aufzuspannen, indem er dessen Sinneswandel nachgeht: ‚Wie heißt der kürzeste Witz? – Sieg!‘ Dabei ist der Bedeutungswandel von Witz zu beachten. Im 18. Jh.: Verstand. Eva macht mich auf die Wendung aufmerksam: Das ist der Witz der Sache. Dies dürfte einerseits eine Verdeutschung sein von the humour of it, andrerseits ein Fortleben der Bedeutung ‚Verstand‘: dies ist der verborgene Sinn der Angelegenheit. – Nun höre ich seit Jahren in Dresden als Ausdruck des Erschreckens, des Ärgers, des Nichtwahrhabenwollens: ‚Machen Sie keine Witze!‘ D.h. also: machen Sie keine üblen Scherze, reden Sie keine peinlichen Unwahrheiten. Und so ist Witz in dritter Bedeutung eine ärgerliche Lüge. (A 138: 1102 [19.6.1944])

Neben diesen theorieorientierten Überlegungen war es dem Diaristen aber zuallererst daran gelegen, die Fülle an humorvollen Äußerungen zur Zeitlage als Textkorpus zur späteren philologischen Aufarbeitung festzuhalten. In diesem Zusammenhang galt Klemperers Hauptinteresse Witzen sowohl deutscher als auch jüdischer Provenienz.556 Im Rahmen seiner kulturkundlichen und sprachkritischen Erforschung des Faschismus und der öffentlichen Meinung im Dritten Reich begann er ab 1933, in seinen Tagebüchern verschiedenartige zirkulierende Witze zu verschriftlichen, und diese Praxis hielt er bis ins Jahr 1944 durch. In der Frühphase des Dritten Reiches war Victor Klemperer vom Gefühl der Panik oder der Dringlichkeit von Auswanderungsgedanken noch weit entfernt.557 In den Jahren 1933 und 1934 orientieren sich seine Pläne eindeutig an einer dauerhaften Präsenz in Dresden, da er aufgrund seiner deutschen Gesinnung „bis zum äußersten in Deutschland bleiben wolle.“ (ZAI: 82 [27.1.1934]) Aufgrund

555 Klemperer ist sich trotz der Gefahr, die das detaillierte Vermerken darstellt, durchaus des kulturhistorischen Mehrwertes dieser Witze für eine gediegene ideologiekritische Einschätzung des NS-Regimes bewusst: „Es ist wohl nicht ohne Wert solche Witze über LTI zu notieren: denn wer wagt, so etwas aufzuschreiben? Es kann ja den Kopf kosten.“ (ZAII: 633 [23.12.1944]) 556 Linientreuen bzw. nationalsozialistisch gesinnten Witzen gilt Klemperers Interesse nicht. Aus antisemitischer Sicht sei das Witze-Erzählen sogar „eine spezifisch jüdische [Beschäftigung].“ (ZAI: 626 [23.6.-1.7.1941]) In diesem Zusammenhang notiert Klemperer zu Hans Reimanns 1944 in Velhagen und Klasings Monatsheften veröffentlichtem Artikel „Jüdischer Witz unter der Lupe“: „Das Widerwärtigste ist der Aufsatz von Hans Reimann: Jüdischer Witz unter der Lupe. Aus der Spitzfindigkeit, Schärfe u. Selbstironie des jüdischen Witzes werden die üblichen Anklagen (Betrug, Feigheit, Raffgier, Skrupellosigkeit) herausgedeutet.“ (A 138: 1438f. [1.4. 1945]) 557 Für detailliertere Informationen über die Auswanderungsfrage in der Anfangsphase des Dritten Reiches vgl. Faber (2005: 222-234).

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seines Patriotismus und seiner ausgesprochen antizionistischen Einstellung fiel es ihm schwer, die Palästina-Auswanderung der deutschen Juden nachzuvollziehen. Ihr – seines Erachtens – fehlgeleiteter Heimatwechsel kommt Klemperer zufolge in einem Witz seines Dresdener Physik-Kollegen Harry Dember zum Ausdruck: „Grausamer Witz, von Dembers kolportiert: der Palästina-Einwanderer werde gefragt: ‚Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?‘“ (ebd.: 29 [22.5. 1933]) In dieser Aussagesequenz wird unverkennbar die von Klemperer geteilte Zionismuskritik des akkulturierten Judentums angesprochen: Aufgrund der vorgeblichen Orientierung Theodor Herzls am jüdischen „Rassendenken“ stellten Gegner des Judenstaats – wie Klemperer – eine ideologische Homologie zwischen Zionismus und Nationalsozialismus fest. Die schicksalhafte Erschaffung einer „jüdischen Rasse“ sei dem Diaristen zufolge von sowohl Herzl als auch Hitler, den der Tagebuchautor den „bedeutendste[n] Förderer des Zionismus“ nennt (ebd.: 695 [17.12.1941]), bewerkstelligt worden. Anhand der ironisch verzerrten Karikatur der Errichtung eines Hitler-Ehrenmals in Israel bringt Klemperer vor diesem Hintergrund in der Wiedergabe eines antizionistischen Witzes seine politische Grundeinstellung in puncto Auswanderung und „Judenfrage“ zum Ausdruck: „Der Witz, man habe Hitler in Haifa ein Denkmal errichtet mit der Inschrift ‚Unserem Herführer‘ hat eigentlich eine tiefe und unwitzige Berechtigung. Gedanklich ist er auch ihr Heerführer.“ (ebd.: 111f. [13.6.1934]) Die Frage nach der „arischen“ Volksmeinung im Hinblick auf Krieg, NSDAP, Parteiführung und -einrichtungen bildet jedoch den Kernbereich der verzeichneten Witze.558 Im nationalsozialistischen Gemeinwesen sollte dem Bestehen bzw. der Entwicklung staatsfreier Räume entgegen gewirkt werden. Die totale NS-Herrschaftsstruktur akzeptierte keine Grenze zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich und erfasste bzw. reglementierte die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens. Der Nationalsozialismus nötigte demgemäß jedes Subjekt zum aktiven ideologischen Bekenntnis, weswegen Unzufriedenheit, Verdrießlichkeit oder Passivität einer Einzelperson, wenn diese als solche an ihr zu erkennen vermeint wurden, als Verbrechen unter Strafe gestellt werden konnten: „[A]ls Basis eines Todesurteils“ genügte „[d]ie kleinste ‚defätistische‘ Äußerung“ (ZAII: 428 [15.9.1943]). Das Erzählen kritischer Witze, deren Tendenz gegen das politische System und deren Vertreter ausgelegt werden konnte, wurde als Staatsverbrechen kodifiziert (vgl. Blasius 2003: 23). Der kritische Witz bezeichnet einen nichtgleichgeschalteten Abstand zum Nationalsozialismus, indem in ihm die destruktive ideologische Grundstruktur der NS-Propaganda aufgedeckt und die Geschichtsverzerrung ad absurdum geführt wird. Auch Gamm (1963: 13) pflichtet dem kulturhistorischen Erkenntnisinteresse von NS-Witzen bei, weil diese „zu den wenigen Zeugnissen gehören, die etwas von der ‚Seele‘ des Volkes aussagen“

558 Der Diarist stellt beispielsweise im Hinblick auf die Volksstimmung in Bayern fest: „In Süddeutschland paßt keine Gasmaske, die Gesichter sind zu lang.“ (ZAI: 415 [12.7.1938])

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sollen und somit einer „Gemeinschaftsäußerung des Volkes“ entsprächen (ebd.: 175).559 Politische Witze finden wiederholt Eingang in Klemperers Tagebuch, zumal sie ein bezeichnendes Licht auf die damaligen Mentalitäten werfen und mithin Einblick in die NS-Diktatur geben Zu den Eigentümlichkeiten der während des Nationalsozialismus entstandenen regimekritischen Witze gehört, dass sie überwiegend persönlichen Charakter hatten, da die Repräsentanten der NSDAP – vorrangig die exponiertesten Protagonisten Hitler, Goebbels, Himmler und Göring – die Hauptangriffsfläche bildeten.560 Diese Witze, deren einigende Thematik die Kritik an Hitler und seinen Gefolgsleuten war, stellten oft die einzige Möglichkeit dar, den wahren Gefühlen freien Lauf zu lassen und die psychische Spannung abzubauen. Sie wurden zum Zeichen der relativen Geistesunabhängigkeit von Menschen, die ansonsten ohnmächtig dem System gegenüberstanden (vgl. Jäger und Jäger 1999: 53-55; Jäger 1999a: 11f.; Wiener 1994: 13).561 Kritische Witze, die, so Bärbel Techtmeier (2001: 28ff.), einen „Gegendiskurs“ darstellten, waren perspektivisch an der Grenze von Angriff und Selbstverteidigung angesiedelt.562 Die folgenden Textbelege zeigen exemplarisch, dass Hitler, Goebbels und Himmler die Hauptzielscheibe der Kritik darstellten, indem die totalitäre Machtpolitik und Verlogenheit, die überspitzte Selbstinszenierung und der Größenwahn zum Ausdruck gebracht und an den Pranger gestellt werden: Ein besonders guter neuer Witz: Hitler, der Katholik, habe zwei neue Feiertage kreiert: Maria Denunziata und Mariae Haussuchung. (ZAI: 157 [14.10.1934]) Letzter kolportierter Witz: Goebbels sei in Afrika und studiere den Schwarzen Sprechchöre ein: ‚Wir wollen heim ins Reich!‘ (ebd.: 510 [21.01.1940])

559 Ähnlich hebt auch Herzog (2006: 15) den mentalitätsgeschichtlichen Erkenntniswert von Witzen aus der NS-Zeit hervor: „Die Innenansicht des Dritten Reichs, die sich damit eröffnet, besitzt eine Authentizität, die man bei der Betrachtung anderer zeitgeschichtlicher Dokumente meist vermisst.“ 560 Vgl. dazu das einleuchtende Kapitel „Gesichter und Gelichter“ in Ralph Wieners Arbeit Gefährliches Lachen (1994: 27-73). 561 Regimekritische Witze, so legt Peter Gay (1992: 19) nahe, sind aber nicht immer subversiv angelegt, weil es sich in manchen Umständen als zwecklos erweist, sich gegen Machthaber aufzulehnen. Stattdessen stellen sie schlichtweg den Versuch dar, „das Leben zu ertragen.“ Vor diesem existenziellen Hintergrund diente beispielsweise ein Witz von Gusti Wieghardt, einer Freundin der Klemperers, dem Tagebuchschreiber während seiner einwöchigen Inhaftierung in der letzten Juniwoche von 1941 als Trost, weil er auf utopische Weise das Ende des NSRegimes vorwegnimmt: „Fragebogen des vierten Reiches: ‚Wann haben Sie unter der vorigen Regierung gefangen gesessen? Wenn nicht warum?“ (ZAI: 615 [23.6.-1.7.1941]; vgl. A 138: 855 [2.5.1943]) 562 Zur Veranschaulichung des Unterschieds zwischen Angriffs- und Verteidigungswitz in der NSDiktatur vgl. Gutschik (2005: 74ff.). In nuce fasst der Autor den Unterschied folgendermaßen zusammen: „Während als Ziel des Verteidigungswitzes bei allem politischen Gehalt die Freude am Lachen, an der Erheiterung eine wesentliche Rolle spielt, erscheint das Lachen beim Angriffswitz mehr als Mittel zum Zweck. Seine Absicht besteht offenbar vor allem darin, Kritik an bestehenden Zuständen zu üben und damit womöglich zu deren Veränderung beizutragen.“ (ebd.: 74)

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Neue Witze: Der Führer hat recht gehabt, als er verkündete, man werde Berlin in zehn Jahren nicht wiedererkennen. – Caesar, Friedrich der Große und Napoleon im olympischen Gespräch; Caesar: Wenn ich die Tanks gehabt hätte, ganz Germanien hätte ich erobert! Fridericus: Wenn ich die Flieger gehabt hätte, ganz Europa hätte ich erobert! Napoleon: Wenn ich Goebbels gehabt hätte, man wüßte heute noch nicht, daß ich die Schlacht bei Leipzig verloren habe! (ZAII: 513 [9.5.1944])563 Notierte ich zur LTI schon: [...] den Wortwitz: zu den Himmlerschen Heerscharen einberufen (von Hingerichteten). (ebd.: 484 [7.2.1944]) Witz Professor Windes [...]: Ganz Deutschland stehe trauernd an Hitlers leerer Bahre. (ebd.: 550 [21.7.1944])

Neben Spott über die Führungsspitze des NS-Regimes nehmen auch Wortspiele eine außerordentliche Stellung in Klemperers penibel zusammengetragenem Witzkorpus ein. Die aufgezeichneten Sprachspiele und Witze zu den inflationär gebrauchten NS-Abbreviaturen564 nehmen – ab dem Jahr 1942 – direkt proportional zu den militärischen Verlusten der Wehrmacht und dem darauffolgenden Selbstlegitimationsschub der Propaganda zu; die Satirisierung allgemein bekannter Akronyme bringt vor diesem Hintergrund die augenfällige Diskrepanz zwischen ideologischem Wahn und tagespolitischer Realität zum Tragen. Nationalsozialistische und wirtschaftliche Einrichtungen wie „KdF“ und „BdM“ oder „AEG“ werden aufgrund ihrer semantischen Erosion kritisch entlarvt und parodiert: Die originäre Bedeutung der Teilkomponenten mancher Akronyme – sei es z.B. „Freude“ oder „Mädel“ – war dermaßen widersprüchlich geworden und ideologisch ausgehöhlt, dass sie durch eine politische Re-Aktualisierung auf komische Weise subversiv aufgeladen werden konnten,565 und auch die Grußformel „Heil Hitler“, die Kurzform „V1“ („Vergeltungswaffe 1“) sowie die Abkürzung „LSR“ („Luftschutzraum“) wurden semantisch ad absurdum geführt. Lenken wir den Blick auf die entsprechenden Kurzzitate: Als neuester Witz wurde erzählt: KdF (Kraft durch Freude) heiße jetzt: ‚Kann dauernd fressen‘, BdM (Bund deutscher Mädel): ‚Bin dauernd müde‘. (ZAII: 173 [19.7.1942]) [E]in verbreiteter Witz – ich hörte ihn von Thieme – AEG zu übersetzen mit ‚Alles echte Germanen‘. (A 138: 919 [25.8.1943])

563 Vgl. zur Kritik an den von Klemperer als „deutschlandfeindlich“ eingestuften Führern Hitler, Goebbels und Goering im Flüsterwitz ebenfalls ZAI: 591 [24.4.1941], ZAII: 632f. [23.12. 1944] und A 137: 465 [20.1.1941]. 564 Zum Gebrauch von ideologischen Kurzbildungen im Faschismus – in Deutschland und Italien – vgl. das LTI-Kapitel „Knif“ (LTI: 116-121). Die Abkürzungen bildeten eine negative Kontrastfolie zur Formel „LTI“- lingua tertii imperii. Dieses Kurzwort rief Klemperer als parodistische Verballhornung der vielfachen NS-Abkürzungen ins Leben: „Es gab den BDM und die HJ und die DAF und ungezählte andere solcher abkürzenden Bezeichnungen. Als Spielerei zuerst [...] steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch.“ (ebd.: 19) 565 Roderick H. Watt (1999: 252) macht auf die parodistische Verwendung bzw. Abwandlung nationalsozialistischer Partei- und Beamtensprache aufmerksam, wie man sie beispielsweise in der subversiven Re-Semantisierung der vielen Akronyme oder in der Bildung neuer Abkürzungen wiederfindet. So wurde z.B. „Blut und Boden“ als „Blubo“ abgekürzt (ZAI: 154 [8.10.1934]).

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Ein neuester Witz, charakteristisch für die Manie der Abbreviaturen: Statt ‚Heil Hitler‘ sage man jetzt Ahoi (‚Ad. Hitler ohne Italien‘). (ebd.: 943 [13.9.1943]) Steinitz [...] erzählte als Witz der englischen Rundfunkwendung: V 1 bedeute nicht ‚Vergeltungs-‘, sondern ‚Verzweiflungswaffe‘. (ZAII: 547 [19.7.1944]) LTI. An allen Häusern steht neben einem Kreidekreis und -pfeil: LSR – Luftschutzraum. Wir hörten als neue Deutung: ‚Lernt schnell Russisch‘ (ebd.: 575 [4.9.1944])

Die vox populi versucht Klemperer darüber hinaus an einer Reihe von Witzen zu erkunden, die – vor allem ab 1943 – die Krise und den (erhofften) Untergang des Systems in den Mittelpunkt rücken. An diesen Miniaturen lassen sich kollektive Vorstellungen und zeittypische Anschauungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches ablesen, die oftmals in krassem Gegensatz zu Monodoxie, Manichäismus und Geschichtsfälschung des NS-Diskurses stehen. Diese Witze sind somit unverkennbar von mentalitätsgeschichtlicher Relevanz, weil sie im Schatten der einmaligen historischen Daten und einschneidenden Zäsuren psychische Dispositionen darstellen, die von einer ereignisorientierten Historiographie traditionell außer Acht gelassen werden. Victor Klemperer vermerkt vor diesem Hintergrund nachfolgende mitgehörte Witze: Charakteristisch die drei H. G. G. [=Hitler – Goebbels – Göring, A.S.] Das Rätsel: ‚Wer wird gerettet, wenn die drei ins Wasser fallen?‘ Antwort: ‚Deutschland.‘ Die Besichtigungsfahrt zum zerstörten London: ‚Wir sind da.‘ – ‚Noch nicht. Das ist Bremen.‘ Abwandlung des Welkriegswitzes. Frage nach der Dauer des Kriegs. Antwort 1917/1918: ‚Bis die Offiziere Mannschaftsessen bekommen.‘ Antwort heute: ‚Bis Göring in Goebbels’ Hosen hineingeht.‘ Oder: ‚Wann wird Friede?‘ – ‚Wenn der Fleischer sagt: „Ich habe Ihnen aus Versehen dreiviertel Pfund Wurst abgeschnitten statt des verlangten halben Pfundes – darf ich es dranlassen?“‘ (ZAI: 578f. [20.2.1941]) Wer zehn neue Leute für die Partei wirbt, darf aus der Partei austreten; wer ihr zwanzig neue Leute zuführt, erhält eine Bescheinigung, daß er ihr nie angehört hat. (ZAII: 423 [26.8.1943]) Simon nannte mir als neuesten Witz den neuen Angstnamen Dresden: Zitterstadt im Wartegau. (A 138: 985 [17.12.1943]) Dresdener Witz: statt Postplatz sagt man Ostplatz, weil dort besonders viele Ostarbeiterquartiere u. Einsatzstellen. LTI! (ebd.: 1065 [22.4.1944]) Berlin soll während unseres letzten Alarms wieder sehr schwer gelitten haben. Wir hörten als neueste Berliner Witze: Berlin heißt jetzt Kaputt (< Caputh) a/d. Spree. (ebd.: 1107 [24.6.1944]) ‚Was ist feig?‘ Und die Antwort lautete: ‚Wenn sich einer von Berlin weg zur Front meldet.‘ (LTI: 161)566

566 Die Schwierigkeit in der Endphase des Krieges, mit der Lebensunsicherheit zurecht zu kommen, mündete in sarkastische, bittere Satire. Gegen Ende des Krieges kursierte beispielsweise das „Volkssturmrätsel“, das das „unheroisch“ hohe Alter der Volksstürmer, die ab September 1944 die regulären Truppen der Wehrmacht verstärken sollten, aufs Korn nahm: „Was hat Silber im Haar, Gold im Mund und Blei in den Gliedern?“ (LTI: 331; vgl. ZAII: 627 [14.12. 1944]) Zu jener Zeit zirkulierte auch die satirische Grußformel „Bleiben Sie übrig!“ (ebd.: 484

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In solcherart regimekritischen Witzen suchte sich die drangsalierte Bevölkerung – nichtfaschistische Deutsche, aber allen voran jüdische Verfolgte – in gewissem Maße „mit den Mitteln der Reflexion über die Alltagsschwierigkeiten [zu] erheben.“ (Wiener 1994: 203) Die Witze in Klemperers Notizen erhellen unausgesetzt die hermeneutische Dialektik von Erlebnis und Ereignis, von Individual- und Kollektiverfahrung, Privat- und Großgeschichte. An die subversive Kraft des Witzes konnte Klemperer jedoch nach dem Holocaust angesichts des Erlebten nicht mehr ganz glauben, und im Nachhinein brachte er seine Zweifel zum Ausdruck: „[W]ie oft habe ich Witze über Goebbels’ Maul und Stirn, wie oft erbitterte Scheltworte über die Unverschämtheit seiner Lügen als ‚Stimme des Volkes‘ aufgeschrieben, aus der Hoffnung zu schöpfen sei.“ (LTI: 285) Seine Hoffnung auf eine kritische Distanznahme gegenüber dem Regime hatte sich als unbegründet und als vorgreifende Interpretation erwiesen. Abgeklärt stellt sich der Tagebuchschreiber in der Retrospektive die Frage, „ob alle, die über Goebbels’ allzu starke Lügen lachten oder schalten, nun auch wirklich unberührt von ihm blieben.“ (ebd.) 3.2.2.8 Die Aufzeichnung der vox populi: ein unmögliches Projekt? Peter Longerich (2006: 26f.; 319ff.) bestreitet die Existenz einer einheitlichen bzw. dominierenden „Volksmeinung“ oder einer feststellbaren mehrheitlichen Einstellung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust. Obschon es unter gewissen Umständen möglich war, wie auch aus Klemperers Notizen hervorgeht, kritische politische Auffassungen auszutauschen, so fehlte allerdings das entscheidende Moment zur Konstituierung einer konsequenten vox populi: Öffentlichkeit. Bei der Idee, zu einer „wahren“ Volksmeinung vorstoßen zu können, handelte es sich lediglich um eine Selbsttäuschung, die nicht zuletzt vom NS-Regime selbst propagiert wurde. Aufgrund des Fehlens eines öffentlichen Diskussionsraumes konnte sich keine alternative kollektive Meinung herausbilden. Die Sympathiebekundungen und Anzeichen des Unmuts, die der Diarist aufzeichnet, sind darum schwerlich als Akte des Protests oder des Widerstands zu bezeichnen, vielmehr handelte es sich um „Resistenz“, um den Unwillen, das eigene Verhalten gänzlich der nationalsozialistischen Norm anzupassen. Diese Weigerung, die von Klemperer oft gewürdigt wird, stellte die ungefährlichste Form dar, normabweichendes Verhalten zum Ausdruck zu bringen. Aufgrund der Vielfalt der kursierenden „unübersichtlich[en] und zwiespältig[en]“ Meinungen (ZAII: 676 [19.2.1945]), der Heterogenität der Quellen, der Ausschnitthaftigkeit seiner Perspektive und der persönlichen Betroffenheit des Diaristen begegnet dieser erheblichen Schwierigkeiten in der Beurteilung der vox populi. Die Gesellschaft im Dritten Reich wurde in Individuen, Familien, Freun[7.2.1944]) In Berlin, so wurde Klemperer mitgeteilt, soll angesichts der kontrafaktischen Siegeszuversicht der Nationalsozialisten folgende Redewendung kolportiert worden sein: „Eh ick mir hängen lasse, jloob ich an ’n Sieg!“ (ebd.: 597 [29.9.1944])

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deskreise, Überreste alternativer Netzwerke aus der Weimarer Republik atomisiert, die als einzelne Elemente nicht mehr über ausreichende Informationskanäle verfügten, um jenseits des Regimes ein nachweisbares, einheitliches Meinungsbild herzustellen. Aus historischer Perspektive können die Klemperer-Notizen sicherlich dazu beitragen – obschon sie natürlich viele Fragen offen lassen und stets die Diskursposition des Verfassers reflektieren –, die Idee eines allgegenwärtigen, eingefleischten und jederzeit gewalt- bzw. mordbereiten Judenhasses in der deutschen Bevölkerung zu revidieren. Andererseits aber zeigen die aufgezeichneten hämischen Beleidigungen, die schadenfrohen Erniedrigungen und die freiwilligen Einschüchterungen, dass die Durchführung der Judenverfolgung nicht in einer irrationalen, pathologischen „Monstrosität“, sondern – und dies ist viel verstörender – im Verschwimmen von Gut und Böse zu verorten ist.567 Die Normalisierung des Unrechts, die in Klemperers Notizen lebhaft zum Ausdruck kommt, ist keineswegs ein typisch „deutsches“ Phänomen.568 Klemperers Überlegungen zur vox populi zeigen anschaulich, wie sich sein Deutschlandbild über die Jahre hinweg grundlegend verändert hat. Seine Tagebücher aus der NS-Zeit erzählen die traurige Geschichte einer verklärten Liebe, um deren hässliche Seite der Diarist nicht immer wissen wollte. Deutschland war denn auch vor 1933 – im Vergleich zu anderen europäischen Nationen – kein besonders antisemitisch ausgerichtetes Land gewesen. Die Aufdeckung der kühlen Tiefen seines ehemals verehrten Vaterlandes und von ihm glorifizierten Volkes war ihm umso schmerzvoller und enttäuschender. Den Antisemitismus, so der Diarist, habe er immer „als Flämmchen gewertet, als Irrsinnsprodukt eines Einzelnen, einer kleinen desequilibrierten Gruppe. Ich hätte niemals geglaubt, daß das Flämmchen zünden – in Deutschland zünden könnte!“ (ebd.: 113 [7.6. 1942]) Wie aus den vorangegangenen Erörterungen ersichtlich geworden sein mag, ist eine objektgerechte Interpretation von Klemperers Erwägungen zur gängigen Volksstimmung im Dritten Reich ohne die Bezugnahme auf das deutschjüdische Selbstverständnis und die Ausnahmesituation des Tagebuchschreibers kaum möglich. Das Gegen-den-Strich-Lesen von Klemperers vielschichtigen Tagebüchern, das die Darstellungsweise des Diaristen – ohne moralische Urteile – 567 Ben Eilbott (2001: 96) hebt die – instrumentalisierungsanfällige – Interpretationsvielfalt der Klemperer-Tagebücher hervor, gerade weil seine Schriften in sich so widersprüchlich sind. In den Notizen des Philologen wechseln sich „Judenfreundlichkeit“ und „Judenhass“ in durchaus schillernder Weise ab. Vor diesem Hintergrund, wie auch Dino Felluga (2000: 156f.) hervorhebt, können die Notizen sowohl als Widerlegung wie auch als Bestätigung der These der deutschen Kollektivschuld gelesen werden. 568 Götz Aly (2003: 15) macht aus gutem Grund darauf aufmerksam, dass es notwendig sei, „die Begrenzung zu überschreiten, die den Blick auf den nationalen Urgrund der Deutschen fixiert. Darin zeigt sich erstens eine ins Negative verkehrte nationale Selbstüberschätzung und zweitens ein ganz unangebrachter Optimismus.“ Die Hypothese des deutschen „Sonderwegs“ stellt vor diesem Hintergrund eine Simplifizierung des zivilisationserschütternden Ereignisses des Holocaust dar und entkräftet ihre Bedeutung für die Nichtdeutschen und für unsere Gegenwart, in der man sich immer mehr vom Holocaust entfernt und unbetroffen fühlt. Der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Juden hat nach 1945 grundsätzlich das gesamte Menschenbild verändert.

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kritisch hinterfragt, stellt ein wichtiges Analyseverfahren dar, das es erlauben soll, die Tagebücher vor politischer und gedächtniskultureller Instrumentalisierung in Schutz zu nehmen und sie in dem Maße zu würdigen, das ihnen gebührt.

3.2.3 Historiographie: Alltag im Ausnahmezustand 3.2.3.1 Tagebuch und Alltagsgeschichte des Dritten Reiches Anfang der 1920er Jahre begründet Victor Klemperer das kulturhistorische Erkenntnisinteresse des Tagebuchführens im Hinblick auf die Wiedergabe des Alltags nach der Jahrhundertwende wie folgt: „Wie hat man damals, im Anfang des Jahrhunderts, gegessen, getrunken, gezahlt, gelitten, gejubelt, was erschien einem groß, was klein, was möglich, was unmöglich? Auf alles lauten die Antworten anders als heute.“ (LSI: 410 [3.2.1921]) Infolgedessen, um die kollektiv akzeptierte Normalität festhalten zu können, dient das Tagebuchschreiben der Speicherung des Alltags in seinem ephemeren und vergänglichen Charakter, der aufgrund der vorgeblich unnützen „Trivialität“ in Vergessenheit zu geraten droht. Da sie die Perspektive des Unheroischen und Machtlosen einnimmt, geht die Betonung des „Unspektakulären“ und „Belanglosen“ mit einer impliziten Politisierung des Alltags einher. Den Alltag, wie er in der Literatur dargestellt wird, definiert Werner Jung folgendermaßen: Der Alltag in der Literatur: das ist die Rehabilitierung und Nobilitierung des Details, des Banalen und Unspektakulären, des Dauernden und Festen, des Kleinen und Überschaubaren; das ist die realistische Darstellung dessen, was jedermann kennt, was hier und da, gestern und morgen überall so oder so vorkommt, die Welt vor und hinter der Geschichte, die Welt in Reichweite, abgesteckt der Horizont darin. (Jung 1994: 99f.)

Auch Victor Klemperers Tagebücher zeichnen sich auf exemplarische Weise durch die besagte „Nobilitierung des Details“ aus. Bereits in den Notizheften aus der Weimarer Zeit nahm das „Gewöhnliche“, der subjektiv erlebte und verkörperte Zeitgeist eine herausragende Stellung ein. Damals registrierte der Tagebuchautor bezüglich der Revolutionswirren rund um die Münchener Räterepublik – gewissermaßen die programmatische Leitfigur seiner Aufzeichnungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches vorwegnehmend – die Kontinuität des Alltags in Krisenzeiten: „Das ist für mich die große Lehre: daß in den wüstesten weltgeschichtlichen Zeiten der Alltag doch fortläuft u. sozusagen die Breite des Raumes einnimmt.“ (LSI: 8 [23.11.1918]) Demnach war Klemperer vor allem im Dritten Reich wesentlich daran gelegen, den Blick auf „den alltäglichen, den Durchschnittsmenschen“ zu lenken (A 138: 776 [13.1.1943]; im Originalmanuskript unterstrichen). Die kritischen Betrachtungen von Historikern wie Omer Bartov, Robert Gellately, Eric A. Johnson und Bill Niven stehen für den anhaltenden Versuch, Klemperers Zeugnisse in den Kontext heutiger Zusammenhänge – unter Einbe-

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ziehung der Vergangenheit und Berücksichtigung der wahrgenommenen Unterschiede der historiographischen Sichtweisen der Opfer und der Täter – zu übertragen.569 Für die Historiographie sind sich die genannten Autoren einig, dass die Klemperer-Tagebücher einen wertvollen, in der Tat einzigartigen Beitrag zu unserem Verständnis der nationalsozialistischen Gesellschaft leisten, und dass die über einen Zeitraum von zwölf Jahren beschriebenen Fakten und Ereignisse eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über das Dritte Reich ermöglichen.570 Ein derartiger Reichtum an Detailinformationen über den Alltag im Dritten Reich stand vor der Veröffentlichung der Tagebücher zweifellos nicht zur Verfügung. Klemperer zeichnet zwar kein umfassendes und repräsentatives Bild des Schicksals der Juden in Deutschland, gibt jedoch einen genauen Eindruck über das Leben eines bestimmten Juden unter bestimmten Umständen wieder (vgl. Chamberlain 2000: 85). Der Verfolgtenalltag, den Klemperer in seinen Notizen einprägsam wiedergibt, reflektiert tatsächlich ein jüdisches Einzelschicksal. Die gesellschaftliche Lage, in der der Diarist seine Tagebücher verfasste, unterschied sich grundsätzlich – aber nicht völlig – von dem Los des Großteils der deutsch-jüdischen vom Holocaust betroffenen Opfer.571 So differierten Klemperers Alltag und seine Schilderung desselben erheblich von den folgenden typischen Verfolgtenschicksalen:

569 Auch der Cambridger Historiker Richard J. Evans zieht in The Coming of the Third Reich (2003: xxix) das „neue Material“ der Klemperer-Tagebücher heran, um seine historische Forschungsarbeit privatbiographisch zu veranschaulichen. Klemperers äußerst „detaillierte Darstellung“ des Alltags in der Weimarer Republik und im Dritten Reich sei aus zeit- und alltagsgeschichtlicher Perspektive hoch aufschlussreich (ebd.: 145; vgl. ebd.: 106ff.; 439f.). 570 Bei Historikern wie Bartov, Gellately, Johnson, Niven und Evans handelt es sich – geographisch bzw. sprachlich verkürzt – um anglo-amerikanische Holocaust- und Nationalsozialismus-Forscher. Was bis in die 1990er Jahre spezifisch für die deutsche Holocaust-Forschung zutraf, so kann unter Rückgriff auf Dan Diner (1998) behauptet werden, war ein gewissermaßen mangelndes Interesse an den Opfern. Diner bezeichnet die deutsche Perspektive als „banal“, weil nicht die unmenschliche Seite des Judenmordes, wie sie von jüdischer Seite hervorgehoben wird, im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand. Vielmehr wurde die „Banalität“ der deutschen Sicht – die bürokratische Organisation des Holocaust, die Haltung „gewöhnlicher“ Menschen gegenüber der Judenverfolgung, der deutsche Alltag im Dritten Reich – beleuchtet. Komplexität und Zwiespalt, Identität und Persönlichkeit wurden weitgehend allein den deutschen Tätern und Mitläufern, Widerständlern und Kollaborateuren zugestanden. Der Gegenseite – also denjenigen, den jüdischen Individuen, die in direkter Konsequenz der Verhaltensweisen getötet oder gerettet wurden – wurde viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt, und ihre individuelle Perspektive blieb somit auch von der Forschung weitgehend unberücksichtigt. Dieses Vakuum erkannten in den 1990er Jahren nicht nur amerikanische und britische Historiker, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit. 571 Zu Klemperers relativer Ausnahmesituation im Vergleich zu anderen – oft durchaus schicksalsträchtigeren – Lebenswegen deutscher Juden unter dem Nationalsozialismus vgl. Tölle (1999: 351f.). An Tölle anschließend soll mithin Hannes Heers These, in Klemperers Einzelschicksal erscheine die Verfolgung des ganzen jüdischen Volkes (vgl. Heer 1997: 136), relativiert werden.

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– Klemperer war nicht in einem Konzentrationslager und war nicht mit der erschütternden Erfahrung allumfassenden Sinnverlustes und allseitiger Todespräsenz, wie sie KZ-Insassen erfasste, konfrontiert, aber ihm blieben weder Inhaftierung noch Zwangsarbeit erspart.572 – Klemperer wurde nicht deportiert, sah sich aber im Laufe des Krieges zunehmend von dieser Möglichkeit bedroht. – Klemperer lebte nicht im Ghetto. Die dort grassierenden Seuchen, die unsäglichen hygienischen Bedingungen und die katastrophale Ernährungssituation kannte der Diarist in diesem Ausmaß nicht. Aber er wurde gezwungen, in ein „Judenhaus“ – für Klemperer ein „[g]ehobenes KZ“ (ZAI: 533 [6.6.1940]) bzw. ein „winzige[s] Ghettofort[...]“ (ZAII: 198 [8.8.1942]) – einzuziehen, wo er ein eingeengtes Leben in einer Zwangsgemeinschaft zu führen verurteilt war und immer wieder unter Gestapo-Haussuchungen zu leiden hatte. – Klemperer erlitt kein Flüchtlingsschicksal im engeren Sinne. Allein am Ende des Krieges, nach dem anglo-amerikanischen Bombenangriff auf Dresden, gelang es ihm nur mit knapper Not, der Stadt zu entkommen und nach Bayern zu flüchten. – Klemperer emigrierte nicht. Trotz diesbezüglicher Bemühungen ab dem Jahre 1938 war es aus verschiedenen Gründen – unter anderem auch finanzieller Art – nicht (mehr) möglich, ins Ausland (USA, Südamerika oder Afrika) zu fliehen. – Klemperer war nicht untergetaucht und war darum allen Verordnungen und Schikanen uneingeschränkt ausgeliefert. Allerdings kam auch er auf der Flucht nach und durch Bayern von Mitte Februar bis Mai 1945 in den Status eines Vogelfreien, der ihn in der Illegalität, unter falschem Namen und ohne Judenstern – kurzfristig – dieselben Ängste ausstehen ließ wie die Untergetauchten.

Ungeachtet der angegebenen Unterschiede spiegeln Victor Klemperers Tagebücher aus der Perspektive eines jüdischen Holocaust-Verfolgten das tägliche Leben im Deutschen Reich von 1933 bis 1945 wider, gekennzeichnet durch Amtsenthebung, Diskriminierung, Verfolgung, Enteignung, Isolation, materielle Not, Drangsalierung, Inhaftierung und Zwangsarbeit. Seine Holocausterfahrungen resümiert der Diarist nach dem Krieg: „Meine Frau und ich haben viel gelitten: Schläge, Fußtritte, Bespuckungen, Hunger, ständige Todesgefahr; für mich selber kamen Zwangsarbeit als Straßenkehrer und in Fabriken hinzu, Verhaftungen, Einzelzelle.“ (US: 222 [6.1.1947]) In Klemperers Tagebüchern handelt es sich um „Geschichte von unten“, geschrieben aus dem Blickwinkel des Opfers, welches gleichzeitig ein „Insider“, ein patriotischer, konservativer, gebildeter und zum Christentum konvertierter Deutscher war, der vom Regime zum Juden erklärt wurde und seine ausgezeichnete Beobachtungsgabe dazu nutzte, die alltägliche Transformation der deutschen Gesellschaft während der zwölfjährigen Hitlerzeit zu analysieren. Aus Klemperers Auge erhalten wir ein Bild vom Alltag der Mitläufer und Täter, der Opfer und 572 Der Tagebuchschreiber wusste, dass die Lage von KZ-Häftlingen unendlich schlechter als diejenige war, in der er und seine Frau sich befanden: „Es geht uns beiden recht elend – es geht den Leuten im Lager noch viel elender als uns beiden, was aber ein solamen miserrimum ist.“ (ZAII: 305 [6.1.1943]; vgl. ebd.: 288 [11.12.1942])

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deren Helfer, wie es sich uns in dieser Form niemals durch den bloßen Rückgriff auf die Zeugnisse der so genannten „einfachen“ Deutschen bieten würde; und da Klemperer auch zu verstehen suchte, wie er von der deutschen Gesellschaft gesehen wurde, gibt er uns beispiellose Einblicke in das Verhältnis von Opfer und Täter. Sein detailreiches, anekdotisches Zeugnis, welches einerseits aus subjektiver Perspektive das von den Juden erlittene Unrecht und andererseits die von den Nationalsozialisten verübten Gräueltaten aufzeichnet, ist für den Historiker von unmittelbarem Interesse. Im Zuge der postmodernen Personalisierung der Geschichtswissenschaft wurden Klemperers Aufzeichnungen denn auch als willkommene Dokumente zur Erhellung des NS-Alltags herangezogen.573 Sein besonderer Alltagsmodus erlaubte es Klemperer, eine Unmenge historischer Details zusammenzutragen, die seine Diarien zu einem wertvollen Archiv des Alltags unter der NS-Herrschaft werden ließen. Die Tagebücher enthalten minutiöse Aufzeichnungen zur Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, zu Restriktionen bei der Beschaffung von Kleidung und Tabak und dem Verlust von Privilegien. Aufgrund der historisch aufschlussreichen, nichthierarchischen Gegenüberstellung von (scheinbar) trivialen Gemeinplätzen und tiefsinnigen, philosophischen Gedanken zu Tod, Menschsein und nationalem Denken weckten Klemperers Notizen schnell das Interesse von Historikern. Der amerikanische Geschichtswissenschaftler Omer Bartov begründet das Heranziehen von autobiographischen Dokumenten wie folgt: [D]ie Aufgabe des Historikers besteht darin, sich in den Betroffenen, in die Hauptperson des Ereignisses, über das er schreibt, einzufühlen. Und im Falle eines Völkermords, sowie in jedem historischen Ereignis, gibt es immer (mindestens) zwei Seiten. Authentisches Verstehen kann m.E. nur durch Empathie mit dem Anderen, nicht durch Mitleid oder Scham, Schuldgefühl oder Wut, sondern durch Lernen, Studieren und Verständniswillen erreicht werden. [‚Verstehen‘ deutsch im Original] (Bartov 2000: 179)

Durch die „Empathie“ mit der Ich-Perspektive in Autobiographien oder Tagebüchern kommt einer Hermeneutik des Alltags bzw. einer Personalisierung der Geschichtswissenschaft, wie sie aus der alltagshistorischen Rezeptionsfigur hervorgeht, eine wichtige Rolle in der geschichtlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu. Klemperers Tagebücher gelten somit laut Bartov als aufschlussreiche Quellen, die gewinnbringend für die Aufarbeitung der „Alltagsgeschichte“ des Dritten Reiches eingesetzt werden können. Die Alltagsgeschichte rückt anstelle der Systeme die Individuen in den Mittelpunkt und versucht, Ideologie nicht als abstrakte Identität, sondern im relationalen Kontext zu verstehen. Klemperers Tagebücher wurden aufgrund ihrer Wahrnehmungsperspektive „von unten“ und ihrer Funktion als Archiv akribisch zusammengetragenen Materials seit Mitte der 1990er Jahre in alltagsgeschichtlichen Studien der NS-Periode häufig als authentische Quellen zum nationalsozialistischen Alltag herangezogen. 573 Für eine erhellende Erörterung der wissenschaftskritischen und politischen Bedeutung von Alltagsgeschichte für die historiographische Forschung vgl. Lüdtke (1994: 65-80).

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Eine Alltagsgeschichte des Dritten Reiches zeichne sich – so Martin Broszat, einer der nicht unumstrittenen Hauptvertreter dieser Herangehensweise –574 durch folgenden Vorteil aus: Hautnahe alltagsgeschichtliche Betrachtung, die das sozial Konditionierte wie das Menschlich Allzumenschliche beiderseits der durchaus flüssigen Trennlinie von Nationalsozialistisch und Nichtnationalsozialistisch in Politik und Gesellschaft des Dritten Reiches besser sichtbar macht, löst naturgemäß auch die überscharfen Konturen der Schwarz-Weiß-Beurteilung auf und verhilft zu größerer Gerechtigkeit und Differenziertheit der politisch-moralischen Beurteilung. (Broszat et al. 1984: 20)

Die „[h]autnahe alltagsgeschichtliche Betrachtung“ ist nicht auf den Einzelfall bzw. die Einzelperson fixiert, sondern versucht in ihnen das Universelle zu entdecken. An dieser Stelle lässt sich eindeutig eine Brücke von der Alltagsgeschichte zur Mentalitätsgeschichte schlagen, da die Mentalität einer Epoche, so die These, die auch latent in Klemperers Tagebüchern vertreten wird, sich vielmehr an den alltäglichen Umgangsformen und Praktiken einer Kulturgemeinschaft ablesen lässt, als dass sie anhand politischer Zäsuren festzustellen wäre. Der Tagebuchautor bietet Einblick in die alltäglichen Aspekte der Erfahrungswelt des Dritten Reiches, die vor dem Hintergrund der Beispiellosigkeit des Holocaust historisch zweitrangig erscheinen, aber gleichwohl höchst aufschlussreiche Angaben über die penetrante Ubiquität des NS-Regimes enthalten. Der Tagebuchschreibende setzt es sich vor diesem Hintergrund zum Ziel, die „Stimmung dieser Zeit“ wiederzugeben: Von den Schand- und Wahnsinnstaten der Nationalsozialisten notiere ich bloß, was mich irgendwie persönlich tangiert. Alles andere ist ja in den Zeitungen nachzulesen. Die Stimmung dieser Zeit, das Warten, das Sichbesuchen, das Tagezählen, die Gehemmtheit in Telefonieren und Korrespondieren, das zwischen den Zeilen der unterdrückten Zeitungen Lesen – alles das wäre einmal in Memoiren festzuhalten. (ZAI: 28 [15.5.1933])

Die geschichtlichen Marginalien dieser Epoche nehmen in Klemperers kritischen Eintragungen über weite Strecken einen zentralen Stellenwert ein: Klemperer empörte sich beispielsweise über die „Zahnpasta mit dem Hakenkreuz“ (ebd.: 14 [22.3.1933]) oder den „Kinderball mit Hakenkreuz“ (ebd.: 16 [30.3.1933]; vgl. 574 Mit seinem erstmals 1985 veröffentlichten Aufsatz „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus“ löste Martin Broszat eine geschichtswissenschaftliche Kontroverse aus, die im Rahmen des Historikerstreits eine wichtige Rolle spielte. Er plädierte – aus explizit deutscher Perspektive – für eine Einordnung des Nationalsozialismus in die gesamte deutsche Geschichte (vgl. Broszat 1986: 172). Sein Begriff der Historisierung als Gegenstück zur „Moralisierung“ des Nationalsozialismus wurde unter anderem von Saul Friedländer (1987) heftig kritisiert, weil die jüdische Perspektive außen vor bliebe und die alltagsgeschichtliche Nahsicht zu einer Normalisierung bzw. Marginalisierung der NS-Verbrechen führen könnte. Im Jahre 2003 kam posthum zutage, dass Broszat ab dem Jahre 1944 Mitglied der NSDAP gewesen war. Zur Diskussion um die Frage, ob der Historiker von seiner Aufnahme in die Partei gewusst hatte oder nicht vgl. Frei (2003: 50).

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LTI: 44), oder er spottete über das Mitteilungsblatt des Deutschen Katzenwesens, in dem „[d]ie ‚deutsche Katze‘ :/: ausländische ‚Edel‘-Katzen“ voneinander unterschieden wurden (ebd.: 193 [17.4.1935]; vgl. ebd.: 160 [30.10.1934]; LTI: 98). Des Weiteren widmete der Diarist seine Aufmerksamkeit den vielen vom NSRegime neu eingeführten feierlichen Veranstaltungen, die im Dritten Reich immer propagandistischen, gemeinschaftsstärkenden Zwecken dienten, wie beispielsweise der neu erfundene „Volksspargeltag“: „Es gab neulich in Berlin einen ‚Volksspargeltag‘, damit das Volk die Delikatesse zu billigen Preisen habe; bekannter Grund sei der Mangel an Konservenbüchsen. Es soll in vielen Betrieben gären, die Arbeiter sollen mit der Sprache sehr offen herauskommen.“ (ZAI: 353 [22.5.1937]) Die vom Diaristen aufgezeichneten Kleinereignisse bzw. „Einzelheiten zum temps qui court“ (ebd.: 46 [10.8.1933]) erhellen das Verhältnis von Ideologie und Mentalität im NS-Staat. Gegen die einseitig ereignisorientierte, politischmilitärische Geschichte, die von der traditionellen Historiographie lange Zeit in den Vordergrund gestellt wurde, betont die Mentalitätsgeschichte – in Frankreich paradigmatisch von Philippe Ariès und Jacques Le Goff vertreten – die epochenkonstitutive Bedeutung von kollektiven bzw. zeittypischen Vorstellungen und Verhaltensmustern. Insofern erweisen sich Klemperers Notizen als höchst relevante Dokumente für eine mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktion des Alltags im Dritten Reich – denn an selbstbiographischen Artefakten wie Tagebüchern, Memoiren oder Autobiographien können unterschiedlichste Formen subjektiver Wahrnehmung untersucht werden. Die Verschriftlichung individuellen Denkens, Fühlens und Handelns ermöglicht Rückschlüsse auf kollektive Mentalitäten und Vorstellungen. Diese Extrapolation vom Persönlichen zum Allgemeinen kommt in Klemperers Journal ganz deutlich zum Tragen. Die Alltagsgeschichte als mikrologischer Theorieansatz hat sich aufgrund des subjektiven und lokalen Charakters der von ihr herangezogenen Quellen ohne jeden Zweifel neue hermeneutische Probleme eingehandelt, die eine synthetisierende und an die Makrogeschichte anschließbare Darstellung ihrer Forschungsergebnisse erheblich erschweren: Dieser Ansatz hat einen außerordentlichen heuristischen Gewinn erbracht aber auch eine Explosion an Komplexität. Er verändert die historische Praxis auf herausfordernde Weise. Die Explosion an Wirklichkeitswahrnehmung – in wie spurenhafter Form auch immer – erschwert die theoretische Reduktion und synthetisierende Darstellung. (Niethammer 1985: 245f.)

Die Geschichtswissenschaft steht nach wie vor vor der Frage, wie sie der Spezifik des Holocaust gerecht werden könne. Die Alltagsgeschichte des Dritten Reiches artikuliert vor diesem Hintergrund eine klare Absage an die an dem „monströsen“ Handeln der Täter orientierte Geschichtswissenschaft, die es versäumt habe, „die Auswirkungen der ‚großen Politik‘ auf das Leben der Opfer und der ‚kleinen Leute‘ zu analysieren, die Geschichte eher ‚erlitten als gemacht‘ haben.“ (Wippermann 1989: 108) Klemperers Tagebücher erweisen sich – aufgrund ihrer Be-

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schäftigung mit den vielen „gewöhnlichen“ Opfern, Häschern und Mitläufern, denen ein Name und ein Gesicht gegeben werden – als aufschlussreicher Bericht von der alltäglichen Rationalisierung des Unmenschlichen im Dritten Reich wie auch von der breiten Akzeptanz und Durchführung der nationalsozialistischen Pläne. Vor diesem Hintergrund fällt die ambivalente Modernität des Dritten Reiches ins Auge.575 Moderne und Vormoderne werden spannungsvoll und schicksalhaft miteinander vereint, wie der Diarist im folgenden Zitat zum Ausdruck bringt: „Und jeden Tag von neuem und jeden Tag stärker bewegt mich die triviale Antithese: So Ungeheures wird geschaffen, Radio, Flugzeug, Tonfilm, und die irrsinnigste Dummheit, Primitivität und Bestialität sind nicht auszurotten – alles Erfinden läuft auf Mord und Krieg hinaus.“ (ZAI: 396 [31.1.1938]) Genauso wie technische Modernisierung und „primitive“ Massenvernichtung Hand in Hand gehen, werden auch das Banale und das Böse, wie etwa in der Bürokratisierung des Massenmordes, miteinander verschränkt. Die deutsche Antithese von Irrationalismus und Szientismus, Obskurantismus und Technik erkennt der Diarist auch in der „wissenschaftlichen“ Untermauerung bzw. Legitimierung von Antisemitismus und Judenverfolgung: Volk der Träumer und der Pedanten, der verstiegenen Überkonsequenz, der Bibelfestigkeit und der genauesten Organisation. Auch die Grausamkeit, auch der Mord sind bei uns organisiert. Aus dem spontanen Antisemitismus macht man hier ein Institut für Judenproblem. (ZAII: 210 [17.8.1942]; vgl. ebd.: 206 [14.8.1942]; ebd.: 215 [20.8.1942])576

An dieses Zitat anschließend könnte man die These hervorbringen, dass die Trennung zwischen einer alltagsgeschichtlichen Anschauung und einer moralischen Perspektive, die sich auf die genozidalen Verbrechen des Nationalsozialismus konzentriert, auf einer irreführenden Zweiteilung zwischen Barbarei und Normalität fußt, da es, so auch Ian Kershaws Argumentation, in einer „zivilisierten“ Gesellschaft einen gesellschaftlichen Rahmen geben kann, der paradoxerweise Völkermord akzeptabel macht (vgl. Kershaw 1988: 319f.). Gegen diese Lesart wendet sich ausdrücklich Saul Friedländer (1987: 44), der der Ansicht ist, die 575 Die Ambivalenz der Moderne im Dritten Reich wird von verschiedenen Literaturwissenschaftlern und Historikern betont. Selbst die grundsätzlichste Antimodernisierungstendenz im Nationalsozialismus enthält Momente von unterschiedlich konstituierter Modernisierung, so dass das Widersprüchliche von einerseits industrieller, medizinischer und verwaltungsmäßiger Modernisierung bzw. Rationalisierung und andererseits überschwänglicher Emotionalität und Gewaltbereitschaft ein Hauptcharakteristikum des Totalitarismus darstellt. Zum Phänomen der ambivalenten Moderne im Dritten Reich vgl. Bavaj (2003) und Traverso (2003). 576 Klemperer ist der Auffassung, der typisch deutsche Charakter des Nationalsozialismus – im Gegensatz zum totalitären „Bolschewismus“ – liege in der kalten Zweckmäßigkeit seiner Organisation: „Der einzige Unterschied ist der, daß die Deutschen ihre Grausamkeiten, ihre Dummheit sogar, pedantischer organisieren, methodischer, kälter u. also sündhafter durchführen als die andern.“ (A 138: 1430 [28.3.1945]) Nach einem Besuch in Auschwitz im Mai 1952 weist der Tagebuchschreiber auf eine ähnliche Art und Weise darauf hin, dass gerade die „technische“ und „wissenschaftliche“ Durchführung des Holocaust seinen „deutschen“ Charakter ausmachen: „Die Hölle des 20. Jh.’s, die technische u. wissenschaftliche Hölle, die deutsche Hölle…“ (SSII: 280 [5.5.1952])

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Alltagsgeschichte, die tendenziell die Verflechtung von Normalität und Kriminalität im Dritten Reich hervorhebt, berge durch die „Betonung der nichtkriminellen, nicht-ideologischen und nicht-politischen Aspekte“ die Gefahr in sich, den Nationalsozialismus gewissermaßen zu relativieren.577 Sie gehe von einer gesellschaftlichen Kontinuität in der deutschen Bevölkerung aus, die das Primat des „Zivilisationsbruches“ verabschiede. Dan Diner wiederum wendet sich nicht gegen die Alltagsforschung an sich, merkt aber an, dass dem Holocaust in der alltagsgeschichtlichen Annäherung an der NS-Periode stets eine Schlüsselstellung zukommen solle. Ohne die Berücksichtigung von Auschwitz, die Orientierung an der Opferperspektive, sei ein Verstehen der Normalität im Dritten Reich prinzipiell unmöglich: Um der Besonderheit der NS-Periode nicht auszuweichen, bedarf die Nahsicht des alltagsgeschichtlichen Zuganges der gleichzeitigen Aufrechterhaltung einer ‚Fernsicht‘ auf das zentrale Merkmal des Nationalsozialismus – ausgehend vom industriell durchgeführten Massenmord, wie es sich in der durchaus verobjektivierten Erfahrung der Opfer niederschlägt; und dies, ohne in der Geschichtsschreibung eine ausschließbare Opferperspektive einzunehmen. Damit wäre auch die Absicht der Historisierung hinsichtlich der nationalsozialistischen Epoche aufs neue dem Drehund Angelpunkt ‚Auschwitz‘ zugeführt, um von diesem extremsten Pol nationalsozialistischer Wirklichkeit aus die gesamte ‚Normalität‘ jener Jahre zu erschließen, um sie von daher auch besser oder überhaupt ‚verstehen‘ zu lernen. (Diner 1987a: 69)

Ohne systematische Einbettung der Alltagsgeschichte in eine breiter gefasste Gesellschaftsgeschichte, die die Lebenswelt aller Klassen und Gesellschaftsfraktionen umfasst, ist der Alltagsansatz von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die kulturgeschichtliche Relevanz in Kriegszeiten entstandener autobiographischer Dokumente besteht in der Verzahntheit von Privat- und Nationalgeschichte: „[D]ie Kulturgeschichte ist eine Geschichte des Intimen [...] innerhalb vom nationalen Kontext. Es ist eine Geschichte von bedeutsamen Praktiken: Sie untersucht, wie Männer und Frauen der Welt, in der sie lebten, Sinn gegeben haben.“ (Prost und Winter 2004: 47)578 Der kulturgeschichtlich bedeutungsvolle Schwerpunkt, der in Klemperers Tagebuch auf das „Intime“ gelegt wird, veranschaulicht dem Leser die Verbindung von Mikro- und Makrogeschichte. Aufgrund dieser Synthese machen die Notizen hellhörig und liefern für die Alltagsgeschichte eine besondere Erkenntnisleistung. Siegfried Kracauer insistiert auf der Unverzichtbarkeit einer

577 Heinrich August Winkler zufolge besteht die Gefahr in Bezug auf die Alltagsgeschichte darin, dass, wenn die Alltagserfahrung zur letzten Berufungsinstanz wird, kein Spielraum für politische Verantwortung bleibt. Zu Recht muss dazu kritisch hervorgehoben werden, dass die Verabsolutierung der Alltagsperspektive möglicherweise, aber nicht notwendigerweise auf Apologie hinaus laufen könne (vgl. Winkler in Broszat et al. 1984: 31). 578 Auf ähnliche Weise sieht Gottfried Abrath (1994: 15) den Erkenntnismehrwert von Tagebuchanalysen in deren Möglichkeit, „Faktoren eines subjektiven Eindrucks zu erfassen und dabei die Wechselwirkung von Subjekt und Milieu etc. zu beobachten.“

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Komplementierung der Makrohistorie mit der persönlichen Perspektive von Privatpersonen: Nicht alles an historischer Realität ist in mikroskopische Elemente zu zerlegen. Das Ganze der Geschichte umfaßt ebenso Ereignisse und Entwicklungen, die sich oberhalb der Mikro-Dimension abspielen. Aus diesem Grund sind Geschichten auf höheren Ebenen von Allgemeinheit ebenso wesentlich wie Detailstudien. Aber sie leiden an Unvollständigkeit; und wenn der Historiker ihre Lücken ‚mit eigenem Verstand und Konjektur‘ ausfüllen will, muß er die Gestalt der kleinen Ereignisse ebenso erforschen. Makro-Geschichte kann nicht Geschichte im idealen Sinn werden, es sei denn, sie ziehe Mikro-Geschichte nach sich. (Kracauer 1971: 142)

Der ständige Schwenk des Fokus zwischen close ups und long shots stellt durch scheinbare Ausnahmen und kurzfristige Geschehnisse die Gesamtschau des historischen Prozesses in Frage (vgl. Ginzburg 1993: 185). An diese hellsichtigen Bemerkungen zur Alltagsgeschichte soll im Folgenden angeknüpft werden. 3.2.3.2 Alltag und Taktik im Dritten Reich Das Tagebuch – und a forterio das Tagebuch in geschichtlichen Wendezeiten –, so hebt Sylvie Brodziak (1999: 78) hervor, „verhindert die Versteinerung und Dogmatisierung des historischen Gedächtnisses und gibt dem kollektiven Gedächtnis ein menschliches Antlitz. Dem Tagebuch kommt die Rolle einer Brüstung gegen die ‚Betonierung‘ der Geschichte zu.“ Diese Feststellung trifft durchwegs auf Victor Klemperers Tagebuch zu: Es bedient sich – vor dem Hintergrund der fortschreitenden internationalen Kriegshandlungen – divergenter Informationen aus dem Alltag eines Verfolgten und attestiert somit die schleichende Einschränkung der Freiheit, des finanziellen Komforts und der Nahrungsmittelversorgung der jüdischen Bevölkerung: Morgens weigerte sich das Milchmädchen heraufzukommen: Sie darf nicht mehr in Judenhäuser liefern. Mittags auf der Bank waren vom Ruhegeldamt 178 M eingegangen statt der 409 der früheren Monate: die neue ‚Sozialabgabe‘ der Juden, 15 Prozent vom Einkommen, für die drei Monate Januar-März auf einmal abgesetzt. – Danach erklärte der Fleischer, von jetzt an weniger geben zu müssen, weil er so schlecht beliefert werde. Nachmittags die Nachricht, daß Bulgarien dem Dreierpakt beigetreten. Also ist Griechenland verloren, also sieht Rußland friedlich zu, also wird der Weg durch die asiatische Türkei nach Ägypten gehen, also scheint Deutschland den Krieg zu gewinnen. Abends wollten wir uns im ‚Pschorrbräu‘ restaurieren und fanden nichts Eßbares ohne Fleischmarken, gingen zum ‚Monopol‘ und fanden nur Kohlrüben, gingen zum Bahnhof und fanden gar nichts, gingen wieder ins Monopol und aßen die Kohlrüben. (Alles bei Frühlingswetter und Dreck.) Sobald wir zu Hause waren, kam Polizeikontrolle. Ein Tag aus meinem Leben im dritten Reich. (ZAI: 582 [1.3.1941])

Das Tagebuch legt davon Zeugnis ab, wie der Nationalsozialismus allmählich den Alltag durchdrang, und wie Klemperer – inmitten alltäglicher Unterdrückung und Demütigung, vor dem „immer stärkeren Druck der Sklaverei und dem Elend

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des Alltags“ (ebd.: 549 [30.8.1940]) – versuchte, sein zunehmend anormales Leben gewissermaßen zu „normalisieren“.579 Auf den ersten Blick mag die Rede von einem „jüdischen Alltag im Dritten Reich“ unangemessen erscheinen, aber Klemperers Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit stellen sich – trotz ihrer Nahoptik – als geeignete Form heraus, ihren Entstehungskontext differenziert wiederzugeben, ohne zu einer Verniedlichung oder Trivialisierung der katastrophalen Epoche zu führen.580 Angesichts der Diskussion von „Alltag“ und „Alltagsgeschichte“ sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zur Begriffsklärung angebracht: Wenden wir uns dazu konzis der Frage zu, wie das Alltägliche im Kontext von Klemperers Notaten aus der NS-Epoche definiert werden kann. Das Alltägliche stellt kein sozialhistorisch objektivierbares Phänomen in sensu stricto dar; es handelt sich nicht um ein erkennbares bzw. beschreibbares Objekt, sondern es verweist vielmehr auf eine doppelte Problematik: 1. als erlebte bzw. gelebte Erfahrung, die singuläre Akteure, singuläre Situationen, spezifische Formen des Wissens, Handelns, Interagierens, Schaffens, Sprechens und Schreibens umfasst, und 2. als erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftliche Problematik. Wie sollte man sich also dem Alltäglichen annähern, ohne ihm gegenüber als soziologischem Phänomen ungerecht zu werden, d.h. ohne es seiner Alltäglichkeit und Singularität zu berauben? Lenken wir zunächst kurz den Blick auf die beiden begriffliche Aspekte des Alltäglichen. Das Alltägliche als Alltagserfahrung setzt in einem spezifischen Kontext und auf spezifische Weise einen vorgegebenen sozialhistorischen Raum – in concreto das Dritte Reich – in eine vom Subjekt konkret erlebte Lebenswelt – d.h. die Verfolgungserfahrung – um, was also bedeutet, dass der Alltag nicht einfach als die Rückseite sozialer Strukturen begriffen werden kann. Das Alltägliche ist mithin immer eine prinzipiell subjektive Erfahrungskategorie. Anders gewendet: Der Alltag per se ist nicht existent, sondern entsteht erst über die konkrete Erfahrung des Subjekts. Das Subjekt eignet sich die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen in einer Weise an, die das Alltägliche aus der Bedeutung eines passiven Epiphänomens bereits bestehender Strukturen herausführt. Das Subjekt schafft, erlebt und durchlebt den Alltag. Die Tatsache, dass es in Klemperers Fall noch einen Alltag unter dem Zeichen des Holocaust geben konnte, liegt grundsätzlich an der narrativisierbaren Ausnahmesituation des Diaristen. Das Dresdener „Judenhaus“ war im Gegensatz zu den Vernichtungslagern ein Ort, an dem 579 Für eine ausgezeichnete historische Erörterung der Judenverfolgung in Dresden zwischen 19331945 und eine überblicksartige Chronologie der Verfolgung vgl. Gryglewski (1998) und o.N. (1998). 580 Sich an Ethnologen wie Clifford Geertz und Harold Garfinkel anlehnend legt Michel de Certeau in seiner erstmals 1980 erschienenen Studie zu den „Praktiken des Alltags“, Die Kunst des Handelns, nahe, dass sich das Alltägliche konzeptuell nicht artikulieren oder erklären lässt. Man könne es nur beschreiben, immer wieder, aus wechselnden Perspektiven und in einem Diskurs, der sein komplexes Objekt nicht logisch, sondern vielmehr narrativ ordnet. Eine narrative Phänomenologie von Momenten des Alltagslebens ohne Leitthema oder Endziel, ohne begriffliche Metasprache – wie sich diese auch in den Tagebüchern Klemperers kundgibt – sei die adäquateste Form, sich dem Alltäglichen anzunähern. Siehe hierzu Certeau (1988).

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das Menschliche nicht gänzlich aufgehoben und bedeutungslos war, und der es noch erlaubte, einen gewissen Freiraum zu gestalten. Glücklich war die Lebenslage im „Judenhaus“ allerdings nicht, der Diarist konnte in diesem Kontext lediglich vom „zermürbenden Ekel des schmutzigen Alltags“ berichten (LTI: 17; im Original kursiv). Das Alltägliche ist außerdem ein Kollektivsingular, der auf einen breiten Fächer von Erfahrungen verweist, denen im gängigen soziologisch-historischen Wissen kaum Raum gewidmet wird oder die sogar als irrelevant, störend, banal oder unbedeutsam zurückgewiesen werden. Im Gegensatz dazu versuchen kulturwissenschaftliche Alltagstheorien das Randständige und das Flüchtige der Moderne zu Ehren zu bringen. Diesen Alltagstheorien, wie sie von Michel de Certeau, Arlette Farge oder Georges Perec aufgestellt wurden, haften eine Reihe immer wiederkehrender Schlagworte an, wie beispielsweise Einmaligkeit, Singularität, Individualität, Individualisierung, Flüchtigkeit, fait divers, das Unheimliche, Normabweichung, Kleingeschichte, um nur einige wenige zu nennen. Diesen schwer greifbaren Alltag – den Georges Perec (1989: 11) als „l’infraordinaire“ bezeichnet –581 versucht Klemperer im Tagebuch phänomenologisch sichtbar zu machen. Er erkennt diesbezüglich sehr wohl die Problematik der sich der sprachlichen Beschreibbarkeit entziehenden Gewöhnlichkeit des Alltags: „[D]er wirkliche Alltag, und gerade das macht sein Wesen aus, ist farblos wie Wasser, das man färben muß, um es sichtbar zu machen.“ (CVI: 311)582 Dem Philologen und Literaturhistoriker Klemperer war wesentlich daran gelegen, einen geeigneten Aufzeichnungsmodus – die adäquate ‚Färbung‘ eben – für das Ephemere, Heterogene und Entschwindende der konkreten Lebenswelt im Dritten Reich zu finden. Zu diesem Zweck bemühte sich der Diarist darum, buchhalterisch umfassende Bestandsaufnahmen der NS-Erfahrungswelt zu erstellen.583

581 Perec (1989: 9) betont weiter, dass man dem Alltag als Wissensobjekt angesichts seiner Selbstverständlichkeit und Wiederholbarkeit im Allgemeinen in Philosophie, Philologie oder Sozialwissenschaft wenig Aufmerksamkeit widmet: „Es kommt mir vor, als sprächen wir immer über das Ereignis, das Ungewöhnliche, das Außergewöhnliche [...]. Züge existieren erst, wenn sie entgleisen, und je mehr Opfer das Leben verlieren, desto mehr existieren sie; Flugzeuge existieren erst, wenn sie gekapert werden.“ 582 Der Alltag wird in Echtzeit und ohne theoretische Metasprache gelebt bzw. erlebt. Für eine kulturwissenschaftliche Einführung in das Phänomen „Alltag“ vgl. Highmore (2002: 1-16). Eine Übersicht über Heideggers, Adornos, Lefebvres, de Certeaus und Blanchots Alltagsverständnis findet der Leser bei Stephen Clucas (2000). 583 Angesichts der Problematik der Darstellung von Alltagserfahrungen wird auch die wissenschaftliche Praxis mit der Frage konfrontiert, wie der von anderen verschriftlichte Alltag im Wissenschaftsdiskurs – auf einem Meta-Niveau – beschrieben werden kann, ohne dessen Singularität Unrecht zu tun. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, hat dieses Kapitel teilweise bewusst deskriptiven Charakter. Die literaturwissenschaftliche Beschreibung von Klemperers Aufzeichnungen zum Alltag im Dritten Reich stellt eine Beschreibung zweiter Ordnung dar, die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten angelegt ist und die nicht automatisch mit den Gesetzmäßigkeiten von Klemperers selbsterlebtem Alltag identisch ist. In einer textnahen, dichten Beschreibung seiner Aufzeichnungen wird versucht, die Konstitution der Sinnbildungsprozesse im Alltag zu veranschaulichen. Deshalb werden in einer textbasierten Rekonstruktion von Klempe-

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Der Alltag, wie er von Klemperer geschildert wird, ist der Ort, an dem die Konkretheit seiner Lebenswirklichkeit zu erfahren ist. Es ist ein Handlungsraum, in dem die tatsächliche habituelle Lebenspraxis – Sprechen, Gehen, Kochen, Essen, Waschen, Lesen, Schreiben, Schlafen usw. – stattfindet. Klemperers Alltag ist aber auch eine Handlungs- und Wahrnehmungsmodalität, die konkrete Art, wie eine Aktivität betrieben oder die Wirklichkeit wahrgenommen wird. Das Alltägliche erzeugt somit den spezifischen Blickwinkel und Schreibmodus von Klemperers Tagebuchführung: Der Diarist bringt seine Verfolgungserfahrungen aus der Opferperspektive realiter zu Papier, indem er in allen Einzelheiten die Abläufe und Prozeduren seines Alltags schildert. Aufgrund der Kurzlebigkeit von Gefühlen und Eindrücken unmittelbar erlebter Ereignisse müssen diese tagtäglich gespeichert werden, denn sonst, so der Tagebuchautor, „werde ich die stumpfe Trostlosigkeit der Situation bald nicht mehr nachfühlen können.“ (ZAII: 151 [2.7.1942]) In seiner Narrativisierung der Geschehnisse im Dritten Reich handelt es sich aber um mehr als nur um ein bloßes Festhalten und Verschriftlichen historischer Fakten, von denen der Autor betroffen war. Klemperer ordnet, durchdringt Hintergründe und fragt nach Motiven und Konsequenzen. Auf diese Weise wird das Tagebuch zu einem lebendigen Reflexionsort, an dem Ich und Geschichte miteinander in Verbindung gebracht werden. In seinem alltäglichen Handeln und Wahrnehmen ist das Individuum Victor Klemperer vor diesem Hintergrund gleichzeitig Subjekt und Agens, agi und agissant (sensu Bourdieu). Einerseits wird es durch seine rassenbiologische Kennzeichnung als „Jude“ gänzlich ausgegrenzt und in die Knie gezwungen, andererseits hat es in seiner Sonderlage, als Partner einer nichtprivilegierten Mischehe, wie schwierig und sinnlos es ihm zuweilen auch vorkommen mag, nach wie vor die Möglichkeit, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren und der Allmacht des Regimes einen irreduziblen „Rest“ gegenüberzustellen. Aus theoretischer Perspektive kann diese passiv-aktive Duplizität des Alltagshandelns wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Das Alltagshandeln ist immer ein bestimmtes und bedingtes Handeln, d. h. ein von Strukturen, Routinen, Traditionen, Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Konventionen geprägtes und beeinflußtes Handeln. Dennoch sind Individuen in ihrem Alltagshandeln immer grundsätzlich in der Lage, innovativ zu handeln und zum Beispiel etablierte Konventionen zu sprengen und eventuell durch neue zu ersetzen. Sie sind also nicht nur Bestimmte und Bedingte, sondern auch Bestimmende und Bedingende. Als Personen sind sie nicht nur Objekte im Alltag oder Alltagsdynamik, sondern reflexive Lebewesen, die bewußt thematisieren können, was geschieht und wie es geschieht, und insofern die Möglichkeit haben, Einfluß auf das, was geschieht, zu nehmen. Im Alltag und unter den Bedingungen des Alltagslebens vermögen sie, Projekte zu entwickeln, ihre eigenen Vorhaben zu entwerfen und zu verfolgen, in sinneutralen und sinnindifferenten Milieus subjektiven Sinn zu stiften. (Gil 1999: 120f.) rers Alltag die Rahmenbedingungen für das Entstehen der Tagebücher dargelegt. Diese Alltagsbedingungen sind thematisch geordnet und möglichst kohärent dargestellt.

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Angesichts totalitären Terrors und totalitärer Ideologie war es für jüdische Holocaustopfer natürlich extrem schwierig, „Projekte zu entwickeln“ oder „subjektiven Sinn zu stiften.“ Das Generieren von Handlungs- und Lebenssinn, um unter dem Nationalsozialismus leben und überleben zu können, verlangte den Betroffenen viel an „Kreativität“ ab. Wie ein Leben im Schatten von Hunger, Krankheit und Tod überhaupt möglich war, ist aus heutiger Perspektive nur schwer nachzuvollziehen. Um unter solchen entsetzlichen Bedingungen die Menschenwürde zu bewahren, der Entpersönlichung zu entgehen, die Hoffnung aufrecht zu erhalten und das eigene Leben fortzusetzen, sahen sich die Verfolgten genötigt, gestalterische „Fertigkeiten“ und operationale Leistungen – wie Tagebuchschreiben – einzusetzen, die die Eckpfeiler ihrer Überlebensphilosophie bildeten.584 Auch Klemperer war mit der grundsätzlichen Bedeutungslosigkeit seiner bürgerlichen Existenz konfrontiert und wollte „so unendlich gern diese Zeit überleben.“ (ZAI: 318 [18.10.1936]) Gerade um diese Zeit zu überleben, schaltete der Tagebuchautor Mechanismen der Selbsttröstung ein. Diese alltäglichen Kompensationsmechanismen, mit denen Klemperer auf äußerst bescheidene Art und Weise seine Privatsphäre zu bewahren suchte, stehen Michel de Certeaus Begriff der „Taktik“ sehr nahe. Die Taktik, so de Certeau, verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann. Das ‚Eigene‘ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muß andauernd mit den Ereignissen spielen, um günstige ‚Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muß unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. (Certeau 1988: 23)

Die Taktik – im Gegensatz zum rationalen Kalkül der „Strategie“ – ist immer eine impulsive Antizipation des Schwachen gegenüber einem Regime, einer Krankheit, einer Ordnung, einem Unternehmen usw., um die eigene Lebenslage vorteilhaft auszugestalten.585 Die Taktik kann eine Einstellung, eine Denkweise, eine Handlungsmethode sein, die es erlaubt, sich so auf die Ereignisse einzuspielen, 584 Aufgrund der Schilderung eines jüdischen Alltags im NS-Deutschland stellen Klemperers Aufzeichnungen für die Geschichtsschreibung des Dritten Reiches und der entsprechenden Judenpolitik durchaus interessante Quellen dar, denn, wie auch Andrea Löw (2001: 112) im Hinblick auf verschiedene erhaltene Tagebücher aus dem Ghetto Lodz feststellt, ist die Einbeziehung der Sicht der jüdischen NS-Opfer nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Die geschichtswissenschaftliche Forschung des Antisemitismus zieht vordergündig die Täterseite in Betracht, während die jüdischen Menschen weithin als passive, gesichtslose Opfer dargestellt werden. 585 Dabei muss allerdings betont werden, dass der widerständige bzw. subversive Status taktischer Alltagshandlungen nicht überschätzt werden soll. De Certeau würdigt keineswegs einen antagonistischen Dualismus zwischen Dominanz und Alltagspraxis. Vielmehr handelt es sich in diesem Bereich um das listige Erschließen eines Handlungsspielraumes, in dem sich das Subjekt die Lebenswelt zu seinem Vorteil aneignet. Vor diesem Hintergrund zitiert Michel de Certeau (1988: 31) die von Witold Gombrowicz geprägte Handlungsmaxime: „‚[W]enn man nicht das hat, was man liebt, muß man lieben, was man hat‘.“

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dass das Ich in einer für es bedrohlichen Lage nicht (gänzlich) untergeht.586 Die von Klemperer aufgezeichneten Taktiken zielten versuchsweise darauf ab, die bedrückenden Geschehnisse der NS-Verfolgung gewissermaßen abzumildern oder zu eskamotieren.587 Besonderes Gewicht soll in diesem Zusammenhang auf die schier unerschöpfliche Fülle der privaten Anekdoten, Skizzen des Alltagslebens und vielgestaltigen Muster des Zeitvertreibs gelegt werden. Welche Möglichkeiten sah Klemperer und welche „Taktiken“ – materielle und geistige – wandte er an, um in einer Welt, in der Tod und Qual omnipräsent waren, um sein Leben zu kämpfen? Besonders akribisch beschriebene alltägliche Themenkomplexe, die in Victor Klemperers Tagebüchern588 eine in quantitativer Hinsicht gewichtige Stellung einnehmen, sind folgende: „Hausbau“, „Katzenliebhaberei“, „Kinobesuch“, „Autofahren“, „Vorlesen“ und „Lektüre“. Die auf den ersten Anblick ganz privat anmutenden Themenkonglomerate zeigen indes, wie häusliches Glück und Muße zunächst zwar einen Gegenraum der (Schein-)Normalität bilden, jedoch stufenweise durch die Einflussnahme des Nationalsozialismus eingeschnürt, beeinträchtigt und schließlich gänzlich aufgehoben werden. Wie eine ars oblivionalis stellen die Alltagsaktivitäten, denen im Tagebuch breiter Raum gewidmet wird, dank ihrer automatisierten Routinehaftigkeit familiäre Glücksmomente dar, in denen die Unterdrückung zeitweilig vergessen werden kann: „Hier für uns mit dem Katerchen, bei Arbeit und Vorlesen vergisst man wenigstens auf Stunden, wie die Dinge liegen.“ (A 137: 313 [5.3.1937]) Sie machen den carpe diem-Vorsatz des Tagebuchautors aus, der nicht über den Tag hinaus denken will: Er „will leichtsinnig sein.“ (ebd.: 233 [31.12.1935]) Victor und Eva Klemperer setzen sich mithin zum Ziel, ihre Lebenswelt so einzurichten, dass sie in gewissem Maße einen Schutzwall vor dem sich ständig ausweitenden Einflussbereich des Nationalsozialismus bildet: „Und doch zwingen wir uns, und es gelingt auch auf Stunden, unsern Alltag weiterzuleben: vorlesen, essen (so gut es geht), schreiben, Garten.“ (ZAI: 483 [3.9.1939])589 Nichtsdesto586 Zu den Begriffen „Taktik“ und „Strategie“ bei Michel de Certeau vgl. Kinser (1992: 73ff.) und Sheringham (2000: 190ff.). 587 Auf allgemeiner Ebene kann man feststellen, dass stigmatisierte Personen, wie beispielsweise verfolgte Juden im Dritten Reich, zunächst privative Kompensationsmethoden verfolgten, um der antisemitischen Diskriminierung und Marginalisierung die Stirn zu bieten. Einen zentralen Stellenwert nimmt bei Klemperer vor diesem Hintergrund das rein private Bestreben nach Meisterung verschiedener Tätigkeitsfelder ein (vgl. Raaz und Gentzel 2005: 23). Das Goffman’sche Konzept der „Kompensation“ stigmatisierter Menschen ist gewissermaßen dem Certeau’schen Begriff der „Taktik“ ähnlich. 588 Diese Angaben zur konkreten Ausgestaltung seines Alltags finden sich gelegentlich auch in Briefen an Freunde und Bekannte, wie beispielsweise an Gusti Wieghardt (vgl. A 259 [7.5.1936]). 589 Analog schreibt der Diarist im Juni 1934: „Merkwürdig, wie man sich an solchen und manchen andern Druck gewöhnt. Ich vermag immer wieder, wenigstens auf Stunden, alles Quälende, Ängstigende – es ist so viel! – zurückzuschieben und zu schreiben, zu studieren, vorzulesen, etc. etc., kurzum, mein Leben beinahe zu genießen.“ (ZAI: 117 [13.6.1934]) Der Alltag ist für den Diaristen ein lebensnotwendiger Ort der Normalität, Regelmäßigkeit, Voraussehbarkeit und

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weniger erweist sich diese Zielsetzung einige Jahre später – als der Druck des Stricks um den Hals immer erstickender wurde – als überholt und defizitär, da es nach dem Ausbruch des Krieges, der Zuweisung in das „Judenhaus“ und während der Durchführung des Holocaust geradezu unmöglich wurde, das gewohnte Leben weiterzuführen. Die Erinnerung an das vergangene, selbstverständliche Glück ihrer alltäglichen Lebensführung – Haus, Garten, Wagen, Katzen, Arbeit und unkomplizierte Liebe – erscheint als längst verflüchtigter Traum: „Wir sagten uns [...], wie schön die Welt für uns sein könnte – das Haus in Dölzschen, Evas Garten, unser Wagen, unsere Katzen, unsere Arbeiten, unsere Liebe.“ (A 138: 867 [14.5.1943]) Diesen privaten, alltäglichen Taktiken, sich mit der Unterdrückung abzufinden, soll im Folgenden das Interesse gelten. Hausbau Nach jahrelang vergebens betriebenen Bemühungen, eine angemessene Wohnung zu finden, schien Eva ein Eigenheim die einzig wünschenswerte Alternative zu sein. Der Bau, gegen den Klemperer sich aufgrund der Abneigung, sich auf Dresden als permanenten Wohnort festlegen zu lassen und finanzielle Verantwortung zu übernehmen, lange gesträubt hatte, stellt ein wichtiges Zukunftsprojekt dar, dem der Tagebuchautor in der Zeitspanne 1933-1940 etliche Seiten widmet (vgl. Dirschauer 1997: 28f.; Zipfel 2000: 57f.). Während zu Beginn des Nationalsozialismus viele jüdische Familien sich duckten, sich möglichst vorsichtig und unauffällig verhielten und viele von ihnen ins Ausland flohen, bauten die Klemperers ein höchst auffälliges Holzhaus (vgl. ZAI: 120 [14.7.1934]). Aufgrund der vielen unbegründeten, kleinlichen Schikanen von offizieller Seite fühlte sich der Diarist „beängstigt“ und „mittelalterlich hilflos ausgeliefert“ (ebd.: 306 [27.9. 1936]). So verlangte der Bürgermeister beispielsweise nach dem Bau einer Garage mit Flachdach die Errichtung eines Giebeldaches, weil ein flaches Dach die Gegend „verschandele“ (vgl. ebd.: 244 [31.1.1936]) – obschon die Garagen ringsum trotzdem flache Dächer hatten (vgl. ebd.: 245f. [11.2.1936]). Ein Bauprojekt in jener Zeit durchzuführen scheint auf alle Fälle jeder Vernunft zuwiderzulaufen und bezeugt die Einschätzung des Diaristen, der die Hitler-Diktatur für ein instabiles, vorübergehendes System hielt,590 das eher früher

Subjektivität, an dem er sein Leben im Griff zu behalten sucht. Genau an alltäglicher Normalität habe es, so Klemperer, im Dritten Reich gefehlt: In dieser Epoche habe es „am Alltagsmangel gekränkt, tödlich gekränkt, ganz wie der Körper tödlich krank sein kann an Salzmangel.“ (LTI: 63) 590 Klemperer beurteilte die Judenfeindlichkeit in den Jahren 1933-1935 noch aus dem Blickwinkel der Vorzeit. Diese Haltung kann man erst im Hinblick auf die autobiographischen Werke aus der Weimarer Republik und dem Kaiserreich nachvollziehbar vor Augen führen: Die Tagebücher aus der Weimarer Zeit (LSI/LSII) und die Autobiographie aus der Wilhelminischen Epoche (CVI/CVII) entwerfen ein detailreiches Bild vom Alltagsleben der assimilierten deutschen Juden, von ihrem Ringen um Anerkennung und Aufstieg, von ihrem kaum erschütterbaren Glauben an die Macht der Bildung und an die deutschen Bildungsgüter. Aus Klemperers Aufzeichnungen aus der NS-Zeit wird ersichtlich, dass es für viele assimilierte jüdische Opfer

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als später in sich zusammenstürzen würde.591 Detailfreudig wird der Fortgang des Baus, der dem Romanisten zu einer wesentlichen Stütze in unsteten Zeiten wurde, beschrieben: Ich fühle mich alt, ich habe kein Zutraun zu meinem Herzen, ich glaube nicht, daß ich noch viel Zeit vor mir habe, ich glaube nicht, daß ich das Ende des dritten Reiches erlebe, und ich lasse mich doch ohne sonderliche Verzweiflung fatalistisch treiben und kann die Hoffnung nicht aufgehen [sic]. Evas starres Festhalten am Ausbau des Hauses ist mir eine Stütze. (ZAI: 263 [16.5.1936])

Während der Vorkriegsperiode bedeuten für Eva der Hausbau und die Gartenarbeit592 eine Zeit lang das, was Victor Klemperer die schriftliche Arbeit an Literaturgeschichte, Tagebuch und Curriculum sein wird: ein Mittel zur Selbstbeschäftigung und Gemütsberuhigung. Klemperer stellt den mühseligen Hausbau mit all den Widrigkeiten, danach die Finanzierung der Schuldenlast und schließlich – nach der Einweisung in das „Judenhaus“ –593 den Druck, der auf ihn ausgeübt wird, um das Haus zu verkaufen, mit penibler Genauigkeit dar. Die antijüdischen Gesetze, die darauf abzielten, die jüdische Bevölkerung zu konzentrieren, in den Städten die Mietverhältnisse aufzuheben und „Judenhäuser“ einzurichten (vgl. Wildt 1997: 67), hatten schwerwiegende Folgen für die Klemperers. Bis seit der Machtübernahme Hitlers keine geradlinige Zwangsläufigkeit der antisemitischen Politik von den Boykottaktionen im April 1933 zur Endlösung gab. 591 In den ersten Jahren des Dritten Reiches war der Diarist vom baldigen Ende der Diktatur überzeugt. Er hielt Hitler für eine schwache Figur und den Totalitarismus für ein kurzlebiges, vorübergehendes Phänomen. Adolf Hitler, so Klemperer, sei „[w]ie der Zar, wie ein Sultan und noch angstvoller. Und die Zeichen des nahenden Zusammenbruchs mehren sich.“ (ZAI: 115 [13.6.1934]; vgl. ebd.: 220 [5.10.1935]) Diese „‚südliche‘ Regierungsform“, so hebt der Romanist in der Anfangsphase mehrmals hervor, „sei absolut undeutsch und deshalb ohne eine irgendwie endgültige Dauer.“ (ebd.: 41 [13.7.1933]) Dies sollte sich jedoch als trügerische Einbildung herausstellen, denn das Regime hatte den Zenit der Macht noch vor sich. 592 Evas Hauptbeschäftigung in der Vorkriegsphase des Dritten Reiches war die Gartenarbeit in Dölzschen, der in den Tagebüchern breiter Raum gewidmet wird. Die körperliche Arbeit hatte eine mäßigende Wirkung auf ihre depressive Veranlagung und lenkte sie erheblich von der politischen Unsicherheit ab: „Eva arbeitet fast Tag für Tag stundenlang im Garten. Es tut ihr gut.“ (ebd.: 170 [30.12.1934]; vgl. ebd.: 100 [25.3.1934]; ebd.: 206 [20.6.1935]) Genauso wie der Verlauf des Hausbaus wurde auch Evas Gartenarbeit von der Behörde aus allen möglichen Scheingründen erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Hierzu seien zwei hervorstechende Beispiele genannt. Weil Eva Klemperer am Wahlsonntag vom 29. März 1936, an dem Hitler die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes bestätigen ließ, im Garten gearbeitet hatte – wie so viele ihrer Nachbarn –, wurde von allen nur sie angezeigt, und der Bürgermeister drohte, sie einsperren zu lassen. (vgl. ebd.: 254 [5.4.1936]) Überdies gab es im Sommer 1937 „Schikane[n] der Gemeinde wegen des unordentlichen Gartens, der Unkrautgefahr etc.“ (ebd.: 359 [11.6.1937]) Deshalb wurde angeordnet, dass der Garten von „arischen“ „Fachgärtnern durchgearbeitet“ werden solle, natürlich um sich auf Kosten des Mischehepaars zu bereichern (ebd.: 363 [28.6.1937]). Zu diesen Schikanen vgl. auch Wildt (1997: 58f.). 593 Im Jüdischen Gemeindehaus teilte ein deutscher Beamter dem Romanisten am 9. Dezember 1939 mit, er müsse bis zum 1. April 1940 das Haus in Dölzschen verlassen, weil das Ehepaar in ein „Judenhaus“ eingewiesen werden sollte (vgl. ZAI: 503 [9.12.1939]). Diese Zwangsaussiedlung, so stellt Klemperer fest, bedeutete für Eva einen schweren Schlag: „Eva ungleich gefaßter als ich, obwohl sie ja ungleich härter betroffen wird. Ihr Haus, ihr Garten, ihre Tätigkeit. Sie wird wie gefangen sein.“ (ebd.)

