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German Pages 236 Year 2014
Günther Auth Theorien der Internationalen Beziehungen kompakt
Günther Auth
Theorien der Internationalen Beziehungen kompakt Die wichtigsten Theorien auf einen Blick 2., aktualisierte und erweiterte Auflage
ISBN 978-3-486-71400-5 e-ISBN (PDF) 978-3-486-71775-4 e-ISBN (ePUB) 978-3-11-039673-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Einbandabbildung: thinkstockphotos.de Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Auch in dieser zweiten Auflage möchte das vorliegende Buch primär in die gängigen Theorien/Perspektiven der Disziplin Internationale Beziehungen (IB) einführen, ohne dabei den Stil und die Strategie vieler anderer Einführungen in diese Materie zu kopieren. Dieses Unterfangen ist insofern nicht mehr ganz so leicht, als in den letzten Jahren diverse Einführungstexte veröffentlicht wurden, die sich in teilweise sehr origineller Art und Weise darum bemühen, den Typus des scholastischen Kommentars hinter sich zu lassen und eine anwendungsorientierte Herangehensweise anzubieten. Ganz in diesem Sinne liegt der grundsätzlichste Anspruch dieses Lehrbuchs darin, Studierenden der Politikwissenschaft im Teilbereich Internationale Beziehungen (IB) die eigenständige Arbeit mit den Theorien der IB zu erleichtern. Für die eigene Arbeit mit den Theorien und -perspektiven im Bereich IB ist es grundlegend, zunächst in einem eher formalen Sinn die zentralen Begriffe, die zusammengenommen die analytische Aussagenlogik bilden, kennenzulernen. In einem weiteren Schritt geht es darum, die inhaltliche – und zuweilen auch ideologische – Aufladung einschlägiger Begriffe zu erkennen, um die spezifische Argumentationslogik der Theorien bezüglich konkreter historischer Ereignisse zu verstehen. Die größte Schwierigkeit bei der Heranziehung der IB-Theorien liegt darin, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese Theorien nicht einfach ‚nur‘ unterschiedliche Erklärungen für Sachverhalte anbieten – die sogenannte ‚Anwendung‘ von IB-Theorien, zu der Studierende für Prüfungszwecke in der Regel angehalten werden, läuft freilich oft genau darauf hinaus. Aufgrund ausgesprochener und unausgesprochener Voraussetzungen innerhalb dessen, was man als den normativen bzw. ideologischen Kern besagter Theorien bezeichnen könnte, kommen relevante Sachverhalte und Ereignisse der internationalen Beziehungen bereits ganz unterschiedlich in den Blick; ganz zu schweigen davon, dass aus der Perspektive unterschiedlicher Theorien auch nicht die gleichen Sachverhalte für relevant und erklärungswürdig erachtet werden. Die Entscheidung für diese oder jene IB-Theorie/-perspektive ist eine Entscheidung für und wider eine spezifische Weltsicht und hat Konsequenzen hinsichtlich dessen, was überhaupt Thema und Gegenstand einer eingehenden Beschäftigung wird. Letzterer Aspekt deutet auf eine wichtige Problematik hin: wenn sich die Theorien der internationalen Beziehungen im mainstream des Faches immer nur für ganz bestimmte Sachverhalte interessieren und nicht für andere, dann spielen in die Weltdeutung normative und/oder außerwissenschaftliche Überlegungen mit hinein, die als solche nicht reflektiert und legitimiert werden; wenn sich solche Theorien immer nur für den einen oder anderen bestimmten Ausschnitt der internationalen Beziehungen interessieren, stellt sich die Frage, ob der Blick nicht willkürlich bestimmte Sachverhalte außer Acht lässt – und inwiefern eine solche Theoriebildung für die Deutung des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen überhaupt angemessen sein kann. Vorsicht und eine gewisse Skepsis sind durchaus würdige Begleiter der eigenen Arbeit mit den genannten Theorien.
VI
Vorwort
Während der Überarbeitung der ersten Auflage dieses Buches, die durch eine ‚Beurlaubung‘ von meinen Lehrverpflichtungen ermöglicht und davon umso stärker motiviert wurde, haben Erinnerungen an viele konstruktive Diskussionen mit Studierenden in Einführungskursen, Übungs- und Proseminaren sowie Tutorien und informelle Gespräche über die Disziplin der Internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle gespielt. Die Gespräche mit mehr oder weniger unvoreingenommenen ‚Konsumenten‘ der Theorien haben immer wieder die spezifischen Bedürfnisse nach Deutungsund Zuschreibungskriterien zum Vorschein gebracht, die bei der Heranziehung von theoretischen Begriffen zum Zwecke des nachvollziehenden und/oder erklärenden Verstehens entstehen. Es wäre nach wie vor ein großer Erfolg dieses Buches, wenn die Ausführungen in den nachfolgenden Kapiteln einen kleinen Beitrag zur erfolgreichen Wirklichkeitsdeutung und Sinnzuschreibung im Geist der entsprechenden Theorie/ Perspektive leisten könnten. Grafrath, im August 2014
G. Auth
Inhalt Vorwort | V 1
Einleitung | 1
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Klassischer Realismus | 19 Prämissen | 21 Das Milieu der internationalen Politik ist ‚anarchisch‘ | 21 Staaten streben nach Macht | 21 Staaten befinden sich in einem Zustand der Unsicherheit | 22 Staaten handeln klug und nicht moralisch ‚gut‘ | 22 Staaten errichten ein Gleichgewicht | 22 Analytik und Aussagenlogik | 23 Analytik | 23 Aussagenlogik | 23 Heuristik | 26 Kollektive Sicherheit und Frieden | 26 Das Völkerrecht und Frieden | 32 (K)eine machtpolitische Rolle für Europa | 41 Kontrollfragen | 44
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Die Logik der Bilder und das Problem der Analyseebene | 45 Die Logik der Bilder von internationaler Politik | 46 Das erste Image | 46 Das zweite Image | 47 Das dritte Image | 49 Das Problem der Analyseebenen | 50 Die systemare Ebene der Analyse | 51 Die subsystemare Ebene der Analyse | 51 Zusammenfassung | 53
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3
Neorealismus | 55 Prämissen | 57 Das internationale System ist eine ‚anarchische‘ Staatenwelt | 57 Akteure haben existenzielle Furcht | 57 Akteure besitzen unterschiedlich große Fähigkeiten, sich zu verteidigen | 57 Akteure sichern ihr Überleben durch strategische Sicherheitspolitik | 57 Im internationalen System kommt es zu einer Veränderung der Konstellationen | 58
4.1.4 4.1.5
VIII
4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Inhalt
Analytik und Aussagenlogik | 58 Analytik | 58 Aussagenlogik | 58 Heuristik | 61 Die multipolare Konstellation nach dem Ost-West-Konflikt | 61 Die neue Unipolarität und die Kontinuität der internationalen Politik | 68 Kontrollfragen | 73
5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3
Neoklassischer Realismus | 75 Prämissen | 77 Internationale Politik ist ‚anarchisch‘ | 77 Staaten verfolgen (langfristige) Strategien in der Außenpolitik | 77 (Fehl-)Wahrnehmungen beeinflussen die Außenpolitik | 77 Nationale Stärke beeinflusst die Außenpolitik | 78 Staaten treffen außenpolitische Entscheidungen im historischen Kontext | 78 Analytik und Aussagenlogik | 78 Analytik | 78 Aussagenlogik | 79 Heuristik | 80 Außenpolitik im Zeichen akuter Bedrohung | 81 Außenpolitik als Grand Strategy | 88 Kontrollfragen | 94
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4
Neoliberalismus | 95 Prämissen | 96 Das internationale System ist ‚anarchisch‘ | 96 Die Akteure stehen in Interdependenzbeziehungen | 96 Die Akteure streben nach Kooperation | 97 Die Akteure wollen ihren Nutzen steigern | 97 Internationale Institutionen dienen den Akteuren als Instrumente | 97 Analytik und Aussagenlogik | 98 Analytik | 98 Aussagenlogik | 98 Heuristik | 102 Die Entstehung von Kooperation | 103 Die Wirkung von internationalen Institutionen | 106 Anarchische und hierarchische Institutionen | 111 Kontrollfragen | 115
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5
Inhalt
7 7.1 7.1.1
IX
7.1.5 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Neofunktionalismus | 117 Prämissen | 118 Internationale Beziehungen sind eingebettet in Vergesellschaftungsprozesse | 118 Die Akteure sind Gruppen mit spezifischen Interessen | 119 Akteure politisieren Sachfragen in institutionalisierten Kommunikationskanälen | 119 Supranationale Problemlösungen entfalten nicht-intendierte Konsequenzen | 119 Integration führt zu einer politischen Gemeinschaft | 120 Analytik und Aussagenlogik | 120 Analytik | 120 Aussagenlogik | 120 Heuristik | 124 Der Beginn von Integration | 124 Die Dynamik von Integration | 127 Kontrollfragen | 132
8
Theoriebildung zwischen Traditionalismus und Szientismus | 135
9 9.1 9.1.1
Klassischer Intergouvernementalismus | 141 Prämissen | 142 Die basalen Einheiten des internationalen Systems sind Nationalstaaten | 142 Die entscheidenden Akteure der internationalen Politik sind Regierungen | 142 Regierungen handeln auf der Basis des nationalen Interesses | 143 Das nationale Interesse speist sich aus der Beurteilung der nationalen Situation | 143 Im nationalen Interesse zeigt sich die außenpolitische Orientierung der Regierung | 143 Analytik und Aussagenlogik | 144 Analytik | 144 Aussagenlogik | 144 Heuristik | 147 Die Realität der europäischen Integration | 148 Die USA und die transatlantischen Beziehungen zu Beginn der 1980erJahre | 152 Kontrollfragen | 155
7.1.2 7.1.3 7.1.4
9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3
X
Inhalt
10 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Neuer Liberalismus | 157 Prämissen | 158 Akteure sind Individuen und private Gruppen | 158 Interessengruppen streben nach Wohlfahrt | 158 Staaten sind Transmissionsriemen für Interessengruppen | 159 Das internationale System ist geprägt von einer Interdependenz politischer Präferenzen | 159 10.1.5 Politische Macht ist eine Funktion von Präferenzen | 159 10.2 Analytik und Aussagenlogik | 160 10.2.1 Analytik | 160 10.2.2 Aussagenlogik | 160 10.3 Heuristik | 163 10.3.1 Regierungspolitik und Europäische Integration | 164 10.3.2 Demokratischer Friede/Krieg | 167 10.3.3 Kontrollfragen | 171 11 11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.2 11.2.1 11.2.2 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 12 12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3
Global Governance | 173 Prämissen | 176 Die Akteure sind öffentliche und private Einrichtungen | 176 Die Formen des Regierens werden heterarchisch | 176 Prozesse der Problemlösung zeichnen sich aus durch Informalisierung und Pragmatismus | 176 Die Regulierungsmodi differenzieren sich aus im Sinne von Verrechtlichung und Prozeduralisierung | 177 Legitimität speist sich (weniger) aus Partizipation bzw. Transparenz und (mehr) aus Funktionalität | 177 Analytik und Aussagenlogik | 178 Analytik | 178 Aussagenlogik | 178 Heuristik | 180 Dynamische Institutionen und ihre Governance-Effekte | 181 Heterarchie und Mehrebenenverflechtung | 185 Kontrollfragen | 189 Sozialkonstruktivismus | 191 Prämissen | 192 Die Akteure sind Staaten | 192 Identitäten und Interessen resultieren aus dem Interaktionsprozess | 192 Interaktionen münden in Institutionen | 193
Inhalt
12.1.4 12.1.5 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 13 13.3.1
Die Struktur des Systems besteht aus intersubjektiv geteiltem Wissen | 193 Das internationale System unterliegt einem Transformationsprozess | 193 Analytik und Aussagenlogik | 194 Analytik | 194 Aussagenlogik | 194 Heuristik | 198 Institutionalisierung und die Logik der Angemessenheit | 199 Strukturwandel und Veränderungen der Interaktionsmuster | 202 Kontrollfragen | 206 Appendix | 207 Ranglisten | 207
Literatur | 211 Personen- und Sachregister | 219
XI
1 Einleitung „[…] Wo immer heute von Wissen die Rede ist, geht es um etwas anderes als Verstehen. Die Idee des Verstehens, einstens Grundlage geisteswissenschaftlicher Tätigkeit an sich, überwintert bestenfalls in der politisch korrekten Phrase vom Verstehen des Anderen als Ausdruck eingeforderter Toleranz. Ansonsten geht es entweder um die Entwicklung von Technologien, die die Naturund Menschenbeherrschung erleichtern, oder um die Produktion von Kennzahlen, die mit der Sache, die dabei angeblich verhandelt wird, immer weniger zu tun haben. Was sich hartnäckig noch immer Bildung nennt, orientiert sich gegenwärtig nicht mehr an den Möglichkeiten und Grenzen des Individuums, auch nicht an den invarianten Wissensbeständen einer kulturellen Tradition, schon gar nicht am Modell der Antike, sondern an externen Faktoren wie Markt, Beschäftigungsfähigkeit (employability), Standortqualität und technologischer Entwicklung, die nun jene Standards vorgeben, die der ‚Gebildete‘ erreichen soll. Unter dieser Perspektive erscheint die ‚Allgemeinbildung‘ genauso verzichtbar wie die ‚Persönlichkeitsbildung‘. […] Das Wissen der Wissensgesellschaft definiert sich vorab aus seiner Distanz zur traditionellen Sphäre der Bildung; es gehorcht aber auch nicht mehr den Attitüden der Halbbildung. Das, was sich im Wissen der Wissensgesellschaft realisiert, ist die selbstbewusst gewordene Bildungslosigkeit.“¹
Die Welt der internationalen Beziehungen ist komplex und vielschichtig. Sie ist vielleicht der umfassendste Gegenstandsbereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. Aufgrund der Beschaffenheit der diesen Gegenstandsbereich konstituierenden sozialen Phänomene, entzieht er sich der unmittelbaren Beobachtung. Relevante Akteure, ihre Motive, typische Handlungs- und Interaktionsmuster, die diesen innewohnenden Eigendynamiken sowie die Rolle sozialer Strukturen sind nicht einfach feststellbar, sondern werden immer erst über den Umweg ontologischer Annahmen² den Gegenstandsbereich ‚internationale Beziehungen‘ betreffend erkannt. Aus der Masse von Informationen über internationale Beziehungen wird immer nur der Teil herausgefiltert, von dem man annimmt, dass er sich auf ‚relevante‘ Phänomene des Gegenstandsbereichs bezieht. Und nur dieser Teil von Informationen wird mit Bedeutung versehen; sei es, dass die entsprechenden Informationen mit einem Alltagsverständnis gedeutet werden, oder sei es, dass diesen Informationen mithilfe von Behauptungen spezialisierter Wissenschaftler Relevanz und Sinn zugeschrieben wird. Je nachdem, wer man ist, d. h. welche Weltanschauung man besitzt, welche Rolle man gegenüber den internationalen Beziehungen spielt und mit welchem Anspruch man sich mit den internationalen Beziehungen beschäftigt, wird der Deutung von Geschehnissen eine mehr oder weniger etablierte (und von den Medien popularisierte) 1 Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung (Wien: Szolnay, 2006), 72–73. 2 Ontologische Annahmen beziehen sich auf diejenigen Akteure, Prozesse und/oder Strukturen, die es im gedachten Gegenstandsbereich – eben qua Annahme – ‚wirklich‘ gibt. Der ‚Staat als handelnder Akteur‘ ist eine solche ontologische Annahme mit Blick auf den Gegenstandsbereich ‚Internationale Beziehungen‘. Ontologische Annahmen beruhen in letzter Konsequenz auf Konvention und herrschender Meinung. Sie gelten, solange keine kritische Masse widerspricht.
2
Einleitung
Alltagstheorie, oder eine mehr oder weniger kontroverse wissenschaftliche Theorie zugrunde liegen³. Niemand kann die internationalen Beziehungen beobachten. Oder anders ausgedrückt: Alle selbst ernannten ‚Beobachter‘ der internationalen Beziehungen, ob nun Privatiers, Journalisten, Staatsmänner oder Wissenschaftler, greifen bei ihren ‚Beobachtungen‘ auf bestimmte Theorien zurück. Die einen bedienen sich populärer commonsense-Theorien (z. B. der ‚Staat‘ ist sowohl die Organisationsform moderner Gesellschaften als auch der relevante politische Akteur in den internationalen Beziehungen), deren Status als Theorie ihnen gar nicht mehr bewusst ist; andere bedienen sich wissenschaftlicher Theorien (z. B. ‚demokratische Staaten führen keine Kriege gegeneinander‘). Alle ‚Beobachter‘ der internationalen Beziehungen beschäftigen sich mit Phänomenen, die an die Form von Begriffen und Aussagesätzen gebunden sind. Begriffe und Aussagen beziehen sich nie auf ‚rohe Fakten‘ sondern immer auf theoriegeprägte Wahrnehmungen von sozialen bzw. ‚institutionellen Fakten‘. Eine ‚a-theoretische‘ und rein empirisch/statistische Wissenschaft von den internationalen Beziehungen ist deswegen unmöglich. Die Schaffung von Wissen über soziale Sachverhalte geht nicht ohne Theorien. Was ist nun aber mit (wissenschaftlichen) Theorien gemeint? Wissenschaftliche Theorien sind – etwas umständlich ausgedrückt – perzeptuelle Filter, kognitive Raster und konzeptuelle Schemata⁴. Als perzeptuelle Filter, d. h. als ‚Perspektiven‘ und ‚Brillen‘, erlauben Theorien zunächst, die Fülle von Informationen über den Lauf der Dinge auf relevante ‚Daten‘ hin auszuwerten. Im Sinne von kognitiven Rastern ermöglichen sie darüber hinaus, Informationen über relevante Erscheinungen sinnvoll zusammenzufügen und zu ordnen. Und in ihrer Eigenschaft als konzeptuelle Schemata erlauben sie, solche Informationen mithilfe bestimmter konzeptueller Kategorien – den Begriffen des ‚analytischen Vokabulars‘ – systematisch darzustellen. Wie die Welt der internationalen Beziehungen von Wissenschaftlern wahrgenommen, verstanden und dargestellt wird, ist also abhängig von wissenschaftlichen Theorien in ihrer Eigenschaft als perzeptuelle Filter, kognitive Raster und konzeptuelle Schemata. Damit aber noch nicht genug: Die mithilfe solcher Theorien unternommene Darstellung von Ereignissen verfolgt oft das Ziel, in einem ‚naturalistischen‘ bzw. szientistischen Sinn⁵ Ursache-Wirkung-Beziehungen zwischen objektiven Sachverhalten auszuweisen bzw. beobachtbare Verhaltensweisen und ihre Konsequenzen auf Gründe zurückzuführen und somit in einem ‚kausalen‘ Sinn 3 Alltagstheorien sind selbst oft stark verkürzte Versionen wissenschaftlicher Theorien. Der Begriff und die momentan einflussreiche Vorstellung von ‚Globalisierung‘ liefert dafür ein gutes Beispiel. 4 Vgl. Daniel Frei, Einführung: Wozu Theorien der internationalen Politik?, in: derselbe (Hg), Theorien der Internationalen Beziehungen (München: Piper, 1977), 11–21, 11–12. 5 Naturalistische Erklärungen betonen einen gegebenen ‚notwendigen‘ Grund für ein bestimmtes Ergebnis bzw. eine bestimmte Verhaltensweise bzw. eine bestimmte Handlung. In naturalistischen Erklärungen finden sich häufig Verweise auf Gesetzmäßigkeiten, die als erste Prinzipien bzw. Axiome angeblich immer schon da sind und überall in der gleichen Weise ihre Wirkungen entfachen, d. h. in einem kausalen Sinn ‚verursachen‘.
Einleitung
3
zu erklären⁶. Neben ihrer Hilfe bei der Selektion von relevanten Informationen und der Herstellung einer (gedanklichen) Ordnung liegt der Wert vieler wissenschaftlichen Theorien v. a. im sozialwissenschaftlichen mainstream auch und vor allem in dieser Aufgabe: zu erklären! Nahezu alle wissenschaftlichen Theorien verfolgen den Anspruch, Zusammenhänge zwischen vermeintlichen Fakten herzustellen; im mainstream der IB⁷ heißt das überwiegend: ‚kausale Zusammenhänge‘⁸. Wissenschaftliche Theorien liefern eine Erklärung für einen bestimmten Sachverhalt; und zwar für genau den Sachverhalt, der von der entsprechenden Theorie als erklärungswürdig eingestuft wird. Freilich: Nicht alle wissenschaftlichen Theorien halten den gleichen Sachverhalt für erklärungswürdig. Jede Theorie besitzt eine bestimmte Weltsicht – abhängig von den ontologischen Annahmen ist dies ein mehr oder weniger konkretes Bild vom Gegenstandsbereich. Je nach der ihnen zugrunde liegenden Weltsicht, abhängig vom ‚Bild‘ des Gegenstandsbereichs, konzentrieren sich Theorien auf unterschiedliche Sachverhalte. Wissenschaftliche Theorien sind unabdingbar für die Gewinnung wissenschaftlichen Wissens über ein bestimmtes Bild von den internationalen Beziehungen. Allerdings ‚sehen‘ Wissenschaftler die internationalen Beziehungen in ‚einer‘ bestimmten Art und Weise – und nicht in einer ‚anderen‘. Aufgrund des Bildes, das wissenschaftlichen Theorien zugrunde liegt, erscheinen ganz bestimmte Sachverhalte erklärungswürdig. Und aufgrund dieses Bildes erscheinen immer ganz bestimmte Gründe aufschlussreich für die Erklärung solcher Sachverhalte. Je nachdem, wie einflussreich eine wissenschaftliche Theorie und ihr Bild an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wird, sind es dann auch ganz bestimmte Sachverhalte, die als relevant erachtet, sind es ganz bestimmte Gründe, die für aufschlussreich gehalten werden. Und diese Suche nach Gründen für ganz bestimmte Sachverhalte ist nicht folgenlos. Ein Beispiel: Liberale ‚Gebildete‘ in Europa erachteten es während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als relevant, zu erklären, warum die Gesellschaften in Teilen 6 ‚Skeptische‘ Kritik am kausalistischen Denken im naturalistischen Sinn hat eine lange Tradition. Auch und gerade „[…] analytische Wissenschaftstheoretiker, darunter Bertrand Russell in einem berühmt gewordenen Aufsatz, [haben Anfang des 20. Jahrhunderts] dafür plädiert, in den Wissenschaften ganz auf den Kausalitätsbegriff zu verzichten.“ Julian Nida-Rümelin, Ursachen und Gründe, in: Information Philosophie, vol. 3 (2006), 32–36, 32. Solche Kritik ist im mainstream der IB ‚pragmatisch‘ ignoriert worden. Ein Versuch, die enormen intellektuellen Schwierigkeiten des Kausalitätsbegriffes mit Blick auf die Theoriebildung in den IB wenigstens anzusprechen, wurde kürzlich von Milja Kurki, Causation in International Relations: Reclaiming Causal Analysis (Cambridge: Cambridge University Press, 2008) unternommen. 7 Zum Begriff ‚mainstream der IB‘, vgl. Steve Smith, The United States and the Discipline of International Relations: Hegemonic Country, Hegemonic Discipline, in: M. K. Pasha & C. N. Murphy (Hg.), International Relations and the New Inequality (Oxford: Blackwell, 2002), 67−85, 70: „The current scene [in IR] can most usefully be divided into a mainstream comprising neorealism and neoliberalism – Waever’s neo-neo synthesis – and to an increasing extent much of the most cited work within social constructivism, and a set of approaches that lie outside the mainstream.“ 8 Vgl. Daniel Frei, a. a. O., 14.
