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German Pages 444 Year 1981
HELMUT SCHELSKY
Thomas Hobbes - Eine politische Lehre
THOMAS HOBBES EINE POLITISCHE LEHRE
Von
Helmut Schelsky
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
@ 1981 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05012 6
Vorwort 1980 "Bücher haben ihre Schicksale": Die hier mit etwas Verspätung vorgelegte Untersuchung über Thomas Hobbes war meine Habilitationsschrift, die ich in den Jahren 1938-1940 in Leipzig und in Königsberg verfaßt habe. Sie war durch zwei Anlässe zustande gekommen: Erstens durch eine Auseinandersetzung mit earl Schmitt über seine Hobbesauffassung, bibliographisch bereits in dem Vorwort von 1941 dokumentiert; sie hat mir übrigens die entscheidende Förderung earl Schmitts in sehr persönlichen und universitären Lebensfragen eingebracht, wofür ich ihm bis heute sehr dankbar bin (Dies gibt mir Gelegenheit, auf zwei Seiten dieses viel umstrittenen l ..lehrten hinzuweisen, die bisher kaum gesehen werden: Während er gegenüber den etablierten wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit von geradezu verachtender Arroganz sein konnte, wofür ich in einigen unvergeßlichen Szenen Zeuge war, hat er jüngere Wissenschaftler, auch wenn sie gerade seinen wissenschaftlichen Thesen widersprachen, intellektuell und persönlich gefördert, wofür ich keineswegs das einzige Beispiel bin. Wichtiger erscheint mir zu sehen, daß Hobbes nicht nur wissenschaftlich-akademisch der "Lieblingsautor" earl Schmitts war, sondern daß er dessen intellektuelles und persönliches Schicksal im Verhältnis zur Staatsrnacht teilte: Indem er die Absolutheit des jeweiligen Souveräns stützte, ihn aber zugleich normativen, reclltlichen und philosophischen Regelungen seiner Machtausübung unterwerfen wollte, wurde er als eine Art wissenschaftlicher Winkelried zum herausgestellten Gegner der intellektuellen Opposition und fiel gleichzeitig den angeblich unterstützten Herrschenden durch seine normative Folgerichtigkeit auf die Nerven. Dies sicherte ihm Verfolgung und Kritik von beiden Seiten, aber wahrscheinlich auch seinen Platz in der geistigen und politischen Geschichte unserer Zeit. Das geistige und politische Bild dieses Gelehrten wird immer umstritten bleiben; man wird ihm in seinen Widersprüchen noch am gerechtesten werden, wenn man ihn geistes- und politikgeschichtlich als den "deutschen Hobbes des 20. Jahrhunderts" begreift.) Daß ich mich als junger Wissenschaftler an ihm messen durfte, ist einer der vielen Glücksfälle meines Lebens, der in dieser alten Untersuchung über Hobbes dokumentiert ist. Der zweite Anlaß zu dieser Schrift ist auf Hans Freyer zurückzuführen: Es gab an der Universität Leipzig eine "Fürstlich Jablanowski-
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sche Stiftung der Wissenschaften", die von einem polnischen Feudalherren errichtet war, der unter der polnischen Königsherrschaft des sächsischen Kurfürsten August des Starken um 1700 in Leipzig studierte und eine nicht sehr beträchtliche finanzielle Stiftung für die Universität hinterließ, aber er setzte seine 5-6 akademischen Lehrer als ihre Verwalter ein. Diese vermeintlich "unpraktische" Gelehrtengruppe hatte diese Stiftung in rund zweihundert Jahren aber so gut "verwaltet", daß die Stiftung neben der Stadt Leipzig in den dreißiger Jahren zu einem der größten Grundbesitzer mit entsprechenden Einkünften in der Region Leipzig geworden war. Sie konnten aus diesen Erträgen jeweils alle zwei Jahre wissenschaftliche Preisausschreiben für einen geisteswissenschaftlichen und einen naturwissenschaftlichen Wettbewerb finanzieren, deren Gewinn zwar nur in 200,- RM an Barauszahlung bestand, aber der die vollen Druckkosten der jeweiligen preisgekrönten Arbeit übernahm. Diese Stiftung haben die Nazis unangetastet gelassen, während sie natürlich nach 1945 in das kommunistische "Gemeinvermögen" eingeschmolzen und damit wissenschaftlich-private Förderungen dieser Art unmöglich gemacht wurden. Obwohl ich den Verdacht habe, daß die wissenschaftlichen "Hausväter" der "Fürstlich Jablanowskischen Stiftung" mehr an der Vermehrung ihres Besitzstandes interessiert waren als an der Förderung der sich wandelnden Wissenschaften, habe ich dennoch in meiner wissenschaftlichen Entwicklung von ihrer Wissenschaftsförderungspolitik profitiert. Denn aus längerer Erfahrung pflegten die Entscheidungsgremien dieser Stiftung nicht mehr blindlings ein ihnen wichtig erscheinendes Thema als Preisthema zu stellen, sondern sich vorher zu versichern, ob wenigstens ein Bewerber von wissenschaftlichem Rang an ihm teilnehmen würde. So kam Hans Freyer zu mir und fragte, ob ich mich an einer Preisaufgabe über Thomas Hobbes beteiligen würde und diese wurde dann auch gestellt. Das war nur ein Umweg unmittelbarer Nachwuchsförderung. Da ohne Konkurrenz, gewann ich natürlich dieses Preisausschreiben, war aber vor allem von der Frage, wer meiner Habilitationsarbeit mit Druckkostenzuschuß zur Veröffentlichung verhalf, entlastet. Und gerade darin bestand die Irrfahrt der hier vorgelegten Abhandlung. Die Gesellschaft ließ ihre Abhandlungen in dem in Schweizer Besitz befindlichen renommierten Leipziger Verlag von S. Hirzel erscheinen. Dieser ließ mein Manuskript in einer Druckerei in Gräfenhainichen. einer bei Wittenberg liegenden Kleinstadt mit mehreren Druckereien, setzen, und ich las fleißig, inzwischen längst in Polen oder sonstwo zum Kriegsdienst eingezogen, die Druckfahnen und Umbruchkorrekturen. Als das Buch aber Anfang 1942 erscheinen sollte, gab es längst eine Papierbewirtschaftungsordnung des Propagandaministeriums, die "un-
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nötigen" Papierverbrauch den Verlagen verbot, und der S. Hirzel Verlag teilte mir mit, daß sein Antrag auf Genehmigung einer Papierzuteilung vom Ministerium abschlägig beschieden sei, da Veröffentlichungen über "englische Philosophie" nicht kriegswichtig seien. Er schlug mir vor, den fertigen Bleisatz in der Druckerei in Gräfenhainichen zu lagern und das Buch nach dem Kriege zu veröffentlichen. So geschah es auch; dem Vorschlag eines Kollegen, der bessere Beziehungen zum Propagandaministerium hatte als der S. Hirzel Verlag, die Schrift in einer "antienglischen Reihe" herauszubringen, bin ich nicht gefolgt, mehr aus Loyalität dem Verlag gegenüber als aus antinazistischer Einstellung. Als nach 1945 die russische Besatzungsmacht und dann die kommunistische Partei in Sachsen die Herrschaft übernahmen, hat zwar der S. Hirzel Verlag noch einmal die gleicherweise genehmigungspflichtige Veröffentlichung dieser Schrift beantragt, aber sie wurde nicht nur mit fast gleicher Begründung abgelehnt, sondern die Verstaatlichung der Druckerei in Gräfenhainichen hatte auch zur Folge, daß die dort lagernden Drucksätze schon aus Materialgründen eingeschmolzen wurden. So gab es plötzlich - da mein Manuskript und die Fahnen in den Kriegswirren meines persönlichen Schicksals längst verloren gegangen waren - nur ein gedrucktes Exemplar des bei mir verbliebenen Umbruchs, das ich zur Sicherung einbinden ließ. Nach diesem Umbruchexemplar erfolgt diese Ausgabe. Mit Willen habe ich das Schicksal dieses Buches so ausführlich dargestellt, nicht weil ich es als Abhandlung für so wichtig halte, sondern weil man den politisch-polemischen Abstraktheiten von heute gegenüber der Zeit um 1940 zwar individuelle, aber konkrete Erfahrungen entgegenstellen muß, denn die wahrhaftige Geschichtsschreibung setzt sich aus Würdigung von Alltagsbagatellen von "damals" zusammen. Dies alles beantwortet nicht die Frage, weshalb ich nach vier Jahrzehnten dieser verspäteten Veröffentlichung zugestimmt und sie unternommen habe. Ich gestehe offen, daß ich dies nur unter erheblichen Bedenken tue und dem Einwand, sie sei unnötig, nicht überzeugend widersprechen werde. Drei Gründe haben bei mir den Ausschlag zu dieser späten Publikation gegeben: 1. An sich habe ich es immer als Vorzug betrachtet, ein Manuskript in einem einzigen gedruckten Exemplar zu hinterlassen; aber die Tatsache, daß ich dieses beliebig an interessierte Kollegen ausgeliehen habe, daß die Kopierung heute außerordentlich leicht geworden ist und daß ich selbst in späteren Veröffentlichungen kurz auf dieses Manuskript verwiesen habe (z. B. im Artikel "Hobbes" im "Handwör-
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terbuch der Sozialwissenschaften", Bd.5, 1956, S.126/27), macht eine solche "einmalige Hinterlassenschaft" zur Illusion. So bin ich dem Verlag Duncker & Humblot dankbar, daß er das verlegerische Risiko wagt, diese Schrift in einer kleinen Auflage herauszubringen. 2. Ganz sicher würde ich dem nicht zugestimmt haben, wenn ich nicht einige Thesen dieser Untersuchung auch für die heutige Hobbesforschung noch für belangvoll hielte. Das ist erstens die Verknüpfung der Lehre von Hobbes mit der Anthropologie und dem Wahrheitsbegriff der modernen philosophischen Anthropologie, wie sie vom amerikanischen Pragmatismus und der deutschen Schule der philosophischen Anthropologie, also vor allem Arnold Gehlen, entwickelt wurden. Zweitens aber habe ich Hobbes nicht nur in einer geistesgeschichtlichen Ideenfolge begriffen, sondern als Schriftsteller, der mit seinen Thesen politisch wirken wollte und sie daher in der politischen Situation "adressatenhaft" formuliert hat (vgl. vor allem Teil IV, A). Diesen Gesichtspunkt habe ich vor allem an der Interpretation gewonnen, die Hans Freyer den Schriften von Machiavelli gegeben hat, dessen "Fürst", an den diktatorisch herrschenden Borgia gerichtet, sich bei gleichen Grundeinsichten erheblich von den "Betrachtungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius", gemeinhin bekannt als "Über den Staat", die er als Republikaner verfaßt hat, unterschied. Diese politische Adressiertheit ist auch bei Hobbes vorhanden, vor allem im Gegensatz des "Leviathan" zum "Behemoth"; ohne diese situationsbedingte Widersprüchlichkeit aufzuklären, ist meines Erachtens jede Geistes- und Ideengeschichte der politischen Philosophie unrealistisch. (Zur Interpretation von Machiavelli vgl. Hans Freyer, "Machiavelli", Leipzig 1938). Aus Gründen, die ich anderswo dargelegt habe (vgl. meine Abhandlung "Soziologie - wie ich sie verstand und verstehe" in meinem Buch "Die Soziologen und das Recht", Westdeutscher Verlag, Opladen 1980), bin ich der internationalen Hobbes-Forschung nicht eingehend gefolgt; aber ich habe mein wissenschaftliches Interesse an Hobbes nie verloren und möchte von hier aus zwei Veröffentlichungen benennen, die mein damaliges Urteil über Hobbes verändert haben: Die erste ist die Habilitationsschrift von Bernhard Willms "Die Antwort des Leviathan. Thomas Hobbes' politische Theorie" (Luchterhand-Verlag 1970), die meinem gewandelten soziologischen Verständnis weit mehr entspricht als meine geistesgeschichtliche Deutung von 1939, obwohl ich dem aktualisierten Hegelianismus dieser Deutung mit Zurückhaltung gegenüberstehe. Vor allem aber stimme ich heute einer Bewertung von Hobbes zu, die der Staatsrechtier Martin Kriele in seiner kleinen Schrift "Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und englische
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Juristen" (Luchterhand-Verlag, 1970) geäußert hat: Er hat deutlich gemacht, daß die Gegner von Hobbes nicht nur die ideologisch-partikularistischen Theologen waren, die das religiös-politische Klima des Glaubenskrieges anheizten, sondern auch die auf Verfassungs wahrung und -reform eingeschworenen Juristen, die - man erlaube die Verkürzung - die Rechtsstaatlichkeit gegen die damals progressive Philosophie (vergeblich) verteidigten. Würde ich heute noch einmal eine Hobbes-Monographie schreiben, so würde ich die Position dieser "Legisten" gegen die Philosophen-Dominanz der neueren Staatslehre und politischen Philosophie vertreten, die uns in die ideologischen Konflikte unseres Jahrhunderts gestürzt hat. Ich würde einen entschiedenen Anti-Hobbes verfassen. 3. Als zusätzlicher, wenn auch nicht entscheidender Grund veranlaßt mich zu dieser Veröffentlichung die Überzeugung, daß man der zur Zeit gängigen pauschalen und alles umgreifenden Verdammung der Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geistig arbeiteten, mit zeitgeschichtlichen und persönlichen Dokumenten entgegentreten muß. Die schematische Unintelligenz der Gegenwart bei Schriftstellern und Journalisten, bei Parteipolitikern und - mir noch am verständlichsten - studentischen Agitatoren ist sicherlich nicht aufzuheben, denn sie verfolgen mit dieser Polemik sehr aktuelle Interessen. Aber man muß denen, die zukünftig urteilen werden, nachprüfbares historisches Material zur Verfügung stellen und ihrem Urteil vertrauen. Wer sich nicht äußert, hat auf die Dauer immer Unrecht und wird übergangen. So sehe ich meine Habilitationsarbeit heute zunächst als zeitgeschichtliches Dokument, nicht besonders wissenschaftlich hervorragend, aber zeittypisch. So habe ich bewußt kein einziges Wort des damals gesetzten Manuskripts verändert oder ausgelassen. Selbstverständlich war ich, als ich es niederschrieb, kein Gegner des Nationalsozialismus, sondern eher einer seiner Anhänger mit sehr subjektiver Deutung seiner Inhalte. Ich mache also denen, die bisher nur eine studentische Äußerung eines Zwanzigjährigen dazu benutzten, mich als alten Nazi zu bezeichnen, leicht, neues publizistisches Material für ihre Vorwürfe zu gewinnen. Sie müssen sich aber folgende Fragen stellen: Wäre in einem kommunistisch-ideologischen Staat noch nach 6-7jähriger Herrschaft eine Bewerbung um eine Hochschullehrerschaft in dieser distanziert-wissenschaftsliberalen Form überhaupt möglich oder erfolgreich? Hat nicht die liberale Wissenschaftsauffassung im "Dritten Reich" in der Existenz der Gelehrten viel länger durchgehalten, als man aus den partei- und regierungsoffiziellen Dokumenten heute herausstilisiert? überschätzt nicht die hysterisch-intellektualistische Zeitgeschichtsschrei-
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bung und -beurteilung bei weitem das Geschriebene und Gedruckte und zeigt sie sich nicht unfähig, das gelebte öffentliche und private Leben, das gehandelte Böse und Gute und vor allem die immer die eigentliche Wirklichkeit bildende, kaum auflösbare Mischung von all diesem überhaupt noch zu begreifen? So gewinnen Äußerungen im Bereich der Wissenschaften, also von Studenten, Doktoranden, Habilitanden und Professoren, oft nur wenige Sätze, aber auch von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten, ein übergewicht an politischer Bedeutsamkeit, das ihrer damaligen Wirkung in keiner Weise entspricht, weil die Deuter und Ankläger von heute die Dokumente ihrer eigenen Profession aus überzogenem Selbstbewußtsein und Berufsinteresse überschätzen. Dabei geraten die eigentlichen "Akteure" des damaligen Systems, die Blockwarte der NSDAP, die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister, die Kreisleiter und Gauamtsleiter, die vielen verdeckten Agenten der überwachung usw., die alle mehr Einfluß auf das "System des Lebens" von damals gehabt haben, in Vergessenheit; man hält sich allenfalls an die höchsten Ränge. Selbst wo Schriftsteller versuchen, diese Alltagswirklichkeit jener Zeit in Büchern, Fernseh- und Rundfunksendungen darzustellen, scheitern sie an der das gelebte Leben verzerrenden Dramaturgie ihrer Darstellungsmittel und ihrem moralischen Wertungsbedürfnis eines "reinen Gut und Böse". (Dafür sind für mich z. B. die Bücher, Sendungen und Aufrufe Heinrich Bölls ein Beispiel gewesen, mit dem ich mich in einer Mischung von Anerkennung und Kritik auseinandergesetzt habe.) Es scheint mir gerechtfertigt, diese Ansichten zunächst an dem Beispiel eines so hervorragenden Gelehrten wie Carl Schmitt kurz zu verdeutlichen, weil ich heute immer mehr sehe, daß die hier vorgelegte Schrift ohne die Oppositionsmöglichkeit zu einem so bedeutsamen Denker wie ihn nicht entstanden wäre. Heute gilt er in der politischen und fachwissenschaftlichen Betrachtung als der gewichtigste rechtswissenschaftliche Helfer des Nazi-Regimes; als solcher sollte er übrigens im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß angeklagt werden, wurde dort längere Zeit in Haft genommen und dann durch den Chefankläger Kempner, der zunächst wissenschaftsgeschichtlichen Ruhm durch eine spektakuläre Juristenanklage zu gewinnen hoffte, dann aber nicht nur immer mehr Sympathie gegenüber Carl Schmitt entwickelte, sondern auch sah, daß wissenschaftliche Gedanken nicht als verbrecherisch anzuklagen sind, wenn nicht darauf beruhende politische Handlungen als Verbrechen bewiesen werden können. So wurde Carl Schmitt im rechtsstaatlichen Sinne außer Anklage gestellt; aber seiner Haft verdanken wir die erschütternste Selbstbesinnung, die ein Gelehrter jener Zeit vorgenommen hat (Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950). Sie könnte ein geistiger Schlüssel für