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zum 1. April 1940 mussten sie ihr Haus, das sie mit so viel Mühe gebaut hatten, räumen und in ein „Judenhaus“ ziehen (vgl. ZAI: 503 [9.12.1939]).594 Der Verlust von materiellem Gut ist immer auch eine Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten, eine Verletzung des Selbstwertes und eine Bedrohung der Identität (vgl. Welzer 2000: 287). Die Notizen aus dem ersten Halbjahr 1940, die von der Enteignung Zeugnis ablegen, zeigen im Einzelnen das bürokratische Verfahren (Beendigung der Hypothek, Lösung von Rechtsverhältnissen usw.), das eingesetzt wurde, um Klemperer von seinem Besitz zu vertreiben.595 Katzenliebhaberei Die Klemperers waren kinderlos. Die Kinderlosigkeit war eine bewusste Entscheidung, die beide von Anfang an – bei ihrem Kennenlernen 1904 – getroffen hatten (vgl. CVI: 384) und später nie bereut haben: „34 Jahre – wir könnten einen zwölfjährigen Enkel haben; wir sagen uns beide: Gott sei Dank, daß nicht! Und ich denke an ein Wort in irgendeinem modernen Franzosen: Les enfants, c'est pour les femmes malheureuses. Und setze hinzu: et pour les hommes malheureux.“ (ZAI: 412 [29.6.1938]) Dennoch erscheint es zuweilen so, als seien die Tiere ihre Ersatzkinder (vgl. LSII: 708 [19.5.1931]). Vor allem Victor Klemperers Ehefrau war hinsichtlich ihres emotionalen Gleichgewichts im Nationalsozialismus hochgradig von ihren Katzen abhängig, denn, so stellt der Tagebuchautor nicht ohne Eifersucht fest, „sie seien das einzige, was für Eva noch eine reine Freude und sichere Lebensbindung bedeute.“ (ZAI: 5 [14.1.1933]) Immer mehr waren es die Katzen, die dem Ehepaar angesichts der Auflösung seines sozialen Umfeldes eine Lebensbindung verschafften: „Wir sind in tragikomisch hohem Grad von unsern Katzen abhängig.“ (ebd.: 229 [19.11.1935]) In den Zeiten immer knapper rationierter Lebensmittel erhielt der verhätschelte Lieblingskater Muschel fast die komplette wöchentliche Fleischration des Ehepaares, während sie selber Hunger litten: „Nahrungsqualen um Muschel, dem ich meine gesamte Fleischration überlasse und dem Eva das meiste von der ihrigen gibt.“ (A 137: 434 [10.4.1940]) Das Wohl des unbekümmerten Tieres war ihnen eine Art Glücksersatz, um den Fokus von der eigenen Misere abzuwenden. Somit bedeutete die Hiobsbotschaft, dass es, gemäß einer Verordnung im jüdischen Gemeindeblatt vom Mai 1942, Juden nicht mehr gestattet war, Haustiere zu halten, einen harten Schlag für die Klemperers, insbesondere für Eva. Das Maskottchen der Familie musste 594 Sie zogen letztendlich am 24. Mai 1940 in das „Judenhaus“ in der Caspar-David-FriedrichStraße 15b ein. Für die entsprechenden Tagebuchstellen, in denen der Einzug, der natürlich eine Phase voller Unsicherheit einläutete, eindrucksvoll beschrieben wird, vgl. ZAI: 527 [22.5.1940]; ebd.: 527ff. [26.5.1940]. 595 Michael Wildt (1997: 68) unterstreicht vor diesem Hintergrund mit Recht, dass Klemperers Tagebuch ein „deutsches“ Tagebuch bleibt: Während das Ehepaar einer Vielzahl von entrechtenden Gesetzen und Verordnungen ausgesetzt war, um ihr Haus zu räumen, wurden in den Ostgebieten zeitgleich tausende Juden erschossen. Das Ende des Krieges haben Victor und Eva Klemperer nicht nur erlebt, sondern sie erhielten auch ihr Haus in unversehrtem Zustand zurück.

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gezwungenermaßen eingeschläfert werden. Die Klemperers wollten den Mut aber nicht aufgeben und darum bekam das Tier am Tag vor der Einschläferung – und das in einer Periode von Nahrungsknappheit – zum „Siegesfest“ feinstes Kalbsschnitzel: Sternjuden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ist mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten, die Tiere dürfen auch nicht in fremde Pflege gegeben werden. Das ist das Todesurteil für Muschel, den wir über elf Jahre gehabt, und an dem Eva sehr hängt. Er soll morgen zum Tierarzt geschafft werden, damit ihm die Angst des Abgeholtwerdens und gemeinsamer Tötung erspart bleibt. Welch eine niedrige und abgefeimte Grausamkeit gegen die paar Juden. Es ist mir um Evas willen sehr bitter zumute. Wir haben uns so oft gesagt: der erhobene Katerschwanz ist unsere Flagge, wir streichen sie nicht, wir behalten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch, und zum Siegesfest bekommt der Muschel ‚Schnitzel von Kamm‘ (dem feinsten Kalbschlachter hier). Es macht mich beinahe abergläubisch, daß die Flagge nun niedergeht. Das Tier mit seinen mehr als elf Jahren war in letzter Zeit besonders frisch und jugendlich. Für Eva war es immer ein Halt und ein Trost. Sie wird nun geringere Widerstandskraft haben als bisher. (ZAII: 85f. [15.5.1942])596

Die Sorge für die „Katzenheit“ (ZAI: 77 [1.1.1934]), wie sich an diesem Zitat ablesen lässt, war eine geradezu widerständige Taktik, die den beiden Eheleuten dabei half, den Kopf oben zu behalten. Die Gesundheit und Verspieltheit der Tiere bedeuteten einen symbolischen Sieg über das erdrückende und lebensfeindliche Regime: „[D]er erhobene Katerschwanz“ war ihre „Flagge“ (ZAII: 85 [15.5.1942]). Aber in letzter Konsequenz wurde ihnen auch die ermutigende Präsenz der Haustiere entzogen. Kinobesuch In der Weimarer Republik gehörte der Besuch von Kinovorstellungen zu den regelmäßigen Freizeitbeschäftigungen des Diaristen.597 Obwohl das Medium bis weit in die 1920er Jahre als Vergnüglichkeit für die Masse und den Pöbel galt (vgl. LSI: 627 [22.10.1922]), vertrat Klemperer zunehmend die Meinung, dass der Film eine eigenständige Kunstform verkörpere. Der Kinobesuch diente einerseits der reinen Entspannung, andererseits erstellte der Tagebuchautor aus philologischer Perspektive regelrechte Filmkritiken. Die häufigen Kinoabende mussten im Dritten Reich aber weitgehend eingestellt werden, weil weitaus wichtigere 596 Den überaus wichtigen Stellenwert, den er der Anwesenheit von Katzen in seinem Leben beimaß, brachte Klemperer zwei Jahre nach der aufgezwungenen Einschläferung des geliebten Katers Muschelchen folgendermaßen zum Ausdruck: „Ich denke so oft an unsere Katzen; sie haben mir näher gestanden als die meisten Menschen.“ (A 138: 1082 [23.5.1944]) Der heißgeliebten Katze wurde auch an ihrem dritten Todestag gedacht. Ihr Tod wäre durch die vielen deutschen Kriegsopfer gerächt worden: „heut’ ist Muschelchens Todestag‘, sagte Eva am 20., und ich: ‚es ist jedes Haar seines dichten Fellchens mit einem deutschen Leben bezahlt‘.“ (ZAII: 789 [22.5.1945]) 597 Für nähere Informationen zur Bedeutung der Kinobesuche in Klemperers Alltag in der Weimarer Zeit vgl. Buhles (2003: 248-255).

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Sorgen und Nöte vorherrschen und die Selbstverständlichkeit von Freizeit und Alltag überschatten: Mit welcher Selbstverständlichkeit waren wir früher zwei und dreimal wöchentlich im Film, und wie leicht und erfüllt floß uns früher das Leben! Und jetzt... Wir hätten uns früher nicht vorstellen können, wie man auch nur mit einem Viertel der Sorgen und Miseren leben könnte, die jetzt beständig auf uns lasten. (ZAI: 83 [27.1.1934])

Dennoch stellt das Kino, obschon es immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird,598 ein wirkungsvolles Mittel dar, um zeitweilig das lustvolle Entrücken aus der bedrängenden Gegenwart zu ermöglichen: „Ich bin so sehr gern im Kino; es entrückt mich.“ (ebd.: 13 [20.3.1933]) Im Zusammenhang seiner KinobesuchsBeschreibungen erweist sich Victor Klemperer als großer Liebhaber des polnischen Tenors Jan Kiepura, der im Deutschland der Vorkriegsperiode ein äußerst erfolgreicher Leinwandstar war. Kiepura als Schauspieler, seine Musik und sein Gesang waren dem Diaristen eine willkommene „Erlösung“ von den Grübeleien, die ihn tagsüber plagten: Etwas Friedliches wenigstens. Einmal, in Monaten einmal, waren wir im Kino. Wir glaubten, es gebe einen uns noch unbekannten Kiepura-Film, es war aber der uns bekannte: ‚Ein Lied für Dich‘. Tant mieux; wir könnten ihn gern ein drittes Mal sehen und hören. So viel Musik, Humor, Schauspielkunst y todo. Es war mir eine richtige Erlösung. Es wirkte noch einen Tag lang nach. (ebd.: 116 [13.6.1934])

Klemperer verfasste Rezensionen der gesehenen Filme, die er in seine Notizen einschob. Er untermauerte seine positiven und negativen Urteile argumentativ und entwickelte in literaturkritischer Manier Maßstäbe zur Beurteilung von Kinofilmen.599 Positiv hervorgehoben wurden zwischen 1933 und 1938 unter anderem der italienische Opernsänger und Schauspieler Beniamino Gigli (vgl. ebd.: 381 [25.9.1937]; ebd.: 396 [31.1.1938]) sowie auch die schwedische Sänge-

598 Immer häufiger waren es die konkreten Oberflächenphänomene des Nationalsozialismus, die die Oberhand gewannen, während das Filmische selbst in den Hintergrund trat. Von einem Besuch im Kino kurz nach der Machtübernahme der NSDAP haftete nur ein mitgehörtes Gespräch in der Nebenreihe, das er en détail wiedergibt: „Am Dienstag im neuen ‚Universum‘Kino in der Prager Straße. Neben mir ein Reichswehrsoldat, ein Knabe noch und sein wenig sympathisches Mädchen. Es war am Abend vor der Boykottankündigung. Gespräch, als eine Alsbergreklame lief. Er: ‚Eigentlich sollte man nicht beim Juden kaufen.‘ Sie: ‚Es ist aber so furchtbar billig.‘ Er: ‚Dann ist es schlecht und hält nicht.‘ Sie, überlegend, ganz sachlich, ohne alles Pathos: ‚Nein, wirklich, es ist ganz genau so gut und haltbar, wirklich ganz genauso wie in christlichen Geschäften – und so viel billiger.‘ Er: schweigt.“ (ZAI: 16f. [31.3.1933]) 599 Die Filmkritiken wurden in dem von Walter Nowojski herausgegebenen Tagebuchkonvolut weitgehend vernachlässigt. In den archivierten Tagebuchheften bilden sie aber einen roten Faden durch Klemperers Alltag. Einige Beispiele von erwähnten und beurteilten Filmen sind Victor und Victoria (1933) von Reinhold Schünzel (vgl. ZAI: 82 [27.1.1934]), Die große Chance (1934) von Victor Janson (vgl. A 135: 103 [5.4.1934]), Kosak und Nachtigall (1934/35) von Phil Jutzi (vgl. A 136: 108), Vergiß mein nicht! (1935) von Augusto Genina (vgl. ebd.: 232 [1.1.1936]) und Im Sonnenschein (1936) von Carmine Gallone (vgl. A 137: 291 [29.8.1936]).

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rin und Schauspielerin Zarah Leander, die besonders in La Habanera glänzte (vgl. ebd.: 387 [28.11.1937]; ebd.: 396 [31.1.1938]).600 Die Klemperers halfen sich somit „wiederholt durch Kinobesuch über den Abend.“ (ebd.: 382 [9.10.1937]) Doch der Diarist erkannte in dieser Zeit in zunehmendem Maße die manipulative Macht des Massenmediums Film, das als Propaganda-Instrument zur Politisierung des Publikums Verwendung fand. Auch in seine Freizeit und Vergnügungssphäre brach nun unwiderruflich der Nationalsozialismus ein. Für seine Studien zur LTI jedoch wurde das propagandistische Rahmenprogramm im Kino immer interessanter, wie er im Oktober 1937 bekennt: „Das Interessanteste daran waren die Beiprogramme, der Nürnberger Parteitag und der Besuch Mussolinis.“ (ebd.) Die stetige Ideologisierung der deutschen Filmindustrie wie des Kinobetriebs wurde seit 1933 von Klemperer kritisch beleuchtet. In einem der letzten Kinoberichte, bevor den Juden endgültig der Zugang zu Kinos versagt blieb, rückt der Tagebuchschreibende die totale Instrumentalisierung der Filmindustrie in den Mittelpunkt: Jeder, aber auch jeder Kinoabend bringt im Übrigen Verherrlichungen nationalsozialistischer Zeitgeschichte. Immer dasselbe, immer dieselben Bilder, Massenscenen, Reden, Uniformen, Banner. Lange wurde das stumpf hingenommen; neulich hörte ich wiedereinmal klatschen. (A 137: 389 [2.10.1938])

Am 12. November 1938 erfolgte schließlich eine Anordnung des Präsidiums der Reichskulturkammer, die Juden den Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Ausstellungen usw. untersagte. Das Kino, das Ablenkung, Freude und Freiheit bedeutet hatte, gehörte somit endgültig der Vergangenheit an (vgl. ebd.: 449 [31.12.1938]). Diese kulturelle Verarmung bedauerte der Tagebuchschreibende besonders während der harten Prüfungen von Holocaust und Krieg zutiefst. In einer Rückblende erinnert er sich: „Seit bald vier Jahren von allen öffentlichen Veranstaltungen, Theater, Kino usw. ganz abgeschnitten. Die unendliche Armut unseres Zustandes!“ (ZAII: 207 [16.8.1942]) Auch das Autofahren, dessen Stellenwert im Folgenden in den Blick genommen werden soll, stellte zunächst eine Taktik gegen die Einengung des Lebens- und Handlungsbereiches dar, wurde jedoch letztendlich ebenfalls vom Regime verboten. Autofahren Der Traum, ein Auto zu erwerben, verfolgte Klemperer schon seit den 1920er Jahren. Vor allem das Gefühl der Isolation, des langsamen Dahinsterbens seit der Machtübernahme der NSDAP, bewegte ihn endgültig dazu, sich diesen Luxus zu leisten: „Das Auto soll uns ein Stück Leben und die Welt wiedergeben.“ (ZAI: 233 [31.12.1935]) Der Verlauf des Fahrkurses, der sich für den ungeschickten Professor als ein halbkomischer Leidensweg erweist, wird in allen Einzelheiten

600 Zu Klemperers Kinobesuchen und Filmanalysen im Dritten Reich vgl. Offermans (2005: 1216).

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über viele Seiten hinweg beschrieben.601 Schließlich schafft er Ende Januar 1936 mit viel Mühe die Fahrprüfung, die er dank des Fahrlehrers, der ihm in den engen Dresdener Straßen mehrmals den Fuß vom Gaspedal stoßen muss, besteht (vgl. ebd.: 240f. [25.1.1936]). Am 2. März 1936 kauft Klemperer dann einen Opel, 32 PS, 6 Zylinder, Baujahr 1932 (vgl. A 136: 242 [6.3.1936]), den er liebevoll den „Bock“ nennt (vgl. ZAI: 301 [5.9.1941]; ebd.: 321 [24.11.1936]; ebd.: 376 [11.9.1937]). Indessen wird er von den NS-Behörden immer weiter schikaniert: Die bereits im Bau befindliche Garage dürfe kein Flachdach haben, obschon alle anderen Dölzschener Autobesitzer ein solches gebaut hatten. Klemperers Einwände wirkten kontraproduktiv, denn der Bürgermeister, so zeichnet der Diarist auf, „läßt mir sagen: ich wüßte wohl nicht, was gespielt werde, ich sei hier Gast, und er hätte Lust mich auf eine Nacht in Schutzhaft zu nehmen.“ (ZAI: 246 [11.2.1936]) Ungeachtet der immer schärfer werdenden antisemitischen Schikanen stellen die unternommenen – kostspieligen – Autofahrten ein zeitweiliges Entfliehen vor der erdrückenden Wucht der NS-Ideologie dar. Der Diarist beschreibt haarklein die Abenteuer seiner Ausfahrten. Die kleinen, belanglosen Plänkeleien zwischen den Ehepartnern über Victor Klemperers Fahrstil werden dabei detailfreudig vermerkt: Psychisch ist die gestrige Fahrt keine erfreuliche gewesen, aus mehreren Gründen. Ziemlich im Anfang geriet ich in eine prekäre Lage; ich überholte ein Auto, das seinerseits von einem Radlerschwarm nach links gedrängt wurde, und kam in bedenkliche Nähe der Bäume; Eva rief ständig: ‚Mehr rechts‘, ich in grosser Erregung rief (brüllte wohl auch), sie möge um Gotteswillen still sein; der böse Moment wurde gut überwunden, aber nun war Eva schwer und nachhaltig gekränkt, und ich wiederum meinte, sie hätte meiner Erregtheit einiges gutschreiben können. (A 137: 262 [18.5.1936])

Über längere Zeit gerät die neue Leidenschaft für das Auto verstärkt ins Blickfeld des Diaristen und drängt das politische Tagesgeschehen manchmal in den Hintergrund: „Auto, Auto über alles, es hat uns furchtbar gepackt, d’une passion dévorante.“ (ZAI: 265 [21.5.1936]) Auch die Arbeit an seiner französischen Literaturgeschichte wird für eine Weile zugunsten des Wagens zurückgestellt: „Das Auto frißt mich auf, Rousseau ist nur noch Lückenbüßer.“ (ebd.: 266 [24.5. 1936]) Der Wagen bedeutete für die Klemperers ein „letztes Stückchen Freiheit“ (ebd.: 412 [29.6.1938]). Doch das bescheidene Glücksgefühl, das Victor und Eva Klemperer in dieser „Autozeit“ (ebd.: 239 [24.1.1936]; vgl. ebd.: 549 [30.8. 1940]) dem Wagen abgewinnen, ist für das Ehepaar nicht von Dauer. Am 20. Februar 1941 erhält Klemperer ein ihn erschütterndes Schreiben von der Gemeinde Dölzschen, dass das Auto binnen acht Tagen verkauft werden müsse (vgl. ebd.: 576 [20.2.1941]). Die Verordnung verbietet den Autobesitz für Juden, 601 Für eine chronologische Zusammenfassung dieser Periode in Victor Klemperers Leben vgl. Peter Jacobs’ Klemperer-Biographie (2000: 205ff.). Harald Welzer (2000: 291-295) untersucht unter anderem am Beispiel des Autoverbots bei Victor Klemperer die psychosozialen Auswirkungen des Verlustes von materiellem Eigentum auf Holocaust-Opfer.

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auch für jüdische Mischehepartner wie Victor Klemperer. Das Verbot, weiterhin sein „Judenauto“ (ebd.: 580f. [25.2.1941]) zu fahren, war ein Menetekel für eine ganze Reihe anderer Zwangsmaßnahmen, die den alltäglichen Handlungsraum immer stärker einschnürten. Vorlesen Eva Klemperer litt chronisch an Depressionen und Migräneanfällen, auch ihre Zahn- und Beinschmerzen werden von Klemperer in seinen Notizen ausführlich beschrieben. Ihre Leiden, durch die sie viel Zeit im Bett verbringt, erfordern es, dass der Gatte die laufende Hausarbeit (Abwaschen, Putzen, Essen kochen, usw.) übernimmt. Aufgrund ihrer regelmäßigen Nervenzusammenbrüche liest Klemperer seiner Frau fast täglich – oft stundenlang – vor. Der Diarist schreibt in diesem Zusammenhang: „Ich mag es nicht, wenn Eva wachliegt, ihren Gedanken überlassen.“ (ZAII: 20 [9.2.1942]) Das Vorlesen, das für den Romanisten wohl „[d]as Hübscheste am Tag“ ist (ZAI: 139 [27.3.1937]), stellt ein immer wiederkehrendes Themenkonglomerat dar, in dem Klemperers Liebe zu seiner Frau, Kommentare zur literarischen Qualität des Vorgelesenen und Darstellungen von Evas Gesundheitszustand ineinander fließen (vgl. A 138: 964 [16.10.1943]).602 Das Vorlesen wird in jener Zeit zu einem täglichen – liebevollen, fast intimen – Ritual, in dem das Ehepaar sein gemeinsames Interesse für Literatur ausleben und teilen kann. Es habe sie im Dritten Reich psychisch „vor dem Schlimmsten bewahrt“: Ich kann gar nicht sagen, wieviel Freude, und, wenn ich an die letzten Jahre denke, wie vielen Trost mir diese Übung des Vorlesens geschenkt hat. Es hält mich besser fest, es ist mir ein stärkerer Genuß, als wenn ich für mich allein und stumm lese. [...] Als sich [...] vor sieben Jahren die Hölle des Dritten Reiches auftat und wir allmählich von Kreis zu Kreis tiefer herunterglitten, da las ich halbe und ganze Nächte vor, und wenn wir einmal mit unverwirrtem Verstand ans Tageslicht zurückgelangen sollten, so wird uns sicherlich zum guten Teil diese gemeinsame Lektüre vor dem Schlimmsten bewahrt haben. (CVII: 38)

Die gemeinsame Lektüre wurde jedoch durch die äußeren Umstände der nationalsozialistischen „Hölle“ erheblich beeinträchtigt und erschwert. Gelegentlich kam die Gewohnheit des Vorlesens, bedingt durch die Erschöpfung des Diaristen, fast zum Stillstand: „Mit Vorlesen hatten wir jetzt wochenlang kein Glück. Wir kommen freilich immer nur todmüde für wenige Abendminuten dazu.“ (ZAI: 662 [2.9.1941]) Ein paar Jahre später, angesichts der großen körperlichen Anstrengungen bei der Zwangsarbeit, droht das Vorlesen beinahe zu stagnieren: „Es ist mir als werfe ich den ganzen Tag, nicht nur die stumpfen 8 Stunden, durchs Sieb, u. immer weniger bleibt. Selbst zum Vorlesen langt es nicht mehr.“ 602 Das Vorlesen sah Klemperer als ein wichtiges Mittel, so gut wie möglich über die Zeit zu kommen. Aber vielleicht noch wichtiger: Die Aktivität verstärkte das eheliche Band zwischen den beiden Menschen, die sich unter dem Druck der Geschehnisse auseinanderzuleben drohten. Vor diesem Hintergrund war das Vorlesen weit mehr als nur Beschäftigungstherapie (vgl. ZAII: 369 [3.5.1943]).

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(A 138: 859 [9.5.1943]) Aber tendenziell, trotz Hunger, Kälte, Angst und Ermüdung, gerät die bewusste und disziplinierte Vorlesetätigkeit von 1933 bis 1945 nie wirklich ins Stocken. Lektüre Neben dem Vorlesen war auch die Lektüre für Klemperer von besonderer, geradezu lebensnotwendiger Bedeutung. Das Lesepensum des Philologen war durchaus beachtlich, und auch nachdem ihm der Zugang zur Fachliteratur im Jahre 1938 und schließlich auch zur Leihbibliothek im Jahre 1942 untersagt wurde,603 verschaffte er sich von anderen Seiten alle möglichen Bücher, auch wenn sie kaum etwas mit seinem Fachgebiet zu tun hatten (vgl. A 138: 776 [13.1.1943]; vgl. ebd.: 1390 [9.3.1945]). Die intellektuelle Tätigkeit und kritische Reflexion waren ihm diesbezüglich am wichtigsten: „Studieren, als wäre ich des Morgen ganz gewiß! Es ist die einzige Möglichkeit, den Kopf oben zu behalten.“ (ZAII: 214 [19.8.1942]) Er setzte es sich darum zum Ziel, sich „mit aller erreichbaren Lektüre [...] ein bißchen fortzubilden.“ (ebd.: 301 [31.12.1943]) Für Klemperer bedeutete Lesen also einerseits Beschäftigung, andererseits kritische Reflexion, um nicht von der Propaganda betäubt zu werden. Der kritische Akt des Lesens beruht auf der Macht der Interpretation, die eine wichtige Quelle für die intellektuelle Souveränität des lesenden Subjekts ist bzw. sein kann. Die monoseme Festlegung der Bedeutung der Wörter hingegen ist das Ziel des Totalitarismus. Vor diesem Hintergrund zielt die NS-Ideologie darauf ab, die Komplexität der Wirklichkeit auf eine einzige Wahrheit zu reduzieren und sie gleichzeitig manichäisch aufzuspalten in ›Gut und Böse‹, ›Freund und Feind‹, ›deutsch und jüdisch‹. Sie erfasst die Welt mit einem alles bestimmenden Erklärungsmuster: die Rassentheorie (vgl. Bergsdorf 1994: 23). Gegen diese intellektuelle Armut wehrt sich der Diarist;604 jede freie Minute versucht er zu nutzen, um seinen Geist zu gymnastizieren, selbst in der Fabrik, in der er zur Zwangsarbeit zugeteilt war: „Ich gehe mit Grausen in die Fabrik – der Meister droht u. die Arbeitskameraden sind mir zuwider. Ich will Lektüre für die Mittagspausen mitnehmen.“ (A 138: 1008 [28.1.1944]) Begierig nach geistigen Herausforderungen, ist der wissenschaftlich und kulturell ausgehungerte Philologe ständig streunend auf der Suche nach irgendwelchen Büchern, Zeitschriften, Broschüren usw. (vgl. ebd.: 1368 [28.2.1945]). Gerade aufgrund der Offenheit der Bedeutungszuschreibung im Lesen nahm die Lektüre eine dermaßen wichtige Stellung in der Ausgestaltung von Klemperers Alltag ein. Das Lesen eines Buches bedarf stets der hermeneutischen Inter603 Dieses Verbot bedeutete ihm eine „irreparable Schädigung“ (ebd.: 121 [11.6.1942]), weil die Möglichkeit, weiterhin wissenschaftliche Bücher zu beziehen, endgültig ausgeschlossen war. 604 Klemperer setzte sich im Rahmen seiner Studien zur LTI kritisch mit dem nationalsozialistischen Manichäismus auseinander. Dazu las er auch nationalsozialistische „Hauptwerke“ wie Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 107 [2.6.1942]), das er in ideologiekritischer Manier analysierte und dekonstruierte. Eine jüdische – und per se kritische – Lektüre von NS-Schriften war allerdings strengstens untersagt.

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pretation und stellt somit einen produzierenden Vorgang dar, der die Monodoxie des Nationalsozialismus ideell umgehen und unterlaufen kann: „Die Lektüre führt [...] zu einer ‚Kunst‘, die nicht passiv ist.“ (Certeau 1988: 28) Den Lesevorgang interpretiert de Certeau dementsprechend als Akt des „Wilderns“ (ebd.: 293ff.), Teil einer umfassenderen Lebensphilosophie, die dem Subjekt erlaubt, sich bestimmte Freiräume zu bewahren. Die Lektüre war dem Diaristen ein verbliebener Raum, in dem er sich weiterhin an wissenschaftlichen und humanen bzw. humanistischen Leitgedanken zu orientieren suchte. Durch die Müdigkeit, Zwangsarbeit und zusätzliche Hausarbeit wurde es im Zuge des Krieges aber nach und nach beschwerlicher, der Lektüre Zeit zu widmen: Ich habe zuhause Kaffee getrunken u. eine halbe Stunde abgewaschen, u. schon 20:30, während Eva die Kohlrüben auf dem Feuer hat, fallen mir die Augen zu. – Zwischen 5 u. 6 morgens fegte ich schon die Haustreppe unseres Stockwerkes ab. Es ist ganz unbestimmt, wann ich wieder ein bisschen Lektüre treiben kann. (A 138: 991 [27.12.1943]; vgl. ZAII: 474 [17.1.1944])

Nicht nur der Zeitmangel und die Müdigkeit behinderten die Lektüre, auch die Haussuchungen im „Judenhaus“ bedeuteten eine regelrechte Beeinträchtigung von Klemperers Leseaktivität. Die Lektüre war eine anspruchsvolle Tätigkeit, die auch gefährlich werden konnte, da sie ebenfalls von der quasi-totalen Machtdurchdringung des Nationalsozialismus bestimmt wurde: Juden durften nur „jüdische“ Bücher lesen. Es ist somit bezeichnend, dass ihm während einer Haussuchung die Lektüre eines verbotenen Buchs, Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, „als furchtbares Verbrechen angerechnet‘“ wurde (ZAI: 120 [11.6.1942]; vgl. ZAII: 291 [18.12.1942]). Der Gestapo-Agent Clemens hämmerte ihm das Buch minutenlang auf den Kopf und brüllte den Romanisten an: „‚Wie kannst du Judenschwein dich unterstehen, ein solches Buch zu lesen?‘ [...] Ihm schien das eine Art Hostienentweihung.“ (LTI: 23) Fassen wir zusammen: Auf anrührende Weise zeigen die obigen Ausführungen, wie Victor Klemperer entgegen der fortschreitenden Diskriminierung und Anomie der Gesellschaft seinen Alltag kreativ zu gestalten suchte. Von seinen Katzen bis hin zum Tagebuchschreiben suchte der Diarist nach „Taktiken“ bzw. „Listen“ (sensu Certeau), die die Entsubjektivierung, die Sinnentleerung und die Aufhebung des Privatraumes unterlaufen konnten (vgl. A 137: 433 [17.3.1940]). Obwohl er letztlich gänzlich entrechtet war, versuchte er trotz seiner Ratlosigkeit einen Kern des eigenen Ich zu bewahren. Das kreative Vorgehen im Alltag besteht bei Klemperer darin, sich durch private Ablenkungsmanöver vor der ihn verzehrenden Angst zu schützen. Der Selbsterhaltungstrieb veranlasst den Diaristen aus psychologischen Gründen dazu, die Möglichkeit des eigenen Todes auszuklammern: „Ich will durchaus bis zum letzten Augenblick so leben [...], als hätte ich die Gewißheit des Überlebens. Je n’en ai qu’un très faible espoir.“ (ZAII: 104 [29.5.1942]) Obwohl die Tagebücher Victor Klemperers den Leser erschüttern, versetzen sie ihn – im Unterschied zu Lagerzeugnissen – nicht in eine Domäne, vor der die

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menschliche Vorstellungskraft versagen muss. Aus den Notizen spricht die totale Verunsicherung der bürgerlichen Existenz, die systematisch eingeengt wird: Klemperer wird aus dem Professorenamt entlassen, er verliert Haus und Auto, ihm wird der Zugang zur Bibliothek, die Nutzung von Parks, die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel untersagt; er wird mit dem Davidstern gekennzeichnet und ist der Willkür der Gestapo wie seiner „arischen“ Mitmenschen ausgeliefert. Aus all dem manifestiert sich der Prozess, der den Bürger Victor Klemperer peu à peu zum „Juden Victor Israel Klemperer“ macht, dessen Überleben der Schikanen, Verordnungen und der permanenten Deportationsandrohung bis zuletzt ungewiss bleibt (vgl. Reemtsma 1997: 177f.). Die Grenze, die zwischen Alltäglichkeit und existenziellem Trauma verläuft, versucht Klemperer in Worte zu fassen. Die Tagebücher sind demnach als kulturelle Archive angelegt, die in extenso von der grotesken Normalität der „Vorhölle des deutschen Alltags“ zeugen (ebd.: 182). Gerade um die möglichst getreue Schilderung dieses alltäglichen „Vorhof[s]“ der Hölle (LTI: 56) bemüht sich Klemperer, der eben das Entschwindende des Verfolgtenalltags, das kurzlebig Vergängliche über den Tag hinaus – idealiter: sub specie aeternitatis – in seinen Tagebüchern festhält. Mit den eigenen Aufzeichnungen verbindet sich daher die Hoffnung, dass das eigene individuelle Schicksal in seiner ganzen Dramatik sowie auch Trivialität als menschliches Dokument allgemeine Bedeutung erlangt: Die Tagebücher machen hellhörig, indem sie die „Konjunktion von Aktuellem und Ewigem, von Flüchtigkeit und Dauer“ bewerkstelligen (Diers 1993: 2). Das Alltägliche, das für Klemperer durchaus positiv besetzt ist, da es einen Schutzort strukturierter Habitualität darstellt, wird durch private Eckmomente wie Geburtstag605 oder Hochzeitstag606 kurzfristig aufgehoben. Solche vom ent605 Klemperer zieht zu seinem Geburtstag am 9. Oktober alljährlich – vergleichbar mit dem jährlichen Silvesterresümee – Bilanz der vergangenen Zeit und seines unaufhaltsam fortschreitenden Lebens. Diese Bilanz fällt im Dritten Reich stets negativ aus (vgl. z.B. ZAI: 428 [9.10.1938]); ZAII: 442 [9.10.1943]). Zu Klemperers jährlichen Geburtstagsrückblicken vgl. Zieske (2013: 31). Zu Funktion, Form und Bedeutung des Geburtstagsvermerks in der Tagebuchliteratur im Allgemeinen vgl. Braud (2006: 117f.). 606 Eva und Victor Klemperer heirateten am 29. Juni 1904. Der Hochzeitstag – wie auch der Geburtstag – diente dem Diaristen als zeitliches Eichmaß, um die Veränderungen in seinem Leben und der Gesellschaft einordnen und ihre Dynamik verstehen zu können. Klemperer stellte vor diesem Hintergrund nur die vom Nationalsozialismus in Gang gesetzte und sich immer schneller drehende Abwärtsspirale fest, die bis zur völligen Isolation und Unfreiheit führte: „Vor einem Jahr saß ich an unserm Hochzeitstag im PPD. Sehr verzweifelt und verbittert. Aber wieviel besser ging es uns damals noch als heute. Die Männer der Caspar-David waren noch alle hier, ich konnte noch ohne Stern mit Eva gehen, fahren, Restaurants aufsuchen, wir hatten zu Haus noch keine Eßnot, Gestapo übte noch keine Pogrome, ich hatte noch Schreibmaschine und Manuskripte im Hause, noch Produktionsmöglichkeit, ich ahnte noch nicht den späteren Grad der Sklaverei und Verelendung.“ (ZAII: 148 [29.6.1942]) Analog hieß es zwei Jahre später in einem Vermerk, in dem er den eigenen Tod vorauszuahnen glaubte: „40 Jahre! Unausdenkbare Zeit. Und doch kann ich mich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß es zur Neige geht. – Nichts als banale Gedanken den ganzen Tag über, aber alle sind quälerisch. Das einzige Novum dieses Hochzeitstages: von Viertel zehn bis Viertel elf Alarm, gleich großer Alarm, im Keller abgesessen.“ (ebd.: 537 [29.6.1944])

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subjektivierten NS-Alltag abgehobenen biographischen Fixpunkte geben Anlass zur selbstreflexiven Lebensbilanzierung und Orientierung in der Zeit. Vor dem perspektivlosen Hintergrund des Nationalsozialismus erzeugen derartige Bestandsaufnahmen stets eine bedrückend-melancholische Atmosphäre: In dieser Epoche verbringt Klemperer alle seine „Geburtstag[e] ziemlich con sordino“ (ZAI: 382 [9.10.1937]), und am Hochzeitstag fällt es ihm gleichermaßen „schwer, dem Tag auch nur einen Schimmer des Feiertäglichen zu geben.“ (ebd.: 535 [29.6.1940]; vgl. ebd.: 33 [29.6.1933]) Die erhöhte Reflexion auf dasjenige, was an Lebenssicherheiten zuschanden gemacht wurde, stimmt den Diaristen, wie an seinem sechzigsten Geburtstag, immer wieder nachdenklich und traurig: „Ich bin froh, daß dieser Sechzigste zu Ende geht, morgen ist wieder Alltag. Ich will es als günstige Schicksalfügung, als Stoff für mein Curriculum, als Bereicherung nehmen, daß ich all diese Schmach an Ort und Stelle erlebe.“ (ebd.: 679 [9.10.1941]) Ähnlich diagnostiziert Klemperer im Jahr danach die sich zusehends ausbreitende Trostlosigkeit der Lage: „Trostloser Geburtstag, trostloser als voriges Jahr. Damals kannte ich noch keine Haussuchungen, war auch nicht so mordumlauert.“ (ZAII: 254 [9.10.1942]) Aus dem subjektiven Blickwinkel eines Diaristen vertextet Klemperer „an Ort und Stelle“ seine Erlebnisse und Beobachtungen. Für die Tagebücher ist somit eine säuberliche Trennung in Historisches, Dokumentarisches und Persönliches kaum durchzuführen.607 Der Diarist hält mit penibler Genauigkeit die rasante Aufeinanderfolge „kleine[r] Nadelstich[e]“ der proliferierenden Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung fest, was an der nachfolgenden, hoch aufschlussreichen Textpassage – einer strukturierten Aufzählung antisemitischer Maßnahmen – vom Juni 1942 auf besondere Weise deutlich wird: Neue Verordnungen in judaeos. Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen letzten Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen: 1) Nach acht oder neun Uhr abends zuhause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km entfernt wohnt oder krank ist (aber um ein Krankheitsattest wird schwer gekämpft). Natürlich auch Verbot der Autodroschke.) 7) Verbot, ‚Mangelware‘ zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen. 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und 607 Heinrich Breloer (1999: 10) hebt die Verzahntheit von Privatem und Öffentlichem als dem Tagebuch zugrundeliegenden Verzeichnungsmodus hervor: „Neben der Radiomeldung von Hitlers Tod beginnt eine Liebesgeschichte, und vom Hexenschuß bis zur Währungsreform braucht es nur eine Zeile weiter. Es ist ein Nebeneinander, jeweils eine eigene Rangfolge von wichtig und unwichtig, die so möglicherweise auch das Leben der Menschen bestimmt.“

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Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens (Park- und Lennéstraße, Karcher Allee) zu benutzen. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der Judenstern. 23) Verbot, Vorräte an Eßwaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen, irgendeinen ‚Stamm‘, wenn man zuhaus gar nichts mehr hat. Eva sagt, die Restaurants seien übervoll. 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins). Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes. (ebd.: 107f. [2.6.1942])608

Das vorliegende synthetisierende Inventar der Diskriminierungsmaßnahmen stellt eine Art „diaristische Buchhaltung“ dar, um in Zukunft eine zeitlich kurze Relektüre mit möglichst signifikantem Erinnerungspotential zu ermöglichen (vgl. Plener 1999: 17). Die 31 Verordnungspunkte berichten exemplarisch „über den Alltag eines Sternträgers“ (ZAII: 324 [5.2.1943]) und bezeugen die graduelle, schleichende Einengung der restlichen bürgerlichen Frei- und Privaträume, deren alltagsbezogene Wiedergabe auf diese stringente Weise kaum von anderen Primärquellen gewährleistet wird. Trotz der Gefahr des Entdecktwerdens geht es dem Autor im Grunde darum, „im Notieren des Einzelnen fort[zu]fahren, comme si de rien n’était“ (ebd.: 714 [2.4.1945]). Dieser sich selbst gestellte Handlungsmaxime bleibt der Diarist bis zum Ende des NS-Regimes treu. Klemperer, der sich selbst anfangs als eher unpolitisch verstanden hatte, wird durch die Lebensbedingungen im Dritten Reich immer mehr mit politischen und gesellschaftlichen Fragen konfrontiert. Bereiche, die er lange Zeit für reine Privatsache gehalten hatte, wie Identität, Forschung und Alltag, stellen sich als höchst öffentliche Orte heraus, an denen Subjekt und Umwelt nicht mehr zu trennen sind (vgl. Haase 2003: 6f.). In der Einführung zu seiner Autobiographie, Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881-1918, die er zeitgleich mit den Tagebüchern verfasste, bemerkt Klemperer, dass im Dritten Reich alles Private ins Allgemeine gerückt werden kann; das Persönliche ist das Öffentliche:

608 Anlässlich der graduell zunehmenden Unfreiheit durch die vielen kleinen und großen Verordnungen denkt Klemperer voller Wehmut an die Zeit zurück, wo er noch ohne Angst Tagebuch führen, Bücher ausleihen, ins Kino gehen und Auto fahren durfte: „Was gehen mir für Wünsche durch den Kopf? Nicht Angst haben vor jedem Klingeln! Eine Schreibmaschine. Meine Manuskripte und Tagebücher im Hause haben. Bibliotheksbenutzung. Essen! Kino. Auto.“ (ZAII: 81 [8.5.1942])

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Ich habe dem Führer mehr zu verdanken als nur die unfreiwillige Muße: Indem er mir mein Deutschtum fortlog, hat er mich erst ein tiefstes und kontinuierlich wirkendes Grundelement meines Lebens mit aller Schärfe erkennen lassen und mir gezeigt, daß es in diesem Leben neben Privatem und durchschnittlich Alltäglichem auch Dinge von allgemeiner und typischer Bedeutung gibt. (CVI: 10)

Die nationalsozialistische Gesellschaft erlaubte, wie George L. Mosse in Der nationalsozialistische Alltag (1993) überzeugend darlegt, keine Trennung von Politik und Alltagsleben, wie sie heutzutage oft als selbstverständlich angesehen wird. Der Faschismus setzte sich zum Ziel, eine organische Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Aspekt des Lebens von der NS-Ideologie durchdrungen werden sollte (vgl. ebd.: 1).609 Gerade in Krisenzeiten, wie während des Nationalsozialismus, beziehen sich im Tagebuch Alltag und Identität unmittelbar aufeinander: Der Antisemitismus gilt in Klemperers Tagebuch als Auslöser für die für ihn zentrale Auseinandersetzung des Ich mit dem Alltag und führt zu einer Neudefinition der eigenen Identität. Der innere Konflikt und die Verschiebungen in Klemperers Tagebüchern sind deshalb aufschlussreich, weil sie, jenseits von Antisemitismus und Politik, die Schwierigkeit des Individuums aufzeigen, eine Identität zu finden, diese im Alltag zu etablieren und im spannungsvollen Bereich zwischen Selbsterschaffung und Restriktion auszuhandeln (vgl. Haase 2003: 12). Klemperers Tagebücher der NSZeit werden mithin zum Ort eines Sozialisierungsprozesses, an dem der Autor seine politische, religiöse und soziale Identität gestalten bzw. neu gestalten kann bzw. muss. Gerade weil die aus den Verwinkelungen des Alltags berichtenden Tagebücher im Schnittpunkt von Mikro- und Makrogeschichte stehen und durch Selbstdefinitionsprozesse gekennzeichnet sind, in denen sich Privates, Sozialhistorisches, Gesellschaftliches und Literarisches verschränken, bilden sie einen interessanten Fall für eine identitätstheoretische Kulturwissenschaft wie für eine Alltagsgeschichte des konvertierten deutschen Judentums. In ihnen wird deutlich, wie und wodurch Klemperers Identitätsbildung beeinflusst wurde. Die Tagebücher erweisen sich als Ort alltäglicher Aushandlungspraktiken, die sich zudem über die Zeit verändern. Widersprüchliche Erlebnisse und Erwartungen, bisherige Sinnkonstruktionen und ihre Brüche, das Ausloten von Handlungsmöglichkeiten, Erfahrungen von Grenzen, aber auch Möglichkeiten werden sichtbar. 3.2.3.3 Archivzwang: Papiersoldaten Der nachfolgende Abschnitt widmet sich der Frage, inwiefern das Motiv des Sammelns Klemperers diaristischem Verschriftlichungsmodus zugrundeliegt. Obwohl er sich im Journal größtenteils die Wahrung eines kritischen Privatraumes sowie das Zeugnis-Ablegen zum Ziel setzte, prägte auch das philologische For609 Die inflationäre Ideologisierung und polizeiliche Durchdringung des Alltags führten zu einer Aufhebung der jüdischen Privatsphäre. Die geächteten Juden waren der Willkür des Regimes gänzlich ausgeliefert: „Die Juden haben kein Privatleben mehr.“ (ebd.: 480 [29.1.1944])

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schungsinteresse, das in den Techniken des Archivierens von disparaten Daten, von schriftlichen wie mündlichen Belegen unterschiedlichsten Ursprungs zum Ausdruck kam, eindeutig die Arbeits- und Schreibweise des Tagebuchschreibenden: Über die Sprache suchte der Diarist die Mentalität der deutschen Bevölkerung festzustellen. Register und Verzeichnisse, akribisch geführte Aufzeichnungen machen wesentlich das Tagebuch aus, das in seiner alltäglichen Orientierung an Details ein Reservoir an zeitgeschichtlichen Kommentaren, Lektürenotizen, Sprachbeobachtungen und sonstigen Textbelegen beinhaltet. Durch die Juxtaposition von Heterogenem komponiert Klemperer seine stenogrammartigen Tagebuchnotizen zu einem genuinen „Wissensspeicher“ bzw. „Alltagsarchiv[...]“ (Breysach 2005: 50; 52). Nikolaus Wegmann (1999) macht einleuchtend auf den Konnex von Philologie und der Tätigkeit des Sammelns aufmerksam: Das Sammeln ist unter philologischem Blickwinkel als Lesemodus zu verstehen, in dem die Suche nach Textzeugnissen und das Zitate-Sammeln ein hermeneutisches Grundprinzip philologischen Arbeitens darstellen. Der Philologe, so auch Thomas Steinfeld (2004: 129f.), schafft sich das Material herbei, um es in einer späteren Phase zu sichten, zu vergleichen, zu werten, zu ordnen und zu interpretieren. Die kumulative Dynamik des Sammelns „hat etwas prinzipiell Provisorisches,“ ist prinzipiell unaufhörlich (ebd.: 130), und die Expansion des Gesammelten stellt somit den Normalzustand dar: „Man sammelt, was man noch nicht hat, und das, was man noch nicht hat, interessiert bereits allein aufgrund dieser Stellung in der Logik des Sammelns.“ (Wegmann 1999: 263) Und genau so, wie der Philologe als leidenschaftlicher Buchhalter610 zwecks weiterer Funde liest, ist auch das vignetten- bzw. fragmenthafte Sammeln alltäglicher Informationspartikel beim Romanisten Victor Klemperer ein spezifischer Modus des Wahrnehmens und, so die These, eine spezifische philologische Vorgehensweise, die sich durch eine „Ästhetik des Widerstands gegen die Zeit“ kennzeichnet (Steinfeld 2004: 247). Der Akt des Sammelns ist ein Versuch, sich dem Vergehen der Zeit entgegen zu stellen und das Gesammelte vor Verfall zu schützen und zu erhalten.611 Hier ist zweifelsohne die hervorstechende konzeptuelle Nähe zur Erinnerungspflicht, die dem historischen Zeugnis innewohnt, zu beobachten. Klemperers selbstauferlegte philologische und moralische Pflicht, einerseits das NS-Regime in seinen unterschiedlichen Facetten einer kritischen Analyse zu unterziehen und andererseits von seinen Verbrechen Zeugnis abzulegen, sind nur schwer voneinander zu trennen. Klemperers Tagebuchschreiben beeinflusst und strukturiert in erheblichem Maße seine Wirklichkeitswahrnehmung, die unablässig darauf ausgerichtet ist, eine Auswahl zu treffen und zu sammeln. Das philologische Sammeln wiederum bestimmt als Aufzeichnungsmodus die förmliche und thematische Ausrichtung 610 Vgl. den entsprechenden Titel von Thomas Steinfelds Buch Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform (2004). Referiert sei vordergründig das gleichnamige letzte Kapitel „Der leidenschaftliche Buchhalter“ (ebd.: 227-247). 611 Zum Zusammenhang zwischen Diaristik und Sammeltätigkeit vgl. Sader (1996: 179-182).

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des Tagebuchs. Die in einer Zukunft zu verfassende philologische Arbeit über die Sprache des Dritten Reiches gilt dementsprechend als Folie, vor der der Tagebuchautor seinen Alltag aufzeichnet: Die Sprache des 3. Reiches […] ist immer um mich und läßt mich keinen Augenblick los, bei der Zeitungslektüre beim Essen, auf der Tram, mit ihr lebe ich, für sie sammle und registriere ich absichtslos […] Was ich bisher an Ausdrücken gesammelt, freilich auch immer zu deuten gesucht habe, stammt nur aus der Presse und der Sprache des Alltags, ist in meinem Tagebuch verstreut […]. Mit der richtigen Arbeit daran werde ich erst beginnen können, wenn ich die wesentlichen Autoren der Bewegung, der Partei in ihren Büchern studiere, und das bringe ich ohne Brechreiz erst über mich, wenn ich das Ganze überlebt habe, wenn ich nicht mehr Peiniger am Werk betrachte, sondern ihre Gehirne seziere. Aber inzwischen sammle ich doch immerfort, bringe ich doch jeden Tag der mich erreicht mit diesem Zukunftsbuch in Verbindung. […] [E]s wird unmöglich ein geschlossenes Ganzes... Wieweit könnte ich aus dem bisher Gesammelten und Durchdachten ein systematisch Ganzes herstellen, wie sähe die Disposition aus? (ZAI: 621f. [23.6.-1.7.1941])

Die LTI wird auf diese Weise zu einem Wissensspeicher des Nationalsozialismus: Der Schutz vor Vergessen und Auflösung bringt diese Sammlung zu Sinn und Bedeutung, denn erst in seiner schriftlichen Aufbewahrung kann das Gesammelte überdauern und für die Nachwelt von Nutzen sein. Entgegen dem unaufhörlichen Zeitfortgang und dem etwaigen Vergessen der Gesellschaft stellt das Tagebuch eine mémoire archivée dar,612 die ein gründliches Bild der von Klemperer erlebten Gegenwart aufspannt.613 Das Sammeln fördert den Sinn für die Vergangenheit, oder, wie Justin Stagl (1998: 41) in nuce zusammenfasst: „Sammlungen sind materialisierte Gedächtnisse, das Gedächtnis ist eine entmaterialisierte Sammlung.“ Wer sammelt, errichtet sich somit einen Schutzwall gegen die Kontingenz einer unvorhersehbaren Welt. Seine Wahrnehmungen und Erlebnisse verarbeitet der Diarist Klemperer in diesem Sinne zu Gedanken und Reflexionen, welche es ihm ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren. Victor Klemperer schafft sich „das ihm ursprünglich entgegengetretene Chaos der Welt zu einem Kosmos um.“ (ebd.: 38) In der diaristischen Aneignung der Welt erschafft der Ta612 Für eine ausführlichere Erörterung des Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Archiv im autobiographischen Schriftmedium vgl. Sheringham (2005: 47ff.), der unter Rückgriff auf Jacques Derrida, Michel Foucault, Arlette Farge und Paul Ricoeur die zeitgenössische IchLiteratur einer theoretischen Analyse unterzieht. Das autobiographische Archiv deutet immer auch auf ein fundamentales Fehlen hin: Es legt eine Absenz offen, die ersichtlich macht, dass die Vergangenheit prinzipiell nicht rückholbar ist und wie ein wirbelndes schwarzes Loch, das alles in seiner Nähe aufsaugt, eine Leere darstellt, die nicht mehr ausgefüllt werden kann (vgl. ebd.: 52). Das Aufbewahrte zeigt zugleich auf das Untergegangene und Verschollene. 613 Auch in der DDR setzte der Diarist sein Sammelprogramm fort. Als mémoire archivée liegt auch den DDR-Tagebüchern das kulturhistorische Interesse zugrunde, die flüchtigen alltäglichen Kleinigkeiten in ihrer Verschiedenheit aufzubewahren, um so den Zeitgeist einzufangen, den er ex post erfahrungsgerecht im Curriculum weiter- bzw. wiedergeben will: „All solche Kleinigkeiten müssen frisch notiert werden – Zeitfrage; gerade diese Kleinigkeiten sind kulturhistorisch wichtig. Sind wesentlicher Stoff meines Curriculums Vitae. Werden sie Stoff bleiben oder Werk werden? Auch die Zeitfrage.“ (SSII: 156f. [20.4.1951])

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gebuchschreiber zugleich sich selbst: Die metaphorische Rede vom Sich-Sammeln hebt die identitätsstiftende Qualität der Sammeltätigkeit hervor (vgl. Sommer 1999: 126). Zum bloßen Akt des Sammelns gesellt sich das Ordnen des heterogenen Materials: Das diaristische Projekt des Tagebuchautors zielt darauf ab, Ordnung in die Unordnung der verstreuten Sprachbeispiele zu bringen. Das Ordnen – zumeist mit Blick auf das LTI-Vorhaben – verläuft komplementär zum Sammeln. Dazu heißt es bei Walter Benjamin: „Vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf.“ (Benjamin 1983: 279) Das Ephemere des sozialen Diskurses bzw. des Zeitgeistes zum Stillstand zu bringen und durch das Ordnen der paradigmatischen Exempla bestimmte logische Verbindungen herzustellen, um sie mit Sinn zu füllen, das stellt das Hauptziel der enzyklopädischen Ordnungstätigkeit in Klemperers Tagebüchern dar.614 Zum einen betrifft die Frage nach der Ordnung des aufgezeichneten Materials die unterschiedlichen formalen Kriterien, zuallererst das konsequente, vom Diaristen geradezu standardisierte Aufzeichnen von Tag zu Tag. Andererseits verfolgt Klemperer auch über längere Zeit hinweg bestimmte Themen und weist ihnen in der Struktur des Tages einen besonderen Platz zu.615 Diese Themen sind in so unterschiedlichen Bereichen wie Beobachtungen bzw. Notizen zu Antisemitismus, Witz, Traum, vox populi, LTI, Curriculum, Zeitgeschichte, Lektüre, Beziehungen persönlicher Art, Gesundheit, Finanzen, Erinnerung und Gedächtnis angesiedelt. Klemperers Tätigkeit des Rubrizierens, der Ablage von thematischen Bereichen in einzelnen Fächern, hat eine epistemologische Bedeutung. An den Kriterien der Ordnung, an der praktischen Organisation des Tagebucharchivs lässt sich ablesen, welche Wissensordnung die Kategorisierungspraxis leitet. Notizen in bestimmten Rubriken unterzubringen, weist dem Gespeicherten einerseits eine Stelle im Archiv, andererseits auch einen Platz in der Wirklichkeit zu. Eine Rubrik stellt vor diesem Hintergrund immer eine Art von mentalem Gedächtnisort, einen Topos dar, in dem sich die abgelegten Wissensgehalte auffinden lassen (vgl. Schneider 2005: 22).616 614 Peter Plener (1999: 81) rückt als allgemeines Spezifikum von Tagebüchern, denen als Ziel die spätere, memorierende Relektüre eingeschrieben ist, die ihnen zugrunde liegende Ordnungsstruktur in den Mittelpunkt: „Tagebücher [...] sind eines der signifikantesten Genre [sic] hinsichtlich Erinnern und Vergessen. Ein Charakteristikum, und dieses soll dargestellt werden, besteht darin, daß viele Tagebuchschreiber eine Form von Ordnungen zu erreichen suchen, die notwendig erscheinen (die im Zusammenhang mit dem reflektierten Wunsch nach späterer, memorierender Relektüre mitunter erst den Sinn einer Tagebuchführung herstellen sollen).“ 615 Zum vergleichbaren diaristischen Ordnungsprinzip – beispielsweise bei Arthur Schnitzler – vgl. ebd.: 15f. 616 Die Spannung, die einem solchen Alltagsarchiv innewohnt, besteht zwischen der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der Sammlung und der notwendigen, systematisierten Handhabung der unüberschaubaren Fülle an Alltagsinformationen. Ben Highmore (2002: 24) bringt das besagte Spannungsfeld wie folgt auf den Punkt: „[D]er mögliche Gebrauch des Archivs scheint sich zwischen zwei Extrempolen zu bewegen: einerseits einer ungeordneten Anhäufung von Einzel-

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Hinsichtlich der eingesetzten Kategorisierungsformen begegnet man in Klemperers Tagebüchern durchgängig Schlüsselworten und Kurzformeln, die eine spätere Aufbereitung erleichtern sollten. Die Sammlung wird vor diesem Hintergrund in unterschiedliche „Sparten“, „Rubriken“, „Artikel“ bzw. „Stichworte“ kategorisiert, wie beispielsweise in die „Sparte ‚Unruh‘“ (ZAI: 623 [23.6.-1.7. 1941]), die „Sparte: jüdisch-bolschewistisch“ (ebd.: 648 [13.7.1941]), die „Judensparte“ (LTI: 217), die „Sparte der gestempelten Worte“ (ZAII: 649 [14.7. 1943]), die „Rubrik des Bedeutungswandels“ (A 138: 795 [10.2.1943]), den „Artikel Jude“ (ZAI: 579 [20.2.1941]), „Stichwortnotizen zu Rosenberg“ (ZAII: 56 [27.3.1942]) usw. Solche Begriffe bezeichnen bei Klemperer nicht nur terminologisch die Tätigkeit des Sammelns oder Archivierens, sondern dienen ihm als Metaphern, mit deren Hilfe Wichtiges von Unwichtigem oder Arbeits- von rein autobiographischen Notizen getrennt werden. Andere – weitaus dominantere – Sparten, unter die reichhaltige und diverse Informationen subsumiert werden, sind die Strukturelemente „LTI“ und „vox populi“. Sie sind Arbeitslemmata, die Klemperer später die kohärente Aufarbeitung der Notizen ermöglichen könnten. Vor diesem Hintergrund seien nur zwei Beispiele, die die stichwortartige Verschiedenheit der Einträge veranschaulichen, angeführt: .

LTI: Deutschstämmig, Judenstämmling – beachte Suffix ling – Reichsschriftkammer, Dachorganisation. Besondere Wortreihe: Organisation. Deutsches Katzenwesen. (ZAI: 651 [16.7.1941]) Vox populi: Er [=Hitler, A.S.] greift im September an, teilt Polen mit Rußland, England- Frankreich ohnmächtig. Natscheff und etliche andere: Er wagt keinen Angriff, hält Frieden und hält sich noch jahrelang. Jüdische Meinung: blutiger Pogrom am ersten Kriegstage. (ebd.: 477 [14.8.1939])

Mittels eines dermaßen detailliert und heterogen angelegten Archivs macht sich der Tagebuchautor erfahrungsgeleitet auf die Suche nach einer angemessenen Kulturphysiognomik der Gefühle im Dritten Reich. Die Rubriken, Listen und kohärenten Themenkreise stellen die Karteikarten dieses Archivs dar. Gleichsam als Archivar vergräbt sich Klemperer in die profane Alltagswelt unter dem NSRegime und versucht dabei, die geistigen Grundlagen seiner Zeit zu ergründen und festzuhalten.617 Im Zuge dessen fördert er Widersprüchliches zu Tage, bringt Ungereimtheiten ans Licht und fällt niemals der Versuchung anheim, die Brüche zu glätten.618 heiten, andererseits einer strukturierten Ordnung, die die Wildheit in eine gezähmte Erzählung transformiert.“ 617 Den Listen und Aufzählungen kann dabei auch die Bedeutung eines schlichten Kalenders zukommen, der dem Diaristen erlaubt, die Phasen des zeitlichen Fortgangs zu verzeichnen. Vgl. diesbezüglich beispielsweise die nachträglich aufgezeichnete, protokollartige Rekonstruktion der „Stationen 2.-12.4.“ aus dem Jahre 1945 (ZAII: 716 [13.4.1945]). Zu Klemperers Strukturierung der Manuskriptgestaltung vgl. auch Rüttinger (2011: 227ff.). 618 Die Anordnung des geschichtlichen Materials spiegelt notgedrungenerweise immer die persönliche Position des Geisteswissenschaftlers wider, der versucht, aus der Geschichte Sinn zu schaffen. Vor diesem Hintergrund trifft für den Diaristen Klemperer zu, was auch für den Lite-

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Zwecks nachträglicher Verarbeitung für die LTI – sein „Zukunftsbuch“ (ebd.: 622 [23.6.-1.7.1941]) – wählt und sammelt Klemperer gleichermaßen vielfältigste Gesprächs- und Textfetzen, die er als Zitate in sein Tagebuch aufnimmt. Was die protokollarische Aufzeichnung mündlicher Äußerungen anbelangt, ist festzustellen, dass sie manchmal abbreviativen Charakter aufweisen, dass lediglich Teile der Konversation angegeben werden, so dass ein Bild der Relevanz oder auch Belanglosigkeit des stattgefundenen Gesprächs bleibt. Mehrheitlich werden aber längere Gesprächszitate mit erstaunlichem Detailreichtum festgehalten, oft zur Veranschaulichung der allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung – der vox populi – gegenüber dem Nationalsozialismus. Mit den Mitteln des Zitats etabliert der Diarist neben dem „eigenen“ Tagebuchtext eine zweite, „fremde“ Textebene.619 Betrachtet man nun das Vorkommen von Zitaten in Klemperers Tagebüchern, so scheint die Zitierweise darauf abzuzielen, ein babylonisches Sprachengewirr in seiner Vielfältigkeit und Vielförmigkeit abzubilden. Klemperer war sich zu jeder Zeit der Problematik der Objektivität der dargestellten Wirklichkeit bewusst. Vollständigkeit und Objektivität in der Verschriftlichungspraxis sind prinzipiell unerreichbare Größen für den Diaristen. So reflektiert der Tagebuchschreiber beispielsweise auf einer Reise mit seiner Ehefrau in der Ägäis im Jahre 1929 – hier in Bezug auf die Landschaft – auf die epistemologischen Möglichkeiten und Bedingungen der Wiedergabe menschlicher Wahrnehmungen: Beschreiben, d.h. Gesehenes ganz in Worten wiedergeben ist de facto unmöglich. Was tue ich, wenn ich sehe? 1) ich sehe analytisch, Einzelheiten nebeneinander; 2) ich sehe synthetisch, ein Gesammtbild [sic], 3) ich sehe außer allen Einzelheiten u. außer dem Gesammtbild [sic] ein paar Einzelheiten oder eine als dominierend, 4) ich sehe, was außen nicht oder so nicht vorhanden ist, sondern was ich aus meinem seelischen Vorrat, durch das außen Vorhandene angeregt, hinzufüge, u. womit ich nun das Außenbild umwandle, u. wodurch ich eine innere u. potenzierte Synthese erreiche aus den analytischen Eindrücken, dem äußeren synthetischen Bild u. der äußeren Dominante bestehend, dies alles vermehrt um, verändert, verschmolzen durch den inneren Vorgang. [...] Der mit Worten Beschreibende kann nicht, unmöglich kann er dies Ganze geben. (LSII: 580 [10.9.1929]) raturhistoriker Greenblatt gilt, nämlich „daß die Fragen die ich an mein Material stelle, ja die Natur dieses Materials selbst von den Fragen geprägt sind, die ich über mich selbst stelle.“ (Greenblatt 2001b: 41) 619 Diese „zweite“ Textebene des Zitats bezeichnet Markus Steinmayr (2001: 106) unter Verweis auf Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels als „Ekrasit der Totalität“ (im Original Fettdruck): Das Zitat zerbreche den falschen Schein einer organischen Einheit bzw. Ganzheit der Erkenntnis. Die mosaikartigen Zitateinschübe veranschaulichen die Diskontinuität der Geschichte, der auch in Klemperers Tagebüchern besonderer Ausdruck verliehen wird. Die Zitate, die aus ihrem originären Kontext herausgebrochen sind, werden in einen neuen textuellen Kontext hineingestellt und konstruieren somit neue Sinnkonstellationen: „Im Gegensatz zu einer harmonisierenden Einbindung in die Totalität des Werkes montieren die Zitate einen neuen Text, der nichts mit einer historisierenden Inventarisierung zu tun hat, sondern gerade jene immer neue Lesbarkeit der Konfigurationen ermöglicht, die in der Darstellung erreicht werden soll.“ (ebd.: 107) Zur Zitattheorie in Anwendung auf die Gattung Tagebuch – exemplarisch dargestellt an Arthur Schnitzlers Tagebüchern – vgl. Sellner (1992: 37ff.).

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Trotz des prinzipiellen Fehlens eines Gesamtüberblicks über die epistemische Welt als Ganzheit hält Klemperer an der diaristischen Motivation fest, Gesehenes, Geschehenes, Erlebtes, Gehörtes, Gelesenes, Gedachtes und Gelerntes aus unterschiedlichsten Erfahrungs- und Lebensbereichen möglichst detailgetreu zu Papier zu bringen. Zitate dienen ihm als wichtiges Mittel, um dieser vorsätzlichen Detailtreue gerecht zu werden. Die Zitatsignale – wie Anführungszeichen – heben vorformuliertes Material innerhalb des gesamten diaristischen Textes formal hervor. Durch die Technik des Zitierens schafft Klemperer eine kommunikative Realität des Tagebuchtextes, die innerhalb des Textes ihre eigenen Funktionen hat und zugleich über das Medium des Zitats mit der außertextuellen Wirklichkeit verbunden ist: Das Öffentliche wird auf diese Weise formaltechnisch ins Private eingebunden. Die Zitate haben vorwiegend eine dokumentarische Funktion und darüber hinaus zum Ziel, den Gesprächsverlauf, der leicht in Vergessenheit geraten könnte, schriftlich zu verfestigen und aufzubewahren. Die nachstehende Dialogsequenz zwischen zwei Frauen beim Kohlenhändler veranschaulicht exemplarisch die Art und Weise, wie der Diarist in mitgehörten Gesprächen – trotz ihres auf den ersten Blick trivialen Charakters – den Zeitgeist einzufangen sucht. Den discours social (sensu Marc Angenot) – das „Geräusch“ von all dem, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt und geschrieben wird bzw. werden kann – hält der Diarist somit zwecks späterer Analyse fest. In der betreffenden Textpassage aus dem Jahr 1944 heißt es: Ich hatte beim Kohlenhändler immer wieder längere Zeit mit dem Einfüllen meiner Eimer zu tun. Dabei hörte ich die Gespräche der Kundinnen – die Männer sind im Feld oder im Betrieb, die Frauen holen ihren Bedarf auf Handwagen oder auch in Eimern – mit der freundlichen gar nicht nazistischen Frau Hesse (deren Mann widerum auf dem Bahnhof zu tun hatte, seine Erscheinung ist am charakteristischsten, wenn er, als Zyklop, vorn auf seinem elektrischen Wägelchen stehend, heranrollt). ‚Einen Bezugsschein für einen Arbeitsmantel meines Mannes hab ich nun, aber kriegen tu ich nirgends einen.‘ – ‚Schreiben Sie an Heß, der wird Ihnen einen beschaffen können, dem gehts besser als uns!‘ Ich hätte gar nicht geglaubt, daß der Name Heß im Volke noch lebt. Es ist so lange her. [...] – ‚Mein Mann ist in Italien, bei Verona. Ich darf ihm monatlich 75 M schicken. Er treibt noch allerhand auf. Ein Kilo Schokolade 27 M.‘ – ‚Ich bekomme zu Weihnachten ein Kaninchen geschickt.‘ – ‚Wird es nicht riechen?‘ – ‚Ich wasch es mit Essig ab.‘ – ‚Mit denen draußen ist es verschieden. Manche können schicken. Manche müssen noch zu essen herausgeschickt bekommen‘ An Frieden dachte keine. Der Krieg geht so weiter. ‚Meiner kriegt Weihnachtsurlaub.‘ – ‚Der macht jetzt einen Kurs mit, der 8 Wochen dauert, dann kommt er wieder nach vorn.‘ (ZAII: 614f. [23.11.1944])620

620 Im LTI-Kapitel mit der Überschrift „An einem einzigen Arbeitstag“ (LTI: 122-126) verschriftlichte Klemperer über verschiedene Seiten hin in kommentierter Gesprächsform die mündlichen Aussagen, Dialoge und Bemerkungen der deutschen Arbeiter bei Thieme & Möbius, wo Klemperer zwangsangestellt war. Die Sequenzen bezeugen, so Klemperer, dass die Arbeiter, obwohl sie angeblich keine Nationalsozialisten waren, doch alle von der NS-Sprache „vergiftet“ gewesen wären (vgl. ebd.: 126).

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Das Tagebuch wird auf diese Weise – durch die Aufnahme des vielfältigen, zirkulierenden Stimmengewirrs – zu einem polyphonen Aufschreibemedium des Alltags und geht weit über das rein Monologische eines hauptsächlich ichbezogenen journal intime hinaus.621 Klemperers Tagebuchtext kann vor diesem Hintergrund vielmehr als Produkt verschiedener kommunikativer Handlungen interpretiert werden. Das Tagebuch bildet über die strukturelle Verflechtung der verschiedenen Gesprächs- und Redewiedergaben ein mehrstimmiges, vielschichtiges Gefüge, mit dem sich der Diarist neben dem Mittel der Selbstverständigung ein Instrument der intersubjektiven Dokumentation seiner von Tag zu Tag fortzuschreibenden Lebensgeschichte schafft. Das Tagebuch wird somit zu einem stellvertretenden Ort der direkten Kommunikation mehrerer Sprecher (vgl. Sellner 1992: 169). Schließlich kommt noch der Eingriff des Diaristen hinzu, der die Zitate gegebenenfalls kommentiert und kontextualisiert. Auch Selbstzitate, die den Tagebuchschreiber im Gespräch mit Anderen anführen, kommen häufig vor. Solche Dialogsequenzen machen die Komplexität der unterschiedlichen IchRollen im Tagebuch ersichtlich: Das diaristische Ich ist der Tagebuchautor, zugleich eine handelnde Figur im Text, und schließlich auch noch Kommentator dieser beiden Ebenen, des schreibenden und geschriebenen Ich. Durch solche „direkten“ Aufzeichnungen kann sich der Diarist seine Reaktionen und Ansichten im künftigen Nachlesen vergegenwärtigen. Ein Beispiel für viele andere: In einer Gesprächssituation mit Rößler, dem Werkmeister bei „Teehandel Schlüter“, wo der Romanist Zwangsarbeit leisten muss, äußert sich Klemperer zu seinem Bedauern – wie er selbst im Nachhinein kommentiert – auf zu offene Weise zuversichtlich zum baldigen Kriegsende: Gegen sechs, zur Frühschicht, erschien Rößler, der arische Meister. Ein durchaus intelligenter, judenfreundlicher, keineswegs nationalsozialistischer Mann, vordem selbständiger Süßwarenhändler, tief in den Vierzig. ‚Zwei Drittel vom Krieg sind geschafft‘, sagte er in einem Gespräch über Zigarren, ‚Ich rechne auf noch zwei Jahre.‘ – Ich: ‚So lange nicht mehr.‘ (Schon tat es mir leid, wurde ich ängstlich.) [...]

621 Klemperer wird somit zwangläufig zum Geschichtsschreiber seiner Zeit. Aus diesem Grund bezeichnet Florence Bancaud (2008) Klemperers Tagebuch als „journal extime“, in dem das Zeugnis der kollektiven Erfahrung der Verfolgung zentral steht. Er reiht sich in ein epistemologisches Projekt ein, das darin besteht, die schillernde Vielfalt historischer Details in Form von Zitaten aufzubewahren. Vor diesem Hintergrund kommt er Walter Benjamins geschichtsphilosophischem Zitatbegriff sehr nahe. Im Passagenwerk stellt Benjamin (1983: 595) die Bedeutung des Zitats für den Historiker folgendermaßen dar: „Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.“ Der Tagebuchautor schafft vor diesem Hintergrund in seinen Notizen eine neue, dialektische Konstellation von Zitaten und Reflexionen.