4
Einleitung
Afrikas und Asiens nicht friedlich werden. Es erschien diesen Gebildeten logisch, die immer wieder von Neuem ausbrechende Gewalt in diesen Teilen der Erde auf einheimische Despoten zurückzuführen. Ihre ‚liberale‘ Theorie ließ es allerdings nicht nur angezeigt erscheinen, den entscheidenden Grund für das Ausbrechen von Gewalt in bestimmten Personen zu suchen. Ihre Theorie ließ sie auch schlussfolgern, dass es friedensfördernd für besagte Gebiete wäre, wenn Despoten eliminiert und die rückständigen Gebiete von den weiter fortgeschrittenen europäischen Gesellschaften, d. h. ihren verantwortlichen Eliten, ‚zivilisiert‘ werden würden. Das Beispiel verdeutlicht, wie wissenschaftliche Theorien und die ihnen inhärenten Bilder nicht nur Fakten mit Sinn produzieren, sondern auch eine Grundlage bzw. Rechtfertigung für praktisches Tun herstellen können. Im skizzierten Fall lag aufgrund einer (wissenschaftlichen) Theorie und dem dazugehörigen Bild von Regionen in Afrika und Asien „[…] das Argument nahe, man sei zu savage wars of peace (Rudyard Kipling) ‚gezwungen‘, um friedliebende Wilde von einheimischen Despoten und Räubern zu befreien.“⁹ Ungeachtet des sogenannten Leib/Seele-Problems und der Behauptung, dass es – logisch gesprochen – nicht möglich sei, eine normative und praktisch motivierte Schlussfolgerung aus faktischen bzw. kausalen (wissenschaftlichen) ‚Ist-Aussagen‘ abzuleiten, lässt sich beobachten, dass in einer Welt, in der sich Wissenschaftler darum bemühen, ‚praxisnah‘ zu arbeiten, und in der sich die Praxis wie selbstverständlich verfügbarer Theorien bedient, genau das ständig passiert – Logik hin oder her¹⁰. Theorien sind immer Theorien über bestimmte Bilder eines Gegenstandsbereichs. Und weil sich mithilfe von Theorien, ungeachtet der logischen Unvereinbarkeit zwischen Ist- und Soll-Aussagen, im Kontext konventioneller Moralvorstellungen auch bestimmte Handlungsempfehlungen begründen lassen, haben Theorien Konsequenzen, gerade auch für die politische Praxis. Das macht es umso wichtiger, zu fragen, wie Theorien, ihre Bilder und ihr Wahrheitsgehalt entstehen. Theorien und ihre Bilder sind schließlich nicht einfach da. „Es wäre zweifellos naiv, anzunehmen, Theorien entstünden gewissermaßen von selbst in der schöpferischen Fantasie frei schwebender Forscher, sondern sie sind ‚gesellschaftlich bedingt‘.“¹¹ Theorien und ihre Bilder sind abhängig von raumzeitlich und kulturell spezifischen Entstehungsbedingungen. Die axiomatischen Prämissen und das analytische Vokabular von Theorien gehen zurück auf Vorstellungen – im Falle politikwissenschaftlicher Theorien: auf Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, die sich an bestimmten Orten über Zeit tradiert haben und/oder die von einflussreichen Kreisen als herrschende Meinung 9 Jürgen Osterhammel, Kolonialismus: Geschichte – Formen – Folgen (München: Beck, 2003), 51. 10 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass ausgerechnet ‚liberale‘ Kommentatoren des beschriebenen Geschehens meinten, die Rolle von Zwängen betonen zu müssen. Das wirkt auf den ersten Blick etwas paradox, hat aber Tradition und System in der liberalen politischen Theorie des ‚Westens‘. Verkörpert durch das Irrationale herrschten in den beobachteten Gegenstandsbereichen immer irgendwelche Zwänge, die von außen kamen und nach vernünftigen/befreienden Maßnahmen hier drinnen riefen. 11 Vgl. Daniel Frei, Einführung, a. a. O., 15.
Einleitung
5
etabliert wurden. Tatsächlich spiegeln Theorien immer sowohl kulturell spezifische Sichtweisen als auch Interessen privilegierter Schichten, wobei letztere in der Regel selbst von fundamentaleren Weltanschauungen geprägt sind. Das wiederum heißt: Da jede Erkenntnis auf Theorie basiert und da jede Theorie aus spezifischen Weltanschauungen und Wertesystemen hervorgegangen ist, ist alles Wissen soziokulturell bedingt. Es gibt auch und gerade in der Wissenschaft kein wertneutrales objektives Wissen, das auf Theorien zurückzuführen ist, die an und für sich ‚wahr‘ sind. Wenn dennoch der Glaube vorherrscht, wertneutrale Theoriebildung sei möglich bzw. unter Abstrichen sogar tatsächlich der Fall, umso schädlicher für die wissenschaftliche Integrität der Mitglieder einer solchen Glaubensgemeinschaft¹². Theoretisch fundiertes Wissen, über welchen Gegenstandsbereich auch immer, ist ‚wahr‘, wenn und insofern die zugrunde liegende Theorie und ihr Bild für ‚wahr‘ gehalten werden. Da es keine Theorie gibt, die gleichermaßen von allen Wissenschaftlern als ‚wahr‘ akzeptiert wird, ist es immer ‚relativ‘, welche Theorie von den meisten bzw. einflussreichsten Kreisen für ‚wahr‘ gehalten wird und warum. Kurz: Die Frage nach dem Wissen über Sachverhalte der internationalen Beziehungen berührt immer auch die Frage, woher die zugrunde liegende Theorie und ihr Bild kommen und warum ausgerechnet diese Theorie mitsamt ihrem Bild so hohes Ansehen genießt. Nähert man sich mit dieser Frage den Theorien der internationalen Beziehungen, wird wichtig, dass es die Regierungen der USA und Großbritanniens waren, die nach dem Ersten Weltkrieg die Einrichtung von Lehr- und Forschungsinstituten förderten, in denen Spezialisten fundiertes Wissen über internationale Beziehungen erarbeiten sollten¹³. Einsicht in die Tatsache, dass Theorien und theoriegeleitete wissenschaftliche Forschung immer gesellschaftlich und kulturell bedingt sind, lässt nachvollziehbar werden, dass sich diese Spezialisten, egal ob wissentlich oder nicht, dem Gegenstandsbereich ‚internationale Beziehungen‘ mit spezifischen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft genähert haben; ihre Theorien sind aus typisch ‚amerikanischen‘ oder ‚britischen‘ Sichtweisen von Politik und Gesellschaft heraus entwickelt worden
12 Vgl. in dem Zusammenhang eine Feststellung von Robert Vitalis, Birth of a Discipline, in: D. Long & B. Schmidt (Hg.), Imperialism and Internationalism in the Discipline of International Relations (Albany: State University of New York Press, 2005), 159–181, auf 179: „We [IR-theorists] sustain the fiction of occupying a position outside culture from which we observe the social world. […] This blind spot in our definition of the field will be hard to overcome.“ 13 Zum ‚Gründungsmythos‘ der Disziplin IB, vgl. u. a. Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen (Frankfurt: Suhrkamp, 2001), 31–43. Tatsächlich spricht viel dafür, dass nicht nur, aber eben auch und vor allem in den USA und Großbritannien bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Disziplin in der Beschäftigung mit den auswärtigen und internationalen Beziehungen entstand, als sich Praktiker und Wissenschaftler für das zunehmende ‚Problem‘ rassisch bedingter Kriege zwischen ‚superioren‘ und ‚inferioren‘ Völkern zu interessieren begannen. Der praktische Zweck lag sicher auch darin, die imperialen Praktiken der entsprechenden Regierungen zu informieren und zu ‚normalisieren‘. Vgl. dazu Robert Vitalis, Birth of a Discipline, a. a. O., besonders 163–169.
6
Einleitung
und/oder reflektieren die Sichtweisen der momentan einflussreichen Kreise in diesen Ländern. Im Resultat heißt das, die ‚Disziplin‘ Internationale Beziehungen (IB) ist, ganz ähnlich wie Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaft, seit ihrer Geburt immer stärker von konservativen angloamerikanischen Vorstellungen und Werten geprägt gewesen – und das bis heute, weil die spezialisierte Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen innerhalb der angloamerikanischen Disziplin mittlerweile selbst eine Theorietradition herausgebildet hat, die zur Messlatte für Theoriebildung in den IB überhaupt geworden ist. Gestützt wird diese Theorietradition neben ihrer institutionellen und personellen Verankerung in den amerikanischen Eliteuniversitäten und regierungsnahen Instituten v. a. durch ein entsprechendes Publikationswesen. Die vermeintlich ‚besten‘ Zeitschriften der Disziplin IB kommen ganz überwiegend aus den USA¹⁴. Das besagt zumindest ein sogenannter impact score, der angeblich auf einer Messung beruht, wie oft eine Zeitschrift in der Disziplin zitiert wird. Wie und wo (und vom wem) die relative Häufigkeit solcher Zitationen genau erhoben wird, ob die Qualität der einzelnen Beiträge einer Zeitschrift auch dem durchschnittlichen impact dieser Zeitschrift entspricht, und inwiefern allein der Bekanntheitsgrad bzw. Ruf einer Zeitschrift dazu führt, dass viele Wissenschaftler nolens volens dem Erfordernis Rechnung tragen, durch entsprechende ‚Pflichtzitate‘ grundlegender Artikel in den ‚besten‘ Zeitschriften ihre eigene Seriosität (und Unterwürfigkeit) gegenüber dem disziplinären mainstream zum Ausdruck zu bringen, bleibt notwendigerweise offen¹⁵. Für aufstrebende Wissenschaftler der IB sind es v. a. diese Zeitschriften, in denen es sich lohnt, zu veröffentlichen. Eine Publikation in diesen Zeitschriften erhöht die Chance auf Wahrnehmung durch einflussreiche Vertreter der Disziplin – und auf Einladungen zu Bewerbungsgesprächen um heftig umkämpfte Stellen bzw. Fördertöpfe. Zwangsläufig führt auf dem Weg zur Veröffentlichung in diesen ‚besten‘ Zeitschriften der Disziplin kein noch so kleiner Umweg an dem Erfordernis vorbei, die Anforderungen besagter Zeitschriften an den Inhalt und den Stil der Darstellung zu erfüllen – dafür sorgen spätestens die anonymen Gutachter. Etwas zugespitzt: Aufgrund der überwiegend von amerikanischen Akademikern über Jahrzehnte hinweg etablierten und reproduzierten Diskursmechanismen, die ganz entscheidend dafür sind, welche Wissenschaftler zu welchen Themen in welchen Zeitschriften welche Beiträge veröffentlichen können, haben amerikanische Theorien der IB nicht nur die inhaltlichen und formalen Maßstäbe für die Diskussion gesetzt; die Zeitschriften, in denen amerikanische IB-Theorien diskutiert werden, gelten als die angeblich ‚besten‘ und
14 Vgl. Simon Hix, A Global Ranking of Political Science Departments, Political Studies Review, vol. 2 (2004), 293–313. In dem Zusammenhang verweise ich auch auf den Appendix. 15 Vgl. Margit Osterloh & Bruno S. Frey, Das Peer Review-System auf dem ökonomischen Prüfstand, in: J. Kaube (Hg.), Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik (Berlin: Wagenbach, 2009), 65–73, 69, die darauf hinweisen, dass die Verwendung von impact-Faktoren nicht nur verzerrend und naiv ist, „[d]ie Orientierung an Impact-Faktoren bewirkt überdies, dass kleinere, spezialisierte und nicht-englische Zeitschriften an Attraktivität verlieren.“
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bei Weitem einflussreichsten, weil die dort veröffentlichten Beiträge diese Maßstäbe auch selbst am besten erfüllen. Ob und inwiefern der ungleich hohe impact amerikanischer Fachzeitschriften evtl. auch mit dem durch die englische Fachsprache forcierten Isolationismus amerikanischer Akademiker und einem durch den riesigen amerikanischen Markt bedingten Provinzialismus ihrer Sichtweisen zusammenhängt¹⁶, wird selten laut gedacht. Es überwiegt die reflexartige Glorifizierung einer kleinen Zahl von amerikanischen Fachzeitschriften durch Wissenschaftler in aller Welt, die entweder aus Überzeugung oder pragmatischen Gründen den angeblich hohen Qualitätsunterschied amerikanischer Theorien und Zeitschriften – und natürlich auch Universitäten – beschwören. Mehrere Generationen von Nachwuchswissenschaftlern haben dieses System der Erfolgszuschreibungen für sich instrumentalisiert. Längst triumphiert der symbolische Wert von Zeitschriftentiteln über den sachlichen Wert ihrer Beiträge. Genauso wie bei den amerikanischen Eliteuniversitäten wird dieser Prozess der Statusreproduktion bei Fachzeitschriften auf dem Weg einer self-fulfilling prophecy vorangetrieben¹⁷. Der dadurch bewirkte lock in-Effekt macht es selbst bodenständigen Kritikern des amerikanischen mainstreams unmöglich, sich seinem Diktat zu entziehen. Wissenschaftler der internationalen Beziehungen sind gut beraten, ontologische Prämissen ernst zu nehmen, die den meisten Veröffentlichungen in den ‚besten‘ Zeitschriften zugrunde liegen; gemeint ist damit das schon erwähnte Bild vom Gegenstandsbereich, die grundlegende Weltsicht. Überdies empfiehlt es sich, die eigene Darstellung mit ästhetischen Kriterien zu vereinbaren, die aus dem Sprachstil von Naturwissenschaftlern, besonders Physikern, aus dem 18. und 19. Jahrhundert herrühren. Zuerst ein paar Worte über die ontologischen Vorstellungen, dann eine kurze Bemerkung zur bevorzugten Ästhetik der Fachsprache – und ihrer Konsequenzen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Objektbereich der internationalen Beziehungen basiert überwiegend auf ontologischen Vorstellungen von Gesellschaft und Politik, die sich in den USA und Großbritannien über Zeit tradiert haben und/ oder die von einflussreichen Kreisen in diesen Ländern favorisiert worden sind. Eine der fundamentalsten Vorstellungen, die auch und gerade durch Kritik immer wieder aktualisiert wurde, ist die der ‚Anarchie‘, womit ganz überwiegend die Abwesenheit einer zentralen und disziplinierenden Sanktionsinstanz, manchmal auch die Abwesenheit einer regelsetzenden Legislativinstanz gemeint ist. Impliziert wird v. a. mit der ‚härteren‘ (hobbesianischen) Vorstellung von Anarchie, dass eine Situation zwischen Menschen oder korporativen Personen ohne effektive Zwangsherrschaft einem Kampf ‚aller gegen alle‘ gleicht. Damit verbunden ist eine weitere Vorstellung, nämlich die, dass sich Menschen bzw. Korporationen aufgrund ihrer egoistischen Trieb16 Vgl. Richard Münch, Die akademische Elite (Frankfurt: Suhrkamp, 2007), 162. 17 Diese begriffliche Verknüpfung, wenngleich aus einem etwas anderen inhaltlichen Zusammenhang, habe ich mir von Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co. (Frankfurt: Suhrkamp, 2009), 161, geliehen.
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natur und instrumentellen Vernunft feindlich gegenüberstehen und nicht vertragen können, geschweige denn von sich aus die Fähigkeit entwickeln, über Dialog und Konsens einvernehmliche Lösungen in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu erreichen. Ganz offensichtlich ist die Vorstellung von Anarchie mit einer ganzen Reihe weiterer Annahmen verknüpft, die die Natur des Menschen bzw. des relevanten Akteurs, seine typischen Verhaltensweisen, die daraus resultierenden Interaktionsformen mit anderen Akteuren sowie die dadurch hervorgerufenen Konsequenzen für alle Akteure betreffen. Der naheliegende Hinweis darauf, dass diese in der Disziplin IB einflussreiche Vorstellung von Anarchie, die eigentlich biblischen Ursprungs ist, deren Formulierung aber in der Regel Thomas Hobbes zugeschrieben wird, allzu idealisiert und historisch unhaltbar sei, ist nach Maßgabe des gesunden Menschenverstands sicher zutreffend. Ein solcher Hinweis ist jedoch aus Sicht des IB-mainstreams irrelevant. Die herrschende Meinung der Politikwissenschaft, insbesondere der Kanon im mainstream der IB, beruht ebenso wenig wie die herrschende Meinung in der Ökonomie oder des Rechts auf Vorstellungen, die historisch gesehen, oder die nach Maßstäben des gesunden Menschenverstands beurteilt, plausibel erscheinen. Die systematisierten herrschenden Meinungen in den Wissenschaften der Politik, der Ökonomie und des Rechts waren und sind immer auch Herrschaftstechniken gewesen. Als solche beruhen sie bis heute auf Annahmen, die zwar rein fiktiv sind, die aber den praktischen Zweck erfüllen, eine bestimmte Theorie über realweltliche Zusammenhänge als logisch begründet erscheinen zu lassen – und sei es auch ‚nur‘ unter denen, die Vorteile von der Verbreitung solcher Theorien haben. Bekanntlich ist auch und gerade die Vorstellung der Anarchie seit ihrer ersten systematischen Darlegung Teil eines Begründungsprogramms gewesen, das es entsprechenden Machthabern an der Spitze tatsächlich bestehender Hierarchien erleichtern sollte, ihre Herrschaft zu rechtfertigen. Salopp ausgedrückt könnte man sagen, Machthaber und Privilegierte (einschließlich der Apologeten ihrer Herrschaft) waren sich immer darüber im Klaren, dass ihre Theorien und die dazugehörigen Weltbilder auf idealisierten Verkürzungen der Wirklichkeit beruhten, eng orientiert am Zweck, die momentane Verteilung und Ausübung von Macht als ‚normal‘ und legitim erscheinen zu lassen. Die diesem Verständnis von Theorie als nützliches Mittel der Herrschaftslegitimation zugrunde liegende Haltung mündet bei ihren Vertretern in der Regel in die pragmatische Strategie, so zu tun, als ob rein fiktive Vorstellungen vom Menschen und von Gesellschaft wahr seien. Offensichtliche Übervorteilungen, Diskriminierungen und Ausbeutungen lassen sich ja auch nur auf dieser Basis, der jeder Kritik enthobenen apodiktischen Setzung idealisierter Menschen- und Gesellschaftsbilder, als logisch ‚begründet‘ und legitim ausweisen¹⁸. 18 Natürlich könnte man gegen diese ausführliche ‚Dekonstruktion‘ des Anarchiebegriffs einwenden, sie sei ebenso wie die damit verbundene Kritik des IB-mainstreams von der Theorieentwicklung längst überholt worden – und daher selbstgerecht. Aber das ist nicht der Fall. Theorien und Theoreme, die auf dem Begriff der Anarchie basieren, sind nach wie vor enorm einflussreich in den ‚besten‘
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Dass ausgerechnet die Vorstellung der Anarchie zu einer der prägendsten ontologischen Annahme der Disziplin IB geworden ist¹⁹, wird insofern wichtig, als sich die theoretische Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen in den USA, weniger in Großbritannien, kritiklos auf eine ganze Reihe damit vereinbarer ontologischer Annahmen hinsichtlich des Milieus, der Akteure, ihrer Verhaltensweisen, ihrer Interaktionsformen sowie der sich daraus notwendig ergebenden Konsequenzen eingelassen hat. In diesem Zusammenhang offenbart sich der bereits angesprochene Charakter von Theorie als Herrschaftstechnik. Denn die Fiktion eines grundsätzlich anarchischen Milieus, in dem sich die großen Mächte feindlich gegenüberstehen, und das deshalb notwendigerweise ein auf Machtpolitik gebautes Gleichgewicht zur Befriedung (verstanden im Sinne der Erhaltung des Status quo) braucht, war und ist ja gerade für die Elitenzirkel der entwickelten Industriestaaten hilfreich, um ihre privilegierte Position und den damit verbundenen Einfluss zu bagatellisieren und um ihre historisch bedingten Vorteile gegenüber der großen Mehrheit der Menschheit zu legitimieren und auf Dauer zu stellen. Insofern die Vorherrschaft amerikanischer Theorien auch viele Wissenschaftler außerhalb der USA zu dem Glauben veranlasst hat, die amerikanischen IB wären der geeignete Maßstab für Theoriebildung und wissenschaftliche Forschung im Bereich der internationalen Beziehungen überhaupt, hat die amerikanische Vorstellung von Anarchie den wissenschaftlichen Diskurs über internationale Beziehungen auch andernorts geprägt. Berücksichtigt man diese Entwicklung, wird nachvollziehbar, dass und warum ausgerechnet die einflussreichsten Theorien der IB seit Einrichtung der gleichnamigen Disziplin diejenigen gewesen sind, die auf Annahmen wie z. B. derjenigen der Anarchie oder derjenigen des Staates als eines einheitlichen, rationalen und essenziell argwöhnisch disponierten Akteurs beruhen. Außerdem wird ersichtlich, dass und warum es für viele Wissenschaftler der internationalen Beziehungen – v. a. zu Beginn ihrer Bemühungen – mitunter so schwer ist, sich diese Theorien der Disziplin zu erschließen, die am konsequentesten mit so stark idealisierten Vorstellungen arbeiten: Die Fragwürdigkeit solcher Vorstellungen, wie z. B. derjenigen der Anarchie, die bewusste oder unbewusste Aversion vieler Studierender gegen die zynisch anmutende Vorstellung, dass Akteure der internationalen Beziehungen Staaten und diese per se Feinde oder Egoisten sind²⁰, und
Zeitschriften der Disziplin. Und selbst wenn man hier den Begriff der Anarchie mit dem momentan angesagten ‚Governance‘-Begriff vertauschen würde, wäre die gerade ausgebreitete Kritik immer noch zutreffend. Vgl. dazu Richard Münch, Globale Eliten, a. a. O. 27: „Je mehr sich die Politikwissenschaft darum bemüht, Wege der Legitimation von Politik im transnationalen Feld aufzuzeigen, umso mehr wird sie zu einer Mitspielerin in dieser Arena. In dieser Position muss sie zwangsläufig die Rolle der Aufklärung über die Vorgänge hinter den Kulissen zugunsten der Mitwirkung an der Konstruktion einer wirksamen, Legitimität erzeugenden Illusio [sic!] aufgeben.“ 19 Vgl. Brian Schmidt, The Political Discourse of Anarchy: A Disciplinary History of International Relations (Albany, NY: State University of New York Press, 1998), 231. 20 Vgl. dazu Louiza Odysseos, Dangerous Ontologies: The Ethos of Survival and Ethical Theorizing in International Relations, Review of International Studies, vol.28 (2002), 403–418.
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das kaum nachvollziehbare wissenschaftstheoretische Postulat, dass im realweltlichen Zusammenhang internationaler Beziehungen universale und unveränderliche Gesetzmäßigkeiten wirken, lässt viele zögern, so zu tun, als ob willkürliche ontologische Annahmen von Glaubensgemeinschaften eine sinnvolle Basis für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wirklichkeit wären bzw. sein sollten²¹. Noch eine Bemerkung zur Funktion der Theorien als Herrschaftsinstrument. Die fundamentale Bedeutung bestimmter ontologischer Vorstellungen lässt bereits erkennen, dass die dominierenden Theorien der IB zu keinem Zeitpunkt Selbstzweck gewesen sind. Im Gegenteil haben die Theorien der IB immer auch den politischen Zweck gehabt, die Welt der internationalen Beziehungen in einer Weise verständlich werden zu lassen, die für politische und ökonomische Eliten in den USA und Großbritannien nützlich ist: Die Gewinnung von theoriegeleiteten Erkenntnissen ist seit Einrichtung der Disziplin dem Auftrag verpflichtet gewesen, das Entscheidungshandeln der dominierenden Akteure in Washington und London zu erleichtern und sogar zu legitimieren²². Die Regierungen der USA und des vormaligen britischen Imperiums hatten bzw. haben einen ganz praktisch gemeinten Bedarf an Erkenntnissen einer spezialisierten Wissenschaft. Die von den Regierungen in Europa und Amerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensivierten Praktiken des Imperialismus setzten ebenso wie die Gewinnung bzw. Sicherung ihrer Einflusssphären durch politische Maßnahmen während und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein theoretisch untermauertes ‚Wissen‘ um relevante politische Akteure, deren Interessen, mögliche Konflikte und daraus entstehende Probleme für die Sicherung der Vorherrschaft überall auf der Welt voraus. Ein Großteil der wissenschaftlichen Forschung (und Lehre) über internationale Beziehungen hat deswegen implizit – im Fall der sogenannten ‚empirischanalytischen‘ Forschung – oder ganz explizit einen normativen Anspruch verfolgt und ist in zahlreichen regierungsnahen Instituten und Universitäten der USA und Großbritanniens betrieben worden. Von den vielen Beispielen, die sich zur Untermauerung dieser Behauptung anführen lassen, sei exemplarisch die Ausrichtung der
21 David Ricci, The Tragedy of Political Science. Politics, Scholarship, and Democracy (New Haven: Yale University Press, 1987), 308, gab in dem Zusammenhang einen interessanten Rat: „Coming to a political science department in search of enlightenment, they [students] cannot afford to jeopardize their career plans, whatever those may be, by failing to strive for good grades according to whatever standards the department may enforce. […] Lacking much of the wherewithal of informed resistance, all that most students can do is to conform outwardly to the discipline’s demands, while maintaining an inner skepticism based on recognizing that professional political knowledge should always be measured, if only later in life, against the widest possible background of human needs and convictions. Such skepticism will deepen and mature if students use their spare time to read history, a useful corrective to the notion that political life is a matter of predictable behaviour that can be explained by laws based in average qualities and quantities.“ 22 Vgl. David Kennedy, The Disciplines of International Law and Policy, Leiden Journal of International Law, vol. 12 (1999), 9–133, insbesondere 101–106.