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das ganze Jahrhundert werden. Eine Geschichtsschreibung, die den "Menschen in seinem Widerspruch" versteht, ist aber wahrscheinlich eine wissenschaftliche, vor allem publizistische Utopie. Ich habe nach 1945 nicht zu dem Kreis gehört, der sich ehrlich und trotzig um Carl Schmitt scharte - obwohl ich ihn in Plettenberg und er mich in Münster besucht hat -, aber die Bedeutung, die ich ihm für diese Veröffentlichung zolle, mag durchaus als eine nachträgliche verehrende Würdigung ausgelegt werden. Selbstverständlich halte ich meine Habilitationsschrift über Hobbes keineswegs für so bedeutungsvoll wie die Schriften Carl Schmitts; sie ist nie öffentlich erschienen, hat also keinerlei politische Wirkung ausgeübt, trat nie "unter den Schatten des Leviathan". Aber sie dokumentiert die geistige Existenz eines jungen Philosophen und Soziologen in den Jahren 1938-1940. Wenn nicht die neueste Geschichtsschreibung meines Faches meine geistige Abkunft schematisiert und verdeutet hätte, läge für mich kein Anlaß vor, diese Standpunkte einer alten Schrift noch herauszustellen. Ich sehe ihre Stellung in meinem geistigen Lebensgang heute so: Zunächst ist diese Schrift ohne Zweifel von einem Autor geschrieben, der seine Erfahrungen aus den Universitätsseminaren und aus seiner politischen Aktivität als Nazistudent in einer geistesgeschichtlichen Rückdeutung wissenschaftlich zu verarbeiten trachtete. Aus einer provinziell-idealistischen Gymnasialbildung kommend, daher zunächst völlig unpolitisch, wurde ich 1933 von dem revolutionären Impetus der Jugend, der im akademischen Bereich nur bei den Nationalsozialisten zu finden war, mitgerissen; in der damals nicht als Gegensatz erlebten, heute aber als produktive Spannung begriffenen Widerspruch von politischem Engagement und traditionell liberaler Wissenschaftsauffassung ist dieses Buch entstanden. So ist aus ihm je nach Belieben und Urteilsfähigkeit sowohl eine politische Position von damals wie ein Beitrag zu einer noch heute gültigen geisteswissenschaftlich liberalen Auffassung der Forschung herauszulesen, weil es in der Tat bei des ist. In meiner persönlichen wissenschaftlichen Entwicklung steht dieses Buch in einem wissenschaftlichen Umbruch von der Nachfolge in der idealistischen Philosophie zur mehr empirisch bestimmten philosophischen Anthropologie, die meine wissenschaftlichen Leitideen nach 1945 bis heute bestimmt hat. Die darin enthaltene Abwendung von der deutschen Tradition idealistischer Philosophie kann man daran erkennen, daß ich bereits 1941, wo ich das erste Vorwort zur Drucklegung schrieb, mich von der philosophischen Grund- und Selbstinterpretation des ersten Teiles "Die vier Menschenbilder" kritisch distanzierte. Trotzdem ist mir von den wenigen, aber sachkundigen Lesern dieses Manuskripts
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immer wieder versichert worden, daß in diesem Buch und auch in seinem ersten Teil bereits meine wissenschaftlichen Stellungen nach dem Kriege angelegt seien. Das ist ein zweischneidiges Urteil. Es entsteht aus dem Widerspruch von Fremdurteilen und Selbstverständnis: Während andere, distanzierte, wohlwollende oder polemische Betrachter Kontinuitäten feststellen, sehe ich in meinem Selbstverständnis mehr Abbrüche und Wandlungen. Meine nie verlorene persönliche Selbstverantwortung, wissenschaftlich "Identität" genannt - Glaubensbekehrungen liegen mir nicht - beruht auf außerwissenschaftlichen Lebenserfahrungen, weshalb ich mich dem Wechsel geistiger und wissenschaftlicher Ansichten existenziell ungehemmt hingeben konnte. Aber wahrscheinlich haben beide Gesichtspunkte "recht": auch Paulus hat mehr vom Saulus fortgeführt, als er glaubte; auch die zahlreichen Antikommunisten, die aus dem jugendlichen Ursprungsglauben an den Kommunismus kamen, haben in der Art ihrer Publizistik vielleicht mehr an politischer Einstellung übernommen, als sie wissen und meinen. Ich habe versucht, in einer traditionell liberalen und damit sowohl parteipolitisch wie interessenpolitisch enthaltsamen Wissenschaftstätigkeit die Folgerungen aus meinen jugendlichen Fehlurteilen zu ziehen. Andererseits ist mir aus meiner Natur und der Politisierung meiner Jugend die Verantwortung und der intellektuelle Stachel geblieben, außer meinen wissenschaftlich soziologischen Arbeiten auch in unmittelbaren politischen Äußerungen zur politischen Aktualität Stellung zu nehmen. Die publizistische Zwielichtigkeit, in die man dann gerät, muß man hinnehmen. So hoffe ich, daß die verspätete Veröffentlichung dieses Buches nachsichtige und urteilsfähige Leser findet. Dank schulde ich meinem Kollegen Professor Dr. Dr. Werner Krawietz nicht nur, weil er gegen Widerstreben mich zu der Veröffentlichung dieser alten Schrift überredet und überzeugt hat, sondern weil er mir darin und in vielem anderen am Ende meiner wissenschaftlichen Laufbahn geholfen hat. Münster, im Mai 1980
Helmut Schelsky
Vorwort Das Buch entwirft das Bild eines politischen Denkers von europäischer Bedeutung. Entstanden ist es aus einer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt über die deutsche Hobbesauffassung in ihrem Gegensatz zur westeuropäischen (vgl. dazu die Aufsätze im "Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie", Bd. XXX, 622 ff. und Bd. XXXI, 176 ff., und Carl Schmitt, "Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes", Hamburg 1938). Der erste Teil versucht eine Einführung in die Grundgedanken dieser Auffassung zu sein, indem er die Beziehung von Lehren auf die Handlungswelt des Menschen grundsätzlich behandelt. Diese Haltung des Denkens, die Sätze und Lehren nicht mehr schlicht in ihrem Aussagegehalt hinzunehmen, sondern sie in einer Reflexion auf die Handlungen des Menschen zu beziehen, in einer Reflexion, die sowohl die idealistische Reflexion des Denkens in sich als auch jede Form materialistischer oder psychologischer Reduzierung überschreitet, scheint mir die Aufgabe der Philosophie unserer Zeit zu sein und einen neuen Bereich der Wahrheit zu erschließen. Die Methoden dieses Denkens sind viele: mit dieser kritischen Zurückhaltung stehe ich jetzt diesem einleitenden Teile gegenüber, den ich dennoch als Einführung belassen will, weil er mein Zugang zu dem Hobbesbild war, das die Arbeit entwirft. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ob ich gemäß einer bestimmten Methode in der Erläuterung des Hobbesschen Denkens vorgegangen bin, sondern geglaubt, man müsse Hobbes einmal so nachdenken, als ob man seine Aussagen noch heute als Wahrheiten vertreten wolle. Der bisherigen Hobbesforschung ist, mit sehr wenigen Ausnahmen, nicht der Vorwurf zu ersparen, daß sie nicht die bei Hobbes gewonnenen Wahrheiten aufdecken und erhalten, sondern sie als ein geschichtlich aufgefaßtes Denkwerk nur einordnen wollte in die Problemgeschichte oder vermeintliche Geistesentwicklung. Diese Haltung verführt dazu, die Wahrheit als das Selbstverständliche zu übersehen und auf den Irrtümern als dem Auffallenden seine Auffassungen zu begründen. Im Gegensatz zu einem in diesem Sinne geschichtlichen Denken habe ich mich um ein philosophisches und politisches Verständnis von Hobbes bemüht und ihn dazu bewußt aus den Kräften der Gegenwart begriffen. Darin
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liegt zwar die Absicht, Hobbes zu rehabilitieren, jedoch nicht die, ihn zu einem unmittelbaren Vorläufer des Geistes unserer Zeit zu stempeln. Allerdings sehe ich eine tiefe, wenn auch geheime Verwandtschaft in der unbedingten politischen Daseinsbegründung dieses Denkers mit der Lebenshaltung der Gegenwart. Vor allem aber ist Hobbes als ein klassischer Gegner des Systems zu begreifen, das nicht erst mit der Französischen, sondern bereits mit der englischen "glorreichen Revolution" von 1688 seine Herrschaft in Europa aufgerichtet hat. Diese gemeinsame Gegnerschaft läßt mich die notwendige Kritik an Hobbes weniger in der Frage sehen, was an seiner Lehre falsch ist, als in der, was in ihr fehlt. Insofern dies aber mehr eine Frage nach dem Wesen der Gegenwart als nach Hobbes ist, schien es mir notwendiger, die bei ihm vorhandenen Wahrheiten erst einmal in ihrer Lebendigkeit darzustellen. Ein sich für die Zukunft Europas verantwortlich wissendes Denken mag dann selbst entscheiden, wieweit es sich auch diesem politischen Denker der europäischen Vergangenheit verpflichtet fühlt. Im Felde, 1941 Helmut Schelsky
Inhaltsverzeichnis Erster Teil
Die vier Mensrhenbilder A. These..............................................................
19
B. Die ontologischen Menschenbilder .......................... " . . . . . ..
20
C. Die dynamischen Menschenbilder ...................................
26
D. Diskussion der Tragweite dieser Lehre ..............................
38
E. Anwendung auf Hobbes ............................................
44
Zweiter Teil
Vb er Sprache und Tat A. Mensch und Sprache
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B. Der Mensch als Macht
83
I. Anthropologische und politische Macht ... ',. .. . . . ..... ... .. . ... ..
83
H. Selbsterhaltung ................................................
87
IH. Machtmittel und Wille zur Macht ...............................
90
IV. Macht als Zustand .............................................. 121 V. Leistungen dieses Machtbegriffes .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. 135
Dritter Teil
Der handelnde Mensrh A. Die Einheit der Handlung .......................................... 140
1. Methodische Vorbemerkung .................................... 140 11. Körper und Geist, Trieb und Intelligenz ........................ 144
16
Inhaltsverzeichnis 111. Wille .......................................................... 149 1. Vollzug ........................... ',' ........................ 2. Trieb und Triebgegenstand ............................ ,...... 3. überlegung ........................... ',' . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Wille und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . ..
149 150 157 168
IV. Charakter ....................................................... 181 1. Gewohnheit ................................................. 181
2. Haltungen .................................................. 184 3. Charakter und Sitten .................. ,.................... 194
V. Die Rolle der Intelligenz im menschlichen Verhalten ............ 197 1. Gedankenverlauf ......................... ',' ................. 197
2. Zwischenbetra-chtung über das naturwissenschaftliche Denken bei Hobbes ........................................... '," .... 3. Wahrnehmen und Vorstellen ................................ 4. Erfahrung und Wissen ...................................... 5. Wahrheit und Gewißheit ....................................
205 225 231 234
B. Der Weg zur Vollkommenheit ...................................... 243 I. Wissenschaft .................................................... 243
1'. Wahrheit als Konvention und Definition .................... 243 2. Schöpfung als wissenschaftliche Bewahrheitung .............. 256 11. Sittlichkeit .................................................... 262 1. Natürliche Tugenden .................................... ,. . .. 262 2. StaatUche Tugenden ........................................ 274 III. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Ihre natürliche Entstehung, Entwicklung und Rolle im menschlichen Verhalten ............................................. 2. Theologie der Allmacht und Staatsreligion .................. 3. übergang zur Erörterung der Staatlichkeit ..................
284 284 302 317
Vierter Teil
Die Politik A. Die Gerichtetheit der Lehre an den Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 321
B. Naturzustand ...................................................... 333 I. Naturrecht und Krieg aller gegen alle .. , ....... , ....... , ....... 333 1. Menschliche Gleichheit ...................................... 333
2. Vernunft und Recht ......................................... 339 3. Krieg aller gegen alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 341 4. Die politische Bedeutung dieser Lehren ...................... 342
Inhaltsverzeichnis
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H. Naturgesetz und Friede ......................................... 346 1. Gesetz als Bindung ........................................ 346 2. Naturgesetz und Vernunft .................................. 349 IH. Die naturgesetzlichen Grundlagen des demokratischen Staatsbewußtseins ..................................... ... . . . . . . . . . . . . . .. 1. Struktur der Naturgesetze und die demokratischen Identitätsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. 2. Billigkeit und die Begriffe der Vertragslehre ................ 3. Person und Autorität ......................................... 4. Repräsentation ..............................................
351 351 356 362 364
C. Herrschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 371 1. Der Staat als Macht ............................................. 1. Die Gesetzli:chkeit der Macht ................................ 2. Macht und Recht ................. " ........................... 3. Der natürliche und der künstliche Staat ......................
371 371 388 404
H. Der Staat als Einigung ........................................ 414 1. Einigung als Gesinnungszustimmung ........................ 414 2. Staatsverfassung ............................................ 418 H1. Der Kampf um die Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Souveränität ......................................... " ....... 2. Die Gegner ................................................. 3. Der politische Einsatz der Lehre . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
423 423 427 438
Hinweis Der Verfasser hat sein Buch im wesentlichen allein aus den Quellen und in Auseinandersetzung mit ihnen erarbeitet, wobei die Belegstellen von ihm selbst durchgängig von vornherein in runden Klammern in den Text eingefügt wurden. Die ursprünglich in den sehr wenigen Fußnoten vermerkte Sekundärliteratur wurde jetzt in eckigen Klammern in den Text eingezogen. Bei der Vorbereitung zum Neudruck sind in Wahrung der Authentizität des Textes, abgesehen von der Beseitigung offensichtlicher Druckfehler, keinerlei sachlich-inhaltliche Eingriffe vorgenommen worden. Derartige Eingriffe sind deshalb auch dort unterblieben, wo man aus heutiger Kenntnis Veränderungen oder Ergänzungen vorgenommen hätte. Für die wertvolle Mithilfe bei den Korrekturarbeiten während der Drucklegung danke ich den Sekretärinnen des Lehrstuhls für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie Frau Yvonne Towndrow und Frau Martina Hanschke sowie den studentischen Hilfskräften Thomas Nöcker, Alexander Puplick, Andreas Schemann, Edgar Schröder, Stefan Steenken und Petra Wemer. Münster, im September 1981 2 Schelsky
Werner Krawietz
Erster Teil
Die vier Menschenbilder A. These Die Aussagen des politisch handelnden Menschen sind zunächst stets zweck- und zielgebunden und durch die Umstände einer vorliegenden Lage der Wirklichkeit und die Mittel der darin aufgegebenen Taten bestimmt. Nimmt jedoch das politische Tun im Bewußtsein des Handelnden entscheidende und grundsätzliche Bedeutung an, so werden seine Aussagen sogleich zu Begründungen seiner Handlung und gewinnen einen Gehalt, der nicht allein aus der Zielbestimmtheit der Situation und Zweckhaftigkeit des einzelnen Tuns geschöpft ist, sondern auf die Gesamtansicht zurückgreift, die der Handelnde vor der Gesamtheit seines Tuns, also von seinem tätigen Leben in der Welt überhaupt, hat. Die als entscheidend empfundene Tat ruht deshalb stets in einer Selbstanschauung des Menschen von sich und seinem Leben. Dabei mag der politisch Handelnde diesen tieferen Gehalt seiner Aussage gar nicht als das von ihm Gemeinte und Ausgesprochene empfinden, aber in gewissen unbezweifelten Überzeugungen und als Selbstverständlichkeit hingesetzten Auffassungen der Sachlage, im Inhalt gewisser von ihm gebrauchter Begriffe ist der Gehalt dieser Selbstanschauung des Menschen vorhanden. So ist jede politische Aussage tieferer Art zugleich eine Aussage über die Selbstanschauung des sie aussprechenden Menschen. Die Leistung des politischen Denkers besteht nun darin, diese in der Tiefe der politischen Handlungen und Aussagen vorhandene Selbstansicht des Menschen in ihrer Gesamtheit als Lehre auszusprechen. So ist eine politische Lehre stets die Begründung eines politischen Tuns oder Geschehens. Dabei mag auch diese Lehre sich nur am Gegenständlichen und Inhaltlichen des menschlichen Handeins halten und zu einer Lehre vom Staat, vom Recht, von der Geschichte usw. werden, ihren Charakter als politische Lehre erhält sie jedoch dadurch, daß sie im Selbstverständnis des Handelnden zur tieferen Begründung von Handlungen wird oder werden kann. Sie enthält, ausgesprochen oder unausgesprochen mitgedacht, stets eine Ansicht vom Menschen, von der 2·
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Erster Teil: Die vier Menschenbilder
Möglichkeit und dem Sinn seiner Handlungen, von dem, was in der Welt zu tun und nicht zu tun ist. Alle sachlichen Aussagen über Staat, Recht, Volk, Familie usw. sind daher, insofern die Lehre eine politische ist, bereits bezogen auf eine Selbstanschauung des Menschen und seiner Tätigkeit in der Welt und haben nur in bezug auf dieses dem sachlichen Gehalt der Aussage vorausgehende Bild des Menschen von sich selbst einen genau bestimmbaren Wahrheitsgehalt. Indem jede politische Lehre dem Menschen Begründungen seines HandeIns gibt, hat sie zur Voraussetzung ihrer Aussagen eine Ansicht von dem Menschen, an den sie sich wendet. Erste Aufgabe einer politischen Lehre und auch der Untersuchung aller bereits aufgestellten politischen Lehren muß also sein, die Ansicht des menschlichen Selbstverständnisses, das Bild vom Menschen, aufzustellen und zu erfassen, auf das hin die Aussagen der Lehre erst ihren eindeutigen Sinn und Wahrheitsgehalt gewinnen. Es scheint vier grundsätzlich zu unterscheidende Arten der Selbstanschauung des Menschen zu geben, auf deren Voraussetzung sich alle bisher vorgebrachten politischen Lehren zurückführen lassen: das optimistische, das pessimistische, das intellektualistische und das aktivistische Bild vom Menschen.