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Ich sah ihn lächelnd an und sagte nichts weiter. Aber ich blieb den ganzen Tag bedrückt. (ZAII: 390 [9.6.1943])

Mit solchen Selbstzitaten schickt das schreibende Subjekt, das im Moment des Sprechens bzw. Schreibens noch nicht weiß, ob es richtig oder falsch über gewisse Sachverhalte urteilt, sich selbst eine Depesche in die Zukunft, in der Hoffnung, in einem späteren Moment die Lage besser beurteilen zu können. Allerdings handelt es sich bei den Zitaten nicht nur um Protokolle des Sprechens, um zitierte mündliche Rede. Exzerpte der Lektüre Klemperers oder Passagen aus Briefen sowie auch einzelne Sätze oder Formulierungen, die nationalsozialistischen Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren oder Plakaten entnommen sind, sind in seinen Notizen gleichfalls recht oft zu finden. Ähnlich einem Collagenbuch, in das – wie beispielsweise in Walter Kempowskis Echolot (2004) – ein dichtes Gewebe aus unterschiedlichsten Informationen aus erster oder zweiter Hand Eingang findet, sucht Klemperer in einem archivähnlichen Verfahren – zwecks späterer Verwertung – in polyperspektivischer Weise zeitgenössische Diskurse und Wahrnehmungen festzuhalten. Das Archiv lässt sich vor diesem Hintergrund treffend als eine strukturierte Form der Vorläufigkeit verstehen (vgl. Schneider 2005: 29): Das Tagebucharchiv soll den Zitaten so lange als Speicher dienen, wie diese noch nicht einer endgültigen Verwertung zugeführt sind. Das Archiv bewahrt das Fixierte in seiner Materialität auf und externalisiert so das Gedächtnis. Paul Ricoeur (2004: 255) hebt die schriftliche Materialität des Archivs wie folgt hervor: „Der Moment des Archivs ist der Moment, da die historiographische Operation in die Schrift eintritt.“ An den die Tagebücher durchkreuzenden Archivmetaphern „Speicher“, „Sammlung“ und „Papiersoldaten“ lässt sich eindeutig die funktionale Ausrichtung von Klemperers „aufgespeicherten kleinen Notizen“ (ZAI: 584 [14.3.1941]) feststellen: Sie sollen den Kampf gegen die Zerstreuung der Zeitgeschichte aufnehmen und sie für eine spätere Verwertung aufbewahren. Die vielen schriftlichen Quellen entnommenen Zitate, die die Sprache des Nationalsozialismus veranschaulichen sollen, dienen der empirischen Untermauerung einer noch zu verfassenden sprachkritischen Arbeit. Textpassagen aus den Dresdener Nachrichten oder dem Reich, auf das sich der untenstehende Passus bezieht, stellen für Klemperer ad nauseam die „Vergiftung“ der deutschen Sprache durch NS-Ideologie und Propaganda dar: ‚Reich‘, 26. November: Eine quaedam Christa Rotzoll, die mir schon mehrfach als lyrisch journalistische Glorifikatorin nationalsozialistischer Zustände und Institutionen kötzerisch-vomitivement aufgefallen, schreibt Feuilleton: ‚Die Reservistinnen. Ehemalige Arbeitsmaiden am Scheinwerfer.‘ Das ist Ergänzung, bzw. Vorspiel zum neulichen Aufruf für das Waffenhelferinnenkorps. Gemeinste Versüßlichung, halbe Verweiblichung der Flintenweiberei. Stilbeispiel: ‚Der weibliche Ehrgeiz, sich nicht zu blamieren, hält die Maiden vor der Technik wach, dazu ein wenig die gemeinsame Verehrung, die den Leutnant so sanft anstrahlt, wie es meist nur Deutschlehrern begegnet ... Eine Lagerführerin von steiler, heller Anmut lenkt die Mädchen wie damals (im Arbeitsdienst), doch nicht mehr als oberste Instanz. Sie

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ergänzt im Pädagogisch-Menschlichen den Batteriechef, berät ihn bei manchen Befehlen ...‘ (ZAII: 623f. [8.12.1944])

Klemperers Sammeln von Zitaten, Beobachtungen und Reflexionen zielt darauf ab, einen „authentischen“ bzw. unmittelbaren Einblick in die Organisation des NS-Staates zu vermitteln. Sein akribisches Tagebuchführen stellt eine lebensgestaltende Selbstdisziplinierung dar, die einen Teil der täglichen psychischen Hygiene des Diaristen ausmacht: Die Dynamik des Sammelns kommt erst durch den Tod des Autors zum Stillstand – sie ist trotz des unsicheren Ausgangs der prekären Lage, in der sich Klemperer befindet, die Triebkraft hinter dem Akt des Zeugnis-Ablegens und die Bestätigung des eigenen Lebenswillens. In letzter Konsequenz werden die Tagebuchnotate nicht zu einem größeren kohärenten Ganzen – einer Vita, einer sprachkritischen oder literaturgeschichtlichen Arbeit – komponiert: „Sammeln u. nicht fragen, ob Zeit zum Ernten bleibt. Noch einmal ‚Papiersoldaten‘.“ (A 138: 703 [1.10.1942]) Und auf ähnliche Weise heißt es gut ein halbes Jahr später in weitaus resignativerem Ton: „Die ‚Papiersoldaten‘ werden zum Symbol meiner letzten Jahre. Nichts von dem Gespeicherten wird zum fertigen Opus werden.“ (ebd.: 833 [1.4.1943]; vgl. ebd.: 828 [19.3.1943]; ZAII: 595 [27.9.1944])622 Die „Papiersoldaten“ beziehen sich auf ein beliebtes Spiel aus Klemperers Kindheit: Auch er schnitt gerne vorgedruckte Papiersoldaten aus, bewahrte sie aber ungeordnet in einer Schachtel auf, ohne sie je zu den nachzustellenden Schlachten zu gruppieren, für die sie gefertigt worden waren. In der in funktionaler Hinsicht höchst erhellenden Einführung zu seinem Curriculum – betitelt „Papiersoldaten (introductio de profundis)“ (CVI: 5-10) – bringt Klemperer die diaristische und autobiographische Sammelpraxis in metaphorischer Manier wie folgt auf den Punkt: In Bromberg als kleiner Junge spielte ich am liebsten mit Papiersoldaten. […] Ich begnügte mich vorläufig mit dem Ausschneiden, dann wanderten die Figuren in einen großen Karton, Krieger und Soldaten aller Waffengattungen, Länder und Zeiten wirr durcheinander. Da mochten sie liegen, bis ich genug zusammen hätte, ein ungeheures Heer. Dann würde ich sie aufkleben und zu einer Völkerschlacht ohnegleichen antreten lassen. Darauf freute ich mich von Tag zu Tag, und jede Woche schenkte mir Mutter einen neuen Bogen, und immer schnitt ich meine Soldaten nur aus, stopfte sie in den Karton, nahm den nächsten Bogen zwischen die Schere und dachte an den fernen Tag der großen Schlacht. […] Die große Schlacht fand nie statt. (ebd.: 5f.)623

622 Der leitende Imperativ, unentwegt Verschiedenes aufzubewahren, macht den libidinösen Grundtrieb von Klemperers Diaristik aus. Der mechanische Akt des Sammelns ist in dem Sinne eigenständig, dass sein unmittelbarer Nutzen – zumindest zeitweilig – ausgeklammert wird: „Ich darf mich nicht fragen, was aus meinen Papiersoldaten werden soll. Ich muß sammeln, was mir in die Hände kommt.“ (A 138: 1107 [25.6.1944]) 623 Die Sammeltätigkeit der „Papiersoldaten“ lag dem Tagebuchschreiben von Anbeginn an zugrunde, wie auch aus den Tagebüchern aus der Weimarer Zeit hervorgeht: „Nur Leben sammeln. Immer sammeln. Eindrücke, Wissen, Lectüre, Gesehenes, alles. Und nicht fragen, wozu

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Die „Papiersoldaten“, die nie für ihren intendierten Zweck genutzt wurden, stehen im übertragenen Sinne für die seit seiner Adoleszenz aufgezeichneten und in der Regel nie wieder gelesenen Tagebuchnotizen. Erst im Dritten Reich, als ihm die Versorgung mit wissenschaftlicher Literatur endgültig versagt blieb, strebte Klemperer das Verfassen einer Autobiographie an: „Das Verlangen regte sich, aus dem Wust der Tagebücher eine Vita zu formen.“ (ebd.: 7) Er setzte sich mithin zum Ziel, „die zusammengestopften und durcheinandergeworfenen Papiersoldaten auf die Beine zu stellen.“ (ebd.) Die vereinzelten, alltagsorientierten Notate sollten auf diese Weise zu einer kohärenten Lebenserzählung komponiert werden – unabhängig davon, was deren letztendlicher Nutzen sein mochte: So will ich es denn wagen, die in einem halben Jahrhundert aufgespeicherten Papiersoldaten aus der großen Schachtel zu nehmen und nach bestem Können aufzustellen, auf die Gefahr hin, daß sie niemandem nach meiner Frau und mir zu Gesicht kommen, und auf die schlimmere Gefahr, daß der unwahrscheinliche spätere Betrachter achselzuckend urteile: ‚Wozu die aufgewandte Mühe? Es ist wirklich bloß papierenes Zeug.‘ (ebd.: 10)

Die Papiersoldaten stellen also, wie aus den vorherigen Ausführungen deutlich wird, eine ausdrucksstarke persönliche Metapher für Klemperers Arbeits- und autobiographische Notizen dar, von denen er angesichts des Holocaust und des Krieges nicht wusste, ob er sie je würde ordnen und auswerten können: „‚Papiersoldaten‘ stehen am Anfang und am Ende meines Lebens. Das 18ième, das Curriculum, die LTI – sie werden immer Papiersoldaten bleiben und genau so verschwinden wie die wirklichen Papiersoldaten meiner Kinderzeit.“ (ZAII: 344f. [17.3.1943]) Mit Rückgriff auf ein idealistisches kulturgeschichtliches Konzept strebt der Tagebuchautor das ehrgeizige Ziel an, eine gesellschaftliche – sowohl Opfer- wie auch Täterperspektive inkludierende – Gesamtsicht zu vermitteln. Unter diesem Blickwinkel avanciert Klemperer zum „aufmerksame[n] Archivar von für die Zeit überhaupt typischen kulturgeschichtlich bedeutenden Erscheinungen“ (Kämper 2001: 64). In Anlehnung an Barbara Breysach (2005: 54) kann Victor Klemperers „Alltagsgeschichte des NS-Alltags“ gewinnbringend als „kulturelle Mnemotechnik“ verstanden werden. Die „Papiersoldaten“ bilden ein externes Gedächtnis des Alltags, das zu gegebener Zeit abgerufen und für diverse – persönliche wie berufliche – Zwecke genutzt werden kann. Bei der Verarbeitung seiner Tagebuchnotizen aus dem Ersten Weltkrieg fürs Curriculum konstatiert der Diarist die mnemotechnische Vorrangigkeit der minutiösen Spurensicherung von angeb-

u. warum. Ob ein Buch daraus wird, oder Memoiren oder gar nichts, ob es in meinem Gedächtnis haftet oder verdirbt [...]. Nicht fragen, nur sammeln. Und wenn es auf die Kiste mit den Papiersoldaten hinausläuft.“ (LSII: 571 [3.9.1929]; vgl. ebd.: 661 [4.10.1930]; ebd.: 730 [15.8.1931])

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lichen Gemeinplätzen und Banalitäten: „Ich arbeite jetzt in erster Lektüre die Tagebuchblätter Wilna November 18 durch. Wie vieles war mir entfallen, wie ungemein wichtig sind gerade die Einzelheiten solcher Zeit! Um meines Curriculums willen muß ich auch jetzt notieren, ich muß, so gefährlich es auch ist.“ (ZAI: 595 [27.5.1941]) Von übergeordneter Bedeutung ist mithin auch im Dritten Reich das Sammeln alltäglicher – aber kulturhistorisch bedeutsamer – „Einzelheiten,“ denn an ihnen „haftet wesentliches Leben der Epoche.“ (A 135: 104 [24.4.1934]) Die Verquickung von Alltagsaufzeichnung und Sammeltrieb schlägt sich in penibel geführten Registern, Listen, Aufzählungen, Überblicken und Katalogen nieder, die strukturiert und formalisiert – ab 1940 – den Tagesablauf im „Judenhaus“ veranschaulichen. Einen wichtigen Kernbereich stellt hier die Geheime Staatspolizei dar: Die permanente Präsenz der Gestapo-Thematik624 zieht sich als roter Faden durch die aktualitätsbezogenen Notizen. Der Diarist vergleicht sie mit dem Zyklopen Polyphem aus Homers Odyssee, der in seiner Höhle mehrere Gefährten von Odysseus’ Schiffsmannschaft verspeiste und drohte, den Helden als Letzten zu fressen. Weil schon viele von Klemperers Schicksalsgenossen gestorben oder abtransportiert waren, fühlt sich der Tagebuchautor dementsprechend „wie Odysseus beim Polyphem: ‚Dich freß ich zuletzt‘.“ (ZAI: 154 [8.10.1934]; vgl. ZAII: 338 [2.3.1943]; ebd.: 657 [13.2.1945]; A 746 ‹1›)625 Der Holocaust bildet die Folie, vor der Klemperer seine Notizen verfasst. Das Erleben von vielgestaltiger Bedrängnis und Not ist in die Tagebücher eingegangen und bestimmt zwangsläufig ihre Stoßrichtung. Hunger, Angst, Finanznot und Krankheit bilden einen notwendigen Interpretationshintergrund, ohne den dem Tagebuch kaum beizukommen ist. Im Folgenden soll ein Raum hermeneutischer Erwägungen und Problematisierungen eröffnet werden, anhand derer gezeigt werden kann, inwiefern psychische und materielle Not zur Grundlage des jüdischen NS-Alltags gehörten.

624 Die ständige Angst vor Haussuchung, Abtransport und Mord durch die Gestapo lässt sich als thematischer Kernbereich etlicher Gespräche im „Judenhaus“ ausmachen. Sie geben Einblick in die alltagspsychologische Erfahrung von Bedrängnis und Not infolge des Holocaust. Auf die an sich selbst gerichtete Frage „Wovon reden wir seit Monaten [...]?“ antwortet der Diarist: „Von den letzten Haussuchungen und Selbstmorden. Wann und wie wird die Haussuchung bei uns sein? Von den Evakuierten. Leben sie noch? Seit Monaten keine Nachricht. Werden wir hinaus müssen? Wie lange noch? Wird man uns vorher morden?“ (ZAII: 64 [12.4.1942]; vgl. ebd.: 46 [16.3.1942]) 625 Aber im radikalen Gegensatz zu Odysseus, der sich dem Zyklopen listig unter dem Namen „Niemand“ – altgr. „Outis“ (ούδείς) – vorstellt und auf diese Weise sich selbst und seine Gefährten rettet, wird Klemperer aufgrund seiner Reduktion auf ein rechtloses „Niemand“ zu totaler Handlungsunfähigkeit verurteilt. Vgl. zu dieser Passage Rinn (2002: 233; 235) für ausführlichere Informationen.

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3.2.3.4 Hermeneutik eines jüdischen Alltags Ein plakatives Beispiel für die phänomenologische Rettung der „wechselnden Details des Alltags“ (ZAI: 565 [10.12.1940]), die die Gefahr in sich bergen, am Rand der Makrohistorie schlummernd dem Vergessen anheimzufallen,626 gibt der Tagebuchschreibende im nachfolgenden „Stundenplan des Alltags,“ an dem deutlich ersichtlich wird, in welchem Maße die Gestapo ab dem aufgezwungenen Einzug 1940 in das „Judenhaus“ der Caspar-David-Friedrich-Straße von morgens bis abends, vom Frühstück über das Klingeln der Briefträgerin bis hin zum Schlafengehen, den Alltag beherrschte.627 Die Gestapo avanciert in diesem Zusammenhang zum abstrakten Schreckensprinzip, zum allgegenwärtigen „sie“, das ständig auf der Lauer liegt, jeden Moment aus dem Nichts auftauchen und urplötzlich zuschlagen kann: In diesen letzten Monaten lernte ich immer wieder: Seit Esra gebe es die eigentliche jüdische Religion, das ‚Gesetz‘, die vielen 100 Vorschriften, die den Juden durch alle Stunden des Tages in jeder kleinsten Handlung an seine Religion binden, an Gott erinnern. Die Gestapo ist wie Esra. Ich möchte einmal den Stundenplan des Alltags (ohne Außergewöhnliches wie ein Mord oder Selbstmord oder eine Haussuchung) festlegen. Im Aufwachen: Werden ‚sie‘ heute kommen? (Es gibt gefährliche und ungefährlichere Tage – Freitag z.B. ist sehr gefährlich, da vermuten ‚sie‘ schon Sonntagseinkäufe.) Beim Waschen, Brausen, Rasieren: Wohin mit der Seife, wenn ‚sie‘ jetzt kommen. Dann Frühstück: alles aus den Verstecken holen, in die Verstecke zurücktragen. Dann die Entbehrung der Zigarre; die Angst beim Teepfeiferauchen, das nicht gerade ins Gefängnis führt, aber doch Prügel einträgt. Die Entbehrung der Zeitung. Dann das Klingeln der Briefträgerin. Ist es die Briefträgerin oder sind ‚sie‘ es? Und was bringt die Briefträgerin? Dann die Arbeitsstunden. Tagebuch ist lebensgefährlich; Buch aus der Leihbibliothek trägt Prügel ein, Manuskripte werden zerrissen. Irgendein Auto rollt alle paar Minuten vorbei. Sind ‚sie‘ es? Jedesmal ans Fenster, das Küchenfenster liegt vorn, das Arbeitszimmer hinten. Irgendwer klingelt bestimmt, mindestens einer am Vormittag, einer am Nachmittag. Sind ‚sie‘ es? Dann der Einkauf. In jedem Auto, auf jedem Rad in jedem Fußgänger vermutet man ‚sie‘. (Ich bin oft genug beschimpft worden.) Mir fällt ein, ich habe die Mappe eben unter dem linken Arm getragen – vielleicht war der Stern verdeckt, vielleicht hat mich einer denunziert. Beim Einkauf habe ich als Mischehemann immerhin nicht ganz so vieles zu befürchten wie die andern. Wenn Frau Kreidl auf eine jüdische große Marke ein paar kleine J-lose zurückbekommt (was sich gar nicht vermeiden läßt), so steckt sie die ‚arischen‘ unter das Futter ihrer Handtasche, denn es ist verboten, arische Marken bei sich zu haben. Und immer hat ja Frau Kreidl auch ir626 Angesichts der einzigartigen Gewaltkette von Verfolgung, Krieg und Tod, bei der vor allem die politischen und militärischen Hauptereignisse an die internationale Öffentlichkeit drangen, galten die individuellen Erfahrungen mit dem Regime als belanglos. Martin Sußmann, der Ehemann von Victor Klemperers 1936 verstorbener Schwester Wally, befand sich 1942 in Stockholm und war aufgrund dieses Informationsdefizits besonders am Verfolgtenalltag im Dritten Reich interessiert: „Brief von Sußmann, herzlich und aufregend durch seine Ahnungslosigkeit. Schreibe mir die (belanglosen) Einzelheiten Deines Tagesablaufs, wie Du ‚Deine Einkäufe machst, spazieren gehst usw.‘“ (ZAII: 286 [3.12.1942]) 627 Zum Alltag unter dem Nationalsozialismus in Victor Klemperers Tagebuchnotizen vgl. Goldenbogen (1997), Nemitz (1997) und zur Nieden (1997).

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gendeine zugesteckte Mangelware bei sich. In diesen Punkten also bin ich gesicherter. Danach ist ein Besuch zu machen. Frage beim Hinweg: Werde ich dort in eine Haussuchung geraten? Frage beim Rückweg: Sind ‚sie‘ inzwischen bei uns gewesen, oder sind ‚sie‘ gerade da? Qual, wenn ein Auto in der Nähe hält. Sind ‚sie‘ das? Dann wieder die Versteck-Affaire wie morgens und mittags. (Bei dem Besuch ist natürlich nur und ausschließlich von den jüngsten Elendfällen gesprochen worden.) Gegen neun Uhr abends ruhiger. Jetzt steht höchstens noch der Kontrollpolizist aus. Der ist höflich, der ist nicht Gestapo. Beim Schlafengehen letzter Gedanke: Ich schlafe meist traumlos, nun ist also wohl Ruhe bis morgen früh. (ZAII: 215f. [20.8.1942])628

Der unkalkulierbare Terror, der das Leben der Opfer des Totalitarismus fest im Griff hält, ist, so Hannah Arendt (1998: 731), „das wahre Wesen totaler Herrschaft.“ Die Haupteigenschaft des Terrors bestehe gerade darin, die „Spontaneität als menschliche Verhaltungsweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird.“ (ebd.: 908) Der Gestapo-Terror, den Klemperer aufzeichnet, ist beliebig und wahllos, so dass die potentiellen Opfer unmöglich abschätzen bzw. vorhersagen können, was genau und wann dies auf sie zukommen wird. Die Betroffenen werden somit zu verfügbaren Objekten, welche sich den grausamen Kaprizen des Regimes zu beugen haben. Die Freiheit ist gänzlich aufgehoben und hat ständiger Angst Platz gemacht. Durchgehend vermerkt der Diarist mit penibler Genauigkeit und katalogartig die Details der Verfolgung – die „Mückenstiche“ (ZAII: 503 [8.4.1944]), wie er sie nennt –, die die Opferperspektive der steten Einschnürung des Handlungsraumes erschließen. Das tägliche Leben, dessen flüchtigen Charakter der Tagebuchschreiber in seinen Eintragungen festzuhalten sucht, war indes von der ständigen Existenzangst überlagert, die eine „Ausschaltung des Alltags“ (A 138: 833 [1.4. 1943]) zur Folge hat. Angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen Ausnahmezustand und Normalitätsverlangen bemüht sich der Autor immer wieder darum, „in den Alltag hineinzukommen“ (ZAI: 357 [23.5.1937]) bzw. „in das Vergessen des Alltags“ einzutauchen (A 137: 392 [9.10.1938]).629 Die regelhafte 628 Der Alltag des Grauens ist für Klemperer im Grunde ganz und gar unspektakulär. Es sind vor allem die Allgegenwart des Todes und die Unsicherheit des unangekündigten Verschwindens, die dem Tagebuchautor Furcht einflößen: „Das Fürchterliche ist die Unsicherheit, der schleichende Mord. Niemand erfährt etwas, jeder ist in ständiger Lebensgefahr, das Nichtigste genügt zum Vorwand der Beseitigung.“ (ZAII: 258 [16.10.1942]) Für eine weitere aussagekräftige Passage, die übersichtsartig den Alltag der öffentlichen Unterdrückung und Klemperers Verbitterung über die Kennzeichnung durch den Judenstern veranschaulicht, vgl. LTI: 213ff. Darüber hinaus sei auch auf die umfassende chronologische Wiedergabe des Tagesablaufs während der Zeit seines Zwangsarbeitsdiensts hingewiesen, in ebd.: 449-451 [14.11.1943]. 629 Marion Kaplan (2001b: 21) macht vor diesem Hintergrund auf das Janusgesicht des Nationalsozialismus aufmerksam. Im totalitären Regime bestimmten sowohl Normalität wie auch Terror den Alltag: „Es kann nicht überraschen, daß die Deutschen versuchten, ihr Leben in normalen Bahnen zu halten, versuchten doch sogar die Juden, ihr zunehmend anormales Leben zu ‚normalisieren‘. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, ist es wichtig, daß man die zwei Gesichter des Nationalsozialismus – Normalität und Terror – erkennt.“

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Routine und Wiederholbarkeit des Alltags machen die äußerste Not der Zeitlage vergessen: Der Alltag stellt vor diesem Hintergrund einen heiß ersehnten Ort der Sicherheit und der Ordnung dar, der dennoch stets und unvermittelt vom Tod heimgesucht werden kann. Die Beschäftigung mit dem Tod verfolgt Klemperer als ständige Angstvorstellung: „Nur das Nichtsein, nichts anderes fürchte ich.“ (ZAII: 156 [5.7.1942]) Trotz der Alltagserfahrung bzw. verhältnismäßigen „Normalität“ im „Judenhaus“, die immerhin die Möglichkeit zulässt, sich zu langweilen, Tagebuch zu führen, über einen – obschon äußerst eingeengten – Privatraum zu verfügen, ist es die permanente Furcht vor dem Tod, die als stets drohendes Damoklesschwert über dem Alltag der jüdischen Insassen schwebt: „Und doch liegt über dem Ganzen, den Alltag grausig entnüchternd, die ständige Todesangst.“ (A 138: 862 [10.5.1943]) Diese hebt jegliche Selbstverständlichkeit bzw. Natürlichkeit der erlebten Wirklichkeit auf, „denn, wer sich sterben fühlt, steht außerhalb des Alltags.“ (ebd.: 776 [13.1.1943]) Im zweiten Band ihrer soziologischen Studie Strukturen der Lebenswelt bieten Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1990: 174) einen phänomenologischen Erklärungsansatz für die existenzielle Krisenerfahrung an, wie sie von Klemperer eindrucksvoll in Worte gefasst wird. In Momenten der Lebensgefahr werden die Geltungsansprüche der alltäglichen Wirklichkeit und deren unhinterfragte Selbstverständlichkeit aufgelöst: Die Fundamentalangst [...] ist es ja, die in den schweren Krisen des Lebens die InFrage-Stellung des Alltags motiviert. Aber wenigstens vorläufig wird die Alltagswirklichkeit mit all ihren Relevanzen in Klammern gesetzt. Wir haben es hier mit einer eigenartigen [...] Ausschaltung der Geltungsansprüche zu tun, mit denen die alltägliche Wirklichkeit in der natürlichen Einstellung auftritt. Während er in der Wirklichkeit des täglichen Lebens verharrt, hebt der Mensch in schweren Krisen die Natürlichkeit der natürlichen Einstellung auf.

Die „natürliche Einstellung“, der unbefragte Boden aller Geschehnisse des Sensus communis, wird durch die existenzerschütternde Erfahrung der Judenverfolgung in Frage gestellt. Dieser Umstand ist es, der zu einer versuchsweisen Normalisierung des Ausnahmezustands nötigt: „Und doch zwingen wir uns, und es gelingt auch auf Stunden, unsern Alltag weiterzuleben: vorlesen, essen (so gut es geht), schreiben, Garten. Aber im Hinlegen denke ich: Ob sie mich diese Nacht holen? Werde ich erschossen, komme ich ins Konzentrationslager?“ (ZAI: 483 [3.9. 1939]) Und doch vor dem Hintergrund von Diskriminierung und Deportationsangst tritt schrittweise Gewöhnung und Routine ein: „Über alles hinweg geht der Alltag weiter.“ (A 138: 661 [10.8.1942])630

630 Die einsetzende Gewöhnung an die andauernde Todesangst bringt Klemperer anderweitig wie folgt zum Ausdruck: „Das Seltsamste: All das schüttelt mich immer nur minutenlang: dann schmeckt wieder das Essen, die Lektüre, die Arbeit; alles geht weiter comme si de rien n’était. Aber der seelische Druck ist doch immer da.“ (ZAII: 269 [30.10.1942]; vgl. ebd.: 104 [30.5. 1942])

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Es hat aus Klemperers Perspektive ab 1942 den Anschein, als seien Normalität und Abweichung, Alltag und Mord miteinander untrennbar verzahnt. Die Toleranzschwelle des Diaristen gegenüber Gewalt, Terror und Selbstmord wird stetig höher, bis zu dem Punkt, da man „Gräßliches als das Alltägliche“ (ebd.: 1381 [7.3.1945]) akzeptiert. Dementsprechend werden die vielfach verübten Selbstmorde und Selbstmordversuche der jüdischen Leidensgenossen lediglich zum bloßen fait divers: „Selbstmord, Selbstmordversuch: das Alltäglichste.“ (ZAII: 190 [31.7.1942]) Die Anomie der nationalsozialistischen Gesellschaft, wie sie zumindest aus jüdischer Perspektive wahrgenommen wurde, verspürt Klemperer im Zusammenbruch der ihm bekannten kulturellen Ordnung und der einstmals herrschenden moralischen Normen und Werte. Für das einzelne Individuum ergaben sich im Nationalsozialismus Situationen von subjektivem Rechtsbewusstsein bei objektiven Unrechtshandlungen und objektiven Rechtshandlungen bei subjektivem Unrechtsbewusstsein. Eine dermaßen strukturelle Anomie führte en masse zu kognitiver Dissonanz, die nur durch starke Moralüberzeugungen, die fest in der Persönlichkeit des Einzelnen verankert waren, bewältigt werden konnten (vgl. Lepsius 1993: 241f.). Es liegt auf der Hand, dass, eben weil das Subjekt in solchen anomischen Situationen seine Normstrukturen selbst erschaffen muss, sich kein moralisches Massenverhalten ausbilden konnte, das Widerstand gegen die hervorstechende Ungerechtigkeit des antisemitischen Willkürsystems erlaubt hätte. Vor diesem Hintergrund diagnostiziert Victor Klemperer die moralische bzw. juristische Anomie im Dritten Reich folgendermaßen: „Das Rechtsgefühl geht überall in Deutschland verloren, wird systematisch zerstört.“ (ZAI: 185 [21. 2.1935]) Durch die dem System inhärente Vermittlung von Orientierungslosigkeit, Fremdheit und Ächtung überkommt Klemperer immer wieder „das Gefühl, in absolut regelloser Zeit zu leben.“ (ebd.: 364 [28.6.1937]) Die anomische Regellosigkeit des NS-Systems,631 das der Diarist bildhaft als „sadistische Maschine“ (ebd.: 503 [9.12.1939]) bezeichnet, sieht er weiter „in dem zugleich zermürbenden und abstumpfenden Chaos, der leeren und atemlosen Geschäftigkeit, der absoluten Ungewißheit“ bestätigt (ebd.: 443 [15.12.1938]). Die moralische Anarchie empfindet der Diarist als temporale Diskontinuität bzw. Unzeitgemäßheit, was mit sich bringt, dass er sich „so mittelalterlich hilflos ausgeliefert“ fühlt (ebd.: 306 [27.9.1936]).632 Das Anormale bzw. das „Allerunwahrscheinlichste“ gerät im 631 Die moralische Anomie des Systems, von der die Rede ist, gibt Klemperers Blickwinkel wieder, denn in der nationalsozialistischen Ideologie galt der Antisemitismus als „berechtigte“, „logische“ und „wissenschaftlich untermauerte“ Weltanschauung, deren Durchführung im totalitären Regime juristisch und politisch haarfein geregelt war. Die Ambivalenz der Moderne im Dritten Reich, die zwischen Barbarei und Dekret oszilliert, empfand der Tagebuchautor ab 1933 am eigenen Leibe. Er empörte sich darüber, wie „nackte Gewalttat, Rechtsbruch, schrecklichste Heuchelei, barbarische Gesinnung ganz unverhüllt als Dekret hervortritt.“ (ZAI: 11 [17.3.1933]) 632 Die Kennzeichnung der Zeitlage als „mittelalterlich“ findet sich an mehreren Tagebuchstellen, zumeist im Hinblick auf den eklatanten Antisemitismus, von dem Klemperer betroffen war. Er tadelte in diesem Zusammenhang die „mittelalterlichen Judenbeschimpfungen“ (ebd.: 13

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Dritten Reich zur alltäglichen Norm: „[E]rleben wir nicht immerfort, [...] seit 1933 und in dieser letzten Zeit immer gehäufter, das Allerunwahrscheinlichste, grausig Phantastischste, ist uns nicht das vordem absolut Unvorstellbare zur Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit geworden?“ (ZAII: 702 [18.3.1945]) Klemperer bildet im Tagebuch die vollständige Suspendierung der gängigen Koordinaten von Alltag und Normalzustand ab. Die – aus psychologischer Perspektive wohl lebensnotwendige – Gewöhnung an die herrschende Gewalt633 und die ständige Todesnähe führen dazu, dass ebenso die Angst als Selbstverständlichkeit akzeptiert wird (vgl. ebd.: 300 [30.12.1942]; ebd.: 194 [6.8.1942]). Der Diarist staunt in diesem Zusammenhang über „die unglaubliche Fähigkeit des menschlichen Aushaltens und Sichgewöhnens.“ (ebd.: 104 [30.5.1942]) Die unaufhörliche Kette von Menschenrechtsverletzungen und „ganz üblichen Alltagsscheußlichkeiten“ (US: 222 [6.7.1947]), die zu einer Banalisierung des Menschenlebens führten, machten den Ausnahmezustand zum Alltag und den Alltag der Produktion des materiellen Lebens zur bloßen Regelabweichung (vgl. Jehle 2000: 116). Vor dem Hintergrund der Veralltäglichung von Angst und Entbehrung bilden die Themenzusammenhänge „Hunger“, „Angst“‚ „Krankheit“, „Finanznot“ und „Alptraum“ den Kern der gängigen Probleme, die eindeutig die Befindlichkeit und Stimmung von Klemperers Leben unter dem Nationalsozialismus bestimmen bzw. zum Ausdruck bringen (vgl. ZAII: 151 [2.7.1942]). Sie zeigen, wie der Tagebuchautor in den Jahren der nationalsozialistischen Überherrschung „immer wunder“ wird (ebd.: 562 [16.8.1944]). Klemperers Aufzeichnungen sondieren den jüdischen Alltag im Dritten Reich und stellen anschaulich dar, wie Unterernährung, materielle Not und psychopathologische Symptomatik ihre direkte Ursache in der Judenverfolgung finden. Der kontinuierliche Mangel an Nahrung und die Angst sind feste Bestandteile jedes einzelnen Tages: Werde ich heute verprügelt oder angespuckt werden? ‚Bestellt‘?, verhaftet? Verhaftet bedeutet jetzt sicheren Tod. Weiter: was essen? Die Not ist so sehr groß geworden: Wir haben noch zwei Kartoffelmarken, aber niemand kann sie beliefern..., wir haben gar kein Brot mehr, und die neuen Karten stehen noch aus. (ebd.: 143 [25.6.1942])

Die Unsicherheit, wie sie in der vorliegenden Passage zum Ausdruck wird, ist für das Verständnis des Alltags und zur Erfassung alltäglicher Lebensvollzüge im NSTotalitarismus unerlässlich: Sie gestaltet auf materiellem und psychischem Basisniveau das Selbst- und Weltverhältnis des Tagebuchschreibenden.634 [21.3.1933]) und die „Stimmung wie vor einem Pogrom im tiefsten Mittelalter.“ (ebd.: 15 [30.3.1933]; vgl. ebd.: 93 [24.2.1934]; LTI: 262f.) 633 Klemperer berichtet vor allem im Jahre 1942 fortlaufend von der „kleinen“ Gewalt der Gestapo im „Judenhaus“: Ohrfeigen, Fausthiebe, Spuckattacken, Tritte waren gang und gäbe (vgl. z.B. ZAII: 19f. [8.2.1942]; vgl. ebd.: 93 [23.5.1942]; ebd.: 102 [29.5.1942]; ebd.: 106 [2.6.1942]; ebd.: 120 [11.6.1942]). 634 Klemperers „Leben wie im Unterstand“ (ZAI: 73 [16.12.1933]) wird diesbezüglich auf psychischer Ebene grundsätzlich durch „Müdigkeit und Stumpfheit. Lebensüberdruß und Todesfurcht“ geprägt (ebd.: 14 [21.3.1933]; vgl. ebd.: 26 [30.4.1933]).

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Hunger Im Dritten Reich herrschte besonders seit 1942 schwere wirtschaftliche Not, die in ungleich stärkerem Maß von Juden als von den „Volksgenossen“ verspürt wurde. Einerseits erhielt die jüdische Bevölkerung weniger Lebensmittelkarten, andererseits wurden ihnen bestimmte Lebensmittel ganz vorenthalten.635 Während „arischen“ Deutschen in den ersten beiden Kriegsjahren in der Regel 2250 Gramm Brot, 500 Gramm Fleisch und 270 Gramm Fett pro Woche zugeteilt wurden, bekam die jüdische Bevölkerung immer kleiner werdende Mengen, die für eine ausreichende Ernährung auf die Dauer kaum noch ausreichten.636 In diesem Zusammenhang stellte Klemperer bereits im Jahre 1940 die Tendenz zur Einschränkung der Lebensmittelmarken für Juden fest: Man hat statt fehlender Kartoffeln den Ariern 1750 Gramm Brotzulage gegeben, den Juden 1000 Gramm. Es sind auch wieder Teile der Fleisch- und Nährmittelkarten für Juden gesperrt worden. Ich erhalte jetzt die Karten von der Jüdischen Gemeinde. Auch den Kartoffelschein (Eventualschein) mußte ich dort holen, er wurde mir in Dölzschen verweigert. (ZAI: 511 [11.2.1940])

In den Jahren des größten Mangels – ungefähr von 1942 bis 1945 – litten vor allem die in Deutschland verbliebenen Juden immer mehr unter der vom NSRegime herbeigeführten Hungersnot, ohne aber längere Perioden ohne Nahrung auskommen zu müssen. Um den Energiewert der spärlichen Ernährung zu steigern, bürstete Klemperer sonntags für sich selbst und seine Frau die wenigen Kartoffeln, damit man sie samt der Schale verzehren konnte (vgl. ebd.: 690 [30.11.1941]). Dennoch wurde die Versorgungslage immer prekärer. Die Nachricht, dass das NS-Regime – gut ein Jahr später – den Juden Fleisch und Weißbrot entziehen wollte, deprimierte den Diaristen zutiefst: Gestern [...] kam das unglaubliche Gerücht, das sich heute bewahrheitete: Den Juden werden alle Fleisch- und alle Weißbrotmarken entzogen. Vor wenigen Wochen wurde angekündigt: Vermehrung der Fleisch- und Brotration, weil es um Deutschlands Ernährung immer besser stünde; vor wenigen Tagen erklärte Goering: Das deutsche Volk werde nicht hungern, das Hungern überlasse er notfalls den besetzten Gebieten. Und nun also können die Juden wie die gefangenen Russen die Mülltonnen durchsuchen. Ich bin tief deprimiert. (ZAII: 256 [14.10.1942])

635 Dies war beispielsweise der Fall für Kaffee (vgl. ZAI: 559 [25.10.1940]), Spargel (vgl. ZAII: 87 [18.5.1942]) oder Fisch (vgl. ebd.: 88 [18.5.1942]). Ende Oktober 1942 gab es dann – wie im oben zitierten Passus – schließlich auch keine Fleisch- und Weißbrotrationen mehr für Juden (vgl. ebd.: 256 [14.10.1942]; A 138: 713 [17.10.1942]). Die Angst, dass die Gestapo Verstößen gegen diese Verbote auf die Spur kommen könnte, begleitete kontinuierlich Klemperers Alltag (vgl. ZAII: 46 [16.3.1942]). 636 Eine eindringliche historische Analyse des Versorgungsdefizits in der deutsch-jüdischen Bevölkerung in der Vorkriegszeit liefert Kwiet (1988: 606f.). Zur Lage in den „Judenhäusern“, in denen man gezwungen war, auf engstem Raum Schmerz, Leid und Hunger miteinander zu teilen, vgl. ebenfalls Maurer (2003: 352).

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Die relativ strikte Nahrungsrationalisierung zog schon bald Hunger und Schwäche nach sich.637 Der quälende, nagende Hunger, dem man sich täglich ausgesetzt sah, war allgegenwärtig im Leben der Insassen des „Judenhauses“. Ihm war wohl kaum zu entkommen, und er beschäftigte Klemperer als Dauerthematik in den Tagebüchern: „Viele Gedanken absorbiert das Essen – Kartoffelnot und Hunger und Müdigkeit.“ (ebd.: 309 [13.1.1943]) Eva und Victor Klemperer hungerten, aber im Gegensatz zu KZ-Häftlingen oder Ghettobewohnern verhungerten sie nicht: Die Juden etwa in Theresienstadt, „sollen ungleich mehr hungern, als hier gehungert wird.“ (ebd.: 561 [14.8.1944]) Die moralische und physische Verelendung in den Lagern war Klemperer in solchem Maße fremd, dass er sich im Mai 1942 noch über die Einseitigkeit der Ernährung beklagen konnte (vgl. ebd.: 76 [3.5.1942]).638 Die ohnehin karge Kartoffelrationierung – obwohl die Frucht das Grundnahrungsmittel schlechthin darstellte – wurde regelmäßig weiter eingeschränkt: „Sieben für Eva, Vier für mich – aber auch mit der arischen Sieben ist wenig anzufangen.“ (ebd.: 290 [11.12.1942])639 Victor Klemperers Alltag wird durch den Hunger schwer beeinträchtigt. Die Gewöhnung an das Grauen, die Angst und die körperlichen Mängel lassen den Diaristen apathisch und „zum Fatalisten“ (ebd.: 143 [24.6.1942]) werden, und er kümmert sich überwiegend nur noch um das eigene Leben: „Man wird eben stumpf und mürbe, man möchte nur noch das nackte Leben retten.“ (ebd.: 274 [13.11.1942]; vgl. ebd.: 284f. [29.11.1942]) Das Hungern führt zu einer animalischen Zurückgeworfenheit auf das bloße Überleben des Ich, durch die sich die Bewohner des „Judenhauses“ radikal voneinander entsolidarisierten. Die psychische Extrembelastung korrespondiert mit einer Ichbezogenheit, die auf Kosten des Wohlergehens anderer Leidensgefährten geht. Der Tagebuchschreiber beschreibt vor diesem Hintergrund ungeschminkt, wie er von Mitbewohnern – und vor allem von der befreundeten Kätchen Sara – Nahrungsmittel stiehlt: „Das jämmerliche Hungern: Wie oft stehle ich Kätchen eine Schnitte Brot aus ihrer Brotbüchse, ein paar Kartoffeln aus ihrem Eimer, einen Löffel Honig oder Marmelade.“ (ebd.: 112 [6.6.1942]) Einige Wochen später gesteht Klemperer seine andauernden „Diebereien“ ein. Er sucht vergebens, sein Gewissen zu beruhigen, dennoch wirkt der wiederholte Mundraub höchst demotivierend und entwürdigend auf sein Gemüt: Heute hätte mich Kätchen um ein Haar dabei überrascht, wie ich ihr Brot stahl und Zucker stehlen wollte. Was wäre daraus entstanden? Es ist wirklich der nackte Hunger, der mich zu diesen Mundräubereien treibt. (Mit denen ich Kätchen wirk637 Zur Veranschaulichung des Hunger-Themas in Klemperers Tagebüchern vgl. Jacobs (2000: 246f.) und Papp (2006: 172f.). 638 Die Kartoffel hatte einen dermaßen wichtigen Stellenwert im Kampf ums Überleben, dass sie im Ghetto nicht nur Nahrungs-, sondern auch Zahlungsmittel war und auf diese Weise zum Symbol materiellen Überlebens wurde. Zur Bedeutung der Kartoffel im Ghetto Theresienstadt vgl. Wögerbauer (2003). 639 Diesbezüglich hält der Diarist fest: „Alle, aber ganz besonders die Sternträger [...] leiden ungemein unter Hunger.“ (A 138: 1236 [31.10.1944])

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lich nicht schade. Sie ißt wenig, ist gut versehen durch die Mutter, läßt vieles verkommen.) Ich empfinde es als grauenhafte Erniedrigung, daß ich diese Diebereien ausführe. (ebd.: 147 [26.6.1942]; vgl. ebd.: 158 [7.7.1942]; ebd.: 174 [20.7.1942]; ebd.: 175 [21.7.1942])

Klemperer, gedemütigt, dem Hunger ausliefert, stumpfte zusehends moralisch ab und ergaunerte Essen und Essensreste bei manchen jüdischen Leidensgefährten. Er freute sich sogar über deren Abtransport, weil er auf diese Weise zusätzliche Rationierungsmarken oder ihre restlichen Lebensmittel wie Brot und Kartoffeln an sich bringen konnte. Der Nahrungstrieb und das Selbsterhaltungsstreben führten zum fast völligen Schwinden des Mitgefühls mit Leidensgenossen. Nach dem Selbstmord einer Mitbewohnerin, Frau Pick, schrieb Klemperer beispielsweise: „Wieder konstatiere ich bei mir völlige Herzenskälte und Stumpfheit. Mein erster Gedanke: Wir werden Kartoffeln erben.“ (ebd.: 214f. [20.8.1942]; vgl. ebd.: 255 [9.10.1942]; ebd.: 105 [30.5.1942]; ebd.: 611 [14.11.1944])640 Angst Neben den kontinuierlichen Vermerken über Hunger und Nahrungsmangel fokussieren Klemperers Kriegsnotizen auf die peniblen Vorschriften, durch die das Leben im „Judenhaus“ bis ins Kleinste geregelt ist. Zugleich herrscht trotz rigider Bestimmungen Terror-Willkür, da die jüdischen Verfolgten dem Gutdünken der SS und der Gestapo ausgesetzt sind, die nach Lust und Laune über ihr Schicksal entscheiden. Die Angst vor dieser Willkür ist allgegenwärtig: „Ständige Angst vor Haussuchung. Gestapo soll gräßlich hausen.“ (ebd.: 35 [1.3.1942]) Der Terror der Ungewissheit konstituiert sich in erster Linie nicht durch den topographischen Kontext des „Judenhauses“, sondern vor allem indem aufgezeigt wird, wie dieser Terror – durch die vielfachen Verbote und Gebote – in das Sein, aber vor allem in das Bewusstsein und die Psyche der verängstigten, unterdrückten Insassen eindringt. Die Gegenwart der Judenverfolgung ist geradezu durch Zeitlosigkeit ge640 Die „vollkommene Gefühlskälte“ (ZAI: 530 [26.5.1940]), die der Diarist dauernd in sich selbst verspürte, geht auf die Auflösung eines solidarischen sozialen Netzes zurück: Nur das nackte Überleben zählte. Bereits im Jahre 1936, als die antisemitischen Verordnungen nach der Olympiade 1936 allmählich wieder strenger wurden, notierte Klemperer in Bezug auf die tödliche Krankheit seiner Schwester Wally: „Widerwärtig ist mir die eigene Herzenskälte wider Willen. Immer das gräuliche: Hurrah ich lebe, dazu das Rechnen, wie lange Zeit mir noch vergönnt sein mag.“ (ebd.: 298 [24.8.1936]; vgl. ebd.: 306 [27.9.1936]) Auf durchaus ähnliche Weise heißt es gut ein Jahr später: „Es ist überhaupt, wie ich schon oft konstatiert habe, nicht mehr viel Gefühl für die Menschen in mir übriggeblieben. Eva – und dann kommt schon der Kater Mujel.“ (ebd.: 374 [17.8.1937]) Das dauerhafte Gefühl von Betäubung und emotionaler Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber tritt im Laufe der NS-Herrschaft immer stärker in den Vordergrund. Die häufigen Selbstmorde und sonstigen Todesfälle im „Judenhaus“ verstärkten noch zusätzlich Klemperers geradezu verbissenen Überlebenswillen. Im Hinblick auf Moritz Stühler, der im Dezember 1944 an septischer Angina starb, schreibt der Diarist: „Ich bin eine vollkommen kalte Bestie: Evas u. mein Leben ausgenommen, und das ist nur zweimal Ich, Eva ist mir Notwendigkeit, läßt mich alles Sterben gleichgültig, u. wenn ein Jüngerer stirbt – Stühlers Geburtsjahr ist 1897! –, bedeutet das eine Art Triumph für mich.“ (A 138: 1261 [1.12.1944])

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kennzeichnet, denn das Leben der jüdischen Opfer steht Tag für Tag unter dem stets gleichen Diktat der Vorschriften und Regeln wie dem der Willkür und des Terrors der Nationalsozialisten. Das Zurückgeworfen-Sein auf eine Minimalstufe des Daseins, wie Reinhart Koselleck (1979: 291) erläutert, führte zu einer „Inversion der Zeiterfahrung“: „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hörten auf, Orientierungslinien des Verhaltens zu sein.“641 Klemperer sah demgemäß auch seine Zeiterfahrung aufgehoben: „Es ist gar nicht zu sagen, wie sehr mir der Abreißkalender fehlt. Die Zeit steht still.“ (ZAII: 304 [3.1.1943]; vgl. ebd.: 582 [14.9.1944]) Der Uniformität des Alltags mit all ihren menschlichen Abgründen, dem veränderten Zeitbewusstsein und der erzwungenen Engführung auf das Bestreben des nackten Überlebens wird in den Tagebüchern breiter Raum gewidmet. Zu den Charakteristika des NS-Alltags, wie er von Klemperer geschildert wird, zählen Einförmigkeit, Wiederholung, Banalität oder gar Trivialität, zu denen sich auf unvergleichliche Weise Furcht, Beklemmung, Mutlosigkeit und Unsicherheit gesellen. Krankheit Zu Klemperers diaristischer Selbstbeobachtung gehört notwendig der Blick auf die eigene – mangelhafte – Gesundheit. Die gesundheitlichen Beschwerden ziehen sich kontinuierlich durch das gesamte Tagebuchkonvolut.642 Klemperer erkennt vom Beginn der NS-Diktatur an in verstärktem Maße seine körperliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, seine Krankheiten und Gebrechen. Der Körper in Klemperers Tagebüchern ist immer ein kranker, alternder Körper und somit stets Quelle von Leid und Todesfurcht. Dieser körperliche Zustand, der ihn „sehr trübselig an [s]ein Alter und [s]ein Herz erinnert,“ scheint ein geradezu permanenter Zustand zu sein (ebd.: 264 [29.10.1942]). Die vorgetragenen Klagen über Krankheit und Altern klingen wie eine Beschwörung des Todes, der ihm größte Angst einflößt. Die aufmerksame, behutsame Beobachtung des eigenen Körpers im Tagebuch kompensiert die totale Irrelevanz seines Lebens und Leidens für das NS-Regime, das sich die restlose Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zur Aufgabe gestellt hatte. Die Ichbezogenheit wird zum Antidoton gegen die feindliche Allmacht des Totalitarismus und erlaubt es, eine identitätssichernde Distanz zur befremdenden Wirklichkeit zu bewahren. Das diaristische Schrei641 Bereits am 28. Dezember 1937 stellte Klemperer vor diesem Hintergrund „das fürchterliche Stillstehen der Zeit, das hoffnungslose Vegetieren“ fest (ZAI: 390 [28.12.1937). 642 Klemperer referiert nicht nur den eigenen Gesundheitszustand, sondern besonders ausführlich auch Evas Neigung zur Depression infolge der totalitären NS-Diktatur: „Eva ist mit ihren Nerven völlig zu Ende. Der politische Abscheu und die unheilvolle Wirkung auf unsern Kredit gehen bei ihr zusammen. Kein Morgen ohne heftigstes Weinen, kein Tag ohne Nervenzusammenbruch.“ (ebd.: 24 [25.4.1933]) Die Zeitgeschichte bildet stets die Folie, vor der Evas angegriffene Gesundheit geschildert wird: „Sie ist gesundheitlich total herunter. Sehr lange hält sie die Situation nicht mehr aus.“ (ebd.: 567 [26.12.1940]) Auch ihren chronischen Zahnschmerzen und Zahnoperationen werden etliche Seiten gewidmet (vgl. stellvertretend für viele andere z.B. ebd.: 142 [2.2.1935]); ebd.: 374 [5.9.1937]; ebd.: 502 [9.12.1939]; ebd.: 659 [10.8. 1941]).

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ben unterstützt vor diesem Hintergrund die alltägliche, normalisierende Arbeit der Selbstgestaltung, indem es ein effektives Mittel der Einwirkung auf sich selbst darstellt (vgl. Marszałek 2003: 112). Das Tagebuch bietet sich mithin als privater Ort des ungehinderten Sprechens über die eigene körperliche Verfassung an. Als Selbstbehauptungsversuch stellt die Rede über den kranken Körper ein Bestreben dar, die freie Selbstverfügbarkeit zu erhalten. Im Bannkreis der Schmerzen wird der Diarist, der mit dem Tagebuch tendenziell keine Publikation beabsichtigte, zur inflationären Beschreibung seiner Beschwerden verführt. Die Reflexionen über Krankheit und physischen Verfall laufen oft auf Todesangst und die Angst, spurlos zu verschwinden, hinaus: Wenn ich morgens mit schmerzenden Händen und tauben Füßen aufwache, wenn mir beim Gehen der Schlund schmerzt und die Schmerzen den linken Arm hinunter in die Hand gehen – dann denke ich oft, weder mein Dix-huitième noch mein Curriculum werden je zu Ende kommen. (ZAII: 54 [24.3.1942]; vgl. A 136: 247 [23.3.1935])

Im Zusammenhang mit Klemperers gesundheitlichen Problemen – vor allem Herzbeschwerden und Angina –643 wird dem Schreiben gegen den Tod immer mehr Bedeutung beigemessen, und doch stellt sich der Tagebuchautor die Frage, welchen Zweck das schriftlich Gespeicherte letztendlich für ihn haben sollte: Seit 12 Jahren habe ich nichts mehr publiziert, nichts mehr zu Ende führen können, nur immer gespeichert und gespeichert. Hat es irgendwelchen Sinn, wird irgendetwas von alledem fertig werden? Die Engländer, die Gestapo, die Angina, die dreiundsechzig Jahre. Und wenn es fertig wird, und wenn es Erfolg hat, und wenn ich ‚in meinen Werken fortlebe‘ – welchen Sinn hat das alles ‚an und für mich‘? (ZAII: 595 [27.9.1944])

Die britischen Angriffe auf Dresden, der Gestapo-Terror, die Krankheit und das Alter des Tagebuchschreibenden rufen „das Memento“ des Todes an (ebd.: 510 [2.10.1944]) und damit die Sinnlosigkeit bzw. vanitas des autobiographischen 643 Die körperlichen Unpässlichkeiten – Fieber, Herzklopfen und -leiden, Angina Pectoris –, über die sich der Diarist häufig beschwert, laufen zumeist auf eine zeitweilig verstärkte Vergegenwärtigung des memento mori-Gedankens hinaus. Die Klagen beinhalten häufig „die üblichen täglichen Herzbeschwerden, das ständige Memento“ (ebd.: 160 [4.11.1934]; vgl. ebd.: 187 [27.5.1935]; ebd.: 211 [21.7.1935]; ebd.: 219 [16.9.1935]). Klemperers Todesfurcht aufgrund seiner geschwächten Physis zog sich durch die ganze zwölfjährige Periode der NS-Herrschaft. Beständig beklagte sich Klemperer in der Endphase des Krieges über die „bösen Herzbeschwerden, an denen das Memento das Böseste ist“ (ZAII: 323 [30.1.1943]; vgl. ebd.: 436 [28.9.1943]; ebd.: 499 [21.3.1944]; ebd.: 637 [10.1.1945]); ebd.: 645 [20.1.1945]; ebd.: 679 [20.2.1945]). Vielerorts brachte der Diarist weitläufig seine Angst vor den möglicherweise schlimmen Folgen seiner körperlichen Leiden zum Ausdruck. Oftmals war der Tagebuchautor der festen Überzeugung, dem Lebensende nahe zu sein und „noch zwei, drei Jahre vor mir zu haben.“ (ZAI: 145 [26.9.1934]) Oder in einem ähnlichen Tenor einen Tag später: „Aber mein erstes Pensionsjahr wird 1935 beginnen, und bald danach werde ich begraben sein.“ (ebd.: 148 [27.9.1934]) Ab dem Einzug in das Dresdener „Judenhaus“ 1940 vermischen sich die Krankheitsbeschwerden mit der fortwährenden Deportationsangst: „Dabei erwarte ich jeden Tag Verhaftung, u. wenn ich vom Hitlerismus verschont bleibe, wird mich die Angina töten.“ (A 138: 627 [8.7.1942])

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Unternehmens. Dem oben Zitierten nach hat es den Anschein, als sei die Physis ein tyrannischer Gegenspieler, genauso wie Krieg und Holocaust. Die geschichtlichen Ereignisse von Krieg und Judenverfolgung schwingen im Hintergrund der Krankheitsberichte immer mit. Das Kranksein steht in der Tat stets in Verbindung mit der Zeitgeschichte; das Private und das Öffentliche fließen unmerklich ineinander über: Sehr plötzlich bildete sich bei Eva ein Zahnabszeß und mußte heut geschnitten werden. Ekelhaftes Intermezzo. – Bei mir gleichbleibende Herzbeschwerden. Sprache des 3. Reiches: Will Vesper; Landesleiter der Reichsschrifttumskammer, zur ‚Buchwoche‘, ‚Dresdener NN‘ 26. 10.: ‚‚Mein Kampf‘ ist das heilige Buch des Nationalsozialismus und des neuen Deutschland.‘ (ZAI: 225 [26.10.1935])

Zahnabszess, Herzbeschwerden und LTI-Information zur Buchwoche gehen im vorliegenden Passus eine nahtlose Verbindung ein, die körperliche und psychische Unbequemlichkeit spiegelt die krisenhafte Zeitgeschichte wider. Auch in der nachfolgenden Passage wird die hermeneutische Dialektik von Privat- und Großgeschichte ersichtlich. Die stagnierende Kriegslage kommt symptomatisch in der Krankheit und den Schmerzen des Einzelnen zum Tragen: Äusserste Depression über das Stocken der russischen Offensive. Es ist nicht abzusehen, warum auf diese Weise der Krieg nicht noch Jahre dauern soll. Und die Nichtigkeit meines Lebens, die Leere der 9 Arbeitsstunden wird mir täglich qualvoller. Alle Hoffnung der letzten Zeit ist wieder einmal in sich zusammengefallen. Dazu unser beider Gesundheitszustand schlecht. Evas wohl hauptsächlich infolge der Zahnaffaire, die sie am Kauen hindert u. mit Schmerzen plagt. Und morgen soll die Operation der andern Mundhälfte vorgenommen werden. Noch einmal 3 Wurzeln. Mich selber quälen in erster Linie u. über alle Maßen die Augen. Dazu ständige Übermüdung u. fortgesetzt grippöse Erscheinungen. Und beim Gehen spüre ich mein krankes Herz. (A 138: 1065 [25.4.1944])

Die Stimmung der Notizen wird nicht nur deutlich von den fortlaufenden Krankheitsvermerken geprägt, sondern ebenso durch die ständige Finanznot, die die Klemperers quält. Finanznot Das nach Klemperers Zwangsentlassung 1935 halbierte „Ruhegehalt“ verringerte sich stetig über die Jahre, bis die Auszahlung Ende 1943 schließlich endgültig eingestellt wurde. Mit seiner „Entpflichtung“ vom Lehramt am 1. Mai 1935 wurden ihm nicht nur sozialer Status und finanzielle Absicherung abgesprochen, sondern auch seine Zugehörigkeit zum Deutschtum, die er in seiner Ordentlichen Professur bestätigt sah. Der schweren finanziellen Lage konnte Klemperer anfangs noch durch die Kündigung seiner Lebensversicherung die Stirn bieten. Das Ehepaar Klemperer entließ überdies seine Haushaltshilfe, kündigte das Telefon, und Victor Klemperer musste das Rauchen seiner geliebten Zigarillos aufgeben und seine Bücher verkaufen. Doch diese Einsparungsmaßnahmen reichten nicht aus. Vor diesem Hintergrund wurde der ältere Bruder Georg herangezogen. Nach Boston emigriert und dort als Chirurg tätig, vermochte er seinen Bruder

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Victor finanziell zu unterstützen. Trotz den vom Finanzamt auferlegten Devisenbestimmungen halfen seine Überweisungen aus den USA den Klemperers kurzfristig, über die Runden zu kommen (vgl. ZAI: 373 [17.8.1937]). Diese Abhängigkeit von der finanziellen Hilfe seines besonders erfolgreichen älteren Bruders empfand Victor als äußerst demütigend, wurde ihm dadurch doch seine persönliche bzw. familiäre Niederlage schmerzlich vor Augen geführt. Die Bitterkeit, die mit der Annahme dieser Spenden einherging, war auch einer der Gründe, warum Klemperer der Auswanderungsmöglichkeit so negativ gegenüberstand (vgl. ebd.: 689f. [28.11.1941]).644 Die wirtschaftliche Notlage teilt Victor Klemperer mit anderen deutschen Juden. Doch auf den ersten Blick scheint er sich diesen gegenüber nicht solidarisch zu fühlen. Die Boykottaktionen und Gewaltakte gegen jüdische Läden, eingeleitet von der SA und der nationalsozialistischen Mittelstandsorganisation, finden kaum Eingang in Klemperers Tagebücher.645 Die Arisierung jüdischer Betriebe, die Bereicherung der „arischen“ Deutschen auf Kosten der jüdischen Ladenbesitzer, die dazu gezwungen wurden, ihnen ihre Geschäfte zu überlassen, erscheinen in den Anfangsjahren tendenziell am Rande der Eintragungen. Klemperer betrachtet diese antisemitischen Geschehnisse in den ersten Jahren aus Distanz, obwohl er im Grunde schon längst Betroffener war. Im Silvesterfazit 1935 sieht der Diarist infolge seiner Amtsenthebung zunehmende Finanzprobleme auf sich zukommen, ohne jedoch der Verzweiflung anheimzufallen: Sehr bitter war die Regelung meiner ‚Ruhestandsbezüge‘. Der Schaufensterparagraph der mit vollem Gehalt zu entlassenden jüdischen Frontkämpfer wurde nicht angewendet – er ist für das Ausland da, ist Lüge, wie alles und jedes Tun dieser Regierung –, auch nicht die Emeritierung, sondern der Überflüssigkeitsparagraph 6. Man errechnete 61 Prozent und zahlte mir auf die 480 ‚vorläufigen‘ Mark im Monat für 6 Monate 59 M nach. Ich muß also mit etwa 490 M auskommen. Andere leben mit weniger Geld, und es wird gehen, aber es ist um so bitterer, als wir uns doch etliche Wochen in Hoffnungen auf das volle Gehalt wiegten. Diese Geldsache soll uns aber auf keinen Fall zur Verzweiflung bringen. (ebd.: 232 [31.12.1935])

Die Finanznöte, denen in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft breiter Raum gewidmet wird,646 werden im Laufe der Jahre immer erdrückender, 644 Zur Emigrationsfrage in Klemperers Tagebüchern vgl. Wildt (1997: 60) und den sehr ausführlich dargestellten Abschnitt in Faber (2005: 220-257). 645 Die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen jüdische Läden, obwohl sie keineswegs im Mittelpunkt von Klemperers Interesse standen, zeichnete er z.B. im nachfolgenden Notat auf, in dem er mit Abscheu die Boykottaktionen und die Volkshetze gegen sie kommentierte: „An den Straßenbahnschildern der Prager Straße: ‚Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter‘, in den Schaufenstern der kleineren Läden unten in Plauen Aussprüche und Verse aus allen Zeiten, Federn und Zusammenhängen (Maria Theresia, Goethe! etc.) voller Beschimpfungen, dazu: ‚Wir wollen keine Juden schauen / in unsrer schönen Vorstadt Plauen.‘“ (ZAI: 212 [11.8.1935]; vgl. ebd.: 18 [3.4.1933]; ebd.: 16 [31.3.1933]) 646 In den ersten Jahren des Dritten Reiches finden sich in den Aufzeichnungen geradezu unaufhörlich Klagen über die schwierige Finanzlage, die durch die antisemitische NS-Politik ausgelöst wurde. Eintragungen wie „meine Finanzen sind am Zusammenbrechen“ (ebd.: 26 [30.4. 1933]), „die geradezu unwürdige Geldnot“ (ebd.: 178 [15.1.1935]), „[s]tändige Verarmung

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kommen aber dennoch in der zweiten Hälfte der NS-Herrschaft nur noch zu marginaler Bedeutung, da sie ab dem Jahr 1938 von existenzgefährdenden Bedrängnissen überlagert werden. Als sich die Lage für die jüdische Bevölkerung verschlimmerte, wurde dem Tagebuchschreiber allmählich klar, dass die Crux der Sache nicht im Sicherstellen von Hab und Gut lag, sondern dass die Hauptsorge schlichtweg dem nackten Überleben gelten musste: „Mehr als das Haus und den letzten Pfennig verlieren kann ich nicht; und als Bettler nehme ich wie zahllose andere zu Bettlern Gewordene öffentliche Hilfe, d. h. Hilfe der Jüdischen Gemeinde, in Anspruch.“ (ebd.: 516 [19.4.1940]) Gegen Ende des Krieges kommt den Geldsorgen nur noch eine untergeordnete Rolle zu. Klemperer gibt abgeklärt zu bedenken: „[D]iese Geldsorge bedrückt mich wenig. Sie scheint mir klein, wo ich mich immer [...] in unmittelbarer Todesnähe sehe.“ (ZAII: 634 [31.12. 1944]) Alptraum Ein gelegentlich wiederkehrendes Thema der Alltagsschilderung stellen die Träume – Alp- und Gewaltträume – Klemperers dar, die er als Chiffren individualpsychologischer Einverleibung des NS-Terrors im Tagebuch festhielt. Freud bemerkt in Bezug auf den Traum die psychologische Ähnlichkeit zum Witz, da beide über Verdichtung und Verschiebung eine sozial aufschlussreiche Ausdrucksweise der menschlichen Psyche darstellen: Die interessanten Vorgänge der Verdichtung und Ersatzbildung, die wir als den Kern der Technik des Wortwitzes erkannt haben, wiesen uns auf die Traumbildung hin, in deren Mechanismus die nämlichen psychischen Vorgänge aufgedeckt worden sind. Eben dahin weisen aber auch die Techniken des Gedankenwitzes, die Verschiebung, die Denkfehler, der Widersinn, die indirekte Darstellung, die Darstellung durchs Gegenteil, die samt und sonders in der Technik der Traumarbeit wiederkehren. (Freud 1992: 103)

Träume ebenso wie Witze drehen sich – trotz unterschiedlicher sozialer Funktionalisierung –647 auf codierte Weise um verdrängte und unterdrückte Wünsche, Ängste und Konflikte, die von kulturhistorischer Relevanz sein mögen.648 Träume haben neben ihrer rein persönlichen Komponente tatsächlich auch kulturelle Bedeutung, die aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive faszinierende Einblicke in die NS-Periode gewähren kann. Die Feststellung des unwiederbringlichen Verluund steigende Finanznot“ (ebd.: 328 [31.12.1936]) oder „völlig trostloser Geldmangel“ (ebd.: 336 [5.2.1937]) sind in dieser Periode gang und gäbe. 647 Freud (1992: 192) drückt den betreffenden Unterschied zwischen Traum und Witz folgendermaßen aus: „Der Traum ist ein vollkommen asoziales seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen; innerhalb einer Person als Kompromiß der in ihr ringenden seelischen Kräfte entstanden, bleibt er dieser Person selbst unverständlich und ist darum für andere völlig uninteressant. [...] Der Witz dagegen ist die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen. Er [...] verlangt seine Vollendung durch die Teilnahme eines anderen an dem von ihm angeregten seelischen Vorgange.“ 648 Für eine nutzbringende Einführung in die Kulturgeschichte des Traums und eine kritische Besprechung von dessen Stellenwert als historisches Dokument vgl. Burke (1998: 37ff.).

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stes der Heimat und die entsprechende sentimentalische Topikalisierung der Vaterlandsliebe hat Charlotte Beradt in ihrer Studie Das Dritte Reich des Traums (1966) anhand einer Sammlung von Träumen aus dem Zeitraum der NSHerrschaft aufgezeichnet. Gemeinsam ist den Heimwehträumen der deutschen Juden, dass die erschütternde Erfahrung von „Selbstentfremdung, Entwurzelung, Isolierung, Identitätsverlust und Brechung der Lebenskontinuität“ in ihnen stets an zentraler Stelle steht (Beradt 1966: 10). Alle zeugen mit sentimentalem Pathos vom „ahasverischen Fluch,“ der ab 1933 auf den Träumenden lastet und ihnen eine Rückkehr in die vertraute Heimat verwehrt (ebd.: 143). Wie Reinhart Koselleck (1979: 283f.) im Hinblick auf ihren historischen Quellenwert hervorhebt, stehen Träume gewiss am äußersten Extrempol einer denkbaren Skala geschichtlicher Rationalisierbarkeit; aufgrund ihres prognostischen Zeugnischarakters geben sie jedoch Aufschluss über die Zeiterfahrung im Dritten Reich, indem sie eine ihnen inhärente „Faktizität des Fiktiven“ zu erkennen geben. Klemperers Träume stellen ausdruckskräftige Beispiele für die von Koselleck aufgezeigte zeitdiagnostische Ikonizität jüdischer Träume im Dritten Reich dar. In der Kombination aus unerledigten Tagesresten, tiefenpsychologischen Verschiebungen, als Konglomerat aus Unsicherheit und Angst erfüllen sie eine Ventilfunktion und geben, ohne unmittelbar durch das Tagesbewusstsein zensiert zu sein, die Zeiterfahrung der Gegenwart wieder. In einem Eintrag vom April 1936 zeichnet Klemperer einen Traum auf, in dem die Kriegsdrohung vorweggenommen wird: Ich hatte heute einen für die allgemeine Lage charakteristischen Traum. Die Zeitung war viele Seiten lang mit einer Regierungserklärung fett bedruckt: ein Ultimatum, der Krieg sollte ‚andernfalls‘ in 24 Stunden beginnen. Und ich konnte nicht herausbekommen, wer der Gegner sei. Es schien mir: die Türkei, aber ich konnte es wirklich nicht genau verstehen. Ich wollte Eva fragen und wachte auf. (ZAI: 258 [24.4.1936])

Später bemerkte Klemperer zu seinem Traum: „[D]as Grauen saß (und sitzt) wie eine dumpfe, ekelhafte Selbstverständlichkeit in mir, alles Denken und Tun geht nur eben darüber hin.“ (ZAII: 363 [27.4.1943]) Die Träume, so stellt sich heraus, erweisen sich als leiblich manifest gewordene Erscheinungs- wie Vollzugsformen des NS-Terrors, woher auch ihre politische Bedeutung rührt, die das rein Persönliche übersteigt. Sie eröffnen einen Bereich prognoseträchtiger Qualität, in dem der menschliche Verstand zu versagen scheint, in dem sie jedoch als Zeugnis für Faktizität eingebracht werden:649 Die Träume erschließen damit über ihren schriftlichen Quellenstatus hinaus eine anthropologische Dimension, ohne die der Terror und seine Wirksamkeit nicht verstanden werden können. Es sind nicht nur Träume vom Terror, es sind zunächst 649 Klemperer macht in folgendem Traumbericht die immer gegenwärtige Todesangst fassbar: „[N]eulich träumte ich [...], ich sollte in einer Gefängniszelle erhängt werden. Hinrichtungsträume habe ich als ganz junger Mensch gehabt. Seitdem nicht mehr. Damals war es wohl die Pubertät; jetzt ist es die Gestapo.“ (ZAII: 216 [20.8.1942])

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und vor allem Träume im Terror, der den Menschen bis in seinen Schlaf hinein verfolgt. (Koselleck 1979: 286f.)

Auch Klemperers Träume bringen vor diesem Hintergrund prägnant die Wahrnehmung und Deutung des Totalitarismus von der Opferseite her zum Ausdruck. Als „Zeugen für Erfahrungsbefunde in eventum“ (ebd.: 294) sind sie von kulturhistorischem Interesse, indem aus ihnen ersichtlich wird, wie das Terrorsystem auf die Psyche des Einzelnen einwirkt und sein Denken und Fühlen – bis in den Schlaf hinein – bestimmt. Obgleich Klemperer nur selten seine Träume zu Papier bringt, bildet die traumatische Erfahrung der Heimatverweigerung und Judenverfolgung das Herzstück seiner Träume, aus denen die Engführung von Terror, Angst und Stigmatisierung ausdrucksvoll hervorgeht. Die rassistische Stigmatisierung durch den Davidstern, dessen Einführung am 19. September 1941 für den Tagebuchautor den bis dahin schwersten Schlag bedeutete (vgl. ZAI: 703 [31.12.1941]), wird mehrmals als Traumobjekt aufgegriffen, wie im nachfolgenden Vermerk: Ich träume so selten. Und heute früh wachte ich geängstigt auf. Es war so heiß, ich hatte an einer Trambahnstelle meinen Mantel zusammengerollt auf den Boden gelegt (den Mantel mit dem Stern) und stand im Jackett ohne Stern. Zwei Herren redeten mich an: ‚Wir haben Sie doch schon oft mit dem Judenstern gesehen. Wieso ...?‘ Darüber wachte ich mit einem scheußlichen Angstgefühl auf. Neulich im Traum gehängt, heute sternlos, es kommt auf dasselbe hinaus. (ZAII: 221 [23.8. 1942])650

Wie das Vorhergehende zeigt, geben prima facie rein private Gefühle bzw. Erfahrungen wie Hunger, Angst, Krankheit, Finanznot oder Alpträume Einblick in die unauflösbare Interdependenz von Mikro- und Makrogeschichte, Individual- und Kollektiverfahrung, Erlebnis und Ereignis: Die Geschichte von Antisemitismus, Holocaust und Krieg wird erst über die privat erlebte Bedrängnis fassbar gemacht, während diese wiederum nur im Hinblick auf den allgemeinen Geschichtsverlauf nachvollziehbar wird. Die Tagebücher Victor Klemperers zeigen beispielhaft, wie die krisenhafte Zeitgeschichte zu einer privaten Krisenzeit wird. Vor diesem Hintergrund, so lautet die These, die im Folgenden weiter erprobt werden soll, stellen die Tagebücher literarische Paradefälle mikrologischer Geschichtsschreibung dar, die in den privaten Miniaturen des Diaristen die militärische und politische Großgeschichte vergegenwärtigt und aufleuchten lässt.

650 Auch in einem anderen Traum erscheint auf der Grundlage der Erfahrung mit dem Judenstern das Thema der gesellschaftlichen und beruflichen Ausgrenzung: „Ich kam in eine freundschaftliche Kollegenzusammenkunft, man saß an langem Tisch zusammen, neue Kollegen kamen immerfort herein. Ich erinnere mich keines einzelnen. Mich intrigierte mein Judenstern; erst hing er halb herunter, dann bestand er aus zwei Schichten wie ein geklebter Cotillonorden, und die Oberschicht des Mogen David hatte sich gelöst, dann wollte ihn mir mein Tischnachbar mit einer Nadel feststecken und fand nicht die richtige Stelle, dann fiel mir ein: ‚er darf nicht angesteckt, muß angenäht sein‘, dann hörte ich Lärm im Nebenzimmer, und jemand sagte: ‚eine Verhaftung‘, danach wachte ich auf.“ (ebd.: 362f. [27.4.1943])

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3.2.3.5 Mikrologische Geschichtsschreibung des Dritten Reiches Klemperers philologische Beobachtungen zum NS-Alltag, obwohl sie durchgängig von einem bürgerlich-elitären Habitus bedingt waren, erweisen sich als teilweise deckungsgleich mit Siegfried Kracauers Beobachtungs- und Beschreibungsmethoden, um das Wesen des Alltags einzufangen. Obgleich der Alltag immer nur ein subjektiv beschränkter Geschichtsausschnitt ist, versucht Kracauer die historiographische Einzigartigkeit wie auch Beispielhaftigkeit des Details zu zeigen. Vor diesem Hintergrund befasste er sich mit den Oberflächenerscheinungen des Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre, die er in Straßen in Berlin und anderswo (1987) meisterhaft beschrieb.651 Kracauer als intellektueller Flaneur richtete sein Interesse auf bis dahin kaum beachtete kulturelle Bereiche wie das Großstadtleben, das Café, den Zirkus, die Operette und vor allem das Kino. Er suchte ohne (meta-)theoretisches Schutzschild das Allgemeine im Konkreten, um – oft mit unverhohlener Lust an Bagatellen – das Flüchtige des Alltags in seinen literarisch-philosophisch-journalistischen Miniaturen zu verfestigen. Siegfried Kracauers erstmals 1969 posthum in englischer Sprache veröffentlichte Arbeit History. The Last Things Before the Last652 wird nach wie vor von der Geschichtsphilosophie weitgehend vernachlässigt. In dieser Schrift erhellt Kracauer Geschichte formal als exterritorialen Zwischenbereich, einen „Vorraum“ zwischen Imagination und Konstruktion. Sie besitzt einen prekären Status zwischen Faktualität und Fiktionalität, der einer eindeutigen Zuordnung widersteht; sie entzieht sich dem Zugriff systematischen Denkens und ist auch nicht zu einem Kunstwerk zu formen (vgl. Kracauer 1971: 218ff.). Weder erstrebt noch vermittelt Geschichte letzte Wahrheiten, sondern sie erleichtert uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt uns einzuverleiben und sie so vor dem Vergessen zu bewahren. In einer mikrologischen Geschichtsschreibung wird der Blick für Details in Großaufnahmen zu Mikro-Geschichten der Wirklichkeit.653

651 Der deutsch-jüdische Intellektuelle Siegfried Kracauer war – ganz im Gegensatz zum eher konservativen Bildungsbürger Klemperer – engagierter Marxist, ohne jedoch irgendwelcher Orthodoxie verpflichtet zu sein (vgl. Traverso 1994: 10). Kracauer war – in Walter Benjamins Worten – ein „Lumpensammler“ auf der Suche nach der Zentralität des Marginalen, nach den „Redeklumpen und Sprachfetzen“ der modernen Gesellschaft (vgl. Benjamin 1972: 225). In seinem Artikel „Straßenvolk in Paris“ gibt Kracauer (1987: 93) fast liebevoll die „kleinen Leute“ wieder: „In den Straßen der zwanzig Städte, aus denen Paris besteht, blüht die Vegetation der kleinen Leute. [...] Ihr Humus ist das Pflaster, die Öffentlichkeit ihr Zuhause. Mögen sie sich aus Arbeitern, Gewerbetreibenden, Schaffern zusammensetzen, sie gehen in der Statistik nicht auf.“ 652 Die Arbeit wurde 1971 in deutscher Sprache als Geschichte – Vor den letzten Dingen veröffentlicht. Vgl. hierin hauptsächlich das 8. Kapitel „Der Vorraum“ (vgl. Kracauer 1971: 218-246). Einen besonderen Akzent auf diese weitgehend in Vergessenheit geratene Arbeit legen auch Ginzburg (1993: 184-186) und Traverso (1994: 178-189). 653 Ottmar John (1999: 85) weist im Hinblick auf Walter Benjamins Geschichtsphilosophie darauf hin, dass eine mikrologische Herangehensweise an die Geschichte in den Zerstörungen menschlichen Handelns „die Wahrheit geschichtsmächtigen Handelns“ sieht. Das mikrologische Denken hat somit sowohl eine moralische als auch eine historische Bedeutung: In seiner Vorrang-

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Diese Gebiete sind für Kracauer keineswegs Marginalien, denn in ihnen scheinen sich die entscheidenden Prozesse der Modernisierung abzuspielen. Klemperers Ziel, aus der Exterritorialität der antisemitischen Ächtung Zeugnis abzulegen, damit der Zerfall der Geschichte in viele disparate Mikrohistorien überhaupt noch erinnert werden kann, lässt sich erstklassig mit Kracauers Vorstellung verknüpfen, Geschichte nicht als ein vorgängiges Ganzes zu konzeptualisieren, sondern als eine nachträgliche Zusammen-Setzung von Bruchstücken, wobei die Bruchstellen nicht retuschiert werden, sondern deutlich sichtbar das Ganze strukturieren. Klemperers Tagebuchtexte skizzieren sozusagen – durch das Prisma des Ich – eine kritische Genealogie der Moderne, die das Marginale, das Unterschwellige und kaum Hörbare, das den offiziellen Diskurs störende „Geräusch“ in den Mittelpunkt des Schreibens rückt. Der Tagebuchschreiber schildert keine Phantasmagorie der Modernität als logische Folge von Begebenheiten, die mit ununterbrochener historischer Kontinuität ein bestimmtes Ziel verwirklichen, sondern schätzt seine Tagebücher der NS-Zeit – nach Ablauf des Krieges – eher nüchtern ein: „Mein Tagebuch seit 33, gerade das Tagebuch der mittleren Stellung, des Durchschnitts, des Alltags, der kleinen Erlebnisse.“ (US: 28 [23.6.1945]; vgl. LTI: 363) Unter die Kategorie des „Durchschnittlichen“ und „Gewöhnlichen“ fällt auch die damalige populäre Volkspoesie, der das von Klemperer 1942 notierte Sprüchlein „Die Geschichte von den zehn Meckerlein“ – eine Anspielung auf den wohlbekannten Zählreim „Zehn kleine Negerlein“ – zugeordnet werden kann. Es ist ein kollektives Artefakt, das im Zuge seiner Zirkulation von sämtlichen seiner Rezipienten ergänzt, mit neuen Inhalten versehen oder anderweitig abgeändert wurde. Auch der Diarist fügt einige neue Reime hinzu und füllt es „mit approximativer Genauigkeit auf“ (ZAII: 161 [10.7.1942]): Zehn kleine Meckerlein, die saßen mal beim Wein; Der eine sprach von Goebbeles, da waren’s nur noch neun. Neun kleine Meckerlein, die haben sich was gedacht; Dem einen hat man’s angemerkt, das waren’s nur noch acht. Acht kleine Meckerlein, die haben sich was geschrieben; Beim einen fand man einen Brief, da waren’s nur noch sieben. Sieben kleine Meckerlein, die fragten sich: ‚Wie schmeckt’s?‘ Der eine sagte: ‚Affenfraß!‘ da waren’s nur noch sechs. Sechs kleine Meckerlein, die trafen mal ’nen Pimpf; Der eine sagte: ‚Lausekopp!‘, da waren’s nur noch fünf. Fünf kleine Meckerlein, die spielten mal Klavier; Der eine spielte Mendelssohn, da waren’s nur noch vier. Vier kleine Meckerlein, die sprachen mal von Ley; Der eine hat ’n ‚V‘ vermißt, das waren’s nur noch drei. Drei kleine Meckerlein, gehörten zur Partei; Der eine sagte: ‚Nix wie raus!‘, das waren’s nur noch zwei. Zwei kleine Meckerlein, die hörten Radio; stellung des Marginalen, des Zerstörten, des Leides verquicken sich moralische und historische Dimension.