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politikwissenschaftlichen Lehre und Forschung an der bekanntesten und angeblich ‚besten‘ Universität der USA skizziert. Nicht nur zählt Harvard im Bereich der Politikwissenschaft/IB zu einer der ‚besten‘ Universitäten des Landes, gemessen an der Prominenz der dort ansässigen Forscher sowie dem impact ihrer Arbeiten auf den wissenschaftlichen/öffentlichen Diskurs. Einflussreiche Harvard-Politologen haben nicht immer eine kritische Distanz zum politischen Geschehen eingenommen. Viele Professoren standen als ‚Politikberater‘ im Dienst der US-amerikanischen Regierung und zeichneten sich durch eine regierungsnahe und konservative Haltung aus²³. Kritiker behaupten sogar, dass gerade namhafte Wissenschaftler aus Harvard seit dem Zweiten Weltkrieg direkt in den militärisch-industriellen Komplex der USA eingebunden waren, und dass die Universität oft genug als ein Dienstleistungsbetrieb im Auftrag des National Security State operierte²⁴. Die Verflechtung zwischen der Universität als wissenschaftlicher Einrichtung und dem politischen Establishment der USA ist nicht zufällig gewesen. Bekannte Harvard-Politologen wie z. B. Richard Neustadt, Samuel Huntington und Nadav Safran arbeiteten während der 1970er- und 1980er-Jahre heimlich für die CIA und fertigten Studien zur ‚Aufklärung‘ an. Graham Allison fungierte nicht nur als Berater von Caspar Weinberger während dessen Tätigkeit als Verteidigungsminister der Reagan-Regierung. Unter Leitung von Allison (1977–1988) avancierte das Department für Politikwissenschaft, die Kennedy School of Government (KSG), zum Ausbildungsbetrieb für das Verteidigungsministerium, insofern Bewerbungen um einen Platz im Ausbildungsprogramm der KSG für ‚Hohe Offiziere in Nationaler Sicherheit‘ gleich direkt von einer Abteilung des Pentagon verwaltet wurden. Und selbst vermeintlich ‚liberale‘ Harvard-Politologen unterschieden sich in ihrer außenpolitischen Position oft nicht von der konservativen Mehrheit²⁵. Die loyale Haltung namhafter HarvardProfessoren lässt nachvollziehbar werden, warum Absolventen der Kennedy School zufrieden feststell(t)en, wie sehr ihnen neben den Kontakten in die politische Praxis auch Forschung und Lehre an der Kennedy School dabei halfen, die ‚richtige‘ – theoretisch untermauerte – regierungsnahe Sichtweise und das entsprechende mindset zu entwickeln, um als Mitarbeiter des State Department, der CIA oder des Pentagon Karriere zu machen. In Anbetracht dessen, dass der berufliche Einstieg von Studen-
23 Vgl. Richard Cravatts, Kennedy School: Conservative Hotbed, New York Times, 15. Juli 1988, A31. 24 John Trumpbour, Harvard, the Cold War, and the National Security State, in: J. Trumpbour (Hg.), How Harvard Rules: Reason in the Service of Empire (Boston: South End Press, 1989), 51–128. 25 Der ehemalige Dekan der KSG und frühere Staatssekretär im State Department während der Carter-Regierung, Joseph Nye Jr. erwies sich während der Irak-Krise 1990 als Gegner einer diplomatischen Lösung und als entschiedener Befürworter einer ‚pragmatischen‘ militärischen Intervention gegen den Irak. In der zweiten Hälfte des Jahres 2002 attestierte eben dieser Joseph Nye Jr. der BushRegierung, mit ihrer entschlossenen Drohpolitik gegenüber einer angeblich über Massenvernichtungswaffen verfügenden Regierung im Irak eine kluge Strategie gewählt zu haben, ungeachtet der nicht unerheblichen Tatsache, dass zu keiner Zeit Anhaltspunkte für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak vorlagen.
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ten ein wichtiges Qualitätsmerkmal für politikwissenschaftliche ‚Ausbildung‘ in den USA darstellt, dass sich die ‚besten‘ Universitäten in den USA und Großbritannien mit einer hohen Eingliederungsquote ‚ihrer‘ Absolventen in den Arbeitsmarkt wichtige Bonuspunkte für das alljährliche Ranking erwerben, dass sich dieselben Universitäten mit dem Hinweis auf exzellente Berufschancen für ihre Absolventen um die ‚besten‘ (und finanzstärksten) Studenten bemühen können, und dass staatliche bzw. regierungsnahe Institutionen in den USA oft die erste Anlaufstelle für Absolventen elitärer politikwissenschaftlicher Studiengänge sind, ist davon auszugehen, dass nicht nur die KSG darum bemüht ist, ihren Studenten eine politikwissenschaftliche ‚Ausbildung‘ zu offerieren, die ein entsprechendes mindset herausbildet, mit dem sich die Chancen auf einen Berufseinstieg erhöhen²⁶ – von Statusreproduktion durch self-fulfilling prophecy war schon die Rede. Neben geschichtlichen und politischen gibt es auch ästhetische Gründe für die Dominanz der amerikanischen IB-Theorien. Die Ästhetik dieser Theorien speist sich primär aus einem etwas antiquiert anmutenden physikalistischen Sprachstil, inklusive verschiedener ‚methodologischer‘ Sprachfiguren. Diese in der Disziplin spätestens seit den frühen 1960er-Jahren eingeübte Sprache weist das Bild vom Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen als mechanisches System mit verschiedenen aufeinandergeschichteten Ebenen aus²⁷. Die jeweiligen Ebenen beschreiben eher stärker als schwächer abgegrenzte politische Räume, nämlich einerseits den Raum innerstaatlicher und andererseits den Raum zwischenstaatlicher Politik. Diese Räume sind jeweils unterteilt in Akteure, Interessen, Verhaltensweisen, Interaktionsmuster und Ergebnisse. Diesen Akteuren, Interessen, Verhaltensweisen, Interaktionsmustern und Ergebnissen wiederum ist die Eigenschaft als Objektformen zugeschrieben – und zwar insofern, als sich z. B. ‚Staaten‘, ‚Interessen‘, ‚Institutionen‘, oder ‚Zustände‘ (Frieden, Krieg) als analytische Einheiten darstellen lassen, die sich durch eine gewisse Abgrenzbarkeit von anderen analytischen Einheiten sowie durch Festigkeit und eine eigene Wesenheit auszeichnen. Besonders wichtig für die Theoriebildung ist, dass die relevantesten Objektformen entweder einen Status als ‚unabhängige‘ oder als ‚abhängige Variable‘ einnehmen. Gesetzesaussagen, wie z. B. ‚Staaten (oder auch nicht-staatliche Akteure), bedienen sich oft einer internationalen
26 Die politikwissenschaftliche ‚Ausbildung‘ an der Columbia Universität wäre ein gleichermaßen geeignetes Beispiel gewesen. Vgl. North American Congress on Latin America, Who Rules Columbia? – Original 1968 Strike Edition (New York: NACLA, 1970), 13–17. [http://www.utwatch.org/archives/ whorulescolumbia.pdf] 27 Kenneth N. Waltz, Man, the State, and War: A Theoretical Analysis (New York: Columbia Univ. Press, 1959), unterschied ursprünglich zwischen drei Ebenen (Mensch – Staat – System); David J. Singer, Das Problem der Analyseebene in den internationalen Beziehungen, in: H. Haftendorn u. a. (Hg.), Theorien der internationalen Politik. Gegenstand und Methoden der internationalen Beziehungen (Hamburg: Hoffmann & Campe, 1975), 193–207, auf der anderen Seite unterschied zwischen zwei Ebenen (Staat – System); mit Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus, a. a. O., 93, könnte man sogar vier Ebenen unterscheiden (Mensch – Gruppe/Institution – Staat – System).
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Institution, weil sie Interessen an der Maximierung ihres Nutzens verfolgen‘, versehen Interessen (und Institutionen) mit dem Status als (relativ) unabhängige, und die wie auch immer geartete Nutzenmaximierung mit dem Status als abhängige Variablen, um diese Objektformen in eine einfache lineare kausale Beziehung stellen zu können. Solche Aussagen bilden den Kern einer Theorie, die dazu beiträgt, den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen als einen mechanischen Ablauf von Ursache-Wirkung-Beziehungen erscheinen zu lassen. Methodologisch gemeinte Stilmittel, wie z. B. die Ausdrücke der ‚Induktion‘ und der ‚Deduktion‘, haben die Funktion, die so postulierten Ursache-Wirkung-Beziehungen als Mechanismen auszuweisen, die ‚wirklich‘ existieren und die vom Analysten durch strategisch geplante und systematisch durchgeführte Entdeckungsverfahren (Fallstudie/n; analytische Modelle) – quasi unter Laborbedingungen – ‚gefunden‘ wurden. Zwar haben Aussagen über gesetzmäßige Mechanismen im internationalen System seit dem Ende des Ost-West-Konflikts etwas an Attraktivität eingebüßt. Die populärsten Theorien der IB lassen die Struktur dieses mechanischen Systems freilich weiterhin als fest, klar und bestimmt erscheinen, ebenso sind die Stilmittel der Induktion und der Deduktion nach wie vor verbreitet. In der Ästhetik der disziplinären Fachsprache lassen sich die internationalen Beziehungen mithilfe klar unterscheidbarer analytischer Begriffe systematisieren und in transparente Modelle, in stabile Formen, in formale Theoriegebäude bringen. Die Ästhetik der Fachsprache wird beherrscht durch kategorische Definitionen idealisierter Objektformen und logische Ableitbarkeit absoluter Wahrheitsansprüche über kausale Zusammenhänge zwischen diesen Objektformen. Der mit der Verwendung einer solchen Kunstsprache verfolgte Anspruch besteht darin, relevante realweltliche Zusammenhänge isolieren, messen und kontrollieren zu können. Ob die Unterstellung von Rationalitäten, Gesetzen, Mechanismen und linearen Abhängigkeiten zwischen festen abgrenzbaren Objektformen in geschlossenen Räumen tatsächlich dabei helfen kann und soll, fundiertes Wissen über die kontingente und allzu oft unberechenbare Welt der internationalen Beziehungen mitsamt ihren Zufälligkeiten zu gewinnen, oder ob die Vertreter des IB-mainstreams nicht vielmehr als Institution operieren, die mit der Pflege der gerade beschriebenen Ästhetik ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen, scheint in dem Zusammenhang eine bis dato ungeklärte aber umso interessantere Frage. Für das Verständnis der Disziplin IB ist auf jeden Fall wichtig, dass sich sowohl diese ‚szientistische‘ Ästhetik der Fachsprache als auch das praktisch orientierte Selbstverständnis amerikanischer IB-Forscher in der Theoriebildung, im Publikationswesen und in der weiteren Institutionalisierung der Disziplin niedergeschlagen haben. Die meisten Bücher und Zeitschriften über internationale Beziehungen sind Produkte von Verlagen, die in den USA und Großbritannien angesiedelt sind. Die beurteilenden Redakteure und Herausgeber sind ganz überwiegend etablierte Fachver-
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treter des mainstreams. In den sogenannten ‚großen Debatten‘ der Disziplin²⁸ haben im Wesentlichen amerikanische und britische Forscher über die ‚Wahrheit‘ ihrer formalen Theorien gestritten. Dabei hat der Einfluss amerikanischer Wissenschaftler seit den 1950er-Jahren so zugenommen, dass seit den 1970er-Jahren ohne Einschränkung von einer Hegemonie US-amerikanischer Theorien gesprochen werden kann²⁹. Die wissenschaftliche Lehre in der Disziplin IB hat immer mehr den Charakter einer ‚Ausbildung‘ in theoriegeleiteter Forschung zum Zweck praxisrelevanter Analysen angenommen. Dieser letzte Aspekt ist deswegen wichtig, weil er ein interessantes Licht auf das vorherrschende Wissenschaftsverständnis in den IB wirft: Viele Akademiker versuchen, ob nun wissentlich oder nicht, Gründe für solche Phänomene zu finden, die aus Sicht der politischen Praxis interessant sind. Und selbst wenn das nicht überall der Fall ist, dann lässt sich zumindest behaupten, dass wissenschaftlich relevante Phänomene aus einem Weltverständnis abgeleitet werden, das mit dem politischer Entscheidungsträger korrespondiert bzw. kompatibel ist. Die ‚besten‘ Theorien zeichnen sich schließlich dadurch aus, dass sie Erklärungen für Phänomene liefern und damit Hilfestellung für die Lösung von Problemen leisten, die als solche durch die Brille von Entscheidungsträgern als Probleme erscheinen. Wissenschaftlich erarbeitete Lösungen bestehen darin, dass diese im Kontext eines stark idealisierten Gegenstandsbereichs auftauchenden Probleme auf simple und oft sogar banale Ursache-Wirkung-Beziehungen reduziert werden. Die von den Theorien der Disziplin ermöglichte Problemlösung besteht in der Herausstellung eines masterkeys³⁰ bzw. der Kontrolle von master variables³¹. Die auch aufgrund dieses besonderen problem-orientierten Wissenschaftsverständnisses zustande gekommene Hegemonie amerikani-
28 Als die drei großen sinnstiftenden Debatten der Disziplin IB sind 1) die ‚Idealismus-RealismusDebatte‘, 2) die ‚Traditionalismus-Szientismus-Debatte‘ und 3) die ‚Neorealismus-NeoliberalismusDebatte‘ in die Geschichte der Disziplin eingegangen. Die vierte Debatte zwischen Rationalismus (Neorealismus + Neoliberalismus) und (moderatem) Konstruktivismus ist noch im Gange, vielleicht aber auch schon zu Ende. Mit kritischen Strukturalisten und den sogenannten ‚Postmodernen‘ hat eher selten jemand aus dem mainstream gesprochen – auf jeden Fall gab es zwischen dem mainstream und seinen anspruchsvollsten Kritikern keine eigene ‚große Debatte‘. 29 Vgl. Kalevi J. Holsti, The Dividing Discipline: Hegemony and Diversity in International Theory (London: Allen & Unwin, 1985), 128. 30 Vgl. dazu Stanley Hoffmann, An American Social Science: International Relations, in: St. Hoffmann (Hg.), Janus and Minerva: Essays in the Theory and Practice of International Politics (Boulder: Westview, 1987), 3–24, auf 8: „There is, first, the profound conviction […] that all problems can be solved, that the way to resolve them is to apply the scientific method – assumed to be value free, and to combine empirical investigation, hypothesis formation, and testing – and that the resort to science will yield practical applications that will bring progress.“ Dahinter steht laut Hoffmann die Überzeugung, „[…] that there is, in each area, a kind of masterkey – not merely and intellectual, but an operational paradigm.“ 31 Alexander Wendt, Social Theory of International Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), 343 führt die Entstehung kollektiver Identitäten zwischen Staaten z. B. auf folgende master variables zurück: „[…] interdependence, common fate, homogeneity, and self restraint.“
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scher IB-Theorien, die immer mehr durch die Assimilation akademischer Infrastrukturen in anderen Ländern abgesichert wird³², hat dazu geführt, dass heutzutage fast überall dort, wo eine spezialisierte Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen stattfindet, Sichtweisen der politischen Praxis als Grundlage wissenschaftlicher Forschung und Lehre dienen. Die Disziplin IB ist seit geraumer Zeit eine ‚typisch‘ amerikanische Sozialwissenschaft, insofern die große Mehrheit der professionellen Wissenschaftler Theoriebildung als Konstruktion formaler Modelle begreift, mit denen die Komplexität der Wirklichkeit reduziert und auf ein paar simple Ursachen für Phänomene zurückgeführt werden kann, die quasi immer in der gleichen Weise wirken, und deren Kenntnis dann wiederum der Kontrolle durch die überall in der gleichen Weise verfahrenden politischen Praxis nützt bzw. nützen soll³³. Das alles heißt nun nicht, dass es nur amerikanische bzw. praxisrelevante IBTheorien gibt. Die Wissenschaft der internationalen Beziehungen war immer auch ein Spielfeld für Theoretiker und Analysten, die nicht der Regierungspraxis der USA oder transnational operierenden Elitennetzwerken verpflichtet waren³⁴. Die heterogene Lehr- und Forschungspraxis, die man vielleicht als die eigentliche Wissenschaft der IB ansehen könnte, hat in ihrer langen Geschichte etwa die Geburt einer Vielzahl von Theorien erlebt, die nicht ausschließlich, ja nicht einmal primär, auf ontologische und normative Vorstellungen angloamerikanischer Essayisten wie Hobbes oder Locke aufgebaut wurden. Solche Errungenschaften standen und stehen den Theorien des amerikanischen mainstreams auch deswegen höchst kritisch gegenüber. Zu nennen sind diesbezüglich v. a. die kritischen Theorien des Weltsystems³⁵ oder Theorien der strukturell bedingten Abhängigkeit unterentwickelter Länder von den entwickelten Industrieländern³⁶. Diese Theorien sind nicht mit der Absicht entwickelt worden, die Entscheidungen politischer Amtsträger in den USA oder anderswo zu erleichtern/legitimieren. Im Gegenteil lag der Anspruch dieser Theorien darin, die mit Blick auf Frieden und Gerechtigkeit im internationalen System politisch fragwürdigen und politikwissenschaftlich relevanten Konsequenzen eben dieser Entscheidungen plus der sie stützenden IB-Theorien aufzuzeigen. Solche alternativen bzw. kritischen Sicht- und Verstehensweisen der internationalen Beziehungen sind jedoch aufgrund der herrschenden Interessenkonstellation im mainstream und der davon abhängigen
32 Vgl. Richard Münch, Die akademische Elite, a. a. O., insbesondere 179–197. 33 Vgl. dazu auch Steve Smith, The United States and the Discipline of International Relations, a. a. O., 82–83. 34 Eine wie ich finde sinnvolle Unterscheidung würde zwischen der amerikanischen ‚Disziplin IB‘ und der inklusiveren bzw. pluralistischen ‚Wissenschaft der IB‘ differenzieren. 35 Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World-System, vol. I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century (New York: Academic Press, 1974), und derselbe, The Modern World-System, vol. II: Mercantilism and the Consolidation of the European WorldEconomy, 1600–1750 (New York: Academic Press, 1980). 36 Vgl. Johan Galtung, A Structural Theory of Imperialism, Journal of Peace Research, vol. 8 (1971), 81–117.
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Diskursmechanismen – und nicht unbedingt deshalb, weil sie weniger anspruchsvoll oder überzeugend gewesen wären –, wenig bekannt und noch weniger einflussreich geworden. Ein allzu selbstbewusstes Abweichen vom vorherrschenden Trend, die internationalen Beziehungen gemäß der ontologischen und epistemologischen Prämissen im Kanon des mainstreams zu reifizieren, war und ist für viele aufstrebende Wissenschaftler nach wie vor gleichbedeutend mit einem Gang ins wissenschaftliche Exil³⁷. Die dadurch bedingte Ignoranz vieler mainstream-Vertreter gegenüber intellektuellen Errungenschaften aus den Kreisen der sogenannten ‚Englischen Schule ‘ – besonders ihrer jüngeren und kritischeren Vertreter –, der ‚italienischen Schule‘³⁸ der Internationalen Politischen Ökonomie, der deutschen Friedens- und Konfliktforschung³⁹, oder derjenigen Wissenschaftler, die sich keiner Schule zuordnen lassen und bei ihrer Beschäftigung mit den Internationalen Beziehungen ganz selbstverständlich von den neuesten soziologischen, ethnologischen, philosophischen und/ oder literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen leiten lassen, suggeriert, dass sich das Studium der IB im Einzugsgebiet der Pax Americana ganz überwiegend, und oft auch ganz ausschließlich, auf die angesagten Modethemen im mainstream der (amerikanischen) Disziplin IB reduziert⁴⁰. Weil die amerikanischen Theorien im mainstream der Disziplin höchst einflussreich sind und vielerorts den Kanon des Lehrangebots bilden, sollen die vorliegen-
37 In einer im Jahre 1990 erschienenen Sonderausgabe des mainstream-Journals International Studies Quarterly konnten einige Wissenschaftler dieser ‚Stimme aus dem Exil‘ zwar Ausdruck verleihen, vgl. Richard K. Ashley & R. B. J. Walker, International Studies Quarterly, vol. 34, Special Issue: Speaking the Language of Exile: Dissidence in International Studies (1990); an der grundsätzlichen Problematik in der Disziplin IB hat sich seitdem m. E. nach aber kaum etwas geändert: Kritik am mainstream, v. a. wenn sie sich gegen seine positivistische und rationalistische Identität richtet, wird als Ketzerei empfunden und hat in der Regel Ausgrenzung zur Folge. 38 Vgl. u.a. Robert W. Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations: An Essay in Method, Millennium, vol. 12 (1983), 162–175; Stephen Gill, Epistemology, Ontology, and the ‘Italian School’, in: derselbe (Hg.), Gramsci, Historical Materialism and International Relations (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), 21–48; Adam David Morton, Historicizing Gramsci: Situating Ideas in and Beyond Their Context, Review of International Political Economy, vol. 10 (2003), 118–46; Craig Murphy, Understanding IR: Understanding Gramsci, Review of International Studies, vol. 24 (1998), 417–25; und Julian Saurin, The Formation of Neo-Gramscians in International Relations and International Political Economy, in: A. J. Ayers (Hg.), Gramsci, Political Economy, and International Relations Theory: Modern Princes and Naked Emperors (New York: Palgrave, 2008), 23–43. 39 Vgl. u.a. Harald Müller, Wie kann eine neue Weltordnung aussehen?: Wege in eine nachhaltige Politik (Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2008); Lothar Brock, Neue Sicherheitsdiskurse: Vom erweiterten Sicherheitsbegriff zur globalen Konfliktintervention, Wissenschaft & Frieden (2005) [http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0395, zuletzt aufgerufen am 12.09.2014]; Ekkehart Krippendorff, Kritik der Außenpolitik (Frankfurt: Suhrkamp, 2000); und Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der grossen Theorie (Frankfurt: Suhrkamp, 1993). 40 Vgl. Ole Waever, The Sociology of a Not So International Discipline: American and European Developments in International Relations, International Organization, vol. 52 (1998), 687–727, besonders 696–701.
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den Lernmaterialien eben diese Theorien (plus den klassischen Intergouvernementalismus als Vorläufer des liberalen Intergouvernementalismus) nachvollziehbar und anwendbar werden lassen. Anders als viele Texte zur Einführung in die Theorien der IB habe ich dabei versucht, konsequent im Sinne der Theorien bzw. aus der entsprechenden Perspektive der Theorien zu schreiben – und nicht nur über sie. Die erwähnten Materialien sind in der Hoffnung zusammengestellt, dass Studenten bzw. Interessierte in einer solchen perspektivistischen Rekonstruktion der jeweiligen Aussagenlogik und Heuristik eine Hilfestellung finden, die mainstream-Theorien zu verstehen und für die eigene Herangehensweise an die internationalen Beziehungen fruchtbar zu machen, um die Anforderungen in den uniformierten BA/MA-Studiengängen erfolgreich zu bewältigen. Den Anfang macht die Darstellung der realistischen Theorieperspektive. Dann werden in einer Art Exkurs die von Kenneth N. Waltz eingeführte Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Vorstellungen von internationaler Politik (Logic of Images) sowie das damit zusammenhängende und von David Singer aufgeworfene Analyseebenenproblem in ihrer Eigenschaft als wichtige disziplinimmanente Entwicklungen skizziert. Hinzugekommen sind gegenüber der ersten Auflage ein paar neue Fallstudien in den Kapiteln zum klassischen Realismus, Neorealismus und Neoliberalismus sowie zwei neue Kapitel zum ‚Neoklassischen Realismus‘ und zu ‚Global Governance‘. Jede Theoriedarstellung besteht weiterhin aus Abschnitten, in denen die wichtigsten Bilder und Theoriebausteine der erwähnten Theorien, einschließlich des analytischen Vokabulars, komprimiert zusammengefasst und an Beispielen erläutert werden. Das heißt, jeder Teil und die in ihm enthaltenen Abschnitte sind so aufgebaut, dass die erwähnten IB-Theorien hinsichtlich 1) ihrer fundamentalen Prämissen, 2) ihrer Bilder des Gegenstandsbereichs, ihrer zentralen analytischen Begriffe und ihrer charakteristischen Aussagenlogiken und 3) ihrer Heuristik mit Blick auf konkrete historische Sachverhalte dargestellt werden. Wie bereits erwähnt, habe ich bei der Darstellung der Heranziehung jeder Theorie durch ihre Haupt/vertreter versucht, die Weltsicht der entsprechenden Theoretiker anzunehmen und relevante Phänomene aus deren Sicht zu beschreiben und zu erklären. Eine geglückte ‚Anwendung‘ der Theorien setzt einen solchen Schritt in phänomenologischer Absicht zwingend voraus. Schließlich lassen sich Theorien nicht mit materiellen Dingen vergleichen, die man benutzen kann, wie man etwa einen Hammer benutzt. Es geht bei theoriegeleiteter Untersuchung von Phänomenen nicht nur darum, möglichst viele analytische Begriffe einer Theorie (auswendig) zu lernen, um bei der Erklärung eines Sachverhalts die (Fremd-)Sprache der Theorie zu sprechen. Die Heranziehung sozialwissenschaftlicher Theorien verlangt auch und vor allem, das von der jeweiligen Theorie implizit vorausgesetzte Bild des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen zu verstehen und entsprechend konsequent die damit zusammenhängenden ontologischen Annahmen zu berücksichtigen. Das heißt z. B. mit Blick auf die Theorie des ‚klassischen Realismus‘, das dort vorausgesetzte Bild eines anarchischen Milieus zu verstehen und entsprechend konsequent die Prämisse zu berücksichtigen, dass Staaten bzw. Regierungen sich einzig und allein um
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ihr Überleben Gedanken machen und in einem gefährlichen Milieu solche Maßnahmen ergreifen und Strategien verfolgen, die klug und erfolgversprechend sind. Die Annahme dieses Bildes (Anarchie) und die konsequente Berücksichtigung dieser Prämisse (kluge Machtpolitik unsicherer Staaten gegenüber bedrohlichen Konkurrenten) lässt einen anspruchsvollen Analysten gar nicht auf die Idee kommen, bei einer ‚realistischen‘ Erklärung von Sachverhalten von einem eigenständigen Einfluss moralischer Prinzipien und/oder des kodifizierten – als Loseblattsammlungen verfügbaren – Vertragsvölkerrechts und/oder internationaler Organisationen auszugehen. Solcherlei Aspekte sind aus realistischer Sicht allzu oft Anlässe für legalistische bzw. moralistische Fehlschlüsse und für sich genommen völlig irrelevant, weil alle für die Erklärung relevanten Aspekte auf die machtpolitischen Interessen von Staaten zurückgehen. Der hier geleistete Überblick über die IB-Theorien im mainstream und die Veranschaulichung ihrer ‚Anwendungsmöglichkeiten‘ ist genau das: ein Überblick und eine praxisorientierte Veranschaulichung des disziplinären mainstreams. Unberücksichtigt bleiben in diesem Band die bereits erwähnten kritischen und neueren Theorien der IB, von denen sich viele durch intellektuell höchst anspruchsvolle Aussagen auszeichnen. Angesichts dieses Sachverhalts ist es eigentlich wünschenswert, dass alle Studierenden der IB die Kenntnis der theoretischen Grundlagen im mainstream der Disziplin nicht als Zweck an sich, sondern als Einstieg in eine selbstständige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich der IB verstehen. Vereinzelte Hinweise auf solche Theorien außerhalb des mainstreams finden sich in den einleitenden Bemerkungen zu jeder Theorie. Abgesehen von diesen allgemeinen kritischen Bemerkungen zum jeweiligen Weltbild der Theorien ist die Darstellung und Anwendung der Theorien im Detail nicht kritisch gehalten. Die Stoßrichtung der Kritik, die man an Theorien übt, hat immer auch damit zu tun, wer man ist und wo man – im übertragenen Sinn – im Feld der IB als pluralistischer Wissenschaft stehen will. Die eigene Kritikfähigkeit profitiert ganz wesentlich vom Bemühen um die Erweiterung eigener Kenntnisse von Literatur außerhalb des mainstreams. Sollten die vorliegenden Materialien neben einem Überblick über die Disziplin auch einen Anstoß geben können, gegenüber dem IB-mainstream eine erkenntniskritische Haltung einzunehmen und hie und da auch nach ‚anderen‘ Deutungsansätzen⁴¹ zu suchen, wäre viel erreicht!