B. Die ontologischen Menschenbilder Die optimistische Selbstauffassung des Menschen läßt sich auf die These "der Mensch ist von Natur gut" bringen, während demgegenüber die pessimistische auf die These "der Mensch ist von Natur schlecht" zu bringen wäre. Die Lehre von der ursprünglich guten Natur des Menschen findet sich am reinsten etwa in der von Rousseau und Herder vertretenen idyllischen Ansicht vom Menschen, der aus ihrem idyllischen Naturgefühl heraus Mensch und Volk etwas pflanzenhaft Gutes und Liebeswertes sind, die man nur ihrer eigenen, zuweilen als irrational angesehenen Natur zu überlassen braucht, um zu einem wünschenswerten und endgültig in vollkommener Verfassung verharrenden Zustand der Völker und Menschheit zu kommen. Dieses idyllische Denken, das in der deutschen Romantik den Grund zu unserem modernen nationalen Selbstbewußtsein legte, ist den politischen Romantikern der Gegenwart noch durchaus geläufig: es liegt gewissen Auffassungen von Volk und Rasse zugrunde, die heute in Deutschland untätige Menschen haben, die da glauben, das Schicksal eines Menschen oder eines Volkes sei fest bestimmt und unabänderbar festgelegt in
B. Die ontologischen Menschenbilder
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den Erbmassen und Volkscharakteren, die nun einmal als feste, eindeutige und bleibende vorhanden seien, ohne daß der Mensch etwas dafür oder dagegen tun könne; Rasse und Volkstum lebe sich einfach aus. Dies als rein theoretische Erkenntnis gemeint - wir sprechen nicht davon, daß eine ähnliche These aus einem typenbildenden Wollen heraus aufgestellt werden kann, sondern von dieser These im Munde der Untätigen - drückt nur den Grundzug dieser optimistischen Menschenansicht aus: des Menschen Natur ist fest bestimmt, und zwar ist sie gut, also muß man nur den Menschen seiner ursprünglichen Natur überlassen und nichts dazu tun. Diese Ansicht von einer ursprünglichen Natur ist aber polemisch gegen eine jeweilig zeitgemäße Natur gerichtet, die sich auf den Menschen in einer bestimmten historischen Gesellschafts- oder Staatsordnung bezieht, die als der nicht natürliche, sondern künstliche und verbildete Zustand des Menschen aufgefaßt wird. Der natürlich gute Mensch ist durch eine äußere Umwelt verdorben und schlecht geworden, Rousseau klagt die Zivilisation an, Herder empfindet gegenüber den pflanzenhaft natürlichen Gemeinschaften von Volk und Familie den Staat und die Gesetze und alle Herrschaft und Politik als übel, als künstlich und gewaltsam. Diese können nur als vielleicht notwendige Mittel zur Rückkehr zu einem allenthalben guten und natürlichen Zustand des Menschen bejaht werden, eine Ansicht von der Bedeutung des Staatlichen, die auch der Marxismus teilt, der durchaus auf dem Boden dieser optimistischen Ansicht vom Menschen steht. Der Anarchismus mit seiner unbedingten Staatsfeindschaft ist geradezu der Idealfall einer politischen Lehre, die auf der Grundanschauung von der natürlichen Güte des Menschen erwächst. Dabei braucht die ursprüngliche gute Natur des Menschen durchaus nicht von vornherein oder allein als moralisch angesehen werden: der Mensch kann auch als ein von Natur zu staatlicher Ordnung und verträglicher Gemeinschaft geneigtes Wesen betrachtet und sein natürliches Wohlgeratensein als ein soziales Positivum bestimmt werden. So geht das Naturrecht von dieser These aus, indem es eine in der Natur des Menschen gegründete positive Rechtsordnung annimmt, die den vollkommenen Rechts- und Gemeinschaftszustand des Menschen bildet, wenn man sie nicht durch unnatürliche Maßnahmen zerstört. Sittliches und soziales Wohlgeratensein kann hier dann für dasselbe gehalten werden, indem man etwa wie das Naturrecht die zwei Standpunkte des forum internum und externum einführt, die es ermöglichen, die Natur des Menschen sowohl als sittlich gut wie sozial verträglich zu bestimmen und dennoch die These einer einheitlich guten Natur des Menschen zu behaupten. Wesentlich an diesem Standpunkt ist stets, daß der Mensch unabhängig von seinem geschichtlichen und politischen Tun ein eindeutiges und feststehendes Wesen zugeschrieben bekommt,
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das vor einem moralischen oder vor einem sozialen Forum als gut und wohlgeformt angehen wird. Dieselbe Behauptung, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, stellt der pessimistische Standpunkt auf. Die These "der Mensch ist von Natur
schlecht" meint, daß in moralischer und sozialer Hinsicht der Mensch stets versagen muß, weil ihn gerade seine eigentümlich menschliche Natur dazu zwingt. Man mag dabei den Menschen als eine Art Raubtier, als ein von Natur aus wolfsähnliches Geschöpf betrachten, man mag nach der Art moderner Psychologen einen ursprünglichen Machttrieb im Menschen annehmen, ein vitales Grundwollen also, das auf unbedingtes Besitzergreifen, Einverleiben und Zerstören ausgeht und darin sein Genüge findet. Die Sucht, den Machttrieb zu befriedigen, ist dann das Wesen des Menschen, gegen das er nicht ankann und dem er letzthin unterworfen ist. Oder man zeichnet das Bild des schlechten Menschen von übermenschlichen Normen der Sittlichkeit und Religion her: der Mensch ist fundamental böse und sündig. Schopenhauer setzt den Willen als ein radikal Böses in der Welt und im Menschen als Grund ihres Daseins an; vielerlei religiöse Lehren stimmen darin überein, daß des Menschen Natur von Grund auf sündig sei, daß der Mensch gerade durch seine Natur stets zu Leid und Not, zu Qual und Sorge geführt werde, denen er nicht ausweichen kann und die ihn schlecht oder zum Sünder machen und das Leben ihm zur Hölle. Für diese Lehren ist wie für die optimistischen der Staat auch etwas Äußerliches, aber hier ein Zwang, der aufgerichtet wird, um notdürftig die schlimmsten Auswirkungen der menschlichen Natur zu verhindern, eine Art Maulkorb, der den Menschen nur da beißen läßt, wo es erlaubt wird. Für die religiös pessimistischen Standpunkte kann der Staat wiederum gar zu dem diabolus schlechthin werden, der selbst nur die großartigste, dämonische Auswirkung dieses Sündigen und radikal Bösen im Menschen ist, demgegenüber in ihrer Anschauung dann die irdische Kirchen- oder Sektenorganisation die Rolle der notdürftigen oder teilweisen Verhinderung der Auswirkungen des Bösen im Menschen übernimmt. Man kann nun behaupten, daß beide Ansichten zum politischen Handeln grundsätzlich dieselbe Haltung einnehmen: politisches Handeln als schaffendes ist unnötig, denn der Mensch ist in einem natürlichen Zustand, der im Grunde keiner Handlung bedarf. Doch hier sieht man bereits die Doppeldeutigkeit dieser Aussage in Beziehung auf die beiden Lehren. Das grundsätzliche Nichtbedürfen der politischen Handlung des optimistischen Standpunktes bedeutet, daß man den Menschen seiner natürlichen Existenz überlassen soll, um bereits hier in der Welt einen vollkommenen, moralischen und sozialen Paradieszustand her-
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zustellen. Die Idee eines natürlichen menschlichen Lebens als vollkommen und bejahenswert ist absolut diesseitig und setzt den Menschen in seiner Wirklichkeit der Existenz von Flora und Fauna gleich; der Mensch wird zum Organismus, der aus sich heraus die ihm gemäßen Lebensbedingungen entwickelt und sich selbst seiner Natur gemäß mit dem Höchstmaß an Zweckmäßigkeit erhält. Das Bild vom Menschen, das ihn in Analogien zur Welt des Organismus erfassen zu können glaubt, ist hier verwurzelt und verzichtet in seiner konsequentesten Fassung durchaus auf die politische Tat, beziehungsweise sieht in ihr eben eine organische Funktion, die durchaus der organischen Sicherungsfunktion einer Tierherde gleichkommt. Dann ist der Mensch von Natur stark, oder richtiger und genauer: der Staat ist ein Wesenszug der festen und als biologischer Sachverhalt bestimmbaren organischen Natur des Menschen. Die These "der Mensch ist gut" kann so für sich in Anspruch nehmen, daß sie von vornherein weltbejahend und "politisch" ist, denn sie legt ja bereits in die Ansicht vom Menschen seine soziale Natur, seine Gemeinschaftsverfaßtheit, vielleicht sogar schon Staatlichkeit hinein. Dennoch ist sie gegen die politische Tat als ein schöpferisches Tun: der Staat oder die Gemeinschaft ist ja nicht erst zu schaffen, son~ dern ist einfach ein aus der Natur des Menschen herausgelebtes Naturprodukt. Daher ist es gleichgültig, ob ich nun den Staat als das eigentlich sozial gute Produkt bezeichne oder, wie es etwa Herder folgerichtiger getan hat, das Volk, die Familie, die Sippe: die soziale Natur des Menschen schafft sich natürliche Gemeinschaften, die völlig natürlich entstehen und bestehen und den vollkommenen Zustand des Menschen bilden. Dieselbe Behauptung von dem Nichtbedürfen des HandeIns steckt in der pessimistischen Ansicht: menschliches Dasein ist schlecht von Grund auf, man muß es aufgeben, um seinen Folgen zu entfliehen. Weltflucht ist stets die radikale Lösung des Menschen, der vor seiner sündigen Naturgebundenheit zurückschaudert. Es ist der Versuch, das Leben in der Welt, wo diese Natur unabänderlich gilt, aufzuheben zugunsten einer nicht mehr menschlichen Welt: dem Reiche Gottes oder des Geistes. Die rein menschliche Wirklichkeit wird also im Gegensatz zum optimistischen Standpunkt hier durchaus nicht bejaht, es gibt keinen ursprünglichen Begriff einer positiven sozialen Wirklichkeit; dies Bild des Menschen ist im Grunde unpolitisch, aus der Wirklichkeit des Menschen hinausdeutend auf ein Eigentliches, Unmenschliches. Und doch braucht wiederum diese Jenseitshaltung nicht zum pessimistischen Standpunkt zu gehören; es gibt einen Standpunkt, man könnte ihn das Weltbild des Selbstmörders nennen, das die folgerichtigste pessimistische Haltung ausdrückt: die Erde ist Leid, der Mensch ein Übel, aber es gibt nichts außerdem; man wird ein Haufen Knochen,
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wenn man stirbt, es ist alles sinnlos. Dieses Weltbild, das theoretisch völlig folgerichtig und berechtigt wäre, ist bezeichnenderweise nie als eine Anschauung vertreten worden, denn in ihm läßt sich gar keine Anschauung mehr vertreten, weil in ihm alles sinnlos ist, also auch das Vertreten einer Anschauung. Es scheint, daß der Mensch zu einer Lehre vom konsequenten Pessimismus gar nicht fähig ist, sondern jede Lehre die Möglichkeit eines sinnvollen Wollens schon voraussetzt. Beide Standpunkte, der optimistische wie der pessimistische, stimmen also darin überein, daß dem politischen Handeln des Menschen keinerlei entscheidende Bedeutung für seine Natur und damit letzten Endes auch für das Wesen seiner sozialen Verfaßtheit in der Welt zukommt, der optimistische, weil er den wünschenswerten Zustand im Wesen bereits von der Natur gegeben vorzufinden meint, der pessimistische, weil er einen wünschenswerten Zustand des Menschen durch dessen Natur grundsätzlich ausgeschlossen sieht. Die Grundlage und Voraussetzung beider Haltungen ist die Gewißheit, daß der Mensch eine eindeutige, fixierte Natur hat, die sich sein Leben notwendig unterwirft. Man muß allerdings sehen, daß diese Behauptungen nur auf die Formen der optimistischen und pessimistischen Lehre zutreffen, die sich in den Rahmen der von ihnen gedachoten Wirklichkeit halten und völlig konsequent nur den positiven Teil ihrer Weltansicht entwickeln. In dieser Form richten sie sich in keiner Weise auf oder gegen die vorgefundene Wirklichkeit, sondern sind rein spekulativ, in sich geschlossen. Ist dieser Standpunkt jedoch in die vorgefundene Wirklichkeit gerichtet, also für unser Problem: ist er gezwungen, mit dem jeweils in seiner Zeit sich vorfindenden Faktum des Staates sich auseinanderzusetzen, so nehmen beide Standpunkte seltsam gewendete Positionen hinsichtlich ihres politischen Charakters ein. Die von ihnen jeweils vorgefundene staatliche und gesellschaftliche Wirklichkeit beziehen sie auf ihr grundsätzliches Bild vom Menschen, und je nachdem nun dieses die ursprüngliche Güte oder Schlechtigkeit des Menschen behauptet, wird die gegebene staatliche Wirklichkeit ein relatives übel oder Gut, ein künstlich verderbter oder künstlich erträglich gemachter Naturzustand. Die vorgefundene Wirklichkeit ist für sie im Gegensatz zu ihrer spekulativ gedachten immer gemischt, aber es ist wie bei den optischen Fixierbildern mit den weißen und schwarzen Karos immer die entscheidende und völlig beliebige Frage, ob man das Weiß oder das Schwarz als Grund und das andere als aufgemalt ansehen und so auf dem Schachbrett weiße Felder auf schwarzem oder schwarze auf weißem Grund erblicken will. Die Wirklichkeit ist anders als der Naturzustand, aber nach diesen Lehren schaut der natürliche Grund des Menschen stets durch die Lücken seiner künstlichen Verfaßtheit hindurch.
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Für das optimistische Menschenbild ist nun jeder konkrete Zustand, der vorgefunden wird, verbesserungsbedürftig, die vorhandene Wirklichkeit ist grundsätzlich Objekt der Polemik. Die vorgefundene Staatsund Gesellschaftsordnung ist eben jenes dem Menschen Äußerliche, das ihn denaturiert, verderbt hat; so ist gerade das optimistische Menschenbild, wenn es eine natürliche Rechts- oder Gemeinschaftsstruktur des Menschen kennt, immer revolutionär, umstürzlerisch, polemisch gegen das historisch gewordene Macht- und Herrschaftsverhältnis. Da der gute und befriedigende Zustand von Natur erwächst und besteht, ist das eigentlich zu Tuende, das dieses Weltbild noch übrigläßt, das Wegräumen der Unnatur, die Zerstörung des politisch-historisch Gewordenen, um den Naturzustand herzustellen. Gerade die Theorien, die von der Güte des Menschen ausgehen, müssen die Zerstörung als einzige zu unternehmende Tat predigen: Marxismus und Anarchismus, urchristliche Bewegungen wie Täuferturn, reines Levellertum usw. verkünden daher den Aufstand gegen die gewordene Welt, die Vernichtung des Staates, die Weltrevolution, wie natürlich jede Form des "Zurück zur Natur" ein geheimes antipolitisches, staatszerstörendes Wollen einschließt. An diesem Ort wird in optimistischen Weltbildern die politische Tat gefordert: als zerstörende, allenfalls als 'Vorbereitende erhält sie Wert und Bedeutung. Von hier aus enthüllt sich die optimistische Lehre vom Menschen als durchaus unpolitisch oder gegenpolitisch. Das pessimistische Menschenbild, das in seiner spekulativen Konzeption keinerlei Raum für soziale Werte und Ordnung zeigte, rückt dagegen in seiner Beziehung auf die vorgefundene Wirklichkeit sehr nahe an die Erkenntnis des echten Wertes der politischen Tat heran. Auch für es ist das staatliche Tun ein Äußerliches, das an der bösen Natur des Menschen und dem Leid der Welt grundsätzlich nichts ändern kann, aber da es eben ein Äußerliches ist, vermag es als einziges der negativen Natur des Menschen einige Zäume und Fesseln anzulegen. Der Staat als das Ungeheuer schlechthin vermag die kleinen Ungeheuer von Menschen zu beherrschen, in Furcht zu setzen, so daß sie ihre Natur nicht schlechthin ausleben, sondern etwas zähmen und bändigen. Der Staat ist dann der Bändiger, der den bösen Trieben des Menschen die gesetzlich vorgeschriebenen Wege eröffnet und darüber wacht, daß die notdürftige Ordnung gewahrt wird. Es gibt dann Spielregeln der Schlechtigkeit, und der Staat ist darüber Schiedsrichter. In diesem Begriff des Staates geht ein totaler Staat ebenso ein wie der Nachtwächterstaat des Liberalismus. Man hat Hobbes' "Leviathan" so interpretiert; man hat mit Recht bemerkt, daß hier der liberalistische Staatsbegriff eines Pessimisten wie Schopenhauer verankert ist. Gewiß gewinnt damit die politische Tat einen positiven Charakter, aber
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diese Bewertung darf uns nie darüber hinwegtäuschen, daß dieses Positivum nur ein relativ Gutes ist, nämlich nur insofern es das Böse verhütet. Die Aufgabe des Staates wird bestimmt durch die schlechte Natur des Menschen, er ist verhütend, vorbeugend, nicht aber im eigentlichen Sinne aufbauend und schöpferisch. Es wird hier eine durchaus in jedem staatlichen Handeln vorhandene Seite erkannt und bejaht, aber man sieht das Zentrale der politischen Tat nicht, man betont das Unwesentliche und vor allem: man orientiert es an einem außerhalb des Politischen liegenden Zustand des Menschen. Dennoch ist kein Zweifel, daß diese Ansicht des Menschen dem politischen Tun gemäßer ist als die unpolitische optimistische Menschenbetrachtung: der Pessimist kommt zur Bejahung eines gegenwärtigen Staates, wenn auch eines unechten, eines reinen Zwangsstaates, der dem Menschen in seinem Wesen äußerlich bleibt. Man könnte die optimistische und pessimistische Ansicht vom Menschen die bei den ontologischen Standpunkte der politischen Lehren nennen: sie setzen beide eine feste, inhaltlich bestimmte und im Grunde nicht veränderbare Natur des Menschen allem seinen Handeln und Leben voraus, auf die sie dann alle menschliche Wirklichkeit als ihren Entstehungs- und Erklärungsgrund zurückbeziehen. Die Thematik des Seins ist für diese Standpunkte grundlegend; das menschliche Handeln ist sekundär, Ausfluß eines vorhandenen Seins und restlos durch dieses inhaltlich bestimmt und gesichert. Es ist im Tiefsten die Idee des Mechanismus, die diese Denkhaltung beherrscht: der Mensch ist in seinem Leben Automat seiner Natur; alle Gründe seines Handeins werden hier vor die Handlung gesetzt und als seiende zu einer fiktiven Wirklichkeit gebracht, mit deren Beschreibung dies Denken sein Genüge findet. Es ist augenscheinlich, daß für dieses Denken das Wesentliche der politischen Tat, die Entscheidung, überhaupt verschwindet. Die Politik als die Lehre vom politischen Handeln wird in diesen Systemen von der Anthropologie völlig aufgesaugt, sie wird ein bloß gefolgerter Teil der Lehre von der ursprünglichen Natur des Menschen. C. Die dynamischen Menschenbilder
Diesen Lehren von der seienden Natur des Menschen stehen nun zwei Standpunkte gegenüber, die das Wesen des Menschen grundsätzlich als ein Werden begreifen, seine Natur als inhaltlich noch unentschieden und frei, aber auf Entscheidung und Erfüllung durch den Menschen selbst angelegt ansehen. Für sie ist der Mensch zunächst eine Möglichkeit, eine Aufgabe, die eben derselbe Mensch erst zu ver-
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wirklichen, zu lösen, zu tun und zu bestimmen hat. So ist der Mensch sich aufgegeben und in ihm liegt die Erfüllung seiner Natur und seiner Bestimmung. Der Mensch hat etwas zu tun in der Welt, er soll etwas und dies Sollen ist keinem naturalen Müssen blindlings unterworfen. Er ist von Natur weder gut noch schlecht, sondern er wird in seinem Leben durch sich selbst das eine oder andere oder zumeist beides, er hat also jeweilig die besondere Natur, zu der er sich macht und natürlich durch viele Generationen hindurch gemacht hat. Grundsätzlich wird also folgende These vertreten: der Mensch ist veränderbar, und zwar durch sich selbst, durch sein Tun in der Welt. Der wesentliche Bestandteil am Menschen ist, daß er eine Zukunft hat, während alle natürlichen Wesen nur eine über die Gegenwart hinaus gedachte Vergangenheit für sich in Anspruch nehmen können, d. h. im Handlungssinne zeitlos sind, wie eine Blume oder ein Stein vom Menschen stets als zeitlos empfunden werden. Die Erfüllung des menschlichen Wesens im höchsten Zustand ist ein Zukunftszustand im Gegensatz zu dem vergangenen Naturzustande, der nur als wiederholter gedacht werden kann. So stellen die dynamischen Menschenbilder durchaus das Werden der Wirklichkeit als Wesen des Menschen auf, sie kennen nicht die Trennung in eine spekulative Welt, wie und wo der Mensch eigentlich ist, und die Wendung zur Wirklichkeit, nämlich wie der Mensch jetzt nur reagieren müsse, sondern das Jetzt und das Zukünftige fallen zusammen in dem Begriff des Gewordenen und Werdenden. Hier hat der Mensch ein Schicksal, keine Natur. Und der Mensch beherrscht und formt sein Schicksal, er kann etwas dazu tun, er kann "schieben helfen" (James). Die dynamischen Lehren legen also das Wesen des Menschen in die bewußt von ihm geführte oder ausgeführte Tat. Nur ein Wesen, dessen Eigentümlichkeit in dieser bewußten Tat besteht, hat eine Zukunft, insofern nur dann die Zukunft anders sein kann als die Vergangenheit oder alles Gewesene. So entwächst diese bewußte Tat dem Zwang der Natur in mechanisch-organischem Sinne, und das Bewußtsein dieses Entscheidungsgewichtes der Tat schließt überhaupt den Bereich der echten Zukunft erst auf, denn die Natur hat so gesehen keine Zukunft, sondern einen Verlauf oder eine Entwicklung in der Zeit. Allerdings tritt nun in der Frage, welches die Kraft oder der Faktor ist, durch den jenes Schicksal des Menschen entschieden, geformt und aufgebaut wird, eine bedeutsame Trennung in dieser dynamischen Ansicht vom Menschen ein: versuchen wir es zunächst einmal so zu begreifen, daß sich die bewußte menschliche Handlung, die jenes Schicksal vollzieht, nach ihren zwei Bestimmungsfaktoren Vernunft und Wille aufspaltet, und je nachdem nun das Menschenbild von dem Primat der Vernunft oder dem des Willens ausgeht, kommt es zu einem