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Der eine hat zuviel gehört, den griff die Gestapo. Das letzte kleine Meckerlein, das wollt ins Ausland gehn; Es landet’ in Oranienburg – da waren’s wieder zehn. (ebd.: 161f. [10.7.1942])654

Dieser Volksreim legt auf leicht verständliche und schelmische Weise den Kern des Totalitarismus bloß: Unterdrückung, Terror, Monodoxie, Zensur und willkürliche Bestrafung. Die polyphone Kritik am Regime erinnert an die demokratische und nicht-hierarchische Tradition der Redevielfalt, die Michail Bachtin (2000) bereits im mittelalterlichen Karneval und in der Lachkultur ausgemacht hat. Das Volkstümlich-Kritische der „Meckerlein“, das in den mundartgeprägten Einschüben und der nicht-parteikonformen Indiskretion zum Ausdruck kommt, steht in krassem Gegensatz zur Diktatur (exemplarisch vertreten von Goebbels, Ley, Hitlerjugend bzw. „Pimpf“, Gestapo und Partei), die ausschließlich bestraft und inhaftiert („landet’ in Oranienburg“). Die unbequeme Vielstimmigkeit von volkstümlichen Redeweisen steht mithin in klarer Opposition zur ideologischen Eingleisigkeit des Regimes. Kursierende Volksreime, Sprichwörter, Refrains, Lieder, Witze, all diese vor allem mündlich tradierten volkstümlichen Miniaturen hat Klemperer aufbewahrt. Ihre Stimme ist in den Tagebüchern nicht zu überhören. Die Tagebücher über das Dritte Reich sind von diesem Rand der Geschichte aus geschrieben und Klemperer selbst erscheint in gewisser Hinsicht im Benjamin´schen Sinne als „Lumpensammler der Geschichte“,655 mit der Intention, die „Kleinigkeiten“ seiner Lebenswelt dem Vergessen oder Vergehen zu entreißen: „Ich sollte all diese Kleinigkeiten und Stimmungen des Alltags (was man so heute Alltag nennt) notieren.“ (ZAI: 537 [6.7.1940]) Als metaphorischer Lumpensammler hat der Diarist versucht, seine aufgezeichneten Alltagsdetails vor dem herrschenden Verwertungsprozess zu retten und den „Abfall der Geschichte“ (Benjamin 1983: 575) – die belanglos erscheinenden chiffons seiner Zeit eben – aufzulesen.656 654 Im Tagebuch bringt Klemperer das populärkulturelle Gedächtnis seiner Zeit zu Ehren; einen ähnlichen parodistischen Volksreim findet der Leser beispielsweise in ZAI: 472 [3.5.1939]. Ein weiteres Beispiel für Klemperers Archivierung des Alltags stellt die Aufzeichnung kritischer Parodien von Liedern und Propagandalosungen dar. Lale Andersens 1942 gesungener Erfolgsschlager mit dem bekannten Refrain: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei; auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai“, wurde im Jahre 1943, nach dem Wendepunkt des Krieges im Osten, regimekritisch parodiert. Die kursierende spöttelnde Reimparaphrase brachte, so der Diarist, wunderbar die negative Volksstimmung zum Ausdruck: „Die Stimmung? Viele singen ja: ‚Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei; erst geht der Führer, und dann geht die Partei.‘“ (ZAII: 401 [5.7.1943]) Zu dieser Liedreferenz vgl. auch Klare (1996: 151). 655 Die einzige Stelle, an der Benjamin (1972: 219-225) einen Intellektuellen als „Lumpensammler“ bezeichnet, findet sich in „Ein Außenseiter macht sich bemerkbar,“ seiner Rezension von Siegfried Kracauers Essay Die Angestellten (1930). 656 In diesem Zusammenhang soll allerdings betont werden, dass Klemperers Sammelpraxis – im Unterschied zu Benjamins Verständnis des „Lumpensammlers“ – ein Zeugniswille zugrunde lag. Seine Sammlertätigkeit war nicht vordergründig durch die Rettung der Dinge vor dem herrschenden Verwertungsprozess motiviert, vielmehr ging es ihm als wissbegierigem Wissenschaftler darum, signifikante Belege für den Alltag des Nationalsozialismus zu archivieren. Für eingehendere Erwägungen bezüglich der Bedeutung von Walter Benjamins Verständnis des

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Mit seiner nüchternen Arbeit des Sammelns von Inoffiziellem konspiriert er gegen die bestehende Ordnung. Die autobiographische Zeitzeugenschaft Victor Klemperers gilt vor diesem Hintergrund als spiegelverkehrte Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, indem in den Tagebüchern die beschriebene historische Lebenswelt zur Abspiegelung der eigenen Exterritorialität wird. Die exterritoriale Marginalität des Tagebuchschreibenden während des Dritten Reiches schlägt sich unmittelbar in seiner diaristischen Geschichtsschreibung nieder. Das Unvergängliche wird im historischen Detail gesucht, das in sich monadisch den ganzen Geschichtsprozess repräsentiert. In jedem alltäglichen Detail und jedem fait divers im Tagebuch kann man – in Walter Benjamins Worten aus dem Passagenwerk – „den Kristall des Totalgeschehens“ finden (Benjamin 1983: 575).657 Victor Klemperer häufte in seinem Tagebuch unentwegt Material an und fertigte umfangreiche Notizen, die der Erstellung eines Archivs bzw. Depots für die Generierung zukünftiger wissenschaftlicher und autobiographischer Texte dienten. Der Tagebuchautor rückt eine parataktische Aneinanderreihung von Details, scheinbaren Banalitäten und einschneidenden Großereignissen ins Zentrum seiner Schreibpraxis, wie im nachfolgenden Notat: Isakowitz – er nimmt uns schon üblicherweise nach der Behandlung in seinem Auto bis zum Bahnhof mit, wo Eva eine Suppe ißt, heute nach abgenommener Brücke ziemlich zahnlos – drückte wieder die Stimmung der Judenheit aus, und auch eigentlich die meine. Tiefste Depression, noch tiefer als im August bei Hindenburgs Tod. Die 90 Prozent Saarstimmen sind doch wirklich nicht nur Stimmen für Deutschland, sondern buchstäblich für Hitlerdeutschland. (ZAI: 178 [16.1.1935])

Das private Detail – Eva nach der Zahnoperation – und die Referenz auf zeitgeschichtliche Eckmomente – den Tod von Reichskanzler Paul von Hindenburg am 2. August 1934 und die Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 – gehen geradezu nahtlos ineinander über. Diese narrative Heterogenität stellt ein förmliches Wesensmerkmal der Gattung Tagebuch dar. Das privat-öffentliche Mosaik, das somit entsteht, ist gleichsam eine Sammlung unterschiedlichster Informationselemente.658 Private und öffentliche Geschehnisse bzw. Vorkommnisse werden „Lumpensammlers“ vgl. John (1999: 83f.) und vor allem den Aufsatz von Irving Wohlfarth (1984), der nahelegt, wie die Figuren des „Lumpensammlers“ und des „materialistischen Historikers“ konzeptuell verbunden werden können. Wie Wim Weymans (2003: 15) unterstreicht, vergleicht Michel de Certeau auf ähnliche Weise die Erfahrung des Historikers mit der des Clochards: „So wie der Clochard nach Essensresten oder Kleidung sucht, so sucht der Historiker in den Mülleimern der Vergangenheit nach bedeutungsvollen Resten und Abfall.“ 657 In der Jetztzeit des Wahrnehmens und Erlebens, so Sigrid Weigel (2003: 111), stellt „sich Geschichte stets in Bruchstücken dar[...], während das Bild vom Ganzen in eine Sphäre der Erlösung jenseits der Historie verwiesen wird.“ Für eingehendere philosophische Erwägungen zur Figur des Kleinen in der Moderne vgl. Schäffner, Weigel und Macho (2003). 658 Die Juxtaposition von Informationen zur militärischen Lage der Wehrmacht und zur persönlichen Befindlichkeit und Müdigkeit des Autors zieht sich durchgehend durch die Tagebücher, wie man auch in der nachstehenden Eintragung feststellen kann: „Die deutschen Linien scheinen sich in Rußland wieder zu festigen, Charkow ist zurückgewonnen, nun kann es also wieder einen Sommer weitergehen. Inzwischen lassen meine Kräfte immer mehr nach; heute habe ich

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nicht plan und linear verlaufend erzählt, sondern fragmentiert, zertrennt, verschiedenartig montiert und miteinander verzahnt, wie beispielsweise auch aus der nachfolgenden, von Franz Kafka gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs eingetragenen Tagebuchnotiz hervorgeht: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“ (Kafka 1990: 543 [2.8.1914]) Kriegserklärung und Schwimmen stehen aus der Perspektive jenes bestimmten Tages gleichberechtigt nebeneinander, und deren Verschränkung ist aufschlussreich für die Art und Weise, wie ein Individuum in einem gegebenen Augenblick die Organisation der Welt wahrnimmt. In der Weise, in der durch die Archivierung die Welt konstruktiv geordnet ist, wird im Falle des Tagebuchs als „Vorratspeicher“ die Materialsammlung selbst zur Quellenliteratur für ein zu schreibendes Werk: „Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns.“ (Benjamin 1983: 271)659 Demgemäß legt auch Miguel Skirl (2000) nahe, dass Victor Klemperers repertorisierendem Schreibverfahren und modularer Tagebuchgestaltung das Motiv der Transparenz zugrunde liegt, der Klärung und Aufklärung dessen, was geschieht, was aber ohne die minutiöse Niederschrift gesammelter Exempla unbeschreibbar geblieben wäre. Der Sammelnde „nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf.“ (Benjamin 1983: 279) Es geht im sprachlichen Archiv des Diaristen darum, den Zeitlauf in Gedanken zu fassen und vor Amnesie zu bewahren: Der beste und vornehmste [...] Sammler dieses Saeculums war Victor Klemperer. [...] [I]m Ablegen des Zeugnisses, im Mitteilen sonst nicht Überlieferbaren, im Archivieren des Verschüttgehenden, im Entreissen aus dem Vergessen und dem Kenntlichmachen des Anonymen, im Namentlichmachen des Unsagbaren. (Skirl 2000: 101)

In den Aufzeichnungen von Klemperers Journal wird tatsächlich „Leben“ gesammelt, um das Diarium seiner Funktion als „Gedächtnisspeicher“ gegen Vergessen und Vergessenwerden zuzuführen. Das Tagebuch avanciert so zum kulturellen Archiv, indem es vereinheitlicht, organisiert und Bedeutung identifiziert. Konstanze Fliedl charakterisiert die Gattung Tagebuch in Bezug auf die Historizität der Erinnerung folgendermaßen: „Unter allen Textgattungen kann die Erinnerungswerkstatt Tagebuch für sich beanspruchen, der Metapher vom Speicher des Gedächtnisses am nächsten zu kommen: Die tägliche Aufzeichnung ist das Einschreiben, die Lektüre ist das Abrufen von Inhalten.“ (Fliedl 1997: 38f.) Es geht in Klemperers Tagebüchern jedoch nicht darum, eine von einer chronologischen Ordnung zeugende, narrative Kontinuität zu schaffen. Der Tagebuchgattung ist eigen, die widersprüchlichen Erlebnisse, die augenblicksgültigen Erwartungen und Gefühle, bisherige Sinnkonstruktionen und ihre Revidierung getreu wiederzugeben. Das Tagebuch ist der Schauplatz täglicher Aushandlungswieder stundenlang am Schreibtisch geschlafen. Freilich ist mir die Buberlektüre besonders widerwärtig.“ (ZAII: 343 [15.3.1943]) 659 Zum Thema des Sammelns im Passagenwerk verweise ich den Leser auf den Abschnitt „Der Sammler“ (Benjamin 1983: 269-280).

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praktiken, die sich zudem über die Zeit verändern. Das Voranschreiten der Zeit auf den Tod zu kann nicht zum fließenden, zielgerichteten Lebenslauf umgeformt werden, sondern Erschütterungen und Brüche müssen als Momente eines mit der Katastrophe der Jetztzeit ständig konfrontierten Subjektivierungsprozesses protokolliert werden. Rückverweisend auf Benjamin (1983: 594) kann behauptet werden, dass das Kontinuum einer rein chronologisch gehaltenen Vita unbedingt durch die äußere Zusammenhanglosigkeit der Aufzeichnungen „aufgesprengt“ werden muss, so dass echte Erkenntnis und Selbsterkenntnis aufleuchten kann (vgl. Combes 2000: 84f.). Im Journal fallen Erleben und Schreiben idealiter zusammen; die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) in den von Tag zu Tag festgehaltenen Aufzeichnungen ist ein Wesensmerkmal dieser Textgattung: „Vor allem lassen sich durch den Tagesraster die Verschachtelungen von Vergangenheit und Schreibgegenwart strukturieren.“ (Fliedl 1997: 268) Dass der zeitliche Unterschied zwischen dem Leben und der Reflexion auf das Leben konzeptuell getilgt wird, geht aber nicht notwendig zu Lasten des Erinnerungsmoments. Vielmehr sieht es so aus, als wäre das Erleben selbst von der Tatsache des Tagebuchschreibens kontaminiert. Es ist mehr oder weniger bereits im Moment des Geschehens Material des Schreibens. Das hic et nunc, die Erfahrungsunmittelbarkeit, macht gewiss die Originalität von Klemperers Werk aus. Es liegt in den ad hoc-Tagebuchnotizen eine Vielfalt an Widersprüchen und unhierarchisierter mikroskopischer Empirie vor, die einerseits philosophische Erwägungen über Leben und Tod und andererseits auf den ersten Blick banale, sehr ausführliche Bemerkungen über etwa Abwasch oder Zahnschmerzen juxtaponieren. Was als Garant von Wahrhaftigkeit und Unmittelbarkeit erscheint, sprengt in seiner radikalen Jetztgebundenheit alle für diese erforderlichen Zusammenhänge. „Wahrhaftig“ bleibt nur die reine Prozessualität des Schreibaktes selbst. Und hieraus wird der eigene Stil des Tagebuchs kenntlich: neben den narrativen Sequenzen finden sich vor allem gegenwärtige Reflexionen. An die Stelle des Berichtens tritt das diaristische Nennen, in dem die Erinnerung an das Jetzt gestiftet wird (vgl. ebd.: 178). Der diaristische Diskurs Klemperers stellt einen unmittelbaren und bewusst mikrologischen Akt der Verschränkung von Aufzeichnung und Erinnerung dar: „‚Ich will Zeugnis ablegen.‘ […] ‚Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche…‘.“ (ZAII: 503 [8.4.1944]) Die Vergegenwärtigung der Aktualität als „Aktualisierung des Raums oder der Zeit, in der das Ding funktioniert“ (Benjamin 1985: 416), bedeutet für das Tagebuch die Erinnerung seines Geschriebenwerdens im Text. Das ist es also, was ein diarischer Text letztlich memoriert: Als Schreiben im Jetzt erinnern die Tagebücher Victor Klemperers ihre Entstehungsbedingung von Tag zu Tag. Diese Jetztzeit des Schreibens ist das Medium der Erinnerung im Tagebuch (vgl. Pethes 1999: 170). Klemperer versteht seine Aufzeichnungen als ein Vermächtnis den Ermordeten gegenüber; er errichtet ihnen schriftliche Denkmäler gegen das Vergessen (vgl.

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zur Nieden 1997: 117). In Klemperers Memorierungsarbeit klingt im besonderen Maße die jüdische Vorstellung vom Gedächtnis an, das im Namen des „Ewigen“ einen Kampf gegen die Zeit führt. Vergessenwerden hingegen bedeutet den Tod.660 Insofern jedwedes Gedenken darauf verwiesen ist, dem zu Gedenkenden einen Eigennamen zu geben, da der Name im Gegensatz zum Tod unsterblich ist – so Derrida in Mémoires. Für Paul de Man –, nimmt das Gedächtnis immer auch den Tod vorweg: „Wenn wir jemanden zu seinen Lebzeiten mit Namen rufen oder nennen, wissen wir, dass er bereits zu seinen Lebzeiten damit beginnt, sich von ihm zu lösen, indem er jedes Mal [...] seinen Tod aussagt und vorträgt.“ (Derrida 1988: 70) Was vom Subjekt bleibt, ist sein Name, der als ein solches externalisiertes Zeichen zugleich dem allgemeinen System der Sprache zugehört und die Innerlichkeit des Ich damit subvertiert (vgl. Pethes 1999: 93). Im Zeichen des Namens wird der Text zur „Heterothanatographie“.661 Oder persönlicher gewendet: Die Berichte Klemperers handeln von vielen jüdischen Menschen, die wahrscheinlich kein anderes Grabmal als seine Tagebücher haben. Klemperer ließ zum Beispiel der Ehefrau des Vorstehers der jüdischen Gemeinde, als er von ihrer bevorstehenden Deportation erfährt, eine Nachricht zukommen, über die sie sich besonders freute: „[W]enn ich noch einmal zum Publizieren käme, würde ihr Name in meinem Opus eine Rolle spielen.“ (ZAII: 393 [12.6.1943]) Zeugnis ablegen bedeutet in dieser Hinsicht also mit den Worten von Giorgio Agamben (2003: 141) in Was von Auschwitz bleibt, „in der eigenen Sprache die Position desjenigen einzunehmen, der sie verloren hat.“662 Die „sprachlosen“ 660 Die menschliche Angst vor dem Vergessenwerden und somit vor der Nichtigkeit der eigenen Existenz bildet den Mittelpunkt der Reflexionen vieler jüdischer Betroffener im „Judenhaus“. In diesem Zusammenhang lässt beispielsweise Rosalie Kronheim vor dem Abtransport nach Theresienstadt den Klemperers einen Brief zukommen, in dem sie darum bittet, sie und ihre Tochter Margarethe nicht zu vergessen: „Sie [=Rosalie Kronheim, A.S.] rechnet (mit Recht) täglich mit Theresienstadt, zittert vor der Trennung von ihrer Tochter. ‚Vergessen Sie uns nicht‘...meine Grete, falls mich das Schicksal bald ereilen sollte, lege ich Ihnen ans Herz...‘ [...], schickt ‚innigste‘ Grüße ‚in treuer Freundschaft‘.“ (ZAII: 203 [10.8.1942]) 661 Zum Begriff der „Thanatographie“ in der Gattung Tagebuch und zur entsprechenden Absicht, gegen den Tod anzuschreiben, vgl. Didier (1988: 145). Aufbauend auf Jacques Derrida, Maurice Blanchot und Sarah Kofman verwendet ihrerseits Linnell Secomb (2002) den Terminus „Autothanatographie“, der darauf hinweist, dass dem Holocaust-Überlebenden, der in selbstbiographischen Schriften Zeugnis ablegt, der Tod innewohnt. 662 Laut Agamben gewinnt der Zeuge seine beglaubigende Autorität vordergründig dadurch, dass er im Auftrag eines Sprachlosen – des „Muselmanns‘“– das Wort ergreift. Unter Rückgriff auf Primo Levi betont er, nur der enthumanisierte, körperlich erschöpfte, sprachlose Muselmann, der in der Regel die Shoah nicht überlebt hat, sei imstande, ein „vollständiges“ Zeugnis abzulegen. Im Bild des Muselmanns breche der Unterschied zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Leben und Tod zusammen, wenngleich gerade in dieser Zwischenzone das Menschliche in Erscheinung trete. Dieses Paradoxon bringt der italienische Philosoph im Hinblick auf die Holocaust-Zeugenschaft wie folgt auf den Punkt: „Muselmann und Zeuge, menschlich und nichtmenschlich sind koextensiv und fallen dennoch nicht zusammen, sind geschieden und trotzdem untrennbar. Und diese unauflösliche Teilung, dieses gespaltene und doch untrennbare Leben findet in einem doppelten Überleben Ausdruck: der Nicht-Mensch ist derjenige, der den Menschen überleben kann, und der Mensch ist derjenige, der den Nicht-Menschen überleben kann.“ (Agamben 2003: 132) An früherer Stelle fasste Agamben das Levi’sche Paradoxon be-

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Hauptfiguren in Klemperers Tagebüchern sind private Durchschnittsmenschen, denen eine geradezu epische Würde zuerkannt wird. Diese Namen am Rande der Geschichte, die Klemperer für einen kurzen Augenblick beleuchtet bzw. aufleuchten lässt, werden infolgedessen – als archivierte Sprachspur – vor der Gesichts- bzw. Geschichtslosigkeit bewahrt. Im Falle einer persönlichen Beziehung zu anderen Personen kann man von einer gewissen Aufwertung des Eigennamens sprechen: Die unersetzbare Singularität, die durch den Klang der Eigennamen von Freunden, Geliebten, Bekannten hervorgerufen wird, tritt in Klemperers Tagebüchern eindrucksvoll hervor. Die Namen „passen“ somit zu ihren Trägern und werden in den Notizen zur Geste.663 Die Hunderte von Namen, die vom Diaristen angerufen werden, bilden einen einzigartigen biographischen Raum: Jede Person, der Klemperer begegnet, soweit er ihren Namen kennt, wird im Tagebuch namentlich genannt, auch wenn ihre Namensnennung für den Handlungsablauf offensichtlich keinen direkten Erkenntnismehrwert bedeutet. Im nachfolgenden, ungekürzt wiedergegebenen Passus, der beispielhaft die Sublimierung des Durchschnittlichen zum Ausdruck bringt, tritt auf bewegende Weise die Memorialisierungsabsicht des Notierens in den Vordergrund: In der differenziert dargestellten Enumeration der jüdischen Zwangsangestellten bei „Teehandel Schlüter“ skizziert Klemperer ein persönliches Kurzporträt von jedem jüdischen Kollegen im Betrieb. Seine Kollegen überschreiten somit die anonympassive Kategorie „Opfer“ und erscheinen als diejenigen, die sie grundsätzlich sind: als singuläre Individuen. Der Vollständigkeit der Personendarstellungen wegen wird die nachstehende, für sich selbst sprechende Passage, in der Klemperers Sammel- und Erinnerungsverfahren beispielhaft hervortritt, bewusst in ihrer Integralität zitiert: Personen des Schlüterbetriebes. 1) Konrad, der Obmann. Niemand sieht seine 63 Jahre. Höchstens 50. Frisches gutfarbiges Gesicht, kleine Tonsurglatze, kräftige Haltung, große Körperkräfte und Gewandtheit. Autorität mit geschicktem Humor wahrend. (‚Zeitlupenaufnahme, wie sich der Professor und Herr Stern bei ihrer Unterhaltung die Tüten füllen!‘) Hatte eine Schweine-Großschlächterei, d. h. ihren kaufmännischen Betrieb. Hatte einen Meister und zwei Gesellen. Kaufte auf dem Viehhof und verkaufte an die Schlächter. ‚Wenn z. B. die Bärenschänke für 2 Kompanien SA Eisbein mit Sauerreits folgendermaßen zusammen: „(1) Der Muselmann ist der Nicht-Mensch, derjenige, der auf keinen Fall Zeugnis ablegen könnte. (2) Derjenige, der nicht Zeugnis ablegen kann, ist der wirkliche Zeuge, der absolute Zeuge.“ (ebd.: 131) Es bleibt dennoch dahingestellt, ob die Sprachlosigkeit als Kriterium des „wirklichen“ Zeugnisses der ethischen Problematik der Holocaust-Zeugenschaft gerecht wird, denn bei Agamben tritt an die Stelle einer Verantwortungsethik des handelnden und sprechenden Subjekts ein Zeugnisideal, dem die Unmöglichkeit des Sprechens innewohnt und das die Unzulänglichkeit juristischer Strafverfahren gegen NSVerbrechen und des Rechts im Allgemeinen zentral stellt. Für eine Kritik von Agambens Zeugniskonzept vgl. Segler-Messner (2005: 27ff.). 663 Unter Rückgriff auf Jacques Derrida und Ludwig Wittgenstein entwirft Dieter Lesage (1993) eine Philosophie des Eigennamens, die auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit ihren Nutzen unter Beweis stellt, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann, da dies den Rahmen des Kapitels sprengen würde. Vgl. vor allem Lesage (1993: 308ff.).

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kraut brauchte ...‘ Wurde als Jude hin vom Schlacht- und Viehhof verdrängt, machte den Händler für Bäckereien. ‚Wenn sie etwa Obstkonserven brauchten.‘ Kam dann zu Zeiss-Ikon. Kinderlos, einer von den 60 bis 70 Leuten, die noch in Dresden den Stern tragen. 2) Lazarus. Anfang sechzig, groß, kräftig. Stolz auf den Sohn Arzt, der als Mischling nicht praktizieren darf, aber in einer chemischen Fabrik Arbeit gefunden hat. Hatte so etwas wie eine Plakatfabrik. Ist stolz auf seine Sachverständigkeit in Malerei und Kunstgeschichte. Neigt sehr zum Zionismus. Ist Vorkämpfer der Idee vom absoluten Antisemitismus der Deutschen. Trotz der arischen Frau, des Sohnes, der durchaus judenfreundlichen Umgebung bei Schlüter. 3) Witkowsky, der rüstige Siebziger. (‚Soll ich zu Haus Fliegen fangen?‘) Besonders reich an hebräischen Ausdrücken, schwelgt in Erinnerungen an Jargon, an die heimatliche Provinz Posen, hängt sehr an seinem Judentum, aber ohne Feindseligkeit gegen Deutschland, politisch kaum interessiert. Sternträger. Aber natürlich – wie alle dort – in Mischehe lebend. Hatte ein Wäschegeschäft; ist wohl auch lange Reisender gewesen. 4) Lewin. Mir durchaus gleichaltrig. Sieht mit schiefer Schulter wesentlich älter aus. Hatte vor fünf Jahren Schlaganfall. Süddeutsch gemütlich, gutmütig. Hatte ein Möbelgeschäft in Baden, wurde durch nationalsozialistischen Boykott in Konkurs gedrängt, war hier in Dresden ein paar Jahre irgendwo Geschäftsführer, hat eine kleine Invalidenrente. Spricht mit großer Zärtlichkeit von seiner Frau, die als Kontoristin in einer Essigfirma für einen Stundenlohn von 55 Pf tätig ist, um der Gemeindeunterstützung zu entgehen. Hat ein Steckenpferd, bei dem er leidenschaftlich wird. ‚Warum haben meine Eltern mich nicht Handwerker werden lassen? Warum ist der Jude in Westeuropa nicht Bauer, nicht Arbeiter, nur ‚Händler‘?‘. Er sagt nicht ‚Kaufmann‘, er sagt mit Mißachtung ‚Händler‘. Ganz in Tonart und Gedankengang H. St. Chamberlains und Sombarts. Denen er ‚in diesem Punkt‘ Recht gibt. Zusammenstöße mit den anderen. Diskussionen mit mir. (Über ‚produktive‘ Tätigkeit, s. u.) 5) Bergmann, klein, verwachsen, schwerhörig, mürrisch. Ende fünfzig. So stark proletarisiert, daß man ihm weder den Juden noch den Akademiker glaubt. Ist Apotheker, war Scherners Vorgänger in der Börsenapotheke in Leipzig. Ist Protestant ohne jeden Zusammenhang mit dem Judentum. Erbittert über die Machtlosigkeit der Grüber- und Loebengruppe, erbittert über Deutschland. Das er nach der Erlösung unter allen Umständen verlassen will. Kindliches Wesen, geringste Allgemeinbildung. 6) Frank, Sechziger, der Chemiker mit dem Kopfschuß, der Oberin zur Frau, dem Sohn, der in die Armee zurück will, der stotternden Sprache, dem derben, lauten, nicht unvergnügten Wesen, den väterlichen Rückenpüffen und Mahnungen für meine Haltung. 7) Jacobowicz Anfang sechzig, der Schneider aus Kalisch, der von Sibirien schwärmt, seinen erwachsenen Kindern, auf die er stolz ist, die Wirtschaft führt, eine derbe, laute vergnügte Art hat, mir russische und hebräische Ausdrücke übersetzt. 8) Berghausen, der ungelernte Arbeiter, Markthelfer. Soweit die im Augenblick Ständigen meiner wechselnden Gruppe. 9) Kornblum, der Husar und Halbgelähmte durch Krankheit wohl dauernd ausgeschieden, seit er ‚bestellt‘ war. Vordem Geschäftsführer im Konfektionshaus Bach, Sechziger. 10) Juliusburger, schon begraben. Lebt ständig in der Gruppe weiter, man erzählt immer von seiner Unerschöpflichkeit in jüdischen Witzen; immer wieder höre ich:

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‚ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Juliusburger tot ist.‘ War Konfektionär, Ladenbesitzer. Mitte fünfzig. 11) Prof. Conradi. Über ihn habe ich wiederholt berichtet. Auch er lebt fort. Man verdenkt ihm seinen Antisemitismus. ‚Er hat keinen Sinn für jüdische Witze gehabt – er hat sie nicht verstehen wollen.‘ 12) Freymann, die zartfühlende Ruine, mit den wissenschaftlichen Interessen, vordem Filialleiter von Messow & Waldschmidt in Chemnitz, jammervoll sterbender Fünfziger, als dauernd d. u. ausgeschieden. 13) Feder. Der sich so erstaunlich gut ins Arbeiterleben fügt. Dessen Kopfbedekkung ich für ein Richterbarett hielt und halten will; es ist aber der Sommerhut seiner Frau, die ich ihm nicht verzeihen kann. 14) Stern, der Don Quijote, den seiner feierlichen Begrüßungen halber alle necken, der nun schon seit sechs Wochen und länger Nachtdienst macht, aber immer eine zusätzliche Stunde mit der vorangehenden Schicht arbeitet. Etwa 63 Jahre, sehr kräftig, hager. 15) Neufels, oft bei uns auftauchend, aber ständig als Schwerarbeiter im Keller beschäftigt. 42 Jahre, sieht viel jünger aus, hat erstaunliche Kräfte. Der Doppelgänger Goebbels’. Schmächtig und klein, dabei sehr kräftig und gelenkig. Mit der ständig getragenen Sackleinenschürze sieht er wie ein Arbeiter aus, nur daß mehrere Goldplomben in seinen gepflegten Zähnen blitzen. War kaufmännisch in Filmbranche tätig, hat aber technische Kenntnisse und Geschicklichkeiten. Hat eine saublonde germanische Frau, einen blonden Jungen, einen schwarzen Scotch-Terrier, die ihn oft abholen. 16) Aris, der im Berufsmantel mit rotem Halstuch und Mütze wie ein Apache aussieht, und der mir neulich durch seine hebräisch-literarischen Kenntnisse imponierte. Mitte dreißig – er und Neufels repraesentieren die Jugend unter uns. War Kaufmann der Metallbranche. War Einsteller bei Zeiss-Ikon (wie Frank auch), sagt, er habe dort für sein Fach zugelernt. Seit unserm Gespräch neulich bringt er mir respektvolle Freundschaft entgegen. Lewinsky sagt, Aris habe die ihm unterstellte Gruppe (den ‚Kindergarten‘, Jugendliche mit besonders guten Augen) brutalisiert, er sei ein wilder und jähzorniger Mensch. 17) Edelmann, den ich nur einen Augenblick gesehen, noch nicht gesprochen und der als neuer Schwerarbeiter im Keller angestellt ist. Ein blonder Riese, ganz unjüdisch. Etwa fünfzig, angegraut, bildschön mit hellen Augen. War Tabakarbeiter. 18) Levy, [...] kräftiger Fünfziger, vordem Schaufensterdekorateur, kurzsichtige blöde Äuglein, hellblau hinter Brille, zwinkernd, abfallender Hinterkopf, eigentlich nur Nacken, kindische, tonlos laute Stimme. Von allen gehänselt. In letzter Zeit hörte ich ihn ein paarmal ganz vernünftig reden. Ich halte mich von ihm und von den Hänseleien fern. Teils tut er mir leid, teils ist er mir unheimlich. 19) Joachimsthal, der ewig Unzufriedene, cf. die ersten Notizen dieser Phase – seit etlichen Wochen in die Abteilung Mackensenstraße 2 versetzt. 20) Maler Gimpel † Noch einmal: All diese Leute, das Kaufmannszentrum, der akademische und der proletarische Flügel, sind durch Mischehe vom orthodoxen Judentum getrennt. Bei einigen überwiegt, sich verschieden äußernd, die Neigung zum Deutschtum (Feder, Frank, Lazarus), bei andern hat das Judentum Macht behalten oder neu gewonnen (Lazarus, Witkowsky). (ZAII: 381-384 [22.5.1943])664 664 Für eine ähnliche detaillierte Liste mit Namen und Beschreibungen von jüdischen Leidensgenossen, die beim Schneeschippen eingesetzt wurden vgl. ZAII: 29f. [22.2.1942].

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Klemperer rückt die vorgeblich Namenlosen des Schlüter-Betriebes, unter denen verschiedene den Holocaust nicht überleben werden, in das Blickfeld, um ihre Geschichten und Eigenheiten zu erzählen.665 Das autobiographische Wort im Holocaust ist dasjenige, welches immer die Position des Rests einnimmt und auf diese Weise Zeugnis ablegen kann. Das Tagebuch stiftet somit die Sprache als das, was übrig-bleibt, was aktuell die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – zu sprechen überlebt. Die Akkumulation von Autobiographemen in den Aufzeichnungen stellt eine Art Archiv des Eigennamens dar, eine letzte Liste von Eigennamen, die dank der Publikation des Tagebuchs spektral im kollektiven Gedächtnis anwesend bleibt bzw. bleiben kann. Die eigene Zeit wird von Victor Klemperer in gesammelte Anekdoten und Geschichten gefasst.666 Michel Foucault, Arlette Farge und Michel de Certeau haben ebenfalls versucht, dieses „populäre“ Gedächtnis wieder zu Ehren zu bringen,667 um dafür Sorge zu tragen, dass die unzähligen MikroGeschichten unzähliger Individuen nicht durch die „offizielle“ Geschichtsschreibung verdrängt werden. 3.2.3.6 Der profane Raum des Tagebuchs Die Alltagsbeobachtungen, die in Klemperers Tagebüchern eine so prominente Rolle spielen, dürften wesentliche Aspekte des jüdischen Alltags unter dem Hakenkreuz in das deutsche kulturelle Archiv eingetragen haben. Ohne das Erscheinen dieser Schriften wären seine detailgetreuen Observationen weitgehend unbekannt geblieben. Klemperers Notizen liegt eine Archivierungsleistung zugrunde, die – aus subjektiver Perspektive – neue Einsichten in die Alltagsgeschichte des 665 Das Prinzip des Auflistens der Namen und der Identitätszuschreibungen sonst anonymer KZInsassen in Max Aubs Erzählung „Das Rabenmanuskript“ kann m.E. durchaus auf Victor Klemperers Zeugnis der Judenverfolgung übertragen werden. In Aubs aus dem Spanischen übersetzter Erzählung „Das Rabenmanuskript“ (Aub 1997: 195-275) klärt der Rabe Jacobo seine Artgenossen über die Schandtaten des Nationalsozialismus auf, indem er ihnen berichtet, was er über die Menschen im französischen Lager von Vernet erfahren konnte. Das Namentlichwerden der Opfer der Shoah in autobiographischer Literatur drückt Ottmar Ette (2005: 53f.) wie folgt aus: „Gesichter werden der Gesichtslosigkeit entrissen, Schicksale für einen Augen-Blick beleuchtet, bevor sie wieder ins Amorphe, ins Gesichtslose einer Statistik des Faktischen zurückfallen.“ 666 Die Kleingeschichten und Anekdoten, die das Kernstück von Klemperers Aufzeichnungen ausmachen, stellen – aufgrund ihres vom Diaristen betonten epistemologischen Erkenntniswertes – die geschichtliche Relevanz des alltäglichen Verschriftlichungsmodus unter Beweis: „Eine Anekdote enthält immer ein Atom realer Wahrheit, die zur idealen Wahrheit erhöht, stilisiert u. pointiert wird. Fehlt etwas von alledem, dann ist die Anekdote als solche unvollkommen. Eine Anekdote ist eine Novelle in nuce.“ (A 138: 1115 [8.7.1944]) 667 Sie alle setzen es sich in ihren Forschungsarbeiten zum Ziel, die verrufenen Leben unangepasster, infamer Menschen, ihre Marginalisierung, Bestrafung und Internierung, die Listen der Machtlosen gegenüber den Herrschenden genauso wie die vergessenen bzw. verdrängten Ereignisse der Moderne in Erinnerung zu rufen. Vgl. hierzu beispielsweise Foucault (2001), Certeau (1988) und Farge und Revel (1989). Diese AutorInnen untersuchen – in Foucaults Worten – die „Macht an den Leben und de[n] daraus hervorgehende[n] Diskurs.“ (Foucault 2001: 48)

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Dritten Reiches erbracht hat. Die genaue Dokumentierung der antisemitischen Maßnahmen, die Auflistung unzähliger Eigennamen von Menschen unterschiedlichster Couleur aus der unmittelbaren Lebenswelt, die penible Verschriftlichung der Witze, der kursierenden Sprachspiele, der Gerüchte, des Gehörten, Gelesenen und Gesagten verleihen dem Marginalen und Unterschwelligen eine konkrete, vernehmliche Stimme. Diesen Bereich des augenscheinlich Wertlosen, der von den institutionalisierten Archiven nicht erfasst wird, nennt Boris Groys den „profanen Raum“.668 Die dort befindlichen Dinge werden nicht explizit aufbewahrt und geraten folglich mit der Zeit in Vergessenheit, es sei denn, sie würden – wie mit der Veröffentlichung von Klemperers Notizen – aufgewertet, gespeichert und damit in das kulturelle Archiv aufgenommen. Das Alltägliche, das Klemperer in seinen Tagebüchern zusammenträgt, weil es mit dem Ende des Tages seine Aktualität verliert, vergleicht er mit den Reklamehäuschen aus den 1920er Jahren, die ihm anfangs ganz modern vorkamen, aber nach einer Weile verfielen und in Folge abgerissen wurden. Gerade wegen ihres unmittelbaren Aktualitätswertes muss er seine Alltagsbeobachtungen zügig verschriftlichen und als „Papiersoldaten“ konservieren: In den zwanziger Jahren wurden am Günzelplatz ein paar Reklamehäuschen, im zackigen Granatsplitterstil und bunt, aufgestellt. Das war damals ganz modern und aktuell und gefiel mir jeden Tag, wenn ich vorbeifuhr. Nach ein paar Monaten war die Herrlichkeit schon ein wenig verblaßt und ein bißchen langweilig, im nächsten Jahr und gar im übernächsten völlig délabrée. Später wurden die Buden entfernt. Das ist mir ein Symbol. Es erinnert mich an manche Stellen in meinen Büchern, die ich zur Zeit des Schreibens als besonders lebendig schätzte. [...] Alles was für den Tag berechnet ist, verliert auch seine Wirkung mit dem Tag. An diese Reklamehäuser denke ich ebenso oft wie an meine ‚Papiersoldaten‘. (ZAI: 183 [13.2.1935])

Die Verfahren, die man im Tagebuch vorfindet, lassen sich als Mechanismen verstehen, die das Verhältnis zwischen dem hierarchisch strukturierten kulturellen Archiv und dem sich durch fehlende historiographische Legitimität bezeichnenden „profanen Raum“ regeln. Klemperer wird so zum Archivar der illegitimen Diskurse, die im profanen Raum des Dritten Reiches zirkulieren. Die verschollenen und namenlosen Opfer wie auch die Täter – die „Schläger“ und „Spucker“ (ZAII: 213 [19.8.1942]) – sollen zu Wort kommen. Seine Aufzeichnungen eröffnen dementsprechend Zwischenräume, in denen Verschiebungen und Zerteilungen des Gehörten, Gelesenen, Gesehenen und Gefühlten möglich werden. In diesen Zwischenräumen wird dasjenige angesammelt, was die hegemonialen bzw. offiziellen NS-Diskurse verschweigen mussten, um sich dauerhaft etablieren zu können.

668 Verwiesen wird in diesem Kontext auf Baßler (2002: 21f.), der in seiner Analyse des Archivbestrebens im deutschen Pop-Roman die Theorie des Kunsthistorikers Boris Groys heranzieht. Zu Groys’ Archivverständnis vgl. Groys (2002: 77ff.).

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Das Fragmentarische669 der Tagebücher betont daher ihre intrinsische Unabgeschlossenheit, die erst durch den Tod des Autors zur Vollendung kommt. Mit dem Tagebuch liegt in der Tat keine einheitliche Erzählung vor, sondern eher nicht-abgeschlossene Prosa, die jeden Tag neu gesetzt und wieder abgebrochen wird. Vor dem Hintergrund der Rede von der diaristischen Bruchstückhaftigkeit lässt sich methodologisch eine Brücke von Klemperers alltagsorientierter Archivierung des Marginalen und Fragmentarischen zu Stephen Greenblatts neuhistoristischem Ansatz schlagen, dessen Ästhetik für eine Geschichte der Namenlosen, der Opfer, der Sprachlosen, des Alltäglichen plädiert (vgl. Ernst 2002: 51). Die Repräsentation des Alltags erfüllt vor diesem Hintergrund auch eine politische Funktion, die kontextbedingt ist. Die Archivierung des Alltags unter dem Nationalsozialismus stellt bei Klemperer stets auch eine phänomenologische Rettung der Vergangenheit dar. Er speichert die Namen und Gesichter der Verstorbenen, er bewahrt Bruchstücke und Fragmente der vielfachen Verordnungen, Erlasse, Schikanen, Erniedrigungen, Meinungen und Gerüchte, er hat ein offenes Ohr für dasjenige, was den Zeitgeist der NS-Ära ausmacht. Das Tagebuch wird zur Gedächtnisstütze für künftige Projekte, es wird zum Reflexionsort und etabliert eine Alltagsroutine unter unsteten Umständen. Es wird zum Ort, an dem die eigene Existenz behauptet und mitunter auch infrage gestellt wird. Alltäglichkeit ist in gewissem Maße ein grundlegendes Gattungsmerkmal jedes Tagebuchs: Die zeitnahe Selbstverschriftlichung und die Orientierung am Tagesgeschehen gehen in der Diaristik geradezu immer mit einem alltäglichen Schreibmodus einher. Die Eigenart von Klemperers Tagebüchern als historiographischem Schriftmedium, das auf spezifische Weise den Blick auf den Alltag lenkt, liegt – im Gegensatz zu vielen anderen Tagebüchern seiner Zeit – in ihrer Verschränkung privatbiographischer, zeitgeschichtlicher und philologischer Beobachtungen. Das Tagebuch als Prätext der philologischen Arbeit LTI und als Reflexionsmedium für Klein- und Großgeschichte präsentiert aus der Sonderperspektive eines patriotischen, assimilierten deutsch-jüdischen Verfolgten aussagekräftiges Material zum Alltag des Dritten Reiches. Vor diesem Hintergrund gewähren Klemperers Aufzeichnungen einen besonders seltenen und aufschlussreichen Einblick in das Funktionieren der NS-Gesellschaft.

669 Maurice Blanchot (2003: 73) zufolge entspricht das Fragmentarische „ein[em] Denken, das keine Einheit mehr garantiert.“ Das Fragmentarische im Tagebuch, in Form einzelner, immer neu einsetzender Tageseinheiten, befindet sich jenseits eines langfristigen Zeitrahmens. Das Tagebuch besteht strukturell aus einer kaleidoskopartigen Reihe zerstückelter Tageseinheiten. Laut Blanchot geht das Fragmentarische „dem Ganzen nicht voraus, sondern spricht sich außerhalb des Ganzen und nach ihm aus.“ (ebd.) Zum Modus der Fragmentiertheit in – Hermann Bahrs – Tagebüchern vgl. beispielsweise Moser (2002: 90ff.).

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3.3 Das Tagebuch als Interdiskurs: Philosophie und Literatur DAS TAGEBUCH ALS INTERDISKURS

3.3.1 Kulturpoetik und Tagebuch Die folgenden kulturpoetischen Überlegungen machen es sich zur Aufgabe, Victor Klemperers Aufzeichnungen aus der Zeit des Dritten Reiches sowohl im Hinblick auf die Selbstkonstruktion des Tagebuchautors als auch auf zeitgenössische Diskursfelder zu kontextualisieren.670 Die kulturhistorische Bedeutung von Klemperers Notizen aus der NS-Zeit erschließt sich – so ist im Folgenden zu zeigen – auf besondere Weise in ihrem Verhältnis zu Resonanztexten aus ihrem kulturellen Umfeld. Dabei ist der Frage nachzugehen, wie ein solch privat ausgerichtetes Schriftmedium wie das Tagebuch in den zeitgenössischen diskursiven Feldern, die für die Tagebucheinträge relevant zu sein scheinen, positioniert werden kann. Ansatzweise wird in diesem Kapitel versucht, Klemperers intellektuelle Positionierung ganz gezielt an zwei im Tagebuch dominanten Diskursfeldern zu veranschaulichen: am philosophischen (3.3.2) und am literarischen Diskurs (3.3.3). Zum Zweck dieser Positionierung soll das Tagebuch mit synchronen Texten aus dem Zeitraum 1933-1945 in Bezug gesetzt werden.671 Zu diesen zeitgenössischen Referenztexten gehören vorwiegend Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze und Bücher jüdischer672 wie nichtjüdischer673 Provenienz. Der Status dieser Texte als Spuren bzw. Repräsentationen der zugänglichen philosophischen und literarischen Diskurse im Dritten Reich stellt das Hauptkriterium für ihre Berücksichtigung dar. Ausgehend von Jürgen Links Interdiskursanalyse betrachte ich das Tagebuch vorrangig674 als Interdiskurs, der das in den Spezialdiskursen – wie Politik, Medizin, Wirtschaft, Philosophie usw. – arbeitsteilig organisierte Wissen im diaristi-

670 Diese Vorgehensweise synchroner Kontextualisierung gesellschaftlicher Diskurse findet sich exemplarisch in den drei folgenden Werken: Jean Starobinskis Arbeit 1789. Les Emblèmes de la Raison (1973), Marc Angenots Studie 1889. Un état du discours social (1989) und Hans Ulrich Gumbrechts Werk 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit (2001) befassen sich – auf sehr unterschiedliche Art und Weise – mit der im Folgenden angestrebten diskursiven Kartierung des kulturellen Wissens und stellen damit aufschlussreiche methodische Ansatzpunkte zur kontextuellen Untersuchung diaristischer Texte bereit. 671 Eine Übersicht der herangezogenen Resonanztexte findet der Leser im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit (in 8.2). 672 Jüdische Zeitschriften und Zeitungen erschienen im Dritten Reich bis 1938, manchmal bis Anfang 1939. Danach durfte nur noch das Jüdische Nachrichtenblatt erscheinen. Des Weiteren stütze ich mich ebenfalls – auch für die Periode nach 1938 – auf jüdische Exil-Quellen. 673 Da die NS-Gesellschaft in allen Bereichen ‚gleichgeschaltet‘ war, handelt es sich hinsichtlich der nichtjüdischen Quellen zwangsläufig um nationalsozialistische oder zumindest nationalsozialistisch geeichte Dokumente. 674 Das Tagebuch ist vordergründig als Interdiskurs zu verstehen, der zudem aus funktionaler Perspektive auch die Rolle eines ideologiekritischen Metadiskurses und dokumentarischen Gegendiskurses erfüllt.

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schen Text reintegriert.675 Der Begriff ‚Interdiskurs‘ kann somit zur Bezeichnung all jener Diskurselemente verwendet werden, die man in mehreren Diskursen wiederfindet. Besonders Metaphern, Symbole, Analogien, Mythen und Ikonen überführen das Spezialwissen in eine anschauliche Form und ermöglichen eine Verständigung über Diskursgrenzen hinweg. Die Kontextanalyse erfolgt in 3.3.2 und 3.3.3 über Ikonen, die diskursive Kontaktstellen zwischen Tagebuch und Resonanzkorpus sichtbar machen können: Im philosophischen Diskurs handelt es sich um ‚Voltaire‘ und ‚Rousseau‘, im literarischen Diskurs um ‚Goethe‘, ‚Schiller‘ und ‚Lessing‘. Ikonisierte Personen sind als massenmedial vermittelte, symbolträchtige Repräsentationen abstrakter Ideen, Prinzipien, Strömungen unterschiedlichster Art zu verstehen, die nahezu allen Menschen eines Kulturkreises – zumindest als Name – bekannt sind. Die Ikonen ‚Voltaire‘ oder ‚Goethe‘ stellen vor diesem Hintergrund auf säkulare Weise vergeistigte Produkte dar und werden somit zur Projektionsfläche gemeinschaftlicher Identitäten. Wichtig in diesem Kontext ist, dass sie als Kollektivsymbole sowohl mit negativen als auch mit positiven Konnotationen assoziiert werden können. Diese semantische Offenheit ist eine Voraussetzung für die Produktivität von Kollektivsymbolen, denn sie ermöglicht es, unterschiedliche, insbesondere auch antagonistische gesellschaftliche Positionen zu verhandeln. Sie fungieren als eine interdiskursive Schnittstelle, an der das Wissen der Zeit zusammenläuft (vgl. Neumann 2006: 37f.). Diese Herangehensweise ermöglicht es, Erkenntnisse über das Funktionieren des Totalitarismus und der Gleichschaltung zu gewinnen, indem sie ersichtlich macht, wie der Nationalsozialismus alle Gesellschaftsbereiche und Diskurse politisiert und mit rassenbiologischen bzw. religiösen Elementen verschränkt. Durch einen Vergleich können auf diese Weise im zusammengeführten textuellen Archiv intertextuelle Bezüge freigelegt werden, die einen aufschlussreichen Einblick in die Kulturgeschichte des Dritten Reiches ermöglichen dürften. Eine literaturwissenschaftliche Kontextanalyse mag zu einer Entprivilegierung und Dezentrierung des literarischen Textes führen, allerdings schafft die Erweiterung der Materialbasis die Voraussetzung, um die interdiskursiven Schnittstellen einer Zeit begreifbar zu machen. Allerdings wird im aufgespannten Netz ko-okkurrenter Texte immer wieder zum Tagebuchtext zurückgekehrt, der den Bezugspunkt des kontextorientierten Vergleichsansatzes darstellt. Durch die gleichzeitige Berücksichtigung literarischer und nichtliterarischer Texte eröffnet sich auf diese Weise ein differenzbewusster Vergleichsraum, in dem kulturhistorisch aufschlussreiche 675 Klemperers Tagebucheinträge werden als ein verschiedene Spezialdiskurse (re-)integrierender Interdiskurs begriffen, dessen Analyse Einblicke in das zeitgenössische Inventar von Einstellungen, Denkweisen und Empfindungen zu gewinnen erlaubt. Demnach ist die Frage, der in diesem Teil das Interesse gilt, folgende: In welchem Verhältnis stehen Klemperers Notizen zu den sie als ‚Kontexte‘ umgebenden kulturellen Diskursen und Mentalitäten? Durch die Analyse der Tagebuchtexte als materiale Objektivationen zeitgenössischer Kultur lassen sich Rückschlüsse auf zugrunde liegende Mentalitäten ziehen. Zum Begriff des ‚Interdiskurses‘ bei Jürgen Link vgl. vor allem Link (1988; 1999) und Link und Link-Heer (1990).

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Affinitäten und Spannungen zwischen Literatur und anderen Medien ersichtlich werden (vgl. Neumann und Nünning 2006: 21).676 In einem solchen synchron dargelegten Geschichtsraum wird versucht, den im Dritten Reich prävalenten Wissensbestand und seine ideologische Codierung anhand der Analyse eines Textkorpus zu rekonstruieren. Durch die ikonographische Berücksichtigung einer Anzahl synchroner Schriftspuren, die gemeinsame thematische Züge aufweisen, soll vermieden werden, die Tagebücher auf eine anachronistische Weise zu rekonstruieren, die eher den heutzutage gültigen Vorstellungen und Verhaltensformen entspricht als denen der Entstehungszeit. Vor diesem Hintergrund hebt Gabriele Rosenthal (1988: 7) hervor: Betrachten wir heute z.B. die Machtübernahme von 1933, so denken wir schon immer den weiteren Verlauf mit und unterliegen der Gefahr, dieses Wissen bei der Rekonstruktion der damaligen Bedeutung des 30. Januar ex post miteinzubeziehen. Wie dieses Datum jedoch 1933 erlebt wurde, konstituiert seine damalige Bedeutung und ermöglichte damit den weiteren Verlauf. M.a.W., die gesellschaftliche Wirklichkeit 1933 bestimmte die Zukunft nach 1933. Nicht umgekehrt bestimmt die durch spätere Verläufe informierte Sicht [...] die Wirklichkeit von 1933; unsere gegenwärtige Sicht bestimmt vielmehr unsere Rekonstruktion von 1933.

Die nationalsozialistische Kultur des Dritten Reiches wird als ein Gewebe konzeptualisiert, das in zeitlich koexistierenden Intertexten beobachtbar wird. Die kritische kulturelle Dimension von Klemperers Tagebuchtext, der kontinuierlich auf die Instrumentalisierung von Literatur und Wissenschaft sowie auf die Verballhornung der deutschen Sprache reflektiert, wird durch ein zeitgenössisches Korpus anderer Texte erhellt.677 Diese kulturwissenschaftliche Kontextualisierung des subjektzentrierten Tagebuchs impliziert dessen Objektivierung und ermöglicht es damit, das Tagebuch als Objekt historischer Deutung in den Blick zu nehmen. Gerade eine synchrone Querschnittsanalyse eines einzelnen kulturellen Moments kann der kulturwissenschaftlichen Kontextualisierung selbstbiographischer Aufzeichnungsmedien wichtige Impulse verleihen. Gotthart Wunberg (2001: 226) formuliert die Vorgehensweise einer diskursiven Kontextualisierung des Tagebuchs bewusst überpointiert wie folgt: Konkret und etwas lapidar gesagt: wenn es sich um psychologische Probleme handelt, muß der psychologische Diskurs beschrieben werden; handelt es sich um historisch-politische, dann hat das mit dem entsprechenden historischen Diskurs zu ge676 Das neohistoristische Theorem der ‚Textualität von Geschichte‘ und der ‚Geschichtlichkeit von Texten‘ findet im kulturpoetischen Vergleich seine Anwendung: „Der Chiasmus des New Historicism wird im Modell des kulturellen Hypertextes als synchrone Intertextualität zur analysierbaren Struktur.“ (Baßler 1999: 30) 677 Es handelt sich in diesem Zusammenhang allerdings um einen idealtypisch operierenden Rekonstruktionsprozess, denn aufgrund des dynamischen und unabgeschlossenen diskursiven Netzes bleibt eine derartige Analyse zwangsläufig unvollständig. Grundsätzlich ist also festzuhalten, dass angesichts des enormen Umfangs aller potentiellen Resonanztexte die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch erheben kann, tatsächlich alle relevanten Äußerungen erfasst zu haben.

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schehen, geht es um theologische oder sozialgeschichtliche Diskurspartikel, müssen diese bereitgestellt und zu einander in entsprechenden Diskursrekonstruktionen in Beziehung gesetzt werden.

Es geht mir in diesem Kapitel weniger um die diaristischen Texte in ihrer Eigenschaft als historische Quellen bzw. um historische Quellen zur Kontextualisierung von Klemperers Tagebuch als vielmehr um die Spannung zwischen einerseits den herangezogenen synchron koexistierenden Resonanztexten und andererseits den Aufzeichnungen Klemperers. Der Tagebuchtext gründet nicht auf einer internen, geschlossenen Struktur, sondern als Interdiskurs lassen sich in ihm gesellschaftliche Denkformen, Diskursverknüpfungen wie auch – und vor allem – Widerstreit und widerständige Bewegungen ausmachen. Die angebotene Gliederung in philosophischen und literarischen Diskurs erzeugt keine Matrix, stattdessen entsteht ein Kaleidoskop aus verschiedenen Diskursfragmenten, die immer wieder ein neues Muster entwerfen; es gibt ständig Querverweise, Widerspiegelungen und Brechungen, die zeigen, wie Politik, Religion und Rassenbiologie integraler Bestandteil aller gesellschaftlichen Diskurse der Zeit waren. Es ist freilich ein idealtypisch vorgehender Rekonstruktionsprozess, da die einzelnen Elemente nie in einer sauber abgetrennten Bedeutungseinheit vorliegen, sondern in ständigen Wechselprozessen und Interdependenzen stehen. Im Tagebuch verarbeitet Klemperer viele unterschiedliche Diskurse, von denen von mir Literatur und Philosophie hervorgehoben und dominant gesetzt werden. Den Tagebüchern selbst wohnt als philologischem Arbeitsjournal ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse inne. Im Hinblick auf seine zu verfassende sprachkritische Arbeit LTI formulierte Klemperer das Vorhaben, die einzelnen „Lebensgebiete“ der NS-Gesellschaft sprachlich zu erfassen, wie folgt: Aus dem Bedürfnis des Verankerns erwächst die Sprache der Disziplin, die Führersprache, der Übergriff des Militärischen auf buchstäblich alle Lebensgebiete. Das ‚buchstäblich alle‘ ist Punkt für Punkt auseinanderzulegen: Politik, Literatur (Unterabteilungen!), Wirtschaftsleben, Alltag, alltäglichster und intimster ... LTI (schöne gelehrte Abkürzung für Lingua tertii imperii, künftig zu benutzen). (ZAI: 622 [23.6.-1.7.1941])

Es wäre in diesem Zusammenhang aber unausgewogen, Klemperer als direkten Vorläufer der Kritischen Diskursanalyse oder der linguistischen Ethnographie einzuordnen,678 da, wie Philip Riley (2007: 138f.) mit Recht bemerkt, er sich in

678 Siegfried Jäger (1999a; 2001: 126) und Gunhild Samson (2002) bezeichnen Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen, in denen die Sprache des Dritten Reiches (‚LTI‘) und die Mentalitäten der deutschen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus (‚vox populi‘) im Mittelpunkt des Interesses stehen, als philologische Frühform der Diskursanalyse im Sinne Foucaults. Tatsächlich verfuhr Klemperer als Literaturhistoriker – z.B. in Sachen Quellentreue, Sammelmethodik, Hervorhebung des besonderen Verhältnisses von Sprache und Ideologie – auf philologische Art und Weise. Die Wissenschaftstradition und die politische Grundlage, die seine Herangehensweise prägten, sind indes mit der Diskursanalyse, wie sie nach der linguistischen Wende betrieben wurde, nicht deckungsgleich in Einklang zu bringen. Nichtsdestoweniger verspräche

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seiner philologischen Arbeitsweise an die deutsche hermeneutische Tradition von Herder und Humboldt wie Spitzer anlehnte. Klemperer war der Meinung, die benutzte Sprache gebe Auskunft über Denk- und Verhaltensmuster, Einstellungen und kollektiv geteilten Gefühle. Und seine in der Weimarer Zeit veröffentlichten literarhistorischen Studien gründeten auf der romantisierenden Völkerpsychologie. Dennoch können diskursanalytische und ethnographische Ansätze gewinnbringend eingesetzt werden, um neue Zugänge zum Tagebuch zu ermöglichen, um es kulturwissenschaftlich zu erschließen. Eine literaturwissenschaftliche Kontextualisierung zeichnet sich immer durch die Kontingenz ihres Verfahrens aus, da im Hinblick auf die Auswahlkriterien für das Resonanzkorpus stets das „Gefühl der archivalischen und interpretativen Unerschöpflichkeit“ vorherrscht (Gallagher und Greenblatt 2000: 15). Die synchronen Texte, mit denen Klemperers Aufzeichnungen zu Philosophie und Literatur umstellt werden, lenken stets auch prinzipiell den Blick auf sich selbst: Man kann einen Gegenstand immer weiter erforschen, es gibt immer eine weitere Spur, immer einen Rest, und dies sogar im schlüssigsten und kohärentesten Argument. Darüber hinaus entwickeln Texte, die zunächst hinzugefügt wurden, um ein bestimmtes kulturelles Objekt zu beleuchten, die seltsame Neigung, als faszinierende interpretative Enigmen die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. (ebd.)

Victor Klemperers Tagebücher nehmen im diskursiven Feld des Dritten Reiches, so soll im Folgenden gezeigt werden, eine gewissermaßen widerständige Stellung ein: Sie stellen eine ideologiekritische Dokumentation und Dekonstruktion der vorherrschenden Diskurse aus der NS-Zeit dar. Das kritische, kulturhistorische Funktionspotential der Diarien lässt sich als triadisches Diskursmodell beschreiben.679 Im Folgenden sei überblicksartig vorgestellt, wie Klemperers Tagebücher auf exemplarische Art und Weise das engmaschige Zusammenspiel von ideologiekritischem Metadiskurs, dokumentarischem Gegendiskurs und reintegrierendem Interdiskurs erhellen. Die dreipolige Struktur ist in die Tagebuchtexte selbst eingeschrieben. Im Einzelnen könnte man die vorgeschlagene Dreiteilung wie folgt darstellen: 1. Die Tagebücher als ideologiekritischer Metadiskurs: Die erste Verfahrensweise des diaristischen Schreibens besteht in der Darstellung der ideologischen Defizite und Widersprüche des Nationalsozialismus. Den Tagebüchern liegt eine ideologiekritische Energie zugrunde, die die NS-Ideologie und den Antisemitismus als lebensbedrohliche Terrorstrukturen und traumatisierende Vereinheitlichungsversuche der Lebensvielfalt darstellen, die zu Selbstentfremdung, Kommunikationsein Vergleich zwischen Klemperer und Foucault, im Hinblick auf den Zusammenhang von Sprache und Politik aus wissenschaftshistorischer Perspektive gewinnbringend zu sein. 679 In diesem Zusammenhang stütze ich mich in partieller Anlehnung an das von Hubert Zapf (2002: 63-68; 2005: 67-75) entwickelte Funktionsmodell von Literatur. Zapf unterscheidet in seinem triadischen Funktionsmodell der Literatur zwischen ‚kulturkritischem Metadiskurs‘, ‚imaginativem Gegendiskurs‘ und ‚reintegrativem Interdiskurs‘.

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störung und letztlich auch Todesangst führen. Der Nationalsozialismus wird auf eine solche Weise repräsentiert, dass er zugleich dekonstruiert wird, indem im totalitären Gedankengut Widersprüche aufgedeckt werden, die im konkreten Lebenshorizont der Menschen paralysierende Deformationen bewirken. 2. Die Tagebücher als dokumentarischer Gegendiskurs: Dieser Funktionsaspekt lässt sich als gegendiskursive Inszenierung dessen, was im NS-System diskriminiert und unterdrückt wird, verstehen. Die Tagebuchaufzeichnungen repräsentieren, was in den manichäischen, antisemitischen, rassenbiologischen Kategorien unrepräsentiert bleibt, was aber für eine angemessen komplexe Bestimmung des Menschen und seiner Position in der Welt unverzichtbar erscheint. In ihrer Betonung der jüdischen Perspektive und ihrem Hervorheben nichtkonformer Aussagen in der Bevölkerung stellen sie auf dokumentarische Weise das Marginale und Ausgeschlossene in den Mittelpunkt des Interesses: Die Perspektive der Verfolgung, die Darstellung der graduellen Entrechtung und die Archivierung der Erinnerung an Personen und Geschehnisse. Die Notate werden somit zu einer widerständigen Schriftform, die humanistische Ideale konträr zum totalitären System ausformuliert.680 3. Die Tagebücher als reintegrativer Interdiskurs: Der dritte Funktionsaspekt der Tagebücher lässt sich schließlich als Reintegration des Verdrängten in das kulturelle Realitätssystem beschreiben. Die diaristische Gegenwelt bezieht ihre besondere kognitive und affektive Intensität aus der Interaktion dessen, was durch die Diktatur und die totalitäre Gesellschaftsordnung voneinander getrennt ist. Im diaristischen Interdiskurs werden die rassenbiologischen, religiösen, politischen und sonstigen NS-Diskurse auf eine bestimmte – in der Regel kritische – Art und Weise miteinander verbunden. Eine synchrone Querschnittsanalyse der Tagebuchaufzeichnungen Victor Klemperers eröffnet somit einen umfassenden Zugang zur Mentalität seiner Epoche, im Hinblick sowohl auf die Deutschen als auch auf die (assimilierten) Juden. Jedes synchrone System trägt aber stets auch seine Vergangenheit und Ausrichtung auf die Zukunft mit sich (vgl. Hebel 1996: 281f.). Darum impliziert diese kulturpoetische Herangehensweise auch eine Orientierung am Vorher und Nachher. Die folgenden Analysen werden deswegen auch kulturtheoretisch und -historisch untermauert.681 Mit einer solchen Untermauerung soll im Folgenden versucht werden, einen breiten Raum kulturgeschichtlicher Reflexionen zu eröffnen. 680 Demgemäß bezeichnet Hélène Camarade (2007) ideologiekritische Tagebücher aus dem Zeitraum des Dritten Reiches als ‚Dokumente des Widerstands.‘ 681 Um dem semantischen Symbolwert von Ikonen wie ‚Voltaire‘, ‚Rousseau‘, ‚Goethe‘ oder ‚Lessing‘ nachzugehen, referiere ich zur kulturphilosophischen Interpretation des philosophischen und literarischen Diskurses unter anderem auf die kontroversen Diskussionen um die Bedeutung von Aufklärung und Moderne, wie sie beispielsweise von Adorno und Habermas geführt wurden.

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3.3.2 Aufklärung und Philosophie: Voltaire und Rousseau 3.3.2.1 Tagebuch und Romanistik Im 1984 veröffentlichten Aufsatz „Qu’est-ce que les lumières?“ misst Michel Foucault Kants wegweisendem Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) viel Bedeutung bei. Die moderne Philosophie hat Foucault zufolge die Frage nach der Bedeutung der Aufklärung zwar nie beantworten können, sei sie aber andererseits auch nie losgeworden. Foucault begreift die Aufklärung, an Kant anschließend, als kritische Beziehung zur Gegenwart: Von Hegel bis Horkheimer oder Habermas, über Nietzsche und Max Weber, gibt es kaum eine Philosophie, die direkt oder indirekt, nicht mit eben dieser Frage konfrontiert gewesen wäre: Was ist das also für ein Ereignis, das man die Aufklärung nennt und das zum Teil zumindest bestimmend ist für das, was wir heute sind, was wir heute denken und was wir heute tun? (Foucault 2005: 687)

In seinen Tagebüchern des Dritten Reiches stellt sich der deutsch-jüdische Romanist Victor Klemperer stellenweise dieselbe Frage: Was ist die Bedeutung der Aufklärung und in welchem Maße ist sie bestimmend für die Gegenwart? Klemperers Tagebücher vermitteln ein facettenreiches und sehr persönliches Bild der Judenverfolgung in der NS-Zeit. Vor allem in diesem Zeitraum stellt sich die Literatur der französischen Aufklärung als Klemperers akademischer Hauptschwerpunkt heraus. Sein leidenschaftliches Interesse für die französische Aufklärung – und insbesondere für ihren Vertreter Voltaire – zieht sich durch das gesamte Werk: Bereits 1914 galt Klemperers Habilitationsschrift Montesquieu, dem Begründer des liberalen aufgeklärten Rechtsdenkens. Die großen deutschen Romanisten seiner Zeit – Karl Vossler, Leo Spitzer, Ernst Robert Curtius, Erich Auerbach – haben sich in ihren Arbeiten hingegen wenig um die französische Aufklärung und schon gar nicht um Voltaire und Rousseau gekümmert. Die deutsche Romanistik, unter dem Vorzeichen der klassischen Philologie gegründet, beschäftigte sich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hauptsächlich mit Mittelalter und Sprachgeschichte und hatte mit den revolutionären Ideen der Aufklärung gleichfalls nichts im Sinn und ordnete diese Epoche kunsthistorischen Kategorien, wie dem Zeitalter der Renaissance oder des Barock zu (vgl. Schober 2004: 137ff.). Klemperers lebenslange Vorliebe für die französische Aufklärung schlägt sich auch in seinen Tagebüchern des Dritten Reiches nieder, die über den Fortgang seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten genau Protokoll führen. Er hat während der NS-Diktatur – neben dem Tagebuchführen – an drei weiteren Projekten gearbeitet: an einer Literaturgeschichte der französischen Literatur der Aufklärung; an seiner Autobiographie: dem Curriculum Vitae; und an der Vorbereitung seiner sprachkritischen Arbeit über die Sprache des Nationalsozialismus: LTI. Diese Projekte sind im selben Zeitrahmen unter denselben Umständen entstanden und sind somit inhaltlich untereinander vernetzt. Klemperer legt über seine täglichen Arbeitsschritte Rechenschaft ab und zeichnet im Einzelnen die Entwicklungssta-

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dien seines zweibändigen romanistischen Werkes über die französische Aufklärungsliteratur, Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, auf.682 In den Tagebuchnotizen stellt sich heraus, wie das Zeitgeschehen des Dritten Reiches einen unmittelbaren Einfluss auf die philosophischen Grundlagen seines Denkens ausübte. In einem Brief an seine Schwester Grete hebt Klemperer ausdrücklich den Aktualitätswert seiner Aufklärungsforschung hervor, die vor der Folie der schicksalshaften Geschichte des Dritten Reiches entstand: Alle Probleme des französischen 18. Jh.’s sind so unheimlich aktuell. Auf Voltaire, Montesquieu, Diderot, Helvétius, Holbach geht zurück, was es an Freiheit in der Welt gegeben hat und wieder geben wird. Und auf der andern Seite Rousseau – das ist die Lessingsche Ringfabel mit einer kleinen aber wichtigen Abänderung: die Erben streiten heute, ob der in Rom oder der in Moskau oder der in Berlin den echten geerbt hat, und doch war eben der erste und eigentliche so greulich unecht. (A 202 [17.11.1936])

Die Epoche des 18. Jahrhunderts in Frankreich bildet nach seiner Entlassung von der Technischen Hochschule Dresden 1935 und im Hinblick auf die geplante französische Literaturgeschichte den Hauptschwerpunkt in Klemperers Forschungsarbeiten, bis ihm 1938 der Zugang zu Bibliotheken endgültig versperrt wurde und er die laufende Arbeit an seinem „Lieblings- und Schmerzenskind, dem Dix-huitième“ einstellen musste (CVI: 9). Aus dem ihm aufgrund dieses Bibliotheksverbots entzogenen Forschungsschwerpunkt speisen sich seine philosophischen bzw. politischen Überzeugungen im Tagebuch. Isoliert und gedemütigt, waren Weltbürgertum und Aufklärung – paradigmatisch versinnbildlicht durch die Figuren Voltaire, Montesquieu und Diderot – die einzigen Kulturwerte, die für Klemperer unbeschadet den zwölfjährigen Zeitraum des Nationalsozialismus überdauerten. Die Aufklärungsphilosophie stellte unter diesen Umständen den symbolischen Kraftquell seines Überlebenskampfes dar: Als dann die Beamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, versuchte ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so unmodernen und geschmähten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immer meine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit und Arbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden. (LTI: 21f.)

Die Zeitgeschichte bricht unabweislich in sein Tagebuch ein: Die Verzahntheit von Tagebuch, wissenschaftlicher Arbeit und Zeitgeschehen ist unverkennbar. Die Tagebücher werden durchkreuzt von Vermerken, die Tag für Tag die schleichende Einflussnahme der NS-Ideologie auf den Alltag aufzeichnen. In Klemperers Tagebüchern der NS-Zeit ist eine Trennung zwischen Privatem und Historischem grundsätzlich nicht vorzunehmen. Seine Tagebucheintragungen aus dem Zeitraum 1933-1945 werden somit als Teil eines Archivs aus komplexen und diskontinuierlichen Diskursen verstanden, als durchlässige Einheit, die mit ande682 Die beabsichtigte Studie zum 18. Jahrhundert war Teil eines umfassenderen Forschungsprojektes, dessen erster Teil (über das 19. und 20. Jahrhundert) bereits 1931 beendet war.