41 Einen immer noch informativen Überblick – und Einstieg – in diese Literatur liefert Christoph Scherrer, Critical International Relations: Kritik am neorealistischen Paradigma der Internationalen Beziehungen, Prokla, vol. 24, Heft 95 (1994), 303–323. Vgl. auch Monika Heupel & Achim Kemmerling, Der Einfluss postmoderner Ansätze auf die Theorieentwicklung in den Internationalen Beziehungen, in: M. Lepper, St. Siegel & S. Wennerscheid (Hg.), Jenseits des Poststrukturalismus? Eine Sondierung (Frankfurt: Lang, 2005), 201–224.
2 Klassischer Realismus Der sogenannte ‚klassische Realismus ‘ ist seit jeher die Perspektive der Regierungen, der Diplomatie und der Geheimdienste gewesen⁴². Der ‚Realismus‘ ist auch wegen dieser vermeintlichen Nähe zur praktischen Politik immer noch eine der prominentesten Theorieperspektiven in der Disziplin IB. Namhafte Entscheidungsträger (u. a. Stalin, Roosevelt, Kennedy, de Gaulle, Kissinger, Schmidt, Hurd, Fischer, Sarkozy, Putin usw.) waren bzw. sind Realisten, selbst wenn sie sich nicht immer so konsequent des entsprechenden Vokabulars bedient haben, wie ihre akademischen Gesinnungsgenossen. Das Hauptaugenmerk der realistischen Theorieperspektive gilt traditionell der Frage nach den Kriegsursachen sowie den Bedingungen für einen einigermaßen stabilen Friedenszustand zwischen den mächtigeren Staaten. Die klassischen Realisten des 20. Jahrhunderts wendeten sich in erster Linie gegen die von ihnen selbst so betitelte ‚idealistische‘ Theorieperspektive. Vertreter des sog. Idealismus gingen nach dem Ersten Weltkrieg und den dort zu beobachtenden Zerstörungen zweckoptimistisch von einer Verantwortung der zivilisierten Staatenwelt aus und hielten Frieden auf der Basis zwischenstaatlicher Kooperation für möglich, wenn und insofern das zwischenstaatliche (Völker-)Recht und die Einrichtung internationaler Organisationen multilaterale Verhandlungen mit dem Ziel des friedlichen Konfliktaustrages befördern könnten. Nach Meinung einflussreicher Realisten während bzw. nach der Zwischenkriegszeit war dieser Idealismus, zusammen mit seinem geistigen Zwilling, dem völkerrechtlichen Legalismus, ein gefährliches Wunschdenken allzu friedensbeseelter und weltentrückter Philanthropen gewesen. In der Weltsicht des Realismus folgt ‚das Politische‘ seinen eigenen Regeln und entlarvt mittel- oder langfristig jede idealistische/legalistische Sichtweise als reines Wunschdenken. Viele Realisten nehmen für sich in Anspruch, die Wirklichkeit ‚des Politischen‘ gewissermaßen ‚schauen‘ zu können, wie sie wirklich/eigentlich ist, richten sich bei ihrer Beschreibung zwischenstaatlicher Beziehungen auf die außenpolitischen Handlungen der großen Mächte und erklären Resultate durch Verweis auf politisch (un-)kluges Handeln verantwortlicher Staatsmänner. Die Betonung der überragenden Rolle von Macht und des politisch klugen Handelns von Regierungen wird von Realisten bei der Analyse internationaler Politik konsequent eingefordert. Basierend auf der Vorstellung, dass Menschen von Natur aus um ihre Sicherheit fürchten und deswegen immer nach Macht streben⁴³, bilden diese Prämissen den Kern einer (quasi) metaphysischen Weltsicht, in der es objektive Wahrheiten gibt.
42 Vgl. Carne Ross, Independent Diplomat. Dispatches from an Unaccountable Elite (Ithaca: Cornell University Press), 144. 43 Vgl. Hans J. Morgenthau, Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace (New York: Knopf, [1948] 1973), 35: „The tendency to dominate, in particular, is an element of all human associations, from the family through fraternal and professional associations and local political organiza-
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Metaphysisch begründete Weltbilder wie die der Realisten haben heftige Kritik auf sich gezogen⁴⁴. Momentan vorherrschende und d. h. veränderliche Interaktionsmuster wie z. B. der sogenannte ‚Wettbewerb‘ zwischen Staaten würden von Realisten fälschlicherweise für unveränderliche Gesetzmäßigkeiten gehalten⁴⁵. Die ‚Schauung‘ der internationalen Beziehungen als ewiger Machtkampf und Hort politischer (Un-)Vernunft, richte sich nicht auf die Wirklichkeit, sondern sei Produkt allerlei Fantasien, Leidenschaften und Ängste aufseiten realistischer Beobachter⁴⁶. Den Zusammenhang zwischen Angst und (innerer) Leere sowie der daraus abgeleiteten Annahme, der Kampf um Macht sei allgegenwärtig, haben Psychoanalytiker weiter untersucht⁴⁷. Wenn sie recht haben und ‚innere Leere‘ tatsächlich der Grund für die von vielen Realisten geteilte Annahme eines angeblich allgegenwärtigen Machstrebens ist, dann wäre gut nachvollziehbar, dass und warum Kritiker im Realismus eine zynische und pessimistische Theorie unveränderlicher Abläufe sehen⁴⁸. Konzeptuelle Kritik am Realismus richtete sich einerseits auf den Machtbegriff: in realistischen
tions, to the state. On the family level, the typical conflict between the mother-in-law and her child’s spouse is in its essence a struggle for power […].“ 44 Wobei auch angemerkt sein soll, dass es Stimmen gibt, die im Realismus eine rein ‚standortgebundene‘ bzw. historisch kontingente Theorie sehen, die außer dem natürlichen Machtkampf keine ewigen Wahrheiten beschreibt. Vgl. Hartmut Behr & Amelia Heath, Misreading in IR Theory and Ideology Critique: Morgenthau, Waltz and Neo-Realism, Review of International Studies, vol. 35 (2009), 327–349. 45 Vgl. Stanley Hoffmann, The State of War: Essays on the Theory and Practice of International Politics (London: Pall Mall, 1965), 11. 46 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, in: Friedrich Nietzsche, Werke in zwei Bänden, Wolfgang Deninger (Hg.) (Essen: Phaidon, 1995), Aphorismus 57: „Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierat aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen […] Eure Liebe zur ‚Wirklichkeit‘ zum Beispiel – o das ist eine alte uralte ‚Liebe‘! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgendeine Phantasterei, ein Vorurteil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch alles! daran gearbeitet und gewebt.“ 47 Vgl. Arno Gruen, Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: Eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität (München: dtv, 1989), 143, der v. a. in Anbetracht des US-amerikanischen Entscheidungshandelns während der 1960er- und 1970er-Jahre zu dem Schluss kam, dass Realisten ihre Weltsicht aus einer in frühen Jahren vollzogenen Anpassung an eine konkrete Macht und der Flucht vor dem Schmerz gewonnen haben. Die Unterwerfung unter ‚Befehle‘ strenger bzw. autoritärer Vorgesetzter ist für Realisten Teil einer unausgesprochenen Abmachung: Der Verlust des autonomen ‚Selbst‘ wird entschädigt durch eine Teilhabe an der Macht eines Kollektivs. Mit diesem Arrangement lässt sich für Realisten der Hass auf die eigene Unzulänglichkeit, die eigene innere Leere, kaschieren. Die Folge ist dramatisch: „Eine nicht von Macht geprägte Realität wird damit unvorstellbar. Das Streben nach Macht wird zwanghaft, und die Unfähigkeit, Schmerz zu ertragen, führt dazu, dass man um jeden Preis Schmerz vermeidet, denn solche Menschen empfinden Schmerz als Demütigung. Die Demütigung und Erniedrigung anderer dagegen wird eigentlicher Lebenszweck.“ 48 Vgl. Randall L. Schweller, Neoclassical Realism and State Mobilization: Expansionist Ideology in the Age of Mass Politics, in: J. W. Taliaferro, St. E. Lobell & N. M. Ripsman (Hg.), Neoclassical Realism, the State and Foreign Policy (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 227–250, 248.
Prämissen
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Analysen schwanke der theoretische Status von Macht oft zwischen Mittel und Ziel staatlicher Außenpolitik; und andererseits auf die Verwendung des aus der Ökonomie importierten Konzepts des Gleichgewichts und einer entsprechenden Logik, das sich für die Analyse der internationalen Politik einfach nicht mit einer klaren Bedeutung versehen lasse⁴⁹. Schließlich wurde den Realisten vorgehalten, dass ihre Prämissen nicht nur willkürliche, sondern auch normative Setzungen ohne jeglichen Inhalt wären, die es ihnen erlaubten, jegliches politische Handeln als Ausdruck staatlichen Machtstrebens zu deuten.
2.1 Prämissen 2.1.1 Das Milieu der internationalen Politik ist ‚anarchisch‘ Die Anarchie der internationalen Politik ist die logische Konsequenz der staatlichen Souveränität. Anarchie heißt nicht per se Chaos oder Konflikt sondern meint ein fundamentales Ordnungsprinzip der internationalen Politik, das sich vom Ordnungsprinzip innerhalb souveräner Staaten (=Hierarchie) unterscheidet. Im internationalen Milieu interagieren souveräne Staaten, die aufgrund ihrer Souveränität keiner höherrangigen Autorität unterstehen. Das heißt, keine überstaatliche Sanktionsinstanz sorgt für Ordnung.
2.1.2 Staaten streben nach Macht Der Antrieb eines jeden Staates, vermittels seiner Regierung, ist das Streben nach Macht – im Sinne von Einfluss auf das Denken und Handeln anderer Staaten/Regierungen. Dieses Streben ist zwar abhängig von Zeit und Raum, insofern die Ausübung von Macht/Einfluss zu verschiedenen Zeiten an unterschiedliche Quellen und Ressourcen gebunden ist. Das ändert aber nichts daran, dass Staaten/Regierungen zu jedem Zeitpunkt versucht haben, ihre Macht zu erhalten, zu demonstrieren und/oder zu vermehren. Indikatoren staatlicher Macht sind v. a. geografische Lage, territoriale Größe, Bevölkerungszahl, wirtschaftliche Kapazität, politisches Ansehen und militärische Schlagkraft. Letztere bemisst sich im Atomzeitalter vorrangig aus der Verfügung über nukleare Waffen; neuerdings spielen auch biologische und chemische Waffen eine Rolle. Militärische Schlagkraft ist nicht die einzige Quelle von Macht, aber sie ist – auch aufgrund des ‚Primats der Sicherheitspolitik‘ – zweifellos die wichtigste.
49 Vgl. Stanley Hoffmann, The State of War, a. a. O., 7–8.
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2.1.3 Staaten befinden sich in einem Zustand der Unsicherheit Kein Staat kann sich sicher sein, dass andere Staaten ihre Machtressourcen nicht zum Einsatz bringen. Das heißt nicht, dass alle Staaten zu jedem Zeitpunkt kriegerische Absichten hegen. Es bedeutet lediglich, dass ein verlässlicher Zustand nationaler Sicherheit unmöglich ist, da Staaten ihre Macht auch durch Krieg vergrößern können. Staaten stehen vor dem Dilemma, angesichts äußerer Bedrohungen selbst nicht zu wenig, aber mit Blick auf etwaige Verunsicherungen ihrer Umwelt auch nicht zu viel Macht anzuhäufen.
2.1.4 Staaten handeln klug und nicht moralisch ‚gut‘ In einem anarchischen Milieu sind Staaten dem Postulat politischer Klugheit verpflichtet. Staaten entscheiden immer mit Blick auf mögliche Konsequenzen ihres Tuns für ihre Machtposition. Kluges im Sinne von erfolgreichem Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass Staaten Strategien verfolgen, um ihre Machtposition nicht zu verlieren. Unkluges Handeln bedeutet, dass Staaten Entscheidungen treffen, in deren Folge sie an Macht einbüßen. Politik ist insofern moralisch, als Staaten dem verantwortungsethischen Gebot machtpolitischer Vernunft folgen. Die Moral der internationalen Beziehungen besteht aus Postulaten des Machterhalts.
2.1.5 Staaten errichten ein Gleichgewicht Aufgrund ihrer Pflicht zum Machterhalt, achten Staaten bzw. ihre Regierungen argwöhnisch auf jede Veränderung der herrschenden Machtkonstellation. Auf Machtverschiebungen reagieren sie mit Aufrüstung und/oder der Bildung von Bündnissen. Die ständige Reaktion aller Staaten auf vermeintliche Machtgewinne anderer Staaten führt in der Regel zu einem unwirklichen, unzuverlässigen und daher prekären Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist gleichzeitig die einzige Vorkehrung gegen einen Krieg der mächtigeren Staaten gegeneinander. Jeder Krieg zwischen den mächtigeren Staaten resultiert aus einer Störung des Gleichgewichts, hat allerdings zur Folge, dass sich von Neuem ein Gleichgewicht zwischen den mächtigen Staaten herausbildet.
Analytik und Aussagenlogik
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2.2 Analytik und Aussagenlogik 2.2.1 Analytik Anarchie Staat/Regierung Großmächte Angst/Unsicherheit Nationales Interesse Stärke/Ansehen Machtstreben (als Ziel und Mittel) Formen des Machtstrebens – Machterhalt/Status quo – Machtdemonstration/Prestige – Machterweiterung/Imperialismus Berücksichtigung der Konsequenzen
Politische Klugheit/Verantwortung Pragmatismus vs. Idealismus Erfolg vs. Legalismus/Moralismus Positives und Machtrecht Negativer Frieden: Gleichgewicht Stabilität Methoden der Gleichgewichtspolitik – Kompensation – Rüstung – Bündnisse/Allianzen Macht als psychologische Beziehung Abschreckung
2.2.2 Aussagenlogik Der vor allem von Hans J. Morgenthau popularisierte (politische) Realismus geht im Rückgriff auf Theoreme historischer Vordenker wie z. B. Thukydides, Macchiavelli und besonders Thomas Hobbes davon aus, dass Politik und Gesellschaft von ewig gültigen, unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten beherrscht werden, deren Ursprung in der menschlichen Natur liegt. In ihrem Wesen sind Menschen und Staaten völlig gleich. Die Hypostasierung einer menschlichen Natur und deren konservative Deutung durch Realisten kulminiert in einem Menschen- und Staatenbild, dessen innerstes Wesen durch existenzielle Angst geprägt ist – Angst vor Schmerz, Angst vor Demütigung, letztlich Angst vor Vernichtung. Und diese tief empfundene Angst bringt es mit sich, dass der Mensch/Staat weder innere Zufriedenheit noch charakterliche und geistige Stärke entwickelt. Der Mensch/Staat wird beherrscht von seinen Leidenschaften und ist unfähig, Vertrauen in sich und andere zu entwickeln, geschweige denn dauerhafte und authentische soziale Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Seine Leidenschaften und v. a. seine existenzielle Angst sind unüberwindliche Naturanlagen des Menschen und hindern ihn bzw. den Staat daran, sich in Auseinandersetzung mit anderen Menschen/Staaten vom ‚einsamen Wolf‘ zum sozialen Wesen zu verändern. Nachgerade die Angst treibt Menschen/Staaten dazu, jedem zu misstrauen. Aus seiner Angst heraus ist jeder Mensch/Staat ständig danach bestrebt, andere zu beeindrucken und sein Ansehen zu verbessern. Der unaufhörliche Drang, ein imposantes Bild abzugeben, lässt Menschen/Staaten primär solche Maßnahmen ergreifen, um gegenüber anderen glänzend, schön, erfolgreich und vor allem stark zu erscheinen. Der Mensch/Staat versucht, eine Position der Stärke gegenüber anderen
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zu demonstrieren, zu befestigen und auszubauen, oder – wenn es die Umstände gebieten – zu verheimlichen. Grundsätzlich lässt sich die eigene Angst nur durch eine zur Schau getragene Stärke kaschieren. Der Mensch/Staat kompensiert seine Angst und innere Leere durch den Gewinn, die Demonstration und den Ausbau von Statussymbolen, Titeln und Privilegien, d. h. Macht und Einfluss gegenüber anderen Menschen/Staaten. Im Milieu der internationalen Politik gibt es keine zentrale Instanz, die durch Zwang für Ordnung sorgt. Es herrscht Anarchie, was aufgrund der existenziellen Angst aller Staaten zur Folge hat, dass sie sich mit Argwohn und Unsicherheit begegnen. Auch und gerade Staaten sind – vermittels ihrer Regierungen – darauf bedacht, ihre Unsicherheit angesichts von Gefahren durch ein Streben nach Macht zu kompensieren⁵⁰. Indikatoren für die Machtposition eines Staates sind seine territoriale Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, seine Bevölkerungszahl und seine militärische Kraft. Durch Vergrößerung seiner Macht gewinnt der Staat die Fähigkeit zur Abschreckung potenzieller Feinde. In so einem Milieu verfolgt jeder Staat eine durch sein nationales Interesse bestimmte Außenpolitik, indem er entweder auf Machterhaltung (Status quo), Machterweiterung (Imperialismus) oder auf Machtdemonstration (Prestigepolitik) abzielt. Die wichtigste quasi-kausale Determinante der Politik zwischen Staaten ist das im Sinn von Macht verstandene Interesse. Der konkrete Inhalt dieses grundlegenden Interesses richtet sich nach den Umständen in Zeit und Raum. Im 16. Jahrhundert war das außenpolitische Machtstreben der Staaten ein anderes als im 19. Jahrhundert, insofern jeweils andere Staaten bedrohlich und andere Mittel den Fortbestand der Staaten zu garantieren schienen. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Streben der Staaten zu jedem Zeitpunkt im Zeichen ihres Machtinteresses steht, weil nur aus einer mächtigen Position heraus Einfluss auf andere Staaten ausgeübt werden kann. Politische Macht ist eine psychologische Beziehung⁵¹ . Der politische Realismus sieht einen unvermeidlichen Gegensatz zwischen sittlichem bzw. rechtlichem Gebot und dem Erfordernis erfolgreichen politischen Handelns⁵² . Prinzipiell begründete Morallehren und formalrechtlich festgelegte Rechte und Pflichten mögen attraktiv erscheinen, weil sie – theoretisch – einen Ausweg aus dem irdischen Jammertal eröffnen. Solche Morallehren und Normenkataloge sind jedoch nichts anderes als un‚realistisches‘ und damit unbegründetes Wunschdenken. Die solchen Morallehren und Normenkatalogen zugrunde liegenden kategorischen und abstrakten Prinzipien stehen einer im Zeichen von Macht ausgeübten Politik oft sogar diametral entgegen. Im Milieu der internationalen Politik regiert allein das ungeschriebene Prinzip des Erfolgs: Das wichtigste Ziel staatlicher Politik ist die erfolg50 Vgl. Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik (Gütersloh: Bertelsmann, [1948] 1963), 53. 51 Vgl. ebda., 71. 52 Vgl. ebda., 55.
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reiche Sicherung des eigenen Überlebens. Wer in einem anarchischen Milieu nicht nach Macht strebt, ignoriert die sich daraus ergebenden Konsequenzen, denn er gibt sich selbst der Ausbeutung und in letzter Konsequenz der Vernichtung durch andere Staaten preis. Kluge Staaten lassen sich in ihrem Denken und Handeln nicht von bürgerlicher Moral oder formalrechtlichen Geboten, sondern nur von Machtinteressen und Pragmatismus leiten, berücksichtigen dabei aber auch die Konsequenzen ihres Tuns. Unter Umständen beschränken das Völkerrecht, die internationale Moral und sogar die Weltmeinung den Machtkampf zwischen Staaten – wenigstens vorübergehend. Das heißt jedoch nichts anderes, als dass rechtliche/moralische Normen aus der konkreten Situation zwischen den relevanten Akteuren, den Großmächten, abgeleitet werden und als solche wirken, als Machtrecht bzw. Machtmoral. Es ist die Politik auf dem größten gemeinsamen normativen Nenner der Großmächte, die dem Milieu der internationalen Politik ein Moment der Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit beschert, wenn und insofern machtpolitische Handlungen dieser Staaten dazu dienen, Machtungleichgewichte auszugleichen und Stabilität – im Sinne der Abwesenheit von Krieg zwischen den mächtigeren Staaten – herbeizuführen. In letzter Instanz ist es eine Praxis nach den Maßgaben politischer Klugheit im verantwortungsethischen Sinn, die rational und politisch wünschenswert ist. Nicht abstrakte Sittenlehren à la Kant, auch nicht die nach außen hin oft feierlich zelebrierten Vertragsschlüsse zwischen Staaten, sondern die u. U. auch durch die Normen des Macht-Völkerrechts und der Macht-Moral verkörperte politische Klugheit beschränkt Machtpolitik. Diese Klugheit besitzt den Status einer genuin politischen Moral. Kluge und verantwortungsvolle Staatsmänner wissen, ab welchem Punkt ihr eigenes Machtstreben von anderen Staaten als bedrohlich und damit als unverhältnismäßig empfunden wird. Kluge Staatsmänner wissen, wann ihre eigene Politik zu einer Gegenreaktion anderer Staaten führt. Kluge Staatsmänner unterlassen es deshalb, ihre Macht über diesen Punkt hinaus zu vermehren. Andererseits wissen kluge Staatsmänner auch, wann das Machtstreben anderer Staaten einen Punkt überschritten hat, der die eigene Machtposition relativiert und die Machtposition anderer Staaten unverhältnismäßig und zum eigenen Nachteil verbessert. Kluge Staatsmänner ergreifen in diesem Fall Maßnahmen, um gegenüber solchen Staaten nicht an Einfluss zu verlieren. Typische Maßnahmen sind Forderungen nach Kompensationen, die Forcierung eigener Rüstungsanstrengungen, oder die Suche nach Bündnispartnern zum Aufbau einer Verteidigungsallianz für den Fall einer Aggression⁵³. Alle diese Maßnahmen dienen dem überragenden Zweck, ein evtl. aus den Fugen geratenes Gleichgewicht durch geschicktes Taktieren wiederherzustellen, wenngleich dieses Gleichgewicht immer prekär bleibt.