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intellektualistischen oder aktivistischen Menschenbilde, die beide die Voraussetzungen zu höchst verschiedenem politischen Denken bilden. Die intellektualistischen Lehren stimmen in sich darin überein, daß der Mensch auf ein zeitlos Allgemeines bezogen ist und von dorther die Kraft, die Richtung, das Sollen und die Hilfe in seinem Leben findet. Es ist im Menschen eine Potenz angelegt, die ihn aus dieser Welt des Zufalls und der Wirrnis erheben kann in eine Welt der Ewigkeit und klaren Gültigkeit, wo er eine feste Ordnung und so auch eine feste Verbindlichkeit für sein Tun findet: die Überwirklichkeit des Göttlichen und Geistigen. Auf die Ewigkeit hin erhält sein Tun erst Sinn, hieran gemessen ist seine Tat eine Entscheidung für oder gegen sein Sollen. Damit rückt der Kern des menschlichen Tuns in das Verhalten der menschlichen Innerlichkeit zu der von ihr getragenen Ewigkeit jenes Allgemeinen. Das menschliche Tun ist wesentlich Sittlichkeit, soweit es sich auf die Welt und das in ihr Handeln bezieht, und ist getragen von einer rein innerlichen Handlung, die jene Ewigkeit in mir zum Bewußtsein bringt: vom Glauben oder vom Denken. Das Wesentliche des Menschen besteht also in der innerlichen Handlung, die meine Bewußtseinsfülle und Innerlichkeit mit jenem Ewigen und Allgemeinen verbindet, eine Handlung, die als Aufgabe meiner menschlichen Existenz vor mir steht und deren Erfüllung oder Nichterfüllung mein Schicksal entscheidet. Damit wird die Entscheidung über den Menschen und seine Welt in den Einzelnen und in das Allgemeine gelegt, der Mensch als einzelner, als Bewußtsein und Innerlichkeit, verhält sich durch seine Tat zu der Welt des Ewigen und des Gültigen. Individuum und Norm sind daher die Hauptprobleme, um die sich die von diesem Bilde des Menschen beeinflußten politischen Lehren kümmern. Die politische Tat wird zu der Erfüllung jenes Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit, wenn die Allgemeinheit als das überwirkliche durch die Tat des Menschen in die Wirklichkeit eingeformt, eingebildet, eben verwirklicht wird. Dabei ist das Allgemeine zweifellos das Primäre, denn es ist ja das Absolute; ja die unpolitischsten Formen dieses Denkens sprechen sogar von einer Selbstverwirklichung des Geistes durch die Individuen hindurch, wobei deren Entscheidung immer mehr an Bedeutung verliert gegenüber dem Absoluten. Aber auch wenn ich das Wesentliche in der Entscheidung und jenem persönlichen Vollzug der Schöpfung und Erhaltung des Ewigen in mir sehe, wie es die von Kierkegaard geforderte Existenz will, die das Allgemeine fast völlig in das persönliche Entscheidungs- oder Glaubensvotum hineinnimmt, bleibe ich in diesem Denkbereich, für den die Spannung von Einzelnem und Ewigem konstitutiv ist. Auf jeden Fall aber wird in diesen politischen Anschauungen die Handlung mit in das Bild
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des Menschen hineingedacht, und der unter dieser Selbstanschauung handelnde Mensch handelt reflektiert, d. h. er schaut in seinem Handeln sich auch als ein handelndes Wesen an, und zwar in der Idee der Verwirklichung. So ist sittlich Handeln zunächst nichts anderes als mit dem Bewußtsein handeln, daß es auf die Tat und die Handlungsweise des Menschen ankommt. Der Idealismus nannte das: mit Freiheit handeln, wobei Freiheit also eine Form der Handlungsbewußtheit bedeutet. In jeder sittlichen Tat weiß sich der Mensch als Handlungswesen, sie ist eine durch die Selbstanschauung hindurch geführte Tat. Dies ist beiden dynamischen Lehren zu eigen. Daher klafft in diesen Menschenbildern - auch das aktivistische ist in diesem Sinne reflektiert - nie der Spalt zwischen Anwendung und Spekulation des Menschenbildes wie in den ontologischen Ansichten, sondern das Sollen, das des Menschen Wesen ausmacht, ist zugleich ein politisches Sollen, ein Handlungsauftrag in der Welt. Aber im intellektualistischen Sinne ist es ein Ändern der Welt, das geführt wird von einer vorhergehenden und primären Handlung der Innerlichkeit, die, mag sie nun Schau oder Erkenntnis Gottes oder der Ideen oder mag sie die philosophische Tat des absoluten Wissens genannt werden, in einem Bereich des menschlichen Verhaltens erfolgt, der über dem politischen Tun liegt. Für alle diese Lehren wird es also eine menschliche Seinsweise geben, die wertvoller ist als das politisch-staatliche Tun: der Philosoph und der Priester sind dem Politiker übergeordnet, sei es auch nur "der Idee nach", denn sie geben ja das Ziel des Handeins an, das immer in irgendeiner Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden besteht. Der Staat - oder die politische Gemeinschaft -, der in diesem Sinne des politischen Handeins entstehen soll, ist in Wirklichkeit immer Kirche, wenn man darunter jene Form der organisierten Gesellschaft oder Gemeinschaft versteht, deren Ordnung und Handlungsziele auf einen ihr als Wirklichkeit noch zukünftigen und somit jenseitigen Maßstab bezogen werden, der für diese Denker, da er in der konkreten Wirklichkeit nicht auffindbar ist, schlechterdings nur ein Allgemeines sein kann. Nicht im Gewordenen und so Gegenwärtigen liegt für diese Lehren das Gesetz der Tat, sondern letzthin in einem Zukünftigen, dessen sie in einer Form der Erfülltheit bereits gewiß sind durch die rein innerliche Tat des Glaubens oder Denkens. So ist der Mensch in seinem welthaften Handeln durchaus ein Werden, aber in seiner nicht welthaften Innerlichkeit ist das Wozu dieses Werdens schon ein fester und gesicherter Besitz als ein intellektuelles Sollen. Hier liegen die politischen Lehren verankert, die im Namen Gottes und seiner ewigen Ordnung eine Gestaltung der Welt versuchen und verlangen, hier ist der Grund jener politischen Idealisten, die die Erde im Namen der Vernunft regieren wollen. Hier liegen die Wurzeln von Cluny ebenso wie
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die der Französischen Revolution. Aus diesem Standpunkte entspringen jene Bilder des Staates, die die höchste staatliche Funktion zugleich eine kirchliche und religiöse sein lassen, wie es Plato, Fichte, Schelling, Steffens bezeichnenderweise ausdrücklich formulieren, d. h. alle Staatsgesinnungen, die den Wert des Staates an der Ewigkeit eines Allgemeinen messen und von dort ableiten: man kann also von diesem Standpunkt auch als von einem Standpunkt der deduktiven Staatsbejahung sprechen. Der Staat gewinnt seinen Wert erst aus der Innerlichkeit des Einzelnen, die sich jener gültigen Allgemeinheit verpflichtet weiß. So vermag das Politische durch den Einzelnen immer auf sein Maß und seine Grenzen bestimmt werden, der Einzelne wird kraft seiner Innerlichkeit zugleich Richter des Staates und der welthaft-politischen Gemeinschaft, denn sein Denken oder sein Glauben des Absoluten erhebt ihn ja als geistig-göttliches Wesen über sich selbst als welthaft handelndes Wesen. Das kritische Problem dieses politischen Denkens wird also immer in der Vereinigung von persönlicher geistiger Freiheit oder Gebundenheit an das allgemeine Soll und der Bindung an die Gemeinschaft und die politische Wirklichkeit bestehen. Kaiser und Papst, Staat und Kirche, persönliche Freiheit und staatliche Gebundenheit, Religion und Politik lauten in der Geschichte des politischen Denkens die Antithesen dieses Problems, die, indem sie als Antithesen empfunden werden, bereits die Vertreter beider Seiten zu Vertretern einer intellektualistischen Ansicht vom Menschen machen. Es ist in diesem Falle belanglos, ob man den Staat der Kirche, die Politik der Religion überordnet oder umgekehrt, weil diese überordnung dann in der Form geschieht, daß das eine eben als das Allgemeinere übergeordnet wird. Die Problemstellung versagt es, etwa eine Konkretheit der Allgemeinheit überzuordnen, da die Frage bereits auf das Allgemeine geht, d. h. theoretisch ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, von ewig und allgemeingültigem Sollen und politisch-konkreter Bindung, als theoretische gestellt, setzt aber bereits die Gewißheit voraus, daß das Allgemeine dem Konkreten gegenüber den Primat hat, denn diese theoretische Frage enthält einen Sinn nur, wenn eine allgemeine Antwort gegeben wird, von der aus dann das richtige Handeln in der Konkretheit geführt und so das als Rechte Erkannte verwirklicht werden kann. Es besteht gar kein Zweifel, daß auch Menschenbilder, die so die Gemeinschaft über das Individuum stellen, durchaus intellektualistisch genannt werden müssen. Fichte steht in der Mehrzahl seiner politischen Schriften durchaus auf diesem Standpunkt; für die Gegenwart ist die politische Lehre Othmar Spanns geradezu ein ideales Beispiel dieser Art des politischen Denkens. Das aktivistische Menschenbild setzt das Wesen des Menschen auch in das Werden, aber es hat ein anderes Verhältnis zur Zeit und darum
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auch zur Handlung. Ihm ist der Mensch ein Werdender, insofern er sich aus seinem Gewordensein durch die Tat in eine unbestimmbare Zukunft hinein sein Schicksal schafft. Dieser Standpunkt kennt nicht das Zugehen der Taten und Schicksale auf ein schon bestimmtes und vorausgenommenes Ziel, das nur noch verwirklicht werden muß; er hat keinen Beziehungspunkt, der jenseits der Zeit in der Ewigkeit läge und in sich kein Werden, sondern Ruhe und Gültigkeit wäre; für ihn ist vielmehr das Werden selbst Beziehungspunkt des Werdens, insofern der Mensch nicht nur ein Schicksal vor sich, sondern auch bereits eins hinter sich hat. Der Mensch ist nicht nur ein Werdender, sondern seinem Wesen nach auch ein Gewordener. Die das Werden fortführende Tat des Menschen erwächst an seinem Gewordensein. Während der intellektualistische Denker das vergangene Schicksal nur als einen Weg zum Ziel betrachtet, als eine Etappe im Fortschritt der Verwirklichung, die ihren Sinn und Wert in der Beziehung und im Fortschritt auf das absolute Ziel erhält, ist für den Aktivisten die Vergangenheit als ein in sich vollendetes Schicksal des Menschen selbst schon von Wert, Größe und Würde. Der intellektualistisch denkende politische Philosoph steht mit seiner Gegenwart immer dem Ziele näher, steht höher als die Vergangenheit; der aktivistisch eingestellte politische Denker setzt fast eher die Vergangenheit höher an, weil dort der Mensch schon einmal sein Schicksal in Größe gestaltet hat, während für ihn diese Aufgabe noch bevorsteht: die Gestaltung seines Schicksals, die ihn in die Reihe der menschlichen Größe führt. Nietzsches Ansicht von der Geschichte als dem "Großen, das einmal möglich war", wie er sie in der Schrift "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" entwickelt, ist ein deutliches Beispiel dieser aktivistischen Haltung zur Vergangenheit. Auch Sorels Ansicht, daß der "natürliche", d. h. sich selbst überlassene Lauf des Geschehens stets zum Verfall führt, wenn wir nicht diesem Niedergang eine neue Größe des Schicksals durch schöpferische Anstrengung abringen, ist ein Muster aktivistischer Sicht des Geschehens. Aber das gewordene Schicksal des Menschen hat für seine gegenwärtige Tat eine viel tiefere Bedeutung als die, den Enthusiasmus zu erregen und zu zeigen, daß "das Große, das einmal möglich war, deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird": das Gewordene ist das Gegenwärtige, aus dem der Anspruch und das Gesetz der politischen Tat erwächst. Nicht Zustreben auf ein allgemeines, gültiges Ziel, sondern Lösung und Gestaltung der konkreten Situation, in der der Mensch seinem generationenhaften und persönlichen Gewordensein nachsteht, ist das Wesen der Tat für den Aktivisten. Damit erhält die Wirklichkeit des Gewordenen für ihn einen in sich ruhenden Sinn, die politische und menschliche Wirklichkeit, in der er steht, ist nicht erst deduktiv zu begründen und zu bewerten, sondern ist die schicksalhafte Vor ge-
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gebenheit seiner Tat. Er braucht nicht erst von einem allgemeinen Sollen her sein Tun zu erfragen, sondern dies ist ihm durch Rasse, Volkstum, Geschichte, durch persönliches Schicksal, und durch das Gebot der Stunde schon gegeben, seine Aufgabe und das Gesetz seiner Tat stehen schon fest als die Bindungen seines Schicksals und die Situation, die vor ihm steht. Gerade die Konkretheit, nicht eine Allgemeinheit, fordert von ihm die Tat. Die Zukunft des Konkreten, seines Volkes und Berufes, seiner Familie und seiner persönlichen Existenz verlangt sein schöpferisches Tun, um nicht in den Abgrund des Verfalls zu stürzen, um nicht "s'echapper vers la decadence", wie Sorel sagt. Das menschliche Tun führt so das Vergangene nicht einer endgültigen Bestimmung zu, sondern es erhält die Größe der Wirklichkeit ihrem gewordenen Gesetz gemäß; das schöpferische Handeln des Menschen ist seine Selbsterhaltung als vollendetes Schicksal. So steht der Mensch vor der Zukunft als seiner zu tuenden Tat. Gerade der aktivistische Denker, der die in der Vergangenheit gewordene Gegenwart so restlos und unbedingt anerkennt als das, woraus seine Aufgabe, die Bestimmung seines Tuns konkret erwächst, weiß zugleich, daß sie für ihn nur Sinn hat, insofern sie von ihm die Tat verlangt, die die Zukunft ist. Hier ist das Wesen Mensch restlos in das Werden, in die Zeit gestellt, und es gibt für diesen Denkenden keine Ewigkeit, an die er seine Tat ketten kann, es gibt für ihn, den Handelnden, nur die Zeitlichkeit, die zugleich die konkrete Wirklichkeit der getanen und zu tuenden Taten ist. Nicht die Gewißheit des Vernünftigen oder die Teilnahme am Bewußtsein Gottes durch Wissen oder Glauben führen die Welt in die Zukunft, sondern der Mensch als gewordenes Wesen durch sein menschliches Tun. Für jeden vom intellektualistischen Menschenbilde ausgehenden Denker ist dies die Hybris der Willkür, die leere Freiheit, die keine allgemeine Verbindlichkeit in sich anerkennt; oder es scheint ihm das Tun eines im Flusse des Geschehens dahingetriebenen und gestoßenen Vegetierens zu sein. Der Aktivist wirft nun von seinem Standpunkte dem Intellektualisten ebendasseibe vor; Sorel nennt gerade den intellektualistischen Standpunkt "arbitraire": "Die ,Vernunft' als Herrscher der Erde einzusetzen, bedeutet alles der Willkür preiszugeben." [Zitiert bei Michael Freund, Georges Sorel, Der revolutionäre Konservatismus, Frankfurt a. M. 1932, S.33.] Aus dem Vorrang der Vernunft folgt ihm die Unordnung und Zerstörung des Gewordenen, der Verfall, der Krieg aller gegen alle. Die Schätzung der bewußten Tat als des eigentlich Menschlichen erhält einen völlig entgegengesetzten Sinn in diesen beiden vom dynamischen Menschenbilde ausgehenden Lehren. Während für den Intellektualisten eben jene Bewußtheit des allgemeinen Solls, jene innere Führung durch die Idee das Wesen der Tat und somit der Sittlichkeit ausmacht, die darin besteht, sich sub specie aeterni-
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tatis zur Konkretheit verhalten zu können und eben kraft der inneren Bindung an das Allgemeine, an Gott oder an die Idee im idealistischen Sinne, als frei in der Tat zu empfinden, tritt für den Aktivisten das Problem der Freiheit der Tat völlig zurück; für ihn kommt es darauf an, die durch die gegebene Situation von ihm geforderte Leistung zu erfüllen, es gibt für ihn keine allgemeinen Gesetze der Handlung, sondern nur geschichtliche persönliche Aufträge und deren Gesetz; kein autoritatives und forderndes Allgemeines richtet die Tat, sondern diese ist schöpferisches Aufbrechen aus der Wirklichkeit, in der sich jeder Mensch gebunden vorfindet, und nirgends hat diese Tat eine Wirksamkeit anderswo als in dieser Wirklichkeit des Menschen, der sich und sein€ Welt so selbst gestaltet. Der Standpunkt des Aktivisten erscheint in der Forderung Nietzsches nach einer neuen Sittlichkeit, die er "Schaffen" nennt und der Sittlichkeit der "Freiheit" gegenüberstellt. "Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht m€hr, er muß es leugnen oder schaffen", heißt hier seine Losung [Nietzsehe, Werke XII, S.329]. Der Mensch ist so für den aktivistischen Standpunkt ein Wesen, das seine Zukunft zu schaffen hat, das nicht natürlich gesichert oder durch ein Ewiges in ihm gehalten und geführt, sondern dem sein Schicksal selbst zu schaffen aufgegeben ist als einer dauernden Sorge um die Zukunft. Diese ist im Tiefsten das Problem der menschlichen Selbsterhaltung, denn jenes Sich-selbst-schaffen des Menschen durch die politische Tat tritt als die Sorge der Selbsterhaltung in der Tiefe jeder konkreten Aufgabe und Forderung der Wirklichkeit an den Menschen heran. Doch Selbsterhaltung ist dann nicht das Fortbestehen eines naturhaften Daseins, das noch gar nichts wesentlich und eigentlich Menschliches an sich hat, sondern i:st die Selbsterhaltung des menschlichen Schicksals, des gestalteten und geführten Lebens, um dessentwillen wir als Menschen da sind. Selbsterhaltung wird so zur Sicherung der Zukunft, aber nicht irgendeiner Zukunft, sondern einer menschlichen, einer geordneten, geführten, von Leistungen und Grö߀ erfüllten Zukunft. Der Aktivist versteht unter Selbsterhaltung zwar schon den Drang zum Leben, aber zu einem Leben, auf das es ankommt, zu einem menschlich wertvollen, zu einem schöpferischen und leistenden Leben, von dem "das Sterben dann wohl ein Teil davon ist", wie Flex den Leutnant Wurche sagen läßt. Vom intellektualistischen Menschenbild aus gesehen hat die These der Selbsterhaltung immer etwas V€rächtliches, weil für diese Einstellung nur das Individuelle, das Nicht-göttliche oder -geistige im Menschen versehrbar und sterblich ist, auf das es diesem Menschen aber nicht ankommen kann gegenüber der Ewigkeit des Allgemeinen, die dem Tode für immer entrissen ist. Der Aktivist, für den die menschliche Wirklichkeit primär in der schaffenden 3 Scbelsky
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Tat besteht, kann den Menschen nicht wesentlich als ein Einzelwesen betrachten wie der Intellektualist, der das Menschliche ja im Tiefsten als das Verhalten einer bewußten Innerlichkeit zu einem Allgemeinen faßte. Die Tat ist hier nicht wie das Bewußtsein im intellektualistischen Denken etwas Trennendes, Individualisierendes, sondern gerade das Verbindende, das Gemeinschaft Schaffende und Ermöglichende. Spricht daher der Aktivist vom Menschen, so meint er dieses handelnde Wesen, das durch seine Handlung verstrickt ist in das Geflecht anderer, der Intellektualist würde sagen: fremder Handlungen, das sich durch sein Handeln zu Handlungsgruppen formiert, das aus Gemeinschaften, aus Bindungen, aus der ganzen Konkretheit der wirklichen Situation heraus handelt. Und dieses der Tat Zugehörige bleibt nicht ein Äußerliches, sondern aus ihm entspringt die Tat, es wird in ihr aufgenommen und verschmolzen, es gehört zum Wesen der Tat und daher auch zum Wesen des tätigen Menschen. So begreift der Aktivist den Menschen von vornherein als ein soziaLes, ein politisches Wesen. Er begreift die Eigentümlichkeit des Menschen, indem er dessen soziale und politische Wirklichkeit erfaßt: Rasse, Volkstum, geschichtliche Situation, Familie, Beruf, Landschaft, Erziehung, Aufgabenbereich usw. sind ihm nicht zusätzliche Bestimmungen, sondern die Grundlagen seines Menschenbildes. In solchen Bestimmungen konkretisiert sich seine Ansicht, daß das Wesen des Menschen geworden und geschaffen ist. Wenn der Mensch aber nicht als Individuum, sondern als politischhistorische Gemeinschaft betrachtet wird, ist das tiefe Ziel der menschlichen Anstrengung und Leistung sehr wohl als "Selbsterhaltung" zu deuten, eben als die Selbsterhaltung einer Rasse, eines Volkes, eines Standes, einer geschichtlichen Situation, einer Familie usw., also als die Selbsterhaltung des Menschen als eines sozialen, politischen Wesens. Von hier aus gesehen werden die vom intellektualistischen Standpunkt gegen die Selbsterhaltung als oberstes Handlungsziel vorgebrachten Argumente, die häufig darin gipfeln, daß ein Sich-Opfern wertvoller sei als ein Sich-Erhalten, daß der Opfertod, der Tod für eine Idee, das Letzte und Höchste des menschlichen Daseins ist, sinnlos oder enthüllen deutlich ihren nur auf das Individuum abzielenden Sinn. Ein Volk, das steht für den aktivistischen Denker fest, hat sich niemals Ideen zu opfern, ein Volk hat Ideen zu leben. Der Einzelne mag und soll sich einer Idee opfern, er ist aber nur gerechtfertigt und dann allerdings mehr als gerechtfertigt, wenn sein Volk diese Idee lebt. So ist nicht eigentlich schon der Tod für eine Idee das Erhöhende am Sterben dieses Einzelnen, sondern erst die dazutretende tiefere Wirklichkeit dieses Geschehens, daß nämlich die sein Leben umfassende konkrete Gemeinschaft diese Idee lebt und durch seinen Tod weiterlebt, d. h. sich darin erhält. Sterben für eine Idee allein kann blanker Selbstmord sein.