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ren Diskursen im Dialog steht. Der Tagebuchtext gründet also – trotz seiner IchZentriertheit – nicht auf einer internen, geschlossenen Struktur, sondern partizipiert an den zeitgenössischen, zirkulierenden Diskursen. Als „elaborierter Interdiskurs“ lassen sich in ihm gesellschaftliche Denkformen, Diskursverknüpfungen wie auch Widerstreit und widerständige Bewegungen ausmachen, die Einblick geben in die durch die Zeitumstände bedingte Entstehungsgeschichte seiner Literaturgeschichte (vgl. Link 1988: 286). Es gelingt Klemperer zwischen 1935 und 1938, die ersten zwei Bände seiner Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert nahezu zu beenden, aber der erste Band des Werkes erscheint letztendlich erst 1954 in der DDR und der zweite, posthum, erst 1966. In seiner Vorbemerkung zum 2. Band der Literaturgeschichte, Das Jahrhundert Rousseaus, rückt der Klemperer-Schüler Horst Heintze die oppositionelle Grundlage dieser literaturhistorischen Arbeit in den Vordergrund: Die persönliche Verfolgung, die er als jüdischer Intellektueller zu erleiden hatte, rief ihn zu kulturkritischer Reaktion auf. Solange ihm noch die Arbeit im literaturgeschichtlichen Beruf möglich war, hat er den individuellen Widerstand unter dem Deckmantel dieses Buches über das französische 18. Jahrhundert geleistet. (Heintze 1966: 10)

Klemperers Werknotizen lösen sich in den Erzählduktus jedes einzelnen Tagebucheintrags auf, bleiben aber unmittelbar mit dem persönlichen Befinden verbunden. Diese Verbindung zwischen ‚Text‘ (Klemperers philologische Forschungsarbeit) und ‚Ko-Text‘ (Tagebuch) thematisiert der strukturalistische Erzähltheoretiker Gérard Genette. In seinem erstmals 1987 erschienenen Werk Paratexte bezeichnet er das Schriftstellertagebuch als ‚intimen Epitext‘, den er folgendermaßen definiert: „[J]ede direkte oder indirekte Mitteilung über ein Werk der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, die der Autor mit oder ohne Publikationsabsicht, an sich selbst richtet.“ (Genette 1992a: 369) Diese Beschreibung kann ebenfalls auf Klemperers Tagebücher des Dritten Reiches übertragen werden, die als ‚intimer Epitext‘ den Werdegang seiner akademischen Schriften kommentieren und sich als Begleittext mit den persönlichen Grundlagen seiner philologischen Werke befassen. Im Anschluss an den Genette’schen Begriff des privaten Epitextes können die selbstbiographischen Schriften Klemperers als transtextuelle Kommentartexte verstanden werden, die als lektüresteuernde und hermeneutisch bedeutsame Hilfselemente Informationen, Erläuterungen und Interpretationen liefern. Diese Ko-Texte zu Klemperers beachtlichem philologischem Œuvre leisten einen wesentlichen Beitrag zur Kontextualisierung von Klemperers paradigmatischer Aneignung der französischen Aufklärungsphilosophen. Diese Aneignung, so soll in diesem Kapitel nachgewiesen werden, ist gerade deswegen paradigmatisch, weil sie nicht nur das kontingente, rein persönliche Interesse eines bestimmten Romanisten widerspiegelt. Sie sagt vielmehr etwas über das kulturelle Wissen der jeweiligen Zeit aus, in der das Tagebuch verfasst wurde. Im Lichte des Nationalsozialismus wurde der französischen Aufklärungsphilosophie – und vor allem ihrem anthropologischen Menschenbild – nach 1933 in

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anti-nationalsozialistischen intellektuellen Kreisen ein hoher symbolischer Stellenwert beigemessen.683 Die freiheitlich-demokratische Sicht der Aufklärung konnte sich von deutscher Seite aber nur noch in der Emigration äußern, wie etwa in Thomas Manns Plädoyer für die erhaltende Kraft der Aufklärungswerte „Freiheit, Wahrheit, Recht, Vernunft, Menschenwürde“ (Mann 1989 [1939]: 356ff.) oder in Martin Harts Forderung, die Ideen von 1789 in die Tat umzusetzen (vgl. Hart 1989 [1939]: 358f.). Auch Klemperer beharrt auf der Bedeutsamkeit der Aufklärung: „Und je verächtlicher sich meine Zeit von dem für Voltaire Entscheidenden, von den Ideen des Liberalismus und der Aufklärung abgewandt hat, mit umso größerer Liebe habe ich an ihm festgehalten.“ (CVI: 316) Dieses Kapitel basiert auf der Grundannahme, dass ein Verständnis der philologischen Werke Victor Klemperers, die sich en erster Stelle mit dem französischen Aufklärungsdenken befassen, ohne Analyse der Tagebücher und der Autobiographie, das heißt ohne eine Analyse der von ihm selbst in derselben kontinuierlich durchgeführten Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition Voltaires und Rousseaus, nicht zureichend möglich ist. Es lässt sich nachweisen, dass in die literaturhistorische Arbeit Klemperers auch Grundelemente der in den Tagebüchern entwickelten Theorien eingegangen sind, in denen die wissenschaftliche Isolierung und die politische Lage während des Dritten Reiches eindeutig ihre Spuren hinterlassen haben: Die literaturhistorische Interpretation Voltaires und Rousseaus stand für Klemperer in der NS-Zeit immer „in engster Beziehung zum Heute.“ (CVII: 587) Bereiche, die der Tagebuchautor lange Zeit für reine Privatsache gehalten hatte, wie seine eigene romanistische Forschungsarbeit, stellen sich als höchst öffentliche Orte heraus, in denen Subjekt und Umwelt untrennbar miteinander vermischt werden.684 Im Rahmen dieser kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchung sollen folglich, um der Komplexität des philosophischen Diskurses in Klemperers Tagebüchern gerecht zu werden und den zeitgeschichtlichen Schreibimpetus nicht aus dem Auge zu verlieren, Klemperers während des Nationalsozialismus entstandene Schriften – d.h. die Tagebücher der Jahre 1933 bis 1945, seine zweibändige Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, sein Curriculum Vitae sowie die LTI – in den Kontext ihrer Entstehungszeit hineingestellt werden. Die Analyse des philosophischen Diskurses in Victor Klemperers Tagebüchern der NS-Zeit – exemplarisch aufgezeigt an zwei paradigmatischen Vertretern der Aufklärung: Voltaire und Rousseau – untersucht daher nicht nur die Tagebucheintragungen, sondern 683 Auf dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress 1935 – an dem auch viele ins Pariser Exil gegangene deutsche Intellektuelle teilnahmen – rückt beispielsweise André Malraux die erstrangige Bedeutung des Humanismus in den Mittelpunkt seines Vortrags: „Der Humanismus, den wir schaffen wollen und der bisher seinen Ausdruck in der Linie des Denkens gefunden hat, die von Voltaire zu Marx führt, erfordert vor allem die reale Bewußtwerdung des Menschen.“ (Akademie der Wissenschaften der DDR 1982: 135) 684 Klemperer drückt – auf ironische Weise – die unauflösbare Verquickung von Aufklärungsforschung und Zeitgeschehen folgendermaßen aus: „Und zu grundlegenden Gedanken darin [=in Klemperers Forschung, A.S.] steht der ‚Führer‘ Pate.“ (ZAI: 126 [29.7.1934])

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rekonstruiert die kulturellen Beziehungen, in denen die Texte entstanden sind. Sie analysiert ferner die mentalen Dispositionen, die für ihre Entstehung verantwortlich waren und die mehr oder weniger deutlich in sie eingeschrieben sind. Das Tagebuch soll also zunächst repolitisiert werden, d.h. wieder in den politischen und sozialen Kontext eingebettet werden, in dem es entstanden ist. Zum Zweck der Kontextualisierung erweist sich die synchrone Kulturpoetik als gewinnbringende historisierende Herangehensweise an den philosophischen Diskurs in Klemperers Tagebüchern aus dem Zeitraum des Dritten Reiches. 3.3.2.2 Synchrone Kulturpoetik: Philosophischer Diskurs Am Beispiel des philosophischen Diskurses in Klemperers autobiographischen Schriften soll aufgezeigt werden, wie die einschlägigen diaristischen Einträge ihre unmittelbaren Kontexte nachvollziehbar in sich enthalten, diese Kontexte authentisch repräsentieren, und sie aus der Perspektive des Diaristen kommentieren. Aus der Analyse der Rezeption der beiden Aufklärungsphilosophen Voltaire und Rousseau eröffnen sich Ansätze zur weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Kulturbereich Philosophie bzw. Philologie sowie zur Rekonstruktion und Interpretation der diesen Kulturbereich regierenden Konflikte und Allianzen. Der philosophische Diskurs, der den Analyseschwerpunkt dieses Kapitels darstellt, ist integraler Bestandteil der Kultur ihrer Entstehungszeit: des Dritten Reiches. An ihm soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern von den Tagebüchern auf die öffentliche Meinung ihrer Entstehungszeit zurückgeschlossen werden kann. Jürgen Link hat mit seiner ‚Interdiskursanalyse‘ ein Konzept entwickelt, das es ermöglicht, anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben, wie kulturelles Wissen aus unterschiedlichen – arbeitsteilig ausdifferenzierten – wissenschaftlichen Bereichen über den Interdiskurs ins Tagebuch eingeht. Der diaristische Interdiskurs kann die verschiedenen Spezialdiskurse – wie den philosophischen Diskurs – reintegrieren. Das Verhältnis zwischen Interdiskurs und Spezialdiskursen erweist sich als hochgradig selektiv und komplexitätsreduzierend, weil im Interdiskurs nur dasjenige zur Anschauung gebracht wird, was zur Diskursintegration unbedingt notwendig ist (vgl. Link 1988: 288f.). So wird der spezialdiskursive Praxisbereich der romanistischen Forschungsliteratur im diaristischen Interdiskurs im Hinblick auf Klemperers alltägliche Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus kommentiert und sozusagen popularisiert. Mein Interesse gilt im Folgenden nicht dem philosophischen Spezialdiskurs an sich, sondern vielmehr den autobiographischen Schriften Klemperers, die als interdiskursiver Bereich – im Wechselspiel von beispielsweise Politik und Philosophie – auf bestimmte Weise Diskursinterferenzen und Diskursberührungen aufweisen. In diesem Rahmen ist es meine Absicht, in einem Korpus synchroner Texte aus dem Zeitraum des Dritten Reiches leitmotivische Äquivalenzen festzustellen (vgl. Baßler 2005: 162). Dazu soll im Folgenden – ausgehend von Jürgen Links Interdiskursanalyse – das Journal Klemperers mit zeitgenössischen Referenztexten verglichen werden. Als komparative Analysegrundlage dient eine systematisch

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auszuwertende Sammlung von Resonanztexten, die auf den Zeitraum 1933-1945 enggeführt worden ist. Zu den Referenztexten gehören vorwiegend nationalsozialistische bzw. nationalsozialistisch geprägte Zeitschriftenaufsätze und Bücher, die von Politikern, Philosophen, Philologen und Historikern in diesem Zeitraum verfasst wurden. Der Status dieser Resonanztexte als polemisierender Darstellungen der französischen Aufklärung stellt das Hauptkriterium für ihre Berücksichtigung dar. Diese Texte, die verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entnommen sind, berühren alle das Themenfeld des sozialen Umbruchs und bieten die Möglichkeit, über das Thema ‚Aufklärung‘ unmittelbar Vergleiche mit den Tagebuchaufzeichnungen Klemperers anzustellen, so dass im textuellen Archiv intertextuelle Bezüge freigelegt werden können. Um die (damalige) Normalität der Propositionen zum Thema ‚Aufklärung‘ zu erfassen, soll demnach versucht werden, sich dem kulturellen Wissen der Zeit anzunähern. Indem die Kultur während des Nationalsozialismus als ein Gewebe konzeptualisiert wird, das in synchron koexistierenden Intertexten beobachtbar wird, wird sie zum lesbaren Text: „Wir erschließen [...] das kulturelle Wissen aus den Texten einer Kultur.“ (Titzmann 1989: 50) Es gilt also, jene Äußerungen als Feldtexte heranzuziehen, die Klemperers Textstellen bestätigen oder widerlegen. Dazu seien im Folgenden die drei folgenden Themenbereiche hervorgehoben: ‚Aufklärung und Französische Revolution‘ (3.3.2.3); ‚Voltaire‘ (3.3.2.4); und ‚Rousseau‘ (3.3.2.5). 3.3.2.3 Aufklärung und Französische Revolution Victor Klemperers aktualitätsgeprägter Rückbezug auf die Aufklärung als noch zu verwirklichendes politisches Ideal geht auf sein deutsch-jüdisches Selbstverständnis zurück, das dem emanzipatorischen Assimilationswunsch verhaftet bleibt. Als 1933 viele Juden ihre deutsche Identität fundamental in Frage stellten, beharrte Klemperer darauf, dass „ich Deutscher sei und gerade ich.“ (ZAI: 67 [9.11.1933]) Diese emphatische Selbstdarstellung als Deutscher spricht eindeutig die Problematik des assimilierten bzw. säkularisierten deutschen Judentums an, die wie ein roter Faden Klemperers Tagebucheinträge durchkreuzt. Klemperer definierte sich vor 1933 fast ausschließlich über sein deutsches Denken und Fühlen, aber mit der Machtübernahme Hitlers wurde ihm vom NS-Regime seine deutsche Identität aberkannt.685 Mit dem Zusammenbruch des Narrativs der Weimarer Repu685 Die Deutschlandliebe vieler nach Assimilation strebender deutscher Juden war – wie in Klemperers Fall – überaus ernst; desto enttäuschter waren sie, als sie ihre angebotene Liebe abgelehnt fanden. Vor dem Machtantritt Hitlers maßen aufgrund der herbeigesehnten Gleichberechtigung viele deutsch-jüdische Intellektuelle dem emanzipatorischen Gedankengut der Aufklärung eine besondere Bedeutung bei. Dies war auch bei Klemperer der Fall: Schon seit seiner Jugend, wie er sich in seiner Autobiographie erinnert, kam der Aufklärung ein wichtiger Symbolwert zu: „Ich sah mich in schicksalhaft geheimnisvoller Verbrüderung mit der Aufklärung, und ich war sehr entschlossen, der Aufklärung zu dienen, mochte sie modern oder unmodern sein.“ (CVII: 627)

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blik und deren entsprechender Werte ist Klemperer folglich dazu veranlasst, seine Haltung bzw. Identität zu reflektieren und sich neu zu orientieren. Die immer intensivere Beschäftigung mit der Aufklärung im Dritten Reich fängt mit einer gefühlsmäßigen Betroffenheit an:686 Für Klemperer, konvertiert, assimiliert und Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, bedeutet die rassistische Diskriminierung gegen Juden einen harten Schlag für sein Bekenntnis zum Deutschsein. Klemperers Schmerz darüber, dass er 1935 seine Stellung als Professor für französische Literatur an der TH Dresden verlor, spiegelt nicht nur den Verlust eines Arbeitsplatzes wider, sondern auch den einer Gemeinschaft und eines Berufs. Nach seiner Entlassung litt Klemperer unter zunehmender wirtschaftlicher Not und dem Leid, mit ansehen zu müssen, dass seine soziale Stellung und sein beruflich-akademisches Ansehen bedeutungslos wurden. Klemperer verurteilt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufs Schärfste die wachsende Präsenz ideologischer Versatzstücke in den fachwissenschaftlichen Publikationen seiner Kollegen – denen er vorwirft, ihn nach seiner Amtsenthebung kaltherzig im Stich gelassen zu haben: „Die philologischen Fachzeitschriften, die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart in Gesinnung und Jargon des dritten Reiches, daß jede Seite Brechreiz verursacht.“ (ebd.: 63 [23.10.1933]) Klemperer drückt seine innere Distanz zum Regime und zur ‚gleichgeschalteten‘ Romanistik aus, indem er sein diaristisches Zeugnis, in Anlehnung an die großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, als rebellische Stellungnahme gegenüber einer illegitimen politischen Ordnung versteht: „Und immer wieder [...] gelang es den Aufklärern, ihre Schriften zu veröffentlichen und zu verbreiten, und jede an einem der Ihrigen vollzogene Strafe hatte nur eine Verstärkung und Ausbreitung des rebellischen Schrifttums zur Folge.“ (LTI: 33) Die Hoffnung, die dem Diaristen zugeschrieben werden kann, ist eher nüchtern: Es ist die minimale Hoffnung an das eigene künftige Selbst, aus dem eigenen Bedürfnis, dem Erlebten etwas entgegenzusetzen, eine kritische private Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Die Rezeption der Französischen Revolution und Aufklärung in Klemperers Tagebüchern kann, so die These in diesem Kapitel, nur im Hinblick auf ihren Entstehungskontext adäquat interpretiert werden. Anhand einer synchronen Querschnittsanalyse verschiedenartiger Texte aus dem Dritten Reich soll über das Thema ‚Aufklärung‘ eine im Detail nachvollziehbare Verknüpfung von Text und Kontexten hergestellt werden. Verweilen wir dazu zuerst einige Augenblicke bei den zeitgenössischen nationalsozialistischen Referenztexten von Klemperers Tagebüchern. Im ideologischen Sinne wurde von der NSDAP das Verhältnis zu Frankreich im Dritten Reich als weltanschaulicher Konflikt zwischen Nationalsozialismus und Demokratie verstanden mit dem Ziel eine globale ‚Gleichschal-

686 Zum Stellenwert der Aufklärung in Klemperers Denken vgl. Schröder (1996: 197ff.) und Sepp (2008b; 2013).

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tung‘ der Werte und Ideen der Französischen Aufklärung zu bewerkstelligen.687 Der Nationalsozialismus besetzt vor diesem Hintergrund eindeutig Positionen der Anti-Aufklärung. Die NSDAP versuchte der Machtübernahme 1933 im Nachhinein einen weltgeschichtlichen Wert beizumessen, indem sie die ‚Deutsche Revolution‘ nicht nur als endgültige Überwindung der moralischen Korruption des Versailler Vertrags und der Weimarer Republik hochstilisierte, sondern auch als Sieg über die Französische Revolution, gerade weil der ‚auferlegte‘ Frieden nach dem Ersten Weltkrieg688 als machtpolitischer Paroxysmus der Ära der Französischen Revolution galt (vgl. von Hippel 1989: 40). Die Aufklärung stellt in der philosophischen Rezeption während des Dritten Reiches ein negatives Projektions- und Legitimationsmedium dar, von dem es sich abzusetzen gilt. Sie wird in eine vom Liberalismus bis zum Marxismus und Bolschewismus reichende Tradition eingeordnet, die in der Weimarer Zeit ihren Höhepunkt erreichte: „Es gab seit diesem grenzenlosen Betrug der Jahre 1918/19 Menschen in Deutschland, die die Worte Republik, Demokratie, Menschenrechte, die die ganze Phraseologie von 1789 einfach nicht mehr hören konnten.“ (von Leers 1941: 78) Nach dem Ersten Weltkrieg wurden der Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreichs, die Revolutionswirren der Münchener Räterepublik, die sozialen, wirtschaftlichen und (geo-)politischen Folgen des Versailler Friedensvertrags oftmals als eine nationale Niederlage und als Ursachen der aus den Fugen geratenen und hochgradig kontingenten Zeit dargestellt. Die Aufklärungswerte galten aus nationalsozialistischer Perspektive als Ursprung dieser Krise. Der nationalsozialistische Diskurs über die Französische Revolution und ihre Folgen war eine Mischung aus Antisemitismus, Antibolschewismus, Antiparlamentarismus, Rassentheorie und germanischem Missionsbewusstsein. Die Französische Revolution, ebenso wie andere Revolutionen und wirtschaftliche oder soziale Umbrüche, wurde in der nationalsozialistischen Propaganda, wie in Der Stürmer, als jüdische Machenschaft und Ergebnis freimaurerisch-jüdischen konspirativen Willens diskreditiert: Um Staaten gegeneinander aufzuhetzen und 687 Klaus von See (2001: 11-15) vertritt in der Einleitung von seiner Studie Freiheit und Gemeinschaft die Ansicht, dass die deutsche Abkehr von der Französischen Revolution – und der darauffolgenden Geburt des parlamentarisch-demokratischen Systems – ihren Anfang bereits im Jahr 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges gefunden habe. ‚1914‘ stellt gegenüber ‚1789‘ den parteiübergreifenden Ausdruck der organischen Volksgemeinschaft dar. In diesem Gegensatz klingt die völkische Antithese zwischen einerseits großstädtischem, international ausgerichtetem Intellekt, juristischer und kaufmännischer Begabung und andererseits bäuerlichem Biedersinn, Heimatgebundenheit, Treue, Gemüt und Heldentum an. Zwischen beiden Eckdaten 1789 und 1914 vollzieht sich von See zufolge die allmähliche Abwendung des deutschen Geistes von der westeuropäischen Tradition, deren Verneinung im Dritten Reich letztendlich ihren dramatischen Höhepunkt erreichen sollte. Von See stellt vor diesem Hintergrund fest, dass „schon 1914 der völkisch-organologische Gedanke der dreißiger Jahre in einigen wesentlichen Zügen ausgebildet“ war (ebd.: 173). 688 Werner Best (1941: 4) formuliert den ideologischen Nährboden für den von Frankreich ‚angestifteten‘ Ersten Weltkrieg folgendermaßen: „Es waren die Grundgedanken der ‚französischen Revolution‘ von 1789, die zum Gegenstand eines exaltierten Missionsgefühls Frankreichs verdichtet wurden.“

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Kriege herbeizuführen, würden sich die Juden der Freimaurerlogen bedienen.689 Der gesellschaftliche Umsturz von 1789 erschien von nationalsozialistischer Seite als Ausgeburt freimaurerisch-jüdischer Verschwörung. Das für Deutschland verhängnisvolle Ergebnis der Revolution war nach Franz Alfred Six (1944: 44), dass „das letzte Zeichen der Gegentradition, das Deutsche Reich, zur Auflösung gebracht“ wurde.690 Genau über den Weg der französischen Aufklärung – wie der oberste Parteirichter Walther Buch 1938 in einem in der Fachzeitschrift Deutsche Justiz veröffentlichten Beitrag über ‚die deutsche Ehre‘ schreibt – konnte sich das Judentum im deutschen Volk ‚einnisten‘: Der Jude ist kein Mensch. Er ist eine Fäulniserscheinung. Wie sich der Spaltpilz erst im faulenden Holz einnistet und sein Gewebe zerstört, so konnte sich der Jude erst im deutschen Volk einschleichen und Unheil anrichten, als es geschwächt durch den Blutverlust des 30jährigen Krieges innerhalb zu faulen begann und seine Schwären begierig den Einflüssen der französischen Revolution dargeboten hatte. (Buch 1993 [1938]: 348)

Ähnlich heißt es in einem Abschnitt über die Französische Revolution in einem Geschichtsschulbuch für Realschule und Gymnasium aus dem Jahre 1939: „Daß die Menschen vom Blute, von der Rasse, und damit von Gott her ungleich sind, das erkannte man nicht, da die bloße Vernunft des Menschen eine solche ‚Gerechtigkeit Gottes‘ nicht begreift.“ (Gehl 1939: 77) Der Nationalsozialismus verstand die Werte und Bestrebungen der eigenen ‚völkischen Revolution‘ als grundsätzlich verschieden von den Aufklärungsidealen, die 1789 zur Französischen Revolution geführt hatten. Diese Revolution war aus nationalsozialistischer Perspektive von Juden und Freimaurern initiiert worden und wurde als ‚materialistisch‘ und ‚liberalistisch‘ abgewiesen.691 Der Nationalsozialismus setzte sich folglich durch sein rassistisches bzw. antisemitisches Programm radikal von der Revolution 1789 ab. So heißt es beispielsweise bei Hans Frank in dessen 1934 veröffentlichter juristischer Arbeit Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung in gegenaufklärerischem Pathos:

689 Zum freimaurerisch-jüdischen Verschwörungsmythos sei an dieser Stelle auf die sehr differenzierte Darstellung von Armin Pfahl-Traughber (1993) verwiesen. 690 Auf ähnliche Weise gibt der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg (1938: 28) folgende Kritik ab: „Der Jude als Fremdkörper inmitten der europäischen Völker errang durch den Sieg des ‚Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit-Gedankens‘ einen großen Triumph. Die Französische Revolution brachte ihm seine Emanzipation und damit die Möglichkeit, seine Eigenart immer hemmungsloser auszuwirken.“ 691 Das völkische Organismusdenken, in dem Blut, Volk und Rasse zentral standen, bildete einen Gegensatz zum theoretischen Gleichheitsprinzip der Aufklärung: „Man endete schließlich beim Materialismus: durch das Stoffliche glaubten die Materialisten alles erklären zu können, der Mensch war ihnen eine Maschine.“ (Kumsteller, Haacke und Scheider 1943: 237) Vor diesem Hintergrund wurde auch die Weimarer Zeit im NS-Jargon stets als maschinenhafte „Systemzeit“ bezeichnet (vgl. ZAI: 415 [12.7.1941; ebd.: 589 [20.4.-21.4.1941]; ZAII: 590 [23.9. 1944]).

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Die fortschreitende Zivilisation mit ihrer humanitären Einstellung hat dazu beigetragen, gerade den weniger wertvollen Volksbestandteilen einen besonderen Schutz durch den Staat zuteil werden zu lassen. Insbesondere war das die Folge der Gedanken der Französischen Revolution von der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, die besonders durch Judentum und Freimaurertum in der Vergangenheit starke Förderung erfahren habe. (Frank 1935: 812)692

Der von Napoleon erlassene code civil galt auch in den von Frankreich eroberten deutschen Gebieten und gewährte den Juden in z.B. Frankfurt und Hamburg zum ersten Mal bürgerliche Freiheitsrechte. Juden wurden vor diesem Hintergrund von den Nationalsozialisten oft mit ‚französisch‘ assoziiert.693 Die Themenkreise ‚Judentum‘, ‚Liberalismus‘ und ‚Frankreich‘ bilden eine Trias, die zu den festen Bausteinen des antisemitischen Diskurses gehört. Diese diskursiven Elemente werden auch von Hitler in Mein Kampf aufgenommen: „Was Frankreich, [...] planmäßig geführt durch den Juden, heute in Europa betreibt, ist eine Sünde wider den Bestand der weißen Menschheit.“ (Hitler 1940: 705; im Original gesperrt) So sehr jedoch Klemperer mit der Befreiung Deutschlands von Fremdherrschaft einverstanden sein musste, so wenig konnte er mit der Entleerung des Freiheitsbegriffs, der sich notwendigerweise aus der Verabsolutierung der Feindschaft gegen Frankreich zum Hass auf den ‚Erbfeind‘ und damit auf die französische Aufklärung und die republikanischen Ideale ergeben musste, einverstanden sein (vgl. Nerlich 1999: 778f.). Gerade der Hass auf den ‚Erbfeind‘ Frankreich und insbesondere auf die Aufklärung und die republikanischen Werte der Französischen Revolution stellt einen ideologischen Grundstein des nationalsozialistischen Diskurses dar. So verkündete Joseph Goebbels nach der ‚Deutschen Revolution‘ das Ende des demokratisch-liberalistischen bzw. individualistischen Aufklärungszeitalters: Wir wollen die Weltanschauung des Liberalismus und die Anbetung der Einzelperson beseitigen und ersetzen durch einen Gemeinschaftssinn, der wieder das ganze Volk umfaßt und das Interesse der Einzelperson wieder dem Gesamtinteresse der Nation ein- und unterordnet. Damit wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen. (Goebbels 1989 [1933]: 344; Hervorhebung A.S.)694 692 In einem tagebuchähnlichen Eintrag vom 12. November 1931 in Ostmarkmädel wird ein Leiter der Sozialdemokratischen Arbeiter-Jugend (SAJ) als „total verjudet in seinem Benehmen, in Art und Weise“ bezeichnet. Darüber hinaus werden am besagten SAJ-Führer ‚Intellektualismus‘ und ‚Aufklärungsideale‘ als typisch jüdische Eigenschaften dargestellt: „Zum Schluß glaubte er, sich einen billigen Sieg holen zu könne, indem er [...] die Parole ‚Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit‘ ins Philosophische hinüberschob. Aber – verrechnet! Auch hier sind wir von der HJ. beschlagen! Wohl wollen die Juden uns von den Schulbänken und Hörsälen verdrängen – aber hoppla! Es ist noch nicht so weit!“ (Weber-Stumfohl 1939: 18) 693 Vgl. vor diesem Hintergrund zum Beispiel Ballensiefen (1939: 7-19). In diesem Zusammenhang mag es denn auch nicht überraschen, wenn in einer Notiz über eine studentische Versammlung ein kommunistischer Jude beispielsweise „ein missglückter Napoleon“ genannt wird (Massmann 1993 [1934]: 57). 694 Auch Arnold Heining (1941: 10) zufolge hat das völkische Ideal der NSDAP die ‚individualistische Weltanschauung‘ der Französischen Aufklärung bzw. Revolution völlig ersetzt: „Nach dem Weltkriege entfernte sich der überwiegende Teil der Völker Europas mehr und mehr von den

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In dieser totalitären Atmosphäre legt Klemperer in seinen täglichen Notizen sein Bekenntnis zur Aufklärung ab und schreibt – als oppositioneller Akt – im Versteck die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts.695 Er unterzieht die deutschfranzösischen Wesensbestimmungen einer kritischen Analyse, weil er anerkennt, dass sie in ihrer nationalistischen Grundlage teilweise zum Bankrott der Weimarer Republik beigetragen hatten. Die in Deutschland verbliebenen Romanisten, wie Klemperer enttäuscht feststellte, setzten sich weiterhin – oft freiwillig – gegen die philosophischen Aufklärungsgedanken und die ‚Ideen von 1789‘ ein (vgl. Schober 2004: 143; Gumbrecht 2002: 19). Die Romanistik war bereits Anfang des 19. Jahrhunderts als nationalliberal gesinnte Disziplin gegen die kulturelle und politische Dominanz Frankreichs gegründet worden und ergab sich als besonders anfällig für die Mystifizierungen und Instrumentalisierungen der Kulturraumforschung.696 Die Auklärungsforschung nahm dementsprechend in der Regel auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Randstellung ein. Klemperers Beschäftigung

Ideen der Revolution von 1789. Die Weltanschauung der deutschen Revolution von 1933 löste sie völlig ab.“ 695 Klemperer galt die NS-Diktatur als gegenaufklärerische Bewegung. Der Diarist orientierte sich vor diesem Hintergrund auf engagierte Weise am Humanismusdenken der Aufklärung, ohne die fundamentale Ambivalenz der Moderne, die grundsätzlich bereits in der Aufklärung angelegt war, wahrnehmen zu wollen. Riccardo Bavaj (2003: 79) weist diesbezüglich in Anlehnung an die Historiker Jacob L. Talmon und Karlheinz Weißmann darauf hin, dass man den Nationalsozialismus weniger als radikalen Gegensatz zu den Ideen der Französischen Aufklärung, sondern eher als Realisierung ihrer „jakobinischen Möglichkeiten“ betrachten solle. Vor diesem Hintergrund ist die Ähnlichkeit zwischen dem nationalsozialistischen – vordergründig von Goebbels vertretenen – Anti-Individualismus und der Aufopferung des Einzelnen zugunsten Nation und Gesellschaft bei Robespierre und Babeuf augenfällig. Auch Detlev Claussen (2005: 100ff.) weist darauf hin, dass die französische Aufklärung Juden mit gemischten Gefühlen gegenüberstand: Das erzwungene Bekenntnis zur Nation nach der Französischen Aufklärung kam der ehemaligen Taufforderung gleich, deren Erfüllung zwar immer wieder Anlass zu neuem Nachspüren gab. Die jüdische Nation wurde auf diese Weise zur bloßen Religionsgemeinschaft entqualifiziert. Die Gleichstellung der Juden musste somit zwangsläufig zum Verschwinden des Judentums als Volksgemeinschaft führen. 696 Die deutsche Romanistik als akademische Disziplin – deren Grundleger der durch die Napoleonischen Kriege patriotisch bewegte Friedrich Christian Diez war – war im 19. Jahrhundert, so schreibt Michael Nerlich (1996c: 402) überpointiert, „eine politische Wissenschaft.“ Zur Geschichte der deutschen Romanistik, die im 19. Jahrhundert eine ideologische Stellung gegen die französische Vorherrschaft in Europa einnahm, vgl. vor allem Michael Nerlich (1996c). Frank-Rutger Hausmann (1991; 2002) und Peter Jehle (1996) ihrerseits gehen auf sehr detaillierte Art und Weise der institutionellen Lage und der Gesinnung der Romanistik im Dritten Reich nach. In diesem Zusammenhang möchte ich nicht versäumen, auf Hans Ulrich Gumbrechts Studie Vom Leben und Sterben der großen Romanisten (2002) aufmerksam zu machen. Gumbrecht schildert im Einführungskapitel „Romanisten-Tango. Vom Leben und Sterben einer deutschen Vergangenheit“ (ebd.: 7-23) auf aufschlussreiche Weise die Entwicklung der deutschen Romanistik von Friedrich Christian Diez bis Werner Krauss’ Tod im Jahre 1970.

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mit der französischen Literatur und Philosophie vom 18. und 19. Jahrhundert stellte innerhalb der deutschen Romanistik eine Ausnahme dar.697 Vor dem Nationalsozialismus hatte Klemperer – sowohl in persönlicher als auch in akademischer Hinsicht – immer ein ideelles Deutschtum vertreten, das auf der Auffassung basierte, dass die Kultur eines Volkes Ausdruck seiner Wesensart, d.h. die Ausstrahlung der Volksseele war.698 Nach der Völkerpsychologie, die Klemperer lange befürwortet hatte und ihm als Grundlage seiner literaturhistorischen Untersuchungen diente, waren Menschen eines Volkes von einem Geiste durchdrungen und zeigten darum die gleiche charakteristische Wesensart. Nach Hitlers Machtübernahme zerbrachen jedoch diese Gewissheiten. Am 3. April 1933 trägt Klemperer beispielsweise Folgendes in sein Tagebuch ein: „Ich glaube nicht mehr an die Völkerpsychologie. Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert hier.“ (ZAI: 18 [3.4.1933]) Der Tagebuchautor denkt erbittert an seine eigenen kulturkundlichen Arbeiten zurück, denen eine nationalpsychologische Wesenszuschreibung zugrundelag – wie zum Beispiel seine 1926 erschienene Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien: „[D]enn ein wenig bin ich ja selber durch meine Kulturkunde auf die schiefe Ebene geraten.“ (ebd.: 323 [24.11.1936])699 Klemperer ist sich im Dritten Reich der nationalistischen Irrwege des völkerpsychologischen Ansatzes durchaus bewusst: „Ich habe selber zuviel Nationalismus in mir gehabt und bin nun dafür bestraft.“ (ebd.: 368 [19.7.1937])700 In den ersten Monaten nach der Machtübernahme Hitlers gilt Klemperers Hauptinteresse seiner Arbeit über das 18. Jahrhundert, in der er kritisch die Bilanz der nationalistischen bzw. essentialistischen Völkerpsychologie zieht. Auch in den nächsten Jahren, unter fortschreitendem Leidensdruck, trat die Prominenz des Nationalen, das zuvor als erkenntnisführende Kategorie in seinen kulturkundlichen Studien galt, immer mehr zugunsten des ‚Universellen‘ und ‚Humanen‘ in den Hintergrund (vgl. Bock 1996: 111). Auch als Dokument der graduellen und schmerzvollen intellektuellen Ablösung von der völkerpsychologischen (und deutschnationalen) Frankreich-Forschung legen die Tagebücher also ein 697 Auf Klemperers Sonderstellung innerhalb der deutschen Romanistik seiner Zeit haben Fritz Rudolf Fries und Michael Nerlich hingewiesen. Vgl. in diesem Zusammenhang Fries (1995: 17f.) und Nerlich (1997: 43). 698 Zum Begriff ‚Völkerpsychologie‘ bei Klemperer vgl. Gerstenberger (1997: 16ff.) und Krauss (1996: 116ff.). 699 Um sich vor dem Vorwurf seines (akademischen) Umfeldes zu schützen, er bringe dem Erbfeind Frankreich zuviel Interesse bei, macht Klemperer auf kulturkundliche Weise den Unterschied zwischen den Franzosen als Volk und der französischen Literatur: „Wie kann nur ein so niedriges, so gemeines Volk eine solche herrliche Literatur hervorgebracht haben?!“ (LSI: 9 [24.11.1918]) 700 In der Einführung zum unpublizierten Manuskript Das neue deutsche Frankreichbild (19141933). Ein historischer Überblick – datiert 11.3.1933 – drückt Klemperer die Erschütterung über seinen einstigen Glauben an die ewigen Wesenszüge der Volkscharaktere aus (vgl. A 718: 1-4).

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eindrucksvolles Zeugnis ab, wie zum Beispiel in der nachstehenden Eintragung vom 21. Juli 1935: „Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten sind ins Wackeln geraten wie die Zähne eines alten Mannes.“ (ZAI: 211 [21.7.1935]) Trotz dieser Kritik hielt Klemperer weiterhin an der Überzeugung fest, die Aufklärung – und vor allem das aufgeklärte Deutschland – habe die jüdische Bevölkerung aus dem ‚Partikularismus‘ und der Unfreiheit des Ghetto-Lebens befreit. Dieser Sicht auf die jüdische Geschichte wird jedoch von gewissen Seiten widersprochen. Hannah Arendts erstmalig 1932 erschienener Aufsatz „Aufklärung und Judenfrage“ (Arendt 1976: 108-127) macht vor diesem Hintergrund auf das komplexe Verhältnis von Aufklärung und Judenemanzipation aufmerksam. Sie unterzog die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung in dieser Epoche einer geschichtskritischen Lektüre, denn, so betont die Philosophin, „[d]ie moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung; die Aufklärung, d.h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt.“ (ebd.: 108) Die Lebensform der jüdischen Minderheit wurde für die aufgeklärte Mehrheit ein Problem.701 Entgegen den Vertretern der Aufklärung unterstreicht Arendt, die universalen Prinzipien Gleichheit und Toleranz seien nicht allein aus der Vernunft abzuleiten. Die Tragik der Aufklärung sah Arendt (1981: 21) mithin darin – wie sie in ihrem RahelBuch nahelegt –, dass das philosophische Programm der Aufklärung zwar Individuen von Vorurteilen befreien kann, aber man stets mit einer Gesellschaft konfrontiert wird, die sich nicht von den historischen – und in der Gegenwart weiter wirksamen – Vorurteilen loslösen kann: Die Vernunft kann von den Vorurteilen der Vergangenheit befreien und sie kann die Zukunft des Menschen leiten. Nur leider genügt das offensichtlich nicht: sie kann nur individuell befreien [...]. Das solchermaßen befreite Individuum stößt jedoch immer auf eine Welt, eine Gesellschaft, deren Vergangenheit von ‚Vorurteilen‘ Macht hat, in der ihm bewiesen wird, daß gewesene Wirklichkeit auch Wirklichkeit ist. Als Jüdin geboren zu sein, das mag für Rahel nur auf längst Vergangenes hindeuten, mag im Denken ganz und gar ausgelöscht sein; als Vorurteil in den Köpfen anderer wird es eben doch zur leidigsten Gegenwart.

Die Aufklärung und die ersten Assimilationsbewegungen gingen paradoxerweise mit einer Zunahme der Diskriminierung der Juden einher, weil sie zunehmend in der Mitte der nichtjüdischen Gesellschaft, die sie weiterhin – und vielleicht in

701 Hannah Arendt formuliert eine ausgewogene Kritik am aufklärerischen Begriff der Gleichheit, der ihrer Meinung nach allzu leicht in Geschichtslosigkeit und entkonkretisierte Abstraktion münden kann. Die Vernunft als Grundlage der Aufklärungsideale, wie sie von Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing vertreten wurden, hatte, so Arendt (1976: 112), in ihrer Realitätsabgehobenheit „keinerlei Rückverankerung in ihr.“ Was dies für die Emanzipation und Assimilation der jüdischen Bevölkerung bedeutete, bringt sie folgendermaßen zum Ausdruck: „Daß das Schicksal des jüdischen Volkes in Europa nicht nur das eines unterdrückten, sondern das eines Pariavolkes (Max Weber) war, kam denjenigen zu klarstem Bewußtsein, an welchen die zweideutige Freiheit der Emanzipation und die noch zweideutigere Gleichheit der Assimilation ausprobiert wurden.“ (Arendt 1976: 47; vgl. ebenfalls Arendt 1981: 23)

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noch zunehmendem Maße – als Fremdkörper betrachtete, anwesend waren.702 Aus der Problematisierung von Aufklärung und Emanzipation spricht Arendts Kritik an der jüdischen Assimilation. Sie macht in diesem Zusammenhang auf die tiefe Widersprüchlichkeit des universalistischen Ansatzes der Aufklärung und gleichzeitiger Entstehung der Nationalstaaten im 18. Jahrhundert aufmerksam.703 Das Verhältnis zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus ist besonders komplex, aber dies bedeutet auf keinen Fall, dass zwischen beiden eine intentionale Beziehung besteht. In diesem Sinne muss Klemperers Unterschied zwischen Aufklärung und Faschismus natürlich als durchaus legitim und nur zugestimmt werden. Die absolute Dichotomie zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, Voltaire und Rousseau, deutsch und undeutsch – wie auch im Folgenden weiter zu zeigen sein wird – stellt für Klemperer jedoch eine weltanschauliche Selbstlegitimierung dar, die seinem Deutschsein gegenüber den Nationalsozialisten innerliche Kraft verlieh und sein Überleben im Dritten Reich gewissermaßen psychisch erleichterte. Die menschenfeindliche NS-Ideologie widerspricht den Grundgedanken der Aufklärung: den universalen Menschenrechten und einem universellen Menschenbild. Die dunkle Seite der Aufklärung, die Klemperer nicht wahrhaben wollte, dürfte auf die zu hohen – teils erfahrungsabgehobenen und machbarkeitsindifferenten – Ansprüche an Gleichheit und Harmonie zurückzuführen sein. Die Aufklärung in ihrem Glanz und Elend war nicht dagegen gewappnet, instrumentalisiert oder sinneswidrig umgedeutet zu werden. In Klemperers Lektüre von Simon Dubnow tritt deutlich hervor, wie der Diarist jeglichen Hinweis auf einen – wie auch immer zu bestimmenden – Zusammenhang von Aufklärung und dem Scheitern der jüdischen Assimilation als einseitig bezeichnet:

702 In ihrem Buch über Rahel Varnhagen hebt Hannah Arendt diesbezüglich die schmerzvolle Widersprüchlichkeit jüdischer Emanzipation und Assimilation im Aufklärungszeitalter hervor: „Man will aus den Juden Menschen machen; schlimm genug, daß es Juden gibt; es bleibt nichts anderes übrig als sie zu Menschen, d.h. Menschen der Aufklärung zu machen. An solche und ähnliche Emanzipationsbewegungen der Aufklärung assimilieren sich die Juden. Sie gestehen mit Begeisterung ihre eigene Minderwertigkeit zu, die ja Schuld der anderen ist.“ (Arendt 1981: 19) 703 In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bringt Arendt eine differenzierte Analyse des Zusammenhangs von aufgeklärtem Gleichheitsprinzip bzw. „Nichts-als-Menschsein[.]“ und nationalsozialistischer „Barbarei“. Sie teilt Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution und weist darauf hin, dass Aufklärung und Nationalsozialismus nicht schlichtweg Gegenpole voneinander sind. Rousseaus Idee eines ‚Naturzustands‘ der Menschheit stand im Gegensatz zu den Problemen der Sicherstellung von Menschenrechten und Demokratie, die an die Existenz von Nationalstaaten gebunden war. In diesem Zusammenhang schreibt die Autorin: „Die Staatenlosen, die Überlebenden der Vernichtungslager, die Insassen der Konzentrationsund Internierungslager, sie alle jedenfalls bedurften keiner Burkeschen Argumente, um einzusehen, dass die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war. Sie waren damit in das zurückgefallen, was die politische Theorie den ‚Naturzustand‘ und die zivilisierte Welt die Barbarei nannte.“ (Arendt 1998: 467)

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Dubnow betont: Gerade zur Zeit Voltaires u. Rousseaus isoliert sich das Judentum in Polen aufs schroffste. – Komisch ist es, wie ich eben jetzt Sombart ‚Die Juden u. das Wirtschaftsleben‘ begonnen habe. Von dieser Geschichte der Juden, die fraglos nicht weniger berechtigt ist, als die Dubnows, will Dubnow nichts wissen. (A 138: 655 [4.8.1942])

Die Weigerung, die Relativierung der Idee einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte der jüdischen Emanzipation in der Aufklärung zu akzeptieren, mag der unterliegende Grund dafür sein, dass der Romanist in seinen Tagebüchern – wie in den beiden nachfolgenden Abschnitten (3.3.2.4 und 3.3.2.5) dargestellt werden soll – Voltaire als idealisierten Vertreter der Aufklärung und Rousseau als ihren ‚präfaschistischen‘ Antipoden darstellt. Im Curriculum Vitae betont Klemperer immer wieder, dass er seine insgeheim geführte wissenschaftliche Arbeit am französischen Aufklärungsjahrhundert als Opposition gegen die vernunfts- bzw. aufklärungsfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus verstand: „Wenn ich sagen sollte, warum ich mein ‚Dix-huitième‘ so sehr liebe, dann würde ich antworten, um seines Kampfes willen gegen das préjugé.“ (CVII: 491) Denn die Anerkennung des faschistischen Vorurteils und der rassischen Dichtotomie zwischen Deutschen und Juden wäre Klemperer zufolge eine Kapitulation des Humanismus und des Rationalismus gewesen.704 Vor diesem Hintergrund konnte für Klemperer von einer deutschen oder westeuropäischen Judenfrage überhaupt nicht die Rede sein: „Wer sie [=die „Judenfrage“, A.S.] anerkennt, übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren Dienst. [...] Es gibt nur eine Lösung der [...] Judenfrage: die Mattsetzung ihrer Erfinder.“ (ZAI: 456f. [10.1.1939]) Und genau diese rhetorische „Mattsetzung“ bezweckt er – ohne sich je einer Publikationsmöglichkeit sicher zu sein – in seinen akademischen und autobiographischen Schriften während des Dritten Reiches (vgl. Nerlich 1997: 47). Ab 1933 nimmt Klemperer bestimmte Veränderungen in der Publizistik wahr. Zur Tradition des verschlüsselten Schreibens, die ihm als Aufklärungsforscher wohl bekannt war, bemerkt der Tagebuchautor: „Zeitungen werden jetzt anders gelesen und [...] geschrieben als vordem. Zwischen den Zeilen. Kunst des 18. Jahrhunderts, Kunst des Lesens und des Schreibens, erwacht wieder.“ (ZAI: 20 [7.4.1933]) Vertreter dieser verdeckten Schreibweise in Zeiten von Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit war auch der von Klemperer hochgeschätzte Enzyklopädist Voltaire, dem im Folgenden mein Interesse gilt.

704 Der kartesische Rationalismus stellt für Klemperer ein Gegenstück zum Nationalsozialismus dar, der den Menschen auf seine angebliche Rassenzugehörigkeit reduziert: „Noch ging mir durch den Kopf: das Descartische Cogito, ergo sum, muß vollständig lauten: cogito ergo sum homo. Denn das Cogitare allein, nicht das Gefühl erhebt mich über das Tier u. zu meiner wahren Natur.“ (A 138: 804 [20.2.1943]) Zur symbolischen Bedeutung des Rationalismus gegen romantischen ‚Rousseauismus‘ und menschenfeindlichen Totalitarismus in Klemperers Tagebüchern.

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3.3.2.4 Voltaire: Ikonizität und Aufklärungsideal Obwohl sowohl Voltaire als auch Rousseau gleichermaßen als Wegbereiter der Französischen Revolution zu betrachten sind, bestehen zwischen beiden beträchtliche Unterschiede, die in der Propaganda der NS-Zeit oft gegeneinander ausgespielt werden.705 Victor Klemperer fühlte sich während des Dritten Reiches vor allem mit Voltaire verbunden,706 der für ihn nicht nur die Galionsfigur der französischen Aufklärung war, sondern auch, und vielleicht vor allem, ein hochgradig moralisches Symbol, mit dem er sich identifizieren konnte und das eine geistige Alternative zum Faschismus bot.707 Klemperer widmete sich Voltaire weniger aus philosophischer Sicht, sondern vielmehr literaturhistorisch, indem er in seiner Untersuchung der Frage nach dem Einfluss des Philosophen auf die französische Literatur des 18. Jahrhunderts nachging.

705 In nichtfachwissenschaftlichen, nationalsozialistisch geprägten Publikationen werden Rousseau und Voltaire öfters undifferenziert nebeneinander gestellt, wie z.B. im nachfolgenden Zitat über den Völkerbund in Genf: „Der Völkerbund läßt es sich heute in ganz spezifischem Sinne angelegen sein, die europäische Kultur der guten Rasse zu zerstören. Denn er ist ja die Institution desjenigen Menschentypus, der die französische Revolution ermöglichte, also der korrumpierten Kanaille vom Schlage Rousseaus und Voltaires.“ (Steding 1936: 578; vgl. ebd.: 409) 706 Voltaire kommt in Klemperers Tagebüchern der Stellenwert einer abstrakten, weltanschaulichen Ikone zu, die für den Diaristen über die bezeichnete Person hinaus das bürgerlich-liberale Ideal der ‚Aufklärung‘ darstellt. Nicht nur Voltaire war Klemperers leuchtendes Vorbild. In politischer Hinsicht war auch der aufgeklärte König Friedrich II. von Preußen, der besonders enge Kontakte mit Voltaire unterhielt, besonders positiv konnotiert. Preußen, das Klemperer als Staat der humanistischen Universalität betrachtete, stellte das Gegenstück zum Dritten Reich dar. Der Tagebuchautor war verständlicherweise ungemein empört, als ein Exkollege, der Historiker Johannes Kühn, den besagten Fürsten in einem Artikel als ‚germanisch‘ charakterisierte und seine Aufklärungsauffassungen als überholt abtat: Kühn nannte „ihn auf 100 Zeilen zweimal mit Nachdruck ‚einen nördlich-germanischen Menschen‘. Seine Philosophie sei zeitübernommen und belanglos; dahinter stehe der germanische Glaube an ein Höheres und Jenseitiges; seine Hinneigung zum Französischen sei die typische Form- und Südsehnsucht des nördlichen Germanen.“ (ZAI: 296 [16.8.1936]; vgl. ebd.: 313 [9.10.1936]; ebd.: 323 [24.11.1936]; ebd.: 650 [16.7.1941]) Victor Klemperer registriert vor diesem Hintergrund die Zwiespältigkeit, mit der Friedrich der Große im offiziellen NS-Diskurs dargestellt wird: Einerseits ist er „Vorbild“ und Inbegriff des „nordischen Menschen“, andererseits aber „Reichsfeind, Aufklärer, französiert.“ (A 138: 793 [5.2.1943]) 707 Irving Wohlfarth (2000: 138f.) macht zwar kritisch darauf aufmerksam, dass Klemperer in seiner diametralen Gegenüberstellung von Faschismus und Aufklärung, Romantik und Rationalismus, Rousseau und Voltaire, dem Wahn verfällt, es gebe einen Diskurs außerhalb der ‚lingua tertii imperii‘, als wären nicht sowohl die Segen als auch die Gräuel des 20. Jahrhunderts aus einer Dialektik der Aufklärung (sensu Adorno und Horkheimer 2003) hervorgegangen. Klemperer, so stimme ich mit Wohlfarth überein, postuliert in philosophischer Hinsicht auf vorschnelle Weise einen absoluten Unterschied zwischen totalitärem Terror und philosophischem Liberalismus. Allerdings muss – zur Entlastung des Diaristen – in psychologischer Hinsicht betont werden, dass die analytische Dichotomie von Aufklärung und Gegen-Aufklärung der Widerstandskraft des Tagebuchschreibenden gegen die menschenfeindliche NS-Ideologie Ausdruck verleiht. Dieses sture Festhalten an der emanzipierenden Idee der Aufklärung versteht Klemperer als persönliche Pflicht gegenüber der entgleisten Welt. Einen ähnlichen Gedankengang findet der Leser bei Jean Améry, der – wie Klemperer – als Überlebender des Holocaust nach dem Krieg die Aufklärungsidee wiederbeleben wollte.

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Das Tagebuch, in dem Voltaire, wie bereits angesprochen, stellenweise zur Verkörperung einer moralischen Verhaltensnorm avanciert, legt darüber Zeugnis ab, wie der Nationalsozialismus allmählich den Alltag durchdrang, und wie sein Autor, inmitten alltäglicher Unterdrückung und Demütigung, durch die kontinuierliche philologische Beschäftigung mit der Aufklärung versuchte, sein zunehmend anormales Leben gewissermaßen zu ‚normalisieren‘: „Mein Buch frißt mich auf und hält mich am Leben und im Gleichgewicht.“ (ZAI: 223 [5.10.1935]; vgl. ebd.: 208 [21.7.1935]; ebd.: 219 [29.9.1935]) Diese mittels diszipliniertem Schreiben beabsichtigte Normalisierung des Alltags erwies sich allerdings als problematisch: „Es fällt mir so schwer am Voltaire zu arbeiten, wie vor zwanzig Jahren [...] am Montesquieu. Aber damals war ich enthusiasmiert, und heute bin ich schwer deprimiert.“ (ebd.: 132 [2.8.1934])708 Analog bezeugt Klemperer an weiterer Stelle: „Ich verteile meinen Tag zwischen Voltaire und den allerdrückendsten Geldsorgen.“ (ebd.: 167f. [4.12.1934]) Klemperers alltägliche Überlebenssorgen werden durch seine philologische Voltaire-Arbeit konterkariert. In der nationalsozialistisch inspirierten Philosophie wird Voltaire dagegen oft als Sprechrohr einer als altmodisch und steril abqualifizierten philosophischen Strömung dargestellt; ihm fehle es an Weitblick und Tatkraft, denn „Voltaire ist stets Intellekt und Wort, selten Tat, nie Seher,“ wie Emil Winkler (1936: 747) in einem in Deutsches Volkstum erschienenen Aufsatz über Voltaire nahelegt.709 Auch Christoph Steding schließt sich der negativen Beurteilung an, indem er auf die ‚anachronistische Geschichtsfeindlichkeit‘ des französischen Philosophen hinweist: Da die Kulturgeschichtsschreibung in ganz vorzüglicher Weise dem modernen verfallenden Europa zugeordnet ist, steht ihr Hochkommen auch in besonders engem Zusammenhang mit der Demokratisierung der Welt, der spezifischen Form des Verfalls politischer Bildungen. Daher entspringt die Kulturgeschichte mit der französischen Revolution, die der sichtbare Anfang der Demokratisierung unseres europäischen Raumes ist und mit der auch der Gesamtverfall Europas, das heißt der großen, von germanisch-nordlichen Rassen geschaffenen und getragenen Reiche entsetzt [sic] und jene Rassen überall ihr Haupt erheben, die ihre Freiheit bisher im Dienst an diesen Reichen fanden. Mit Voltaire, dem Inbegriff des geschichtsfremden und -feindlichen Denkens, beginnt daher die Kulturgeschichte. (Steding 1936: 722)

Voltaire verkörpere, so Michel Herbert Mann in einem Enzyklopädie-Eintrag aus dem Jahr 1943, „nach Form und Inhalt jene ‚clarté‘ des französischen Geistes, die sich in der Folge mit den Triebkräften der französischen Revolution gepaart und 708 Klemperer gibt weiter in diesem Kontext zu bedenken: „Ich kopiere langsam und feilend Voltaire. Manches gefällt mir daran, vieles nicht. Auch im Punkte meines Buches sinkt die Hoffnung immer tiefer und tiefer.“ (ZAI: 245 [31.1.1936]). 709 Über Voltaire schreibt Herta Weber-Stumfohl (1939: 237) beispielsweise, er sei – im Gegensatz zum Blut-und-Boden-Denken – Symbol eines leblosen Materialismus: „Man endete schließlich beim Materialismus: durch das Stoffliche glaubten die Materialisten [=die Aufklärungsphilosophen, A.S.] alles erklären zu können, der Mensch war ihnen eine Maschine.“

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Frankreich zum klassischen Land des aufgeklärten Rationalismus gemacht hat. [...] Unter dem Eindruck der Niederlage [Frankreichs während des Blitzkrieges 1940, A.S.] sind die Werte dieser geistigen Tradition ins Wanken geraten.“ (Mann 1943: 277)710 Der nach dem Ersten Weltkrieg errichtete Völkerbund, der in Genf angesiedelt war, wurde von den Nationalsozialisten als überholtes Gespenst anachronistischer Aufklärungswerte und als tiefste Kränkung des deutschen Nationalbewusstseins erfahren. Die extensive Kritik an der ‚liberalistischen‘ Politik der Weimarer Republik zieht sich als roter Faden durch die angeführten Referenztexte. Der Völkerbund, dem die Weimarer Republik 1926 beigetreten war, ist Michel Herbert Mann zufolge lediglich ein antideutsches ‚voltairianisches‘ Machtinstrument: „Voltaire ist [...] auch Genf [...]. Sein Geist triumphiert im Völkerbund, dessen europäische Aufgabe darin besteht, die Prinzipien der französischen Revolution, das heißt den Einheitsdrang, die Befreiung der Nationalitäten immer dann zu sabotieren, wenn Deutschland sich ihrer bedienen sollte.“ (ebd.: 192) Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 habe seiner Meinung nach der Unsicherheit und der Dominanz durch den ‚voltairianisch‘ gesinnten Völkerbund endgültig ein Ende gesetzt. Ganz im Gegensatz zum einheitlich verpönten Voltaire im philosophischen NS-Diskurs vertritt der Aufklärungsphilosoph nach Klemperer „die Sache der vernunftsgeleiteten Menschlichkeit, der gemäßigten und gesicherten Freiheit, des wägenden Liberalismus.“ (Klemperer 1954: 207) Genau dieser Liberalismus, der entgegen Ideologien wie dem Nationalsozialismus, den manichäischen Anspruch erhebt, die komplexe Wirklichkeit auf eine einzige Wahrheit zu reduzieren und die Welt zugleich dichotomisch in gut und böse, Freund und Feind aufzuspalten, wird zum moralischen Leitfaden in Klemperers Handeln: Die Rezeption der französischen Aufklärung (bzw. von Voltaire und Rousseau) ist dementsprechend durch die Interpretationsfolie des Nationalsozialismus überdeterminiert. Klemperers geweiteter Blickwinkel ermöglicht es ihm, die dem Faschismus inhärenten nationalistischen Wahrnehmungsmuster zu unterlaufen: Wie es politisch auch kommen mag, ich bin innerlich endgültig verändert. Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für immer. Mein Denken ist jetzt ganz und gar das voltairisch kosmopolitische. Jede nationale Umgrenzung erscheint mir als Barbarei. Vereinigte Weltstaaten, vereinigte Weltwirtschaft. Das hat nichts mit Gleichförmigkeit der Kulturen und erst recht nichts mit Kommunismus zu tun. Voltaire und Montesquieu sind mehr als je meine eigentlichen Leute. (ZAI: 430 [9.10.1938])711

710 Peter Brockmeier (1979: 481) betont vor diesem Hintergrund, die Philosophie und Literaturkritik im Dritten Reich hätten versucht, „Voltaire aus der Perspektive der faschistischen Ideologie als Asphaltliteraten […] abzuqualifizieren.“ 711 In einem Brief an Albert Hirsch bringt der Diarist auf ähnliche Weise seine Sympathie für die Aufklärungsphilosophen und Antipathie gegen Rousseau zum Ausdruck: „Voltaire, Diderot, Montesquieu und noch ein paar von dieser Sorte: das ist meine immer grössere Liebe – Rousseau aber ganz und gar nicht.“ (A 177 ‹2› [5.4.1936]) Sönke Landt (2002: 15ff.) weist in einem

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Angesichts der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der lebensbedrohlichen Erniedrigung durch die Judenverfolgung verlor die Frage der Nationalität allmählich an Bedeutung. Das Ziel der Demokratie lag für Klemperer nicht in politischer Uniformität oder der Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit, sondern vielmehr, im Sinne Voltaires, im demokratischen Widerstand gegen jeglichen Fanatismus.712 Diesem demokratischen Ideal stellt Klemperer die ‚präfaschistische‘ volonté générale Rousseaus gegenüber – eine Gegenüberstellung, die man, wie im Nachfolgenden zu zeigen ist, parallel und ex negativo auch den zeitgenössischen, nationalsozialistisch gesinnten Referenztexten entnehmen kann. 3.3.2.5 Rousseau: Romantik, Jakobinismus und Nationalsozialismus Obwohl Klemperers erster Band der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Das Jahrhundert Voltaires, zur Publikation abgelehnt wird, arbeitet er am zweiten, Das Jahrhundert Rousseaus, weiter, auch wenn ihm die Beschäftigung mit der Philosophie Rousseaus, die er als Gegenpart zum aufgeklärten Rationalismus Voltaires sieht, ideologisch unendlich viel schwerer fällt.713 Rousseau wird in Klemperers Tagebüchern als Vorläufer Hitlers schroff von Voltaire abgesetzt.714 Seine Nähe zum Nationalsozialismus ist Klemperer zufolge wohl kaum zu überhören: „Niemals hat Rousseau derart triumphiert und niemals ist er derart ad absurdum geführt worden wie heute. Die posthume Entlarvung Rousseaus heißt Hitler.“ (ZAI: 367f. [19.7.1937]; vgl. ebd.: 373 [17.8.1937])715 Dieser Auf-

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polemischen Aufsatz darauf hin, dass Klemperer – trotz der besagten Vorliebe für die Aufklärungsphilosophie, trotz Antifaschismus und -nationalismus – unbewusst die faschistische Rhetorik und Krankheitsmetaphorik übernimmt. Der Diarist beharre auf einem zweipoligen Referenzsystem, dem Codes wie ,Kultur/Unkultur‘, ,deutsch/undeutsch‘ usw. zugrunde liegen. Klemperer wendet zwar gelegentlich Voltaires antitheologischen ‚Fanatismus‘, der überall religiöse Dominanz und religiösen Missbrauch wittert, auf die NS-Ideologie an, indem er den säkularen Formen des Priestertruges und des Fanatismus in der Propaganda des Faschismus begegnet (vgl. LTI: 36f.). Einen ausführlichen Überblick über Voltaires aufklärerische Schattenseiten vermittelt Gudrun Hentges, indem sie die Aufmerksamkeit auf Voltaires Judenfeindschaft lenkt, auch wenn dieser sich gegen jegliche Verfolgung sträubte. Vgl. hierzu Hentges (1999: 38-58). Obwohl sich Klemperer nicht den Schwächen des Voltaire’schen Denkens verschließt, änderte sich aber nichts an seinem Glauben an das friderizianisch-voltairianische Preußen und an sein frankophil-konservatives Bekenntnis zur Aufklärung. Denn, wie der Diarist in Bezug auf sein philosophisches Leitbild zu erkennen gibt: „[M]oralische Entrüstung über die Schattenseiten seiner [=Voltaires, A.S.] Natur vermochte ich nicht aufzubringen. Ich liebte den ganzen Mann [...].“ (CVI: 316) Nach Fertigstellung seines ersten Bandes notiert Klemperer: „Ich begann heute, mit vieler Unlust, den ‚Contrat social‘ zu lesen.“ (ZAI: 260 [3.5.1936]) Diese Unlust bringt er einige Tage später auch in einem Schreiben an Gusti Wieghardt zum Ausdruck. Der Romanist kritisiert Rousseaus Werk, weil es ihm zufolge den Geist der Romantik reflektiert, den Geist des Gefühls, nicht der Vernunft: „Eben brüte ich über dem Contrat social; er scheint mir gar kein gutes Buch: doppeldeutig, sophistisch, rhetorisch, wirr.“ (A 205 [7.5.1936]) Bereits im Jahre 1921 bezeichnete Klemperer den Rousseau vom Contrat social als „despotisch“ (LSI: 536 [18.12.1921]). In einem Brief an Walter und Grete Blumenfeld aus dem Jahre 1936 – kurz nach dem Aufnahme seiner Rousseau-Studie – schreibt der Diarist voller Abneigung gegen den Genfer Philo-

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fassung folgend legt der Tagebuchautor den angeblich gemeinsamen Kern von Jakobinismus und Nationalsozialismus frei: „[G]emeinsame Grundlage der Revolution u. Hitlers: Rousseau.“ (A 138: 1114 [5.7.1944]) Die Verzahnung von philosophischem und politischem Diskurs in den Tagebüchern ist unverkennbar: Klemperers Rousseau-Lektüre wird unmittelbar durch seine Erfahrungen mit dem Antisemitismus überdeterminiert (vgl. Durand 2002). Die Trostlosigkeit seiner isolierten Arbeitssituation vermerkt Klemperer in einer Notiz vom 27. März 1937: „Es ist trostlos, und doch bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Arbeit fortzusetzen, nun schon das fünfte Jahr, denn seit 33 sitze ich schon daran.“ (ZAI: 338 [27.3.1937]) Im Vorwort zum zweiten Band von Klemperers posthum veröffentlichter Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert gibt Horst Heintze in diesem Kontext zu bemerken: „Man kann an vielen Absätzen über Rousseaus politisches Programm erkennen, wie Klemperers Ausfälle durch die Pervertierung provoziert wurden, die das demokratische Erbe der Aufklärung und der französischen Revolution durch die Nazis erleiden mußten.“ (Heintze 1966: 11) Am 2. Dezember 1938 trifft ihn ein Bibliotheksverbot, so dass der zweite Band zu Rousseau unvollendet abgebrochen werden muss, wodurch er auch in den nachfolgenden Jahren befürchtete, dass seine Arbeit vielleicht umsonst gewesen wäre, wie er in einer Notiz vom 24. April 1941 ième formuliert: „Mich bedrückt jetzt oft, meine Arbeit am 18 werde umsonst sein, weil ich mich nicht mehr hineinfinden kann, und weil alles bereits überaltert sein wird – die Forschung ist weitergegangen.“ (ZAI: 591 [24.4.1941]) Klemperers negative Bewertung von Rousseau ist politisch begründet, da er im Autor des Contrat social einen entfernten Vorläufer des Nationalsozialismus sieht,716 auch wenn von einer direkten Filiation nicht die Rede sein kann (vgl. von Stackelberg 1997: 109).717 Es gibt eine spiegelverkehrte Beziehung zwischen der sophen, den er des Öfteren als protofaschistischen Ideologen bezeichnet, dass „es besser für die Welt gewesen [wäre], wenn Rousseau noch vor dem ersten Federstrich als gemeingefährlicher Geisteskranker interniert worden wäre.“ (A 160 [10.6.1936]) 716 Vor diesem Hintergrund vergleicht der Diarist den Nationalsozialismus mit der jakobinischen Terrorherrschaft von Robespierre: Die Nationalsozialisten nennt er „die deutschen Jakobiner“ (ZAI: 97 [19.3.1934]; vgl. ebd.: 14 [22.3.1933]; ebd.: 89 [21.2.1934]). Klemperer zieht dementsprechend eine direkte Linie von Robespierre zu Kommunismus und Faschismus: „Die Linie geht von Religionsstiftern über Robespierre, Marx, Lenin zu Mussolini u. Hitler.“ (A 138: 836 [8.4.1943]) Auch Jacob Leib Talmon (1961: 1967ff.) sieht in Robespierres Eingreifen in den Verlauf der Französischen Revolution gewissermaßen einen Katalysator für totalitäre Ideen, indem die Revolution nicht nur aufgrund sozialer und ökonomischer Defizienz ausgelöst wurde, sondern durch individualistische Strömungen und einen spezifischen Glauben an eine Verbesserung durch einen radikalen Umsturz: die sogenannte religion d’égalité, die dem vorrevolutionären ‚messianischen‘ Klima entsprach. Das jakobinische Regime, so Seitschek (2005: 60; 70), stellt eine Synthese von Volkssouveränität und Ein-Partei-Diktatur dar. Es basiere auf einer kohärenten Ideologie und Massenbegeisterung und stehe diese Staatsform im Grunde dem Totalitarismus näher als ihr lieb ist. Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls Birken (1999: 39). 717 In The Origins of Totalitarian Democracy weist Jacob Leib Talmon darauf hin, dass das Rousseau’sche Führerprinzip und die von ihm befürwortete Souveränität des Volkes das Fundament für sowohl den linken (Robespierre) als den rechten Totalitarismus (Hitler) gelegt hätten. Diese Aussage wird auch von Klemperer in dessen Geschichte der französischen Literatur bestätigt: „Bis

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Rousseau-Deutung in Klemperers Tagebüchern der NS-Zeit und der ‚völkischen‘ Rezeption, die man üblicherweise in nationalsozialistisch gesinnten philosophischen Schriften aus dem Dritten Reich vorfindet. In der deutschen RousseauRezeption während des Nationalsozialismus wird die Feststellung in den Mittelpunkt gerückt, Rousseau habe intellektuell der ‚totalitären Demokratie‘ den Weg geebnet: „So entzerrt das Wesen Rousseaus aber auch in anderen Ländern wurde, die Rousseaukritik zeigt [...] besonders in Deutschland von allem Anfang an ein anderes Bild.“ (Schalk 1936: 320f.) Diesem positiven bzw. bejahenden Rousseau-Bild, das von Klemperer als unwissenschaftlich und tendenziös abqualifiziert wurde, begegnet man allenthalben in der romanistischen Forschungsliteratur, in der – in abgewandelter Form – die Idee der volonté générale Rousseaus begrüßt wurde.718 Im Gegensatz zu Letzterem bestritt man aber den menschlichen Unternehmungsgeist, indem den einzelnen Mitgliedern der Nation jede spezifische Persönlichkeit und besondere individuelle Wünsche und Interessen aberkannt wurden. Entsprechend spiegelten Individuen in der NS-Ideologie, wie George L. Mosse (1991: 298) kritisch bemerkt, nur die Wesensmerkmale und Gefühle der geltenden Ordnung wider: „Individuen waren lediglich Teile einer fiktiven Persönlichkeit, der Körperschaften die mit einer Stimme sprach und die die Interessen aller vertrat.“ Klemperer trat diesem Gedanken der ‚faschistischen‘ Entindividualisierung bzw. ‚Gleichschaltung der Interessen‘ leidenschaftlich entgegen. Der Nationalsozialismus wollte als ‚totale Kultur‘ den Menschen insgesamt erfassen, sein Isolationsgefühl überwinden und seine Gefühle in die Richtung von Blut und Boden steuern (vgl. Mosse 1993: 6).719 In Bezug auf den Populismus des Führerkultes kommentiert Klemperer (1966: 105) etwa: „[N]ur hier schmilzt die volonté générale zur mystischen und doch körperhaften Einheit zusammen, nur in der Enge der Cité kann das gleiche Volksfest für alle seine erzieherische Wirkung tun.“ In sowohl italienischem als auch deutschem Faschismus wollte der Führer sich „wirklich und persönlich ‚an alle‘ wenden.“ (LTI: 70) In beiden Ausprägungen, so Klemperer, handelt es sich darum, den führenden Mann in unmittelbaren Kontakt mit dem Volk selber, dem ganzen Volk und nicht nur seinen Vertretern, zu bringen. Verfolgt man diesen Gedanken zurück, so stößt man unweigerlich auf Rousseau, insbesondere auf seinen Contrat social. [...] Bei Rousseau ist der Staatsmann der Redner zum Volk, dem auf dem Markt versammelten, bei Rousseau bedeuten sportliche und

auf den heutigen Tag sind seine [=Rousseaus, A.S.] Schriften Vorbild und Fundgrube fanatischer Politiker aus sehr verschiedenen Lagern.“ (Klemperer 1966: 31) 718 Zur Rousseau-Deutung in der deutschen NS-Romanistik vgl. Jehle (1996: 115-120). 719 Die organische Naturgebundenheit von Rousseaus Philosophie – „die rousseauistische Schwärmerei für den Acker“ – betrachtet Klemperer als Ausgeburt der gefühlsbetonten Romantik, die auch für den Nationalsozialismus grundlegend sei (A 138: 806 [22.2.1943]). Die Romantik, auf der der Nationalsozialismus Klemperer zufolge formal gründet, bildet für den Diaristen die Negativfolie zur Aufklärung. Für weiterführende Hinweise zum negativ besetzten Romantikverständnis bei Klemperer vgl. Birken (1999: 33-35).

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künstlerische Veranstaltungen, an denen die Volksgemeinschaft teilnimmt, politische Institutionen und Werbemittel. (ebd.: 69f.)

Klemperer sieht in der Allgegenwärtigkeit des massensuggestiven Volksfestes im Dritten Reich eine weitere Analogie zwischen Faschismus und Rousseaus Staatsauffassung. Die Nationalsozialisten erfanden neue feierwürdige Anlässe und nutzten althergebrachte Feierlichkeiten, weil die Fähigkeiten und Ausstrahlung des Führers kontinuierlicher Bestätigung bedurften: „Immer Feste, Volksgemeinschaft, drittes Reich, Fahnen, Fahnen, Fahnen. Die Abstumpfung, der Ekel, das Nachdenken müssen kommen. Immer die strikte Analogie zu Rousseau und den damaligen Umständen.“ (ZAI: 413 [30.6.1938]) Der mythisierende Anti-Intellektualismus und Etatismus, die Klemperer in Rousseaus Werk vertreten sah, waren ihm zuwider.720 Das totalitäre Potential, das Klemperer bei Rousseau wittert, wird auch von anderen Seiten mit erstaunlicher Übereinstimmung diagnostiziert: Einen wichtigen philosophischen Schritt hin zum Totalitarismus findet auch der israelische Historiker Jacob Leib Talmon (1961: 38-49) bei Rousseau. Rousseaus Ziel, wie er es in seinem Du Contrat Social (1762) ausformuliert, ist laut Talmon die Neudefinition der gesellschaftlichen und politischen Sphäre.721 Weil der Mensch sich selbst im Laufe der Geschichte von Gesellschaft und Politik entfremdet hat, muss es durch eine geeignete Pädagogik und Politik dem Individuum erneut ermöglicht werden, dem allgemeinen Willen zu dienen. Wer nicht diesem allgemeinen Interesse des Volkes folgt, schließt sich per se aus der Volksgemeinschaft aus und marginalisiert sich dementsprechend. Rousseau versagt dem Menschen diese Entäußerung. Der Egoismus des Menschen müsse ausgetrieben und die menschliche Natur geändert werden. Individualismus und Kollektivismus werden somit unversöhnlich einander gegenübergestellt. Der Philosoph will zwar die Freiheit als höheres bürgerliches Prinzip erhalten, kommt dennoch aufgrund der radikalen Zweiteilung von volonté générale und volonté particulière in Konflikt. Rousseaus staatstheoretische Auffassungen können durch den Universalismus der volonté générale, die keinem konkreten politischen Programm, sondern einer platonischen Idee entspricht, totalitäre Zuspitzung erreichen. Talmon (1961: 42) ist der Meinung, dass die unteilbare und direkte Volksdemokratie die Möglichkeit der Diktatur in sich birgt, da immer ein einheitliches Abstimmen des Volkes erfordert ist. Durch das universale Prinzip der volonté générale bindet sich das Volk sozusagen an sich selbst, denn ihr ist Folge und Gehorsam zu leisten (vgl. Seitschek 2005: 60). Es versteht sich von selbst, dass der konservative, preußische Bil720 Entgegen den mythisierenden bzw. sakralisierenden Tendenzen im Totalitarismus orientiert sich der Diarist maßgeblich am Rationalismus: „Meine Antipathie u. Skepsis gegen Gefühlsüberschwang werden immer heftiger, mein Glaube an den Rationalismus wird immer stärker.“ (A 138: 778 [17.1.1943]) Analog heißt es Ende 1944: „Ich will bis zum letzten Federstrich Rationalist u. Aufklärer u. Antiromantiker sein.“ (ebd.: 1236 [31.10.1944]) 721 Seitschek (2003: 186ff.; 2005: 57ff.) legt einen besonderen Akzent auf Talmons totalitarismustheoretische Rezeption Rousseaus.

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dungsbürger Klemperer diesem ‚gleichmacherischen‘ Konzept der „Herrschaft der ‚kleinen Leute‘“ feindlich gesinnt war (ZAI: 89 [21.2.1934]). Die Führung des Volkes wird nach der Revolution zum Gesetzgeber, der dem Allgemeinwillen folgt, ihn verwirklicht und dem Volk zeigt, warum er zu befolgen sei. Aufgrund des Aufgehens der volonté particulière in das abstrakte Prinzip der souveränen volonté générale liest Klemperer Rousseau als Denker des Totalen und Wegbereiter der totalitären Demokratie. Andererseits, und dies hebt Klemperer auch hervor, ist Rousseaus Volksführer ein demokratischer Politiker – zwar mit totalitärem Potential –, während der nationalsozialistische Führer inhärent demokratiefeindlich und diskussionsuntauglich ist: Politisch ist das Vorbild (ganz gleich, ob ihn der Führer gelesen hat oder nicht) der ‚Contrat Social‘. [...] So wie Rousseaus Volksführer auf der Agora zum Stadtstaat redet, so wendet sich Hitler durch den Rundfunk an alle. Es ist ein ungeheurer Unterschied. Rousseaus Mann und nach ihm die Männer der Französischen Revolution reden zu einer anwesenden Volksversammlung, sie haben in jedem Augenblick mit Einwänden zu rechnen, sie sind Parlamentsredner, sie können es sich nicht allzu bequem machen, sie müssen diskutieren, begründen, sie sind gebremst. Die neuen Führer sprechen allein, niemand kann ihnen widersprechen, sie reden vor einem stummen Scheinparlament nicht anders als am Rundfunk, sie haben keine Pressekritik zu befürchten, sie sind völlig ungebremst. Sie gehen hemmungslos auf die Betäubung einer stummen Masse aus, sie gehen darauf aus, die Vielheit beseelter Individuen zu dem mechanisierten Kollektivum zu machen, das sie Volk nennen und das Masse ist. (ebd.: 623f. [23.6.-1.7.1941])

Aus vielen philosophischen bzw. philologischen Werken aus dem Dritten Reich ergibt sich eine extrem einseitige Lektüre der Rousseau’schen Ansätze – ihrer Widersprüchlichkeit zum Trotz –, die Rousseau politisch im Wissenschaftsbetrieb zu operationalisieren, d.h. ihn In das sprachliche Koordinatensystem des NS-Staates einzufangen sucht: „Es ist jetzt wohl die Zeit gekommen, daß Lehrende und Studierende der nationalistischen und sozialen Unterströmung in Rousseaus Gedankenwelt [...] ihre Aufmerksamkeit zuwenden.“ (Sakman 1935: 10) Franz Pahlmann seinerseits ist eine der Personen, die Rousseau in ein neues – sprich: nationalsozialistisches – Licht rückten: In Mensch und Staat bei Rousseau (1939) spaltet der Autor Rousseau eindeutig von der Voltaire’schen rationalistischen Aufklärungsphilosophie ab. Rousseau wird als Befürworter des sinnlichen Gefühls bezeichnet, dessen sensualistische Anthropologie sich gegen jeglichen Rationalismus und demokratische Willensäußerung im Sinne Parlamentarismus richtet: „Wenn Rousseau den Menschen zunächst ausschließlich als sinnlich fühlendes Wesen versteht, so will er damit die Aufklärung in ihrer Grundlage, in ihrem Vernunftsglauben selbst treffen.“ (Pahlmann 1939: 13) Rousseau wurde strategisch als vernunftkritischer Feind der französischen Aufklärung hochstilisiert. In seinem Aufsatz „Rousseau im Lichte unserer Gegenwart“ empfiehlt Sakman (1935: 3) deswegen besonders den Enzyklopädie-Artikel Économie politique, da er in ihm ein Bekenntnis zur „organisch-sittlichen Staatsauffassung“ zu entdecken glaubt. Sogar auf Rousseaus Contrat social projiziert der Autor das Konzept des

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totalen Staates, denn Rousseau sage, „daß der Einzelne mit seinem ganzen Sein und Leben an den Staat sich zu entäußern habe.“ (ebd.) Dem Rousseau’schen Eintreten für einen ‚sozialen‘ Totalitarismus – vor allem in der Économie politique –, das von Sakman als beispielhaft bejubelt wird, kommt in Klemperers Rousseau-Interpretation eine durchaus negative Bedeutung zu: Ich arbeitete gestern und heut den Enzyklopädie-Artikel Rousseaus ‚Économie politique‘ durch; ganze Stücke daraus könnten in Hitlers Reden stehen. Die Grundzüge meiner Studie sind mir klar: die Flucht aus der Gegenwart und vor sich selber in drei divergierenden Richtungen: zur Natur, zu Gott, zum spartanischen Staat, die Prostitution der Vernunft im Dienst des subjektiven Gefühls, die romantische Sehnsucht, die Verstandesbildung im Sinn des 18. Jahrhunderts for-mal wie substantiell, die Rokokolüsternheit bei krankhaft überreizter Sexualität, die vertuFimmel als Gegengift und Selbstbetrug. (ZAI: 290f. [30.7.1936])

Am (politisierten) philosophischen Diskurs über Rousseau lässt sich vorführen, dass eine Diskursanalyse von Klemperers Tagebüchern immer auch eine Korpusanalyse ist, wie mit der Gegenüberstellung von Klemperers Aufzeichnungen und der synchronen Resonanztexte gezeigt wurde. Innerhalb des philosophischen Diskurses im Textkorpus artikulieren sich – in negativem Parallelismus – zwei entgegengesetzte Wertungen (oder ‚diskursive Positionen‘ (vgl. Link 1988: 290; Link und Link-Heer 1990: 97): In den nationalsozialistisch geprägten Texten wurde Rousseau als philosophische Legitimation des völkischen Nationalsozialismus positiv angesehen, während Klemperer ihn aus demselben Grund uneingeschränkt negativ bewertete.722 Im autobiographischen Interdiskurs erblickt man die strategische Überlagerung bzw. Ankopplung von philosophischem und politischem Spezialdiskurs, die auf den hohen Aktualitätswert der Aufklärung im

722 In Benjamin Constant und der liberale Verfassungsstaat legt Florian Weber (2004: 28, Fußn. 102) indes nahe, dass Rousseau weder im positiven Sinne – wie aus der NS-Perspektive – noch im negativen Sinne – wie bei Klemperer – pauschal als gegenaufklärerischer Befürworter des Totalitarismus und Vordenker des Nationalsozialismus betrachtet werden kann. Der französische Philosoph stellte ihm zufolge vielmehr das Dialektische der Aufklärung dar. Weber macht vor diesem Hintergrund vier Gemeinsamkeiten zwischen Jean-Jacques Rousseaus Theorie der Ungleichheit und Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung aus: 1. Sie postulieren die Antithese von Natur und Kultur. Das Böse liegt dementsprechend nicht im menschlichen Wesen, sondern im Prozess der Vergesellschaftlichung. Insofern wird die Negation der Natur durch die Zivilisation kritisiert; 2. Die Aufklärung ist immanent dialektisch. Der Mensch bezahlt die Macht, die er durch die Entwicklung intellektueller Vermögen erlangt, mit dem Verlust von Unmittelbarkeit. Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen Mensch und Natur instrumentalisiert. Durch Arbeit und Sprache reiht sich der Mensch in eine Reihe Dichotomien ein: Innen – Außen, Ich – Anderer, Sein – Schein, Gut – Böse; 3. Es gibt einen fatalen Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Natur. Durch die Unterwerfung der äußeren Natur wird auch die innere verknechtet und verdinglicht; 4. Der Mensch entfremdet sich der Natur durch Arbeit und Reflexion. Die Arbeit als Mittel der Selbsterhaltung geht mit einer Verdinglichung der Natur einher. Die Reflexion ihrerseits steht in ihrem Dienst und führt zu einem Verlust der Autarkie der Sinnlichkeit.

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Dritten Reich hinweist. Klemperer, so hat sich aus den vorhergehenden Einzelanalysen herausgestellt, hat die Aufklärung – trotz Genozid und Massenvernichtung – nie tot gewähnt, sondern glaubte, sie sei lediglich ein wiederzubelebendes Konzept. 3.3.2.6 Die Aufklärung – ein unvollendetes Projekt? In seinen beiden berühmten Aufsätzen „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ (1981: 444-464) und „Der normative Gehalt der Moderne“ (1985a: 390425) erinnert Jürgen Habermas emphatisch an das emanzipatorische Erbe der Aufklärung, auf dem die moderne westliche Zivilisation gegründet ist: Aufklärer [...] hatten noch die überschwengliche Erwartung, daß die Künste und Wissenschaften nicht nur die Kontrolle der Naturkräfte, sondern auch die Weltund Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der Menschen befördern würden. Von diesem Optimismus hat das 20. Jahrhundert nicht viel übriggelassen. Aber das Problem ist geblieben, und nach wie vor scheiden sich die Geister daran, ob sie an den Intentionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verloren geben. (Habermas 1981: 453)

Das Dritte Reich, das sich grundsätzlich von den Leitgedanken des Humanismus abgewandt hatte, ist ohne Weiteres als geistige Zäsur in Klemperers Œuvre einzustufen, aber der Tagebuchautor hat immer – auch inmitten des Holocaust und gegen besseres Wissen – leidenschaftlich die für ihn als überzeitlich empfundenen Werte der Menschlichkeit verteidigt. Die moralische Orientierung an Voltaire, der nach und nach zu Klemperers geistigem Lebensbegleiter wurde, zeugt Martin Walser zufolge von einem „durch keine ihm angetane Gemeinheit zerstörbare[n] Kulturvertrauen.“ (Walser 1996: 16) Im Jahr 1956 veröffentlicht Victor Klemperer Vor 33/nach 45. Gesammelte Aufsätze, eine Sammlung von Aufsätzen, aus denen deutlich die gewaltige Bruchlinie in seinem Denken hervortritt. Im Vorwort zu dieser Veröffentlichung betont Klemperer die Notwendigkeit des Humanismus und der Aufrechterhaltung universeller Aufklärungswerte in der Nachkriegszeit: „Ich habe in der gräßlichen Schule der Hitlerzeit vieles um- und nachgelernt. Das kaum noch erhoffte Geschenk des Überlebens habe ich als eine Verpflichtung zum Dienst am Neuaufbau empfunden.“ (Klemperer 1956: x) Klemperer entschied sich eindeutig dafür, trotz der totalitären Eklipse menschlicher Würde, an der Aufklärung festzuhalten: Dem anthropologischen Menschenbild der Aufklärungsphilosophie, deren Grundbegriffe um Toleranz, Rationalität und Humanismus kreisen, wird in Klemperers Tagebüchern viel Gewicht beigelegt und avanciert zum Politikum und moralischen Halt in Zeiten von Massenvernichtung und Krieg.723 Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (1779) nimmt in die723 Die der Aufklärungsphilosophie beigemessene Bedeutung geht bei Klemperer auch auf das universalistische Emanzipationsbestreben der deutsch-jüdischen Assimilierten zurück. Die Hervorhebung der Gleichheit aller Menschen, die nicht durch Religion oder Rasse bestimmt bzw. be-

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sem Zusammenhang für Klemperer eine besondere symbolische Position ein, da die aufgeklärte Hauptfigur Nathan als universaler Mensch porträtiert wird und auf diese Weise mit den rassischen Gedanken von sowohl Zionismus wie auch Nationalsozialismus unvereinbar zu sein scheint: Lessing [...] sondert die Idealfigur des Nathan scharf von seinem Volk. Er ärgert sich über die ‚Menschenmäkelei‘ des ‚auserwählten Volkes‘, er zeigt Nathan nirgends in Connex mit jüdischer Confession, jüd. Kult, nur als Mann des optimistischen Deismus. Er gibt durch den Mund seines Helden ausdrücklich die Juden als Ganzes, als Volk, er gibt ausdrücklich jede Volksgemeinschaft preis. (A 138: 1098 [15.6.1944])

Klemperer wendete sich im Tagebuch ganz eindeutig gegen die Idee der natürlichen Volksgemeinschaft. Das Tagebuch wird vor diesem Hintergrund zum Ort einer kritischen philosophischen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen, in dem der Tagebuchautor noch gewissermaßen Widerstand leisten kann: Diese Aufzeichnungen erlauben es dem Schreibenden, „in extremen Situationen Widerstand zu leisten, indem er seine Kräfte sammelt und seine Würde aufrechterhält.“ (Lejeune 2004: 26) Das Tagebuch gilt dem diaristischen Ich als Refugium für regimekritische Gedanken. Victor Klemperers Journal war vor diesem Hintergrund ein Mittel zur individuellen Selbstverwirklichung und unterwanderte somit das Streben der Nationalsozialisten nach absoluter Kontrolle. In dieser Linie gilt die autobiographische Zeitzeugenschaft Victor Klemperers als spiegelverkehrte Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, indem in den Tagebüchern die beschriebene historische Lebenswelt zur Abspiegelung der eigenen Ausgrenzung wird. Die umwälzenden geschichtlichen Ereignisse im Dritten Reich werden von Klemperer so weit wie möglich durch die kontinuierliche Praxis kritischer philologischer Tätigkeit konterkariert. Klemperers Aufzeichnungen, in denen die Themen ‚Aufklärung‘, ‚Voltaire‘ und ‚Rousseau‘ ausführlich erörtert werden, schaffen somit – als gegendiskursive, intime Ersatzöffentlichkeit – ein Reservat der Ordnung, der Kritik und der Hoffnung im Ausnahmezustand und erweisen sich als kompensatorische Alternativen der Defizite, Widersprüche und Zwänge der Wirklichkeit. Das unentfremdete Leben und die persönliche Autonomie, die die nationalsozialistische Gesellschaft verwehrt, rückt Klemperer in der imaginären Innenwelt des Tagebuchs, die er im täglichen Schreibprozess gewinnt, in greifbare Nähe. In der Erschütterung an den philosophischen Prinzipien Voltaires oder Montesquieu festzuhalten, denen „ein reformatorisches Ziel“ (Klemperer 1954: 24) zugrunde liege, bedeutet für Klemperer einen kategorischen Imperativ des gerechten Handelns: Gegen „Entindividualisierung und Massenzurichtung“ brauche man, so Klemperer, als humanistische Alternative eine „montesquieuartige urteilt werden, sondern durch Bildung und berufliches Verdienst, bringt den Wunsch zum Ausdruck, uneingeschränkt an der nichtjüdischen Gesellschaft teilzuhaben. Die Bildung und der Beruf sollten den Anschluss an die Emanzipation und das ‚Allgemein-Menschliche‘ ermöglichen.