53 Vgl. ebda., 64–66.
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2.3 Heuristik Im Fokus des klassischen Realismus stehen solche Phänomene und Entwicklungen, die sich auf machtpolitische Handlungen von Staaten zurückführen lassen. Die Grundannahmen der Theorie begrenzen den für relevant erachteten Wirklichkeitsausschnitt, insofern die den internationalen Beziehungen inhärente Problematik immer in den machtpolitischen Verhaltensweisen der Großmächte zu finden ist. Das Ziel der Theorie ist einerseits, zu beschreiben, wie Staaten bzw. Großmächte miteinander um Macht und Einfluss konkurrieren; und andererseits, zu erklären, warum es diese Staaten immer wieder schaffen, trotz gelegentlicher Ausbrüche von Krieg, Frieden im Sinne eines Gleichgewichts zwischen den mächtigeren Staaten herzustellen. Bei einem Blick auf die Geschichte der internationalen Beziehungen ist aus Sicht des Realismus interessant, dass es unüberwindliche Schwierigkeiten bei der institutionellen Umsetzung der Idee kollektiver Sicherheit im Rahmen internationaler Organisationen gab, dass es aber trotz des ‚Scheiterns‘ kollektiver Sicherheit nicht immer zum Krieg kam. Aus der Brille des Realismus wird nachvollziehbar, dass und warum das sogenannte ‚Vertragsvölkerrecht‘ keine normativen Wirkungen entfalten kann und selten bzw. noch nie eine Großmacht davon abgehalten hat, ihre machtpolitischen Interessen zu Lasten anderer Staaten zu verfolgen, dass es aber dennoch eine vordringliche Aufgabe des (‚realistisch‘ verstandenen) Völkerrechts ist, die internationalen Beziehungen schrittweise zu ‚befrieden‘.
2.3.1 Kollektive Sicherheit und Frieden Aus Sicht des Realismus hat das Ende der beiden Weltkriege nur vordergründig eine qualitative Veränderung der internationalen Politik mit sich gebracht. Die Siegermächte beschlossen zwar, mit den internationalen Organisationen des Völkerbunds bzw. später der Vereinten Nationen Arenen zu schaffen, in denen die Großmächte quasi in einem parlamentarischen Plenum, d. h. öffentlich, über relevante Geschehnisse, die daran beteiligten Akteure, deren Interessen, die daraus resultierenden Konflikte und die hieraus entstehenden Probleme für Frieden und Sicherheit debattieren sollten. Der offiziellen und qua Satzung völkerrechtlich verbindlich gemachten Rhetorik nach sollten nationale Situationsdefinitionen, eigenmächtige Unternehmungen und geheimdiplomatische Verabredungen durch die Suche nach gemeinsamen Positionen und die Ergreifung von Kollektivmaßnahmen abgelöst werden. Die Aggression eines Staates gegen einen anderen Staat sollte durch konzertierte Aktionen der so zusammengefügten Staatengemeinschaft sanktioniert werden. Auf der Basis von allgemeinen und rechtlich verbindlichen Prinzipien des zwischenstaatlichen Verkehrs sollte eine Art Rechtsgemeinschaft dafür sorgen, dass der Umgang der Staaten miteinander gewaltfrei abläuft und dem Grundsatz der kooperativen Konfliktbewältigung folgt. Macht- und Ränkespiele sollten an Bedeutung verlieren, insofern die in-
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ternationale Organisation des Völkerbunds bzw. der Vereinten Nationen Formen und Mechanismen bereitstellt, um einen zivilisierten Verkehr zwischen den Staaten zu befördern. Aufgrund ihrer durch die ‚Schau‘ der internationalen Beziehungen gewonnenen Kenntnis historisch begründeter Gesetzmäßigkeiten wissen Realisten jedoch, dass diese Arrangements nicht praktikabel sind und auch nicht sein können. Der realistische Blick auf das ‚Eigentliche‘ offenbart, dass sich weder in der Zwischenkriegszeit noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine qualitative Veränderung der internationalen Politik vollzog. Im Gegenteil spricht das Verhalten der großen Mächte in beiden Perioden dafür, dass sich am Wesen internationaler Politik nie etwas geändert hat. Mithin bestimmen unveränderliche Gesetzmäßigkeiten den Lauf der geschichtlichen Entwicklung. Die Politik zwischen Staaten ist gekennzeichnet durch eine im Zeichen von Macht stehende Verfolgung nationaler Interessen. Staaten mit den größeren Machtpotenzialen machen ihren Einfluss auf schwächere Staaten geltend und zwingen sie zu Handlungen, die sie sonst nicht ausführen würden. Gleichzeitig sind gerade diese mächtigeren Staaten darauf aus, keinen anderen Staat zu mächtig werden zu lassen, um so das prekäre Gleichgewicht bzw. die Machtkonfiguration zwischen ihnen zu erhalten. Durch Rüstung und Bündnispolitik werden Machtzugewinne einzelner Staaten ausgeglichen. Dieser Gleichgewichtspolitik der großen Mächte liegt – von Ausnahmen abgesehen – seit jeher rationales bzw. kluges außen-politisches Handeln zugrunde. Kluges Machtstreben ändert sich hinsichtlich seiner Bezugsobjekte, manifestiert sich aber immer in den Beziehungen zwischen den Großmächten und bedient sich der zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten üblichen Formen der internationalen Politik, ohne von diesen eingeschränkt zu werden. Das ‚öffentliche Recht‘ im Rahmen des europäischen Konzerts, die formalen Mechanismen kollektiver Sicherheit im Rahmen des Völkerbunds, oder das System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen waren immer Instrumente in diesem Sinn: Gerüste und Fassaden für die Beförderung oder Verschleierung kluger Machtpolitik. Völkerrechtlich verbindliche Formen kollektiver Sicherheit können aufgrund herrschender Gesetzmäßigkeiten nur eingehalten werden, wenn und insoweit ihre Einhaltung die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung des Gleichgewichts befördert. Wie auch im innerstaatlichen Bereich, empfiehlt es sich für Staatsmänner in den auswärtigen Beziehungen, den Schein zu wahren, so zu tun, als ob die Machtpolitik im Zeichen nationaler Interessen mit den allgemeinen Regeln des Friedensvölkerrechts im Einklang steht. Die tendenzielle Unvereinbarkeit zwischen pragmatischer Machtpolitik im nationalen Interesse und allgemein gültigen Formen kollektiver Friedenssicherung ist unüberwindbar. Aus realistischer Sicht setzt die Idee kollektiver Sicherheit eine Welt voraus, die so nicht gegeben ist: Auf der Basis feststehender und für alle gleichermaßen verbindlicher Verhaltensstandards sollen alle Staaten jede Form der Aggression überall durch Gewalt sanktionieren, um so bei aktuellen und potenziellen Aggressoren einen Lernprozess in Gang zu setzen, der sie zur Erkenntnis bringt, dass sich Gewalt per se nicht lohnt. Die Welt ist jedoch anarchisch und erlaubt keine Ausrichtung des Ver-
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haltens an allgemein verbindlichen Verhaltensstandards. Sicherheit und Frieden in einer anarchischen Welt können nur durch Rüstung und/oder ständig wechselnde Bündnisse zur Abschreckung ganz konkreter äußerer Feinde an bestimmten Orten erreicht werden. In dieser Welt leidet jedes System kollektiver Sicherheit darunter, dass mächtige Staaten in der Regel – an kollektiven Zwangsmaßnahmen gegen einen oder mehrere Bündnispartner nicht teilnehmen, denn nur Bündnispartner bieten ausreichenden Schutz gegen einen Angriff; – an kollektiven Zwangsmaßnahmen teilnehmen, um gegen einen feindlichen Staat vorzugehen und im Rahmen der Sanktionierung die eigene Machtposition zu verbessern; – den Titel der ‚Aggression‘ instrumentalisieren, um die verteidigungspolitischen Aktivitäten feindlicher Mächte als Angriffshandlungen zu de-legitimieren⁵⁴. Im Einklang mit den Gegebenheiten der internationalen Politik haben sich daher die Siegermächte des ersten und Zweiten Weltkriegs in ihrer Eigenschaft als Architekten der beiden historischen kollektiven Sicherheitssysteme des Völkerbunds bzw. der Vereinten Nationen – implizit oder explizit – darauf verständigt, dass ihre Handlungsspielräume von völkerrechtlichen Pflichten unbeeinträchtigt bleiben und ausschließlich Gleichgewichtsüberlegungen gehorchen. Sowohl der Völkerbundsrat als auch der UN-Sicherheitsrat waren/sind in ihrer Form und Zusammensetzung Ausflüsse dieser Verständigung unter klugen Machtpolitikern. Entsprechend dieser Verständigung verhalten sich die Großmächte auch in Krisenzeiten.
2.3.1.1 Kollektive Sicherheit und der Völkerbund Japan war seit dem ersten japanisch-chinesischen Krieg (1894/95) bestrebt, seinen Einflussbereich auf die rohstoffreiche Mandschurei auszudehnen und riskierte immer größere Spannungen mit Russland, das die Mandschurei seit 1900 besetzt hatte. Die Machtansprüche Japans kulminierten 1904 im russisch-japanischen Krieg, den Japan für sich entscheiden konnte. Russland musste die Mandschurei an China abtreten. Japan vermochte es, sich die Rohstoffe aus der Mandschurei zu sichern. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 sahen japanische Militärs eine Lösung wirtschaftlicher Probleme in einer weiteren Expansion in Richtung Mandschurei. Im September 1931 provozierte die japanische Armee den ‚Mukden-Zwischenfall‘ und griff chinesische Stellungen an. Nicht zuletzt, weil China sich zur selben Zeit im Bürgerkrieg befand, konnten die Japaner die Mandschurei bis Anfang 1932 annektieren und ihrer Verwaltung unterstellen. Deutschland forderte nach 1933 immer unverhohlener den ‚Anschluss‘ Österreichs. Im März 1938 marschierten Soldaten der Wehrmacht und Polizis54 Vgl. Arnold Wolfers, Discord and Collaboration. Essays on International Politics (Baltimore: Johns Hopkins Press, 1962), 187–188.
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ten mit schwerer Bewaffnung in Österreich ein, wo sie von der Bevölkerung mit Jubel empfangen wurden. Die jeweiligen Führer beider Länder vereinbarten die ‚Wiedervereinigung‘ ohne Übergangsfristen. Andere Großmächte, darunter auch Großbritannien, werteten den Anschluss als interne Angelegenheit des Deutschen Reiches und Österreichs. Auch auf die von Deutschland geplante Besetzung des Sudetenlands, einem Gebiet in der Tschechoslowakei, das mehrheitlich von Deutschen bewohnt war, reagierten Großbritannien und Frankreich konziliant. Im September 1938 wurde Hitler durch das ‚Münchner Abkommen‘ die Annexion der sudetendeutschen Gebiete unter Berufung auf das im Versailler Vertrag verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker erlaubt. Die Duldung von Japans de facto-Annexion der Mandschurei 1931 und die Appeasement-Politik Großbritanniens gegenüber Nazi-Deutschland bis 1938 waren aus der Sicht von ‚idealistischen‘ Befürwortern des Völkerbundsystems Abweichungen vom völkerrechtlichen Gebot der kollektiven Sicherheit im Falle einer bewaffneten Aggression. Zwar könnte man behaupten, dass insbesondere die Appeasement-Politik Großbritanniens Resultat einer ignoranten und arroganten Haltung der Regierung um Chamberlain gewesen war und als solche zum Angriff Deutschlands auf Polen beitrug⁵⁵. Aus Sicht des Realismus erscheinen diese Verhaltensweisen jedoch eher als Ausflüsse kluger Machtpolitik, die völlig im Einklang mit der Logik internationaler Politik standen. In beiden Fällen zielte die Duldung der imperialen Politik Japans bzw. Deutschlands darauf ab, den Bestrebungen dieser großen Mächte nach Kompensationen für verloren gegangene Stärke zu entsprechen, um so das Gleichgewicht in Europa und der Welt stabiler zu machen. Die Billigung der Annexionspolitik Japans und Deutschlands durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs bedeutete zwar, dass eine Verletzung fundamentaler Prinzipien des Völkerbunds (Souveränität, Nicht-Intervention) stillschweigend in Kauf genommen wurde. Diese Billigung entsprach allerdings durchaus klugen machtpolitischen Erwägungen. Nachgerade im Falle Deutschlands konnte kein kluger Staatsmann damit rechnen, dass Hitler auf die Appeasement-Politik Großbritanniens nicht eingehen und in Missachtung der Gesetzmäßigkeiten internationaler Politik auch noch Polen und sogar die Sowjetunion angreifen würde. Aus realistischer Sicht zerstörten diese letzten ‚irrationalen‘ Schritte das Gleichgewicht der Mächte und riefen nach der Bildung eines Bündnisses der übrigen Großmächte zur Verhinderung einer deutschen Weltherrschaft. Einerseits ließen es macht- und gleichgewichtspolitische Erwägungen bis 1938 nicht unklug erscheinen, dass sich Nazi-Deutschland verloren gegangene Gebiete und politischen Einfluss zurückholt. Deshalb duldeten die großen Mächte Hitlers Imperialismus. Andererseits zwangen macht- und gleichgewichtspolitische Erwägungen die Großmächte nach 1938 dazu, der ausufernden Machterweiterung Nazi-Deutschlands Schranken
55 In diesem Sinn argumentiert Joseph Nye Jr., Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History (New York: Longman, 2003), 107.
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zu setzen. Und deshalb schritten die großen Mächte ab 1939 ein, um den Einfluss Nazi-Deutschlands wieder zu reduzieren.
2.3.1.2 Kollektive Sicherheit und die Vereinten Nationen Die Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichteten sich mit ihrer Unterschrift unter die Satzung der Vereinten Nationen zwar de jure, Verstöße gegen fundamentale Prinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen (‚Souveränität‘, ‚Nicht-Intervention‘ und ‚Gewaltverbot‘) im Sinne einer Völkerrechtsgemeinschaft und durch eine breite Palette von Kollektivmaßnahmen zu sanktionieren. Allerdings standen die Vereinten Nationen mit ihrem System kollektiver Sicherheit zu keinem Zeitpunkt über den einzelnen großen Mächten. Vielmehr spielte sich die Macht- und Einflusspolitik der großen Mächte zu einem beträchtlichen Teil in der Organisation und ihrem System der kollektiven Sicherheit ab. Die großen Mächte schrieben sich in ihrer Eigenschaft als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates alle wichtigen Entscheidungsbefugnisse zu und teilten die Verantwortung für Ordnung und Frieden in der Welt zunächst unter sich auf. Die USA wachten über Nord- und Südamerika, Frankreich und Großbritannien über Westeuropa sowie über die Kolonialgebiete in Afrika und Asien, China über den Fernen Osten und die Sowjetunion über den Balkan und Osteuropa. Der ‚Abstieg‘ Frankreichs und Großbritanniens, die revolutionäre Veränderung im Inneren Chinas, und der Aufstieg der Sowjetunion bzw. der USA zu Nuklearmächten bewirkten innerhalb kurzer Zeit eine Veränderung der multipolaren Konstellation zu einer bipolaren. Das Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen stand seitdem im Zeichen der Konkurrenz zwischen den konkurrierenden Blöcken in West und Ost. Im Fall der Invasion Südkoreas durch nordkoreanische Truppen anno 1950 entfaltete sich die machtpolitische Logik dahingehend, dass zwar offiziell von einer ‚Aggression‘ und einer Gefährdung des Weltfriedens die Rede war, und dass die Vereinten Nationen als Kollektivgremium einschritten, um die Verletzung der Souveränität Südkoreas sowie die damit verbundenen Verstöße gegen die Prinzipien der Nicht-Intervention und des Gewaltverbots zu ahnden. Allerdings bestand unter den großen Mächten zu keinem Zeitpunkt Konsens hinsichtlich des Tatbestands der ‚Aggression‘; ferner trat nicht die Organisation der Vereinten Nationen als entscheidender Akteur auf, sondern die Großmächte, allen voran die USA versus China und die Sowjetunion⁵⁶. Nach einer Blockade des Sicherheitsrats durch die Abwesenheit der Sowjetunion war ein gemeinschaftliches Tätigwerden der Organisation im Auftrag allgemein anerkannter Prinzipien unmöglich geworden. Dennoch erließ die Generalversammlung nach erfolgreichen Manövern der USA im Rahmen ihrer ‚Parkettdiplomatie‘ eine Resolution (die sogenannte Uniting for Peace-Resolution), mit der eine Allianz von Staaten unter Führung der USA offiziell ermächtigt wurde, den Frieden
56 Vgl. Arnold Wolfers, Discord and Collaboration, a. a. O., 195–196.
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in der Region durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen. Die Verlautbarung, dass die Sanktionierung der Aggression im Auftrag der Vereinten Nationen und zum Schutz völkerrechtlicher Prinzipien geschehe, war eine Fassade zur symbolpolitischen Wahrung des völkerrechtlichen Scheins. Tatsächlich lagen dem Eingreifen der USA weniger völkerrechtsprinzipielle als vielmehr pragmatische machpolitische Kalküle zugrunde. Die ‚Rettung‘ Südkoreas vor einer Annexion durch die Regierung im Nordteil des Landes hatte primär den gleichgewichtspolitischen Zweck, ein Ausgreifen der chinesischen und sowjetischen Einflusssphäre über Nordkorea hinaus zu verhindern. Die ganze Angelegenheit wurde von den USA in den Vereinten Nationen thematisiert und forciert, um einen Ausbau chinesischer und damit sowjetischer Macht im asiatischen Raum zu verhindern. Das System kollektiver Sicherheit erwies sich in diesem Fall als nützliche Maschinerie für die USA und ihre Verbündeten, um sowjetische Satellitenstaaten vom unverhältnismäßigen Ausbau ihrer Macht abzuschrecken. In und für sich selbst entfachte das System nicht die geringste Wirkung. Im Fall der Suez-Krise im Jahr 1956 standen sich zwei Großmächte, nämlich Großbritannien und Frankreich sowie Israel mit ihren Interessen an Machterhalt bzw. Gebietsgewinnen in Ägypten direkt gegenüber. Anlass für politische Aktivitäten der drei Staaten war die Verstaatlichung des Suez-Kanals durch den ägyptischen Präsidenten Nasser. Großbritannien begann den Konflikt, indem es seine Herrschaftsansprüche über Ägypten gegenüber Frankreich und Israel mit dem Einsatz von Waffengewalt unterstrich. Das Einschreiten der Vereinten Nationen als Kollektivgremium und die Anwendung kollektiver Sicherheit war dadurch blockiert, dass sowohl Großbritannien als auch Frankreich durch ein Veto im Sicherheitsrat das Funktionieren des Systems verhinderten. Auf diplomatisches Betreiben der Sowjetunion rief die Generalversammlung unter Berufung auf die Uniting for Peace-Resolution von 1950 nach einem militärischen Einschreiten gegen die ‚Aggressoren‘. Vor allem die diplomatischen Aktivitäten der USA waren dann jedoch der Grund dafür, dass die Aggression nur rhetorisch verurteilt und nicht unter Führung der Sowjetunion durch den Einsatz von militärischer Gewalt auch tatsächlich sanktioniert wurde. Ein Eingreifen durch die Sowjetunion hätte unweigerlich einen sowjetischen Machtzuwachs in der Region bedeutet. Es war in diesem Zusammenhang das machtpolitisch motivierte Interesse der USA, den Nahen Osten nicht einem stärkeren sowjetischen Einfluss preiszugeben, warum die Aggressoren im Namen der Vereinten Nationen aufgefordert wurden, den status quo ante wiederherzustellen. Die USA stellte sich offiziell gegen ihre Verbündeten, um nicht zu riskieren, dass der Einfluss der Sowjetunion in der Region wuchs. Das heißt: Die offizielle ‚Verurteilung‘ der Aktivitäten Großbritanniens, Frankreichs und Israels war machtpolitisch motiviert und nicht der normativen Kraft des Völkerrechts geschuldet⁵⁷.
57 Vgl. ebda., 198–199.
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2.3.2 Das Völkerrecht und Frieden Das sogenannte ‚Vertragsvölkerrecht‘, d. h. die in bi- und multilateralen Verträgen festgeschriebenen Normen und Regeln, hat in der Geschichte der internationalen Beziehungen selten bzw. noch nie eine Großmacht davon abgehalten, vitale nationale und machtpolitisch motivierte Interessen zugunsten anderer Staaten zurückzustellen. Es ist geradezu kontraproduktiv für die zwischenstaatlichen Beziehungen, das Verhalten der Großmächte an den in Verträgen festgehaltenen formalrechtlichen Normen zu messen, den Bruch dieser Art von Völkerrecht als Delikt auszuweisen und allzu voreilig nach Sanktionen gegen den Delinquenten zu rufen. Schließlich ist davon auszugehen, dass jede Großmacht früher oder später in eine Situation kommt, in der es aus machtpolitischen Erwägungen heraus unklug wäre, sich den abstrakten Ge- und Verboten bi- oder multilateraler Verträge zu unterwerfen. Aus realistischer Sicht besitzen völkerrechtliche Pflichten keine kategorische Bindungswirkung – zumal nicht für die Großmächte – sondern werden in jedem Fall bzw. in jeder Konstellation konkurrierender Machtinteressen neu bewertet. Dennoch ist es auch und gerade aus realistischer Sicht eine vordringliche Aufgabe des (‚realistisch‘ verstandenen) Völkerrechts, die internationalen Beziehungen schrittweise zu ‚befrieden‘. Es stellt sich allerdings ganz grundsätzlich die Frage, was das Völkerrecht überhaupt ist und was es leisten kann.
2.3.2.1 Das Völkerrecht und der ‚Winterkrieg‘ 1939 Der Angriff der Sowjetunion auf Finnland und die Besetzung Kareliens während des sogenannten ‚Winterkriegs‘ von November 1939 bis März 1940 war auf den ersten Blick und nach Meinung vieler zeitgenössischer Kommentatoren eine klare Missachtung des Vertragsvölkerrechts. Das partielle Kriegsverbot der Völkerbundsatzung von 1919, insbesondere die Bestimmungen der Satzung in den Artikeln 10, 12, 13 und 15 sowie das generelle Verbot des Angriffskriegs, das in den Artikeln 1 und 2 des BriandKellogg-Paktes von 1928 festgehalten wurde, ließen den Angriff der Sowjetunion auf Finnland als einen eklatanten Völkerrechtsbruch erscheinen. Das vermeintliche Delikt bestand in einer Verletzung der Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit Finnlands durch die Sowjetunion sowie in der Missachtung der Pflicht durch letztere, die Regelung von Streitigkeiten durch friedliche Maßnahmen und die Mechanismen des Völkerbunds zu unternehmen. Denn nachdem Finnland die von der Sowjetunion geforderten Gebietsabtretungen verweigert hatte, ordnete die Sowjetunion die völkerrechtlichen Gebote der Völkerbundsatzung dem eigenen machtpolitisch motivierten Streben nach nationaler Sicherheit unter und griff den souveränen Staat Finnland an. Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens bewerteten den Zwischenfall nach Maßgabe geltender positivrechtlicher Gebote und handelten zunächst entsprechend, indem sie die Sowjetunion als ‚Aggressor‘ identifizierten und im März 1940 ihren Ausschluss aus dem Völkerbund durchsetzten. Zum ersten Mal wurde eine Großmacht von den Mitgliedern des Völkerbunds derart weitgehend sanktioniert. Diese Politik
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Frankreichs und Großbritanniens folgte dem Wortlaut völkerrechtlicher Standards und stellte insofern eine ‚legalistische‘ Antwort auf machtpolitisches Verhalten dar. Genau darin lag freilich der Fehler der beiden europäischen Großmächte⁵⁸. Der mit dem Ausschluss aus dem Völkerbund verbundene Verlust von Einfluss und Ansehen aufseiten der Sowjetunion wäre ein ausreichender Grund für die Sowjetunion gewesen, verlorene Macht früher oder später zurückzugewinnen. Der Ausschluss der Sowjetunion legte gewissermaßen die Saat für zukünftige Konflikte und damit einhergehende Instabilitäten. Was in dem Zusammenhang aber noch schwerer wiegt: Frankreich und Großbritannien hätten in der Konsequenz des von ihnen betriebenen Ausschlusses der Sowjetunion in ihrer Eigenschaft als vorrangige Mitglieder des Völkerbunds und als Bundesgenossen Finnlands gegen den Aggressor-Staat Sowjetunion in den Krieg ziehen müssen, um an Finnland begangenes Unrecht wiedergutzumachen und die Sowjetunion zum Abzug aus Karelien zu zwingen. Wenn Schweden beiden Staaten nicht den Durchmarsch durch schwedisches Gebiet verweigert hätte, wären Frankreich und Großbritannien aufgrund ihrer Treue zum Buchstaben des Vertragsvölkerrechts unweigerlich in einen Zweifrontenkrieg geraten, in dem sie ihre Kräfte nicht hätten bündeln können, da sie bereits gegen Deutschland im Krieg standen. In letzter Konsequenz hätte das Festhalten am Wortlaut der relevanten völkerrechtlichen Gesetze sowohl für Frankreich als auch für Großbritannien zur Folge haben können, dass sie ihre Macht gegenüber Deutschland und Russland einbüßen und evtl. sogar als Kriegsverlierer in politische Abhängigkeit geraten. „Statt die Frage des Rechts und die Frage der Macht gleichzeitig aufzuwerfen, berücksichtigten sie nur die Rechtsfrage; das Ergebnis hatte daher zu der Frage, von der ihre Existenz schlechthin abhängen konnte, keinerlei Bezug.“⁵⁹ Diese Politik Frankreichs und Großbritanniens war äußerst unklug, einerseits weil sie den eigenen nationalen Interessen zuwiderlief, andererseits weil sie das Gleichgewicht der Mächte aufs Spiel setzte – zumindest mittel- und längerfristig. Will man, um einer angemessenen Reaktion willen, das Handeln desjenigen politischen Akteurs verstehen, der sich z. B. im Einmarsch der Sowjetunion in Finnland offenbarte, dann muss man vorübergehend von anderen Eigenschaften dieses Akteurs abstrahieren. Der sowjetischen Regierung kann grundsätzlich eine Bereitschaft zur Einhaltung des Völkerrechts unterstellt werden. Eine realistische Betrachtung der internationalen Politik verbietet es jedoch, das Verhalten der Großmächte allein am Buchstaben völkerrechtlicher ‚Gesetze‘ zu messen. In einer Welt, die nicht perfekt ist, müssen Staatsmänner auf situationsspezifische Bedrohungen reagieren. Eine realistische Betrachtung internationaler Politik verbietet es daher, Staaten, die nicht nach Maßgabe des Vertragsvölkerrechts gehandelt haben, als Delinquenten zu behandeln. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass die Staatsmänner mächtiger Staaten immer in einem Kontext von widerstrebenden Interessen anderer Großmächte han58 Vgl. Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden, a. a. O., 57–58. 59 Ebda., 58.