c. Die dynamischen Menschenbilder
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Diese notwendige Sorge der Selbsterhaltung in einer Welt, die keine Sicherheit kennt als des Menschen eigene Tat, führt diesen dazu, sich seine Zukunft eben durch die Tat zu sichern. Indem der Mensch als ein in Gemeinschaften lebendes tätiges Wesen diese seine Taten organisiert, durch Institutionen vorbestimmt, durch Haltungen und Gewohnheiten verfestigt, mit seiner Weltanschauung sich ein festes Bild des zu führenden Lebens einprägt, sichert er seine Erhaltung in der dem Menschen eigentümlichen Weise, führt er sein Leben in die Zukunft. Von der Kraft seiner Tat in der Gegenwart erhält er die Sicherheit der Zukunft geschenkt. Die Größe der politischen Tat liegt so wesentlich in der Beherrschung der Zukunft, in der Befreiung von der ewigen menschlichen Sorge um das fortzuführende menschenwürdige Dasein. Man kann den Menschen daher mit Recht ein providentielles Wesen nennen, da seine spezifische Existenzweise darin besteht, in eine dunkle Zukunft zu sehen und den Anspruch in sich zu fühlen, diese Zukunft durch seine Tat in ihrem Verlauf vorwegzunehmen und so für sein zukünftiges Leben Vorsorge zu treffen. Der Mensch lebt sein Leben wesentlich in die Zukunft hinein. Wie im intellektualistischen Menschenbilde, wo das Ziel allen Tuns in der Zukunft liegt, wird auch hier die Zukunft vorweggenommen, jedoch meint der Aktivist mit seiner Auffassung vom Menschen als einem providentiellen Wesen gerade nicht die Ansicht des Intellektualisten, der da glaubt, daß das Ziel feststeht und erkannt werden kann, aber die Taten und Weisen der Verwirklichung wechselbar, veränderlich und unbestimmt sind; für den Aktivisten ist das wirkliche Geschehen der Zukunft - von einem endgültigen Ziel, einem absoluten Zustand spricht er nicht - völlig dunkel und kann nur so weit erkannt werden, wie wir unsere Tat in die Zukunft voraustragen können, denn die Tat reicht weiter in das Dunkel des Kommenden hinein als das Erkennen, das nur ernten kann, was die Tat gesät. Nur wo so die Tat dem Denken vorangeht, bleibt dem Menschen eine echte Zukunft offen, bleibt er Schöpfer und wird nicht zum Propheten. Es gehört zum aktivistischen Menschenbilde, daß der Mensch das Dunkle der Zukunft in seinem Bewußtsein ertrage und die Sicherheit seiner Existenz allein auf seine Tat setzt. John Dewey hat in seinem Buche "The Quest for Certainty" gezeigt, wie gerade die drückende Sorge um eine zukünftige Lebenssicherheit den Menschen dazu geführt hat, das Denken der Tat überzuordnen, weil er durch das Denken eine absolute Sicherheit gegenüber dem wechselvollen Bereich der Taten zu gewinnen glaubte. So heftete sich das Denken an die Fiktion eines Ewigen, Unwandelbaren, das als Maßstab auf das wechselnde und ungewisse Leben anwendbar wäre und als Bürg3'
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Erster Teil: Die vier Menschenbilder
schaft einer unverlierbaren Wirklichkeit schlechthin Sicherheit böte [a. a. 0., London 1929, S. 10 ff.]. Der Aktivist kann diese Unsicherheit des Lebens ertragen, da er sich in seiner Tat wirklich weiß. Für ihn nimmt daher das Denken in keiner Weise einen Vorrang vor dem Handeln ein, sondern ist umgekehrt Funktion seines tätigen Lebens. Verschiedene Theorien des Denkens haben hier ihren Ort, die alle darin übereinstimmen, daß sich das Denken dem Handeln gegenüber dienend, ratgebend, unterstützend, lenkend verhalte, kurzum daß es des Handelns wegen da sei. Sowohl Vicos wie Sorels Lehre vom mythischen Denken, das die Handlung in einer Vorstellung des vollkommensten Handlungserfolges vorwegnehme, um als "idee-force" recht eigentlich das Handeln erst zu wecken und zu stärken und ihm die Richtung zu weisen, wie auch die Lehren des Pragmatismus, daß jene Denkaussage so viel wert oder - um es intellektualistisch zu benennen - so weit wahr ist, wie sie "praktischen Kassenwert" oder "Arbeitswert" im tätigen Leben beweist, setzen in ihrer Konzeption eine Annahme des aktivistischen Bildes vom Menschen voraus. Letzten Endes muß sich jeder Aktivist von der Ansicht einer ewigen Wahrheit abwenden, weil das Denken ihm nur Funktion seines Handeins ist, und beim Streit der vielen "ewigen" Wahrheiten kommt er schließlich stets zu der Lösung, die James als die "pragmatische Methode" gekennzeichnet hat: "Die pragmatische Methode besteht in solchen Fällen in dem Versuch, jedes dieser Urteile dadurch zu interpretieren, daß man seine praktischen Konsequenzen untersucht. Was für ein Unterschied würde sich praktisch für irgend jemanden ergeben, wenn das eine und nicht das andere Urteil wahr wäre? Wenn kein, wie immer gearteter, praktischer Unterschied sich nachweisen läßt, dann bedeuten die beiden entgegengesetzten Urteile praktisch dasselbe, und jeder Streit ist müßig. Soll ein Streit wirklich von ernster Bedeutung sein, so müssen wir imstande sein, irgendeinen praktischen Unterschied aufzuzeigen, der sich ergibt, je nachdem die eine oder die andere Partei recht hat." [William J ames, Der Pragmatismus, dtsch. Leipzig 1908, S. 28.] Immer wird, wie hier für den älteren, amerikanischen Pragmatismus, das theoretische Denken für den Aktivisten letzthin an das tätige Leben gebunden sein, wenn er auch innerhalb dieser These dann durchaus zugeben kann, daß es ein theoretisches Denken eigener Art neben dem die Handlung in ihrem Verlauf begleitenden praktischen Denken engerer Art gibt. Das Problem der Wissenschaft und der Praxis wird hier auf der Ebene des wirkenden Lebens von neuem gestellt und unterscheidet sich von demselben Problem auf der Ebene des intellektualistischen Menschenbildes dadurch, daß hier jede Art von Denken, wissenschaftliches oder praktisches, nur von deduktivem Wert ist. Man muß sich klar machen, daß sich damit die Bewertung von Tat und Denken gegenüber dem intel-
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lektualistischen Menschenbild genau umgekehrt hat: dort hatte das Handeln nur als von der Erkenntnis oder dem Glauben abhängiges Tun der Verwirklichung des Allgemeinen im Konkreten seinen Sinn gefunden, die Tat mußte von einem Ewigen ihren Wert ableiten; hier ist die Tat als die schöpferische Selbsterhaltung des Menschen die einzige Wirklichkeit, und das Denken jeder Art empfängt seinen Wert erst durch Beziehung auf dieses menschliche Wirken, es ist kein bevorrechtigtes Organ für das Ewige, sondern selbst erst geschaffen, aufgebaut, selbst Funktion und menschliche Wirkbarkeit. Man mag diese aktivistischen Menschenbilder dadurch kennzeichnen wollen, daß man von ihnen aussagt - und wir haben es im übergang von den ontologischen Menschenbildern selbst getan (vgl. S. 27) -, sie gründeten sich auf die Lehre vom Vorrang des Willens gegenüber dem Denken. Aber dieser abstrakte Satz besagt gerade im aktivistischen Denken das wenigste, weil er wieder das Wesen des Menschen abstrakt einer Allgemeinheit zuschreibt, die in dieser Denkhaltung nie hoch im Kurs steht. Ja im Grunde ist dies eine intellektualistisch gemeinte Aussage, da mit der Annahme eines Primats des Willens das handelnde Wirken wieder als Ausfluß oder Ausdruck eines substantiellen Etwas oder zumindest eines im Menschen vorhandenen ewigen und die Wirklichkeit verbürgenden Bereiches gedacht wird. Man will mit dem Begriff des Willens die Tat vor ihrem Verlauf bereits wieder im wesentlichen denken und bestimmen können. Konsequenterweise muß aber der aktivistische Denker den Willen nur als im Vollzuge der Tat existierend ansehen, damit wird der Begriff des Willens für ihn nur zu einer besonderen Ansicht vom Verlauf der Handlung, und zwar würde es die Innenansicht der Handlung sein, das Selbstgefühl des die Handlung begleitenden Denkens des Menschen, das diese innerliche Wirklichkeit dann in der Erinnerung in dem abstrakten, vom Vollzuge abgelösten Begriffe des Willens zu ergreifen glaubt. Aber abgesehen von der im aktivistischen Sinne konstruktiven Unwahrheit dieses Begriffes geht er ja nur auf die Innerlichkeit der Handlung, während wir feststellten, daß die aktivistischen Menschenbilder gerade das "Äußerliche", das Gegenständliche und Situationsgebundene der Tat, zu derem Wesen zählen und daher auch darin das Wesentliche ihrer Anschauung vom Menschen sehen. So trifft sowohl der Denkstruktur als auch dem Inhalt der Aussage nach die These vom Primat des Willens im Menschen nicht die Stellung der aktivistischen Menschenbilder. Auf diesen intellektualistisch-konstruktiven Charakter der Begriffe "Wille", "Geist" usw. gegenüber dem Selbstbewußtsein des handelnden Menschen hat schon Nietzsche hingewiesen. "Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube an Substanz, Akzidenz, Attribut usw. hat seine überzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Tun als Folge (!) unseres Willens
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Erster Teil: Die vier Menschenbilder
zu betrachten: so daß das Ich, als Substanz, nicht vergeht in der Vielheit der Veränderung. - Aber es gibt keinen Willen." [Nietzsche, Wille zur Macht, Werke XVI, S. 15.] Auch Dewey betont, daß Begriffe wie "reine Tätigkeit" intellektualistisch-theoretisch seien und das wirkliche Handeln des Menschen verfehlten.