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Balance.“ (ZAII: 508 [30.4.1944]) Mit dem Hinweis auf eine „Balance“ spricht Klemperer die Notwendigkeit eines universalistischen Gegengewichts gegen die völkische Matrix an, die Menschen nach ihrer angeblichen ‚Rassenzugehörigkeit‘ kategorisiert, beurteilt und belohnt bzw. bestraft.724 Im Gegensatz dazu sei das Basisprinzip der Aufklärungsphilosophie die „humanitas. Das ist kein Privileg der Juden od. irgend eines einzelnen Volkes.“ (A 138: 655 [4.8.1942]) Der Tagebuchautor hat sich im Dritten Reich stets gegen die doppelte, durchaus antisemitische Unterstellung gewandt, er könne als Deutscher jüdischer Abstammung nicht zugleich ein deutscher Patriot und Befürworter der französischen Aufklärung sein. Die moralische Orientierung am Emanzipationsgedanken der Aufklärung, die häufig mit der Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ assoziiert wird, lässt sich auch bei Jean Améry im Hinblick auf den Holocaust feststellen. Am Ende seiner 1977 bei der Verleihung des Lessing-Preises gehaltenen Dankesrede „Aufklärung als Philosophia perennis“ schreibt Améry (1977: 78): Was Freiheit heißt, weiß gewiss jeder, der je in Unfreiheit gelebt hat. Daß Gleichheit kein Mythos ist, davon kann ein Lied singen, wer Opfer der Oppression war. Immer ist die Wirklichkeit gescheiter als die ohnmächtig sie reflektieren wollende Philosophie. Darum ist Aufklärung auch kein fugenloses doktrinäres Konstrukt, sondern das immerwährende erhellende Gespräch, das wir mit uns selbst und mit dem anderen zu führen gehalten sind. Das Licht der klassischen Aufklärung war keine optische Täuschung, keine Halluzination. Wo es zu verschwinden droht, ist das humane Bewußtsein eingetrübt. Wer die Aufklärung verleugnet, verzichtet auf die Erziehung des Menschengeschlechts.725

Das ‚Projekt der Moderne‘ darf Améry zufolge nicht aufgegeben werden, wenn die Welt nicht ein weiteres Mal in die Barbarei versinken soll.726 Auch für den 724 Montesquieu gilt in der politischen Philosophie – zusammen mit John Locke – als staatstheoretischer Begründer der Gewaltenteilung. Dem Ausgangsgedanken seiner Philosophie entsprechend sollen nicht die Willkür und der Wille einzelner Personen das Funktionieren der Gesellschaft bestimmen, sondern gesellschaftlich legitimierte Staatseinrichtungen. Der französische Philosoph war vor diesem Hintergrund Befürworter der Angleichung nationaler und universaler Gesetze, weswegen Klemperer eine „montesquieuartige Balance“ zwischen Staat bzw. Kollektiv und Individuum für wünschenswert hielt, weil es im NS-Totalitarismus keine bürgerliche Gegenmacht mehr gab: „Im fascistischen [sic] Rom, in Sowjetrußland, beim già Reichsbanner, auch in den Demokratien, in USA, teilweise in Großbritannien – überall das gleiche. Es gab auch vor dem ersten Weltkrieg schon solches Kollektivieren: die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht, die Sportvereine, die studentischen Verbindungen – aber es gab doch auch private, individuelle, familiäre Gegengewichte [...]. Jetzt dagegen ...“ (ZAII: 508 [30.4.1944]) 725 Vor diesem Hintergrund unterstreicht Alfred Grosser (1979: xviif.) – im Hinblick auf den Holocaust – die symbolische Relevanz von Voltaires Aufklärungsphilosophie für die Gegenwart. 726 Der von der Frankfurter Schule aufgegebene Glaube an den inhärenten Wahrheits- und Emanzipationsgehalt der Aufklärung löst bei Jean Améry deshalb scharfe Kritik aus. Der ‚begriffliche Obskurantismus‘ und die abstrakte Verdichtung der Geschichte in der negativen Philosophie Adornos lenke den Blick auf unzulässige Weise von den Greueln der Shoah ab. In Unmeisterliche Wanderjahre kritisiert Améry (1971: 118f.) deshalb scharf die Frankfurter Schule, weil sie das Konkrete – das Abscheuliche – durch eine abstrakte Begriffssprache ausgefüllt habe: „Dialektische Geistesschärfe höchster Ordnung brachte das Irreduktible, was sich in diesem Lande

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Überlebenden Klemperer – im Gegensatz zu beispielsweise Adorno und Horkheimer (2003) – stellt die Aufklärung ein menschheitserziehendes Projekt dar.727 Sie erschien ihm angesichts des Dritten Reiches nicht als Illusion der Moderne, als gescheitertes Emanzipationsunternehmen, sondern war aus psychologischer Perspektive ein geradezu lebensnotwendiger Rückhalt und idealisiertes Gegengewicht gegen Totalitarismus, Rassentheorie und Massenvernichtung. Das Menschenbild der Aufklärungsphilosophie war für sein Selbstverständnis als – seiner Meinung nach – vollkommen assimilierten jüdischen Deutschen grundlegend. Das Anerkennen des Janusgesichts der Aufklärung wäre meiner Meinung nach auf einen symbolischen Tod seines Selbst hinausgelaufen.728 Vor diesem Hintergrund sieht er in der gesamten Geschichte der französischen Literatur „ihren allerbesten Beitrag zum Heil der Welt [...] in Voltaires Werk.“ (CVI: 305) Klemperers Glaube an die Richtigkeit der Voltaire’schen Thesen, dem in seinen Tagebuchnotizen und seinen literaturhistorischen Werken so kraftvoll eine Stimme verliehen wird, erweist sich, sogar (oder vielleicht gerade) in Zeiten menschenfeindlicher Bedrängnisse, als fast unerschütterlich: Der humanistisch-philosophische Diskurs in ereignet hatte, unter in einer keimfreien Denkstruktur. Darin nahm das Unbegreifliche sich aus wie irgendetwas. – ‚Dialektik der Aufklärung‘ – : schon in den lumières waren alle Schrecken als noch unsichtbare Schatten enthalten. Der Faschismus – denn ihn hatte es offenbar nur gegeben und nicht originale, unverwechselbare Tatbestände des SS-Staates – war Sache kritischer Reflexion. Der Tod war kein Meister aus Deutschland. Er war faschistisch oder faschistoid. Die realen Greuel, bei denen sich niemand aufzuhalten brauchte, wenn in angestrengter Begriffssprache doziert wurde, bekamen etwas Märchenhaftes. Greuelmärchen. Die abstrakte Reflexion nahm ihnen ihre Schrecken.“ In diesem Zusammenhang unterzieht Améry auch das postmoderne Denken einer äußerst kritischen Lektüre, weil sie zusehends vom subjektiven Leid der Holocaust-Opfer abstrahiert habe. Gerade wegen der Auflösung des autonomen Subjekts in der (post-)strukturalistischen Diskurstheorie sieht Améry – nicht unähnlich wie Jürgen Habermas (1985a) in Der philosophische Diskurs der Moderne – in z.B. Michel Foucault oder Jacques Derrida den Inbegriff der enthumanisierten Gegen-Aufklärung verkörpert. Améry (1971: 129f.) wehrt sich in diesem Kontext gegen die philosophische Idee einer von Strukturen beherrschten Welt. 727 In einem erstmals 1946 erschienenen Aufsatz, den er anlässlich der Eröffnung der Dresdener Volkshochschule in der SBZ verfasst hatte, schreibt der Philologe voller Überzeugung, es soll nach dem Holocaust „nichts Wichtigeres geben, als für Entdunkelung zu sorgen, für klare Tageshelle, für Aufklärung.“ (Klemperer 1956: 244) 728 Die Aufklärungsphilosophie verschaffte dem Philologen ein begriffliches und konzeptuelles Instrumentarium, mit dem er den Nationalsozialisten ihr ‚Deutschtum‘ abzusprechen vermochte. Die ‚deutsch-jüdische Symbiose‘ stellte für Klemperer den Inbegriff der erfolgreichen deutschen Aufklärung dar. Vor diesem Hintergrund sind in den Tagebüchern ‚Aufklärung‘ und ‚Deutschtum‘ unlöslich miteinander verwachsen. Dem Roman Der Pojaz (1905) des deutschnational gesinnten Karl Emil Franzos, der eine Vermittlerstellung zwischen Deutschtum und Judentum einnahm, kam somit für den Diaristen eine symbolische Bedeutung zu, weil er die gelungene Emanzipation der jüdischen Bevölkerung aus den Schtetln schildert: „Ich halte den Pojaz im Gedächtnis als einen Märtyrer für Deutschtum u. Aufklärung.“ (A 138: 1117 [10.7.1944]) Der Syllogismus der Identität von ‚Deutschtum‘ und ‚Aufklärung‘ als philosophischen und moralischen Einstellungen, denen Klemperers Identitätsdiskurs zugrunde liegt, kann – rhetorisch verkürzt – wie folgt dargestellt werden: ‚Die jüdische Emanzipation wurde ermöglicht durch die Aufklärung‘ / ‚Das Deutschtum ermöglichte die jüdische Emanzipation‘ / ‚Darum ist das Deutschtum aufgeklärt‘. Diese vergröbernden Argumente ermöglichten es dem Tagebuchschreibenden, den ‚antiaufklärerischen‘ Nationalsozialismus als ‚undeutsch‘ zu bezeichnen.

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Victor Klemperers Tagebüchern aus der Zeit des Dritten Reiches ist, entgegen den Erfahrungen ständiger sozialer Deklassierung, ein unaufhörlicher Versuch geistiger Selbstbehauptung und moralischen Überlebenswillens. Klemperers abstrakter Begriff der Aufklärung stellt weniger eine historische oder philosophische Kategorie als vielmehr ein anthropologisches und ethisches Idealprinzip dar.

3.3.3 Nationale Identität und Literatur: Goethe und Schiller Victor Klemperer definierte sich vor 1933 fast ausschließlich über sein deutsches Denken und Fühlen, aber mit der Machtübergabe an Hitler wurde seine patriotische deutsche Identität allmählich brüchig. Mit dem Zusammenbruch des Narrativs der Weimarer Republik und deren entsprechender Werte war der Philologe folglich dazu veranlasst, seine Haltung bzw. Identität zu revidieren und sich neu zu orientieren. Das unproblematische Bekenntnis zum Deutschtum, durch das sich Klemperers Selbstverständnis seit seiner Jugend im Wilhelminischen Kaiserreich auszeichnete, erwies sich im Dritten Reich immer unhaltbarer. Die nationalsozialistische Herrschaft hat die deutschnationale Grundüberzeugung des assimilierten jüdischen Bildungsbürgers Klemperer tief erschüttert. Während des Ersten Weltkrieges, so erinnert sich der Autor in seiner Autobiographie, glaubte er noch fest an Deutschland als Kulturnation, die unbeirrt in der Tradition Goethes stand: „Wir die Deutschen waren besser als die anderen, freier im Denken, reiner im Fühlen, ruhiger und gerechter im Handeln. Wir die Deutschen waren das wahrhaft auserwählte Volk.“ (CVI: 315) Aber Klemperer verliert allmählich durch die Machtübernahme Hitlers die grundlegende, kulturkundliche Überzeugung der deutschen intellektuellen und kulturellen Überlegenheit und stellt sich die schmerzliche Frage: „Wie war der grauenvolle Gegensatz der deutschen Gegenwart zu allen, wirklich allen Phasen deutscher Vergangenheit möglich? [...] Gab es noch irgendeinen geistigen Zusammenhang zwischen den Deutschen der Goethezeit und dem Volk Adolf Hitlers?“ (LTI: 167) Der symbolische Stellenwert, der der nationalen Ikone Goethe (aber in zweiter Linie auch Schiller und Lessing) in Klemperers Tagebüchern zukommt, soll im Folgenden anhand einer Metaphernanalyse in einem Korpus zeitgenössischer Texte erörtert werden, damit ausgeleuchtet werden kann, in welchem Maße die Orientierung an deutschen literarischen Klassikern für deutsche Juden im Kontext des Nationalsozialismus der kulturellen Selbstvergewisserung diente. Es sollen darüber Aufschlüsse gegeben werden, welche Bedeutungszuweisungen die Ikone ‚Goethe‘ in den Texten erhält, und wie die Zuweisungen anderer Diskurse in den Texten aufgenommen und dort entweder stabilisiert oder umgeschrieben werden. Die wechselseitige Bezogenheit literarischer und außerliterarischer Äußerungen zum Thema Weimarer Klassik werden kulturpoetisch untersucht, indem zirkulierende Elemente zwischen Tagebuch und gesellschaftlichem Kontext herausgefiltert werden. Klemperers Tagebucheinträge stellen einen reintegrierenden Interdiskurs dar, in dem Analogien, Stereotype, Metaphern und Topoi, die ver-

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schiedenen Spezialdiskursen entnommen sind, auf spezifische Weise repräsentiert werden. Erst durch die gleichzeitige Berücksichtigung anderer Texte wird Klemperers Inszenierung von kulturellem Wissen aus der Zeit des Nationalsozialismus sichtbar. Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich auf einige bisher wenig beachtete Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte unter dem Zeichen des Nationalsozialismus: Sie sollen ansatzweise die Frage beantworten, wie die Symbole und Metaphorik bezüglich des Themenkomplexes ‚Weimarer Klassik‘ in den Tagebucheintragungen Klemperers sich einem spezifischen soziokulturellen Kontext verdanken, der in den Text des Autors mit einfließt. Klemperers Annäherung an den Themenbereich deutsche Literatur, der über weite Strecken in den Tagebüchern angesprochen wird, wurde eindeutig durch die zeitgeschichtliche Folie der Judenverfolgung überdeterminiert, wie Klemperer beispielhaft in einer Notiz vom August 1943 betont: „Ich will hier [=zur deutschen Literatur, A.S.] nur notieren, was zum Thema jüdisch-deutsch gehört.“ (ZAII: 416 [8.8.1943]) In einem ersten Schritt wird in Punkt 3.3.3.1 der ikonischen Bedeutung Goethes und Schillers als diskursive Erinnerungsorte nachgegangen, denen im Hinblick auf die Inszenierung der nationalen deutschen Kollektividentität ein wichtiger Stellenwert zukommt. Danach wird in Abschnitt 3.3.3.2 die Bedeutung der klassischen deutschen Literatur für das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum untersucht. Sodann gilt es, in 3.3.3.3 in Anlehnung an Lévi-Strauss’ Mythenanalyse Goethe und Schiller als prototypisch deutsches Dioskurenpaar unter die Lupe zu nehmen. In Punkt 3.3.3.4 gilt der Eugenik als für die NS-Ideologie wichtigem Interdiskurs das Augenmerk. Abschließend soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels – in 3.3.3.5 – die Bedeutung der Ambiguität der Moderne in Anbetracht von Goethe und Hitler dargestellt werden. 3.3.3.1 Literarische Ikonographie: Goethe und Schiller als nationale Erinnerungsorte Mit Bitterkeit reagiert Klemperer Anfang 1933, nach dem Machtantritt der NSDAP, auf das rasche Eindringen des Nationalsozialismus in alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen. Auch Goethes und Schillers Erhebung zu Säulenheiligen der deutsch-völkischen Altäre diente der Verfestigung rassischer Selbst-Identität im Dritten Reich. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gehören die beiden Autoren zum Basiskanon der deutschen Literatur. Sie haben Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden, wurden abgespeichert und ständig gepflegt. Sie können denn auch als kulturelle Ikonen bzw. nationale Erinnerungsorte aufgefasst werden,729 die als Legitimationsvorlage bzw. exemplarische Symbole ei729 Erinnerungsorte können sowohl materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören auch etwa reale wie mythische Gestalten. Ein nationaler Erinnerungsort ist die identitätsstiftende Ikone ‚Goethe‘ nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern auf Grund seiner symbolischen Funktion. Es handelt sich in diesem Zusammenhang um langlebige Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Prozesse eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ih-

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ner nationalen Identität verschiedenartig instrumentalisiert werden können, wie auch Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis auf theoretischer Ebene nahelegt: „Die Heiligung einer bestimmten Tradition läuft immer auf die Heiligung einer bestimmten Gemeinschaft hinaus. Aus dem neutralen Orientierungsinstrument Kanon wird dann eine Überlebensstrategie kultureller Identität.“ (Assmann 2002 [1992]: 127) Eine Gesellschaft, so lässt sich sagen, kann nur dasjenige erinnern, was als Vergangenheit innerhalb des Bezugsrahmens ihrer eigenen Gegenwart irgendwie rekonstruierbar ist. Vergessen wird andererseits genau das, was gegenwärtig keinen Bezugsrahmen mehr hat (vgl. Fraas 2000: 36). In Anlehnung an Pierre Noras Arbeit Les lieux de mémoire nehmen Hagen Schulze und Etienne François in ihrem ab 2001 herausgegebenen dreibändigen Werk Deutsche Erinnerungsorte eine Bestandsaufnahme der deutschen Erinnerungskultur vor. Erinnerungsorte sind Topoi des kollektiven Gedächtnisses, Gemeinplätze des Geschichtsbewusstseins, die die Mitglieder einer bestimmten Kultur bzw. Gesellschaft schon mal gehört haben und mit einem mehr oder weniger diffusen Sinn in Verbindung bringen. Im politischen NS-Diskurs werden diese Erinnerungsorte gerne aufgegriffen, wenn es darum geht, arische bzw. deutsche Identität, Abgrenzung und Gemeinschaft zu erzeugen. Vor diesem Hintergrund stellt das Dioskurenpaar ›Goethe/Schiller‹ eine doppelte Ikone dar,730 die für nichtjüdische wie für jüdische Deutsche gleichermaßen von Bedeutung war. rer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert. Vgl. hierzu François und Schulze (2001: 17f.). Jürgen Link und Ursula Link-Heer (1994: 46) machen in dieser Optik plausibel, dass mit der Verbreitung eines bestimmten Symbols dessen kollektiver Charakter und gleichzeitig dessen Fähigkeit, metaphorisch und repräsentativ zu funktionieren, zunimmt. 730 In einem Dioskurenpaar, so Lévi-Strauss in seiner strukturalen Mythenanalyse in Eingelöste Versprechen (1985), werden bestimmte Merkmale wechselseitig übertragen, die zwar grundsätzlich fest mit den einzelnen historischen Personen zusammenhängen, so aber verborgen und abstrakt scheinende Korrelationen freilegen. Vgl. vor diesem Hintergrund ebenfalls Rolf Parrs Analyse von Bismarcks Mythisierung in Parr (1992) und Jürgen Links Analyse der Konvergenz ›Goethe/Schiller‹, in der Realismus und Idealismus als diskurskonstitutives Prinzip der Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert konzeptuell vereint werden (vgl. Link 1983). Diese Konvergenz der beiden Literaten legt auch Klemperer nach seiner Schiller-Lektüre im März 1945 nahe: „[D]as Sichfinden Schillers u. Goethes: Realist u. Idealist, Naturforscher u. Kantianer ergänzen sich.“ (A 138: 1418 [21.3.1945]) Im Nationalsozialismus diente neben dem bekannten Dioskurenpaar ›Goethe/Schiller‹ auch das anachronistische Dioskurenpaar ›Goethe/ Hitler‹, in dem eine angebliche historische Analogie – Genialität – im Mittelpunkt steht, einer ideologischen Legitimierung des NS-Regimes, wie man beispielsweise bei Julius Petersen lesen kann: „Der Führer des deutschen Volkes ehrt[...] den Herrscher im Reich der deutschen Sprache.“ (Petersen 1935: 23) In der Propaganda-Broschüre Hitler wie ihn keiner kennt (1932: x) vergleicht Heinrich Hoffmann auf vergleichbare weise die politische Größe Adolf Hitlers mit der geistigen Brillanz Goethes. Im Gegensatz dazu entlarvte Kurt Tucholsky (1932: 751) das idiosynkratische mythisierende Zusammenführen von Hitler und Goethe in ein Dioskurenpaar im satirischen Text „Hitler und Goethe. Ein Schulaufsatz“, in dem es am Schluss heißt: „Wir haben also gesehen, daß zwischen Hitler und Goethe ein Vergleich sehr zu Ungunsten des letzteren ausfällt, welcher keine Millionenpartei ist. Daher machen wir Goethe nicht mit. Seine letzten Worte waren mehr Licht, aber das bestimmen wir! Ob einer größer war von Schiller oder Goethe, wird nur Hitler entscheiden und das deutsche Volk kann froh sein, daß es nicht zwei solcher Kerle hat! Deutschlanderwachejudaverreckehitlerwirdreichspräsidentdasbestimmenwir!“

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Sowohl Goethe als Schiller verfügten über einen ausreichend hohen Wiedererkennungsgrad, um sie als Zeichen identifizieren und mit kulturellem Wissen verbinden zu können.731 Dabei soll allerdings betont werden, dass es den Nationalsozialisten erheblich schwerer fiel, Goethe732 (wie auch Lessing733) zu instrumentalisieren als dies für Schiller (oder beispielsweise Hölderlin) der Fall war. Seit dem 19. Jahrhundert galt Schiller als ‚deutscher Nationaldichter‘, während Goethe traditionell als ‚Weltbürger‘ bezeichnet wurde. Die Weimarer Republik berief sich darüber hinaus weitaus weniger auf Schiller als auf Goethe, zu dessen 100. Todestag im Jahre 1932 ein großer Staatsakt veranstaltet wurde.734 Goethe stellte dementsprechend ein Identifikationsproblem für den NS-Gleichschaltungsprozess dar. Goethe und Schiller wurden somit verschiedenartig vereinnahmt, aber stets nach demselben narrativen Grundmuster, das auf einen Unterschied zwischen ›deutsch/undeutsch‹ hinaus lief (vgl. Sepp 2010: 115). Der Nationalsozialismus, seinerseits, der diese beiden Ikonen der Weimarer Klassik für sich ideologisch zu instrumentalisieren versuchte, zeichnete sich durch ein totalitäres Streben nach kultureller Hegemonie im Kampf um die Begriffe und die Deutung der Vergangenheit aus. Die Haltung des Nationalsozialismus gegenüber Goethe und Schiller war von Gleichschaltungsversuchen geprägt, in denen sie paradigmatisch als reinrassische Positivpole einer überschaubaren Welt von Gut und Böse reaktualisiert 731 Umberto Eco (1994: 197-230) legt in seiner Einführung in die Semiotik nahe, dass die Identifikation von Ikonen auf kulturellen Stereotypen, auf erlernten Erkennungscodes und kognitiven Techniken der Wahrnehmung basiere. 732 In Der Mythus des 20. Jahrhunderts fiel Alfred Rosenbergs Urteil über Goethe im Hinblick auf seine nationalsozialistische Verwertbarkeit negativ aus, weil der Schriftsteller zu Lebzeiten zu ‚kosmopolitisch‘ und zu wenig ‚nationalistisch‘ gewesen sei. Aus diesem Grund urteilt Rosenberg: „Wenn die Zeiten erbitterter Kämpfe einst vorüber sein werden, wird Goethe auch wieder nach außen bemerkbar zu wirken beginnen. In den kommenden Jahrzehnten jedoch wird er zurücktreten, weil ihm die Gewalt einer typenbildenden Idee verhaßt war und er sowohl im Leben wie im Dichten keine Diktatur eines Gedankens anerkennen wollte, ohne welche jedoch ein Volk nie ein Volk bleibt und nie einen echten Staat schaffen wird.“ (Rosenberg 1938: 515) 733 Aus Rudolf K. Goldschmit-Jentners nationalsozialistisch geeichter Arbeit über G.E. Lessing, Heldentum der Vernunft. Das Welt- und Kunstbild des Dichters (1941), geht hervor, wie mit dem Kollektivsymbol ‚Blut‘ Lessings ‚heldhaftes Ariertum‘ legitimiert wurde: „Das Pastorenblut, das in Lessings Adern floß, hat immer wieder sich gemeldet und seinen Geist in Bewegung gesetzt und Anteil nehmen lassen an den religiösen Kämpfen, die das Jahrhundert erfüllten.“ (ebd.: xxxi) Lessing wurde vor diesem Hintergrund für den NS-Gebrauch aktualisiert. Die Toleranzprinzipien, die in Werken wie Nathan der Weise zum Tragen kommen, seien lediglich Ideen einer „überwundenen Zeit“: „[D]er [=Lessing, A.S.] als Charakter immer Vorbild bleiben wird und der auch dort, wo er Erkenntnisse und Lehren einer von uns überwundenen Zeit verkündete, noch durch diese Lehren zur Auseinandersetzung mit ewigen Problemen der Kultur zwingt: in folgendem Sinne gilt dieser Band – dem lebendigen Lessing.“ (ebd.: xiv [ursprünglich gesperrt]) 734 Vor diesem Hintergrund wurde in der Frühphase des NS-Regimes die Möglichkeit genutzt, anlässlich des 175. Geburtstags Schillers einen Staatsakt in Weimar zu organisieren, der die Goethe-Feiern von zwei Jahren zuvor tilgen sollte. Ernst Bertram (1934: 215) betont in einem Vortrag anlässlich der Schiller-Festspiele die völkische Relevanz des Autor: „[Z]u Schiller, als dem Ahnenbilde, das am tröstlichsten gewährleiste die Rückkehr unsres Volkes zur alten Bestimmung, Adel der Völker zu sein.“ Veit Bürkle (1940: 8) seinerseits nennt Schiller vor diesem Hintergrund den „volkstümlichsten unserer Dichter.“

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wurden.735 Die Mythisierung bzw. Arisierung Schillers kam z.B. auf groteske Weise in Hans Fabricius’ beiden Werken Schiller als Kampfgenosse Hitlers. Nationalsozialismus in Schillers Dramen (1932) und Schiller unser Kampfgenosse (1940) zum Ausdruck, in denen Schiller als militärischer Mitkämpfer der NSDAP bzw. der Wehrmacht gefeiert wurde.736 In Julius Petersens Aufsatz „Schiller und Krieg“ aus dem Jahr 1941 heißt es auf ähnliche Weise: Heute, da deutsche Soldaten sowohl am Strand von Hellebeck wie am Ägäischen Meer und am Atlantischen Ozean Wache halten, da sie von Sizilien aus die Insel der Malteser umkreisen und alle Landschaftsgebiete der Schillerschen Dichtung überblicken, führt das Gedächtnis zu dem Dichter zurück, dessen Geist in Phantasie und Wirkungsgewalt jene Räume erflog, über denen gegenwärtig deutsche Wehrmacht [...] waltet. (Petersen 1941: 120)

Schillers Inszenierung in Kriegsräumen fand ihre Entsprechung in der Konstruktion eines nationalistisch codierten Literatur- und Kulturbegriffs. Die militärischen Bilder, mit denen Schillers Dichtung in Verbindung gebracht wird, deutet bereits auf die politischen Implikationen seiner Ikonisierung, indem das Bedürfnis nach einem historischen Koordinatensystem als Wegweiser der Gegenwart artikuliert wurde. Dabei ist es interessant zu verfolgen, dass sich die Wirkungsmacht der Ikonen ‚Goethe‘ und ‚Schiller‘ – dank ihrer interdiskursiven Repräsentativität – nicht nur auf intellektuelle Schichten wie Akademiker, Studenten, Politiker usw. bezog. Denn darüber hinaus konnten eindeutig auch Teile nichtintellektueller Schichten miteinbezogen werden: Verwaltung, Behördenapparat, Militär. Wissenschaftler aus interdiskursiv dominierten Bereichen wie Germanistik, Philosophie und Rechtswissenschaft wiesen der Ikone ‚Goethe‘ eine spezifische symbolische Funktion zu. Im Dritten Reich spielten die interdiskursiv dominierten Geisteswissenschaften, die die rassenkundliche Ausforschung der Nation bzw. des Volkes in sich integriert hatten, bei der Gleichschaltung der deutschen Erinnerungsorte eine bedeutende Rolle, indem sie Ikonen wie Goethe und Schiller aus dem kollektiven Gedächtnis kulturell einzubinden versuchten.737 Diese ‚fetischistische‘ Ausschlachtung der Nationalikone Goethe nimmt Klemperer 735 Zur Gleichschaltung der Goethe- und Schiller-Rezeption im Dritten Reich sei an erster Stelle auf die Darstellungen in Alewyn (1984 [1949]: 333ff.), Eckardt (1991: 69ff.), Fischer (2000), Hofmann (2003: 188ff.) und Ruppelt (1979) verwiesen. 736 Auch in Lily Hohensteins kulturnationalistische Arbeit Schiller. Der Kämpfer – Der Dichter (1940) wird Friedrich von Schiller im militärischen Sinne zum ‚Helden des Volkes‘ hochstilisiert: „Schillers Geist hat die Schlachten der Freiheitskriege geschlagen, hat in der Sehnsucht der Deutschen zum einigen Reich geglüht, hat aus dieser Sehnsucht das Reich erschaffen. Schillers Geist hat wahrlich die ‚höheren Kräfte im Menschen‘ erregt, hat aus Stämmen ein Volk geformt [...]; der Mensch Schiller, der Held, der Kämpfer, der Deutsche, wird ewiges Vorbild seinem Volke sein!“ (ebd.: 402) 737 Im Jahre 1935 stellt der Diarist empört fest, wie in den Schaufenstern der Läden im Dresdener Vorort Plauen als antijüdische Losungen unter anderem Scheinzitate aus Goethes literarischem Œuvre gezeigt werden, um Judenverfolgung und -boykott zu legitimieren: „[I]n den Schaufenstern der kleinen Läden in Plauen Aussprüche und Verse aus allen Zeiten, Federn und Zusammenhängen (Maria Theresia, Goethe! etc.) voller Beschimpfungen.“ (ZAI: 212 [11.8.1935])

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in einer Eintragung vom 22. Juli 1944, die vom Wiederaufbau des durch Bomben zerstörten Goethe-Hauses in Frankfurt am Main handelt, aufs Korn: In der ‚Dresdener Zeitung‘ vom 20. Juli war ein Aufruf des Frankfurter Hochstifts abgedruckt: Beiträge zum Wiederaufbau des Goethehauses, man werde den erhaltenen Grundstein einfügen, den der Knabe Goethe selber gelegt habe ... usw. Übelster Fetischismus, eine Rohheit sondergleichen in dieser Blutzeit, viel schlimmer noch als der Reliquienkult der Kirche. (ZAII: 551 [22.7.1944])

Goethe, wie der Tagebuchautor in der obigen Eintragung feststellt, wurde im Dritten Reich musealisiert und zum geistigen Vorläufer des Rassendenkens instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund kam der Stadt Weimar eine wichtige ideologiebestätigende Rolle zu: In Weimar – einem der wichtigsten kulturellen Inszenierungsorte des Dritten Reiches, einem „nationalkulturelle[n] Integrationszentrum“ (François und Schulze 2001: 224)738 – fanden regelmäßige Schriftstellertreffen, Wochen des Buches u.v.a. statt, in denen des Öfteren in nationalsozialistischem Kontext auf Goethe Bezug genommen wurde.739 So hieß es beispielsweise in Baldur von Schirachs zur Eröffnung der Weimar-Festspiele der Hitlerjugend am 14. Juni 1937 gehaltener Rede „Goethe an uns“: Jugend Adolf Hitlers! [...] Das Deutsche Reich hat dich hierhergerufen, damit auch an dieser Stätte sich dir die Größe, Weite und Tiefe Deutschlands offenbare. Du handelst im Sinne des Mannes, dem du dienst, wenn du den Inhalt alles dessen, was der Begriff Weimar und Goethe umschließt, in dich aufnimmst und in deinem treuen und tapferen Herzen einschließt, damit du immer weißt, worum es geht, wenn du für Deutschland kämpfen mußt. (von Schirach 1984 [1937]: 184)

Goethe, aus dem nach Hitler „die Stimme des Blutes“ spräche (Hitler zit. n. Heyd 1937: 72), wurde als völkischer Held für die totalitäre Idee und als paradigmatischer Vertreter der „Blutsgemeinschaft des deutschen Volkes“ (Wiehle und Harm 1942: 114) inszeniert. In dieser Weise treffen im Zeitraum des Dritten Reiches im Sprechen über Goethe religiöse und medizinische Diskurse aufeinander, wie auch aus der am 23. März 1933 im Reichstag gehaltenen Rede Hitlers hervorgeht: „Blut und Rasse werden wieder zur Quelle der künstlerischen Intuition. [...] Die Ehrfurcht vor den großen Männern [wie u.a. Goethe, A.S.] muß der deutschen Jugend wieder als ein heiliges Vermächtnis eingehämmert werden.“ (Hitler in o.N. 1934a: 28) Die dominante Stellung der Blutmetapher im Symbolsystem des Dritten Reiches ist untrennbar mit ihrem Kopplungseffekt zwischen medizinischem und religiösem Diskurs verbunden.740 Die rassenbiologi738 Bollenbeck (2001a) bezeichnet Weimar vor diesem Hintergrund als identitätsstiftenden nationalen ‚Erinnerungsort‘, der für das Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation einen wichtigen Stellenwert hat. Weimar – als Stadt und als Begriff – stellt einen symbolischen Inszenierungsort deutscher Geistesgeschichte dar. 739 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. Peter Merseburger (2000: 342-359) zur spannungsvollen Bedeutung Weimars während des Nationalsozialismus als kultureller Gedächtnisort und Konzentrationslager. 740 Die Rede vom Blut zirkulierte unter dem Nationalsozialismus durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche. Die Repräsentation des Blutes geht von einem kulturell abgegrenzten Gebiet in ein

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sche Bezugnahme auf Goethe ist in Lexik und vulgäralttestamentarischen Sprachstil religiös codiert. Ihr ist stets auch das Bild der jüdischen Artfremdheit eingeschrieben. Dieser interdiskursive Goethe-Bezug und seine Diskussion sind Teil einer ‚diskursiven Formation‘ (sensu Michel Foucault).741 Konkret heißt dies im Hinblick auf den Nationalsozialismus: In einem gegebenen Zeitraum (Drittes Reich) hat man über einen gemeinsamen Bezugspunkt (Goethe) in verschiedenster Form (Reden, Editionen, Anspielungen etc.), über eine spezifizierende Begrifflichkeit (‚Dichterführer‘, ‚Deutscher‘, ‚Reinblütiger‘) und im Rahmen bestimmter Strategien (ideologische Operationalisierung) gesprochen, geschrieben und gedacht. Die politische Funktionalisierung Goethes geschah nicht isoliert, sondern im Kontext anderer Diskurse: Wenn Goethe etwa neben Hitler als Identifikationsmodell herangezogen wird, spricht daraus nicht nur ein literarischer, sondern ebenfalls – und vorrangig – ein politischer Diskurs. Weitere bezeichnende Beispiele für diese politische Amalgamierung bzw. Instrumentalisierung Goethes finden sich in der von Adolf Bartels aus Anlass des Goethejahres 1932 verfassten Arbeit Goethe der Deutsche (1932) oder auch in Kurt Engelbrechts Faust im Braunhemd (1933) und in B. Welsers Zitatesammlung Goethe als Kämpfer (1941). Goethe wurde auf diese Weise in ideologischer Hinsicht instrumentalisiert, auch in der Germanistik: „Goethe-Philologen wurden zu ‚Arisierungs‘-Spezialisten.“ (Jasper 2004: 118) Die nationalsozialistische Vereinnahmung Goethes wie die regimebestätigende Reaktualisierung seines Faust lassen darauf schließen (vgl. z.B. Engelbrecht 1933: 3), dass die GoetheAneignung einer implizit oder explizit antisemitischen Lektüre unterzogen wuranderes über, aus dem der Medizin bzw. Eugenik in das der Literatur bzw. Literaturwissenschaft. Texte und kulturelle Praktiken bewegen sich in Austauschprozessen kontinuierlich zwischen verschiedenen diskursiven Praktiken hin und her, und werden jeweils neu kontextualisiert, mit neuem Sinnpotential versehen (vgl. Blumentrath 2004: 11). In Mein Kampf finden sich durchgängig Kontaktstellen zwischen antisemitischem und religiösem Diskurs, wie beispielsweise im nachfolgenden Zitat ersichtlich wird: „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ (Hitler 1940: 70) Ferner heißt es beispielsweise: „Nein, es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen, daß das Blut rein erhalten bleibt.“ (ebd.: 444; vgl. ebd.: 324) Aus dem Hauptwerk des NS-Chefphilosophen Alfred Rosenberg geht auf vergleichbare Weise hervor, dass das Rassenbewusstsein in allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens eine quasieschatologische Stellung einnahm (vgl. Rosenberg 1938: 23). Der religiöse Diskurs wird im Nationalsozialismus konsequent mit rassenbiologischen Elementen verschränkt, so diagnostiziert Victor Klemperer in seinen LTI-Beobachtungen: Die NS-Ideologie versuche ständig, „das ‚Rassische‘ mit dem Religiösen in Connex zu bringen.“ (A 138: 728 [11.11.1942]) Das Religiöse werde daraufhin verstaatlicht und politisiert (vgl. ebd.: 777 [14.1.1943]; ZAII: 712 [1.4.1945]). 741 Diskursive Formationen – vgl. Foucault (1981: 48-60) – stellen institutionalisierte und legitimierende Formen des Sprechens über bestimmte Gegenstandsbereiche dar. Sie behandeln Themen, die historisch gewachsen und bereits intern strukturiert sind. Diese werden in einem bestimmten ideologischen Kontext reinterpretiert bzw. legitimiert. Der Diskurs über Goethe wird vor diesem Hintergrund in Bezug zu anderen Diskursen – wie Philosophie, Geographie, Medizin, Biologie, Religion – gesetzt und so zu einer ideologisch anerkannten Sichtweise verdichtet. Zum Verständnis des Goethe-Kultes im 19. und 20. Jahrhundert als diskursiver Formation vgl. Bluhm (2002: 178f.).

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de.742 Im Biologie-Schulbuch Lebenskunde für Mittelschulen VI aus dem Jahre 1942 wurde Goethe in diesem Zusammenhang artgemäß interpretiert, und der romantische Geniebegriff wurde ins Rassische gewendet, wie dies auch im nachfolgenden Zitat deutlich zum Tragen kommt: In der rassischen Zusammensetzung unseres Volkes liegen unendliche Möglichkeiten einer glücklichen Anlagenmischung: Deutschland wird nie arm an großen Männern sein. In Goethes Ahnentafel können wir verfolgen, wie wertvolles Erbgut zusammenströmt und wie die glückliche Vereinigung der Anlagen unserm Volk und der Welt einen Genius beschert hat. (Wiehle und Harm 1942: 114)743

Die obige Textpassage ist ein Beispiel für die Funktionsweise des Rassenbiologismus in der Goethe-Darstellung. Diesem biologistischen Interpretationsmuster widersetzten sich nachdrücklich deutsche Exilanten und (assimilierte) deutsche Juden, denn für sie war der Humanitätsbegriff von entscheidender Bedeutung, nicht Goethes ‚Reinblütigkeit‘: „Wir können und wir wollen nicht aufhören, so gut wie in den großen Traditionen des Judentums den Urgrund unseres Wesens und Handelns zu erblicken in dem Werk von [...] Goethe.“ (Bab 1933a: 187)744 Nicht nur im Exil oder in der jüdischen Presse aus der Frühzeit der NSHerrschaft fanden sich Überlegungen über das ermutigende Potential des Schriftstellers, sogar aus einigen KZ-Tagebüchern spricht die tröstende Wirkung Goethes als zivilisatorischer Orientierungspunkt. Im Dachauer Tagebuch Goethe in Dachau berichtet der jüdische Niederländer Nico Rost zum Beispiel, wie Goethe

742 In Antisemitismus als kultureller Code (2000) legt Shulamit Volkov nahe, dass der antisemitische Diskurs eine durchaus vertraute Ansammlung von Auffassungen und Einstellungen war, deren spezifischer Umcodierung durch den Nationalsozialismus man sich im Dritten Reich nicht ohne Weiteres bewusst war. Vgl. vor allem das erste Kapitel „Antisemitismus als kultureller Code“ (ebd.: 9-36). 743 Im politischen NS-Diskurs ist im Zusammenhang mit Goethe durchaus regelmäßig ein Rekurs auf organizistische Metaphern, die disziplinmäßig auf der Rassenhygiene gründen, festzustellen. In Kochs Werk Goethe und die Juden heißt es diesbezüglich: „Die Judenfrage als ganze ist für Goethe durchaus eine organische, eine solche der Abstammung, also biologischen Erbes gewesen. Seine Ablehnung der Judenemanzipation wurzelt in der Überzeugung, daß die Juden innerhalb des deutschen Volkes einen Fremdkörper bilden, der das Wirtsvolk in seiner Lebensform zu bedrohen beginnt.“ (Koch 1937: 33f.) Durch die Form, die ihn sagbar macht und ideologisch legitimiert, vollzieht sich der Effekt der symbolischen Gewalt. Ausgehend von einer manichäischen Fundamentalopposition zwischen ›Wir/Nicht-Wir‹, ›deutsch/undeutsch‹, ›gesund/krank‹ entsteht ein Netz von Gegensätzen (›national/international‹, ›arisch/semitisch‹, ›Organizismus/Liberalismus‹, ›Individualismus/Ganzheit‹, ›Kultur/Barbarei‹), „das sich durch eine verborgene mythische und eine erklärte wissenschaftliche Kohärenz auszeichnet.“ (Ziege 2002: 89) Dieser Segregationswille des Juden bzw. Jüdischen wird prophetisch während der Bücherverbrennung – die Goebbels als „Durchführung der Reinigungsaktion auf dem Kulturgebiet“ bezeichnet (Goebbels zit. n. Heyd 1937: 106) – emphatisch zur Schau gestellt. Das Signifikat der „Artfremdheit“ – die auch in der „entarteten“ Kunst und Literatur zum Ausdruck käme – trennt zwischen dem Wir und dem Nicht-Wir. 744 Zur moralischen Bedeutung Goethes für die deutsch-jüdische Bevölkerung vgl. Bahr (2001) und Kwiet (1988: 652). Die Orientierung an Goethe seitens deutscher ins Exil Getriebener wurde beispielhaft von Eckert und Berthold (1999) herausgearbeitet.

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als Trostfigur im Konzentrationslager für sein geistiges Überleben eine besonders wichtige Rolle zukam: ‚Die alte Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir!‘ [...] Erst jetzt und hier in Dachau, im Revier [...] fange ich an, die tiefe Bedeutung dieses Wortes zu begreifen. Solange es noch ist, wie Goethe sagt, ist nichts verloren; solange habe ich noch einen Halt, stehe ich mit beiden Füßen fest in der Erde und kann mit Vertrauen der Zukunft entgegensehen. Solange ist kein Grund zum Verzweifeln... Goethe hat wieder einmal recht, und ich bin ihm dankbar dafür. (Rost 2001: 11 [10.6.1944])

Goethe wird für Rost zum Gewährsmann einer humanen Welt außerhalb des Konzentrationslagers, die es wieder herzustellen gilt. Die kulturelle Verfremdung der jüdischen Bevölkerung ist für Klemperer und manche anderen Assimilierten die paradoxe Voraussetzung für das erhöhte Gefühl kultureller Zugehörigkeit.745 Die Größen aus der nationalen Geistesgeschichte werden daher mit universellen humanistischen Werten assoziiert und stünden nach Klemperer auf seiner Seite, auf der ‚wahrhaftig‘ deutschen Seite.746 Als Fräulein von Rüdiger, Assistentin am Germanistischen Seminar der TH Dresden, im Juni 1934 beteuerte, dass Deutschland mit Adolf Hitler ‚heimgekehrt‘ sei, reagierte Klemperer aus diesem Grund folgendermaßen: „Ich fragte sie, [...] was zu diesem ‚Nach Hause‘ Kant, Lessing, Goethe, Schiller wohl gesagt hätten.“ (ZAI: 113 [13.6.1934]; vgl. LTI: 137) Klemperer empörte sich vor diesem Hintergrund über die schamlose Instrumentalisierung der deutschen Geistesgeschichte, die die Grundlage seines Deutschtums darstellte. Nach der Lektüre eines Jubiläumsartikels zu Herders zweihundertstem Geburtstag in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 25. August 1944 notiert der Diarist sichtbar empört im Tagebuch: „Schlußsatz: ‚Für das deutsche Volk ist die Volksidee Herders durch den Nationalsozialismus politische Wirklichkeit geworden.‘ [...] So kann man aus Schiller, selbst aus Lessing Nationalsocialisten machen.“ (A 138: 1159 [27.8.1944]; vgl. ebd.: 1029 [23.2.1944]; ZAII: 570 [27.8.1944])747 Entgegen der Gleichschaltung der deutschen Literatur schreibt Klemperer in defensiver Hinsicht über Friedrich Schiller, dieser sei 745 Im Gegensatz zu Rost fragt Imre Kertész auf kritische Weise, ob das Festhalten am intellektuellen und ästhetischen Erbe der klassischen deutschen Kultur eine Überlebensstrategie für die Verfolgten dargestellt habe: „Haben Geisteshaltung und intellektuelle Grunddispositionen einem Lagerhäftling in den entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihnen das Überleben erleichtert?“ (Kertész 1994: 562f.) Seine Antwort auf diese Frage lautet negativ. 746 In Fred Uhlmans autobiographischer Novelle Der wiedergefundene Freund sagt Hans Schwarz’ Vater einem Zionisten gegenüber: „Ich kenne mein Deutschland. Das ist ein Krankheitsanfall, etwas wie die Masern. Sobald sich die Wirtschaftslage bessert, ist er vorbei. Glauben Sie wirklich, daß die Landsleute von Goethe und Schiller, Kant und Beethoven auf so einen Quatsch hereinfallen? [...] Ja, ich bin assimiliert. Was ist daran falsch? Ich will mit Deutschland identifiziert werden.“ (Uhlman 1997: 60f.) 747 In derselben Notiz über Herder heißt es: „Gerade bei Herder freilich ist es leicht ihn rein nationalsocialistisch ‚aufzuziehen‘. Der Antiaufklärer, der Romantiker, der teutsche Romantiker.“ (A 138: 1159 [27.8.1944]) Vor diesem Hintergrund kommentiert Klemperer beispielsweise kritisch einen Artikel im Sonntagsblatt der Dresdener Zeitung, in dem ein NS-Dichter und

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ganz undeutsch. Er ist als reiner Humanist u. Rationalist durchaus in der Antike zuhause. Mit alledem der gegebene Dichter für unsere Gymnasien u. unsere Oberlehrer, u. so uns Jungen verekelt. Patriot ist er nicht, sondern ganz u. gar Kosmopolit, Menschheitsdichter. (A 138: 1222 [17.10.1944])

Letztendlich führte die vom Nationalsozialismus postulierte bzw. dekretierte völlige Fremdheit der Juden gegenüber der deutschen Kultur Ende 1942 dazu, dass es den Juden im Dresdener „Judenhaus“ untersagt wurde, noch weiter literarische Werke aus der Feder von ‚arischen‘ Schriftstellern in ihrem Besitz zu haben, denn das deutsche Volk trage ja „die Verantwortung dafür, daß seine Sprache und sein Schrifttum reiner und unverfälschter Ausdruck seines Volkstums sind“ (o.N. 1980 [1933]: 168): „Gestern nun zeigte mir Frau Hirschel die immerhin stattlichen Reste ihrer Bibliothek. Sie hat behalten dürfen, was von jüdischen Autoren stammt, auch Werke, die von Juden herausgegeben sind. So konnte sie einen ‚jüdischen‘ Gesamt-Goethe retten, während ihr Schiller und Kleist daran glauben mußten.“ (ZAII: 294 [21.12.1942]) Der Segregationswille des Juden bzw. Jüdischen – auch im Literarischen – wird hier exemplarisch zur Schau gestellt. Das Signifikat der Artfremdheit trennt zwischen dem Wir und dem Nicht-Wir: Deutsche Literatur war ab jetzt nur noch für ‚Arier‘ erlaubt.748 Im Gegensatz dazu hebt der Tagebuchschreiber über weite Strecken hervor (vgl. z.B. ebd.: 322 [28.1. 1943]), dass die geistige Bindung zum Vaterland es ermöglichen sollte, religiöse und nationale Unterschiede durch die intellektuelle und kulturelle Entwicklung des Individuums einzuebnen.749 Die jüdische Bildungseinstellung wie ihr Fokus auf dem Geistigen waren aufs engste mit der ersehnten Emanzipation bzw. Akkulturation verbunden. Die Kombination von Erfolg, Prestige und patriotischer Zugehörigkeit zum ‚Deutschtum‘ galt in Klemperers familiärem Umfeld als einziger Weg zur vollständigen Integration in die deutsche Nation. Getrieben durch das Verlangen nach Akzeptanz als vollwertige Staatsbürger wie durch die Unsicherheit, je akzeptiert zu werden, wollte das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum die deutsche Nation stets -Philosoph glorifiziert wurde, der „das eigentliche Wesen, das deutsche, das antichristliche, antihumanistische, antiromanische Goethes und Schillers entdeckt hat.“ (ZAII: 542 [10.7.1944]) 748 In der Karlsbader Exilzeitung Neuer Vorwärts verurteilt Robert Groetzsch (1935: 2) die schmähliche manipulierende Zitierpraxis der Nationalsozialisten, die Goethe zum Antisemiten herunterstilisieren: „Dieser Goethe war eben ein ‚Judengenosse‘, denn er schätzte die alten jüdischen Bücher, sein Faustvorspiel im Himmel lehnt sich ans Buch Hiob an, er verehrte Spinoza und verkehrte mit [...] jüdischen Geistigen. Bekannt ist seine Freundschaft mit MendelssohnBartholdy.“ 749 Das ‚wahrhafte‘ Deutschtum, so lautet auch die defensive Grundhaltung vieler Exilanten, wird nicht vom Nationalsozialismus, sondern von den deutschen Kulturgrößen vertreten. Goethe wird vor diesem Hintergrund als Schutzpatron und Befürworter des humanistischen Deutschland eingesetzt. In Heinrich Manns Aufsatz aus dem Jahre 1938 mit dem Titel „Über Goethe“ (Mann 1971: 168-170) heißt es vor diesem Hintergrund: „Wir glauben mit Goethe an die Zukunft Deutschlands, da es ohne schlimpfliche List und ohne billige Gewalttaten wahrhaft stark und weniger gefürchtet als geachtet sein wird. Zu uns spricht Goethe: ‚Ich halte ihn so fest als Sie, diesen Glauben. Ja, das deutsche Volk verspricht eine Zukunft und hat eine Zukunft.“ (ebd.: 170)

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der Aufrichtigkeit ihrer deutschen Identität versichern: „Das eigentlich entscheidende Merkmal und buchstäblich die faculté maîtresse des modernen Juden ist seine Unsicherheit – die Gegner und die Poetisierenden sagen Ahasver. Die Unsicherheit treibt ihn in die [...] Überbetonung des Deutschtums.“ (ebd.: 321 [28.1. 1943]) 3.3.3.2 Habitus und diskursive Position: 3.3.3.2 jüdische Emanzipation und (deutsche) Literatur Für die weitere Entwicklungslinie dieses Kapitels mag es vorteilhaft sein, kurz auf Klemperers Selbstverständnis als jüdisch-deutscher Intellektueller einzugehen, das seine Interpretation der deutschen Literatur determiniert. In Die feinen Unterschiede (1982) weist Pierre Bourdieu darauf hin, dass für den (literarischen) Geschmack des Bildungsbürgertums der Sinn für ‚Distinktion‘ und ‚Verfeinerung‘ kennzeichnend seien (vgl. ebd.: 405ff.).750 Der klassenspezifische Habitus des Hochschullehrers Victor Klemperer erzeugt ein distinktives soziales Verhaltensmuster, das einen spezifischen symbolischen Lebensstil strukturiert. Klemperer setzt sich vor diesem Hintergrund von ‚Volk‘, ‚Masse‘, ‚Durchschnitt‘ und ‚Mittelklasse‘ ab, die er als die soziologischen Ecksteine des Hitlerismus betrachtete.751 Die Gefolgschaft Hitlers bilden nach Klemperers Meinung „Millionen naiverer Menschen“ (ZAI: 69 [14.11.1933]), die durch „Durchschnitt und nicht Persönlichkeit“ (ZAII: 320 [28.1.1943]) gekennzeichnet seien. Klemperers bildungsbürgerliches Selbstverständnis steht in schroffem Gegensatz zum ‚unkritischen Normalbürger‘: „Ich urteile wie ein Intellektueller, und Herr Goebbels rechnet mit einer betrunkenen Masse. Und außerdem mit der Angst der Gebildeten.“ (LTI: 53) In intellektueller und kultureller Hinsicht wurden im Nationalsozialismus, so der Tagebuchschreiber, künstlerische Freiheit und menschlicher Individualismus gänzlich aufgehoben: Es gibt die allgemeinen Phasen Naturalismus, Neuromantik, Neuklassik und innerhalb ihrer vollkommen freie individuelle Sprachstile. Jeder schafft aus sich heraus oder lehnt sich nach seinem Belieben an ein literarisches Vorbild: an Goethe, an George, an Hofmannsthal, an Rilke usw. – Im Nationalsozialismus dagegen herrscht die uniformierte Armut der Sklaverei. Mit den Schlagwörtern und ‚Ausrichtungen‘ Hitlers und Goebbels’ arbeiten alle. Wer eine andere Sprache reden

750 Der Begriff ‚Habitus‘, wie ihn Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1982) versteht, kann als habituelles Dispositionssystem des sozialen Akteurs bezeichnet werden. Der Habitus gestaltet sich im Zuge der Verinnerlichung der äußeren gesellschaftlichen, klassenspezifischen Bedingungen des sozialen Daseins (vgl. ebd.: 278f.). Victor Klemperers Handeln zeigt vor diesem Hintergrund die Abhängigkeit von den ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums auf. 751 Über die Wertungsperspektive des assimilierten deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums schließt sich die Interdiskursanalyse direkt an die Kultur- und Literatursoziologie an (vgl. Link und Link-Heer 1990: 97). Zum Zusammenhang zwischen Habitus und Diskurs in der Herstellung gesellschaftlicher Normalität siehe auch Bublitz (2003: 151ff.).

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will, wird mindestens mundtot gemacht. Derselbe Jargon auf allen Gebieten. (ZAII: 482 [6.2.1944])

Der liberale Universalismus, über den sich Klemperer als freidenkendes Individuum definiert, wurde in der NS-Ideologie als krank bzw. jüdisch abqualifiziert. Joseph Goebbels schreibt in seinem in Tagebuchform verfassten Roman Michael: „Wir sind alle krank! Nur der Kampf gegen die Fäulnis kann uns noch einmal retten. [...] Der Intellekt hat unser Volk vergiftet.“ (Goebbels 1934: 50) Kritische Intelligenz musste schließlich Gefühl, Instinkt und Heroismus das Feld räumen. Dementsprechend heißt es in Hitlers Mein Kampf: „[E]in zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, [ist] für die Volksgemeinschaft wertvoller [...] als ein geistreicher Schwächling.“ (Hitler 1940: 452) Die völkische Ideologie der NSDAP und das regellose Auftreten der SA passen nicht zu Klemperers Bild von Deutschland als Kulturnation: „Für meinen Teil wird mir immer klarer, wie völlig ich ein nutzloses Geschöpf der Überkultur bin, lebensunfähig in primitiveren Umgebungen.“ (ZAI: 100 [25.3.1934]) Die deutschen Juden suchten im Lauf der Zeit dort Zuflucht vor dem antisemitischen Vorurteil und vor den „primitiveren Umgebungen,“ wo sie sich am sichersten fühlten: Auf der intellektuellen Ebene der universalen Menschheitsrechte bzw. -ideale, denen sie ihre Emanzipation verdankten. Hierher stammt auch der omnipräsente Goethe- und Schillerkult wie auch Klemperers Lessing-Verehrung (vgl. Wohlfarth 2000: 140; Maurer 2003: 429). Die Bedeutung des mythischen Dioskurenpaares ›Goethe/Schiller‹ kann für die damals von den deutschen Juden erwünschte kulturelle Assimilation kaum unterschätzt werden.752 Goethe stellte den idealtypischen Repräsentanten der Humanität bzw. des humanen Kerns im Deutschtum dar. Dies allein deutet schon auf einen politischen Hintergrund hin: Kenntnis von Goethe und Schiller wurde für deutsche Juden zu einem Klassenmerkmal, das als Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft galt. Motive aus der Frühzeit der Goethe-Verehrung, über fast anderthalb Jahrhunderte immer neuen Wandlungen ausgesetzt, kehren während des Dritten Reiches als Momente des Nicht-wahrhaben-Wollens zugespitzt wieder. An Goethe (wie auch – obwohl weniger prominent – an Schiller und Lessing) festzuhalten, konnte zwar auch den Antisemitismus nicht verwehren. Zur Eröffnung der neuen Volksschulklassen der Jüdischen Gemeinde in der Berliner Fasanenstraße betont Hermann Falkenberg im November 1933 die wichtige Rolle, die die deutsche Literatur mit vor allem Goethe, Lessing und Schiller im Stundenplan der jüdischen Schüler zu spielen hätte: Die Jüdische Schule in Deutschland wird eine deutsche Schule sein. [...] Was an Bildungsgütern die deutsche Dichtung und Kunst aufweist, soll nicht bloß gelehrt, sondern der Jugend weiter zum Seelenbesitz werden, wie es einst uns geworden ist. Das gesamte Leben Deutschlands, die deutsche Vergangenheit und die deutsche 752 Für eine Erläuterung der Bedeutung der deutschen Literatur – und insbesondere von Goethe als idealtypischem Bildungsbürger – für die deutschen Juden vgl. Mosse (1985: 42ff.).

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Zukunft wird in den Lehrplan hineingestellt werden. [...] Lessing, Schiller, Goethe [...] sollen weiter [...] ihr Leben begleiten. (Falkenberg 1933: 350)753

Das Festhalten an der emanzipatorischen Kraft deutscher Geistesgrößen stellte sich als vergeblicher Versuch des Ringens um Anerkennung als vollwertige Staatsbürger aus. Gershom Scholem zufolge, der rückblickend die tatsächliche Existenz der deutsch-jüdischen Symbiose fundamental in Frage stellt, war diese kulturelle Bezugnahme auf klassische deutsche Kulturgrößen ein Zeichen verirrten Engagements des heißersehnten Wunschbildes der Integration: In seinem Aufsatz „Juden und Deutsche“ rückt Scholem die vermeintliche Selbsttäuschung deutscher Juden ins Licht. Das Bildungsstreben und die Orientierung an den Leitbildern der deutschen Literaturgeschichte seien ihm zufolge lediglich eine selbsttrügerische Verirrung der deutschen Juden gewesen: „Die Begegnung mit Friedrich Schiller war für viele Juden realer als mit den empirischen Deutschen. Hier fanden sie, was sie am glühendsten suchten. [...] Schiller war der sichtbarste, eindruckvollste und tönendste Anlaß zu den idealistischen Selbsttäuschungen, zu denen die Beziehung der Juden zu den Deutschen geführt hat.“ (Scholem 1970: 30) Für Victor Klemperer bedeutete die Identifikation mit der deutschen Geistesgeschichte jedoch das Fundament seines nationalen Selbstverständnisses, das er sich von den Nationalsozialisten nicht nehmen lassen wollte. Der Romanist lenkte somit immer wieder affirmativ den Blick auf „den humanistischen Höhepunkt Goethe-Kant.“ (A 138: 1099 [16.6.1944]) 3.3.3.3 Mythische Konstellationen und Dioskuren: 3.3.3.3 Goethe als prototypischer Deutscher Der Querschnitt durch den Gesamtbereich der Redeweisen über das Thema ‚Goethe‘ bekräftigt in sinnfälliger Weise den Eindruck einer besonderen Relevanz der literarischen Identifikationsfigur zu bekräftigen.754 Eines verband fast alle Äußerungen: die grundsätzliche kanonische Anerkennung der Figur Goethe und dessen Werk, die – zwar aus radikal unterschiedlichen Gründen – sowohl von nationalsozialistischer als deutsch-jüdischer und exildeutscher Seite als gemeinsamer Wert und Besitz gesehen wurden. Das Bekenntnis zu Goethe drückte die Einigkeit aus, auf der ‚richtigen‘ Seite zu stehen, auf der musterhaften Seite der

753 Die Vermittlung deutscher Kultur und Literatur war ein zentrales Anliegen der jüdischen Schulen in Deutschland bis ins Jahr 1938 hinein. Goethe kam in diesem Zusammenhang der Symbolwert des Humanen in der Deutschheit zu: In der Schule der Berliner orthodoxen Austrittsgemeinde erhielt beispielsweise jeder Abiturient ein für ihn ausgewähltes Goethe-Zitat ins Zeugnis (vgl. hierzu Maurer 2003: 373). 754 In diesem Kapitel ist nicht versucht, auf die Vielfalt der Fragen, die die Bedeutung der Weimarer Klassik (Goethe und Schiller) für Klemperer und die NS-Ideologie exhaustiv einzugehen. Stattdessen sei ansatzweise versucht, anhand einer Interdiskursanalyse der Redeweisen über Goethe die Problematik einer deutschen bzw. deutsch-jüdischen Identität, die sich auf historische Vorbilder beruft, kenntlich zu machen.

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Deutschheit.755 Anknüpfend an Lévi-Strauss’ Mythenanalyse soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welchen Stellenwert Goethe in der politischen bzw. ideologischen Instrumentalisierung der Weimarer Klassik während des Dritten Reiches hatte. Als Integrator der positiv gewerteten Aspekte nimmt Goethe innerhalb des synchronen Systems mythischer Figuren die spezifisch deutsche Position ein und gilt als Inbegriff des geistigen Deutschen schlechthin.756 Die Kopplung der Ikone Goethe mit einem unterstellten deutschen Wesen wird vor allem durch das für die hermeneutischen Geisteswissenschaften typische Verfahren ermöglicht, ihre Objekte als spezifischer Ausdruck eines allgemeinen, abstrakten Geistes zu sehen. Vor diesem Hintergrund zitiert Klemperer einen Auszug aus Goebbels’ Leitartikel im Reich vom 20. August 1944, in dem die ‚düsteren‘ Aussichten für die deutschen Kinder geschildert werden, falls die Alliierten siegen würden. Der Diarist unterzieht Goebbels’ propagandistische Negation von Weltbürgertum, intellektueller Toleranz und Humanismus einer scharfen Kritik: ‚Statt der deutschen Schule für unsere Kinder fremde Institute, in denen sie ‚umerzogen‘ werden sollen und ableugnen müßten, was ihre Eltern gedacht und getan haben, wo in der Geschichtsstunde Männer wie Prien, Mölders, Dietl als Verbrecher verurteilt würden, während man Dürer, Leibniz, Beethoven und Goethe zu Weltbürgern erklären würde ...‘ (‚Weltbürger‘ diffamiert! [...]) (ZAII: 577f. [20.8. 1944])

Ein typisches Verfahren in der NS-Propaganda ist die politische begründete Beliebigkeit der Auswahl von Goethe-Zitaten, die ihrer literarischen Qualität vollkommen entledigt werden, indem sie als regimebestätigende Sinnsprüche und Parolen eingesetzt werden. Victor Klemperer widersetzt sich dem entkontextualisierenden Heranziehen isolierter Goethe-Zitate in NS-Medien zur Rechtfertigung des Krieges und des völkischen Gedankengutes:757 755 Anna Siemsen (1939: 13) bringt in einer Exilzeitung die für nicht-nationalsozialistisch gesinnte Bevölkerungsschichten tröstende Wirkung der Goethe-Lektüre zum Ausdruck: „Ein aus durchaus bürgerlich-intellektueller Familie stammender, sehr intelligenter, aber gleichzeitig sehr kindlicher Vierzehnjähriger schreibt aus Anlass eines der grossen Naziwahlmanöver: ‚Es ist hier unerträglich. Ich flüchte mich vor dem Klamauk in die Stille und tröste mich mit Goethe‘.“ 756 Goethe wird zum Beispiel vom Kunsthistoriker Karl Woermann als nachzustrebendes Idealbild der Deutschen bzw. als Essenz des Deutschen hochstilisiert. Zur Veranschaulichung der nationalen Prototypik Goethes zitiert Günther Heyd in seiner nationalsozialistisch geprägten Zitatesammlung die folgende Stelle: „Jede Zeile, die er [=Goethe, A.S.] schreibt, konnte nur ein Deutscher geschrieben haben. – Erst wenn die Goethesche Anschauungs- und Ausdrucksweise nicht nur die Sprache, sondern das ganze Wesen des deutschen Volkes ergriffen und durchdrungen haben wird, wird es sich aus sich selbst heraus, ohne jemals seine Eigenart zu verleugnen, zu dem gesittesten Volke der Erde emporgearbeitet haben. Deutsch wird dann Goethisch heißen.“ (Woermann zit. n. Heyd 1937: 62) 757 Vor diesem Hintergrund unterzieht Arnold Schwarz (1934: 8) in der Czernowitzer Zeitung Der Tag den nationalsozialistischen Missbrauch von Goethe-Zitaten, die er als „Affen-Darstellung“ bezeichnet, einer scharfen Kritik. Die Goethe-Rezeption der Nationalsozialisten sei durch Fragmentierung, durch den Gebrauch einzelner Sentenzen und Schein-Zitate gekennzeichnet. Die ideologische Instrumentalisierung der klassischen Goethe-Werke durch die Nationalsoziali-

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Die Zeitungen bringen ausser dem commentierten ‚Wochenspruch der NSDAP‘ häufig intercalierte Sentenzen berühmter Leute mit Bezug auf die jeweilige Lage. Am 14/9. in der Dresd. Ztg: ‚Niemals darf ein Mensch, ein Volk wähnen, das Ende sei gekommen. Güterverlust läßt sich ersetzen, über anderen Verlust tröstet die Zeit. Nur ein Übel ist unheilbar: wenn ein Volk sich selbst aufgibt.‘ Johann Wolfgang von Goethe. Hierzu: a) Das klingt nicht nach ‚Endsieg‘! b) Wo steht das bei Goethe? Nachforschen! c) Ich glaube nicht, daß es so bei ihm steht u. gemeint ist. Was interessiert diesen Individualisten die Einheit Volk? (A 138: 1186f. [16.9.1944])758

Die nationalsozialistische Vereinnahmung der Weimarer Klassik wurde von Seiten der deutschen Exilanten – wie auch von vielen deutsch-jüdischen Assimilierten wie Klemperer – scharf gerügt: Goethe wurde von ihnen zum humanistischen Widerstandssymbol gegen die menschenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus hochstilisiert. Im Hinblick auf Thomas Manns 1934 in Deutschland erschienenen Essayband Leiden und Größe der Meister schreibt Georg Lukács vor diesem Hintergrund in seinem Aufsatz „Thomas Mann über das literarische Erbe“ (1936) beispielsweise: „Sind doch insbesondere Goethe und Wagner Gestalten, die im nationalsozialistischen Mythos der deutschen Literatur eine zentrale Rolle spielen. Eine nicht-faschistische, eine antifaschistische Analyse solcher Figuren, das Aufdecken ihres wahren Charakters und ihrer wahren Bedeutung, die weit über das bloß Literarische hinausgeht,“ sei, so Lukács 1957 [1936]: 129), als Akt des geistigen Widerstandes eine moralische Pflicht in ‚finsteren Zeiten‘. Die Beschäftigung mit Goethe während der NS-Zeit hatte dementsprechend hervorstechende symbolträchtige, politische Implikationen. Im Hinblick auf die jüdische Goethe-Verehrung hebt Barner (1992: 46) hervor, die jüdische Bevölkerung kennzeichnete sich im Dritten Reich noch immer durch die Überzeugung von Goethe als dem Repräsentanten der Humanität, vor allem aber [durch] das Insistieren auf Goethe als einem Garanten für den humanen Kern des Deutschtums. [...] Motive aus der Frühzeit der Goethe-Verehrung, über fast anderthalb Jahrhunderte immer neuen Wandlungen ausgesetzt, kehren im Stadium der höchsten Gefährdung zugespitzt wieder, und sei es als Momente des Nichtwahrhaben-Wollens. Sich für Goethe zu engagieren, konnte auch eine diskriminierende, feindselige Umwelt nicht verwehren.

sten wird auch in verschiedenen Zeitungsartikeln der Exilpresse aufs Korn genommen, wie beispielsweise in „War Goethe ein Nazi?“ (H. 1941: 3) und „Schiller und Goethe – die ersten Nationalsozialisten“ (o.N. 1934b: 2). 758 Das betreffende Goethe-Zitat aus der gleichgeschalteten Dresdener Zeitung entstammt Goethes Übersetzung von Johannes von Müllers auf Französisch veröffentlichter „Vorlesung ‚Friedrichs Ruhm‘“ (1807). Auf vielbezeichnende Weise wurde der letzte Satz im Zitat ideologisch angepasst: „der Mensch“ wurde dem nationalistischen Gedankengut entsprechend durch „ein Volk“ ersetzt. Die vollständige Passage in Goethes Übersetzung lautet wie folgt: „Niemals darf ein Mensch, niemals ein Volk wähnen, das Ende sei gekommen. Wenn wir das Andenken großer Männer feiern, so geschieht es, um uns mit großen Gedanken vertraut zu machen, zu verbannen, was zerknirscht, was den Aufflug lähmen kann. Güterverlust läßt sich ersetzen, über andern Verlust tröstet die Zeit; nur ein Übel ist unheilbar, wenn der Mensch sich selbst aufgibt.“ (Goethe 1987: 577-578)

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Im Folgenden gilt das Interesse der nationalsozialistischen Eugenik als Interdiskurs, der – in unterschiedlichem Maße – alle in der NS-Gesellschaft zirkulierenden Diskurse determinierte. Der Blick wird vor diesem Hintergrund auf den Bezug von literarischem und eugenischem Diskurs gelenkt. 3.3.3.4 Eugenik als Interdiskurs: Goethe, Deutschtum und Krankheitsmetaphorik Durch die Analyse von Klemperers Tagebuchtexten als materiellen Objektivationen zeitgenössischer Kultur lassen sich Rückschlüsse auf ihr zugrunde liegende Mentalitäten ziehen. Die Tagebucheinträge zum Themenkomplex ‚Weimarer Klassik‘ stellen ein Archiv dar, in dem Spuren von (hauptsächlich rassenhygienischen) im Dritten Reich zirkulierenden Diskursen aufbewahrt sind.759 Für die Rekonstruktion dieser Spuren, die die verschiedensten Wissensbestände hinterlassen haben, muss der Blick in der Analyse nicht nur auf die Wiedergabe in Klemperers Tagebüchern, sondern besonders auf verschiedenartige Resonanztexte aus dem Zeitraum des Dritten Reiches gelenkt werden. Wenn Spezialdiskurse kulturelle Akzeptanz gewinnen wollen, müssen sie innerhalb eines interdiskursiven Rahmens funktionieren, wie Jürgen Link (1988: 290) betont. Deshalb war die Rassenhygiene ein Autoritätsdiskurs zwischen Experten und Laien, der auch eindeutig in den interdiskursiv dominierten literaturgeschichtlichen Diskurs über den Themenbereich der kanonisierten deutschen Literatur mit Goethe und Schiller einging. Georg Bollenbeck (2001b) spricht vor diesem Hintergrund vom „semantischen Umbau der Geisteswissenschaften“ nach 1933.760 Ohne dass eine eigentliche nationalsozialistische Philosophie oder Literaturtheorie aufgestellt wurde, einigte man sich stillschweigend auf ein gemeinsames Vokabular, in dem ‚Blut‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Volk‘ zentral standen. Geisteswissenschaftliche Fachdiskurse artikulierten und befestigten auf diese Weise einen kulturnationalistischen Konsens, dessen Vorstellungen von der Überlegenheit des deutschen Geistes und seiner Manifestationen wie dessen Ressentiments gegen die kulturelle Moderne ausgingen. Mit aus unterschiedlichen Wissensbereichen wie Anthropologie, Genetik, Zoologie, Jurisprudenz etc. kommenden Experten bis hin zu Laien deckte die Eugenik ein breites Spektrum ab. Darin lag auch das besondere Potential, denn im Austausch zwischen Interdiskurs und Spezialdiskursen war er nicht nur einer sozialen Schicht von Experten (Germanisten, Philosophen) mit dem erforderlichen ‚kulturellen Kapital‘ vorbehalten, sondern gab breiteren Gruppen die Mög759 Klemperer untersuchte im Hinblick auf die nationalsozialistische Rassenlehre, gegen die er sich als assimilierter bzw. konvertierter deutscher Jude heftigst wehrte, die wissenschaftliche Grundlage des Antisemitismus. Vgl. hierzu beispielsweise LTI: 224f. 760 Der ‚semantische Umbau‘ der Geisteswissenschaften im Dritten Reich besteht Bollenbeck (2001b: 16f.) zufolge in der Übernahme der Basissemantik des Nationalsozialismus. Die veränderte philologische Semantik umfasst in Redeweisen eingebettete Wert- und Identifikationsbegriffe – wie etwa ‚Rasse‘, ‚Reich‘, ‚Abendland‘ usw. – deren Gebrauch von außen honoriert wird und jenseits der Fachgrenzen Resonanzeffekte verspricht.

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lichkeit am Diskurs teilzunehmen (vgl. Ziege 2002: 53f.). Diese Partizipation führte wiederum dazu, dass der Einfluss der Spezialisten im Verhältnis zur Masse des erreichten Laienpublikums zunahm. Die Eugenik bzw. Rassenhygiene ging auf diese Weise ins Alltagswissen ein und wirkte – durch beispielsweise Journalismus bzw. Propaganda – vom Interdiskurs auf die Spezialdiskurse zurück und wurde in ihnen gleichzeitig kontinuierlich weiter ausdifferenziert. Die Krankheitsmetaphorik, die in gewissem Maße von der Rassenhygiene herzurühren scheint, zieht sich konsequent durch Victor Klemperers Tagebucheinträge wie durch die herangezogenen zeitgenössischen Texte. Die deutsche Literatur bzw. Kultur – versinnbildlicht in der Figur Goethe – wird von allen Seiten (Exilanten, Klemperer, Propaganda) für sich vereinnahmt. Solche Krisenmetaphorik erschließt ein semantisches Feld, das darauf abzielt, den von einer Krankheit erfassten organischen Gesellschaftskörper zur Regeneration, zur Wiedergeburt, in eine bessere Gesellschaftsform zu führen. Der angebliche Krankheitserreger, Verursacher der gesellschaftlichen Krise, muss bekämpft werden, damit ein „Auferstehen“ ermöglicht wird. Wie Susan Sontag (1978: 90) in Krankheit als Metapher bemerkt, nimmt die „Melodramatik der Krankheitsmetapher [...] im modernen politischen Diskurs einen strafenden Beiklang an: Von Krankheit nicht als Bestrafung, sondern als Zeichen des Bösen, als etwas, das bestraft werden muß, wird gesprochen.“ (Sontag 1978: 87) Aber „[o]b wir einen Zustand als [...] gesund oder krankhaft ansehen, hängt von einer Wertung ab. Durch entsprechende Anlage des Gleichnisses kann man dieselben Verhältnisse verteidigen oder angreifen.“ (Demandt 1978: 116) Die radikal abweichenden Diskurspositionen von (assimilierten) Juden und Nationalsozialisten beziehen sich auf dieselbe diskursive Grundstruktur: Klemperer liefert vor diesem Hintergrund eine diametral entgegengesetzte jedoch spiegelbildliche Analyse des Nationalsozialismus: Die ‚wahre‘ deutsche Literatur gegenüber der nationalsozialistischen ‚Pest‘, Goethe als ‚deutsche‘ Heilung der nationalsozialistischen lies: ‚undeutschen‘ Krankheit. Diese dualistischen Antagonismen zwischen ‚deutsch-undeutsch‘, ‚gesund-krank‘ usw. finden sich häufig in Klemperers Aufzeichnungen.761

761 Die benutzte Metaphorik macht deutlich, dass sein Ausgangspunkt epidemiologisch geprägt ist: Klemperer geht in seiner Charakterisierung der Nationalsozialismus als „Krankheit“ (LTI: 83) von einem gesunden Volkskörper mit einem ‚deutschen Volkscharakter‘ aus, der allen Zugehörigen der Nation gemeinsam ist. Ausgehend von einem Normalzustand, der vor der Machtübernahme Hitlers vorherrschte und in der Weimarer Klassik seinen Höhepunkt erreicht haben dürfte, diagnostiziert Klemperer die pathologischen Veränderungen: „Aber soviel auch der Nationalsozialismus von dem ihm vorangegangenen zehn Jahren Faschismus gelernt hat, so vieles an ihm Infektion durch fremde Bakterien ist: im letzten war oder wurde er doch eine spezifisch deutsche Krankheit, eine wuchernde Entartung deutschen Fleisches.“ (ebd.: 76) Die Krankheitsmetaphorik zieht sich – trotz seiner Kritik an der NS-Sprache – kontinuierlich durch Klemperers Tagebuchaufzeichnungen. Diese Feststellung macht auch Kristine Fischer-Hupe (2001a: 287-295), die Klemperers zuweilen unausgewogene Übernahme von nationalsozialistischen Floskeln unter die Lupe nimmt. In der Darstellung des Nationalsozialismus als Pathologie – beispielsweise als ‚Pest‘ oder ‚Krebs‘ (vgl. z.B. Meyer 1936: 2) – war Klemperer jedoch keineswegs alleine: Die Metaphorik war unter Regime-Gegnern weit verbreitet.

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Irving Wohlfarth (2000) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass als Symptome für Klemperers Vorhaben, in den Tagebüchern und LTI das Phänomen des Nationalsozialismus sprachlich einzukreisen bzw. von einer ‚Reinkultur‘ abzudichten, folgende Merkmale zu nennen sind: 1. eine Rhetorik bipolarer Gegensätze (Mensch/Unmensch, Fortschritt/Rückschritt, Kultur/Barbarei), die angeblich absolut voneinander getrennt sind; die quer durch alle ideologischen Lager verlaufenden klinisch-metaphorischen Wertsetzungen ‚krank‘ vs. ‚gesund‘; und die ideelle Rede vom ‚absolut‘ bzw. ‚radikal Bösen‘. In seinem 1967 erschienenen Band Der hilflose Antifaschismus legt Wolfgang Fritz Haug nahe, dass aufgrund der Berührungsangst vor dem Faschismus mancherseits unerwünschte und uneingeplante Berührungsflächen erzeugt wurden: die binäre, spekuläre Gegensätze aus dem Totalitarismus wurden ex negativo übernommen. Wohlfarth bemerkt vor diesem Hintergrund im Hinblick auf Klemperers-Notizen: Was ist aber dagegen einzuwenden, wenn eine gute Reinigung eine schlechte, unreine neutralisieren kann? Gesetzt, es bestehe tatsächlich eine entfernte Verwandtschaft zwischen reiner und unreiner Reinigung, warum darf man unter gewissen Umständen den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben? [...] In Klemperers Sprache dürfte mehr begraben liegen als er wissen will. Wer heimzahlt, wer der Heimsuchung der Reinheit erliegt, begibt sich damit in die Nachbarschaft des Unheimlichen. (Wohlfarth 2000: 119)

In diesem Sinne ist der Begriff ‚Entartung‘ als Vererbung von Krankheiten in einer Rasse zu verstehen. Die wenigen Studenten, die seinen Kurs 1934 noch besuchten, versuchte Klemperer durch die literaturgeschichtliche Beschäftigung mit ethischen Werten im Sinne Kants, Goethe oder Lessing vor den ideologischen Einflüssen des Nationalsozialismus zu bewahren: „Ich sprach halb und halb vor Gesinnungsgenossen, ich hatte immer das Gefühl, ein paar Junge sozusagen mit Schutzimpfungen zu versehen oder zu Bazillenträgern zu machen.“ (ZAI: 93 [2.3.1934]) Kollektiv produzierte und verwendete Symbole wie ‚Blut‘, ‚Krebs‘, ‚Gift‘‚ ‚Körper‘, ‚Organismus‘, die im Dritten Reich durch den Diskurs der Eugenik aufgeladen wurden, können in verschiedensten Diskursen durch verschiedenste soziale Träger verwendet werden. Sie verbinden also unterschiedliche gesellschaftliche Praxisbereiche miteinander und schließen sie somit an Alltagserfahrungen an. Die Wertung wird durch die diskursive Position innerhalb des synchronen Beziehungsgeflechts der Kollektivsymbole und sonstiger Interdiskurs-Elemente bestimmt. Diese diskursive Position wird besonders dann verfestigt, wenn Symbolketten in Opposition treten. Durch diese Paradigmen wird die diskursive Struktur der Gesellschaft im Interdiskurs repräsentiert (vgl. Parr 1992: 43f.). Der radikale Aufstieg der Krankheitsmetaphern im Dritten Reich wurde auf der ideologischen Ebene durch sozialdarwinistische Impulse begünstigt. Der Sozialdarwinismus mit brutal-biologistischen Grundvokabeln wie etwa ‚Kampf ums Dasein‘, ‚Auslese‘ und ‚Ausmerze‘ postulierte das Recht der Stärkeren und somit die Überlegenheit und den berechtigten Machtegoismus des Volkes bzw. der Rasse, der man sich selbst zurechnete. Von da an, wie Zmarzlik (1963: 251) hervor-

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hebt,762 war es nur noch ein kleiner Schritt zur Kritik an der christlichen Ethik und am humanistisch-universalistischen Erbe der Aufklärungsphilosophie. Vor diesem Hintergrund galt ‚Mitleidsethik‘ und ‚Humanitätsduselei‘ die schärfste Kritik der Nationalsozialisten. Die sozialdarwinistischen Krankheitsmotive lieferten wirkungsvolle Bilder, die als Vehikel für verschiedenartige Inhalte dienten.763 Die Logik der bipolaren Gegenüberstellung von ‚gesund‘ und ‚krank‘ wurde auf alle Bereiche der NS-Gesellschaft (vgl. Cygan 1999: 144f.). Die Weimarer Klassik wurde vor diesem Hintergrund von ihrem humanistischen Erbe ‚gesäubert‘. In den Krankheitsmetaphern verbirgt sich ein virulenter Kampf um einen ideologisch überdeterminierten Normalitätsbegriff, wobei der Wert ‚gesund‘ mit Normalität und der Wert ‚krank‘ mit Anormalität verbunden wird. Aus einem synchronen Vergleich zwischen Klemperers Tagebuchnotizen wie Exilzeitschriften einerseits und nationalsozialistischen Quellen andererseits kommt die normative Definitionskonkurrenz zwischen ‚deutsch‘ vs. ‚undeutsch‘ bzw. ‚gesund‘ vs. ‚krank‘ deutlich zum Ausdruck, besonders in den jeweiligen Redeweisen über die Bedeutung von Goethe als Ikone einer ‚richtigen‘ deutschen Identität. Jedes Tun und Unterlassen wird auf diese Weise zum Promotor von Gesundheit oder zum Generator von Krankheit. 3.3.3.5 Die Ambiguität der Moderne: Goethe und Hitler Den Kulturbegriff Victor Klemperers könnte man relativ eindeutig als idealistisch einstufen: Kultur – und auch Literatur im Besonderen – ist Klemperer zufolge typischer Ausdruck des Geistes und des Charakters eines Volkes bzw. einer Nation. Doch ab 1933 bringt die deutsche Erscheinungsform des Faschismus Klemperers wissenschaftliche Ideen ins Wanken: Zwischen den beiden Extremen ‚deutsch‘ und ‚undeutsch‘ lässt sich Klemperer nicht mehr einfach festlegen (vgl. Kämper 2001: 67f.). Die Frage, die sich Klemperer in LTI wie in seinen Tagebüchern stellt – und die sich viele andere (darunter z.B. Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas) gestellt und gegenläufig beantwortet haben –, ist, wie sich Goethe und Hitler, Weimar und Auschwitz zueinander verhalten, wie sich sowohl Humanismus als auch Rassismus und Genozid in der – von Klemperer so idealisierten – deutschen Kultur haben entwickeln können.