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deln. Und in diesem Kontext unterliegen sie und ihre Praxis zuerst dem Gebot politischer Klugheit und erst sekundär den Postulaten des Vertragsvölkerrechts. Das Vertragsvölkerrecht als eine Autorität in und für sich zu betrachten, als ein Kompendium abstrakter Normen und Regeln mit Bindungswirkung, das außerhalb eines bestimmten politischen Kontextes steht und von dort seine Wirkungen auf die Großmächte und ihre Politik entfacht, verkennt die Gegebenheiten der internationalen Politik und verleitet zu falschen Schlüssen und Reaktionen.
2.3.2.2 Das Völkerrecht und die Intervention der USA in Kuba 1961 Im Jahr 1960/61 sah sich die Regierung der USA vor das Problem gestellt, eine angemessene politische Reaktion auf die kommunistische Revolution in Kuba zu finden. Die Machtergreifung durch die Revolutionsführer Fidel Castro, Ernesto Che Guevara, Raúl Castro und Huber Matos hatte im Januar 1959 ihren sichtbaren Ausdruck in der Vertreibung des bisherigen Staatschefs Fulgencio Batista und der Besetzung der Städte Santa Clara und Santiago de Cuba gefunden. Bis August 1960 hatten die neuen Machthaber alle ausländischen Eigentumsrechte in Kuba verstaatlicht. Das betraf den Besitz von kubanischen Landgesellschaften, den Plantagenbesitz der Castro-Familie selbst, aber vor allem betraf es den Landbesitz US-amerikanischer Kreise. Schließlich sympathisierte die neue kubanische Regierung offen mit dem Regime der Sowjetunion. Die Regierung der USA fühlte sich seit der kubanischen Revolution im Jahr 1959 immer mehr zu Maßnahmen gedrängt, um die Linie der kubanischen Regierung zu beeinflussen und reagierte zunächst mit einem Handelsembargo gegen Kuba. Die Verstaatlichung US-amerikanischer Besitztümer und die Hinwendung Kubas an die Sowjetunion waren für die USA jedoch entscheidende Anlässe für ein härteres Vorgehen. Im März 1960 fasste die amerikanische Regierung den Plan, ‚Exilkubaner‘ unter der Anleitung der CIA in Florida und Guatemala als Guerilla-Kämpfer auszubilden. Die US-Regierung erwartete, dass sie mithilfe dieser Kräfte einen Stimmungswandel unter der kubanischen Bevölkerung und schließlich sogar einen politischen Umsturz in Kuba herbeiführen könnte. Nach einer Reihe vorbereitender Luftschläge auf kubanische Verteidigungsanlagen landeten im April 1961 ca. 1500 Exilkubaner und zwei Infanterieeinheiten der CIA in der ‚Schweinebucht‘ an der südlichen Küste des Landes. Zwar waren die kubanischen Verteidigungskräfte vor Ort zunächst überfordert und ergaben sich den Interventionskräften. Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass die eingeschleusten Guerillakämpfer ohne weitere Verstärkung durch US-Truppen nicht erfolgreich sein würden. Die kubanische Armee setzte schwere Panzerkräfte aus Beständen der Sowjetunion ein und schuf so ein Übergewicht zugunsten der Verteidigungsstreitkräfte. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass der neue US-amerikanische Präsident Kennedy sich gegen eine massive militärische Unterstützung der eingeschleusten Guerilla-Kämpfer entschied, um die Infiltrationsbemühungen nicht in eine offene Intervention unter Führung der USA
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münden zu lassen. Bereits geplante Bombenschläge von US-Streitkräften aus der Luft wurden gestrichen, obwohl diese dazu beigetragen hätten, die kubanische Luftwaffe entscheidend zu schwächen. Zudem wurde auf Veranlassung Kennedys davon Abstand genommen, US-amerikanische Interventionstruppen zum Einsatz zu bringen, die bereits mithilfe von Transportschiffen vor die Küste Kubas gebracht worden und landungsbereit waren. Die Kennedy-Regierung nahm somit ein Scheitern der Invasion in Kauf, setzte in der Folge jedoch verdeckte Operationen gegen Kuba fort, die zu einem nicht unerheblichen Teil zu den Spannungen beitrugen, die in die Kuba-Krise (‚Raketenkrise‘) von 1962 mündeten. Aus realistischer Sicht stellt sich die Frage, warum die Regierung der USA sich zwischen März 1960 und April 1961 zwar für den Beginn einer (inoffiziellen) Intervention in Kuba entschieden hatte, dann aber vor einer Ausweitung der Intervention in Kuba zurückgewichen war. Aus realistischer Sicht sah sich die US-Regierung zu keinem Zeitpunkt vor die Entscheidung gestellt, das abstrakte völkerrechtliche Prinzip der Nichtintervention sowie die daraus abzuleitenden Ge- und Verbote einzuhalten. Aus realistischer Sicht lässt sich zwar nicht leugnen, dass das Prinzip der Nichtintervention als solches ‚existiert‘. Nicht zuletzt wurde es seit Ende des 18. Jahrhunderts – durch beflissene Formaljuristen – in die Völkerrechtslehrbücher geschrieben. Außerdem lässt sich beobachten, dass Staatsmänner nie müde wurden, Lippenbekenntnisse abzugeben, die ihre Interventionshandlungen als völkerrechtskonform erscheinen lassen (sollten)⁶⁰. Freilich gilt es zu beachten, dass in der Geschichte der internationalen Politik sowohl die Anrufung des Prinzips der Nichtintervention als auch die Praxis der Nichtintervention immer politischen Zielen bestimmter Staaten gedient haben. Rufe nach einem Interventionsverbot geschahen niemals allein um des Völkerrechts willen. Entweder hatte die Geltendmachung des Prinzips der Nichtintervention durch einen Staat der Diskreditierung der Praxis eines anderen Staates, oder der Hinweis auf einen Verstoß gegen das Prinzip hatte der Rechtfertigung des eigenen Verhaltens gedient. Um die unvollständige und am Ende auch gescheiterte Intervention der USA in Kuba erklären zu können, ist es zunächst wichtig, den größeren soziopolitischen Kontext der internationalen Politik zu betrachten. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine ‚revolutionäre Phase‘ und ähnelte der Periode der Napoleonischen Kriege. Zahlreiche Staaten waren von Revolution bedroht, standen vor Regierungsumstürzen und erfuhren eine Veränderung der außenpolitischen Orientierung. Das wiederum bedeutete, dass die de facto existierende internationale Ordnung einschließlich der von den Großmächten hergestellten Einflusssphären bedroht war, insofern neue außenpolitische Orientierungen in einer Reihe von Staaten Loyalitätstransfers und einen Bruch zwischen den bisher bestehenden Bündnissen herbeiführen konnten. Für die Großmächte stand die Bewahrung ihrer Einflusssphären und damit ihre
60 Hans J. Morgenthau, To Intervene or Not To Intervene, Foreign Affairs, vol. 45 (1967), 425–436, 425.
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Machtposition auf dem Spiel. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass China seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Reihe von Ländern zugunsten revolutionärer Kräfte interveniert hatte, um seinen Einfluss auf diese Länder zu steigern. Genauso wenig kann es überraschen, dass die Sowjetunion und die USA versucht hatten, ihrerseits in diversen Ländern diejenigen Kräfte zu unterstützen, die ihnen einen größeren Einfluss im Land versprachen. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass sich die Großmächte immer mehr in einen Wettlauf um Einflussgebiete verstrickten, der sie in Konkurrenz und Konflikt zueinander brachte. Für eine Erklärung des Sachverhalts ist weiterhin wichtig, dass die Großmächte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr vor dem Problem standen, Konflikte durch den Einsatz von militärischer Gewalt nicht ‚gewinnen‘ zu können. Im Nuklearzeitalter verbietet sich jedweder Konfliktaustrag zwischen den Groß- bzw. Atommächten mit militärischen Mitteln. Sollte der Wettlauf um Einflussgebiete zwei oder mehrere Großmächte in einen Konflikt verstricken, ist es für keine der beteiligten Seiten ratsam, den Kampf um das entsprechende Land mit militärischen Mitteln entscheiden zu wollen, weil dies in letzter Konsequenz den Einsatz von atomaren Massenvernichtungswaffen nach sich ziehen könnte. Die Entscheidung der USA zur Vorbereitung und Durchführung einer Intervention in Kuba anno 1961 lässt sich demnach auf das US-amerikanische Streben nach Macht- und Einflussgewinn in der Region zurückführen. Der Einflussverlust der USA nach Absetzung des früheren Präsidenten Batista durch die Revolutionäre um Castro und Che Guevara war der entscheidende Anlass diesbezüglich. Die Entscheidung der USA, die einmal begonnene Intervention im Angesicht starken Widerstands nicht auszuweiten und erfolgreich zu Ende zu führen, muss auf Erwägungen politischer Klugheit zurückgeführt werden. Einerseits wäre es höchst unklug gewesen, offen als Interventionsmacht gegenüber einem mit der Sowjetunion befreundeten Staat aufzutreten, andererseits schien es geboten, die Schutzmacht Kubas nicht über Gebühr und an zwei Fronten gleichzeitig zu provozieren. Nicht zuletzt schwelte im gleichen Zeitraum die zweite Berlin-Krise, die im August 1961 mit dem von der Sowjetunion gebilligten Mauerbau durch Berlin ihr vorläufiges Ende fand. Die USA und die Sowjetunion verständigten sich angesichts spezifischer Bedrohungen –und über indirekte Formen der Kommunikation – auf eine Aufrechterhaltung der ‚friedlichen Koexistenz‘, eines quasi-völkerrechtlichen Arrangements, dessen Normen und Regeln aus Gewohnheit der Großmächte resultierten, ungeschrieben waren, aber dennoch Bindungswirkung entfachten und mit den abstrakten Regeln des Vertragsvölkerrechts nicht unbedingt in Einklang zu bringen waren.
2.3.2.3 Das Völkerrecht und die Intervention der USA in Vietnam 1964/65 Politische Klugheit und Völkerrecht stehen nicht immer und zwangsläufig in einem Gegensatz. Im Gegenteil kann es die Maxime der politischen Klugheit mit sich bringen, die Ge- und Verbote des Völkerrechts zu beachten. Aus Sicht des politischen
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Realismus ist es für Staatsmänner in der Regel unausweichlich, faktische Zusammenhänge sowohl gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch gegenüber der Weltöffentlichkeit so darzustellen, dass die außenpolitischen Maßnahmen der Regierung im Mantel der Legalität erscheinen. Alle Regierungen, auch und vor allem die Regierungen der Großmächte, tun in der Regel so, als ob ihr Tun gerechtfertigt wäre. Es kann für Regierungen jedoch manchmal eine wichtige Frage sein, ob und wenn ja, wann der Verweis auf das Völkerrecht nicht nur zum Schein geschehen, sondern tatsächlich auch ernst genommen werden soll. Auch wenn die Regierungen der Großmächte sehr oft darauf angewiesen sind, dass die von ihnen dargelegten Sachverhalte der internationalen Politik die daraufhin ergriffenen außenpolitischen Maßnahmen als gerechtfertigt erscheinen lassen, stellt sich für sie hin und wieder auch die Frage, ob und wenn ja, wann sie den geschriebenen und ungeschriebenen Normen des Völkerrechts einen Vorrang vor evtl. zu eng definierten nationalen Interessen einräumen sollen. In diesem Fall dient das Völkerrecht als eine Quelle der Information, welche Maßnahmen vielleicht noch ‚besser‘ sind, um nationale Interessen zu befriedigen. Aus Sicht des politischen Realismus stellt sich für die Großmächte immer die Frage, welche Konsequenzen mit ihrem außenpolitischen Tun für sie und das Staatensystem verbunden sind. Es stellt sich also aus realistischer Perspektive immer die Frage, ob ein Bruch des Völkerrechts, oder ob eine Einhaltung des Völkerrechts im konkreten Fall klüger ist, gemessen daran, ob und inwieweit die eigene Machtposition und das Gleichgewicht der Mächte darunter leiden. Nach einer offiziellen Verlautbarung der US-amerikanischen Regierung an den Kongress wurden am 4. August 1964 im Golf von Tonking zwei US-Kriegsschiffe, die USS Turner Joy und die USS Maddox, angeblich von nordvietnamesischen Schnellbooten außerhalb der Zwölfmeilenzone unter Torpedobeschuss genommen. Der Hintergrund dieser Verlautbarung war ein Bericht, der von der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) ‚produziert‘ und in dem eine Konfrontation zwischen zwei Schnellbooten der nordvietnamesischen Küstenwache und den zwei amerikanischen Kriegsschiffen als unprovozierter Angriff auf die amerikanischen Schiffe dargestellt wurde. In dem Bericht der NSA wurde verschwiegen, dass die USS Maddox bereits am 2. August in einen Zwischenfall mit drei nordvietnamesischen Schnellbooten verwickelt war, die mithilfe von Flugzeugen der USS Ticonderoga auf Distanz gehalten bzw. manövrierunfähig geschossen wurden. Am 5. August gab US-Präsident Lyndon Johnson in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte den Befehl, eine Reihe von nordvietnamesischen Marinestützpunkten zu bombardieren. In einer Fernsehansprache begründete er den Befehl mit dem Recht der USA auf Selbstverteidigung gegen die ‚unprovozierten‘ nordvietnamesischen Angriffe. Der Bericht der NSA bildete die Grundlage für eine am 7. August 1964 verabschiedete gemeinsame Resolution der beiden Häuser des US-Kongresses, die ‚Tonking-Resolution‘, die so vage formuliert war, dass Johnson nahezu vollständige Handlungsfreiheit hatte, auf den Zwischenfall vom 4. August zu reagieren.
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Nachdem pro-kommunistische Guerillas damit begonnen hatten, Basen der US Army in Südvietnam zu attackieren, votierten einflussreiche hardliner in der US-Regierung immer entschiedener für eine Bekämpfung der Aufständischen in Südvietnam und eine Bombardierung Nordvietnams, um dem dortigen Kommunistischen Regime sowie den anderen kommunistischen Großmächten in der Region, der Sowjetunion und China, Stärke und Entschlossenheit zu demonstrieren. Zwar war in Kreisen der US-amerikanischen Regierung anerkannt, dass Nordvietnam, Russland und China, trotz ihrer gemeinsamen kommunistischen Ideologie, durchaus gegensätzliche und sogar konkurrierende außenpolitische Interessen verfolgten. Dennoch wurden die militärischen Aktivitäten der USA nach außen hin mit einem empty slogan, nämlich dem Verweis auf die Notwendigkeit der Eindämmung des Kommunismus in der Region begründet. Diese Rhetorik sollte den Eindruck erwecken, dass für ‚freie Staaten‘ in Nordostasien eine ähnliche Bedrohung vorlag wie anno 1947 in Europa, als der Sowjetkommunismus sich anschickte, eine Gefahr für die demokratischen Staaten Westeuropas zu werden. Die Operation Rolling Thunder erstreckte sich zunächst auf eine Bombardierung des Hô-Chí-Minh-Pfads von Nord- nach Südvietnam, um schließlich in eine Luftoffensive gegen die kommunistische ‚Demokratische Republik Vietnam‘ zu münden. Intention und Ausmaß dieser ersten Offensive wurden dem amerikanischen Volk verschwiegen, genauso wie die kontinuierliche Ausweitung der Intervention in Südvietnam, die sich ab dem 8. März 1965 als ein Krieg ohne offizielle Kriegserklärung darstellte. Aus realistischer Perspektive – und einer ex post facto vollzogenen Beurteilung – war der gegen die kommunistischen Kräfte in Nordund Südvietnam begonnene Krieg unklug, weil er nicht den nationalen Interessen der USA diente bzw. den nationalen Interessen der USA sogar zuwiderlief; und weil er die USA zwang, moralische Verbrechen und unnötige militärische Risiken in Kauf zu nehmen, um die angestrebten Ziele zu erreichen⁶¹ . Die konterrevolutionäre Kriegführung (counter-insurgency warfare) der USA gegen pro-kommunistische Guerrillas in Südvietnam stand von Beginn an vor dem Problem, militärische Maßnahmen gegen einen Gegner zu richten, der unsichtbar war, insofern er sich im ‚normalen‘ Volk verbergen konnte bzw. vom ‚normalen‘ Volk gar nicht zu unterscheiden war. In diesem Zusammenhang beging die US-Regierung den Fehler, zu glauben, dass der Widerstand gebrochen werden könnte, wenn nur die Verbindungen zwischen den Kommunisten in Nordvietnam und den pro-kommunistischen Verbänden in Südvietnam gekappt werden würden. Das eigentliche Problem lag aber in Südvietnam selbst. Das südvietnamesische Volk hatte seine Identität bereits gegen andere Großmächte verteidigt, sei es die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, oder sei es die expandierende Großmacht China. Es stand Einmischungen fremder Mächte feindlich gegenüber und sympathisierte umso mehr mit den pro-kommunistischen Widerstandskräften, je höher die Verluste waren, die die US-Armee unter der Zivil-
61 Vgl. Hans J. Morgenthau, U.S. Misadventure in Vietnam, Current History, vol. 54 (1968), 29–34, 29.
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bevölkerung hervorrief. Die Kräfte des Viet Kong wurden von der vietnamesischen Bevölkerung auch deshalb unterstützt, weil sie sozioökonomische Reformen in die Wege geleitet hatten, die ihnen die Loyalität der Bevölkerung sicherten. Die USA sah sich zusehends in einen Krieg verwickelt, in dem militärische und politische Ziele nicht zu erreichen waren. Auf der Seite der Südvietnamesen trug der Krieg dazu bei, dass sich das Volk und die Widerstandskämpfer in der Auseinandersetzung mit den amerikanischen Besatzern immer mehr einigten. Auf der Seite der USA diente der Krieg schließlich keinem strategischen Ziel mehr sondern nur noch der Dezimierung des Gegners. Die USA konnte jedoch kein Interesse an einem Krieg haben, in dem der Gegner sich immer fanatischer zu den Idealen sozialer Revolution und/oder nationaler Befreiung bekannte, und der keinem außenpolitischen Zweck diente, weil er nicht im politischen Sinn ‚gewonnen‘ werden konnte⁶². Die USA lief außerdem Gefahr, durch die Schwächung des südvietnamesischen Volkes ein Machtvakuum zu schaffen, das Begehrlichkeiten auf der Seite anderer Großmächte wie China und der Sowjetunion weckte. Für den Fall, dass Südvietnam durch den Krieg als nationale Einheit geschwächt würde, blieb der USA nur die Alternative zwischen ständiger Präsenz als Schutzmacht und dem Bekenntnis zur Rolle der USA als Bollwerk gegen den Kommunismus, oder dem Abzug aus der Region bei gleichzeitiger Inkaufnahme eines Macht- und Einflussgewinns auf der Seite Chinas und/oder der Sowjetunion. Vielleicht noch entscheidender, die USA beging horrende Verbrechen an der Zivilbevölkerung Südvietnams, die einen hohen Prestigeverlust zur Folge hatten. Die USA beanspruchte für sich selbst, ein Hort der Freiheit zu sein und der restlichen Welt als ein Beispiel für eine vorbildliche Demokratie zu dienen. Der Kampf einer hochgerüsteten Supermacht gegen einen zurückgebliebenen Agrarstaat mündete jedoch offensichtlich in einen Krieg, in dem die südvietnamesische Bevölkerung gegen kommunistische Infiltrationsversuche ‚geschützt‘ wurde, während dasselbe Volk unter Missachtung seines freien Willens systematisch dezimiert wurde. Problematisch daran war einerseits, dass die USA ihren Ruf als Wohltäter der Menschheit aufs Spiel setzte, indem sie sich in einen Krieg verstrickte, der „politically aimless, militarily unpromising, and morally dubious“⁶³ war. Andererseits riskierte die USA immer mehr, in eine Auseinandersetzung mit China hineingezogen zu werden. Bereits die Korea-Krise in den 1950er-Jahren hatte gezeigt, dass China nicht tatenlos zusehen würde, wenn sich fremde Großmächte in die Region einmischten. Angesichts des Status’ Chinas als Atommacht, schien ein Nuklearkrieg nicht ausgeschlossen. Aus Sicht der realistischen Theorie hätte das Postulat politischer Klugheit der USRegierung geboten, zwischen dem Recht auf Selbstverteidigung, der ideologischen Verpflichtung auf Anti-Kommunismus und dem Recht Südvietnams auf Selbstbestimmung abzuwägen. Die im machtpolitischen Sinn ‚beste‘ Lösung wäre gewesen, 62 Vgl. Hans J. Morgenthau, We are Deluding Ourselves in Vietnam, New York Times Magazine (18. April 1965). 63 Vgl. Hans J. Morgenthau, U.S.-Misadventure in Vietnam, a. a. O., 34.
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den Krieg gegen Vietnam früher zu beenden. Vor allem gemessen an den Folgen für die Machtposition der USA war die Entscheidung für den Vietnam-Krieg keine rationale Entscheidung, da sie dem Anspruch der USA, von anderen Staaten als stabilisierender Faktor wahrgenommen zu werden, zuwiderlief. Der offiziell verlautbarte Respekt vor dem Recht auf nationale Selbstbestimmung des vietnamesischen Volkes hätte die nationalen Interessen der USA am besten befördert. Nicht nur wären die Machtansprüche Chinas in der Region durch die Südvietnamesen selbst mit großer Wahrscheinlichkeit eingedämmt worden. Auch das Ansehen der USA wäre zum Teil wiederhergestellt worden, weil die Entscheidung für den Abzug aus Vietnam die amerikanische Verpflichtung auf das Prinzip des Anti-Kommunismus nicht in Zweifel gezogen hätte, und weil sie von der ‚Weltöffentlichkeit‘ sogar als weise empfunden worden wäre.
2.3.2.4 Das Völkerrecht nach ‚realistischer‘ Lesart Das Völkerrecht ist ein wichtiges Mittel zur Beschränkung von Machtpolitik, wenn man nicht den Fehler macht, das Völkerrecht als eine Sammlung von formalen Vorschriften zu verstehen. Namentlich die im 19. und 20. Jahrhundert zur Blüte gekommene (liberale) Philosophie des Legalismus hat nicht nur zur Verstümmelung juristischen Wissens geführt, sie hat auch und gerade unter politischen Praktikern zu einer gefährlichen Verengung des Blicks beigetragen. Insbesondere die juristische Methode des formalen Positivismus hat dazu geführt, dass das Recht nur noch als ein in sich geschlossenes System positiver Regeln wahrgenommen wird. Die juristische Suche gilt immer mehr solchen Regeln, die in gesatzten Statuten und/oder gerichtlichen Entscheidungen zu finden sind. Derart irregeführt, glauben viele Entscheidungsträger, dass das gültige und damit herrschende Völkerrecht mit einem Blick in sogenannte Rechtsquellen und ohne eine Berücksichtigung des politischen Kontexts gefunden werden kann. Mit diesem Blick auf eine rein fiktive Erscheinung übersehen Verwaltungsjuristen und Entscheidungsträger, dass nicht alle schriftlich festgehaltenen Regeln des Völkerrechts geltendes Recht sind, und dass es geltende Regeln gibt, die nicht schriftlich festgehalten wurden. Dasjenige Völkerrecht, das eine Beschränkung konkurrierender Machtpolitiken darstellt, ist ein ‚funktionales Recht‘⁶⁴ und steht im Dienst der ordnungspolitischen Sache kluger und verantwortlicher Großmächte. Dieses Völkerrecht ist in gewissem Sinne ein ‚Machtrecht‘ und kann nur gefunden und verstanden werden, wenn man 1) die fundamentalen Prinzipien identifiziert, die zusammengenommen die ethische Substanz des Völkerrechtssystems konstituieren, und in deren Licht konkrete Ge- und Verbote zum Wohl des Staatensystems interpretiert werden müssen; 2) das politische Milieu berücksichtigt, in dem ökonomische Interessen, soziale Spannungen und Machtaspirationen einen formativen Kontext 64 Vgl. Hans J. Morgenthau, Positivism, Functionalism, and International Law, American Journal of International Law, vol. 34 (1940), 260–284, 274.