D. Diskussion der Tragweite dieser Lehre Nach dieser kurzen, umrißartigen Darstellung der vier verschiedenen Bilder des Menschen müssen wir uns noch einmal besinnen, was eigentlich die Bedeutung dieser Menschenbilder für das politische Denken und die politischen Lehren war. Es waren Selbstanschauungen des handelnden Menschen, mit denen er sich in seiner Tätigkeit in der Welt verstand und auf die hin jede seiner Aussagen grundsätzlicher Natur erst ihren Sinn- und Wahrheitsgehalt gewann. Wenden wir diese Erkenntnis auf unsere eigenen Aussagen an, so muß sich ergeben, daß jede unserer Bestimmungen: "der Mensch ist gut", "ist schlecht", "ist wesentlich Geist", "ist durch und durch Tat", grundsätzlich auf dem Boden jedes dieser vier Menschenbilder ausgesagt werden kann, aber eben jeweils dann einen ganz anderen Sinn des Gemeinten in sich trägt. Nehmen wir als Beispiel dieser Vieldeutigkeit ein und derselben Aussage einmal den Satz "der Mensch ist schlecht": der optimistische Denker meint diese Aussage als eine Tatsachenfeststellung der vorgefundenen Wirklichkeit, über die er jedoch, um die "eigentliche" Natur des Menschen zu erfassen, hinwegsehen zu können glaubt; der Mensch ist ja für ihn nur schlecht geworden, alles Werden und Handeln kann aber seine seiende Natur in ihrer Güte nicht verändern. Die Aussage, "der Mensch ist schlecht", ist also hier stets vorläufiger Natur, sowie auch das darauf folgende Handeln - das Zerstören der gewordenen "Schlechtigkeit" nur vorläufig und nicht eigentlich die dem Menschen angemessene Daseinsweise ist. In pessimistischer Selbstansicht ist derselbe Satz fundamental und absolut gemeint, als Aussage, die den Grund aller menschlichen Wirklichkeit enthüllen soll und zugleich unabhängig von der Beschaffenheit der vorgefundenen Wirklichkeit gilt. Damit wird er spekulativ und hebt grundsätzlich die Möglichkeit oder zumindest den Wert der Handlung auf, die ja an dieses "eigentlich" seiende Wesen des Menschen auch in diesem Menschenbilde nicht zu rühren vermag. Wir sehen wieder, daß in diesen ontologischen Menschenbildern der Handlungsbereich des Menschen in der vorhandenen Wirklichkeit und die "eigentliche" Beschaffenheit seines Wesens, seine "wahre" Wirklichkeit, durchaus getrennt gedacht, ja geradezu in gegensätzlichen Bestim-
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mungen erfaßt werden, wobei die Handlungsseite jeweils als die uneigentliche, zu vernachlässigende und im Grunde unwirkliche Seite der menschlichen Existenz angesehen wird. Es ist daher für die Deutung und den Gehalt eines Satzes wie "der Mensch vor, daß die wesentlichen Äußerungen etwa über die Vernunft durchaus nicht in dem Kapitel "über die Vernunft" zu finden sind, sondern an Hand der Behandlung der Sprache oder der Klugheit usw. fallen. Diese Art der Darstellung, die sich ganz dem Gegenstande hingibt und auf eine systematisch-wissenschaftliche Auf- und Einteilung verzichtet, weil diese ihr eher das Bild der Wirklichkeit zu trüben anstatt zu erhellen scheint, möchten auch wir wählen, weil es auch unsere Aufgabe ist, eine Wirklichkeit nachzuzeichnen. "Vel imitare creationem!" fordert Hobbes in der Einleitung zur "Lehre vom Körper". -
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Zweiter Teil: Über Sprache und Tat
"Die Natur des Menschen besteht in der Summe seiner Fähigkeiten und Kräfte (faculties and powers)", beginnt Hobbes seine Darlegung in den "Elements of Law" (1, Kap. 1, 4). Da er diese Fähigkeiten und Kräfte nun dadurch erfaßt, daß er sie in ihrem Funktionieren begreift und also von der Fähigkeit der Bewegung, der Wahrnehmung, der Ernährung usw. spricht, ist die Hauptentscheidung über das Menschenbild, das Hobbes zeichnen will, bereits gefallen: um die Natur des Menschen zu bestimmen, muß man die Vollzüge und Handlungsweisen seines Lebens betrachten; zu was der Mensch fähig ist, das macht seine Natur aus. Es zeigt sich also schon hier die charakteristisch aktivistische Wendung im Denken eines Menschenbildes, die darin besteht, die Handlungen und Funktionen des Menschen nicht von einer festen, unabhängig von ihren Wirkungsweisen aufweisbaren Natur abzuleiten, sondern diesen Begriff der Natur und das Wesen des Menschen eben aus seinen Handlungen zu gewinnen. Auf die Möglichkeit, die Natur des Menschen und seine Handlungsweisen etwa aus der spezifischen Beschaffenheit seiner Organe zu bestimmen und zu folgern - wozu in der "Lehre vom Körper" durchaus Ansätze vorhanden sind -, wird hier völlig verzichtet. Ebenso wird aber die Darstellung eines Menschenbildes vermieden, die eine Fähigkeit oder Handlungsweise des Menschen als die ihm eigentümliche behauptet, sei es nun Denken, Geist, Bewußtsein oder Wille, und dann von dieser Eigenart, diesem "Eigentlichen", das ganze weitere Wesen des Menschen ableitet. Hobbes' Ansatz der Schilderung macht eine dedukMve Form der Lehre vom Menschen unmöglich, da als sein Wesen nirgends ein Einzelnes bestimmt, sondern von vornherein die Behauptung vertreten wird, daß das Wesen des Menschen in der Gesamtheit seiner Lebensweisen zu finden sei: damit wird die Grundfrage einer Lehre vom Menschen, "Was ist das Wesen des Menschen", ihrer geheimen ontologischen Voreingenommenheit entkle1det und in die Fragestellung: "Wie lebt der Mensch", umgewandelt. Diese Einsicht ist allerdings bei Hobbes noch nicht bis zur völligen Klarheit gediehen, denn er ist dem ontologischen Sinn der Frage nach der Natur des Menschen, der darin besteht, das nach einem durch den Wandel der Lebensvollzüge hindurch fest und unveränderlich bestehenbleibenden Sein gefragt wird, das der Erkenntnis gegenüber eine ebenso gegenständliche und unabhängige Existenz habe, wie wir sie der Natur außer uns zuschreiben, doch zumindest in der Form seiner Antwort erlegen, insofern er von "Fähigkeiten und Kräften" spricht, also Begriffe bildet, die die Handlungen und Vollzüge vor ihrem Verlauf in ihrem Wesen und in einer Art von Dasein zu erfassen scheinen. Das idealistische Denken hat des öfteren darauf hingewiesen, daß Begriffe wie "Vermögen", "Fähigkeit" usw. im Grunde gerade die Bestimmungen der vollzogenen Handlungen aufnehmen und sie nun als Realitäten
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dem Verlauf des Geschehens vorausdenken. Hobbes ist dieser "Realitätssugg,estion des Begriffs" (Gehlen) nur den Worten nach erlegen; denn indem er zwar abstrakt von Fähigkeiten spricht, versteht und schildert er in seiner Darstellung dennoch nur die Vollzüge selbst und hütet sich vor einer abstrakten "Vermögenslehre". Es kommt hier der nominalistische Grundzug im Denken Hobbes' zur Geltung, der ihn alle Begriffe grundsätzlich nur Werkzeuge sein läßt, um eine geschaute und erkannte Wirklichkeit zu verdeutlichen, der in ihm keine Sorge um die begriffliche Struktur seiner Benennungen aufkommen und Begriffe sehr verschiedener und oft gegensätzlicher begrifflich-systematischer Denkweisen verwenden läßt, und der daher vor allem seine Schriften für das Denken seiner an der Tradition der philosophischen Systeme geschulten Leser so schwierig macht. Indem diese Lehre vom Menschen nach der Gesamtheit des menschlichen Verhaltens fragt und dabei keinen der menschlichen Lebensvollzüge als primär annehmen noch von einer irgendwie gegebenen und bestimmten Natur des Menschen ausgehen will, fehlt ihr zunächst völlig ein Beziehungspunk,t, von dem aus sie die Lebensform des Menschen bestimmen könnte, und ihr Ansatz scheint ihrer Willkür überlassen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen trägt jedoch bereits einen Gesichtspunkt in sich, der der Untersuchung einen völlig natürlichen und legitimen Ansatz gewährt: indem ich nämlich von der Frage, wie lebt der Mensch, einen Aufschluß über das Wesen des Menschen erwarte, muß ich der überzeugung sein, daß die Daseinsweisen anderer lebender Wesen von der des Menschen verschieden sind, denn um eine Gesamtheit von Verhaltensweisen als eigentümlich menschlich zu bestimmen, bedarf es eines Gegensatzes zu einer anderen Gesamtheit von Verhaltensweisen, die sich als eigentümlich nicht-menschlich erweisen lassen. Setze ich diese Trennung in der Grundfrage nicht voraus, so würde sich diese sofort in die Frage nach dem, was Leben überhaupt ist, verwandeln. Ist meine Frage aber von vornherein nach den Eigentümlichkeiten der menschlichen Existenz im Vergleich zu den anderer Lebewesen .gerichtet, so bietet sich die Untersuchung des Wesensunterschiedes von Mensch und Tier als die gegebene Ausgangsstellung der Lehre vom Menschen dar. Auf den ersten Blick ist die Daseinsweise des Tieres der des Menschen am ähnlichsten, dochebensobald, sagen wir auf den zweiten Blick, kann man gewisse Unterschiede feststeHen, von denen die Tatsache, daß der Mensch eine Sprache hat, der augenfälligste ist. Indem man nun nach der Struktur einer solchen unterschiedlichen Verhaltensweisen von Mensch und Tier fragt, muß man zu gewissen Bestimmungen des menschlichen Verhaltens kommen, die sich als die Eigentümlichkeiten des menschlichen Wesens ansprechen lassen, wenn man nachweisen kann, daß sie alle Lebensvollzüge des 4 Schelsky
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Zweiter Teil: Über Sprache und Tat
Menschen treffen und erklären oder mindestens die von den tierischen verschiedenen. In dieser Weise geht Hobbes vor: in der reifsten Fassung seiner Lehre vom Menschen, dem 1658 erschienenen Buche "De Homine", der letzten seiner großen Veröffentlichungen, beginnt er seine Lehre mit der Untersuchung des Unterschiedes von Mensch und Tier an einer Darstellung der Sprache, nachdem er vorher eine kurze physiologische Bemerkung über Leben 'Und Sterben - also eine Lehre vom Leben überhaupt - und eine ziemlich unvermittelt dastehende Optik von acht Kapiteln vorausgeschickt hat. Wir werden sehen, wie die Bestimmungen, die er für das Wesen des Menschen an Hand der Untersuchung der Sprache gewinnt, zugleich in allen anJderen Verhaltensweisen des Menschen wieder auftauchen und ihre eigentümlich menschliche Struktur und ihren menschlichen Sinn ausmachen. Die Sprache, die "dem Menschen eigentümlich zu sein scheint" (De Horn. X, 1), ermöglicht ihm gewisse Daseinsformen, die ihn über die anderen Lebewesen herausheben. Als die wichtigsten dieser "Vorteile" bezeichnet Hobbes drei Fähigkeiten: daß der Mensch zählen, daß er den anderen Menschen belehren und daß er befehlen und Befehle empfangen könne (ebd. X, 3). Im Phänomen des "Zählens" hat Hdbbes mit ,tiefem Blick eine eigentümliche Beschaffenheit der menschlichen Existenz zusammengefaßt, die erst heute wieder dureh Arnold Gehlen in ihrer Bedeutung recht erkannt und gewürdigt ist: wir meinen die spezifisch menschliche "Umweltentlastetheit" und die ihr entsprechende innere Verfügbarkeit der Antriebskräfte [Arnold Gehlen, Der Mensch, Berlin 1940]. Das Tier ist in seinen Handlungen in ein Zwangsfeld eingespannt, das sich ergibt aus einer festen und eindeutigen Beziehung zwischen seinen Trieben oder Bedürfnissen und deren Gegenständen. Den Trieben der Tiere sind gewisse Gegenstände ihrer Umwelt zugeordnet, auf die allein die Triebe ansprechen und auf die hin, wenn sie im Reizfeld erscheinen, zugleich mit Notwendigkeit die tierische Reaktion erfolgt. Diese Umweltgebundenheit tierischer Handlungen werfen das Tier völlig in den Zwang seiner Erlebnissituationen, seine Reaktionen erfolgen in einer zwangsnotwendigen Verbundenheit mit seinen Wahrnehmungen und werden allein durch diese schon festgelegt. Das Tier hat daher seine Handlungen nicht in seiner Gewalt, es kann nicht tun, was es will, sondern ist gewissermaßen der Mechanismus seiner Triebe und seiner wahrgenommenen Umwelt, es ist dem Zwang seiner "Natur" unterworfen. Der Mensch dagegen kennt diesen Automatismus zwischen Antriebskräften und wahrgenommener Welt nicht. Er vermag zwischen seine Wahrnehmungen und seine Handlungen eine Scheidewand einzufügen, die ihn befähigt, seine Handlungen in seiner Gewalt zu behalten
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und sie zielend auf eine ihm gegenständliche Welt anzusetzen. Diese Scheidewand ist seine Sprache. Indem der Mensch die Dinge zu benennen vermag, hat er bereits auf die Dinge "reagiert" und ist zu keiner weiteren reaktiven Handlung mehr gezwungen. Die Dinge sind durch die Benennung für ihn zunächst erledigt, und indem er so seine Handlung bei sich behält und sie nicht ihren Objekten ausliefert, bleibt die wahrgenommene Welt ihm gegenüber "gegenständlich" stehen. Mit der Fähigkeit des Benennens hat der Mensch ~ugleich die des gegenständlichen Wissens seiner Wahrnehmungen, hat er eine Gegenstandswelt und keine Umwelt. Dadurch ist er von dem Zwange seiner Erlebnissituationen entlastet und vermag seine Handlung jetzt auf eine gewußte Gegenstandswelt anzusetzen, die er sich in der Sprache jeweils wieder zur erlebten macht. So bestimmt er das Ziel und die Ausführung seiner Handlung, sie wird von ihm nicht "naturnotwendig" erzwungen. Dies bedeutet, daß der Mensch außer dieser Fähigkeit des gegenständlichen Wissens auch die ihr entsprechende des W ollens durch die Sprache erst aufbaut. Diese Beschaffenheit der menschlichen Natur hat Hobbes sehr gut gesehen und in ihrer Bedeutung durchaus herausgestellt, denn er beginnt sowohl in den "Elements of Law" wie in "De Homine" das Kapitel über die Sprache mit der Erörterung dieser Dinge. In den "Elements of Law" (I, Kap. V, 1 und 2) geht er davon aus, daß Vorstellungen durch Sinnesempfindungen erzeugt und verursacht werden, und behauptet, daß es keine Vorstellung irgendeiner AI1t gebe, die sich nicht letzthin doch auf einer sinnlichen Wahrnehmung aufbaue. Dann haben wir aber unsere Vorstellungen nicht in unserer Gewalt und können sie nicht nach unserem Belieben und unserer Wahl hervorbringen, sondern sie werden mit Notwendigkeit erzeugt von den sinnlichen Reizen, die wir sehen, hören, tastend fühlen oder sonstwie empfinden. Diese Behauptung setzt also ein festes und unlösbares Verhältnis zwischen der Sinnesempfindung und der ihr notwendig folgenden Wahrnehmung oder Vorstellung und, da wir nur auf Grund aktueller Vorstellungen handeln können, auch zwischen Wahrnehmung und Handlung. Damit wäre die Vorstellung und mit ihr die Handlung völlig dem "Zufall", wie Hobbes sagt, also der von außen an mich herantretenden Konstellation der sinnlichen Reize ausgeliefert. Das ist nun, so erkennt Hobbes deutlich, der Grundzug der tierischen Situation:"die eigentliche Erfahrung hiervon zeigt sich uns bei wilden Tieren", erklärt er und belegt dies nun mit einem, allerdings sachlich nicht ganz zutreffenden Beispiel, daß nämlich die Tiere "zwar Voraussicht genug haben, um die Reste und den überfluß ihres Futters zu verbergen, dennoch aber später des Ortes, wo sie es verbargen, sich nicht erinnern und deswegen keinen Gebrauch davon machen können in ihrem Hunger". Damit meint er offensichtlich die 4'
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Zweiter Teil: Ober Sprache und Tat
Tatsache, daß Tiere nur handeln können auf Grund aktueller Reize, sich also nicht aus der ihnen gerade gegenwärtigen Wahrnehmungswelt und Reizsituation zu lösen vermögen, um etwa auf Anlaß vergangener oder gar zukünftiger Sinnes empfindungen oder Vorstellungen ihre Handlungen anzusetzen. Das Tier verfügt nicht frei über seine Vorstellungswelt. Hier zieht er nun den Trennungsstrich zwischen Tier und Menscl1, denn nach der Erwähnung jenes Beispiels tierischen Verhaltens fährt er mit einer tiefsinnigen und für seine ganze Philosophie höchst wichtigen Erönterung fort: "Hingegen der Mensch, welcher an diesem Punkte sich über die tierische Natur zu erheben beginnt, hat die Ursache dieses Mangels beobachtet und sich eingeprägt; und um ihn zu beheben, ist er auf den Gedanken gekommen, ein sichtbares oder sonst wahrnehmbares Merkmal aufzurichten, damit solches, wenn er es wiedersehe, den Gedanken wieder vor seine Seele bringen möge, den er hatte, da er es aufrichtete. Ein Merkmal ist mithin ein wahrnehmbarer Gegenstand (sensible object), den ein Mensch willkürlich (voluntary) für sich aufstellt, zu dem Zwecke, etwas Vergangenes dadurch zu erinnern, wenn dasselbe wieder seiner Wahrnehmung sich darbiete; wie Menschen, die an einer Klippe im Meere vorbeigekommen sind, einen Markstein errichten, um ihrer früheren Gefahr sich zu erinnern und sie zu vermeiden. - Zu diesen Merkmalen gehören diejenigen menschlichen Laute, die wir die Namen der Dinge nennen; wahrnehmbar durch das Ohr und dazu dienend, irgendwelche Vorstellungen der Dinge, denen wir diese Namen gaben, in unseren Geist zurückzurufen; wie die Benennung ,weiß' die Eigenschaft solcher Gegenstände in Erinnerung bringt, die jene Farbe oder VorstelJung in uns hervorbrachten. Ein Name ist demnach der Stimmlaut eines Menschen, willkürlich gesetzt als Merkmal, um in seinem Geist eine Vorstellung in betreff des Dinges zu bringen, welchem er beigelegt worden ist". Diese Stelle ist für das Hobbessche Denken außerordentlich aufschlußreich; zunächst wird daraus klar, daß der Mensch sich aus der ihm durch sinnliche Wahrnehmung augenblicklich gegebenen Vorstellungswelt lösen und Vorstellungen produzieren kann, deren sinnliche Grundlage in einem vergangenen oder, wie wir noch sehen werden, gar erst zukünftigen Zeitpunkt liegt. Dieses freie Produzieren von Vorstellungen gelingt dem Menschen dadurch, daß er die erlebten Wahrnehmungen in der Sprache eingefangen hat und nun in dieser Form über die sinnlichen Reize unabhängig vom Zeitpunkt ihres Erfahrens verfügt. In der Sprache oder in den Benennungen ist der Schatz der erlebten Situationen und wahrgenommenen Dinge aufbewahrt, und indem ich diesen Schatz frei handhaben und die Namen "willkürlich", d. h. nicht nur auf Anlaß äußerer Sinneseinwirkungen, in mein Bewußtsein rufen kann, gewinnt meine Vorstellungswelt jene Freiheit, die ihr