762 Hans-Günter Zmarzlik (1963) liefert einen aufschlussreichen Beitrag zur Analyse des Sozialdarwinismus im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland 763 Wie Susan Sontag (1978: 90) in Krankheit als Metapher bemerkt, befördert die Verwendung von Krankheitsmetaphern „innerhalb des politischen Diskurses [...] den Fatalismus und rechtfertigt ‚strenge‘ Maßnahmen – wie sie zugleich die weitverbreitete Ansicht bestätigt, daß die Krankheit notwendigerweise tödlich ausgeht. Eine Krankheitssauffassung ist niemals unschuldig. Es ließe sich jedoch behaupten, daß Krankheitsmetaphern als solche schon implizit genozidal sind.“

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Adorno und Horkheimer haben in Dialektik der Aufklärung auf die Paradoxien der Moderne hingewiesen: Die Moderne wurde im Hinblick auf die Erfahrungen im Dritten Reich als grundsätzlich ambivalentes Phänomen gedeutet. Es ist die gegen den Mythos gerichtete Aufklärung, die wiederum in den Mythos einer instrumentellen Vernunft zurückschlägt, in den technokratischen Machbarkeitswahn einer neuen Welt bzw. eines neuen Menschen. Der Fortschritt wird destruktiv; statt Befreiung von den Zwängen der überwältigenden Natur wird Anpassung an die Technologie und das politische System erfordert. Folglich „wandelt [...] Aufklärung sich zum totalen Betrug der Massen um.“ (Adorno und Horkheimer 2003: 60) Diesen kulturpessimistischen Thesen Adornos und Horkheimes schließt sich nach dem Holocaust764 in LTI teilweise auch der Philologe Victor Klemperer an, indem er Weimar und Buchenwald, Idealismus und Totalitarismus, Goethe und Hitler als zwei Seiten derselben Medaille darstellt: Damals zuerst leuchtet mir ein, daß Bestes und Schlimmstes innerhalb des deutschen Charakters doch wohl auf einen gemeinsamen und dauernden Grundzug zurückzuführen seien. Daß es einen Zusammenhang gebe zwischen den Bestialitäten der Hitlerei und den faustischen Ausschweifungen deutscher klassischer Dichtung und deutscher idealistischer Philosophie. (LTI: 169)765

Genau diese Janusköpfigkeit der Moderne ist es, der auch im soziologischen Werk Zygmunt Baumans eine Schlüsselrolle zukommt. Rekurrierend auf Adornos und Horkheimers klassische Thesen in Dialektik der Aufklärung wie auf Max Webers Theorie der okzidentalen Rationalisierung hat Bauman in seiner ursprünglich 1991 erschienenen Studie Moderne und Ambivalenz die Bipolarität zwischen Technikbegeisterung und Tradition als zentrales Merkmal der Moderne entlarvt (vgl. Bauman 1995: 19ff.). Dabei gleiche die Suche nach der ‚perfekten‘ sozialen Ordnung einem Kampf gegen die Mehrdeutigkeit. Dieser gesellschaftliche Reinheitswunsch – die Vorstellung, Menschen wie Pflanzen durch Zucht zu veredeln und wenn nötig, auszurotten – galt gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weder als unmoralisch noch als bizarr. Den Hang nach Taxonomie, Klassifikation, Katalogisierung und Statistik des Menschlichen in der Eugenik

764 Bis in die 1940er Jahre hinein vertritt der Tagebuchautor weitgehend die Auffassung, der Nationalsozialismus sei ein absoluter „Gegensatz“ zur deutschen Kulturgeschichte vor 1933: Die beobachtungsleitende Grundfrage, die ihn über nahezu den ganzen Zeitraum des Dritten Reiches hinweg beschäftigt, lautet: „Wie war der grauenvolle Gegensatz der deutschen Gegenwart zu allen, wirklich allen Phasen deutscher Vergangenheit möglich?“ (LTI: 167) 765 Im Kontext der erneuten Goethe-Appropriierung in der Nachkriegszeit bemerkt der Germanist Richard Alewyn 1949 – entgegen der Tendenz, mittels Goethe Hitler vergessen zu machen – in dessen Kölner Rede „Goethe als Alibi?“: „Was [...] nicht geht, ist, sich Goethes zu rühmen und Hitler zu leugnen. Es gibt nur Goethe und Hitler, die Humanität und die Bestialität. Es kann, zum mindesten für die heute lebenden Generationen, nicht zwei Deutschlands geben. Es gibt nur eines oder keines.“ (Alewyn 1984 [1949]: 335)

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kategorisiert Klemperer vor diesem Hintergrund in negativem Sinne als „teutsch“ lies: antihumanistisch, während das „deutsche“ Element in der Romantik – unter Verweis auf Schiller und auch Goethe – für Weltoffenheit und Geistigkeit stand: Wir haben zweierlei Romantik in Deutschland gehabt, eine deutsche und eine teutsche. Die deutsche hat ins Weite geführt, ins Allgemeinmenschliche, ins Geistige und Göttliche, die teutsche ins Enge und Dumpfe, ins Animalische und zuletzt ins viehisch Barbarische. (CVI: 576; vgl. ZAII: 576 [5.9.1944])766

In seiner Modernitätsdiagnostik hebt der Historiker Detlev Peukert in seiner Arbeit Max Webers Diagnose der Moderne (1989) hervor, dass die nationalsozialistische genozidale Politik – das „Animalische und viehisch Barbarische“ – weniger als reaktionärer Rückfall in die mittelalterliche Barbarei denn als Zuspitzung von dem Modernisierungsprozess anhaftenden antihumanen Tendenzen, als Konsequenz einer rassistischen Gesellschaftsform, die durch ‚Züchtung‘, ‚Auslese‘ und ‚Ausrottung‘ charakterisiert wird, verstanden werden soll.767 Die rassistische Utopie der Endlösung deutet Peukert als den gewaltsamen Versuch, den immanenten Widersprüchen der Moderne ein Ende zu setzen. In der nationalsozialistischen Vision einer anderen – antikapitalistischen, antikommunistischen, volksgemeinschaftlichen – Moderne, sollten die humanistischen Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein für allemal dem Vergessen anheim gegeben werden. In dieser Bürokratisierung und Rationalisierung des Gemeinwesens bzw. in der technokratischen Banalisierung des Bösen, liegt Klemperer zufolge das Hauptmerkmal des Nationalsozialismus, der das ‚Volk der Dichter und Denker‘ erfasst hatte (vgl. ZAII: 210 [17.8.1942]).768 Trotz der nahezu aussichtslosen Lage im „Judenhaus“ in Dresden stellte die klassische deutsche Literatur für diejenigen jüdischen Bürger, die – vergeblich – an ihrem Deutschsein festzuhalten suchten, ein wertvolles Symbol eines gerechten Deutschtums dar. So zeichnete der Tagebuchautor in diesem Kontext die folgende Meinung einer ‚deutschfühlenden‘ jüdischen Mitbewohnerin auf: „Stellung

766 Die geistesgeschichtliche Kontrastfolie zur Aufklärung und zu Lessing bildete Klemperer zufolge die Romantik, die seiner Meinung nach die unmittelbare Vorstufe des Nationalsozialismus darstellte: „[A]lles, was den Nationalsozialismus ausmacht, ist ja in der Romantik keimhaft enthalten.“ (LTI: 182) Beide seien durch „engste Verbundenheit“ gekennzeichnet (ebd.). 767 Für eine Analyse der Bedeutung der NS-Rassenpolitik im Rahmen der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung in Deutschland vgl. Bavaj (2003: 174ff.). 768 Der Diarist vertritt streckenweise die Meinung, das „Gefolgschaftsideal“ des deutschen Volkes dürfte ein Grundmerkmal des nationalen ‚Volkswesen‘ sein: „Im germanischen Denken ist immer die Möglichkeit der Ausflucht u. Flucht ins Gefühlsmäßige, Dunkle immer das ‚Zurück zur Natur u. zur Zoologie!‘ gegeben. [...] Protestantismus führt ins Extrem; zur Natur u. damit zur Naturwissenschaft, zum Rationalismus, aber über beides hinaus u. unter beides hinunter ins Grenzenlose der Mystik u. des Unbewußten. [...] In Deutschland wirkt [...] der Trieb zur Unterordnung, zur Unfreiheit, der sich idealistisch als Treue, als Gefolgschaftsideal darstellt.“ (A 138: 1272 [11.12.1944])

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der Frau Hirschel: deutsch, betont nichtzionistisch, betont ästhetisch, goethedeutsch – ‚wir werden Goethe retten!‘“ (ebd.: 135 [19.6.1942]) Klemperer präsentiert die verschiedenen Meinungen in einem vielförmigen Bild, wodurch ein Kaleidoskop aus verschiedenen Diskursstückchen entsteht, die immer wieder ein neues Muster entwerfen: An die Stelle des Kollektivsingulars ‚Deutsche Geschichte‘ tritt somit die unendliche Vielzahl von Geschichten im Plural, von lokalen Erzählungen, Anekdoten und Details, die oft außer Acht gelassen werden und die sich immer wieder neu arrangieren lassen. In Klemperers autobiographischem Interdiskurs erblickt man die strategische Überlagerung bzw. Ankopplung von verschiedenen Spezialdiskursen (technisch, biologisch, medizinisch, militärisch), die auf den hohen Aktualitätswert der Ikone Goethe (und Schiller) im Dritten Reich hinweist. Klemperer hat den Glauben an die emanzipatorische Seite der Moderne nie aufgegeben. Der symbolischen Bedeutung der Aufklärung, deren Grundbegriffe um Toleranz, Rationalität und Humanismus kreisen, wird in Klemperers Tagebüchern viel Gewicht beigelegt, und sie avanciert zum Politikum und zum moralischen Halt in Zeiten von Massenvernichtung und Krieg.769 Das nationalsozialistische Deutschland ist Klemperers Meinung nach auf einen Schatten reduziert, der eine kaum mehr überbrückbare Kluft zum Ideal des Lessingschen Deutschtums zum Ausdruck bringt: „Wenn es ein im Himmel aufbewahrtes platonisches Bild des Deutschen gibt, dem sich Deutschland manchmal genähert hat und von dem es heute so weit entfernt ist [...], dann ist die dichteste Nähe von Lessing erreicht worden.“ (CVI: 287)770 Lessing ist für Klemperer der ideale Vertreter des weltoffenen – protestantischen – Deutschtums: „Wenn [...] die Beziehungen zum dogmatischen Judentum, zu Jahve genau so fehlten wie zum christlichen Dogma, zum auferstandenen Jesus, dann sei die freie protestantische Auffassung, das entdogmatisierte Christentum Lessings für mich das Gegebene. (Ganz vermochte ich nicht mehr zu glauben, was ich sagte)“ (ZAII: 327 [7.2.1943]) Die Verbunden-

769 Julius Bab betonte vor diesem Hintergrund ebenfalls: „Wenn wir in dieser Epoche, die Deutschlands Namen mit blutiger Gewalt und moralischer Feigheit befleckt hat, eine Gestalt suchen, die vor der Welt und vor allem vor uns selbst [=die deutschen Juden, A.S.] die Ehre Deutschlands rettet, so erscheint mir vor allem anderen: Gotthold Ephraim Lessing.“ (Bab 1944: 262; vgl. Bab 1933b: 324ff.) Auf ähnliche Weise wird in der CV-Zeitung vom 4. Januar 1935 (o.N. 1935: 9) vorgeschlagen, es würde sich lohnen, eine ‚Wallfahrt‘ zu Lessings und Moses Mendelssohns Wohnhaus in der Spandauer Straße 33 zu machen. Auch für Klemperer stellte Lessing den Inbegriff des toleranten Deutschtums dar: „In meinen Studien hätte ich mich naturgemäß sehr viel mit dem Christentum beschäftigt und hätte vor allem bei Lessing gefunden, was mit gleicherweise für das Christentum und das Deutschtum entscheidend sei und vollkommen zusage.“ (CVII: 16) Vgl. zu den aufklärerischen Werten in Lessings „Nathan der Weise“ beispielsweise Rötzer (1996: 79) und Améry (1978: 5ff.). 770 Für eine detaillierte Lektürenotiz zu Lessings Nathan der Weise vgl. A 138: 1098f. [15.6.1944]. Lessing wird von Klemperer oftmals gegen den Nationalsozialismus als Vertreter des idealen Deutschtums hochstilisiert. Vgl. hierzu z.B. LTI: 137. Für eine Diskussion der Bedeutung von Lessing für Klemperers Deutschlandbild verweise ich den Leser auf Rieker (1997: 33f.).

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heit mit Lessing kommt in den Aufzeichnungen durchgehend zum Ausdruck. Der Diarist überlegt es sich vor diesem Hintergrund sogar, ein Schlüsselzitat aus Lessings Nathan als Motto für die zu verfassende Autobiographie zu wählen: „Motto für den letzten Teil des Cur. 1933 sq.: ‚Wer ist denn hier der Jude?‘“ (A 138: 1099 [15.6.1944])771 Angesichts der materiellen Not und Scham der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber suchte das Bildungsbürgertum nach dem Krieg Halt bei den identitätsbildenden Orientierungsgrößen aus der deutschen Geistesgeschichte, allen voran bei Goethe, der zum Gewährsmann des besseren Deutschland wurde. In der Bundesrepublik wurde Goethe erneut als widerspruchsfreie bzw. kulturkonservative Ikone der deutschen Nation funktionalisiert: „Bald nach der Niederlage setzte [...] eine neokonservative Goethe-Rezeption ein, deren Neigung zu einem Goethe-Kult in fataler Weise an nationalsozialistische und frühere Verehrungshaltungen erinnerte, die vielleicht selber mit zur Katastrophe beigetragen hatten.“ (Saner 2004: 152) Vor diesem Hintergrund ist Karl Jaspers berühmte Rede „Unsere Zukunft und Goethe“, die er 1947 in Frankfurt am Main anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises hielt, als wichtiges Moment in der Aufarbeitung der Gleichschaltung des deutschen Geisteslebens und der Instrumentalisierung Goethes zu sehen. In seiner Preisrede warnte der Philosoph weiterhin vor der anachronistischen Sakralisierung des Literaten durch eine kulthafte Verehrung: Wir dürfen keinen Menschen vergöttern. Die Zeit des Goethe-Kultus ist vorbei. Um echte Nachfolge zu ermöglichen, dürfen wir den Blick in den brüchigen Grund des Menschseins nicht vergessen. Unsere freie Freude am Grossen, unser Mitgenommenwerden von der Liebeskraft Goethes, unser Atmen in seiner Lebensluft darf uns nicht hindern, gerade das zu tun, was er selbst verbarg, den Blick auf die Abgründe zu werfen. (Jaspers 1948: 34)

Auf ähnliche Art und Weise schreibt Jaspers ferner: „Durch Goethe liess sich alles entschuldigen. Aber es darf keine Rechtfertigung durch Goethe geben: ‚Das sagte Goethe‘ … ‚Das tat Goethe‘ … Goethe ist nicht das Ideal.“ (ebd.: 35) Dieser Auffassung scheint auch Klemperer in der Nachkriegszeit weitaus zuzustimmen. In der neugegründeten DDR, die Goethe zur Schaffung einer neuen nationalen Identität einsetzen wollte, stellte der ‚Dichterfürst‘ ein positives Identifikationsmodell dar. In einer Notiz aus dem Jahre 1949 zeichnet Klemperer vor diesem Hintergrund seine Differenz mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hübener auf, der zuvor gegenüber einer sowjetrussischen Delegation betont hatte, Goethe sei

771 Dieses Motto ist der folgenden Szene in Nathan der Weise entnommen: Sultan Saladin stellt die Frage nach der wahren Religion und gibt Nathan einen kurzen Moment Bedenkzeit, um eine Antwort auszuformulieren. In diesem Moment überlegt sich Nathan eine Antwort und fragt sich ironisch: „Wer ist denn hier der Jude? / Ich oder er?“ (Lessing 2000: 77) Nathan ist sich der ihm von Saladin gestellten Falle bewusst und beschließt, mit der Ringparabel zu antworten.

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deutscher Kulturbesitz: „Meine Rede war damals ein Angriff auf Hübener. Er hatte mit nationalem Stolz getoastet: ‚Ihr habt Puschkin, wir haben Goethe.‘ Ich sagte, ich müßte einen grammatischen Fehler des Ministerpräsidenten ankreiden. Es müsse heißen: wir hatten Goethe.“ (SSI: 662 [2.7.1949])772

772 Auch in der SBZ wurde für das Goethejahr 1949 ein groß angelegtes Spektakel geplant, dem der Autor besonders negativ gegenüberstand. Aufs Neue wurden die Goethe-Werke gemäß der marxistischen Ästhetik für politische Zwecke instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund notiert der Diarist kritisch: „‚Goetherummel, politisch aufgezogen‘.“ (SSI: 712 [31.12.1949]) Hinsichtlich der neuen, kommunistischen Vereinnahmung Goethes schreibt Klemperer ferner: „Das wahrhaft Grausige an der ganzen Affaire [...] ist nun aber, daß alles auf den Demokraten Goethe, den VOLKSGOETHE frisiert werden soll.“ (ebd.: 520 [12.3.1948])

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4. VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER IN DER 4. BERLINER REPUBLIK: EIN NACHKLANG

VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER IN DER BERLINER REPUBLIK VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER IN DER BERLINER REPUBLIK

Auch wenn sich im Vorangegangenen der Zeitrahmen der genauen Untersuchung von 1933 bis 1945 erstreckt hat, soll im Folgenden eine Brücke zur Gegenwart geschlagen werden, da zunächst ermittelt werden soll, inwiefern zeitgenössisches Wissen über die historische Person Victor Klemperer und ihr Schicksal in das deutsche kollektive Gedächtnis überführt wird. In einem zweiten Schritt wird anhand der akademischen und journalistischen Rezeption der verspäteten Edition der Tagebücher seit ihrem Erscheinen Mitte der 1990er Jahre beleuchtet, inwiefern die Klemperer-Rezeption einer – neuen – nationalen Gedächtnispolitik unterliegt. In Deutschland sind das Gedenken an den Holocaust und dessen Beschreibung in dermaßen subtiler Weise miteinander verzahnt, dass es anscheinend nur mit Hilfe von Medienereignissen wie Fernsehserien, Kinofilmen oder der Vorstellung neuer Bücher möglich ist, einen angemessenen Rahmen für die Auseinandersetzung mit der Shoah zu schaffen. Die Klemperer-Tagebücher spielen wie die Hollywoodproduktion Holocaust aus dem Jahre 1978, Steven Spielbergs Schindlers Liste von 1994 und Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrekker aus dem Jahre 1996 eine Schlüsselrolle bei der Konfrontation der deutschen Öffentlichkeit mit ihrer Vergangenheit, die Ende der 1970er Jahre ihren Anfang nahm. Jedes dieser Ereignisse setzte eine öffentliche Diskussion in Gang, die im Gegensatz zu dem Ende der 1980er Jahre entfachten „Historikerstreit“ nicht nur auf Akademiker, Journalisten und Politiker beschränkt blieb. Klemperers Tagebücher mögen sich jedoch – in Bezug auf wissenschaftliche und populäre Vermittlung – als noch einflussreicher als die oben genannten massenmedialen Ereignisse erwiesen haben: Die Aufzeichnungen sind äußerst aussagekräftig bezüglich der deutsch-jüdischen Identität im NS-Deutschland. Anders als Filme wie Schindlers Liste stehen die Tagebücher nicht für beruhigende Sicherheiten, sondern für moralische Komplexität, und im Gegensatz zu Goldhagens einseitiger Polemik erlaubt Klemperers Werk widersprüchliche Lesarten der Unterstützung Hitlers durch das Volk, des Ausmaßes des Antisemitismus und des Wissens um den Holocaust. Es ist daher offen für verschiedene Auslegungen und verschiedene Formen politischer und historischer Instrumentalisierung. Die Klemperer-Tagebücher bildeten die Grundlage für die Formulierung vielfältiger – und mitunter widersprüchlicher – Argumente. Wer waren die „einfachen“ Deutschen und wie war ihre Beziehung zu Hitler? In welchem Verhältnis standen sie zum Antisemitismus der Nationalsozialisten? Wie viel wussten sie zu welchem Zeitpunkt über den Genozid? Zu diesen und anderen Fragen liefern

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Klemperers tägliche Aufzeichnungen mehrdeutige Antworten. In ihrem Facettenreichtum und ihrer Vielschichtigkeit lassen sie nur selten eine eindeutige Interpretation ihrer Schlüsselthemen zu. Vor allem überliefern Klemperers Tagebücher jedoch eine deutsch-jüdische Schilderung nationaler deutscher Geschichte. In der Rezeption wurden die Tagebücher vielfach implizit als ideale Holocaust-Kronzeugen gegen die Vereinnahmung der deutschen Gedächtnis- und Identitätskultur durch die ehemaligen Alliierten – vor allem gegen die „Amerikanisierung“ deutscher Erinnerungen – eingesetzt. Die Film-Trilogie Heimat (1984/1992/2004) des deutschen Filmemachers Edgar Reitz über das fiktive Dorf Schabbach im Hunsrück war vor diesem Hintergrund eine Antwort auf die weit verbreitete Beobachtung, dass die deutsche Vergangenheit von Hollywood vereinnahmt worden sei und die deutsche Kultur sich dem amerikanischem Konsumdenken untergeordnet hätte. Die Tagebücher könnten, so wird in der Klemperer-Rezeption streckenweise argumentiert, vor diesem Hintergrund erinnerungspolitisch einer Neuorientierung der deutschen Identität dienen: Das gigantische Tagebuch [...], das er [=Victor Klemperer, A.S.] der deutschen Nation hinterlassen hat, wird uns zwingen, das verlorene Bewußtsein wieder aufzuarbeiten. [...] Dies ist der Ort, von dem wir Deutsche über uns selbst neu nachzudenken haben werden [...]. Die Zukunft hängt davon ab. (Nerlich 1997: 48; vgl. ders. 1996b: 117)773

Die Tagebuchnotizen, die von einem patriotischen deutschen Juden verfasst wurden, der den Holocaust innerhalb der Reichsgrenzen überlebte und so eine einzigartige Innensicht auf das Dritte Reich eröffnete, wurden in der Rezeption in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre oft von Tagebüchern, Autobiographien und Memoiren deutscher Vertriebener und jüdischer KZ-Überlebender abgesetzt. Neben dem erinnerungspolitischen Erkenntnisinteresse an den Klemperer-Tagebüchern gibt es viele andere Gründe für die faszinierende Wirkung der Notizen auf die deutsche Öffentlichkeit. Tagebuch zu führen war im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre außerordentlich populär, und nach dem Krieg setzte ein gleichermaßen großes öffentliches Interesse daran ein, Tagebücher zu lesen, was sich zunächst auf die Aufzeichnungen von Intellektuellen und Politikern konzentrierte, von denen die meisten im Sinne einer Rechtfertigung überarbeitet

773 Die identitätsfördernde Gegenwartsrelevanz der Klemperer-Tagebücher wird auf ähnliche Weise von weiteren deutschen Forschern hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund schreibt Günter Jäckel (1999: 195) beispielsweise: „Als Zeitgeschichte sind sie [=Victor Klemperers Tagebücher, A.S.] zugleich ein Beitrag zur Selbstbesinnung. Was wir hier lesen, war seine und manchmal unsere Not; es war unsere Schuld und gewiß unsere Schwachheit; und es ist – vielleicht – auch ein Zeugnis für unsere Erlösung.“ In Fritz Rudolf Fries’ Essay Lesarten zu Klemperer (1995: 23) wird den Tagebüchern im Hinblick auf ihre Bedeutung als Sinnstifter für das bundesdeutsche Selbstverständnis viel Gewicht beigelegt: „Dem Schriftsteller, dem Essayisten, dem Wissenschaftler, dem Menschen [=Victor Klemperer, A.S.] gebührt unser Dank, daß wir im Zeugnis des Toten, im Zeugnis der Opfer, derer wir heute gedenken, uns selber finden und erklären können.“

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worden waren.774 Das öffentliche Interesse blieb jedoch nicht auf die Tagebücher der Elite beschränkt, sondern weitete sich auch auf Alltagsberichte aus allen gesellschaftlichen Schichten aus. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war hier die Veröffentlichung der Tagebücher Anne Franks in den Niederlanden im Jahr 1947. Den Aufzeichnungen der Opfer des Nationalsozialismus kam vor dem Hintergrund komplizenhaften Stillschweigens oder gar Leugnens ein besonderer Stellenwert als Zeugnisse der Verbrechen des NS-Regimes zu. Die Tagebücher und die Geschichte ihrer Veröffentlichung leisteten daher einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer historischen Erinnerung an das Dritte Reich und die Shoah (vgl. Caygill 2000: 292). Erinnerung kann eine große Kraft entfalten, wenn die Geschichte des Alltags durch ihre Speicherung in Tagebüchern ihren Weg in den mainstream des historischen Diskurses findet. Gleichzeitig kann sie aber auch Individuen und Gesellschaften als Mittel zum Zweck dienen, die moralischen Verpflichtungen der eigenen Vergangenheit zu ignorieren. Es ist genau diese Doppelbödigkeit der Erinnerung als Instrument sowohl der Verifizierung als auch der Selbsttäuschung, welche Victor Klemperers Tagebüchern aus dem Dritten Reich ihre Faszination verleiht und sie so wertvoll für kritische Studien macht. Aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Klemperer-Rezeption sollen im Folgenden die erinnerungspolitischen Befindlichkeiten der Berliner Republik und ihre diskursiven Manifestationen nachvollziehbar gemacht werden. Dieser Teil befasst sich mit fünf Themenschwerpunkten. Zunächst soll der Blick auf die Klemperer-Rezeption im Rahmen der Gedächtnispolitik der Berliner Republik Mitte der 1990er Jahre gelenkt werden. Daran anschließend wird die Rezeption der Tagebücher unter Rückgriff auf Jan und Aleida Assmanns Theorie des kollektiven Gedächtnisses interpretiert und die Bedeutung der Begriffe ‚Erinnerung‘ und ‚Identität‘ im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis dieser Rezeption hinterfragt. In einem nächsten Schritt soll konzis auf die Goldhagen-KlempererDiskussion eingegangen werden. Dann soll an zwei Fallbeispielen – Konrad Löws und Martin Walsers Rezeption der Tagebuchnotizen – den ideologischen und gedächtnispolitischen Grundlagen für die Instrumentalisierung der Notizen nachgegangen werden. Abschließend runden einige zusammenfassende Überlegungen zur Bedeutung der Tagebücher für die Historiographie des Holocaust diesen Teil ab.

774 Für nähere Informationen über die weitverbreitete Praxis der nachträglich zur Selbstentlastung vorgenommenen Glättung von während des Dritten Reiches verfassten deutschen Autobiographien und Tagebüchern vgl. Peitsch (1990). Gerade aus diesem Grund kommt nicht veröffentlichten deutschen Tagebüchern aus der NS-Zeit eine wichtige mentalitätsgeschichtliche Bedeutung zu. Susanne zur Nieden (1993: 69) unterstreicht diesbezüglich: „Vor allem solche Diarien, die nicht nachträglich überarbeitet wurden, berichten von Handlungen und Einstellungen, die mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus vielen Deutschen im nachhinein problematisch wurden und an die sich viele in der lebensgeschichtlichen Retrospektive nicht erinnern wollen und können.“

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4.1 Erinnerung und Identität in der Berliner Republik ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER BERLINER REPUBLIK

Victor Klemperers Tagebücher wurden nach ihrer Veröffentlichung 1995 in Deutschland ausgesprochen lebhaft rezipiert, in Feuilletons ausgiebig gefeiert und vielerorts zum Klassiker hochstilisiert. Diese rege Aufnahme lässt sich, Siegfried Jägers kritischer Diskursanalyse folgend, ansatzweise als „diskursives Ereignis“ begreifen, das den Verlauf des Normalisierungsdiskurses in der deutschen Öffentlichkeit in gewisser Weise mitbestimmt haben mag.775 Das „diskursive Ereignis“ der Herausgabe der Klemperer-Tagebücher, deren Rezeption 1995 ein spektakuläres mediales Echo hervorrief, wurde geradezu unmittelbar in einem bestimmten politischen Raum positioniert und beeinflusste zu jener Zeit erheblich die Stimmungslage in Bezug auf die Themen der Vergangenheitsbewältigung und der deutschen Identität. Anhand der Rezeption mag somit festgestellt werden, dass die Interpretation der Tagebuchnotizen durch eine bestimmte Deutung der Vergangenheit fundiert wurde. Gut ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden die Tagebücher gemäß der kontextgebundenen interpretativen Perspektive der Gegenwart rekonstruiert, fortgeschrieben und akkomodiert (vgl. Stegmann 2006: 9). In der Rezeption der Klemperer-Tagebücher spiegelt sich die Geisteslage der Geschichtswissenschaft und des vereinigten Deutschland wider.776 Hier treffen sich die Alltagsbeschreibung Victor Klemperers und der Zeitgeist, der nach dem Ende der großen politischen Systeme und Utopien auf die Bewältigung des Alltags zurückgeworfen ist. Nicht marxistische oder soziologische Faschismusanalysen wie in den 1970er Jahren, sondern Alltags- und Mentalitätengeschichte des Nationalsozialismus bilden heute die paradigmatischen Achsen der NS-Erforschung (vgl. Dirschauer 1997: 201). Im Rahmen dieser Perspektive wird Klemperer oft als privilegierter Zeitzeuge herangezogen, der die Grenze, die zwischen Alltäglichkeit und existenzieller Erschütterung verläuft, in Worte fasst. Die Skepsis, aber auch die Widersprüche und die Komplexität der Tagebücher wurden in der Rezeption nicht selten vernachlässigt. Man vermisst oftmals eine gewisse Varietät in der Auswahl der Zitate, vor allem dort, wo Klemperer selbst 775 Unter „diskursives Ereignis“ sind Siegfried Jäger (2001: 98) zufolge „solche Ereignisse zu fassen, die [...] durch die Medien [...] besonders herausgestellt werden und als solche Ereignisse die Richtung und die Qualität des Diskursstranges, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflussen. [...] Ob ein Ereignis zu einem diskursiven Ereignis wird oder nicht, das hängt von jeweiligen politischen Dominanzen und Konjunkturen ab. Diskursanalysen können ermitteln, ob solche zu erwartenden Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden oder nicht. Werden sie es, beeinflussen sie die weiteren Diskursverläufe erheblich.“ Ein „diskursives Ereignis“ ist nicht gleichbedeutend mit „realen“ Ereignissen wie die Herausgabe der Tagebücher, sondern umfasst vielmehr „den breit entfalteten Diskurs über solche Ereignisse.“ (Jäger 2004: 132) In diesem Kapitel wird demgemäß eine Analyse der Klemperer-Rezeption als diskursivem Ereignis vorgenommen. Dabei geht es auf einem Meta-Niveau um die Erhellung der unterschwelligen (geschichts-)politischen und ideologischen Strukturen, die das Gros der Rezeptionsdiskurse zu steuern scheinen. 776 Zur Klemperer-Rezeption in Deutschland siehe beispielsweise Przyrembel (1998: 312-327) wie . auch Paola Traverso (1997b: 307-344).

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seine Zitate immer wieder aufs Neue in Frage stellt. Eine unproblematische deutsche Geschichte wird gelegentlich in die Tagebücher hineingelesen, obwohl die Enttäuschungen, die Ambiguitäten, das zwiespältige Verhältnis zu Deutschland eine deutliche Absage an die postume Vereinnahmung seiner Werke durch eine sich heute konstituierende Erinnerungskultur darstellen. Die dialektische Spannung gegenüber der deutschen Identität, die in den Tagebüchern zwischen absoluter Idealisierung und kompletter Desillusionierung oszilliert, wird in der Rezeption zudem stellenweise auf den Aspekt eines nachträglichen Wunschdenkens einer deutsch-jüdischen Identität ohne Shoah reduziert.777 Im Lichte des veränderten Selbstverständnisses des wiedervereinigten Deutschland werden die Tagebücher sinnstiftend für eine Neudefinition der Nation eingesetzt. Mit dem französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs lässt sich an dieser Stelle sagen, dass sich jede Gemeinschaft die Vergangenheit „stiftet“, die sie für ihre eigene Identität braucht.778 Eine nationale Erinnerungskultur, wie sie in Gedenkstätten, Gedenktagen, öffentlichen Reden und Ausstellungen materiell und ideell veräußerlicht wird, verhält sich im Hinblick auf die Vergangenheit hochgradig selektiv. Vor dem Hintergrund einer nationalen Gedächtnispolitik lässt sich die Verzahntheit von kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität feststellen. Das kollektive Gedächtnis ist somit ein „entliehenes“, indem die Vergangenheit wie ein Reservoir aus Symbolen, Codes und „unanfechtbaren“ Wahrheiten verwendet wird, aus dem sich das kollektive Gedächtnis identitätsschaffende Fixpunkte heraussucht. Die Erinnerungskonjunktur in Bezug auf die NS-Vergangenheit, die auf bundesdeutscher Ebene in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre paradigmatisch in der Walser-Bubis-Debatte, der Diskussion um das Holocaust-Mahnmal und den kontroversen Plänen für ein Zentrum gegen Vertreibungen zum Ausdruck kam, ist auf zwei grundlegende kulturelle Begebenheiten zurückzuführen.779 Zum einen

777 Das Wissen um die Judenvernichtung nimmt auch bei deutschen Juden der dritten Generation – auch wenn sie keiner Glaubensgemeinschaft angehören – eine zentrale Stellung ein. Das Ereignis der Shoah bildet seit 1945 für sowohl Deutsche wie auch für Juden einen unauslöschlichen Hintergrund ihrer kollektiven Identitätsbildung. Dan Diner (1987b: 185) bringt diesen Sachverhalt zutreffend im Begriff „negative Symbiose“ zum Ausdruck: „Seit Auschwitz – welch traurige List – kann tatsächlich von einer ‚deutsch-jüdischen Symbiose‘ gesprochen werden – freilich einer negativen: für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht. Denn Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis neu aufeinander bezogen worden.“ 778 Vgl. in diesem Zusammenhang Maurice Halbwachs’ Werk Das kollektive Gedächtnis (1991). Für eine überblicksartige Zusammenschau von Halbwachs’ Thesen über die cadres sociaux de la mémoire mag es hilfreich sein, die sehr differenzierte aber konzise Darstellung von Astrid Erll (2005: 14-18) heranzuziehen. Für eine Einführung in Halbwachs’ Hauptthesen sei ebenfalls auf Jan Assmann (2002 [1992]: 34-48) verwiesen. 779 Für eine eingehende Analyse der veränderten Erinnerungspolitik in puncto NS-Verbrechen, Sowjetverbrechen und Bombenkrieg sowie Flucht und Vertreibung in der Berliner Republik vgl. beispielsweise Faulenbach (2004: 652).

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wurde nach der Wiedervereinigung die Frage nach den Modi des Gedenkens an Holocaust und Nationalsozialismus heftig und umstritten diskutiert, denn der nationalen Erinnerungspolitik war in beiden Teilen Deutschlands ein radikal unterschiedlicher Stellenwert zugekommen.780 Von DDR-Seite her wurde wieder an die Aufklärung und die Französische Revolution angeknüpft, um ein kollektives Gedächtnis herzustellen, in dem der Nationalsozialismus als Negativfolie der nationalen Identität galt. Der ostdeutsche Kommunismus suchte sich gänzlich im Antifaschismus zu begründen und zu legitimieren. Zum anderen stellte die NSZeit in der BRD eine unüberwindbare Identitätssperre dar, da man, wenn man hinter sie zurückschauen wollte, um ein einheitliches, unbrüchiges – lies: positives – Selbstbild zu konstruieren, in den Verdacht der Geschichtsverleugnung bzw. des Revisionismus geriet (vgl. Traverso 2007: 39). Nach der Wiedervereinigung zeigte es sich daher als notwendig, einen sowohl für das ehemalige Ost- als auch für Westdeutschland annehmbaren nationalen Gedächtnisdiskurs zu etablieren. Die literarische Konstruktion der kulturellen deutschen Identität ist dementsprechend seit 1990 durch eine gemeinsame Identitätssuche in der Vergangenheit gekennzeichnet. Das grundlegende nationale Identifikationsmoment, so hat es den Anschein, verschiebt sich von 1945 auf das Jahr 1990: Die historische Zäsur des Holocaust, die einer ganzen Nachkriegsgeneration als Signatur des Zeitalters galt, wurde nach der Wende zugunsten einer harmonischeren Nationalgeschichte „normalisiert“ (vgl. Brunssen 2002: 27ff.).781 In dieser Linie stellt Jürgen Habermas (1995: 173) in seinem Aufsatz „1989 im Schatten von 1945“ im Hinblick auf die wiedergewonnene „Normalität“ der Berliner Republik fest, daß die Epochenwende von 1989/90 eine vorübergehende Anomalie beendet, die scheinbare Zäsur von 1945 eingeebnet und den Zivilisationsbruch wohltuend relativiert hat. Sie verheißt dem souverän gewordenen Deutschland eine normale Existenz in der Mitte Europas ohne ‚Angst vor der Macht‘. Die Epochenschwelle, die zugleich die Rückkehr zu einem glücklicheren status quo ante ebnet, weckt eine dialektische Erwartung: einerseits verlangen die ganz neuen Probleme ganz neue Antworten; die aber sollen aus den versiegelten Tresoren einer Überlieferung geborgen werden, mit der wir seit 1945 ‚unrühmlich‘ gebrochen haben.

Beide symbolträchtigen Reflexionsmomente – 1945 und 1989/90 – stehen seit der Wiedervereinigung als sinnstiftende nationalgeschichtliche Wendepunkte in Konkurrenz zueinander. Das vereinte Deutschland begibt sich vor dem Hintergrund dieser Erinnerungskonkurrenz auf die Suche nach den Ursprüngen und Kontinuitäten der eigenen Nationalgeschichte, und Klemperers Tagebücher aus 780 Einen ausgewogenen Versuch, die unterschiedliche Erinnerungs- und Gedächtnispolitik in BRD und SBZ/DDR – vordergründig am Zeitraum 1945-1960 erörtert – zu verorten, unternimmt Jeffrey Herf (1998). 781 Wie Mary Nolan (2001: 116) in Anlehnung an Dan Diner nahelegt, veränderte sich nach dem Fall der Berliner Mauer der politische und diskursive Referenzrahmen der Öffentlichkeit: Aus der „Bundesrepublik“ wurde „Deutschland“, und der zentrale interpretative Orientierungspunkt des Staates verlagerte sich zunehmend von der „Gesellschaft“ auf die „Nation“.

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der NS-Periode, die gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Singularität auf gesamtdeutschem Niveau großes Aufsehen erregt haben, gelten als symbolischer nationaler Gedächtnisort, der wichtige Elemente zur kollektiven Identifizierung bereitstellt. Paola Traverso legt den Finger in die Wunde der deutschen Erinnerungspolitik, indem sie kritisch anmerkt: Dass ein Text wie die Chronik eines deutschen Juden aus der Nazizeit paradoxerweise dazu beitragen konnte, eine solche Kontinuität deutscher historischen [sic] Tradition und deutschen nationalen Selbstverständnisses zu stiften, liegt nicht zuletzt darin, dass es dort um die Beschreibung eines deutsch-jüdischen Lebens geht, aus dem sich das Jüdische, wenn nicht gerade wegdenken, so doch weglesen lässt. (Traverso 2007: 39)

Vor diesem Hintergrund merkt Traverso in anderen Publikationen weiterhin an, dass die Popularität der Klemperer-Tagebücher in Deutschland – ähnlich wie die der Tagebücher Anne Franks – der Tatsache geschuldet sei, dass sie innerhalb der Grenzen des allgemein Verständlichen bleiben (vgl. Traverso 1997a; 1997b; 1997c; 2002). Klemperers Tagebücher folgen irgendwie immer den Regeln des Alltagslebens, sie lösen sich nicht völlig aus der Sphäre der persönlichen Erfahrung. Trotz entmenschlichender Unterdrückung und Folter berichten sie vom Fortbestand und Triumph fundamentaler menschlicher Werte. Die Geschichte geht überdies gut aus, kennt sozusagen ein Happy End, mit dem es sich – im Gegensatz zu den dem Menschsein entfremdenden Erzählungen von KZ-Häftlingen – unschwer und gefällig identifiziert sein lässt. Diese Identifizierbarkeit zeigt sich beispielhaft an der nahezu idyllischen Darstellung der Heimkehr der Klemperers im Juni 1945, nach der Irrfahrt durch Bayern. Das Tagebuch der NS-Zeit schließt mit den Worten: Schließlich fanden wir, innen ein bißchen beschädigt, aber im ganzen geradezu wunderbar zwischen lauter Ruinen erhalten, das Glasersche Haus. Dies war die Wendung zum Märchen. Frau Glaser empfing uns mit Tränen und Küssen, die hatte uns für tot gehalten. [...] Wir wurden gespeist, wir konnten uns ausruhen. Am späteren Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf. (ZAII: 830 [26.5.-10.6. 1945])

Klemperers bemerkenswerte Aufzeichnungen sind mithin kein Augenzeugenbericht über den entmenschlichenden und sprachlich kaum wiederzugebenden Vernichtungsprozess von Massenerschießungen oder Massenmord in Konzentrationslagern, und Klemperer gibt dies auch keineswegs vor: Seine Erlebnisse seien „ein Nichts all den Entsetzlichkeiten“ im Vergleich zur Shoah (US: 222 [6.1.1947]; vgl. ZAII: 314 [18.1.1943]).782 Die Konzentrationslager waren die 782 In einem unpublizierten Referatmanuskript vom Januar 1947 – mit dem Titel „Die Stillsten im Lande“ – unterstreicht der Philologe seine Ausnahmesituation während des Holocaust: „Persönlich habe ich, verglichen mit den KZ-Leuten nichts Nennenswertes zu erdulden gehabt und jedenfalls tausendmal Schlimmeres immer wieder unmittelbar mitangesehen, als mir selber zugefügt wurde.“ (A 746 ‹1› [3 Bl. Maschinen mit Korrekturen]) Klemperer reflektiert vor diesem Hintergrund kritisch auf die subjektive Begrenztheit seiner Notate: „Man kann immer nur subjektiv deuten, nicht objektiv wissen.“ (ZAII: 42 [8.3.1942])

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Orte par excellence der entfesselten, zügellosen Ausübung der Macht, der „absolute[n] Macht“, der auf Seiten der Opfer „absolute Ohnmacht“ entsprach: Im Konzentrationslager war jede Rechtsbasis und Ratio für die Häftlinge aufgehoben (vgl. Sofsky 1990: 521).783 Objektiv festzustellen war allein die eigene Vernichtung. Dahingegen gab es im Dresdener „Judenhaus“, das Victor und Eva Klemperer seit 1940 als Insassen bewohnten, trotz der Willkür und Unberechenbarkeit der Gestapo immer noch Grenzen der Vorschriften. Was in den Lagern die „absolute Macht“ zu töten war, war in Dresden die Ermächtigung bzw. Freiheit von Peinigern wie Weser und Clemens, zu schikanieren und zu erniedrigen.784 Zwar war das „Judenhaus“ nicht von der extensiven Tötungsgewalt des KZ beherrscht, doch die Einwohner wurden unablässig gequält und geradeaus dazu aufgefordert, den Freitod zu wählen: „Die Haussuchungen sind bis zur Wasastraße gediehen. Dort sagte man dem Apotheker Sternberg: ‚Warum hängt ihr euch nicht auf?‘ und zeigte ihm, wie man eine Schlinge macht.“ (ZAII: 41 [7.3.1942]) „[D]ie Gestapobluthunde“, wie Klemperer sie nennt (ebd.: 601 [11.10.1944]), waren angehalten, bestimmte Minimalregeln einzuhalten. Trotz Prügel, Einschüchterung, Beleidigung und Erniedrigung hatten die Häscher im „Judenhaus“ – namentlich Clemens und Weser – kein Mandat zum Mord (vgl. ebd.: 316 [24.1.1943]). Auch die Familie Neumann hatte im „Judenhaus“ seitens der Gestapo dieselben Demütigungen zu erdulden. Der Gewalt, den Beschimpfungen und dem Raub zum Trotz war die Gestapo jedoch nicht dazu ermächtigt, Insassen des „Judenhauses“ zu ermorden: Die ganze Zeit wurde von der namenlosen Haussuchung bei ihnen [=bei den Neumanns, A.S.] (wie bei andern) gesprochen. ‚Rollkommando‘ von acht Mann. ‚Das setzt euch auf die Bundeslade‘ (eine Truhe), gemeinste Beschimpfungen, Stöße, Schläge, Frau Neumann erhielt fünf Ohrfeigen. Alles durchwühlt, wahlloser Raub: Lichte, Seife, eine Heizsonne, ein Koffer, Bücher, ein halbes Pfund Margarine (legitim auf Marken gekauft), Schreibpapier, alle Art Tabak, Schirm, die Militärorden (‚Du kannst sie ja doch nicht mehr brauchen‘). – ‚Wo läßt du waschen?‘ – ‚Zu Haus.‘ – ‚Daß du dich nicht unterstehst, deine Wäsche außerhalb waschen zu lassen!‘ – ‚Warum werdet ihr alle so alt? – Hängt euch doch auf, macht doch den Gashahn auf.‘ (ebd.: 19f. [8.2.1942])

Die Tagebücher Klemperers wurden trotz dieser Ausnahmeperspektive – der Perspektive eines minimal geregelten Ausnahmezustandes deutsch-jüdischer Mischehen – von der öffentlichen und (geschichts-)wissenschaftlichen Rezeption in relativ kurzer Zeit kanonisiert und in den Rang von Shoah-Klassikern erhoben. Hier ließe sich eine Brücke von Klemperers rascher Kanonisierung bzw. Sakrali783 In diesem Zusammenhang hebt Hannah Arendt (1998: 907) in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die völlige Zerstörung des Spontanen, des Menschlichen in den Lagern hervor: „Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist.“ 784 Zum alltäglichen Terror im „Judenhaus“ in der Caspar-David-Friedrich-Straße vgl. Reemtsma (1997: 178-183).

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sierung zu der von Aleida Assmann formulierten Definition „kultureller Texte“ schlagen (vgl. Assmann 1995: 241ff.): Die Diarien könnten als kulturelle Texte bezeichnet werden, und nicht einfach als „eng“ literarische, weil sie – Assmann folgend – als kanonisierte und transhistorische Ikone deutscher Vergangenheit zur vorbehaltlosen Identifikation bestimmt sind und die Teilhabe an ihnen als Indiz der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bewertet wird.785 Der Aspekt von Kanon bzw. Kanonbildung spielt für die Ausbildung des kollektiven Gedächtnisses eine gewichtige Rolle. Eine Kanonisierung der Tagebücher unterläuft natürlich keinesfalls ihre Mehrdeutigkeit: Klemperers Tagebücher sind eine subjektiv geprägte Geschichtsdarstellung, die verschiedenartigen Interpretationen unterliegt. Die Frage nach der Edition besitzt historiographische bzw. philologische Implikation, die Frage nach der Publikation vor allem politische, während die Rezeption durch Leser vor allem hermeneutische Implikationen hat. Das Zusammenspiel von Edition, Publikation und Rezeption „macht aus Tagebüchern lebendige Archive, die Vergangenheit nicht konservieren, sondern zur Diskussion stellen.“ (Breysach 2005: 51) In modernen Gesellschaften existieren immer verschiedene Erinnerungsgemeinschaften und -kulturen, unterschiedliche kollektive Gedächtnisse wirken mit- und gegeneinander. Widersprüchliche Dokumente wie Klemperers Tagebücher können insofern auch unterschiedlich interpretiert bzw. instrumentalisiert werden. Zum anderen befindet man sich zurzeit, wie Günter Oesterle (2004: 152f.) bereits vor mehr als 10 Jahren unterstrichen hat, „an einer Epochenschwelle [...], wo die lebende Erinnerung von Zeitzeugen an die großen Katastrophen des 20. Jh.s. schwindet und dafür die Geschichtsschreibung und ihre unterschiedlichen Erinnerungsformen [...] in den Vordergrund treten.“ In Deutschland geht das öffentliche Gedächtnis an das Dritte Reich allmählich von der Generation der Miterlebenden – Täter, Opfer, Mitläufer – auf jüngere Generationen über, was dazu führt, dass die mündliche Überlieferung der Primärerfahrungen von Zeitzeugen abbricht. Das Gedächtnis löst sich mithin von seinen Trägern und wird somit in Zukunft ausschließlich der Repräsentation unterliegen.786 Nicht dem tatsächlich

785 In ihrer Arbeit über die deutsche Gedächtnispolitik der Bonner und Berliner Republik, The War in the Empty Air, kritisiert Dagmar Barnouw (2005) scharf die Vorrangigkeit der Erinnerung an den Holocaust für die nationale deutsche Nachkriegsidentität. Der Holocaust habe einen „suprahistorischen Status“ erhalten (ebd.: xiii), der einen Vergleich mit deutschem Leid prinzipiell unmöglich mache. Die Autorin tadelt vor diesem Hintergrund die Kanonisierung von Klemperers Tagebuch als „kultureller Text“: Sie entlarvt die „politisch korrekte“ Rezeption seiner Aufzeichnungen, die ihrer Meinung nach auf unkritische Weise als „heiliger Text in Deutschland“ hochstilisiert bzw. sakralisiert wurden (ebd.: 116). Der Holocaust als grundlegendes Moment der deutschen Nationalidentität wird aus dieser Perspektive zugunsten einer „Normalisierung“ des deutschen Selbstverständnisses radikal abgelehnt. 786 An dieser Stelle soll der Vollständigkeit wegen betont werden, dass aus empirischen Befunden der Individualpsychologie oftmals hervorgeht, auch Überlebende des Holocaust seien auf die Repräsentation des Traumas angewiesen. Die psychologische Distanz zum Erlebten wird narrativ ausgefüllt: Das Gedächtnis konstruiert und verändert Erinnerungen, die deshalb – in privater und kollektiver Hinsicht – keineswegs ein Eins-zu-eins-Verhältnis von Erlebnis und Erzäh-

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Geschehenen, sondern der Frage, wie die Erinnerung an den Holocaust narrativ vermittelt werden soll, gilt jetzt das Hauptaugenmerk (vgl. Jeismann 2001: 73). Dies führt zu einer Pluralisierung und Fragmentierung der Erinnerung an die Shoah, deren deutende Rekonstruktion nicht mehr nur der Geschichtswissenschaft vorbehalten ist, sondern sich auf die Alltagskultur ausgedehnt hat: Filme, TV-Serien, Ausstellungen, pädagogische Projekte usw. prägen das Geschichtsbild bzw. das kollektive Gedächtnis mit:787 Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. [...] Fundiert wird durch den Bezug auf die Vergangenheit die Identität der erinnernden Gruppe. (Assmann 2002 [1992]: 52f.)

Klemperers Tagebücher, so die These dieses Kapitels, sind auf diese Weise integraler Teil der deutschen Erinnerungskultur und gewissermaßen „in Mythos transformiert“ worden: Sie wurden in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ausführlich diskutiert. Ihre Rezeption stellte ein identitätsstiftendes Moment in der Debatte um die Frage der deutschen Kollektivschuld dar und veranschaulichte auf exemplarische Weise den sich gegenwärtig vollziehenden Mentalitätenwechsel im nationalen Selbstverständnis. Der veränderte Gedächtnisdiskurs nach der Wende determinierte die Lektüre von Klemperers Journal und klang als Interpretationshintergrund in zahllosen Feuilletons, Radio- und Fernsehsendungen an. Die Tagebücher wurden auf diese Weise zu einem Ort der Erinnerung, der beliebig aufgesucht werden konnte, um nationalen Gemeinschaftssinn in einem homogenen bzw. konsensuellen Vergangenheitsdiskurs zu stiften. Das kollektive Gedächtnis einer Nation, so der französische Historiker Pierre Nora (1998: 13), „nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen und unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten und Projektionen fähig [...] und rückt die Erinnerung ins Sakrale.“ Die besagte Sakralisierung der Erinnerung deutet auf die poiesis des kollektiven Gedächtnisses hin: Durch die poietischen Akte der Auswahl, Verknüpfung und ästhetischen Überformung von Wirklichkeitselementen wird die Vergangenheit sozial (re-)konstruiert. Die Vergangenheit wird sinnstiftend narrativisiert, und von ihr entsteht ein Bild, das es so nie gegeben hat (vgl. Erll 2004: 118f.).

lung ermöglichen. Zur Repräsentationsproblematik des autobiographischen Gedächtnisses vgl. Kotre (1996). 787 Saul Friedländer (1990: 31) legt vor diesem Hintergrund nahe, dass postmoderne westliche Erinnerungskulturen für ihr historisches Selbstverständnis hochgradig von breit inszenierten, kulturindustriellen Medienereignissen abhängig sind. Kassenschlager im Literatur- und Filmbereich werden in zunehmendem Maße für die Schaffung eines konsistenten kollektiven Gedächtnisses grundlegend.

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Einen fruchtbaren Ansatz für eine Analyse der Rezeption von Klemperers Tagebüchern aus der NS-Zeit, die Erkenntnisse und Methoden der Literaturwissenschaft sowie der historischen Forschung integriert und zugleich heutige Varianten und Funktionen besser explizieren kann, bietet das von Jan und Aleida Assmann geprägte Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Für die jüngere Forschung der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen hat sich die inzwischen methodisch ausdifferenzierte Untersuchung des kulturellen Gedächtnisses insgesamt als höchst erkenntnisreich erwiesen.

4.2 Victor Klemperer als Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses VICTOR KLEMPERER ALS TEIL DES DEUTSCHEN KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES

Vor allem aufgrund der Vorrangstellung des Zusammenhangs von kollektiver Erinnerung, kultureller Identitätsbildung und politischer Legitimierung macht Jan und Aleida Assmanns gedächtnistheoretischer Ansatz Phänomene wie das Gedenken der Shoah in Deutschland beschreibbar. Je mehr Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verstreicht, desto wichtiger werden die Erinnerungen und Denkschriften. Das kulturelle Gedächtnis der NS-Zeit basiert auf der Übermittlung von Werten; sein Inhalt ergibt sich aus einer bestimmten Interpretation und Auswertung der Vergangenheit. Gewisse vergangene Ereignisse – in unserem Fall der Holocaust – bilden das Fundament der kulturellen Identität. Im Anschluss an Maurice Halbwachs differenziert Jan Assmann vor diesem Hintergrund zwischen zwei Registern des kollektiven Gedächtnisses: In seinem Werk Das kulturelle Gedächtnis unterscheidet Assmann (2002: 48-56) zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist der Phase zuzuordnen, in der jeder Einzelne daran beteiligt ist, den gemeinsamen Erinnerungen seiner Generation Form zu verleihen. Es „umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies [sic] Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“ (ebd.: 50) Diese Zeitspanne erstreckt sich über zwei Generationen in beide Richtungen. Diese Erinnerungen stellen laut Assmann zwar eine Form des kollektiven Gedächtnisses dar, bestehen aber aus einzelnen Erinnerungsteilen. Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich dagegen auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit und war bereits Gegenstand von Kanonisierung, Einschluss und Ausschluss. Von daher ist die Rezeption der Tagebücher Klemperers sehr aufschlussreich im Hinblick auf die Suche nach einer neuen deutschen Identität in der Berliner Republik des wiedervereinigten Deutschlands. In Deutschland ging die Erinnerung an die NS-Zeit in etwa um 1990 von der kommunikativen in die kulturelle Phase über, da die ZeitzeugInnen nach und nach verstarben. Dieser Übergang fiel mit dem Fall der Berliner Mauer und der darauf folgenden Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland zusammen – zeitgleich setzte die kommunikative Erinnerung an das Bestehen der DDR als vollendete und abgeschlossene Ära ein. Hierdurch fand das kollektive Gedächtnis eine komplexe Ausgangsbasis vor: Die DDR und die BRD hatten sich völlig unterschiedliche Versionen der NS-Zeit geschaffen und ihre jeweiligen Varianten

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gepflegt. Der Holocaust wurde erst mit der Debatte um Goldhagen, den in der Wehrmacht-Ausstellung thematisierten Verbrechen der Deutschen Wehrmacht und mit den Diskussionen um das Berliner Holocaust-Denkmal fest im öffentlichen Gedächtnis der Deutschen verankert (vgl. Niven 2002: 137). Zumindest nach außen hin führte die Vereinigung zu einer einheitlicheren Einschätzung der Vergangenheit, welche nunmehr wieder als gemeinsames Erbe angesehen wurde: Das Konzept der transgenerationellen Traumatisierung verändert den ZeugenDiskurs erheblich: Er löst sich ab von der ersten (sterbenden) Generation der Augenzeugen und überblendet, indem er sich auf die zweite und dritte Generation konzentriert, Täter- und Opferperspektive, vor allem aber trägt er dem Rückzug des Zeugnisses aus der Sphäre des Wissens ins Unbewusste dadurch Rechnung, dass er die Zahl und Macht der Vermittlungsinstanzen kontinuierlich steigert. (Blasberg 2006: 26)

Der Generationenwechsel leitet eine Historisierung des Holocaust ein, indem die Erinnerung an die Massenvernichtung nicht mehr von Zeitzeugen, sondern von der Repräsentation Dritter abhängig ist. Für das Gedächtnis nicht selbst erlebter Ereignisse kann in Anlehnung an Maurice Halbwachs (1991: 35, Fußn. 16) der Begriff des „entliehenen Gedächtnisses“ fruchtbar sein. Der Generationenwechsel schlägt sich also im kulturellen bzw. „entliehenen“ Gedächtnis nieder und führt gleichermaßen zu einer veränderten nationalen Gedächtniskultur, die sich als höchst instabil und diffus erweist. Das kulturelle Gedächtnis stellt vor diesem Hintergrund keinesfalls ein feststehendes Archiv dar, sondern zeichnet sich durch Erinnerungskonkurrenzen und -konflikte aus. Die historische Bedeutung der NS-Epoche und der Shoah für das nationale Geschichtsbewusstsein verändert sich laufend und lässt sich somit als konfliktbeladener Ort nationaler Selbstaktualisierung verstehen. Die Spannweite der deutschen Gedächtniskultur reicht vor diesem Hintergrund von einer Schlussstrichmentalität bis zu einer immer neue Erinnerungsprojekte initiierenden „Vergessensangst“ (vgl. Hockerts 2001: 22). Deutsches Leid und deutsche Schuld stehen einander auf diese Weise diametral gegenüber: Der eine Extrempol dieses Gedächtnisspektrums – das deutsche Opferverständnis – birgt die Gefahr in sich, den Tätern ihre Schuld zu erlassen, während am anderen äußersten Ende die Überbetonung der Kollektivschuld die Berücksichtigung deutschen Leidens prinzipiell ausschließt (vgl. Assmann 2006: 196). In den letzten Jahren tritt aber eine Perspektivverschränkung zutage, die – jenseits von reaktionären und revisionistischen Argumenten – diesen Antagonismus zu überbrücken versucht. Victor Klemperers Tagebücher veranschaulichen beispielhaft aus der Sicht eines assimilierten, deutschpatriotischen Juden die Verbindung deutscher und jüdischer Perspektiven auf den Holocaust. Das kollektive Gedächtnis unterliegt aktuell dem Einfluss des Generationenwechsels: die dritte Generation, die – im Gegensatz zur Kriegsgeneration und zur 1968er Generation – nicht von Konflikt und Zäsur geprägt wurde, sondern eine neue Perspektive langfristiger historischer Kontinuitäten adoptiert, scheint den

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„Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) des Holocaust gleichsam zu hinterfragen.788 Infolgedessen erweist sich die Wahrung des perspektivischen Gleichgewichts zwischen Täter- und Opferbewusstsein als mühsamer Balanceakt. Die kollektiven Leidenserfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung spielen vor diesem Hintergrund, so Hannes Heer, heute eine – übermäßig – zentrale Rolle: Ein Bann scheint gebrochen zu sein: Alle reden von der gezielten Auslöschung der deutschen Städte durch die anglo-amerikanischen Luftflotten und erregen sich über die unermeßlichen Leiden der Vertriebenen, ein anonymer Bericht über die Vergewaltigungen durch die Rote Armee konnte zum literarischen Ereignis werden, und ein Roman aus den fünfziger Jahren über die gelungene Flucht aus der russischen Kriegsgefangenschaft wurde zum zweiten Mal verfilmt. Die Deutschen, die gerade begonnen hatten zu begreifen, daß mit den Begriffen Auschwitz oder Treblinka das Ausmaß der Schuld nur unzureichend beschrieben war und daß man in Zukunft die Torturen der Zwangsarbeiter und die Verfolgung der Juden in der Heimat, die Mordtaten der Polizeibataillone und die Verbrechen der Wehrmacht in den besetzten Gebieten dazuaddieren muß, verwandeln sich mit einem Mal in ein Volk von Opfern. (Heer 2004: 7)789

Im Zuge einer Enttabuisierung der Schwerpunktverschiebung von der deutschen Täter- zur Opferperspektive erleben Romane, Dokumentarfilme und geschichtliche Arbeiten, die sich der chiffrehaften Themen „Luftkrieg“, „Vergewaltigung“ sowie auch „Flucht und Vertreibung“ annehmen, in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre einen augenfälligen Boom.790 Aus einem Roman wie Im Krebsgang (2002), in dem sich Günter Grass dem heiklen Thema der Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“ nähert und erzählt, wie tausende Flüchtlinge in den Tod gerissen wurden, tritt eindeutig die Opferperspektive hervor. Auch historische Arbeiten wie Jörg Friedrichs Der Brand (2002), in dem die alliierten Städtebombardierungen unter die Lupe genommen werden, oder das anonyme Tagebuch Eine Frau in Berlin (2003) über das Schicksal eines Vergewaltigungsopfers plündernder Rotarmisten genauso wie Guido Knopps fünfteilige ZDF-Dokumentation Die große Flucht (2004) oder Kai Wessels zweiteiliger Fernsehfilm Die Flucht (2007) zum Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten bis hin zur ZDF-Trilogie Unsere Mütter, unsere Väter (2013) über den Zweiten Weltkrieg haben bundesweit eine breite öffentliche Debatte um die Angemessenheit der aktuellen Erinnerungspolitik ausgelöst. Bedenkt man dazu die Tatsache, dass die Rezeption von Memoiren oder autobiographischen Romanen aus der NS-Zeit mittlerweile ein wesentliches Element der Gedächtniskultur in der Bundesrepublik geworden ist, so erstaunt die Euphorie, mit der die Tagebücher Victor Klemperers nach 1995 aufgenommen wurden. 788 Zur kritischen Reflexion der Erinnerung an den Nationalsozialismus in drei deutschen Generationen – Großeltern-, Eltern- und Nachwuchsgeneration – vgl. beispielsweise Blasberg (2007) sowie auch Leonard (2007). 789 Zur Bedeutung und Deutung des Opferdiskurses in der aktuellen bundesdeutschen Erinnerungspolitik vgl. vor allem Assmann (2006) und Frevert (2003: 9ff.). 790 Einen ausgewogenen Versuch, die Erinnerungswende in der deutschen Literatur nach 1989 zu verorten, unternehmen beispielsweise Beßlich, Grätz und Hildebrand (2006).

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Drei Elemente mögen nach Alexandra Przyrembel (1998: 318) in diesem Zusammenhang entscheidend eingewirkt haben. Zu allererst verkörpert Klemperer scheinbar, wie kaum ein anderer, das Gelingen einer deutsch-jüdischen Symbiose, als nächstes wird die Lektüre der Tagebücher, entgegen der bitteren Einsicht, dass die Deutschen mehr gewusst hatten, als sie nach 1945 zugeben mochten, offenbar deshalb erleichtert, weil sie gleichsam stellvertretend für andere die Courage einer nichtjüdischen Deutschen dokumentieren, zeigen sie doch den Mut und die Tatkraft seiner Ehefrau Eva Klemperer,791 und nicht zuletzt beschreiben Klemperers Tagebücher mit dem Untergang Dresdens ein spezifisch deutsches Trauma.792 Zudem ist ihre Wirkung nicht zuletzt Resultat einer deutsch-deutschen Verständigung über das Dritte Reich und die Nachkriegsgeschichte. Die Frage nach der deutschen Identität Klemperers – war er nun Jude, Deutscher, jüdischer Deutscher oder deutscher Jude? – gewinnt in der Rezeption umso größere Bedeutung, als sie die viel brisantere Frage aufwirft, ob das Deutschland, das nach dem Fall der Berliner Mauer entstanden ist, wieder das Selbstverständnis einer Kulturnation erlangen kann, indem es den Patriotismus und das Deutschtum seiner Opfer – wie im Falle Klemperer – für sich in Anspruch nimmt: Man spricht den Nationalsozialisten jenes Deutschtum ab, das sie damals den Juden 791 Eva stellte für Victor Klemperer die Versinnbildlichung des „wahren“, toleranten Deutschtums dar. Ihre Ehe war ihm ein symbolischer Beweis der Realität fruchtbaren Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden. Die in Mischehe lebenden „arischen“ Frauen riskierten während des Holocaust oft ihr eigenes Leben, indem sie – wenn auch „nur“ aus rein persönlichen Gründen, aus Liebe zu ihrem Ehemann – die Rassenideologie in Frage stellten. Aus diesem Grund stellt Klemperer seiner LTI eine bewegende Laudatio für seine Ehefrau voran (vgl. LTI: 16f.). Angesichts des „Heroismus“ (ebd.) seiner Ehefrau notiert Klemperer nicht lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Tagebuch: „Eva [...] muß überall die Handelnde und Sprechende sein, meine Geistesgegenwart oder Ruhe oder Tapferkeit reicht nicht aus, allein wäre ich bestimmt verloren. Ich bin mir durchaus bewußt, wie sehr sie ihr Leben aufs Spiel setzt, um meines zu retten.“ (ZAII: 714 [2.4.1945]) Für weitere Tagebuchstellen, in denen Evas Selbstaufopferung zentral steht, vgl. z.B. CVI: 380; ZAI: 601f. [6.7.1941]; ZAII: 689 [28.2.1945]; ebd.: 702 [18.3.1945]. 792 Für eine detailliertere Lektüre der Klemperer-Tagebücher unter dem Zeichen des britischen Flächenbombardements auf Dresden am 13. Februar 1945 (vgl. ZAII: 661-672 [22.-24.2. 1945]), das dem Diaristen „eine willkommene Katastrophe“ war (Vees-Gulani 2003: 131; vgl. ebd.: 134-142). Ein weiteres Element mag in diesem Zusammenhang den Erfolg der Tagebücher in der breiten Öffentlichkeit erklären: Victor Klemperer subsumiert sowohl Juden wie auch „Arier“ unter einem gemeinsamen Nenner, dem des Opfers: „Angst haben alle. Die Juden vor der Gestapo, die sie ermorden könnte vor dem Eintreffen der Russen; die Arier vor den Russen, Juden und Arier vor der Evakuierung, vor dem Hunger. An ein rasches Ende glaubt keiner, und Jud und Christ fürchtet auch gemeinsam die Bombenangriffe.“ (ZAII: 653f. [8.2.1945]) Auch in seiner LTI rückt Victor Klemperer angesichts des massiven Luftangriffs auf Dresden die gemeinsame Opferschaft von Deutschen und Juden in den Vordergrund: „[D]ie brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riß Jud und Christ in den Tod.“ (LTI: 330) In diesem Zusammenhang sei auch Walter Kempowskis Textsammlung von Zeitzeugen der Städtebombardierung, Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 (2001), in die zahlreiche Exzerpte aus Klemperers Tagebüchern aufgenommen wurden, erwähnt. W.G. Sebald (1999: 35) kritisiert indes Klemperers Schilderung des Dresden-Bombardements: Sie sei „unwahrscheinlich“ und inauthentisch, weil sie in ihrer „Kühlheit“ nicht dem Stereotyp des unbeschreibbaren Grauens entspreche.

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aberkannten, und gibt es Letzteren wieder zurück. Klemperer läuft Gefahr – malgré lui – im Sinne einer geglätteten nationalen Identität instrumentalisiert zu werden, die den Opfern ein Denkmal setzt und die Täter ausschließt. Demgemäß fasst Sigrid Löffler in der literaturkritischen ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ vom 12. Dezember 1995 Klemperers Selbstverständnis wie folgt zusammen: Er bekämpft die Ost-Juden, er findet den Zionismus grauenerregend. Er empfindet ihn als einen jüdischen Rassismus und insofern setzt er ihn gleich mit dem Nationalsozialismus. Das ist seine politische Haltung. Er hat sich selbst auch gar nicht als Jude gesehen. Er hat sich als Deutschen gesehen... [...] Er wird von Hitler zum Juden gemacht. Und das empört ihn. Und deshalb will er hier bleiben, weil er sagt: ‚Die Nazis sind eigentlich schlechte Deutsche, ich bin der gute Deutsche‘. (Löffler in Reich-Ranicki/Löffler/Karasek 2000: 450)

Auf diese Weise werden die Komplexität, Widersprüchlichkeit, Ortlosigkeit und Enttäuschung in Klemperers Haltung beschworen, und der deutsch-jüdische Diarist avanciert paradoxerweise zum Vorzeigedeutschen, während die Nationalsozialisten gewissermaßen aus dem historischen Rahmen fallen793 – keine Zivilisationskrise, sondern Kontinuität, unterbrochen durch zwölf Jahre, in Klemperers eigenen Worten, „undeutschen“ nationalsozialistischen Wahnsinn (ZAII: 84 [11.5.1942]).794 In der Klemperer-Kritik in Tages- und Wochenpresse nach dem Erscheinen der Tagebücher wird dementsprechend die emphatisch deutsche Identität des assimilierten gebildeten Juden Klemperer von der „falschen“ Identität der „debilen Nazis“ abgesetzt. Klemperer, so Michael Nerlich, habe nie von seiner Überzeugung [ge]lassen, das wahre ‚Deutschtum‘ zu vertreten, und in der Tat: er hatte recht [...]. Er, nicht die debilen Nazis, ist der wahre Vertreter jener deutschen Kulturtradition, die in der Freundschaft Friedrichs des Großen mit Voltaire ihren monumentalsten Ausdruck gefunden hatte. (Nerlich 1996a: 141) 793 Paola Traverso (2007: 42f.) hebt vor diesem Hintergrund die gewissensberuhigende, aber paradoxe Einverleibung der Klemperer-Tagebücher in die Debatte um die deutsche Gedächtniskultur und Nationalidentität hervor: „Dass [...] ausgerechnet ein von Deutschen verfolgter Jude dazu beitragen sollte, der brüchigen Erzählstruktur des deutschen Selbstverständnisses die erwünschte Linearität zu verschaffen, scheint mir – nach Auschwitz – ein Paradoxon zu sein, das von keiner auch noch so gefälligen Gefügigkeit des Textes gerechtfertigt ist.“ Die Tagebücher des Dresdener Romanisten werden vor diesem Hintergrund für Betroffenheitsdiskurse und Identifikationsangebote in Anspruch genommen. 794 Es mag daher kaum verwundern, dass in der 1999 von der ARD ausgestrahlten zwölfteiligen Fernsehserie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ die „deutschen“ Namen der GestapoPeiniger – Schmidt, Müller, Köhler, Weser, Clemens – einheitlich durch den „undeutsch“ klingenden – und im Tagebuch überhaupt nicht vorkommenden – Namen „Malachowski“ ersetzt wurden. Zu diesem Kritikpunkt vgl. Nowojski (2000: 24). Überdies wurde der alltägliche Faschismus stark privatisiert, indem die emotionale Liebesgeschichte des Klemperer-Ehepaares in den Vordergrund gerückt wurde. Margarete und Siegfried Jäger (2000: 16) machen somit im Hinblick auf diese ARD-Verfilmung darauf aufmerksam, dass sich die Serie der Gefahr ausgesetzt hätte, „wenn nicht zu einer Verharmlosung des Holocaust, mindestens aber zu einer Vermenschlichung des Faschismus bei[zu]tragen.“

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Nicht nur wird der Diarist zum Vorzeigedeutschen stilisiert, der Tagebuchautor wird auch trotz seiner Ausnahmesituation zum exakten und allgemeinen Chronisten der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft erklärt, und seine Schilderung einer nicht einheitlich antisemitischen Haltung der Bevölkerung wurde Mitte der 1990er Jahre des Öfteren gegen die als kränkend empfundenen Thesen Daniel Goldhagens ausgespielt: Klemperers Tagebücher wurden vielfach als Entkräftung des „eliminatorischen Antisemitismus“ in die Goldhagen-Debatte einbezogen (vgl. z.B. Ullrich 1997: 89ff.; Frei 1997: 93ff.).

4.3 Klemperer mit und gegen Goldhagen gelesen KLEMPERER MIT UND GEGEN GOLDHAGEN GELESEN

Die deutsche Erstveröffentlichung von Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten erfolgte kurze Zeit bevor die hitzigen Debatten um Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker (1996)795 einsetzten. Ihre Rezeption in der Bundesrepublik gewährt einen Einblick in die zeitspezifischen Weichenstellungen der deutschen Holocaust-Erinnerungskultur in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Goldhagens Erklärungsmuster vom „eliminatorischen Antisemitismus“ (vgl. Goldhagen 1996: 487ff.) geht davon aus, dass die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung dem Holocaust mit Begeisterung zustimmte. Diese freiwillige Zustimmung rührt dem Autor zufolge daher, dass sich in Deutschland seit dem Mittelalter und vor allem seit dem 19. Jahrhundert soziale und kulturelle Strukturen gebildet hatten, die in letzter Konsequenz in den Genozid des jüdischen Volkes mündeten (vgl. ebd.: 71ff.). Zusammenfassend bringt der amerikanische Historiker seine Leithypothese wie folgt auf den Punkt: Die Schlußfolgerung dieses Buches lautet, daß der Antisemitismus viele Tausende ‚gewöhnlicher‘ Deutscher veranlaßte, Juden grausam zu ermorden, und daß auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt. Nicht wirtschaftliche Not, nicht die Zwangsmittel eines totalitären Staates, nicht sozialpsychologisch wirksamer Druck, nicht unveränderliche psychische Neigungen, sondern die Vorstellungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten über Juden vorherrschten, brachten ganz normale Deutsche dazu, unbewaffnete, hilflose jüdische Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden systematisch und ohne Erbarmen zu töten. (ebd.: 22; vgl. ebd.: 458f., 533f.)

Klemperers Chronik des alltäglichen Lebens im Dritten Reich scheint Goldhagens Postulat eines weit verbreiteten mörderischen „eliminatorischen Antisemitismus“ in der deutschen Bevölkerung in großen Teilen zu relativieren. Klemperer legt stattdessen persönliches Zeugnis über eine Vielzahl von Widerstandshandlungen ab. Auch wenn es sich dabei zumeist nicht um bewussten, organisierten Widerstand gegen das NS-Regime handelt, so begegnet er doch immer wieder 795 Einen ausgewogenen Versuch, Victor Klemperers Tagebücher im Lichte der Goldhagen-Rezeption zu analysieren, unternimmt Niven (2002: 119-142). Einen aufschlussreichen Rezensionsessay, in dem u.a. Victor Klemperer, Daniel Goldhagen und Anne Frank aufeinander bezogen werden, verfasste Edith Kurzweil (1996: 368ff.).

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spontanen persönlichen Gesten der Sympathie, Reue und versuchten Wiedergutmachung für unter der NS-Herrschaft erlittene Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten (vgl. Felluga 2000: 156f.; Trumpener 2000: 489).796 Die Tagebücher liefern auch neue Antworten auf die ewige Frage, was und wieviel die deutsche Bevölkerung über den Holocaust wusste, während dieser in vollem Gange war. Die in den „Judenhäusern“ Dresdens internierten Juden kannten irgendwann das ganze Ausmaß: Sie wussten, wo Auschwitz lag (und hatten eine Vorstellung davon, was es bedeutete); sie wussten, dass eine Massenvernichtung vor sich ging und sie wussten, dass sie die nächsten Opfer sein konnten. Doch ihre Informationen stammten hauptsächlich aus Quellen innerhalb der jüdischen Gemeinde und aus illegalen ausländischen Radiosendungen, und trotz relativ häufigen und oft freundschaftlichen Austauschs mit Nichtjuden unternahmen sie aus Angst, denunziert oder der Aufwiegelung beschuldigt zu werden, offenbar wenige Anstrengungen, ihr Wissen weiterzugeben (vgl. ebd.: 490). Goldhagens Studie und Klemperers Tagebücher sind bis zu einem gewissen Punkt vergleichbar und komplementär (vgl. Johnson 2000: 44ff.). Beide beschreiben eine Realität, die bis dahin vernachlässigt worden war: Goldhagen das Morden außerhalb der Konzentrations- und Vernichtungslager, Klemperer die Möglichkeit jüdischen Überlebens innerhalb der Grenzen des Reiches. Beide beschreiben die Auswirkungen des Antisemitismus auf den Einzelnen. Goldhagen beschreibt insbesondere das Leiden der Opfer, während er zugleich die Denkweise der Täter zu ergründen sucht. Klemperers Tagebücher ermöglichen es dem Leser, die Perspektive der Opfer einzunehmen, geben aber auch Einblicke in die Mentalität der deutschen Täter. Goldhagen konzentriert sich auf den einfachen Deutschen an der Tötungsfront, Klemperer beschreibt dessen Verhalten an der Heimatfront. Doch hier ist meiner Meinung nach das Ende der Vergleichbarkeit erreicht. Denn während bei Goldhagen die „einfachen“ Deutschen immer antisemitisch sind, sind sie es bei Klemperer nicht. Klemperers Tagebücher zeichnen ein vielschichtiges Bild des Verhältnisses der Deutschen zu Hitler und den Juden. Während Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker den Holocaust vom Historischen ins Mythische zu transformieren sucht – d.h. den Mythos des archetypischen Deutschen und dessen tief verwurzelten Hass auf die Juden propagiert (vgl. Schuchalter 2009: 175f.) – entledigt Klemperers Werk, indem es einen für den Erzähler viel bedeutsameren Mythos enthält, den Antisemitismus seines mythischen Status und entblößt ihn in all seiner Banalität. Goldhagens problematischer Bericht impliziert, dass die Deutschen in früheren Zeiten böse und gefährlich gewesen seien und jetzt gut und beispielhaft de796 Der ehemalige, 1999 verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Juden, Ignatz Bubis (1996: 68), sieht in Klemperers Tagebüchern, die er als Gegenstück zu Goldhagens Thesen des eingefleischten Antisemitismus des deutschen Volkes betrachtet, einen gegenwartsbezogenen „Hinweis auf die Realität einer entspannten ‚Normalität‘ zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen.“

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mokratisch seien797 – eine maßgefertigte Theorie für diejenigen Deutschen, die es um 1995 herum, wenn auch unbewusst, vorzogen, nach ihrer Niederlage die Vergangenheit begraben zu wissen. So sehr Goldhagens Arbeit von Historikern gerade wegen dieses eindimensionalen und zuweilen emotionalen Argumentationsganges heftiger Kritik unterzogen wurde, so große Zustimmung fand sie bei seiner deutschen Laienleserschaft. Als Ergebnis einer jahrhundertelangen Einnistung des Antisemitismus in der deutschen Volksmentalität, so die Leitthese, waren geradezu alle Deutschen 1933 Antisemiten und deswegen potentielle Täter, während der deutschen Nachkriegsgeneration aufgrund ihrer kollektiven Katharsis die erlösende Absolution erteilt wird (vgl. Frevert 2003: 8). Indem sie den Deutschen auf diese Weise eine quasi-religiöse Sichtweise auf die Vergangenheit ermöglichten, trugen Goldhagens Thesen und die daran anknüpfenden Diskussionen eher dazu bei, die Analyse des Holocaust zu einem Ende zu bringen, als in einer kontinuierlichen Anstrengung verstehen zu lernen, wie grundlegend und entscheidend dieses Ereignis die heutige westliche Kultur und die Zivilisation in ihrer Gesamtheit beeinflusste. Indem er den notwendigen Versuch unternahm, Gräuel von nie da gewesenen Dimensionen zu erklären, hat Goldhagen sie unbeabsichtigt trivialisiert (vgl. Zank 1998: 231ff.). Kritiker des Buches in den Vereinigten Staaten schrieben dessen Erfolg der impliziten politischen Agenda zu, einer Meinungsmaschinerie, welche die antideutschen Vorurteile der Amerikaner bediente, während sie Amerikas demokratische und moralische Tradition glorifizierte. Goldhagen wurde beschuldigt, mit einem emotionsgeladenen, voreingenommenen Zionismus hausieren zu gehen.798 In einer Übersicht journalistischer Reaktionen auf die Goldhagen-Kontroverse stellen Volker Ullrich (1997: 89ff.) und Norbert Frei (1997: 93ff.) Klemperers vielseitige und oft zwiespältige Beschreibungen der Deutschen und Juden Goldhagens eindimensionalem, dämonischem Portrait NS-Deutschlands gegenüber. Victor Klemperers Chronik gibt die Alltagsrealität eines dem Holocaust entgangenen Juden wieder, der dank des Privilegs einer Mischehe die nationalsozialistische Herrschaft überlebt hat. Das verringert keinesfalls den Wert des Berichtes, macht ihn aber mit einer historischen Studie wie der Goldhagens – die sich gerade mit den Tätern des Holocaust befasst – a priori wenig vergleichbar (vgl. Rüttinger 2011: 57). Die Politikwissenschaftlerin und Historikerin Susanne Heim 797 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt Goldhagen (1996: 13) diesbezüglich: „Die Niederlage im Krieg und der Aufbau eines demokratischen Systems im Nachkriegsdeutschland sorgten dafür, daß im öffentlichen Bereich an die Stelle der alten antidemokratischen und antisemitischen Vorstellungen neue demokratische Überzeugungen und Werte traten. Statt wie die politischen und gesellschaftlichen Institutionen vor 1945 antidemokratische und antisemitische Ansichten zu propagieren und zu bestärken, haben die Institutionen der Bundesrepublik Vorstellungen von Politik und Menschlichkeit gefördert, die dem Antisemitismus der NS-Zeit und der Zeit davor entgegenstehen und ihm die Legitimation entzogen haben.“ 798 Für eine Sammlung kritischer Antworten auf Goldhagen, die von einer Reihe hochkarätiger Historiker wie Eberhard Jäckel, Hans Mommsen und Jacob Neusner vorgebracht wurden, vgl. den 1997 von Franklin H. Littell herausgegebenen Band Hyping the Holocaust. Scholars Answer Goldhagen.