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für konkrete Sachverhalte liefern, die nach einer Regulierung durch völkerrechtliche Ge- und Verbote rufen; und 3) das Gewohnheitsrecht betrachtet, das aus dem zwischenstaatlichen Verkehr der Großmächte entspringt und nicht aus Legislativtätigkeiten oder formalen Konstruktionen wie opinio juris, ‚stillschweigender Konsens‘, oder ‚Anerkennung‘.
2.3.3 (K)eine machtpolitische Rolle für Europa Internationale Organisationen spielen in der internationalen Politik lediglich eine Rolle als verlängerter Arm mächtiger Staaten. Keinesfalls ist davon auszugehen, dass internationale Organisationen bzw. ihre Organe Entscheidungen treffen können, die die Souveränität der mächtigen Staaten in irgendeiner ernsthaften Art und Weise beeinträchtigen. Zwar lässt sich beobachten, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die mächtigen Staaten Mitglieder in diversen internationalen Organisationen geworden sind. Und es ist auch offensichtlich, dass sich die Art des diplomatischen Umgangs – zumindest vordergründig – verändert hat: Auch mächtige Staaten müssen größere Anstrengungen unternehmen, um ihre Anliegen konsensfähig zu machen⁶⁵. Aber das besagt nichts anderes, als dass mächtige Staaten den institutionellen Apparat internationaler Organisationen mithilfe der dort vorfindlichen Mechanismen für ihre eigenen Zwecke nutzen. Auch und gerade die Mitgliedschaft mächtiger Staaten in internationalen Organisationen folgt den Gesetzmäßigkeiten des Machtgleichgewichts. Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, der WTO-Ministerkonferenz, des NATO-Rats, oder des Rats der Europäischen Union (EU) spiegeln immer den momentan herrschenden Konsens der mächtigen Staaten innerhalb und außerhalb solcher Organisationen hinsichtlich einer Korrektur an den bestehenden Machtverhältnissen. Was auch immer internationale Organisationen scheinbar zu leisten imstande sind, wird schlussendlich ermöglicht und/oder begrenzt durch die unsichtbaren Mechanismen des Machtgleichgewichts.
65 Vgl. Hans J. Morgenthau, Politics Among Nations, a. a. O., 473–474: „First of all, the measure must be presented in language reflecting the common interests of the prospective members of the twothirds majority rather than the interests of a particular nation or more limited group of nations. This linguistic transformation may frequently amount to no more than the ideological justification and rationalization of national policies in terms of supranational ones. […] The same result will be directly and almost inevitably achieved in the course of the negotiations by which a two-thirds majority in support of the resolution is formed. […] In large measure, however, the distribution of material power between the nations seeking support for a policy and the nations whose support is sought will decide the extent to which the former must give way in order to gain that support. For the nations that can afford to do so will use their power as a lever through which to gain concessions and avoid making them. It is here that old and new diplomacy merge.“
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2.3.3.1 Die Europäische Union im Kontext des Machtgleichgewichts Die europäische Integration verdankt ihren Beginn in den 1950er-Jahren des 20. Jahrhunderts zwei strategischen Überlegungen aufseiten der USA sowie der sechs Gründungsstaaten: „[…] zum einen, eine Barriere zu bilden gegen die drohende imperialistische Expansion der Sowjetunion – dafür brauchte man neben anderen auch die Deutschen –, und zum anderen, dauerhaft die Deutschen einzubinden.“⁶⁶ Die europäische Integration hatte für die beiden Westalliierten USA und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und während des Ost-West-Konflikts die doppelte Funktion, die Sowjetunion als eine äußere und Deutschland als eine innere Bedrohung abzuwehren. Offensichtlich ist die Bedrohung durch die Sowjetunion seit dem Ende des Ost-West-Konflikts verschwunden; Russland stellt gegenüber der heutigen EU nicht annähernd eine der Sowjetunion vergleichbare Bedrohung dar. Anders verhält es sich mit der Bedrohung durch Deutschland: Das strategische Motiv einer dauerhaften Einbindung Deutschlands wird – zumal seit der deutschen Wiedervereinigung und zumal für Frankreich und die unmittelbar an Deutschland angrenzenden Nachbarstaaten – für das ganze 21. Jahrhundert prägend sein⁶⁷. Freilich haben sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der deutschen Wiedervereinigung fundamentale Voraussetzungen für die strategische Bedeutung der europäischen Integration verändert. Einerseits ist die europäische Integration eingebettet worden in eine politische Union mit fast 30 Mitgliedstaaten, deren Stellung zueinander sich durch zum Teil große Machtunterschiede auszeichnet; andererseits hat die USA ihre Haltung gegenüber der EU vor dem Hintergrund neuer Machtverteilungen einer tief greifenden Neuausrichtung unterzogen. Die Erweiterungen in den 1990er-Jahren und während der ersten Dekade des neuen Jahrtausends haben nicht nur das Funktionieren des europäischen Institutionengefüges erschwert; Mit der Vergrößerung der Zahl der Mitglieder hat auch die Heterogenität innerhalb der EU zugenommen. Bis in die 1990er-Jahre konnte die europäische Integration, trotz zwischenzeitlicher Stillstände, durch einen auf Basis rationaler Interessen gefundenen Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland intensiviert werden. Mit der versuchten Einbettung der wirtschaftlichen Integration in eine politische Union und der sukzessiven Erweiterung der politischen Union um Staaten aus dem ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion sind die Reibungsflächen innerhalb der EU größer geworden. Die EU fußt seit 1992 neben dem Binnenmarkt auch auf einer Zusammenarbeit der Regierungen in Fragen der Innen- sowie der Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang hat die Artikulation nationaler Interessen sowohl auf der Seite neuer Mitgliedstaaten wie z. B. Polen oder Ungarn als auch auf der Seite etablierter Mitgliedstaaten wie Großbritannien und Italien an Schärfe gewonnen. Das Misstrauen gegenüber dem Versuch einer außen- und sicherheitspolitischen 66 Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen (München: Siedler, 2004), 203. 67 Ebda.
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Instrumentalisierung der EU durch das wiedervereinigte Deutschland ist gewachsen. EU-Mitgliedstaaten wie z. B. Italien wachen argwöhnisch über etwaige Status- und Einflussgewinne Deutschlands auf ihre Kosten. Die Heterogenität unter den aktuell 28 Mitgliedstaaten erschwert die Einbindung Deutschlands in dem Maße, wie steigendes Misstrauen gegenüber dem potenziellen Hegemon Deutschland in einer stärkeren Betonung nationaler Interessen zum Ausdruck kommt. Die Forcierung nationaler Interessen auf der Seite zahlreicher EU-Mitgliedstaaten ist gleichbedeutend mit einem Verlust an politischen Gemeinsamkeiten. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist vor diesem Hintergrund bereits zu einem gewissen Teil Realität geworden. Auch in Zukunft wird die politische Rolle der EU wahrscheinlich vor allem durch die Führung des Tandems Frankreich-Deutschland geprägt werden. Nach wie vor erscheint sowohl Frankreich als auch Deutschland eine enge Zusammenarbeit aus Gründen des nationalen Interesses geboten. „Keiner von beiden könnte in Europa einen gewichtigen Partner finden, mit dem eine ähnlich weitgehende Übereinstimmung der nationalen Interessen und der politischen Kulturen gegeben ist.“⁶⁸ Denkbar wäre zwar, dass auch die anderen Gründungsstaaten Italien, Holland, Belgien und Luxemburg zumindest teilweise noch eine gemeinsame Interessenbasis mit Frankreich und Deutschland erkennen. Daraus würde dann der innere Kern der EU entstehen, der zwar politisch nicht immer an einem Strang ziehen würde – wie die unterschiedlichen Loyalitäten während des Irakkriegs 2003 verdeutlichen –, der aber in Fragen der Währung, der Grenzkontrollen und außen- bzw. sicherheitspolitischer Aufgaben noch einen gemeinsamen Nenner finden könnte. Die anderen Mitgliedstaaten der EU befinden sich demgegenüber in äußeren und sogar peripheren Kreisen; sei es, weil sie aufgrund ihres fehlenden wirtschaftlichen und politischen Gewichts kaum Einfluss auf die Politik im Kern der EU ausüben können; oder sei es, weil sie fürchten, bei gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Projekten weniger Prestige und Einfluss zu gewinnen, als die Gruppe um Frankreich und Deutschland. Zumal fehlt den Mitgliedstaaten der EU der wichtigste Grund, um sich außen- und sicherheitspolitisch zu arrangieren: eine akute Bedrohung von außen, die dringender erscheint als eine Kontrolle der Machtpolitik Deutschlands. Das politische Gewicht der EU steht und fällt mit der Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, die EU nicht nur in Fragen des Binnenmarkts und des Außenhandels, sondern auch außen- und sicherheitspolitisch auf eigene Füße zu stellen. Nicht zuletzt die Kriege im Balkan während der 1990er-Jahre haben gezeigt, dass die EU eine ernst zu nehmende Rolle in der Weltpolitik nur einnehmen kann, wenn die Mitgliedstaaten außenpolitisch mit einer Stimme sprechen und die Union in die Lage versetzen, militärisch zu handeln. Dazu fehlt den Mitgliedstaaten, die dazu in der Lage wären, jedoch der Anreiz, „[…] denn weil die EU kein nennenswertes Problem der Selbstverteidigung hat, besteht fast
68 Ebda. 219.
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überall in Europa nur eine vergleichsweise geringe Neigung zur Rüstung.“⁶⁹ Die aufgrund gegenseitigen Argwohns mangelnde Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten zum Aufbau eigener Verteidigungskapazitäten verurteilt die EU mittel- und langfristig zu einem Zwergendasein in politischer Hinsicht. Eine eigenständige Rolle der EU als einflussreicher Akteur, geschweige denn eine machtpolitische Rivalität zwischen der EU und den USA steht im 21. Jahrhundert nicht zu erwarten. Dies liegt auch darin begründet, dass die EU nur eine eigenständige politische Rolle zu spielen imstande wäre, wenn und insofern einzelne Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Abhängigkeiten von der USA verringern würden. Nicht zuletzt in sicherheitspolitischen Fragen existieren strategische Verbindungen zwischen der USA und Großbritannien, neuerdings hat sich auch Polen mit der USA über die Stationierung eines Raketenabwehrschirms geeinigt. Alle Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes, die der EU beigetreten sind, messen der NATO in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht größere Bedeutung zu und sehen in einem Bündnis mit den USA die verlässlichste Garantie ihrer nationalen Sicherheit. Auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass diese Staaten solche Verbindungen angesichts unilateraler Reflexe aufseiten der USA durchaus kritisch hinterfragen, so bleibt dennoch festzustellen, dass die USA vor allem im Rahmen der NATO für viele EU-Mitgliedstaaten der wichtigste Ansprechpartner in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geblieben ist. Die USA wiederum hat die NATO seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als einen der wichtigsten Trümpfe betrachtet, um in Europa sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten der EU als auch gegenüber Russland macht- und sicherheitspolitisch einflussreich zu bleiben. Selbst vorsichtige Initiativen der Europäer, namentlich Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands, im Rahmen der ESVP mehr Autonomie in sicherheitspolitischen Fragen zu gewinnen, hat die USA mit offen zur Schau getragenem Missfallen quittiert. Umso mehr steht zu erwarten, dass die machpolitisch agierenden Kräfte in Washington gegenüber Emanzipationsbestrebungen der Europäer mit einer Politik des divide et impera und gezielten Finanzhilfen an loyale Staaten reagieren, um jedwede Einigkeit Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik im Keim zu ersticken⁷⁰.
2.3.4 Kontrollfragen – – – – – –
Was ist politische Macht? Wann ist Machtpolitik klug bzw. unklug? Wie lässt sich kluge/unkluge Machtpolitik erkennen? Inwiefern sorgt das Gleichgewicht der Mächte für Frieden? Wie beschränkt das Völkerrecht nationale Machtpolitik? Warum gibt es keine Alternative zum prekären Gleichgewicht?
69 Ebda. 221. 70 Ebda. 220.
3 Die Logik der Bilder und das Problem der Analyseebene Der klassische Realismus fragt danach, wie und warum es in der internationalen Politik, trotz gewisser Pathologien in der menschlichen Natur, zu Frieden kommt. Realisten haben zu zeigen versucht, dass Krieg aus unvernünftigen Entscheidungen resultiert, und dass Frieden als ein Gleichgewichtszustand zu verstehen ist, der auf kluge machtpolitische Handlungen zurückgeht. In einer während der 1950er-Jahre einsetzenden Debatte haben amerikanische Wissenschaftler wie z. B. Kenneth N. Waltz darauf hingewiesen, dass die menschliche Natur nur einer, und nicht einmal der entscheidende Grund für den Ausbruch von Kriegen ist. Aus der politischen Ideengeschichte, so das Argument, lassen sich noch zwei weitere Vorstellungen von Kriegsursachen ableiten. Neben der menschlichen Natur lassen sich auch die Beschaffenheit des Staates und/oder die des internationalen Systems als mögliche Kriegsursachen denken. Jede dieser Vorstellungen, d. h. jedes Bild von möglichen Kriegsursachen, gehorcht dabei einer ‚Logik der Bilder‘ von internationaler Politik⁷¹. Unter vielen Vertretern des mainstreams der Disziplin hat die Übersetzung dieser Logiken in theoriegeleitete und methodische Analysen das berühmt gewordene ‚Problem der Analyseebenen‘⁷² aufgeworfen. Die Unterscheidung zwischen zwei Analyseebenen konzipiert den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen als zwei abgeschlossene Räume: den Raum der Außenpolitik und den Raum der internationalen Politik. Zudem weist die Dichotomie der beiden Analyseebenen zwei unterschiedliche Ursachenkomplexe als unabhängige Variablen aus: innerstaatliche und systemische Ursachen. Die Rigidität, mit der die Ebenen und ihre Ursachenkomplexe unterschieden wurden, schien keine Möglichkeit vorzusehen, innerstaatliche und systemische Faktoren bei der Erklärung von Politikergebnissen miteinander zu verknüpfen – auch deswegen, weil die relevanten Untersuchungsergebnisse von vornherein als außenpolitische Entscheidungen oder als systemische Interaktionsprozesse konzipiert wurden. Ursprünglich war die Unterscheidung zwischen zwei Analyseebenen gedacht als eine Vereinfachung, die methodologisch und konzeptuell saubere Analysen erleichtern sollte. In der Zwischenzeit scheint allerdings selbst im mainstream der Disziplin jeder etwaige Konsens über die Eignung der Unterscheidung brüchig geworden zu sein⁷³. Tatsächlich spricht
71 Vgl. Kenneth N. Waltz, Man, the State, and War: A Theoretical Analysis (New York: Columbia Univ. Press, 1959). 72 Vgl. David Singer, The Level-of-Analysis Problem in International Relations, World Politics, vol. 14 (1961), 77–92. 73 Siehe zum Beispiel die zunehmende Prominenz von Analysen, die dem ‚neoklassischen Realismus‘ zuzuschreiben sind (vgl. auch Kapitel 5 in diesem Buch); und vgl. auch die Perspektive, die eine ‚Mehrebenenpolitik‘ im Kontext globalen Regierens als geeigneten Untersuchungsrahmen vorschlägt (Kapitel 11 in diesem Buch).
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viel dafür, dass Ursachen für relevante Ergebnisse der internationalen Beziehungen immer auf mehreren Ebenen liegen und sich als solche gegenseitig verstärken⁷⁴.
3.1 Die Logik der Bilder von internationaler Politik 3.1.1 Das erste Image Wissenschaftler, die internationale Beziehungen aus dem Blickwinkel des ersten Bildes (1st Image) wahrnehmen, lokalisieren die primären Ursachen für relevante politische Geschehnisse im Wesen und/oder im Verhalten des Menschen. Eine charakteristische Erscheinung der internationalen Beziehungen wie z. B. ‚Krieg‘ ist aus dieser Sicht bedingt durch Egoismus, aggressive Impulse und/oder Dummheit. Da solche Eigenschaften nicht erworben, sondern angeboren und damit ‚wesentlich‘ für den Menschen sind, ist es völlig unbegründet, von einem leichten und schnellen Ausweg aus dem Dilemma des Krieges auszugehen. Allerdings gibt es zwei unterschiedliche Einschätzungen dahingehend, wie – auf der Basis dieser Diagnose – Wissenschaftler an die Theoriebildung schreiten und wie Entscheidungsträger das Problem lösen sollten: eine eher pessimistische und eine eher optimistische. Pessimisten, die children of darkness, negieren die Möglichkeit, dass die asozialen Anlagen des (politischen) Menschen durch Erziehung und institutionelle Mechanismen geformt werden können. Sie insistieren darauf, dass die soziale Wirklichkeit oft nur schön und geordnet erscheint. Momentan funktionierende Mechanismen, die das Übel der Welt in Schranken halten, mögen für sich genommen wertvoll und sogar begrenzt zuverlässig sein. Dennoch ist zu erwarten, dass ein allgemeiner und permanenter Gleichklang zwischen den Kräften an dem sich immer wieder manifestierenden Defekt in der Natur des Menschen scheitert: Die Leidenschaften des Menschen verführen immer wieder zu Egoismus und triebgesteuertem Handeln. Und wenn das nicht reicht, dann entsteht spätestens aus dem Wettbewerb zwischen Egoisten um knappe Güter Konflikt. Optimisten, die children of light, gehen davon aus, dass die Wirklichkeit geordnet werden kann. Existierende Schwierigkeiten sind nur oberflächlich und temporär. Eine starke Regierung ist in der Lage, die Entfaltung der konflikthaften menschlichen Neigungen durch entsprechende Maßnahmen zu kontrollieren. Die Triebhaftigkeit des Menschen kann durch Erziehung und entsprechende Einrichtungen gezähmt werden. Die Förderung der guten Eigenschaften im Menschen vermag sein Konfliktverhalten zu ändern und schlussendlich sogar den Abschied von Krieg und Zerstörung zu ermöglichen.
74 Vgl. Michael Brecher, International Studies in the Twentieth Century and Beyond: Flawed Dichotomies, Synthesis, Cumulation: ISA Presidential Adress, International Studies Quarterly, vol. 43 (1999), 213–264.
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In beiden Sichtweisen des ersten Images wird davon ausgegangen, dass Krieg aus dem menschlichen Trieb resultiert. Nach Waltz greifen beide dieser Vorstellungen vom Menschen als primärer Kriegsursache zu kurz. Auf der einen Seite begehen 1st Image-Theoretiker den ‚psychologistischen Irrtum‘: Ergebnisse wie z. B. Krieg werden nicht ‚verursacht‘ durch die Neigungen und Verhaltensweisen des Menschen. Krieg kann nicht einfach als Resultat aggregierter Verhaltensweisen verstanden und durch Verweis auf die psychischen Attribute einzelner Akteure erklärt werden. Auf der anderen Seite begehen 1st Image-Theoretiker auch oft den ‚soziologistischen Irrtum‘: Krieg resultiert nicht alleine aus dem ungezügelten Wettlauf egoistischer Akteure um knappe Güter. Wenn das so wäre, könnte die Umgebung der Akteure, d. h. v. a. ein System politischer Institutionen, diesen Wettlauf regulieren. Die Betonung von Neigung und Wettbewerb konzentriert sich laut Waltz nur auf sekundäre Faktoren. Das erste Image lässt die primär wichtigen Ursachen des Krieges völlig außer acht. Bei der Entstehung von Kriegen sind Faktoren im Spiel, die nur aus einer umfassenderen Perspektive sichtbar werden, die auch das zweite Image mit seiner Betonung der Rolle des Staates bzw. seiner internen Organisation nicht zu liefern vermag.
3.1.2 Das zweite Image Wissenschaftler, die internationale Beziehungen aus dem Blickwinkel des zweiten Bildes (2nd Image) wahrnehmen, relativieren die Natur des Menschen als unabhängige Variable und betonen stattdessen die interne Organisation der Staaten. Nicht persönliche Neigungen, sondern die Art der Regulierung von Triebhandeln und Wettbewerb im Innern der Staaten sind ursächlich für Krieg. Der entscheidende Impuls kommt von der Konstitution der Staaten. Für Anhänger einer eher pessimistischen Sichtweise hat der Staat die Aufgabe, Stabilität zwischen konkurrierenden Gruppen zu wahren. Zu diesem Zweck, um im Innern des Staates Einheit herzustellen, führen Machthaber Krieg gegen andere Staaten. Anhänger einer eher optimistischen Sichtweise führen Krieg auf die fehlende Kontrolle von Regierungen zurück und betonen die Wichtigkeit der Teilhabe vernünftiger Schichten an der Außenpolitik. 2nd Image-Pessimisten sind nicht einhellig der Meinung, dass Krieg immer auf den Versuch eines Herrschers zurückzuführen ist, im Innern Einheit herzustellen. Es gibt genügend Stimmen, die sich der Argumentationsfigur von Hobbes bedienen: Ausgangspunkt dabei ist die Unfähigkeit von menschlichen Individuen, sich in einer Art Gesellschaft zusammenzuschließen und so Stabilität und Ordnung zu garantieren. Individuen brauchen einen starken Staat, der sie daran hindert, sich gegenseitig zu zerfleischen. Ein starker Staat mit absolutem Herrscher würde z. B. stärkere Akteure davon abhalten, schwächere zu vernichten, indem er seine Kraft Letzteren zur Verfügung stellt, um das existierende Ungleichgewicht auszugleichen. Ein starker Staat, der so in der Lage ist, trotz der widerstreitenden Interessen seiner Bürger Stabilität nach innen zu wahren, ist auch in der Lage, die Funktionen zu übernehmen,
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die notwendig sind, um für Stabilität zwischen Staaten zu sorgen. Starke Staaten sind aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Konstellation in ihrem Inneren in der Lage, flexibel auf Ungleichgewichte zwischen sich und anderen Staaten zu reagieren. Schwache Staaten bergen dagegen die Gefahr, dass sich die Instabilität in ihrem Innern ständig in die Welt der zwischenstaatlichen Beziehungen übersetzt. Krieg ist nach dieser Meinung eher ein Resultat innerstaatlicher Instabilität. Optimisten betonen die zivilisatorische Wirkung wirtschaftlicher Tätigkeit zwischen den von willkürlichen Gängelungen befreiten Besitzbürgern im Inneren des Staates. Der profitorientierte Austausch von Waren ermöglicht den Bürgern die Vermehrung ihres Eigentums und vergrößert gegenseitige Abhängigkeiten. Aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit legen Unternehmer und Handeltreibende zu ihrem eigenen Vorteil immer mehr tugendhafte Verhaltensweisen an den Tag und entwickeln eine bürgerliche Moral – und sei es auch nur aus dem Grund, dass sie dadurch bessere Geschäfte machen. Unternehmer und vermögende Bürger handeln auf der Basis einer grundlegenden (bürgerlichen) Interessenharmonie: Sie lehnen den Einsatz von Gewalt ab, weil jeder Krieg einen Verlust von Hab und Gut, möglicherweise sogar des eigenen Lebens mit sich bringt. Damit sich der liberale bürgerliche Impuls mäßigend in der Außenpolitik niederschlägt, bedarf es einer Rückbindung der Herrschaft an die bürgerlichen Interessen. Die Bürger entreißen Herrschern und dem Adel die absolute Regierungsgewalt und errichten eine bürgerliche Volksherrschaft. Die Einrichtung von sich gegenseitig kontrollierenden politischen Institutionen (Legislative, Exekutive, Judikative) sorgt dafür, dass Staatsaufgaben durch eine gewaltengeteilte Regierung und damit im Sinne der bürgerlichen Vernunft wahrgenommen werden. In ihrem Außenverhalten sind solche ‚demokratischen‘ Staaten friedfertig; einerseits, weil sie von anderen demokratischen Staaten nicht als Aggressoren wahrgenommen werden wollen; andererseits, weil die Regierung solcher Staaten unter dem Postulat handelt, das bürgerliche Staatsvolk nicht unter den Folgen des Krieges leiden zu lassen. Allerdings unterscheiden sich nicht-interventionistische von interventionistischen bürgerlichen Staaten in ihrem Außenverhalten: Erstere lehnen den Einsatz von kriegerischer Gewalt kategorisch ab und heißen Gewalt nur zum Zweck der Selbstverteidigung gut; Letztere verstehen kriegerische Gewalt als legitimes Mittel, um nicht-demokratische Staaten zu demokratisieren. Im Namen der Demokratisierung führen interventionistische liberale Staaten immer wieder Kriege gegen autokratische Staaten, deren Machthaber sie als illegitim einschätzen. Der Krieg dient dem Zweck, den Völkern in solchen Staaten die Freiheit zu bringen. Auf lange Sicht, so die Erwartung, hilft die Demokratisierung von immer mehr nicht-demokratischen Staaten dabei, die Zone des ‚demokratischen Friedens‘ auszuweiten. Nach Waltz ist das Problem von 2nd Image-Theorien dasselbe wie bei 1st ImageTheorien: Die Aussage, dass Staaten für den Lauf der Dinge in den internationalen Beziehungen verantwortlich sind, ist nicht falsch, aber sie ist unvollständig. Staatliches Handeln ist zu einem gewissen Teil abhängig von der Beschaffenheit des Staates. Das ist aber für die Erklärung staatlichen Handelns bzw. zwischenstaatlicher In-
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teraktionen nicht genug. Auch die Umwelt, in der sich Staaten befinden, beeinflusst die Verhaltensweisen der Staaten. Vom Inneren der Staaten auf Vorkommnisse der internationalen Beziehungen in toto zu schließen, ist unzureichend, wenn man nicht den Einfluss der Umwelt bzw. des internationalen Systems auf Staaten untersucht hat.