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erlaubt, ihren Bereich über die aktuell gegenwärtige Empfindungswelt in die Vergangenheit und Zukunft des Erlebens hin auszudehnen. Während das Tier in einer Augenblickswelt lebt, in der die Vergangenheit jäh verschwindet und die Zukunft nirgends da ist, bringt der Mensch in seiner Vorstellungswe1t die Kontinuität seines Erlebens sich dauernd zum Bewußtsein. Er überblickt sein Leben, er hat Vorstellungen auf Grund von Erfahrung und auf Grund eines Wissens um die Zukunft. Diese Tatsache verändert die menschliche Daseinsweise grundsätzlich gegenüber der des Tieres. Doch zurück zur näheren Erörterung der Sprache: wieso ist die Sprache notwendig, um den Menschen jene Freiheit in den Vorstellungen zu geben, durch die er sich beliebig von seiner Wahrnehmungswelt lösen und willkürlich Vorstellungen produzieren kann? Hier müssen wir uns an Hobbes' Grundbehauptung erinnern, an der er auch jetzt noch festhält, daß nur auf Grund einer sinnlichen Wahrnehmung, auf Grund eines Erlebens einer Wirklichkeit, eine Vorstellung erzeugt werden kann. Die Sprache ist nun aber ein sinnliches Medium, ein "sensible object"; indem der Mensch ein Wort oder einen Namen in sein Bewußtsein aufnimmt, erfährt er den Reiz einer Wahrnehmung. In diesem WOllt sind alle Reize eines aktuell erlebten Gegenstandes oder einer Situation in abgekürzter Form aufbewahrt, und da ich das Wort frei produzieren kann, verfüge ich in jedem Augenblick über alle sinnlichen Reize, die je in meinen Erlebnisbereich gekommen sind und von mir benannt werden können. Durch beliebige Zusammenstellung dieser Reize in meinen Worten kann ich mir also auch Vorstellungen bilden, deren adäquate Wirklichkeit ich nie sinnlich wahrgenommen habe, z. B. Situationen meines zukünftigen Erlebens mir vorstellen oder Phantasien erdichten. Aber die Grundelemente dieser Vorstellungskombinationen, die ich durch meine Worte erzeuge, müssen im Bereich meines aktuellen Erlebens einmal aufgetreten sein, denn das Wort ist in seiner Grundstruktur ja nur Merkmal einer real empfundenen Wirklichkeit. Ohne sich letzthin doch auf eine wortlose Erlebnisgrundlage zu beziehen, vermag kein Wort als Vorstellung zu wirken. Der von Natur Blinde wird nie, so sagt Hobbes an anderer Stelle, eine Vorstellung von einer Farbe sich bilden können. Sprache ist nicht selbst die erlebte, die konkrete Wirklichkeit, sondern eben deren sinnliches, vom Menschen selbst für sich produziertes Merkmal, das ihn auf eine bestimmte empfundene oder zu empfindende Erlebniswelt hinweisen soll. Damit erhält die Sprache ihre Bestimmung von der Wirklichkeit und vom Menschen her: gegenüber der konkreten Wirklichkeit in der Fülle ihrer Reize und der Vielfalt des jeweils am Gegenstand Wahrgenommenen ist das Wort nur Hinweis, Merkmal, eine Abkürzung des ausführlichen Erlebnisses, ja zunächst noch nicht einmal Teil dieses Erlebens selbst, sondern nur
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Zweiter Teil: über Sprache und Tat
Symbol: das Wort bedeutet eine gewisse Wirklichkeit, indem es auf sie hindeutet. Mit dieser Benennung hat sich aber der Mensch aus der Wahrnehmungssituation herausgestellt und einen gewissen überblick über alle seine Wahrnehmungen gewonnen, er vermag sie jetzt zu vergleichen, die wiederholten oder ähnlichen mit derselben Benennung zu kennzeichnen und so im Wort eine Auswahl und Ordnung seiner Erlebniswelt zu gewinnen. Er zieht von der Fülle und Vielfältigkeit aller seiner Wahrnehmungen gewisse Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten ab und vereinfacht so seine erlebte Welt. Er abstrahiert und verallgemeinert. Diese Leistung der Sprache schafft dem Menschen einen neuen Bereich seines Bewußtseins: er erlebt die Welt als Allgemeinheit und Abstraktheit. In diesen Bereich erhebt er die konkrete Erlebnissituation und befreit sie so von ihrem Zwang. Dabei bleibt diese Allg'emeinheit der Welt durchaus Produkt des Menschen, ist seine eigentümliche Fähigkeit, die Welt im Medium der Sprache anzusehen, während die Welt, wie sie sinnlich erlebt wird, durchaus der Allgemeinheit entbehrt und 'stets konkretes Jetzt und Hier bleibt. "Diese Allgemeinheit eines Namens für viele Dinge ist die Ursache gewesen, daß die Menschen meinen, die Dinge seien selbst allgemein. Und behaupten ernstlich, daß es außer Peter und Johann und allen übrigen Menschen, die in der Welt sind, gewesen sind und sein werden, noch etwas gibt, was wir Mensch nennen, nämlich einen Menschen schlechthin, und täuschen sich so, indem sie die allgemeine und generelle Benennung für das Ding nehmen, das sie bezeichnet ... Es ist daher klar, daß es nichts gibt, das allgemein (universal) ist außer Namen" (EI. I, Kap. V, 6). In dieser Erkenntnis, daß der Mensch erst durch die Sprache den Bereich der Allgemeinheit und des AbstraMen anlegt, liegt der Nominalismus Hobbes' und seine Absage und Feindschaft zu jeder Art ontologischer Metaphysik begründet. Zugleich steckt aber in dieser Einsicht die Behauptung, daß auch die abstraktesten Gedanken noch sinnlich unterbaut sind, insofern sie eine Sprachform haben; die Sprache war ja das "sensible object", das der Mensch selbst produzierte, um überhaupt willkürlich ("voluntary") Vorstellungen haben zu können. Diese willkürlichen Vorstellungen gewinnen nun jetzt den Charakter der Allgemeinheit: es sind Denkakte; die Gedanken werden als eine Folge von Vorstellungen von Wortbedeutungen angesehen. In ihrem Wesen als Allgemeinheit gelangt die Bedeutung des Wortes zu einem eigenen Dasein, indem sie Schauplatz und Gegenstand einer menschlichen Aktivität wird, die sie dem Menschen erst aufbaute und noch erhält, indem sie als Benennung einer Wirklichkeit ihn davon befreite, auf diese Erlebnissituation hin zwangsnotwendig in Handlungen reagieren zu müssen. Der Mensch erledigte die Stel-
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lungnahme zur erlebten Welt durch Benennung, behielt seine Aktivität bei sich und baut nun auf Grund dieser Benennung eine Aktivität des Verfügens solcher Bedeutungen auf, die das Denken ist. Das Wort wird jetzt zur "Bedeutung" auch in der Weise, daß es nicht nur auf eine erlebte Wirklichkeit hinweist, sondern zugleich auf den Bereich deutet, in dem der Mensch über die Vorstellungen seines Bewußtseins frei verfügt, seine Eindrücke ordnet und vergleicht, kurz in dem er denkt. Ein Wort hat eine "Bedeutung" auch in dem Sinne, wie man von einer konkreten Erlebnissituation sagt, sie "bedeute" etwas, und damit nicht die Fülle der konkreten Eindrücke meint, sondern von denen her auf ein Allgemeines zielt, auf einen "Sinn", wie die Sprache hier sagt und damit wieder ganz treffend diese Doppeldeutigkeit einer "Bedeutung", ihr Verweisen auf eine sinnlich empfundene Wirklichkeit und ihre Beziehung innerhalb einer Gedankenfolge, ausdrückt. Die Sprache, so sagten wir, gewinne ihre Bestimmung von der Wirklichkeit und vom Menschen her: sie ist gegenüber der erlebten Wirklichkeit das Abgezogene, Abstrakte, Allgemeine, und indem sie diesen Bereich im Menschen überhaupt erst anlegt und ihm darin eine Aktivität seiner Vorstellungen gestattet, wird sie als von ihm beherrschtes "sensible object" zugleich diesen Vorstellungen und Gedanken gegenüber zum Konkreten und Sinnlichen. Sie wird die Wirklichkeit der Gedanken als ihr sinnlicher Ausdruck, behält aber auch hier ihren Charakter als Bezeichnung und Symbol, das auf etwas hinweist. So ist sie Mittler zwischen der erlebten Wahrnehmungswelt und einer im Menschen durch sie erst ermöglichten Welt der freien, allgemeinen und abstrakten Vorstellungen. Dieses nicht einfach zu nennende Verhältnis liegt in den schlichten Worten beschlossen, die Hobbes in "De Homine" am Anfang seines Kapitels über die Sprache als deren Definition angibt: "Sprache oder Rede ist eine Verbindung der von Menschen festgesetzten Worte, um eine Reihe von Gedanken, d. h. Vorstellungen von Dingen, an die wir denken, zu bezeichnen. Wie sich also ein Wort zur Vorstellung verhält, so verhält sich die Sprache zu einem Gedankenablauf" (X, 1). Hierbei kommt die Doppeldeutigkeit der Sprache sehr gut in der Trennung von Wort und Sprache zum Ausdruck: Wort ist Benennung von Wahrnehmungsvorstellungen, von punktuellen Erlebnismomenten, Deutung nach außen. Die Sprache aber wird Gegenstand und Medium des aktiven Handhabens dieser Benennungen durch den Menschen, die Benennungen werden von innen her in einer freien Bewegung aufgenommen, sie werden zusammengestellt, verglichen, geordnet und aufeinander bezogen. Und doch ist ja Wort und Sprache eins: Bedeutung. Wichtig an diesen Erörterungen ist die richtige Einsicht, daß die höheren Bewußtseinszustände des Menschen sich auf der Sprache auf-
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bauen. Das Tier hat diesen Bereich des freien Verfügens von Vorstellungen, die Fähigkeit, die Welt im AI,lgemeinen eines Begriffs anzusehen, nicht: "den Tieren fehlt der Verstand, denn der Verstand ist eine Art Vorstellung, welche aber entsteht auf Grund der festgesetzten Wortbedeutungen" (" ... itaque caetera animalia etiam intellectu carent. Est enim intellectus imaginatio quidem, sed quae oritur ex verborum significatione constituta") (De Horn. X, 1). Hier hat Hobbes also die Unterscheidung von Mensch und Tier im Wesen der Sprache und der auf ihr aufbauenden höheren menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten gefunden. Das Tier hat keine Sprache und ist deshalb dem Zwang der Wahrnehmungssituation ausgeliefert, die es zu reaktiven Handlungen nötigt. Hobbes sagt daher im 1. Abschnitt seines Kapitels von der Sprache: "Die Sprache scheint dem Menschen eigentümlich zu sein. Denn wenn a'Uch einige Tiere durch Gewohnheit lernen, unsere Wünsche und Befehle auf Grund von Worten zu verstehen, so erfassen sie dabei doch nicht die eigentümlichen Wortbedeutungen und -bezeichnungen, denn sie wissen ja nicht, zur Bezeichnung welches Gegenstandes die Worte frei (arbitrio) vom Menschen bestimmt sind, sondern die Worte sind ihnen nur Signale. Die Zeichengebung aber, die mit Hilfe der Stimme zwischen zwei Tieren derselben Art zustande kommt, ist darum keine Sprache, weil jene Laute ... von ihnen nicht frei festgesetzt, sondern durch den Zwang ihrer Natur aus ihren Empfindungen mit Gewalt ausgepreßt werden (non arbitrio ... , sed necessitate naturae suae ... ab ipsis passionibus vi exprimuntur). So kommt es bei Tieren, wenn deren Stimme nur eine kleine Veränderungsmöglichkeit hat, vor, daß die einen von den anderen durch die Vemchiedenheit der Laute in Gefahren zur Flucht aufgefordert, zum Fressen gerufen, zum Singen ermuntert, zur Liebe gereizt werden. Doch sind diese Laute nicht Sprache, da sie nicht absichtlich bestimmt sind, sondern durch die Gewalt der Natur von der Furcht, Freude, Begierde und den übrigen Empfindungen hervorgerufen werden (non voluntate constitutae, sed erumpant vi naturae ...)" (De Horn. X, 1). Dem Tiere sind Laute also nur ak,tuelle Reize innerhalb des Mechanismus seiner Triebe und seiner Wahrnehmungswelt, es sind selber Reaktionshandlungen, die durch die aktuelle Situation erzwungen werden, was Hobbes sehr treffend mit dem Begriff "necessitas suae naturae" bezeichnet. Das Tier ist ein festgelegtes, an seine Natur gebundenes Wesen. Der Mensch dagegen ist der "necessitas suae naturae" entronnen, da er Wortbedeutungen versteht und über sie frei, willkürlich, d. h. gemäß einem Willen verfügt. Durch die Sprache schafft er sich eine Natur oberhalb der animalen, eine, wie Hegel in der "Phänomenologie" sagt, "zweite Natur", die in der Fähigkeit des Wissens und Verstandes (Verstehen von Wortbedeutungen) und in der Freiheit seiner Aktivität,
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im Willen, besteht, worunter Hobbes, der hier die Begriffe "arbitrium" (Freiheit) und "voluntas" zunächst völlig gleichbedeutend gebraucht, dieses In-der-Hand-haben und von innen her Beherrschen der Vorstellungen meint. Der Mensch lenkt seine VorsteMungen und Gedanken selbst, er ist es, der in diesem Bereich des Allgemeinen, des Wissens und Verstehens, den Inhalt seines Bewußtseins bestimmt und auswählt; und in dieser Erscheinung sieht Hobbes zunächst den Willen und die Freiheit des Menschen. Hobbes hat jedoch gemäß seiner Fragestellung kein Interesse daran, nun von einem Willen oder einem Verstande als Vermögen oder Grundkategorie seiner Lehre zu sprechen, sondern er untersucht weiter die Tätigkeiten und Vollzüge, die der Mensch vermittels der Sprache aufbaut und auszuüben vermag. Bisher sahen wir, wie der Mensch in seiner Vorstellungswelt durch die Sprache eine Freiheit gewinnt, sich von seiner Erlebniswelt abzuheben vermag und sich die Welt des Gedankens errichtet; jetzt müssen wir nun die Frage stellen, wie er sich denn nun in seinen Handlungen zur Welt verhält, denn bisher sahen wir nur ein, daß er nicht notwendig und reaktiv auf seinen Erlebnissituationen zu handeln braucht wie das Tier, aber wie er nun überhaupt noch handeln kann, wurde nicht erörtert. Und doch liegt gerade in der Einsicht, wie das tätige Verhalten des Menschen zur Welt vor sich geht, der Punkt in der Lehre Hobbes', von dem her er sogar noch die Sprache begründet und in ihrer Struktur einsichtig macht. Auf die Frage: Wie entsteht die Sprache?, hat Hobbes schon in jenem anfangs von uns angeführten Zitat über die Sprache als Merkmal das Entscheidende gesagt; wir müssen hier noch einmal zur Erörterung jenes Zitates zurückkehren. Indem das Wort oder die Benennung als Merkmal und Abkürzung einer erlebten Wirklichkeit dient, hat es deren Fülle und wahrgenommene Vielseitigkeit zugleich ausgewählt und auf ein Wesentliches vereinfacht. Es hat die erlebte Wirklichkeit für den Menschen "handlich" gemacht, nicht nur in dem Sinne, daß der Mensch ihr nicht mehr unterworfen ist und seine Aktivität als freie Vorstellung bei sich behält, sondern vor allem in der Hinsicht, daß die Vereinfachung und das zum Merkmal-machen bereits in Rücksicht auf eine Handlung erfolgt. Das Auswahlprinzip, nach dem der Mensch sich seine wahrgenommene Welt ordnet und in Übersicht bringt, ist die zukünftige Handlung; das Wort hat in seiner Bedeutung bereits einen Zweck in sich. Die Schiffer richten ein Merkmal auf, das eine Klippe im Meere anzeigt, damit sie diese Gefahr vermeiden; dieses Beispiel gibt Hobbes für die Struktur eines Merkmals und meint, daß auch so die Sprache und das durch sie ermöglichte begriffliche Denken beschaffen sei. Um einen Mangel zu beheben, um, wie jenes Zitat als Beispiel anführt, für einen zukünftigen, noch
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nicht aktuellen Hunger Vorsorge zu treffen, ersinnt der Mensch sich ein Merkmal, um später auf Grund einer nicht mehr gegenwärtigen Situation noch handeln zu können. Da er ja jene übersicht gewonnen hat, die ihm die Erfahrungen der Vergangenheit gegenwärtig sein und zugleich Vorstellungen zukünftiger Lebenssituationen vorwegnehmen lassen, vermag er seine Handlungen in Kontinuität und Rücksicht auf seine Vergangenheit und zugleich in Voraussicht und Vorsorge auf seine Zukunft hin zu tun. Er handelt nicht in blinder Reaktion auf aktuelle Reize, sondern stellt sich seine Handlung in einer frei produzierten Vorstellung vor sein Bewußtsein, auf die hin er dann seine Handlungen bewußt richtet und abzielt. So lenkt der Mensch sein Tun, indem er es in der Phantasie, d. h. in seinen von der Wahrnehmungssituation sich lösenden Vorstellungen, vorausnimmt. Das ist die Struktur des menschlichen HandeIns gegenüber dem tierischen, die der Mensch gewinnt, weil ihm die Fähigkeit der Sprache seine Vorstellungswelt in eigene Verfügbarkeit gibt: der Mensch kann überschauend die Absicht und das Ziel seiner Handlung selbst bestimmen, er kann planend handeln. "Er vermag", so drückt es Hobbes aus, "als einziges unter allen Lebewesen vermittels der allgemeinen Wortbedeutungen sich praktische Gesetze für allerlei Künste und besonders für seine Lebensführung zu ersinnen" (De Hom. X, 3). Das Wort als Merkmal erfährt hier also noch eine dritte Bestimmung: es ist nicht nur Hinweis auf eine Wirklichkeit und Ausdruck eines Gedankens, sondern zugleich Ansatzpunkt der menschlichen Tat, da sich in ihm allgemeine, d. h. von der konkreten Situation gelöste Phantasievorstellungen von Handlungen ersinnen lassen, womit zug,leich gesagt wird, daß der Mensch seine Handlungen, soweit sie von ihm als menschliche getan werden, durch seine Vorstellung in einen Bereich der Allgemeinheit aufnimmt oder, was dasselbe ist, sie als bewußte tut. Nun handhabt er in seiner freien Vorstellungsphantasie durchaus nicht die ganze Fmle der empfangenen Wahrnehmungsreize, sondern seine Phantasie kürzt diese Vielfalt der Wirklichkeit ab und stellt sich nur ein Wesentliches, nämlich jeweils das für die menschliche Handlung Brauchbare und Entscheidende am Dinge oder an einer Situation vor; die menschlichen Handlungsvorstellungen sind abstrakt, und sie sind es, weil sie der Mensch in Rücksicht auf seine Handlung formt. Diese Abstraktheit entstand aber auf Grund der Sprache, als Merkmalhaftigkeit und abkürzende Deutung, als deren Ursprung jetzt die Bezogenheit auf das menschliche Handeln ersichtlich wird. Die Beziehungen zwischen Sprache und Tat kann man daher so bestimmen, daß die Sprache erst die eigentümlich menschliche Tätigkeit, das planende Handeln, ermöglicht, daß dies aber zugleich ihr letzter und oberster Zweck ist, von dem her ihre ganze Struktur, ihre Leistung und ihr Vollzug bestimmt wird. Alle
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eigentümlich menschlichen Fähigkeiten, die sich auf der Sprache aufbauen, gipfeln in der menschlichen Handlung und werden von dort her bestimmt und gesteuert. Diese Einsicht, daß in dem Widerspiel von Sprache und Tat die Gesamtheit der menschlichen Eigentümlichkeiten und Daseinsfunktionen beschlossen ist, daß sich von dort her das Bewußtsein von einer gegenständlichen Welt, Phantasie, Verstand, Vernunft, Wille und, wie wir noch sehen werden, auch Wissenschaft, Sittlichkeit, staatliches Verhalten usw. in ihren Vollzügen aufbauen, ist der Grundpfeiler der Hobbesschen Lehre vom Menschen. Hier liegen die Grundlagen der gesamten Philosophie Hobbes'. Dieses Verhältnis von Sprache und Tat ist nun von Hobbes gemeint, wenn er in "De Homine" als den ersten wichtigen Vorteil, der dem Menschen aus der Sprache erwächst, das Zählen nennt. Es heißt dort: "Erstens kann der Mensch mit Hilfe der Zahlwörter zählen und das heißt nicht nur Einheiten zusammenfügen, sondern auch die einzelnen Gegenstände messend bestimmen . ... Hieraus entstehen dem Menschengeschlechte ungeheure Vorteile, die den anderen Lebewesen versagt sind. Denn jedermann weiß, in welchem Maße diese Fähigkeiten beim Ausmessen von Körpern, bei der Zeitrechnung, bei der Berechnung der Gestirnbewegungen, bei der Erdbeschreibung, bei Seefahrten, beim Bauen, bei Maschinen und anderen notwendigen Dingen verwendet werden. Alles dieses beruht auf dem Zählen, das Zählen aber auf der Sprache" (De Horn. X, 3). Die Vorteile oder die höheren Lebensformen, die der Mensch durch das Zählen gewinnt, sieht Hobbes also vor allem in dem technischen Können des Menschen. Diese Fähigkeit der Technik besteht nun darin, daß der Mensch sich die Stituationen, in denen er lebt, selbst herstellt, daß er die Dinge, mit denen er umgeht, erst zubereitet, ehe er sie in ihrem eigentlichen Zweck anwendet oder genießt, daß er sich mit einer Welt umgibt, die er erst verfertigt und bearbeitet hat, um darin leben zu können. Technik ist die Benutzung von Werkzeugen, die dem Menschen nicht nur ein dem Tier gegenüber höheres Dasein ermöglicht, sondern die für die Erhaltung seines Lebens überhaupt notwendig ist. Da er sich von einer Welt gelöst hat, von der das Tier mit natürlicher Zweckhaftigkeit und durch einen sicheren, festgelegten Instinkt geführt wird, muß er sich den lebenserhaltenden und lebensfördernden Charakter seiner Welt selbst herstellen. Damit wird die Technik, d. h. das Leben durch Werkzeuge hindurch, vermöge der vom Menschen entwickelten Künste und in einer "künstlichen" Umwelt, zur Urform des planenden Handeins. Hobbes wird nicht müde, allenthalben dieses "künstliche" Handeln des Menschen in seinen Schriften zu betonen (vgl. De Horn. X, 3; Lev. X), und er weiß sehr wohl, daß gerade diese künstlichen Gebilde für das Leben des Menschen "notwendige Dinge" sind.