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spricht vor diesem Hintergrund von einer weitgehend missbräuchlichen, revisionistischen und normalisierenden Lektüre der Tagebücher: Je länger die Erfolgsgeschichte [von Klemperers Tagebüchern] dauert, desto stärker meldet sich der Verdacht, dass das deutsche Publikum Klemperer so liebt, weil sein Urteil über die Deutschen und ihre Verantwortung für die NS-Verbrechen ungleich milder ausfällt als das von Daniel Goldhagen. (Heim 1997: M6)

Dieser kritischen Lektüre müsste man allerdings hinzufügen, dass Klemperers Versuch der Herstellung einer Dichotomie zwischen Nationalsozialisten und Deutschen (vgl. z.B. ZAII: 84 [11.5.1942]; ebd.: 105 [30.5.1942]) nicht nur von der revisionistischen Geschichtsschreibung vereinnahmt wird, sondern auch den traditionellen Wünschen und Sehnsüchten der deutschen Juden entspricht.799 Von daher ist die absolute Trennlinie zwischen Goldhagens und Klemperers Darstellungen hauptsächlich ein Konstrukt der populären Polemik. In Wirklichkeit behaupten beide, „der jüdische Krieg“ sei die primäre Antriebskraft des Holocaust gewesen, und beide beschwören letztendlich einen mythischen Täter: bei Goldhagen ist es „der Deutsche“, bei Klemperer „der Nazi“ (vgl. Schuchalter 1998: 25). In den Tagebüchern, die die Jahre 1933 bis 1945 umfassen, handelt es sich um ein erzähl- und mitteilbares Leben, dessen Darstellung auf einem semantischen Code fußt, den Text und Leser teilen, und der deshalb die narrativen Grenzen der Sprache, die dieses Leben erfahrbar machen, nicht sprengen muss. Beim Lesen dieser Tagebücher, so hebt Fritz Rudolf Fries (1995: 6) als positive Lektüreerfahrung hervor, „kommt [es] zu einer Fusion zwischen Leser und Autor.“800 Nicht so die Erinnerungen von Überlebenden der Konzentrationslager, an deren kaum kommunizierbarer Erfahrung der Entwürdigung und der Entmenschlichung die Repräsentationsfähigkeit der Sprache versagt, und an deren Berichten der so oft für die Chronik Klemperers herangezogene Begriff der Authentizität seine Sinnlosigkeit zeigt (vgl. Traverso 1997b: 322). Die Gültigkeit des Zeugnisses der Überlebenden der Shoah beruht nämlich wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem kaum Zeugnis abgelegt werden kann. Das gleichzeitige Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit und der Unzulänglichkeit des Zeugnisses lässt sich nur schwer aufheben, es bleibt in vielen Fällen eine Aporie. Die Tagebücher Klemperers erweisen sich diesem 799 Vor diesem Hintergrund schreibt Klemperer beispielsweise in seinem Tagebuch: „Es gibt keine deutsche oder westeuropäische Judenfrage. Wer sie anerkennt, übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren Dienst. Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts.“ (ZAI: 456 [10.1.1939]) 800 Diese „Fusion“ zwischen Opfer und Leser macht in besonderem Maße deutlich, wie Emotionalisierung und Identifikation im Endeffekt Vehikel von Distanzierung und Vergessen sein können. Sie bergen einerseits die Gefahr, eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Welt der Täter zu verhindern, andererseits mag die geleistete „Mitbuße“ durch die Identifikation mit dem Opfer zu einer Befreiung von der Last der Erinnerung führen (vgl. Traverso 1997b: 339f., Fußn. 96).

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Verständnis zufolge als ungeeignet, die Historiographie der Vernichtung der europäischen Juden neu zu schreiben. Die deutsche Rezeption, die den Tagebüchern den Rang einer getreuen Chronik des Holocaust andichtet, reduziert die Shoah auf die Dimension des Darstellbaren, Erträglichen und Normalisierten. In „Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, der Rede, die Hannah Arendt am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises in Hamburg hielt, bringt die Philosophin die Tendenz zur „Sentimentalisierung“ des Holocaust zur Sprache, die ihrer Meinung nach dazu führe, „das ‚Negative‘ zu vergessen und das Furchtbare ins Sentimentale zu verfälschen (wobei der Welterfolg von Anne Franks Tagebuch ja deutlich zeigt, daß solche Neigungen nicht auf Deutschland beschränkt sind).“ (Arendt 1989: 35) Die ausgesprochen rege Aufnahme der Tagebücher Anne Franks von der internationalen Öffentlichkeit ist weitgehend auf dieselben Erfolgskriterien zurückzuführen, die auch in puncto Klemperer-Tagebücher eine Rolle gespielt haben mögen: Beide Texte stellen – im Gegensatz zu entfremdenden KZ-Zeugnissen – gewissermaßen erzählbare und darstellbare Narrative der Judenverfolgung dar. Die Erzählbarkeit macht gewiss einen der Erfolgsgründe der Aufzeichnungen aus. Aber daneben mögen auch die relativ milde Beurteilung der NS-Gesinnung in der deutschen Bevölkerung und die prägnante Hervorhebung der eigenen deutschen Identität eine bedeutende Rolle gespielt haben. In unterschiedlichen Rezeptionskontexten wird Klemperer abwechselnd – und stets mit entsprechenden Textbelegen untermauert – als „typisch deutsch“ oder als „typisch jüdisch“ vorgestellt. Klemperers komplexe Identitätsfrage wird in den verschiedensten Konstellationen der Rezeption somit auf fragwürdige Weise entproblematisiert. Bereits im Jahr 1987 – unmittelbar unter dem Zeichen des Historikerstreits stehend – stellte Dan Diner die politische Normalisierungstendenz zur Ausklammerung des Holocaust als primäres Identifikations- und Definitionsmoment des westdeutschen Selbstverständnisses fest: Nationale Identität nach Auschwitz? Es ist zu vermuten, daß die Realisierungsabsicht dieser Sehnsucht sich an der absoluten Schranke Auschwitz stoßen wird, mit dem Ergebnis, daß Auschwitz nicht nur in seiner Bedeutung als massenhafter Judenmord, sondern auch als Zivilisationsbruch beiseite geschoben oder durch Historisierung abgetan werden wird. Die Tendenzen, die in eine solche Richtung weisen, sind unübersehbar. Mag sein, daß [...] die kollektive Verspannung sich lockert, die Starre der Elterngeneration, die wie ein Leiter in beredtem Schweigen zurückgehaltene Gefühle übertragen hat, sich nunmehr in den Kindern auflöst und dabei den Drang nach Versöhnung mit der Geschichte auslebbar macht. (Diner 1987b: 195)

Diese geschichtliche Versöhnungstendenz, die von Jürgen Habermas (1985b: 261) auf polemische Weise als das Verlangen nach „Entsorgung der Vergangenheit“ bezeichnet wird, macht sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem schrittweisen Verschwinden der „Tätergeneration“ immer deutlicher bemerkbar. Dieses zeithistorische Phänomen lässt sich beispielhaft an der strategischen Inanspruchnahme der Klemperer-Tagebücher durch Konrad Löw und Martin Walser nachvollziehen.

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4.4 Erinnerungspolitische Inanspruchnahme: 4.4 Konrad Löw und Martin Walser ERINNERUNGSPOLITISCHE INANSPRUCHNAHME

Klemperers Tagebücher unterwandern die traditionelle Opfer-Täter-MitläuferSchablone und verbieten klar abgestufte Pauschalisierungen, ohne jedoch die Gräueltaten der Verfolger zu entschuldigen. Gerade das bunte Mosaik unterschiedlichster Meinungen und Gefühle bringt die Gefahr einer selektiven Inanspruchnahme der autobiographischen Aufzeichnungen aus der NS-Zeit mit sich. Klemperer wird zu einer Wunschfigur der deutschen Geschichtsschreibung, indem die Idealvorstellung der deutsch-jüdischen Assimilation, an der der Tagebuchautor – allerdings schwankend – bis zum Letzten schwärmerisch festhält, durchblicken lässt, wie Deutschland ohne Hitler und seine Gefolgsleute hätte sein können.801 Klemperers Überidentifikation mit Deutschland macht den Diaristen in besonderem Maße für politische Vereinnahmung anfällig. So konstatiert Rafael Seligmann (1999) ironisch in einem Welt-Artikel, betitelt „Der Musterjude“: „Die Tagebücher des Victor Klemperer avancierten zur Bibel der vergangenheitsbewussten Deutschen.“ Doch anhand von Klemperers Erlebnissen die Geschichte der jüdischen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus in toto nachzuzeichnen, stellt sich als höchst problematisch heraus, da den Autor dank dem fortdauernden Engagement seiner „arischen“ Ehefrau Eva nicht das Schicksal der überwältigenden Mehrheit der Juden in der Shoah ereilte. Unter Rückgriff auf Klemperers Tagebücher aus der NS-Epoche findet in der Rezeption vielerorts eine implizite Apologie der Deutschen statt. Die Schuldfrage der deutschen Zivilbevölkerung wie die Problematik der deutsch-jüdischen Identität wird dadurch entproblematisiert und erinnerungspolitisch instrumentalisiert, dass der jüdische Tagebuchautor für eine Geschichtsschreibung vereinnahmt wird, die dazu tendiert, den Nationalsozialismus als undeutschen accident de parcours zu beschreiben.802 Unter diesem Gesichtspunkt könnte Wahrheit in der Behauptung stecken, dass Klemperers Tagebücher sich als Argumentationshilfe für die revisionistischen Holocaust-Forscher eignen, die sich nach der Wiedervereinigung mit dem Ziel formierten, die Deutschen von der kollektiven Schuld freizusprechen und ihnen zu ermöglichen, wieder zu einer „normalen“ Nation zu wer-

801 Peter Fritsche (2006: 28ff.) macht anhand eines close reading einer Textpassage vom 23. Januar 1944 kritisch darauf aufmerksam, dass der Diarist den Holocaust tatsächlich nicht als Zivilisationsbruch verstand – er setzte den Nationalsozialismus klar von Deutschland als Kulturnation ab – und so trotz allem an einem erlösenden nationalen Diskurs festhalten konnte. Klemperers Identitätsdiskurs weist so gesehen hervorstechende Ähnlichkeiten mit der heutigen Geschichtspolitik in Deutschland auf. 802 Saul Friedländer (1987: 38f.) weist darauf hin, dass vor allem links orientierte Historiker, indem sie von der historischen Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen und Einrichtungen im Dritten Reich ausgehen, sich konservativen Historikern widersetzen, die „den Nazismus als ein bloß temporäres, ja zufälliges Phänomen an[...]sehen, das Deutschland durch Hitler und seine Partei aufgezwungen worden war. Der nationale Schaden wäre begrenzt und die deutsche Geschichte sowohl vor 1933 wie nach 1945 von allem Übel frei.“

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den.803 Die Tatsache, dass die Tagebücher von einem Juden verfasst wurden, wird von den Vertretern dieser Sichtweise als zusätzliche Rechtfertigung genutzt. In die gleiche Kerbe schlägt der deutsche Schriftsteller Martin Walser804, wenn er im Jahre 1995 anregt, dass die umfassende Rezeption von Klemperers Tagebüchern eine Alternative zum Bau des Holocaust-Mahnmals in Berlin sein könnte: Wer die Klemperersche Schule der Genauigkeit durchläuft, wird Mitleid haben mit denen, die es sich zur Lebensaufgabe machen, den Opfern des NS-Terrors ein sichtbares Denkmal zu setzen. Kann es einen heftigeren Kontrast geben als den zwischen dem Glauben, dass dem Ausmaß des Grauens durch gigantische Dimensionen entsprochen werden müsse, und der unwiderstehlichen Genauigkeit dieser in der Sprache aufgehobenen Grauensmomente? … Sinnvoll wäre, dass Klemperer überall gegenwärtig wäre, dass er zu einer wichtigen Auskunftsquelle über diese Epoche deutscher Geschichte werden würde. Ich kenne keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur fassbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut. (Walser 1995: 146)805

Diese Erinnerungspflicht wird auch im Unterschied zwischen Gedenken und Zeugnis thematisiert. Das Gedenken impliziert eine Zeitbarriere, rückt die Vergangenheit bewusst in eine annehmbare Distanz und entdramatisiert auf diese Weise selbst die dramatischsten Ereignisse. Das Zeugnis ist reiner Erfahrungsinhalt, das Gedenken hingegen ist rituell in der Entfaltung seiner zeremoniellen Formalismen. Das Zeugnis ist Inhalt, das Gedenken ist Form, so könnte man überspitzt formulieren (vgl. Ankersmit 1996: 221). Auf der einen Seite kann man Walsers Kritik zustimmen, dass dem Undarstellbaren des Holocaust die schiere Präsenz, dann aber auch Fixiertheit und Zentralität eines Mahnmals gegenüberstehen sollte, das freilich weder der Absenz noch der Pluralität noch – in seiner Monumentalität – dem Opferstatus der Betroffenen gerecht wird. Andererseits sagen Klemperers Tagebücher der NS-Zeit nichts aus über das unbezeugbare Leid 803 In einem Spiegel-Artikel anlässlich des Erscheinens der Klemperer-Tagebücher vertritt Martin Walser (1995: 143) die Ansicht, die deutsch-jüdischen Verhältnisse seien – angesichts der anhaltenden Zuwanderung jüdischer Russen – so gut wie normalisiert: „Deutschland ist, auch wenn das die Verklärer des häßlichen Deutschland nicht wahrhaben wollen, ein Einwanderungsland, auch für Juden.“ 804 Eine kritische Annäherung an Martin Walsers Interpretation von Klemperers Tagebüchern liefern Heidsieck (2004), Richards (1999: 131ff.) und Taberner (1999). Für eine einleuchtende Kritik an Walsers Prinzip Genauigkeit soll weiters auf Klengel (2000: 183f.) aufmerksam gemacht werden. 805 Gustav Seibt (1997: 46) stimmt explizit Walsers These des Ersatzwertes von Klemperers Tagebüchern für ein – damals noch zu bauendes – Holocaust-Mahnmal zu. Er hebt die Gefahr der Ästhetisierung und Monumentalisierung des Holocaust hervor. Im Gegensatz dazu vertritt Siegried Jäger (1999b: 15), Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), eine radikal entgegengesetzte Meinung. Ihm zufolge sei Walsers Klemperer-Rezeption, wie sie in seiner Frankfurter Paulskirche-Rede deutlich zum Ausdruck kommt, durch ein reaktionäres Normalitätsbestreben gekennzeichnet: „Es geht Walser und all denjenigen, die sprechen wie er, nicht um ein Verstehen von Auschwitz, sondern um die Rückkehr zu deutscher Normalität, bei der Auschwitz nur stört. [...] Die Walser-Debatte macht deutlich, daß wir die Holocaust-Denkstätte in Berlin unbedingt brauchen, als Erinnerungs-Mahnmal für die Toten [...], so groß und beeindruckend, daß es nicht weggeschwätzt werden kann!“

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derjenigen, die von der Tötungsmaschine in Babi Jar, Chelmno oder Auschwitz betroffen waren. Nacherzählt von Intellektuellen wie Walser, laufen Klemperers Tagebücher also Gefahr, im Reich der Mythen – in diesem Fall des Mythos eines Deutschlands ohne die „Last“ der Erinnerung an den Holocaust – aufzugehen. Sobald die gemeinschaftliche Erinnerung schwindet – die Zeugen sterben – ist man nur allzu gerne bereit, die Lücke mit einem Mythos zu füllen (vgl. Josipovici 1999: 323). In einem beachtlichen Teil der Klemperer-Rezeption wird der Romanist dementsprechend sowohl aufgrund seines jüdischen Opferstatus als auch wegen seines deutschen Patriotismus und seiner Assimilation als idealer Kronzeuge des Wunschdenkens eines Deutschland ohne Holocaust bzw. als „Musterjude“ (Seligmann 1999) präsentiert: „Victor Klemperer ist die vollkommene, ja ideale Menschenfigur für den deutschen Erinnerungskonflikt. [...] Durch seine Tagebücher, durch sein Leben wird noch einmal vorstellbar, wie es auch hätte anders kommen können.“ (Walser 1998a: 61)806 Für Stuart Taberner (1999: 710ff.) findet diese Konstruktion in Walsers Klemperer-Deutung jedoch nur statt, um die Auflösung der Täter-Opfer-Trennung zu ermöglichen.807 Wenn nicht mehr differenziert würde zwischen unschuldigen Deutschen und jüdischen Opfern, so gäbe es auch keine Schuldfrage mehr, die einem „harmonischen“ nationalen Selbstverständnis ohne die ständige Orientierung am Holocaust im Wege steht. Die Assimilation der Juden in Deutschland gilt Walser als Lösung der sozialen Ausgrenzungsproblematik: Die assimilatorischen Bestrebungen der deutschen Juden werden auf Kosten ihrer zionistischen Tendenzen lobend hervorgehoben, und der Zionist Gershom Scholem wird vor diesem Hintergrund als negatives Gegenbeispiel von Klemperer abgesetzt (vgl. Walser 1996: 32f.). In seiner Dissertation über Judendarstellung und Auschwitzdiskurs in Martin Walsers literarischem Œuvre, ‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘, untersucht Matthias N. Lorenz die Beziehung des genannten Literaten zu Juden aus Vergangenheit und Gegenwart, darunter Ignatz Bubis, Marcel Reich-Ranicki, Ruth Klüger, Heinrich Heine und eben auch Victor Klemperer. Walser erkenne ihnen ihre 806 In seinem viel beachteten Essay „Das Prinzip Genauigkeit“ vertritt Walser weiterhin die Meinung, Victor Klemperer gelte aufgrund seiner Assimilation und Germanophilie als normatives Vorbild der deutsch-jüdischen Symbiose: „Hätte das deutsche-jüdische Zusammenleben unter zivilen und zivilisatorisch normal sich weiter entwickelnden Verhältnissen zu nichts als zur schlimmsten Katastrophe führen müssen? Ich habe für diese Art Wunschdenken sonst wenig Gelegenheit, aber Klemperers Schriften, in denen acht Jahrzehnte dieses Zusammenlebens festgehalten und nacherzählt werden, zwingen einem dieses nachträgliche Wunschdenken förmlich auf. Und ich überlasse mich ihm nur zu gern. Viel lieber als dem, was nachher Wirklichkeit wurde.“ (Walser 1996: 34) Für eine kritische Auseinandersetzung mit Walsers KlempererRezeption in „Das Prinzip Genauigkeit“ vgl. Taberner (2005: 173f.). 807 Stuart Taberner (1999) weist in seiner Analyse von Martin Walsers Das Prinzip Genauigkeit und Die Verteidigung der Kindheit nach, wie die literarische Bearbeitung von Victor Klemperers Tagebüchern vordergründig dem Zweck dient, die misslungene deutsch-jüdische Symbiose wieder ins Leben zu rufen und einen komplexbefreiten kulturellen deutschen Nationalismus zu fördern. Die deutsche Bevölkerung wird auf diese Weise in Walsers Werken von der Mittäterschaft an den NS-Verbrechen frei gesprochen.

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Eigenständigkeit als jüdische Deutsche ab, indem er sie entweder ausschließlich als Deutsche oder vorrangig als Juden wahrnehme. Die jüdische Identität gelte infolgedessen in Walsers Werken als Negativfolie der deutschen Nationalidentität (vgl. Lorenz 2005: 247; 256).808 Der Subtext in Walsers Rezeption der Tagebücher des jüdischen Romanisten gründet in der impliziten Annahme, dass Klemperer gerade deswegen als „prototypischer Deutscher“ gilt, weil er aufgrund der Assimilation und des patriotischen Pathos seine jüdische Identität zum größten Teil abgelegt hatte, was als durchaus zu begrüßender „Wille zum Deutschsein“ interpretiert wird. Schlussfolgernd bedeutet dies aber auch eine klare und polemische Absage an das religiöse und kulturelle Selbstbewusstsein des deutschen Judentums, das sich, so der unterschwellige Tenor in Walsers Klemperer-Rezeption, selbstverschuldet marginalisiert haben mag.809 So heißt es aus Anlass der heftigen öffentlichen Reaktionen auf das Erscheinen des gegen den berühmten deutsch-jüdischen Literaturkritiker Marcel ReichRanicki gerichteten Romans Tod eines Kritikers in einem 2002 aufgezeichneten Interview von Karim Saab mit Martin Walser in der Märkischen Allgemeinen: Anhand der Klemperer-Geschichte habe ich dargestellt, dass das deutsch-jüdische Verhältnis nicht in Auschwitz hätte enden müssen. Es hätte unvorstellbar harmonisch verlaufen können. Da hat man mir vorgeworfen, das sei eine Verharmlosung von Auschwitz. Aber die Anpassung von Klemperer hat für mich nichts mit Moral, sondern mit Vitalität zu tun. Niemand möchte abseits sein, alle möchten dazugehören und gesellschaftlich dabei sein. Das ist etwas Gesundes, etwas Normales. (Walser 2002: 92)

Für die Durchführung des Holocaust, so der fragwürdige Subtext im vorangehenden Zitat, werden demnach die Juden selbst, soweit sie selbstbewusst religiös und politisch engagiert waren, verantwortlich gemacht. Wenn es keine Zionisten, keine Ostjuden, keine religiösen Juden, nur „Angepasste“ wie Victor Klemperer gegeben hätte, hätte Walser zufolge „das deutsch-jüdische Verhältnis nicht in Auschwitz [...] enden müssen.“ Der Schriftsteller fühlt sich demnach als Opfer des Holocaust, weil diese Zäsur einen „normalen“ Umgang mit der eigenen Nation verbietet bzw. erschwert. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex bringt in einem Zeit-Artikel diese Täter-Opfer-Umkehrung wie folgt kontrovers auf den Punkt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ (Zvi Rex in Joffe 2003). Indem Walser (1999: 19) emphatisch betont, das deutsch-jüdische Verhältnis sei keineswegs eine „Schicksalskatastrophe“, widersetzt er sich gleichzeitig der an808 In einem späteren Aufsatz heißt es diesbezüglich bei Lorenz (2007: 153f.): „Das Jüdische [...] fungiert nach wie vor als negative Projektionsfläche, als Kehrseite des Eigenen. Walsers Konstruktion eines vermeintlich homogenen ‚Wir‘ exkludiert jüdische Deutsche und Opfer des Holocaust, weil es sich über die gemeinsame ‚Schande‘ definiert.“ 809 In diesem Zusammenhang nimmt Frank Michael Schuster (2003: 108) die angeblich „antisemitischen Klischees“ in Walsers Publizistik unter die Lupe und hebt in Hinblick auf die Klemperer-Thematisierung bei Walser hervor, dass in dessen Werk „in Deutschland Juden nur dann Juden sein durften beziehungsweise dürfen, wenn sie keine mehr sind.“ (ebd.: 97f.)

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geblichen „Instrumentalisierung“ (Walser 1998b: 17) des Holocaust als „Einschüchterungsmittel oder Moralkeule“ (Walser 1999: 20) in der Debatte um die deutsche Identität nach der Wiedervereinigung. Klemperer wird geradezu als Befürworter einer von Komplexen befreiten deutschen Nationalidentität hochstilisiert. In diesem Zusammenhang übt Martin Lorenz schärfste Kritik an der selektiven Aneignung von Klemperers Tagebüchern und den darin vertretenen Standpunkten: Er [=Martin Walser, A.S.] bedient sich der Klemperer-Tagebücher, um daraus ein Potpourri von Positionen zu extrahieren, mit denen er seine eigene Rede speist. Es spricht fast in allen Passagen jemand, den Walser zitiert: Klemperer oder wiederum bei Klemperer Zitierte. Und doch hat Walser daraus einen Text montiert, der eine klare Aussagekraft hat, die an Klemperers Intentionen vorbei und weit darüber hinaus geht: Die moralische Demontage des selbstbewussten Judentums. (Lorenz 2005: 249)

Eine ähnliche erinnerungspolitische Amalgamisierung von Klemperers komplexen bzw. widersprüchlichen Tagebuchnotizen lässt sich auch in Konrad Löws 2006 erschienener Publikation ‚Das Volk ist ein Trost‘. Deutsche und Juden 19331945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen bemerken. Der Bayreuther Emeritus für Politikwissenschaft unterzieht Robert Gellately, der ebenfalls Klemperer zu Wort kommen lässt, aber durchaus andere Schlüsse zieht, heftiger Kritik: „Laut Klemperer ist die Mehrheit ,in mehr oder minder hohem Maße antinazistisch‘, Gellately will alle Deutschen zu Hitlers Volk, zu Nationalsozialisten machen.“ (Löw 2006: 185) Neben Gellately wird auch Goldhagen von Konrad Löw immer wieder als Gegenpart zu Victor Klemperers Zeugnis der NS-Ära angeführt. Klemperers Notizen seien aufgrund ihres erfahrungsunmittelbaren Zeugniswertes glaubwürdiger als die Forschungsergebnisse der beiden amerikanischen Historiker. Löw ist der Überzeugung, dass Klemperers Tagebücher im Vergleich zu wissenschaftlichen Werken wie solchen von Gellately und Goldhagen einen überlegenen Erkenntniswert besitzen, da die Zeitgenossenschaft und das Deutschsein des Tagebuchverfassers einen erhellenden Einblick in die NS-Epoche aus erster Hand gewähren. Mit den Gegensatzpaaren ›deutsch/amerikanisch‹ und ›zeitgenössisch/nachträglich‹ hebt Löw die angeblich unhinterfragbare Authentizität der Tagebücher hervor und rechtfertigt deren Validität: Wer Klemperer liest und sein Leben betrachtet, wird stutzig und fragt sich, wer das deutsche Volk der NS-Ära zutreffender beurteilt – amerikanische Nachkriegskinder wie Goldhagen und Gellately, oder Leute wie Victor Klemperer, die, im deutschen Volk lebend, das NS-Regime vom ersten bis zum letzten Tage erlitten haben. Sein Urteil: ‚Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde‘. (Löw 2008: 18)810

810 Vor diesem Hintergrund sucht Löw im selben Artikel in der konservativen Berliner Wochenzeitung Junge Freiheit die These zu demontieren, die große Mehrheit der Deutschen seien willige Vollstrecker der NS-Judenpolitik gewesen. Auf höchst paradoxe Weise werden Historiker wie „Goldhagen, Gellately und andere“ zu Befürwortern von Hitlers Phantasma der mystischen

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Victor Klemperers Tagebücher, in denen der Antisemitismusvorwurf an die deutsche Zivilbevölkerung stellenweise811 gänzlich aufgehoben wird, werden im vorangehenden Passus aus entlastenden Gründen gegen die kritische Geschichtswissenschaft ausgespielt. Diese kritische Geschichtswissenschaft vertritt die Ansicht, der Holocaust sei mit dem Wissen und der Billigung der deutschen Zivilbevölkerung, deren Haltung sich weitgehend durch „Passivität und Anpassung“ kennzeichnete (Steinbach und Tuchel 1994: 11), vollzogen worden. Konrad Löw sucht mittels einer Vielzahl von nach eigenem Ermessen ausgewählten Zitatfragmenten812 Entlastung bei jüdischen Zeitzeugen wie Klemperer, um die Mitwisserschaft der Deutschen an den antijüdischen NS-Verbrechen zu dementieren.813 Es erscheint Löw im zusammenfassenden Schluss seiner Arbeit darum durchaus gerechtfertigt, Jochen Kleppers Zitat ‚Das Volk ist ein Trost‘ als provokativen Anstoß zur Reflexion zu wählen, zumal sich auch Victor Klemperer und zahlreiche andere Juden fast wortgleich geäußert haben. Der denkbare Einwand, die Ermordeten konnten sich nicht äußern und ihre Erfahrungen schildern, vergißt, daß die Mehrheit der Juden, die 1933 in Deutschland lebten, der Vernichtung entgangen sind. (2006: 337)

Löw setzt sich mit diesem Zitat dem Verdacht aus, unter Rückgriff auf Victor Klemperer die Geschichte der deutschen Juden im Dritten Reich im Sinne einer Identität von „Volk, Reich und Führer“ herunterstilisiert. Diesem Wunsch kämen diese Autoren, so Löw (2008: 18), wider besseres Wissen posthum nach: „Eine derartige Übereinstimmung hatte Goebbels’ Propagandaministerium im Einvernehmen mit Hitler die Welt glauben machen wollen. Jetzt unternehmen es Goldhagen, Gellately und andere zumindest leichtfertig, diesen Willen Hitlers noch umzusetzen.“ 811 Die Unbeständigkeit von Selbst- und Fremddarstellung ist ein Wesensmerkmal der am Tagesgeschehen orientierten Notizhefte. Positive und negative Einschätzungen zum Antisemitismusgrad des deutschen Volkes halten sich die Waage und wechseln sich je nach Klemperers eigenen Erlebnissen kontinuierlich ab. Sie sind schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Entgegen dem von Löw wiederholt herangezogenen Zitat „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde“ (ZAI: 677 [4.10.1941]) vertritt der Diarist anderweitig die entgegensetzte Meinung, dass der Nationalsozialismus bzw. Antisemitismus sehr wohl fester Teil der „deutsche[n] Grundnatur“ (ZAI: 681 [25.10.1941]; vgl. ebd.: 367 [13.7.1937]; ebd.: 379 [29.9.1937]; vgl. ZAII: 209 [17.8.1942]) sei. Diese kritischen Aussagen werden von Konrad Löw nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. Die Überbetonung von Klemperers Entschärfung der Regimetreue des deutschen Volkes verkennt darüber hinaus das tiefgründige Verlangen des Diaristen, auf dem inhärent humanistischen Charakter des – einstmals – so verklärten Deutschtums zu beharren, das als Interpretationsfolie das Wahrgenommene überdeterminieren und in dessen Bewertung mitklingen mag. 812 Wolfgang Benz (2007), Historiker und ehemaliger Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, kritisierte in einem Zeit-Artikel aufs Heftigste die Zitatwillkür und die mangelhafte Wissenschaftsmethodik von Löws Arbeit: „Wenn man willkürlich Zitate sucht, um eine vorgefasste Meinung zu stützen, dann ist das nicht Wissenschaft. Hier werden Zitatsplitter missbraucht, um Vorurteile zu garnieren.“ 813 Natürlich kann eine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage der deutschen Zivilbevölkerung hier nicht en détail erörtert werden, aber stellvertretend für viele andere geschichtswissenschaftliche Arbeiten betont Hermann Graml (1997: 309) in diesem Zusammenhang: „Widerstand gegen das NS-Regime [...] war von 1933 bis 1945 die Sache relativ kleiner und in der Bevölkerung weitgehend isolierter Gruppen.“

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Beschönigung des regimebestätigenden Konsenses im Volk und einer Verharmlosung des Holocaust in Deutschland umzuschreiben.814 Angesichts des Tatbestandes, dass schätzungsweise zweihunderttausend deutsche Juden ermordet wurden (vgl. Gutman 1998: 342),815 ist das Motto „Das Volk ist ein Trost“ wohl kaum angebracht. Dieser Leitspruch war bereits in früheren Aufsätzen aus Konrad Löws Feder angeklungen. In seinem umstrittenen und heftig angegriffenen Aufsatz „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“, der 2004 in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift DeutschlandArchiv erschien, wird Klemperer in den Zeugenstand gerufen, um das solidarische Mitgefühl der Deutschen gegenüber der entrechteten jüdischen Bevölkerung unter Beweis zu stellen. Löw zufolge ist Victor Klemperer nicht erstrangig der Chronist jüdischen Leidens, sondern vielmehr der Gewährsmann für den deutschen „Anstand“ gegenüber den jüdischen Verfolgten: Nach den Erfahrungen Klemperers kamen also auf einen deutschen Judenhasser fünfzig Deutsche, die Mitleid mit den Juden empfanden. [...] Nimmt es wunder, dass sich die Sympathisanten der Juden und jene, die aus Anstand ihr Wissen nicht der Gestapo preisgaben, nach Kriegsende nicht schuldig fühlten? Auch sie lebten häufig in Angst, litten Not, waren auf vielfältige Weise Opfer des Krieges. (Löw 2004a: 238)816

Löw weist vor diesem Hintergrund die deutsche Schuld geradezu gänzlich zurück, indem er den Unterschied zwischen deutschen und jüdischen Opfern nivelliert. Von den Juden, so behauptet Löw, „leisteten einige einen beachtlichen Beitrag als Judenräte, als Häscher, als Polizisten, in den Gaskammern.“ (ebd.: 814 In seinem Buch ‚Das Volk ist ein Trost‘ (2006) wollte Löw seinerseits das von „jüdischen Kreisen“ propagierte „Fehlurteil“ von der Mitschuld der deutschen Bevölkerung am Holocaust entlarven. In der fragwürdigen Rede von den „jüdischen Kreisen Israels wie der USA“ – gegen die der Autor die deutschen Juden auszuspielen scheint – klingt auf unglückliche Weise die negativ besetzte Klischeevorstellung von der internationalen Vernetzung des „Weltjudentums“ an: „In jüdischen Kreisen Israels wie der USA ist die Auffassung weit verbreitet, die in Deutschland lebenden Juden seien weniger honorig als die übrigen, hätten sie doch das Tabu verletzt, das ‚Land der Täter‘ zu meiden. Das Resultat dieser Untersuchung könnte dazu dienen, derlei Vorbehalte, unter denen deutsche Juden leiden, abzubauen.“ (Löw 2008: 18) 815 Eine nähere Erörterung der Debatte um die genauen Opferzahlen der im Holocaust ermordeten deutschen Juden würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und entspräche nicht ihrer literaturwissenschaftlichen Zielsetzung. Halten wir an dieser Stelle fest, dass von den gut 570 000 Menschen im deutschen Reichsgebiet, die nach den Rassengesetzen als Juden bzw. „Geltungsjuden“ identifiziert wurden, etwa 346 000 ins Ausland emigrieren konnten (vgl. Gutman 1998: 342). Die meisten nach 1940 in Deutschland verbliebenen Juden überlebten dank der zwiespältigen NS-Sonderregelung für „Mischehen“ und „Mischlinge“. Fallbeispiele für eine Rettung durch Deutsche sind demgegenüber – obwohl durch ihre menschliche Symbolik besonders wichtig und Zeichen der Hoffnung – vielmehr Ausnahmeerscheinungen. 816 Eine ähnliche Argumentationslinie vertritt der österreichische Kulturpublizist Robert Schediwy (2008: 127-135), der in einer erstmals 1996 publizierten Rezension der Klemperer-Tagebücher als Hauptpunkt festhält, „wie ‚normal‘ und geradezu anständig die Mehrzahl der Menschen“ im Dritten Reich während des Holocaust geblieben sei (ebd.: 130). Klemperers Notizen seien vor diesem Hintergrund „ein wichtiges Gegenmittel gegen das Gift der klischeehaften Verzerrung“ der NS-Ära durch die Nachgeborenen sowie gegen das „hysterische Geschwätz“ über die Kollektivschuld (ebd.: 134).

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239)817 Die Übertragung der Schuldfrage auf die jüdische Opferseite und die Einebnung von deutscher und jüdischer Opferperspektive führen zu einem Rückzug des Täterkollektivs und reduzieren den Holocaust folglich auf einen monströsen Machtvollzug einer kleinen Clique omnipotenter, dämonischer Genies. Ein historischer Ansatz, der die absolute Zentralität Hitlers in Sachen Holocaust-Politik hervorhebt, verkennt, wie Gutman (1998: xiii) unterstreicht, die historische Realität: Zur physischen Vernichtung der Juden wurde ein staatlicher Apparat aus Zivilisten, Diplomaten, Politikern, Beamten, Polizeiangestellten und Militärs eingerichtet, denen ihre „Aufgabe“ wohl bewusst war und die den Genozid „gewissenhaft“ planten, organisierten und durchführten. Die Schuldfrage der deutschen Bevölkerung, wie aus dem zuvor bereits erwähnten Antwortbrief Klemperers an Wehrmacht-Major Hans Hirche hervorgeht, der dem Romanisten zwecks Entnazifizierung mit „reinem Gewissen“ geschrieben hatte, dass er „persönlich keinerlei Unmenschlichkeit begangen“ habe (US: 221 [6.1.1947]) und sich darum dazu berechtigt fühle, seine Teilhabe am Regime zu minimalisieren, behandelt der Diarist auf höchst geschichtskritische Weise. Der Zurückweisung jeglicher Verantwortung für Verbrechen seitens Zivilbevölkerung und Militär tritt Klemperer nach dem Krieg entschlossen entgegen: Sie und all die andern mußten wissen, welchen wahnsinnigen Verbrechen Sie dienten, welche unausdenkbaren Greuel Sie durch Ihre Diensttreue in Schutz nahmen und ermöglichten. [...] Sie und so viele mit Ihnen sagen immer wieder: wir sind schuldlos, wir haben es nicht gewußt. Aber [...] haben denn all diese Morde, all diese Verbrechen, wohin man auch den Blick wandte, nur uns – ich meine jetzt keineswegs nur die Juden, sondern alle Verfolgten – offengelegen? (ebd.: 222f. [6.1.1947])818

Solche kritischen Töne, die die Schuldfrage der Deutschen aus der Perspektive eines Verfolgten beleuchten, geraten vielfach aus dem Blickfeld der Rezeption. Durch eine fragwürdig einseitige Lektüre laufen Klemperers Tagebücher Gefahr, ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit entledigt zu werden. Der Normalisie817 Die Veröffentlichung von Löws Aufsatz zog einen Skandal nach sich, weil seine Kritiker ihm antisemitische Stereotypisierung vorwarfen. In einem Rundschreiben an die Abonnenten distanzierte sich daraufhin die Bundeszentrale für politische Bildung von Löws Beitrag und entschied sich für das Einstampfen der gesamten Ausgabe. 818 Die Hellsichtigkeit, die Klemperer in diesem Brief aus dem Jahre 1947 an den Tag legte, fehlte ihm aus unterschiedlichsten Gründen in den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches. Klemperer differenzierte in seinen ad hoc-Notizen zwischen verschiedenen Verhaltens- und Einstellungsmustern der deutschen Bevölkerung, auf die Gefahr hin, dass – durch sein Verständnis für die vielfältigen Formen von Kooperation mit dem Regime und Akzeptanz der Herrschaft – Fragen der Verantwortung ungewollt verschwimmen könnten. Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. das Gespräch mit dem Hausverwalter der Dölzschener Wohnung, Helmut Richter, den Klemperer – trotz dessen augenfälliger Mitarbeit in der Verwaltung konfiszierter jüdischer Immobilien – „ganz unschuldig“ nannte (ZAII: 241 [11.9.1942]). Frank Bajohr und Dieter Pohl (2006: 18) vertreten vor diesem Hintergrund die Meinung, dass auch das widerwillige, nicht-ideologische Mitmachen in letzter Konsequenz nichts am Genozid änderte: „Wer unter Zögern, mit schlechtem Gewissen an der Judenverfolgung mitwirkte, nahm gleichwohl an ihr teil und änderte nichts am Schicksal der betroffenen Juden.“

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rungsdiskurs im wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre, der in gewissem Maße derzeit dazu tendiert, die NS-Verbrechen zu relativieren und gleichzeitig die deutsche Opferperspektive jenseits von Auschwitz ins Rampenlicht zu rücken, scheint Victor Klemperers Tagebücher exkulpatorisch für eine neue Stufe der Vergangenheitsbewältigung einzusetzen: Sowohl Konrad Löws historisches als auch Martin Walsers literarisches Werk unterliegen, indem beide zuvor ausgeschlossene deutsche Perspektiven – wie öffentliche „Judenfreundlichkeit“ oder politische Widerständigkeit während der NS-Zeit – einbeziehen, einem nationalgeschichtlichen Ideologieverdacht: der Relativierung der Judenverfolgung und dem Entschuldenwollen. Klemperers Tagebücher können aber vielmehr dazu dienen, das Konzept einer deutsch-jüdischen Symbiose erneut zu hinterfragen, die Schuldfrage der deutschen Zivilbevölkerung kritisch zu beleuchten und als reflexive Registraturen verschiedenster Begebenheiten und Praktiken den nationalsozialistischen Alltag anders zu betrachten (vgl. Traverso 1997b: 310).

4.5 Victor Klemperer und die Historiographie des Holocaust VICTOR KLEMPERER UND DIE HISTORIOGRAPHIE DES HOLOCAUST

Wenn es darum geht, Klemperers Tagebücher als historische Quelle zur Analyse des Holocaust heranzuziehen, ist eine gewisse Vorsicht angebracht. Klemperer betrachtet das Geschehen aus der Perspektive eines in relativer Sicherheit „überlebenden“ deutsch-jüdischen Professors, der von widerstreitenden Wünschen wie dem Streben nach Assimilation und der Wahrung der deutschen Identität beseelt ist, was eine objektive Beurteilung erschweren muss. Seine Wahrnehmung der Realität des Dritten Reichs ist durch spezifische Überzeugungen und Gefühle geprägt, die dem Tagebuchschreiber die Möglichkeit versagen, seine Eindrücke und Erfahrungen vor dem Hintergrund weiterer Informationsquellen oder Wissensgebiete zu verifizieren. Es sollte jedoch außer Zweifel stehen, dass der potentielle Missbrauch der Dokumente keineswegs ihren immensen dokumentarischen Wert mindert. Klemperers Tagebücher lassen sich jedoch keinesfalls dafür instrumentalisieren, die Geschichte der Shoah umzuschreiben. Die große Bandbreite dargestellter Menschen und Meinungen, die das gesamte moralische Spektrum möglicher Einstellungen zum Antisemitismus repräsentieren, seine Ausnahmesituation in einer Mischehe, sein Klassenhabitus sowie die Ambivalenz in seinem eigenen Deutschsein müssen in der Interpretation von Klemperers Tagebüchern berücksichtigt werden. Von daher gilt es, zwischen dem, was Klemperer tatsächlich geschrieben hat, und der jeweiligen Deutung seiner Schriften zu unterscheiden, denn die seinen Tagebüchern innewohnende Ambivalenz wird einer unvoreingenommenen Beschreibung des Nationalsozialismus sicherlich weit gerechter als Goldhagens monolithische Sichtweise des den Deutschen inhärenten Antisemitismus. Es ist Klemperer hoch anzurechnen, dass seine Erfahrungen während des Krieges als verfolgter deutscher Jude nicht nur in LTI einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisteten, sondern sich auch in einem persönlichen und

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historischen Zeugnis manifestierten. Von höchstem Interesse in seinen Tagebüchern ist das Spannungsfeld zwischen seiner subjektiven – oder zumindest einem spezifischen Standpunkt verhafteten – Sichtweise auf die dramatischen politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen, denen Deutschland ausgesetzt war, dem Alltag, den er dagegen setzte, und den Veränderungen, die sein eigenes Bewusstsein und seine erzählerische Stimme durchliefen.

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Die Überzeugung, daß wir selbst selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flakkernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen [...]. Ob das Licht dieser Menschen das einer Kerze oder einer strahlenden Sonne war: Das vermögen wir mit unseren so sehr an Dunkelheit gewöhnten Augen wohl kaum zu sagen. Doch eine objektive Bewertung dieser Art scheint mir zweitrangig; sie kann ruhig den Nachgeborenen überlassen werden. (Arendt 1989: 15f.)

Diese Worte Hannah Arendts aus der Einführung von Menschen in finsteren Zeiten könnten ein Fazit sein. Aber nicht nur das. Sie sind Anfang und Fazit zugleich. Sie treffen in besonderem Maße für die Aufzeichnungen Victor Klemperers zu, die ebenfalls ein persönliches Dokument aus „finsteren Zeiten“ darstellen. Klemperer ist kein Exponent der Geschichte, nicht das jüdische Sprachrohr des erlittenen Leids der Holocaust-Opfer. Dennoch hat er den Zeiterfahrungen auf eine erstaunlich detaillierte Weise eine besondere Stimme verliehen. Eine Stimme, die nicht jene jüdischer – in der Shoah ermordeter – Tagebuchautoren wie Willy Cohn, Emanuel Ringelblum oder Etty Hillesum ist, aber genauso wenig die nichtjüdischer Deutscher wie etwa Ursula von Kardorff. Klemperer richtete sich aus einer Sonderperspektive an die Nachgeborenen, indem er beispielsweise hinsichtlich seiner LTI-Beobachtungen einen „erzieherischen“ Zweck verfolgte (LTI: 25). Sein Wunsch, „Kulturgeschichtsschreiber“ des Nationalsozialismus zu werden (ZAII: 12 [17.1.1942]), scheint sich angesichts der rasanten Verbreitung und der allgemeinen Akzeptanz seiner Darstellungen in der deutschen Erinnerungskultur weitgehend erfüllt zu haben. Absicht dieser Studie war allerdings nicht, der Frage nachzugehen, ob den Tagebüchern Victor Klemperers – wie in Hannah Arendts oben erwähntem Passus – das Licht „einer Kerze oder einer strahlenden Sonne“ zuzuschreiben sei. Die vorliegende Arbeit hat es sich vielmehr zum Ziel gemacht, die Klemperer-Tagebücher durch die Darstellung ihrer textuellen und diskursiven Organisation in kulturhistorischer Hinsicht zu analysieren. Als Fazit sollen nun die Ergebnisse zu den einzelnen Fragestellungen dieser Arbeit zusammengefasst und die eingangs aufgestellten Thesen durch ein Resü-

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mee der Ergebnisse überprüft und ausgewertet werden. Ausgehend von der These der hermeneutischen Notwendigkeit einer Kontextualisierung des Tagebuchs gilt es, anhand der Ergebnisse aus dem theoretischen sowie aus den einzelnen Anwendungsteilen dieser Arbeit zu belegen, inwieweit gerade Tagebücher sowie auch ihre Interpretationen einen Beitrag zu zentralen literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu leisten imstande sind. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Funktionen jüdischen Tagebuchschreibens im Dritten Reich wird daher nicht nur das Ziel der Gattungsbeschreibung eingelöst, sondern vielmehr zugleich aufgezeigt, auf welche Weise Victor Klemperers Tagebücher mit ihrem Kontext verschränkt waren. Eines der Hauptziele dieser Arbeit war die Entwicklung eines differenzierten Beschreibungs- und Analysemodells von Victor Klemperers Tagebüchern aus der NS-Zeit, mit dem die gattungsspezifischen Merkmale, Darstellungstechniken und Funktionspotentiale seiner Notizen beschreibbar gemacht werden konnten. Mit dem Konzept ‚Kontext‘ als zentraler Denkfigur konnte gezeigt werden, in welcher Art und Weise für eine Analyse der Tagebücher die Beachtung der Dialektik von Privat- und Großgeschichte grundlegend ist. Im gattungstheoretischen Teil wurde zunächst eine Referenzfolie skizziert, mithilfe der die verschiedenen Formen, Funktionen und Produktions- und Entstehungsbedingungen des Tagebuchs und des Tagebuchschreibens vor Augen geführt werden konnten. Die Konzepte ‚Gattungshybridität‘ und ‚Performativität‘ bilden den wichtigsten Baustein in diesem Beschreibungsmodell. Es hat sich gezeigt, dass sie fruchtbare Ansätze für eine präzise Beschreibung diaristischer Darstellungsschwerpunkte bereitstellen. Was durch die Auseinandersetzung mit den Aufzeichnungen aus dem Dritten Reich deutlich geworden sein dürfte, ist die grundsätzliche Relevanz der Gattungs-, Identitäts-, Medialitäts- und Kontextfrage für eine objektgerechte Diskussion der Tagebücher. Jenseits einer thematisch orientierten Analyse der Klemperer-Notizen hat die vorliegende Arbeit den im Tagebuch geschilderten Weg des Diaristen Klemperer als Repräsentant des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums diskursiv rekonstruiert, um adäquater zu verstehen, aus welcher Diskursposition der Diarist schreibt, aus welcher Beobachtungsperspektive die Wirklichkeit wahrgenommen wird. Die Textspuren, die in den Aufzeichnungen überliefert sind, stellen nicht nur das Ergebnis eines lebensbedrohten Subjekts dar, das es sich im Tagebuch zum Ziel setzt, seine Identität, die Mentalität der deutschen Bevölkerung und die Alltagsgeschichte des Dritten Reiches zu reflektieren, sondern sie repräsentieren insbesondere auch Diskurse, die für die assimilierten deutschen Juden von Bedeutung waren. In der vorgenommenen Analyse wurden dominante Diskurse, Schreib- und Reflexionspraktiken herausgegriffen und in ihren kulturellen Kontext gestellt, ohne hierbei jedoch keinesfalls die Autorposition aus den Augen zu verlieren. In einer Tagebuchanalyse darf das schreibende Ich nicht vernachlässigt werden, denn die diaristischen Notizen sind in erster Linie subjektabhängige Interpretationen der Geschehnisse im Dritten Reich. Die Referenzen auf die eigene Ge-

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schichte, auf den eigenen Erfahrungshintergrund sind dermaßen augenfällig, dass der ‚Autor‘ nicht einfach zur Seite geschoben werden kann. Dies bedeutet keineswegs, das diaristische Ich sei als authentische, selbstidentische Wahrheitsinstanz zu begreifen. Um die Verstehensprozesse beim Tagebuchführen nachvollziehen zu können, müssen immer auch die überindividuell bedingten, politischen, religiösen, philosophischen und gesellschaftlichen Überzeugungen des Autors in den Blick genommen werden. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Themenwahl, das Schreibverfahren und die Verschriftlichungsintentionen des Diaristen. Durch die Analyse von Klemperers Tagebüchern als Metatext, Schriftmedium und Interdiskurs können im Hinblick auf ihre Gattungseigenschaften sowohl die prototypischen wie auch die spezifischen Merkmale der Aufzeichnungen sichtbar gemacht werden. Genauso wie anderen Tagebüchern ist auch den KlempererTagebüchern ein alltäglicher, subjektiver Verschriftlichungsmodus eigen, der im besonderen Maße dazu geeignet ist, das dialektische Verhältnis von Klein- und Großgeschichte beispielhaft sichtbar zu machen. Im Tagebuch stehen sie sich nicht unversöhnlich gegenüber, sondern sind unlöslich miteinander verbunden. Andererseits weisen Klemperers Tagebücher eine dokumentarische Spezifik auf, die sie von anderen Diarien abhebt. In den Tagebüchern wird detailreich vermittelt, wie sich im Nationalsozialismus aggressiver Nationalismus und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit harmonisch vereinen: Die ideologischen Wunschvorstellungen von völkischer und sozialer Einheitlichkeit gehen geradezu unmerklich ineinander über. Vor diesem Hintergrund wird aus Klemperers diaristischen LTI-Beobachtungen die erfolgreiche Mixtur von Sozial- und Rassenpolitik in Verbindung mit einer hochmotivierten Bürokratie und Intelligenz im Nationalsozialismus ersichtlich (vgl. Aly 2003: 245f.). Die Tagebücher erweisen sich vor diesem Hintergrund als kulturhistorisch aufschlussreiche Dokumente, denen ein hervorstechendes, wissenschaftliches Forschungsinteresse zugrunde liegt, das anderen Tagebüchern so nicht gegeben ist. Die Tagebücher stellen als Arbeitsnotizen ein intellektuelles Reflexionsmedium für ein künftiges philologisches Werk dar. Diese wissenschaftliche Ausrichtung und Methodik geben den Notizen ihren besonderen kulturhistorischen Wert. Der den Aufzeichnungen anhaftende hohe Reflexionsgrad kommt beispielsweise in den Notizen zur vox populi oder zur LTI deutlich zum Tragen. Das Konglomerat aus Trivialität, Wissenschaftlichkeit und Zeitgeschichtlichem, das aus der Sonderperspektive eines deutschen Juden im Dritten Reich im Tagebuch verschriftlicht wurde, macht wohl die Spezifik und Einzigartigkeit von Klemperers Tagebüchern aus. Im Gegensatz zu retrospektiv verschriftlichten Erinnerungen ist das Wissen um das Ende nicht vorhanden. Im Tagebuch werden Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht durch später erworbene Kenntnisse gedeutet, erweitert oder korrigiert. Nur das im Augenblick der Niederschrift bereits Bekannte findet Eingang in den diaristischen Text. Durch diese Gattungseigenschaft kann das Tagebuch die erfahrungsunmittelbare Widersprüchlichkeit dessen, was dem Diaristen

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widerfuhr, ohne historische Großaufnahme zum Sprechen bringen. Durch die dem Tagebuchmodus innewohnende Möglichkeit zur subjektiven Vergegenwärtigung der Geschehnisse lassen sich keine normativen Rückschlüsse auf den Ablauf der Shoah ziehen. Doch darin liegt auch der spezifische Mehrwert der Tagebücher für die Historiographie: Aus der Alltagsperspektive des Betroffenen wird dessen persönliche Schicksalsgeschichte dargestellt, in der die große Geschichte auf spezifische Weise exemplifiziert wird. Victor Klemperers Tagebuch als ‚oppositioneller‘ Text im Nationalsozialismus stellt unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten ein heterogenes Funktionenkonglomerat dar, in dem sich sechs unterschiedliche Funktionen des Tagebuchführens ineinandermischen: 1. die Wahrung autonomen Denkens und der Erhalt eines antifaschistischen bzw. humanistischen Wertesystems; 2. die täglichen Notizen als psychologische Überlebensstrategie; 3. die Pflicht, von den genozidalen Gräueltaten des Nationalsozialismus Zeugnis abzulegen und die zu erwartende Geschichtsfälschung bzw. zukünftigen Revisionismus zu konterkarrieren; 4. die performative Funktion des Tagebuchs als eines Schriftmediums, in dem sich der Diarist schriftlich mit dem Selbst, dem Mitmenschen und der Geschichte auseinandersetzt; 5. die metaphilologische Funktion des Tagebuchs als eines ‚privaten Epitextes‘ (sensu Genette), in dem die NS-Ideologie sowie auch die Volksstimmung aus sprachkritischer bzw. ethnographischer Perspektive analysiert wird; 6. die Formulierung programmatischer Reflexionen für den Aufbau des Nachkriegsdeutschland. Diese unterschiedlichen Funktionen begegnen sich im Journal in einem schillernden Mischungsverhältnis. Sie sind aussagekräftige Motive der Schreibpraxis eines deutsch-jüdischen Literarhistorikers, der sich über das Notieren seiner Erfahrungen und Reflexionen einen moralischen Halt in der Unstetigkeit der Zeit zu verschaffen sucht. Victor Klemperers Tagebücher zeichnen sich durch die Verhandlung epistemologischer Fragen, kulturhistorischer Beobachtungen, philologischer Verfahrensweisen und privatbiographischer Reflexionen aus, die im Text zu Kontroversen führen und zu Synthesen zusammengefügt werden. Das Forschungspotential dieses vielschichtigen Textmaterials ist bis heute keineswegs erschöpft und regt mithin zu weiteren Untersuchungen an.

6. ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE 6. UND TRANSKRIPTION

ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE UND TRANSKRIPTION ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE UND TRANSKRIPTION

Offensichtliche Fehler der Orthographie, Zeichensetzung und Grammatik in den veröffentlichten Quellen wurden der Lesbarkeit wegen ohne Vermerk korrigiert, persönliche Eigenarten der Schreibweise – wie etwa von „endgiltig“ oder „tagüber“, „subjectiv“ und „Communismus“ – jedoch beibehalten. Alle Textmanipulationen, wenn nicht speziell vermerkt, sind den Originalquellen entnommen. Zitate ab einer Länge von vier Zeilen werden vom Fließtext abgesetzt und als Blockzitate wiedergegeben, ohne i.d.R. die ursprüngliche Absatzstruktur im Originaltext zu berücksichtigen. In Zitaten sind Auslassungspunkte ohne eckige Klammern Bestandteil des jeweiligen Klemperer-Zitates. Auslassungen und Zusätze des Verfassers sind in eckigen Klammern vermerkt. Die Seitenangabe bei den publizierten Werken erfolgt nach der entsprechenden Abkürzung des Werkes – siehe weiter unten im Siglenverzeichnis – durch die Ziffern nach einem Doppelpunkt. Das jeweilige Datum wird in eckigen Klammern angegeben (z.B. „ZAI: 228 [9.11.1935]“). Die Signatur der Klemperer-Handschriftensammlung (Mscr. Dresd. App. 2003) wird in meinen Angaben aus praktischen Gründen durch die Kurzbezeichnung „A“ ersetzt. Dokumente aus dem Klemperer-Nachlass werden nach ihrer jeweiligen Nummer im Inventarverzeichnis des Nachlasses in der Handschriftensammlung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) zu Dresden zitiert, nach einem Doppelpunkt gefolgt von der Seitenangabe und – in eckigen Klammern – der Datumsangabe, wie z.B. „A 137: 416 [29.8.1939]“. Bei Briefen wird ebenfalls die jeweilige Nummer im Inventarverzeichnis angegeben, sollten diese mehrere Seiten umfassen, wird die entsprechende Seitenangabe in spitze Klammern gesetzt: z.B. „A 177 ‹1›“ Bei der Wiedergabe der Manuskripte aus dem Dresdener Klemperer-Nachlass (Mscr. Dresd. App. 2003) wird auf die drucktechnisch komplizierte Aufgabe verzichtet, den Befund mit allen Anstreichungen und Korrekturen wiederzugeben. Lediglich der Text, der in der Niederschrift stehen geblieben ist, wird wiedergegeben. Unterstreichungen und sonstige Hervorhebungen in Klemperers Tagebuchmanuskripten und Korrespondenz sind in meiner Transkription einheitlich durch Kursivdruck kenntlich gemacht. Die vom Autor in den Handschriften benutzten Abkürzungen (wie etwa „nat.soc.“, „u.“, „od.“ usw.) wurden weitgehend beibehalten. Namensabkürzungen (wie etwa „E.“ für „Eva“) wurden aufgelöst und der Deutlichkeit wegen voll ausgeschrieben. Der Genauigkeit der Wiedergabe innerhalb dieser Grenzen galt an erster Stelle meine Mühe. Die Übersetzung von Zitaten aus fremdsprachiger Forschungsliteratur, soweit diese meines Wissens nicht in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden ist, stammt ohne Vermerk ausnahmslos aus meiner Feder.

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ERLÄUTERUNGEN ZU ZITIERWEISE UND TRANSKRIPTION

7. SIGLENVERZEICHNIS

Veröffentlichte Quellen CVI: CVII: LSI: LSII: ZAI: ZAII: US: LTI: SSI: SSII:

Curriculum Vitae: Erinnerungen 1881-1918. Band I. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1996. Curriculum Vitae: Erinnerungen 1881-1918. Band II. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1996. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum: Tagebücher 1918-1924. Band I. Berlin: Aufbau-Verlag, 1996. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum: Tagebücher 1925-1932. Band II. Berlin: Aufbau-Verlag, 1996. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1941. Band I. Berlin: Aufbau-Verlag, 1995. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1942-1945. Band II. Berlin: Aufbau-Verlag, 1995. Und so ist alles schwankend: Tagebücher Juni bis Dezember 1945. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1996. LTI – Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam, 2001. So sitze ich denn zwischen allen Stühlen: Tagebücher des Victor Klemperer 19451949. Band I. Berlin: Aufbau-Verlag, 1999. So sitze ich denn zwischen allen Stühlen: Tagebücher des Victor Klemperer 19501959. Band II. Berlin: Aufbau-Verlag, 1999. 819

Unveröffentlichte Quellen

A 134: Tagebuch (45). Dresden, 12.9.1931-6.9.1933. [Mscr. Dresd. App. 2003, 134] A 135: Tagebuch (46). Dresden, 15.9.1933-30.10.1934. [Mscr. Dresd. App. 2003, 135] A 136: Tagebuch (47). Dresden, 4.11.1934-3.5.1936 [im gleichen Tagebuch die späteren Fortsetzungen: Dresden, Judenhaus, 15.8.1941-4.12.1941 sowie Dresden-Dölzschen, 18.7.1945-29.3.1946]. [Mscr. Dresd. App. 2003, 136] A 137: Tagebuch (47a). Dresden, 10.5.1936-10.8.1941. [Mscr. Dresd. App. 2003, 137] A 138: Tagebuch (47b). Dresden, 10.5.1941-25.5.1945. [Mscr. Dresd. App. 2003, 138]

819 Im Jahre 2007 wurde die kommentierte, digitalisierte Gesamtausgabe der Klemperer-Tagebücher aus dem Zeitraum 1933-1945 – inklusive der bisher unveröffentlichten Quellen – auf CD-Rom bei Directmedia Publishing herausgegeben. Die Referenzen auf die unveröffentlichten Quellen gehen in der vorliegenden Arbeit auf die elektronische Ausgabe zurück (vgl. Klemperer 2007).

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8. LITERATURVERZEICHNIS

LITERATURVERZEICHNIS QUELLEN VICTOR KLEMPERERS

8.1 Quellen Victor Klemperers 8.1.1 Selbstbiographische Quellen Veröffentlichte selbstbiographische Quellen Klemperer, Victor. 1995. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1945. 2 Bände. Hg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor. 1996a. Curriculum Vitae: Erinnerungen 1881-1918. 2 Bände. Hg. v. Walter Nowojski. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor. 1996b. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum: Tagebücher 1918-1933. 2 Bände. Hg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor. 1996c. Und so ist alles schwankend: Tagebücher Juni bis Dezember 1945. Hg. v. Günter Jäckel unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor. 1997. Das Tagebuch 1933-1945. Eine Auswahl für junge Leser. Bearbeitet von Harald Roth. Mit Anregungen für den Unterricht. Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor. 1999. So sitze ich denn zwischen allen Stühlen: Tagebücher des Victor Klemperer 1945–1959. 2 Bände. Hg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor. 2007. Die Tagebücher (1933-1945). Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. v. Walter Nowojski. Berlin: Directmedia Publishing.

Nichtveröffentlichte selbstbiographische Quellen Mscr. Dresd. App. 2003, 134: Tagebuch (45). Dresden, 12.9.1931-6.9.1933. Mscr. Dresd. App. 2003, 135: Tagebuch (46). Dresden, 15.9.1933-30.10.1934. Mscr. Dresd. App. 2003, 136: Tagebuch (47). Dresden, 4.11.1934-3.5.1936. Mscr. Dresd. App. 2003, 137: Tagebuch (47a). Dresden, 10.5.1936-10.8.1941. Mscr. Dresd. App. 2003, 138: Tagebuch (47b). Dresden, 10.5.1941-25.5.1945.

8.1.2 Journalistische und philologische Quellen Veröffentlichte journalistische und philologische Quellen Klemperer, Victor. 1906. Talmud-Sprüche. Eine Kulturskizze. Großenhain: Baumert und Ronge.

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LITERATURVERZEICHNIS

Klemperer, Victor. 1919. „Die dritte Revolution in Bayern.“ In: Leipziger Neueste Nachrichten (Nr. 87), 10. April 1919: 1-2 [Mscr. Dresd. App. 2003, 1216]. Klemperer, Victor. 1928. „Immer wieder Kulturkunde.“ In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 4: 264-280. Klemperer, Victor. 1954. Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band I. Das Jahrhundert Voltaires. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften. Klemperer, Victor. 1956. Vor 1933/Nach 45. Gesammelte Aufsätze. Berlin: AkademieVerlag. Klemperer, Victor. 1959. „Inferno und Nazihölle. Bemerkungen zu den ‚Tagebüchern aus dem Ghetto‘.“ In: Neue Deutsche Literatur 7.9/10: 245-252. Klemperer, Victor. 1966. Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band II. Das Jahrhundert Rousseaus. Halle (Saale): Deutscher Verlag der Wissenschaften. Klemperer, Victor. 2001. LTI – Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam. [abgekürzt als ‚LTI‘]

Nichtveröffentlichte journalistische und philologische Quellen Mscr. Dresd. App. 2003, 826: Hebräische Spruchweisheit (Übersetzung von Talmudsprüchen durch Victor Klemperer [21 Bl. Hs. 1909-1910]) Mscr. Dresd. App. 2003, 826a: Auszüge nichtveröffentlichter Talmudsprüche 1 Bl. (1909) Mscr. Dresd. App. 2003, 826b: Talmudsprüche, Maschinen 1 Bl. Vierzeiler kalligraphisch geschrieben

8.1.3 Korrespondenz Briefe Victor Klemperers Mscr. Dresd. App. 2003, 160: Brief an Walter und Grete Blumenfeld vom 10. Juni 1936. Mscr. Dresd. App. 2003, 177: Brief an Albert Hirsch vom 5. April 1936. Mscr. Dresd. App. 2003, 182: Brief an Marta Jelski vom 5. Mai 1939. Mscr. Dresd. App. 2003, 188: Brief an Walter Jelski vom 17. Januar 1939. Mscr. Dresd. App. 2003, 202: Brief an Grete Klemperer vom 17. November 1936. Mscr. Dresd. App. 2003, 207: Brief an Grete Klemperer vom 14. Juni 1939. Mscr. Dresd. App. 2003, 237: Brief an Sebi Sebba vom 28. Juni 1939. Mscr. Dresd. App. 2003, 244: Brief an Dr. Martin Sussmann vom 12. September 1940. Mscr. Dresd. App. 2003, 250: Brief an Dr. Martin Sussmann vom 3. September 1941. Mscr. Dresd. App. 2003, 259: Brief an Gusti Wieghardt vom 7. Mai 1936.

Briefe an Victor Klemperer Mscr. Dresd. App. 2003, 370: Brief von Georg Klemperer vom 22. Februar 1934. Mscr. Dresd. App. 2003, 371: Brief von Georg Klemperer vom 23. Mai 1935. Mscr. Dresd. App. 2003, 465: Brief von Verlagsredaktion B.G. Teubner vom 24. Januar 1934. Mscr. Dresd. App. 2003, 466: Brief von Verlagsredaktion B.G. Teubner vom 15. Februar 1934. Mscr. Dresd. App. 2003, 469: Brief von Verlagsredaktion B.G. Teubner vom 14. August 1935.

RESONANZTEXTE 1933-1945

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8.2 Resonanztexte 1933-1945 RESONANZTEXTE 1933-1945

Akademie der Wissenschaften der DDR. 1982. Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Berlin: AkademieVerlag. B[?]., E[?]. 1933. „Zur Wahl.“ In: Abwehr-Blätter 43.3: 33-36. Bab, Julius. 1933a. „Das Kulturproblem der Juden im heutigen Deutschland.“ In: Der Morgen 9.3 [August]: 185-187. Bab, Julius. 1933b. „Kulturarbeit der deutschen Juden.“ In: Der Morgen 9.5: 324-326. Bab, Julius. 1934. Rembrandt und Spinoza. Ein Doppelbildnis im deutsch-jüdischen Raum. Berlin: Philo Verlag. Bab, Julius. 1944. „Lessing.“ In: Deutsche Blätter 2.7: 262-265. Ballensiefen, Heinz. 1939. Juden in Frankreich. Die französische Judenfrage in Geschichte und Gegenwart. Berlin: Nordland. Bartels, Adolf. 1920. „Der Kampf der Zeit.“ In: Deutsches Schrifttum 10: 1-2. Bertram, Ernst. 1934. „Schiller. Festvortrag, gehalten am 26. Mai 1934.“ In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 20: 213-250. Best, Werner. 1941. Frankreich. Schuld und Schicksal. Darmstadt: Wittich. bin Gorion, Emanuel. 1938. „Wissen ist Trost.“ In: Der Morgen 5 (August). 214-215. Bloch, Ernst. 1984 [1919]. „Absicht.“ In: Michael Stark (Hg.). Deutsche Intellektuelle 1910-1933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen. Heidelberg: Lambert Schneider. 121123. Braun, Otto. 1940. Von Weimar zu Hitler. New York: Europa Verlag. Brieger, Lothar und Hanns Steiner. 1920. Zirkus Berlin. Bilder Berliner Lebens. Berlin: Almanach. Buber, Martin. 1935. „Bildung und Weltanschauung.“ In: Der Morgen 11: 481-488. Buch, Walther. 1993 [1938]. „Der Jude steht außerhalb des Gesetzes.“ In: George L. Mosse. Der nationalsozialistische Alltag. Frankfurt am M.: Athenäum. 348. Bürkle, Veit. 1940. Schiller. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung. Carossa, Hans. 1984 [1938]. „Wirkungen Goethes in der Gegenwart.“ In: Karl Robert Mandelkow (Hg.). Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV: 1918-1982. München: C.H. Beck. 201-208. Engelbrecht, Kurt. 1933. Faust im Braunhemd. Leipzig: Adolf Klein. Fabricius, Hans. 1932. Schiller als Kampfgenosse Hitlers. Nationalsozialismus in Schillers Dramen. Bayreuth: NS Kultur-Verlag. Fabricius, Hans. 1940. Schiller unser Kampfgenosse. Berlin: Dt. Kultur-Wacht. Falkenberg, Hermann. 1933. „Eröffnung der neuen Volksschulklassen der Jüdischen Gemeinde Fasanenstraße 79-80.“ In: Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin 23.11: 350-352. [November] Frank, Hans. 1935. Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung. München: Eher. Gehl, Walther. 1939. Geschichte. Ausgabe A: Oberschulen und Gymnasien. 4: Vom Westfälischen Frieden bis zur Gründung des zweiten Reiches. Breslau: Hirt. Goebbels, Joseph. 1934. Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern. München: Eber. Goebbels, Joseph. 1989 [1933] „Damit wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.“ In: Wolfgang von Hippel (Hg.). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? München: DTV. 344-345. Gogarten, Friedrich. 1967. „Die Krisis unserer Kultur [1920].“ In: Jürgen Moltmann (Hg.). Anfänge der dialektischen Theologie. Bd. 2. München: Kaiser. 101-121.

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LITERATURVERZEICHNIS

Goldschmit-Jentner, Rudolf K. 1941. „Einleitung. ‚Persönlichkeit, Werk und Gehalt‘.“ In: G.E. Lessing. Heldentum der Vernunft. Das Welt- und Kunstbild des Dichters. Aus seinen Schriften ausgewählt von Rudolf K. Goldschmit-Jentner. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. I-XL. Groetzsch, Robert. 1935. „Goethe und die Juden.“ In: Neuer Vorwärts 127 [17.11.1935]: 2. H[?]., A[?]. 1933. „Deutsch-jüdische Wirklichkeit.“ In: CV-Zeitung 12.15 [13. April 1933]: 1. H[?]., F[?]. U[?]. 1941. „War Goethe ein Nazi?“ In: Die Zeitung 1.132: 3 [13.8.1941]. Hart, Martin. 1989 [1939]. „150 Jahre seit 1789. Der großen Revolution zum Gedächtnis!“ In: Wolfgang von Hippel (Hg.). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil. München: DTV. 358-359. Heining, Arnold. 1941. Nation und Rechtslehre in Frankreich. Ein Beitrag zur Krise des westeuropäischen Staatsdenkens. Darmstadt: Wittich-Verlag. Heyd, Günther. 1937. Goethe als Mensch und Deutscher. Potsdam: Rütten & Loening Verlag. Hitler, Adolf. 1940. Mein Kampf. München: Zentralverlag der NSDAP. Hitler, Adolf. 1973. Reden und Proklamationen 1932-1945. Band I: Triumph. Zweiter Halbband 1935-1938. Hg. v. Max Domarus. Wiesbaden: R. Löwit. Hoffmann, Heinrich. 1932. Hitler wie ihn keiner kennt. 100 Bilddokumente aus dem Leben des Führers. Berlin: Zeitgeschichte Verlag. Hohenstein, Lily. 1941. Schiller. Der Kämpfer – Der Dichter. Berlin: Deutsche BuchGesellschaft. Klagge, Dietrich. 1939. Geschichte als nationalpolitische Erziehung. Frankfurt am M.: Volk und Führer. Deutsche Geschichte für Schulen. Klupsch, Franz. 1920. Die Judenhetze. Eine schwere Gefahr für den staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands. Berlin: Verlag der Deutschen wirtschaftlichpolitischen Gesellschaft. Koch, Franz. 1937. Goethe und die Juden. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. Kumsteller, Bernhard, Ulrich Haacke und Benno Scheider. 1943. Geschichtsbuch für die deutsche Jugend. Klasse 7. Leipzig: Quelle & Mayer. Laaser, Mala. 1937. „Die unruhigen Tage.“ In: Der Morgen 1 (April). 12-18. Lewin, H[?]. 1940. „Volkesstimme....“ In: Die Tribüne 11: 382. Lukács, Georg. 1957 [1936]. Thomas Mann. Berlin: Aufbau-Verlag. M[?]., W[?]. 1933. „Versailles.“ In: Kladdaradatsch 86.27: 418 [2. Juli 1933]. Mann, Michel Herbert. 1943. „Die Staaten Europas.“ In: Deutsches Institut für Außenpolitische Forschung. Europa. Handbuch der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des neuen Europa. Leipzig: Heling. 263-310. Mann, Thomas. 1989 [1939]. „Freiheit und Demokratie.“ In: Wolfgang von Hippel (Hg.). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil. München: DTV. 356-358. Maybaum, Ignaz. 1934. „Der jüdische Sinn des deutschen Judentums.“ In: Der Morgen 7: 407-410. Meyer, Hans Martin. 1936. „Die Völkerbundaktion des American Jewish Committee.“ In: Aufbau 2.10 [1.9.1936]: 2; 6. Michel, Wilhelm. 1920. Der Mensch versagt. Berlin: Erich Reiß. Müller, Alexandra. 1920. „Der Betrieb als Grundform der kommunistischen Gesellschaft.“ In: Der Gegner. Blätter zur Kritik der Zeit 2.1/2: 7-10. Neumann, Gerhardt. 1935. „Das Emanzipationsproblem vor 50 Jahren.“ In: Der Morgen 11.1: 39-41.

RESONANZTEXTE 1933-1945

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o.N. 1934a. Verhandlungen des Reichstages. VIII. Wahlperiode 1933. Band 457 [2. Sitzung 23.03.1933, 1. Sitzung Berichtigung]. Berlin: Druck und Verlag der Reichsdruckerei. o.N. 1934b. „Schiller und Goethe – die ersten Nationalsozialisten.“ In: Pariser Tageblatt 2.172: 2 [2. Juni 1934]. o.N. 1935. „Wohin die Berliner Juden wallfahrten sollten.“ In: CV-Zeitung 1 [4.1.1935]: 9. o.N. 1980 [1933]. „Aufruf der Deutschen Studentenschaft, Sommersemester 1933. Wider den undeutschen Geist.“ In: Thomas Friedrich (Hg.). 1933. Ein Lesebuch. Berlin: LitPol. 168-169. Pahlmann, Franz. 1939. Mensch und Staat bei Rousseau. Berlin: Verlag Dr. Emil Ebering. Petersen, Julius. 1984 [1935]. „Goethe-Verehrung in fünf Jahrzehnten.“ In: Karl Robert Mandelkow (Hg.). Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV: 1918-1982. München: C.H. Beck. 172-175. Rathenau, Walther. 1918 [1911]. „Staat und Judentum. Eine Polemik.“ In: Ders. Gesammelte Schriften. Bd. 1. Berlin: Fischer. 183-207. Rosenberg, Alfred. 1938. Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München: Hoheneichen-Verlag. Sakman, Paul. 1935. „Rousseau im Lichte unserer Gegenwart. Ein neuer Aspekt seines Werks.“ In: Zeitschrift für neusprachlichen Unterricht 34: 1-10. Sch[oeps], H[ans] J[oachim]. 1934. „Secessio Judaica – Israel in Ewigkeit.“ In: Der deutsche Vortrupp 1.5 [August]: 1-9. Schach, Fabius. 1936. „Wo stehen wir?“ In: Jüdische Allgemeine Zeitung vom 12.8.1936: 1. Schalk, Fritz. 1936. Einleitung in die Encyclopädie der Französischen Aufklärung. München: Hueber. Schirach, Baldur von. 1984 [1937]. „Goethe an uns.“ In: Karl Robert Mandelkow (Hg.). Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV: 1918-1982. München: C.H. Beck. 177-184. Schr[?]., D[?]. 1933. „Zur Wahl.“ In: Abwehr-Blätter 43.3 [März]: 33-36. Schwarz, Arnold. 1934. „Goethe-Zitate in Affen-Darstellung. Aus dem Tagebuch eines Clowns.“ In: Der Tag vom 10. Juni 1934: 8. Siemsen, Anna. 1939. „Wie steht es um die deutsche Jugend?“ In: Das andere Deutschland 2.20: 12-14. [15. Dezember 1939]. Six, Franz Alfred. 1944. Europa. Tradition und Zukunft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. Steding, Christoph. 1936. Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. Tucholsky, Kurt. 1932. „Hitler und Goethe. Ein Schulaufsatz.“ In: Die Weltbühne 20 [17.05.1932]: 751. Tucholsky, Kurt. 1996. Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Bd. 4: Texte 1920. Hg. v. Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. von Leers, Johann. 1941. Deutschland. Die geistige Wiedergeburt einer Nation. Berlin: Zander. W.[?], B.[?]. 1935. „Menschliche Freiheit – die Grundlage jedes Staates. Denkt an Kant und Schiller!“ In: CV-Zeitung vom 4. Januar 1935: 2. Weber-Stumfohl, Herta. 1939. Ostmarkmädel. Ein Erlebnisbuch aus den Anfangsjahren und der illegalen Kampfzeit der BDM in der Ostmark. Berlin: Junge Generation Verlag. Weltsch, Robert. 1933. „Trag ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ In: Jüdische Rundschau 4.4.1933: 1.

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LITERATURVERZEICHNIS

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8.3 Literatur über Victor Klemperer LITERATUR ÜBER VICTOR KLEMPERER

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8.8 Literatur im Nationalsozialismus LITERATUR IM NATIONALSOZIALISMUS

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8.9 Identitätstheorie IDENTITÄTSTHEORIE

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