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Wenn er hier nun das Zählen als Grund dieser technischen Fähigkeiten des Menschen anführt, so müssen wir sehr genau zusehen, was er darunter versteht. Zweifellos geht er aus von der Kenntnis einer bereits ausgebildeten und entwickelten Technik, die mit Hilfe der Mathematik arbeitet; das zeigen seine Beispiele. Aber das Errichten einer Blockhütte ist auch schon Bauen, und das Verfertigen eines Steinbeiles durch Behauen eines geeigneten Felssplitters ist auch schon die Anfertigung einer Maschine und erfordert grundsätzlich dieselben Fähigkeiten, die Hobbes hier dem Zählen zuschreibt. Auch der Mensch, der noch keine Mathematik kannte, hat schon Einheiten zusammengefügt und Maß genommen; es steckten in diesen Bestimmungen des Zählens die von uns entwickelten Grundlagen des planenden HandeIns überhaupt: Einheiten zusammenfügen ist jenes Absehen von der Vielfältigkeit der Wahrnehmungsreize, dieses Reduzieren der Vorstellung auf ein Merkmal, auf ein Symbol, das ich nun mit anderen derartigen abgezogenen Bedeutungen zusammenstellen und vergleichen kann. Das allgemeinste und bis auf ein Mindestmaß abgekürzte Merkmal, das der Mensch von einer Wahrnehmung übrigbehält, wenn er in seiner freien Vorstellung davon auf jede auf das Inhaltliche jener Wahrnehmung gehende Deutung verzichtet, ist das abstrakte Wissen, daß jene Wahrnehmung eine war und die nächste wieder eine, und so kann er in der freien Produktion seiner Vorstellung diese Art von Symbolen zusammenfügen, das eine den anderen Einheiten zuordnen, d. h. er kann zählen. Hobbes hat in diesem Phänomen die reinste Form des Produzierens von freien, abstrakten Vorstellungen aufgegriffen. Aber das abstrakte Denken eines Menschen, der eine höhere mathematische Berechnung ausführt, entsteht im Grunde aus derselben menschlichen Fähigkeit, die auch der primitive Mensch hat, der sich im Walde eine Anzahl gleichartiger Baumstämme für seine Hütte zusammensucht und dabei durchaus noch nicht in Ziffern zu denken vermag, sondern nur weiß, daß er "so viel" braucht und sich nun die einzelnen Stämme zu diesem "so viel" zusammendenkt. Die Holzhütte, die er baut, ist genauso ein menschliches Gebäude wie der Wolkenkratzer, den die Architekten mit Hilfe von Rechenschiebern errichten. Mögen auch in diesen Beispielen die Verschiedenheiten, die das menschliche Leben in seiner Entwicklung ausmachen, scheinbar unterschlagen werden, es kommt bei einer Bestimmung des Wesens des Menschen zunächst gar nicht auf diese Unterschiede an, sondern gerade auf die Gleichartigkeit des menschlichen HandeIns zu allen Zeiten, auf das, was dem ersten Menschen und dem modernen Europäer gemeinsam ist. Solch eine gültige Aussage über den Menschen überhaupt hat Hobbes mit seiner Behauptung, daß dem Menschen das Zählenkönnen eigentümlich sei, machen wollen; dies geht deutlich aus der zweiten Bestimmung des Begriffes "Zählen" hervor, die ein im Sinne moderner Mathe-
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matik denkender Wissenschaftler nicht mehr als zum Begriff des Zählens gehörig ansehen würde: daß das Zählen zugleich ein messendes Bestimmen, ein Maßnehmen sei. Mi-t diesem Messen ist nun nicht wieder die rein theoretische Feststellung von Größen gemeint, die selber nur wieder ein Einheitenzusammenfügen wäre, sondern es ist die Tatsache gesehen, daß diese abstrakten Einheiten auf die wahrgenommenen Dinge anwendbar sind und daß man durch diese Anwendung mit den Dingen in einer bestimmten Weise hantieren kann. Der Grundzug der Anwendung wird dem Zählen als Wesensmerkmal zugefügt; die abgezogenen Begriffe passen auf die Dinge, weil ihre Abstraktion unter dem Gesichtspunkt der Anwendung vorgenommen wird: nur so ist Zählen das theoretische Einheitenzusammenfügen und zugleich das praktische Anwenden als Messen. Man muß dies Messen in dem Sinne verstehen, wie etwa ein Handwerker sagt, er habe "Maß genommen": die abstrakte Größe eines Gegenstandes wird in Hinblick auf eine Verwendung bestimmt, es wird Maß genommen, ob er dazu "paßt". So ist im Maß immer die Feststellung einer Größe und zugleich die Zweckbezogenheit auf eine Handlung vorhanden. Für Hobbes wird also das Zählen zum Inbegriff der menschlichen Fähigkeit, die wir als das planende Handeln kennzeichneten, mit dem der Mensch sich die "künstliche" und technisch bearbeitete Welt herstellt, in der er lebt. "Alles dieses beruht auf dem Zählen, das Zählen aber auf der Sprache", schließt er so mit Recht. Es ist nötig, bei diesem Begriff des Zählens länger zu verweilen, denn er ist einer der Grundbegriffe des Hobbesschen Denkens; wir brauchen nur an die bekannte Definition der Vernunft, sie sei "eine Art von Rechnen" (vgl. Lev. V; De Corp. 1,2), zu denken, um die weittragende Bedeutung dieser Erörterung für die Auffassung seiner Philosophie einzusehen. Auf das Mißverständnis oder die einseitigen Auffassungen dieses Begriffes des Zählens und Rechnens ist dann auch ein großer Teil der unzutreffenden Hobbesdeutungen zurückzuführen. Man muß jedoch zugeben, daß Hobbes diese im Phänomen des Zählens entdeckte Struktur des menschlichen Verhaltens an dieser Stelle zu sehr an einem Einzelfall erläutert und dargestellt hat. Dadurch aber, daß dieser Einzelfall ausdrücklich auf die Sprache bezogen wird und im Rahmen ihrer Erörterung und der des Wesensunterschiedes von Mensch und Tier steht, ist der tiefere Gehalt dieser Fähigkeit des Zählens nicht zu verkennen. Daß Hobbes damit die Fähigkeit der Abstraktion in Rücksicht auf menschliches Handeln meint, ist ganz eindeutig aus einer Stelle in "De Corpore" zu ersehen, wo er die Bestimmungen des Zählens und seiner praktischen Folgen fast wörtlich wiederholt, nur daß er an Stelle des Begriffes "Zählen" den der "Philosophie" einsetzt (De Corp. I, 7); wir werden darauf weiter unten zurückkommen. Man muß bedenken, daß diese Erörterung über die Wechselbeziehung von Sprachp. und Tat als
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Grundlage der Philosophie Hobbes' nicht aus der willkürlichen Kombination weit voneinander verteilter Stellen im Gesamtwerk des Denkers entsteht, sondern, wenn auch in Hinblick auf das ganze Werk, was die folgenden Abschnitte erweisen werden, ihre Grundlagen in drei bis vier Seiten des Buches "De Homine" und in dem parallelen Kapitel über die Sprache in den "Elements of Law" findet. Will man Hobbes also nicht als einen aphoristischen Denker hinstellen, der kluge, aber unzusammenhängende Bemerkungen aneinanderreiht, so muß man diese tieferen Schichten als von ihm gesehen annehmen und sie aufsuchen. In dieser Auffassung des Zählens kommt eine Ansicht von den Allgemeinbegriffen zum Ausdruck, die die Kantische Frage, wie unsere reinen Verstandesbegriffe, besonders die mathematischen, auf die Wirklichkeit passen, von vornherein gar nicht aufkommen läßt, weil sie um die Antwort, daß "unser Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt", in einem tieferen Sinne Bescheid weiß. Die Einsicht, daß die Fähigkeit der Abstraktion auf der Sprache beruht, verbietet es diesem Denken, eine "reine Vernunft" als den in sich ruhenden und völlig eigengesetzlichen Gegenbereich zur wahrgenommenen Wirklichkeit anzunehmen; ihm sind die Allgemeinbegriffe von vornherein Funktionen in jenem Widerspiel von Sprachfähigkeit und Handlungsabsicht des Menschen. Das Bewußtsein, das abstrakte Begriffe denken kann, also der Verstand oder die Vernunft, entsteht ja erst dadurch, daß die Sprache eine gegenständliche Welt und den dazugehörigen Bereich des Bewußtseins anlegt, den der Mensch mit freien Vorstellungen abgezogener Symbole füllen kann, und die Symbole werden ja vom Menschen nach dem Prinzip konstruiert, daß er damit die Wirklichkeit in seiner Gewalt behält und mit ihr hantieren kann. So sind für Hobbes die wissenschaftlichen Allgemeinbegriffe nur eine besondere Form der Handlungsphantasie; die Anwendbarkeit der Wissenschaft, ihre Bezogenheit auf menschliches Tun ist ihm selbstverständlich, weil es ihre Entstehungsmöglichkeit ist. Daß hier im Begriff des Zählens die theoretische und die praktische Seite des Bewußtseins zusammengedacht oder vielmehr gar nicht erst getrennt werden, ist ein Kennzeichen der Hobbesschen Auffassung vom wissenschaftlichen Denken überhaupt. Die Wissenschaft spielt wie jede Art des Denkens nur eine dienende Rolle im tätigen Verhalten des Menschen zu seiner Welt. Ihre Grundlagen liegen wie die des menschlichen Wesens überhaupt in Sprache und Tat. Es ist daher selbstverständlich, daß die erste Bestimmung der Wissenschaft ihre Entstehung aus der Sprache aufweist. "Es ist mit Hilfe von Namen, daß wir fähig sind zur Wissenschaft" (Elements I, Kap. V, 4), denn "der Verstand (intellectus) ist eine Art Vorstellen, welches entsteht auf Grund von festgesetzten Wortbedeutungen" (De Hom. X, 1). Doch in der Sprache liegt nur die Möglichkeit der Wissenschaft, ihre Struktur und ihren Vollzug
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gewinnt sie von der Handlung des Menschen her, in der sie die Rolle spielt, die eben jenen freien Vorstellungen gegenüber dem Handeln überhaupt zukommt: sie lenkt die Handlung, sie richtet sie auf ihre Gegenstände und Ziele aus, sie berät und belehrt sie, sie ist sozusagen das Auge der Handlung, "denn die Gedanken sind für das Begehren gleichsam die Pfadfinder und Spione, die draußen nach Weg und Mitteln suchen, die zu den ersehnten Dingen führen" (Lev. VIII). Das wissenschaftliche Denken, die Vernunft, unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Handlungsdenken des Menschen, dem Verstand gemeinhin, nur dadurch, daß es noch "künstlicher" ist, daß es bewußt, d. h. durch Fleiß und Erziehung, aufgebaut werden muß, während der Verstand im gewissen Sinne sich "natürlich" aufbaut, insofern der Mensch gar nicht leben kann, ohne seine Handlungen mit Verstand, d. h. planend handelnd, zu vollziehen. "Die Natur hat uns mit keiner richtigen Vernunft (reeta ratio) ausgestattet" (Lev. V), und "hieraus wird klar, daß die Vernunft uns nicht so angeboren sei, wie Empfindung und Gedächtnis, und daß sie nicht durch bloße Erfahrung, wie die Klugheit, sondern durch anhaltenden Fleiß erworben werden muß" (Lev. V). So kommt dann eine Definition der Vernunft zustande, die ganz ausgezeichnet alle diese Momente in sich enthält: "Der durch Kunst und Unterricht erworbene Verstand ist eben das, was die Vernunft ist; sie entsteht aus dem rechten Gebrauch der Sprache und ist die Quelle aller Wissenschaften" (Lev. VIII). Hobbes unterscheidet sich mit dieser Auffassung der Wissenschaft von Sprache und Tat her sehr wesentlich von den Wissenschaftsbegriffen, die wir sonst kennen. Sowohl die griechische Wissenschaft, die nach einem ewigen Sein fragt, wie die Wissenschaft der Scholastik, die sich auf die Autorität des geoffenbarten Gotteswortes bezieht, aber auch der auf Descartes sich aufbauende Wissenschaftsbegriff, der eine rein theoretisch aufgefaßte Wahrheit zur Grundlage hat, kennen diese Einordnung der Wissenschaft in das Wesen des Menschen nicht und machen gar umgekehrt die Grundlage ihrer Wissenschaft zum Wesen des Menschen. Nur ein Jahrhundert, wie das "humanistische" 16. Jahrhundert, das seinen Blick in seltener Freiheit von Ideologien ganz auf das wirkliche Wesen des Menschen wandte, mit der Absicht, diesen Menschen als ganzen, in allen seinen Lebensweisen, aus sich selbst heraus zu einer vollkommenen Form, zu einer echten "humanitas" zu führen, hat vorübergehend jene Auffassung von der Wissenschaft als theoretischer und praktischer Fragestellung in einem aufstellen können, die durch Descartes mit seiner Konzeption der Grundlagen der "modernen" Wissenschaft abgebrochen wurde und zur Entwicklung einer sich als rein theoretisch verstehenden Wissenschaft führte. Hobbes steht am Ende jener 150 Jahre, die man mit Machiavelli beginnen lassen und als Zwischen-
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spiel zwischen Scholastik und "moderner" theoretischer Wissenschaft ansehen muß. Auch Bacon verband in seiner Wissenschaftslehre den theoretischen mit dem praktischen Anspruch und sah in der Herrschaft über Natur und Leben den eigentlichen Zweck aller theoretischen Erkenntnis. Eine Bestimmung des "Zählens" als Einheitszusammenfügen und anwendendes Messen entspricht durchaus Bacons Auffassung von der Naturwissenschaft und hat mit der von Descartes ausgehenden Wissenschaftsauffassung nichts zu tun. Auch die Ansicht der Lehre vom Menschen und dem Staat als höchster und alle anderen Wissenschaftszweige bestimmender Wissenschaft, die dieser Reihe von Denkern gemeinsam ist und sich von dem Aristoteles der Spätschriften, von dem sie alle gelernt haben, herführt, kann nur von einem Denken getragen werden, das die Urfrage der Wissenschaft bereits um des Handeins willen und im vollen Bewußtsein davon ansetzt. Hobbes ist nun insofern der geniale Abschluß dieser Epoche der Wissenschaft, als er die These, daß Praxis und Theorie in der Wissenschaft vereint sein müssen, nicht nur fordernd aufstellt wie Bacon oder nur handhabt wie Machiavelli, sondern daß er die Grundlagen dieser Wissenschaftsauffassung entdeckt und darstellt; er ist nicht nur Programmatiker oder Praktiker, sondern der Philosoph dieser Art von Wissenschaft. Sein Wissenschaftsbegriff erwächst aus der Einsicht, daß jedes Denken ein vorausschauendes Vorstellen von Handlungsmöglichkeiten ist und jede Erkenntnis ein Ansatzpunkt für das planende menschliche Tun sein muß, das zur Erhaltung und Förderung des menschlichen Lebens notwendig ist. Einen bloß theoretischen Wert der Wissenschaft erkennt er auf diesem Punkte seines Denkens gar nicht an. Er hat dies in treffenden Sätzen im 1. Teil seiner "Grundzüge der Philosophie" ausgesprochen: "Die größte Bedeutung der Philosophie liegt nun darin, daß wir die vorausgeschauten Wirkungen zu unserem Vorteil nutzen und auf Grund unserer Erkenntnis nach Maß unserer Kräfte und Tüchtigkeit absichtlich zur Förderung des menschlichen Lebens herbeiführen können ... Die Theorie ... dient nur der Konstruktion! Und alle Spekulation geht am Ende auf eine Handlung oder Leistung aus" (De Corp. I, 6). Daß hier die Philosophie wieder nur ein Parsprototo-Begriff für das planende Denken überhaupt ist, wie es schon das "Zählen" war, zeigt die Schilderung der auf dieser "Philosophie" aufbauenden Handlungsweisen, die er wie beim "Zählen" als die Fähigkeit zur Technik und zum Gebrauch von Werkzeugen bestimmt; er fährt nämlich nach jenem Zitat mit folgenden Sätzen fort: "Wie groß aber der Nutzen der Philosophie, besonders der der Naturphilosophie und der Geometrie ist, wird am besten ersichtlich, wenn man sich die möglichen Forderungen des menschlichen Geschlechtes durch sie vergegenwärtigt und die Lebensweise derer, die ihrer sich erfreuen, mit anderen vergleicht, die sie
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entbehren. Die größte Förderung verdankt das menschliche Geschlecht der Technik, d. h. der Kunst, Körper und ihre Bewegungen zu messen, schwere Lasten zu bewegen, zu bauen, Schiffahrt zu treiben, Werkzeuge zu jeglichem Gebrauch herzustellen, die Bewegungen am Himmel, die Bahnen der Gestirne, den Kalender usw. zu berechnen. Welch außerordentlichen Nutzen die Menschen von diesen Wissenschaften haben, läßt sich leichter einsehen als sagen" (De Corp. I, 7). Dieser Zweckbestimmung der Wissenschaft und diesem Aufbau ihrer Begriffe und Denkweisen aus Sprache und Tat entspricht nun auch ihre Fragestellung und Methode. Wenn der Mensch seine Erkenntnis, gleichgültig ob wissenschaftliche oder vorwissenschaftliche, dazu braucht, um seiner Handlung ein Bild ihres Verlaufs vorauszudenken, so muß die Grundfrage dieses Denkens darauf gehen, welches Wirken mit den Dingen möglich ist. Der in der Wahrnehmung erkannte Gegenstand oder die erfaßte Situation wird unter dem Gesichtspunkt des Handeins auf ihre Vergangenheit und ihre Zukunft abgefragt, was der Mensch vermag, weil er sich von der Situationsempfindung lösen kann. Indem er nun danach fragt, was mit einem Gegenstand in Zukunft geschehen und was er damit machen kann, wird seine Frage auf die Vergangenheit verwiesen und wird zur Forschung, was mit diesem Gegenstand früher geschehen ist, wie er entstanden und welchen Werdegang er durchgemacht hat, um jetzt als solcher, der er ist, wahrgenommen zu werden. Das vorausschauende Handlungsdenken erzeugt also die Frage nach den Ursachen und Wirkungen eines Gegenstandes als die Grundfrage der Wissenschaft, die daher "die Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen" ist (De Corp. I, 2). Das wissenschaftliche Denken hat also grundsätzlich dieselbe Leistung zu erfüllen, die Hobbes als die Aufgabe des "praktischen Verstandes" oder der Erfahrungsklugheit aufstellt: "Voraussicht in die Zukunft" (ebd.). Alle Unterschiede, die zwischen diesen beiden Denkarten gemacht werden und auf die später noch einzugehen ist,