3.1.3 Das dritte Image Wissenschaftler, die internationale Beziehungen aus dem Blickwinkel des dritten Bildes (3rd Image) beobachten, betonen den Umstand, dass es im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen keine zentrale Regierung mit Sanktionsgewalt gibt. Die anarchische Umwelt der Staaten übt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Denken und Handeln der Staaten aus. Zum einen führt die unsichere Lage dazu, dass Staaten von innen heraus eine Einheit bilden. Furcht vor den Unwägbarkeiten des zwischenstaatlichen Verkehrs bringt die Staatsangehörigen dazu, nach außen mit einer Stimme zu sprechen. Zum anderen bedeutet Anarchie, dass dieser kollektive Wille selbst nicht unter einer höheren Autorität steht. Gerade weil jeder Staat am Ende Richter in eigener Sache ist, besteht immer die Gefahr, dass ein Staat Gewalt anwendet, um seine Ziele zu erreichen. Und weil potenziell jeder Staat zu jedem beliebigen Zeitpunkt Gewalt anwenden kann, müssen alle Staaten ständig darauf vorbereitet sein, den Einsatz von Gewalt durch Anwendung von Gegengewalt abzuwehren; andernfalls riskieren sie ihr Überleben. Diese Dilemmasituation, die durch den für alle gleichermaßen virulenten Zustand der Anarchie bedingt ist, lässt Staaten keine Wahl. Sowohl demokratische als auch nicht-demokratische Staaten stehen unter einem für sie gleichermaßen schicksalhaften Einfluss des Sicherheitsdilemmas. Die interne Verfasstheit der Staaten erweist sich so lange als irrelevant, bis alle Staaten einen Gemeinwillen verfolgen, sich in ihrem Außenverhalten selbst auferlegten Beschränkungen unterordnen, und diese durch Zwangsmaßnahmen einer höheren Instanz sanktionieren lassen. Ob eine solche Konstellation existiert bzw. im Entstehen begriffen ist, hängt ab von der Einschätzung auf Seiten wissenschaftlicher Beobachter. Auch diesbezüglich lassen sich zwei Einschätzungen unterscheiden. Pessimisten betonen den für sie unbestreitbaren Sachverhalt, dass Staaten niemals mit einer Stimme sprechen und gemeinsam Frieden herstellen, da sie keinen Grund haben, sich gemeinsam gegen eine äußere Gefahr zu verteidigen. In einem anarchischen Zustand sind sich Staaten, ganz gleich ob demokratisch oder autokratisch verfasst, selbst die größten Feinde. Der Umstand, dass jeder Staat einen souveränen Willen besitzt und angesichts der systembedingten Unsicherheit immer zuerst sein eigenes Überleben im Auge hat, bringt es mit sich, dass das internationale Milieu fragmentiert. Konflikte und Zusammenstöße zwischen Staaten sind vorprogrammiert. Ein einzelner Staat ist in der Lage, durch die Umsetzung seines partikularen Willens eine gewalttätige Reaktion auf der Seite anderer Staaten hervorzurufen. Anders ausge-
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drückt: Die Anarchie des zwischenstaatlichen Verkehrs verhindert das Heraufziehen einer grundlegenden Interessenharmonie zwischen Staaten. Dabei sind zwar die konkreten Aktionen einzelner Staaten immer die entscheidenden Anlässe für Konflikte und Krieg, aber ohne die anarchische Struktur würden Staaten überhaupt nicht in die Situation kommen, solche Anlässe zu liefern. Optimisten betonen dagegen die Möglichkeit, dass die großen Mächte Einigung darüber herstellen, eine Föderation zu bilden und damit eine neue überstaatliche Autorität einzurichten. In dieser Föderation, in der sowohl demokratische als auch nicht-demokratische Staaten teilnehmen können, sorgt eine Institution mit Legislativfunktion für verbindliche Regeln; eine Institution mit Sanktionsgewalt übernimmt die Aufgabe, Regelverletzungen zu ahnden; und als eine stabile Gemeinschaft hält die Föderation jeden Staat davon ab, nach eigenem Belieben aus der Föderation auszutreten, wenn er seine Interessen dem Kollektivwillen unterzuordnen hat.
3.2 Das Problem der Analyseebenen Angestoßen durch die Differenzierung zwischen verschiedenen Bildern und motiviert durch die wachsende Unzufriedenheit mit der in den 1950er-Jahren vorherrschenden Fokussierung auf den einheitlichen Staat und seine Außenpolitik haben Wissenschaftler der IB in den 1960er-Jahren begonnen, einerseits das Milieu der Staaten, das sogenannte internationale System, zu ihrem Analyseobjekt zu machen, und andererseits die Konzeption des Staates als black box zu hinterfragen. Für die Befürworter einer systemaren Analyse ist internationale Politik mehr als die Summe nationaler Außenpolitiken. Zusätzlich zum Modell der ‚Außenpolitik‘ braucht man ein analytisches Modell zur Erforschung der ‚internationalen Politik‘, um Faktoren und Ursachen zu erkennen, die mit einem Fokus auf die ‚Analyseebene‘ des staatlichen Akteurs nicht in den Blick kommen. Die Befürworter einer anspruchsvolleren Analyse außenpolitischer Entscheidungen auf der Ebene des staatlichen Akteurs haben dagegen versucht, die objektivistische Herangehensweise an Verhaltensweisen und die diesen zugrunde liegenden Ursachen zu überwinden. Mit dieser Differenzierung zwischen der ‚systemaren‘ und der ‚subsystemaren‘ Analyseebene sowie objektivistischen und phänomenologischen Untersuchungen auf letzterer Analyseebene sind besondere Akzentsetzungen in der Beschreibung von Phänomenen, ihrer Erklärung sowie ihrer Prognose einhergegangen⁷⁵.
75 Wie bereits oben erwähnt, erstreckte sich die Diskussion über die Analyseebenenproblematik nicht nur auf Argumente pro und kontra die Ebene des internationalen Systems und die Ebene des außenpolitischen Akteurs. Mit zunehmender Unzufriedenheit über die Konzeption des Staates als black box wurde außerdem die Rolle von Einzelpersonen sowie die Rolle von Gruppen bzw. (bürokratischen) Institutionen in der Außenpolitik thematisiert. Die Diskussion über die Analyseebenen der IB erstreckte sich streng genommen auf Ursache-Wirkung-Beziehungen zwischen Strukturen, Verhal-
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3.2.1 Die systemare Ebene der Analyse Die Vorstellung vom Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen als ein komplexes Beziehungssystem hat es erlaubt, den Blick auf Tendenzen und typische Interaktionsmuster zwischen allen relevanten Staaten zu richten. Die Analyse auf der systemaren Ebene bietet dabei den Vorteil großer Reichhaltigkeit. Das deskriptive Erkenntnisinteresse gilt den charakteristischen Handlungs- und Interaktionsmustern zwischen Staaten, z. B. ‚Krieg‘, ‚Kooperation‘, ‚Organisation‘ usw. Der Nachteil dieser Fokussierung besteht in einem relativen Mangel an Detail, insofern eben nicht die Entscheidungen einzelner Staaten in den Blick genommen werden. Das kausale Erkenntnisinteresse gilt den Gründen für das Zustandekommen typischer Handlungsmuster. Diese Gründe bleiben notwendigerweise relativ ab- strakt, da dem System als einem imaginären Raum der entscheidende Einfluss auf das Handeln der Staaten eingeräumt wird. Systemtheoretische Erklärungen tendieren dazu, die Wirkung des Systems auf die Akteure zu überschätzen und den Einfluss der Akteure auf das System zu unterschätzen. Akteure der internationalen Politik erscheinen nicht nur als gleichförmige, sondern auch als quasi-determinierte Elemente eines eigenwilligen Systems. Ihr Handlungsspielraum ist extrem eingeschränkt. Sie erweisen sich als eindimensionale Akteure, die ihr Verhalten nach vorgegebenen Zwängen ausrichten, ohne dabei von eigenen Motiven geleitet zu sein. Unterschiede zwischen den Akteuren in kultureller, ideologischer, oder konstitutioneller Hinsicht spielen demnach so gut wie keine Rolle für die Erklärung. Vermeintliche Regelmäßigkeiten in den Handlungsmustern zwischen Staaten dienen zur Voraussage, dass sich diese oder ähnliche Regelmäßigkeiten auch in Zukunft beobachten lassen werden.
3.2.2 Die subsystemare Ebene der Analyse Der Blick auf die internationale Politik als Summe nationaler Außenpolitiken erlaubt es, Entscheidungen von Staaten zu untersuchen. Die Analyse auf der subsystemaren Ebene bietet den Vorteil großer Detailgenauigkeit. Der Nachteil dieser Herangehensweise besteht im relativen Mangel an Reichhaltigkeit. Das deskriptive Erkenntnisinteresse gilt nicht typischen Interaktionen und Handlungsmustern zwischen mehreren Staaten, sondern typischen und besonderen Entscheidungshandlungen einzelner Staaten. Das kausale Erkenntnisinteresse gilt den Gründen für das Zustandekommen charakteristischer Entscheidungen. Wissenschaftler, die sich darum bemühen, die Ursachen außenpolitischer Handlungen objektivistisch zu bestimmen, stehen jedoch oft vor dem Problem, all diejenigen Aspekte ausklammern zu müssen, die nur bei einer phänomenologischen Herangehensweise berücksichtigt werden können. tensweisen und Beziehungen auf vier Akteursebenen. Vgl. Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus, a. a. O., 93.
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Die Logik der Bilder und das Problem der Analyseebene
Objektivistische Analysen basieren auf der Prämisse, dass die Ursachen für außenpolitische Handlungen in gegebenen und für alle Akteure gleichermaßen vorliegenden Faktoren liegen, z. B. in nationalen oder gesellschaftlichen Interessen. Die wissenschaftliche Erklärung besteht darin, komplexe empirische Sachverhalte zunächst mithilfe abstrakter analytischer Konzepte (Staat, Interesse, Macht usw.) zu vereinfachen und diese Konzepte dann im Sinne von Abhängigkeitsbeziehungen darzustellen. Mit der realistischen Theorie kann man in diesem Sinn davon sprechen, dass Staaten in ihrem Außenverhalten von einem im Sinne von Macht definierten Interesse getrieben werden und in der großen Regel bestrebt sind, Machtvorsprünge ausgleichen. Die relevanten Entscheidungsträger werden dabei vereinfachend als ‚Staat‘ konzipiert, die vielfältigen Orientierungen und Motive werden vereinfachend als ‚nationales Interesse‘ konzipiert; der Inhalt dieser Motive wird vereinfachend als ‚Machtstreben‘ konzipiert; und das Ergebnis solcher Handlungen wird vereinfachend als ‚Gleichgewicht‘ konzipiert. Die Erklärung liegt hier in dem analytischen Satz, dass Staaten ein Gleichgewicht herstellen, weil ihr nationales Interesse sie nach Macht streben lässt. Die analytischen Konzepte des Satzes, nämlich ‚Staat‘, ‚Gleichgewicht‘, ‚Interesse‘, ‚Macht‘, sind rein formal und beziehen sich als solche – gemessen am zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen Anspruch – auf objektive Sachverhalte. Phänomenologische Analysen führen Ursachen zurück auf das Phänomenale, d. h. auf das, was konkrete Menschen mit ihren Sinnesorganen wahrnehmen. Nicht objektive Faktoren sondern diejenigen Kräfte, die von kompetenten Menschen auch wahrgenommen und in einem ganz spezifischen Sinn verstanden werden, wirken ursächlich auf das politische Verhalten. Aus dieser wissenschaftstheoretischen Perspektive kommt keine wissenschaftliche Erklärung umhin, die Rolle von Erkenntnis und Wahrnehmung auf der Seite relevanter politischer Akteure zu problematisieren. Berücksichtigt wird also, dass Akteure die Welt, in der sie sich befinden, auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrnehmen, und dass sie aufgrund der sich aus dieser Wahrnehmung ergebenden Möglichkeiten und Erfordernisse handeln. Für Wissenschaftler, die eine phänomenologische Herangehensweise präferieren, steht es außer Zweifel, dass bei der Suche nach Ursachen nicht so sehr entscheidend ist, was Wissenschaftler sehen, sondern wie die untersuchten Akteure die Welt in ihrem jeweiligen Handlungskontext verstehen⁷⁶. Dabei ist oft strittig, ob die immateriellen Kräfte der internationalen Politik überhaupt empirisch fassbar sind. Wie nämlich soll man als Analyst herausfinden, was die relevanten Akteure der internationalen Politik tatsächlich wahrgenommen und verstanden haben? Noch grundsätzlicher könnte man sogar noch den Akteur selbst hinterfragen. Denn es ist keineswegs geklärt, ob die Akteure 76 Ein Vergleich zwischen den Theorien von Hans J. Morgenthau und Stanley Hoffmann könnte dahingehend interpretiert werden, dass erstere eher das Resultat einer objektivistischen Herangehensweise und letztere eher das Resultat einer phänomenologischen Herangehensweise ist. Klar ist dabei natürlich, dass jeder Vergleich vereinfacht!
Das Problem der Analyseebenen
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der internationalen Politik tatsächlich mithilfe so abstrakter analytischer Konzepte wie der Kategorie des ‚Staates‘ bzw. der ‚Nation‘ bestimmt werden sollten. Oft scheint es nicht nur plausibler sondern auch lohnender für heuristische Zwecke, die entscheidenden Akteure als Individuen bzw. als Gruppen/Institutionen zu konzipieren, die sich von Wahrnehmungen leiten lassen und im Sinne von Routinen verhalten, die auf einer viel konkreteren Handlungs-/Interaktionsebene angesiedelt sind, als derjenigen des Staates. Aus phänomenologischer Sicht besteht die Erklärung dann nicht nur aus einem analytischen Satz mit rein formalen Kategorien, vielmehr werden die Sichtweisen und evtl. sogar die Konzepte der Akteure als ursächlich für Handlungen, Interaktionsverläufe und Resultate dieser Handlungen/Interaktionen ausgewiesen.
3.2.3 Zusammenfassung Die systemare Analyseebene erlaubt eine umfassendere und vollständigere Beschreibung internationaler Politik mithilfe ‚sparsamer‘ Annahmen und ‚eleganter‘ Aussagen über den Gegenstandsbereich des internationalen Systems. Die qua Annahmen am weitesten verbreiteten Interaktionsmuster zwischen Staaten (Konflikt, Kooperation), können wahrgenommen und erklärt werden, ohne dass Wissenschaftler auf eine Vielzahl von Konzepten zurückgreifen müssen. Das heißt natürlich auch, dass andere Interaktionen, wie z. B. die Reproduktion von Abhängigkeit und Unterentwicklung, die dem relevanten Muster qua Annahme nicht entsprechen, ipso facto als irrelevant eingestuft und ignoriert werden. Der Mangel an Reichhaltigkeit systemarer Analysen wird auf der subsystemaren Ebene ausgeglichen durch eine vergleichsweise größere Tiefe und detailliertere Darstellung relevanter Aspekte des Gegenstandsbereichs. Die Erklärung der Geschehnisse auf systemarer Ebene kann unergiebig bleiben, insofern zwischen typischen Interaktionen und Ergebnissen nur Korrelationen und keine Kausalitäten aufgezeigt werden. Demgegenüber bietet die Analyse auf subsystemarer Ebene den Vorteil, dass für außenpolitisches Entscheidungshandeln ursächliche Faktoren (in objektivistischer oder phänomenologischer Manier) herausgearbeitet werden können. Die Analyse auf der subsystemaren Analyse beschränkt sich allerdings auf das Entscheidungshandeln eines Staates oder weniger Staaten. Außenpolitische Untersuchungen dieser Art erlauben keine Aussagen über das System als Ganzes – was von außenpolitischen Analysen in der Regel auch gar nicht angestrebt wird.
4 Neorealismus Die Theorie des Neorealismus wurde in den 1970er-Jahren von Kenneth N. Waltz entwickelt, um Fragen zu beantworten, die im Zuge der Diskussion über die Logik der Bilder und das Analyseebenenproblem auftauchten. Als eine 3rd Image bzw. ‚systemische‘ Theorie sollte die neorealistische Theorie dazu beitragen, den Einfluss der Umwelt auf die Akteure der internationalen Politik konzeptuell und analytisch präziser zu fassen als der klassische Realismus; und andererseits die Schwächen bereits entwickelter systemischer Theorien bei der Erklärung von relevanten Ergebnissen des politischen Prozesses zu überwinden. Nach Waltz’ Meinung waren verfügbare systemische Theorien nicht erfolgreich bei ihrer Lokalisierung der ursächlichen bzw. unabhängigen Variable, weil keine Theorie den entscheidenden Impuls für das Verhalten von Staaten mit einem Begriff kennzeichnen konnte, der sich nicht selbst wieder auf eine Eigenschaft des Staates bezog. Neorealisten sehen den Wert ihrer Theorie v. a. darin, dass sie einen Begriff anbietet, nämlich den Begriff der ‚Struktur‘, mit dem sich der entscheidende Grund für das Verhalten von Staaten als systemischer Einfluss ausweisen lässt. Mithilfe des ‚strukturellen Neorealismus‘ von Waltz wurde es möglich, Gesetzmäßigkeiten in der internationalen Politik zu beschreiben und mit Hinweis auf systemimmanente Kräfte auch anspruchsvoll, d. h. wissenschaftlich zu erklären. Die neorealistische Theorie ist für lange Zeit zur einflussreichsten theoretischen Perspektive der IB geworden. Zahlreiche Wissenschaftler haben versucht, sich über eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Waltz’schen Theorie einen Namen zu machen⁷⁷. Über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren nach ihrer Veröffentlichung hat die Theory of International Politics von Waltz die Forschungs- und Publikationstätigkeiten im amerikanisierten mainstream der Disziplin IB erheblich beeinflusst; mitunter so stark, dass Texte von Autoren mit einem anderen ontologischen und epistemologischen Selbstverständnis, bzw. mit einer Präferenz für andere Sprachstile als denen des Physikalismus und/oder des Ökonomismus so gut wie gar nicht mehr wahrgenommen wurden⁷⁸. Freilich hat die neorealistische Theorie von Anfang an drastische Kritik auf sich gezogen. Beispielsweise wurde darauf hingewiesen, dass Handlungen
77 Vgl. die Modifikation des ‚balance-of-power‘-Theorems durch die Figur des ‚balance-of-threat‘ von Stephen M. Walt, The Origins of Alliances (Ithaca: Cornell University Press, 1987); vgl. das Argument kontra ‚balancing‘ und pro ‚bandwagoning‘ von Randall L. Schweller, Bandwagoning for Profit: Bringing the Revisionist State Back In, International Security, vol. 19 (1994); vgl. die Übertragung des Neorealismus in die Welt der internationalen politischen Ökonomie durch Robert Gilpin, War and Change in World Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1981); vgl. die Historisierung der Theorie durch Barry Buzan, Charles Jones & Richard Little, The Logic of Anarchy. Neorealism to Structural Realism (New York: Columbia University Press, 1993); und vgl. die ‚Soziologisierung‘ der Theorie durch Alexander Wendt, Social Theory, a. a. O. 78 Das beste Beispiel dafür wäre die fast zwei Jahrzehnte währende Ignoranz des amerikanisierten mainstreams gegenüber der Literatur aus der sog. ‚Englischen Schule‘, die der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen mit der Publikation von Hedley Bull, The Anarchical Society: A Study of Order
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Neorealismus
und Interaktionen zwischen Staaten im zwischenstaatlichen Milieu auf ihren Sinn verstanden werden müssen, weshalb die Festlegung auf einen rein materiellen Strukturbegriff als unabhängige Variable absolut irreführend sei⁷⁹. Andere haben eingeworfen, dass Waltz’ Neorealismus normative Sichtweisen völlig ausblendet, und/oder dass er materielle capabilities einfach mit politischer Macht gleichsetzt⁸⁰. Wieder andere haben Waltz’ szientistischen Anspruch kritisiert, Phänomene der internationalen Politik vom raumzeitlichen Kontext abstrahieren und als faktische Gegebenheiten (data) zur empirischen Basis einer zeitlosen Theorie machen zu können. Tatsächlich seien etwa die Ähnlichkeiten zwischen dem griechischen Stadtstaatensystem und dem modernen System der internationalen Beziehungen so oberflächlich, dass theoretische Aussagen, die sich generalisierend auf beide Systeme beziehen, höchst banal anmuten⁸¹. Ähnlich fundamental wurde mit Blick auf die empirische Bestandsaufnahme durch Waltz kritisiert, dass es überhaupt keine eindeutigen Belege für die Waltz’sche Behauptung gebe, Staaten würden sich tendenziell in ein balancingVerhalten flüchten⁸². Schließlich wurde Waltz’ Anspruch, eine formale Systemtheorie mit universaler Erklärungskraft aufzustellen, als abstrakt gehaltenes Plädoyer für den außenpolitischen Kurs der USA eingeschätzt. Waltz’ Buch stehe als Paradebeispiel für die konservative und modernistische Glorifizierung des aktuellen Status quo durch viele amerikanische Autoren, die ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch damit ad absurdum führten⁸³.
in World Politics (London: Macmillan, 1977) fast zeitgleich zum Erscheinen der Theory of International Politics einen ihrer wichtigsten Grundlagentexte zuführte. 79 Vgl. Richard Ashley, The Poverty of Neorealism, International Organization, vol. 38 (1984), 225–286. 80 Vgl. Friedrich Kratochwil, Rules, Norms, and Decisions: On the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), 47. 81 Vgl. Fred Halliday, Rethinking International Relations. Realism and the Neoliberal Challenge (London: Palgrave McMillan, 1994), 34. 82 Vgl. John A. Vasquez, The Realist Paradigm and Degenerative versus Progressive Research Programs: An Appraisal of Neotraditional Research on Waltz’s Balancing Position, American Political Science Review, vol. 91 (1997), 910. 83 Vgl. Jim George, Discourses of Global Politics: A Critical (Re-)Introduction to International Relations (Boulder: Lynne Rienner, 1994), 119–120. Vgl. Hedley Bull, International Relations, Times Literary Supplement (January 4, 1980), 20: „Waltz’s own, truly ‘systemic‘ explanation proves to be an elaborate defence of world politics by the superpowers. […W]hat this argument provides is a reductio ad absurdum of its own starting point. If this first, rigorously ‘systemic‘ account of international politics leads to conclusions so much at loggerheads with common sense as that the superpowers are still dominating world politics and that this is in the best interest of all of us, this suggests that an explanation in terms simply of the abstract logic of the system of states is by itself quite inadequate.“
Prämissen
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4.1 Prämissen 4.1.1 Das internationale System ist eine ‚anarchische‘ Staatenwelt Anarchie bedeutet: Es gibt keine zentrale Sanktionsinstanz. Jeder Akteur (= Staat) muss sich zuerst selbst helfen (Selbsthilfesystem). Jeder Staat übernimmt damit die gleiche Rolle im System (funktionale Gleichheit der Akteure). Die große Bedeutung, die Staaten ihrer Souveränität beimessen, schließt zudem aus, dass sich eine überstaatliche Instanz (=Hierarchie) herausbildet, die durch effektiven Zwang wirksam für Ordnung sorgt.
4.1.2 Akteure haben existenzielle Furcht In einer anarchischen Welt kann sich kein Staat sicher sein, dass andere Staaten ihre militärischen Kapazitäten nicht zum Einsatz bringen (Sicherheitsdilemma). Staaten hegen nicht zwangsläufig kriegerische Absichten; bereits die Möglichkeit, dass ein paar mächtige Staaten angesichts akuter Bedrohungen bereit sind, sich notfalls militärisch zu verteidigen, gebiert eine ständige Furcht auf der Seite aller Staaten vor einem militärischen Konflikt.
4.1.3 Akteure besitzen unterschiedlich große Fähigkeiten, sich zu verteidigen Die Fähigkeit eines Staates, sein Überleben zu sichern, bemisst sich im Nuklearzeitalter vorrangig an seiner Verfügung über Nuklearwaffen (neben biologischen, chemischen und konventionellen Waffen, ausgereifter Technologie und einem fortgeschrittenen Stand in der industriellen Entwicklung). Diese Fähigkeiten sind Ergebnis bisheriger Anstrengungen und zwischen Staaten unterschiedlich verteilt. Die unterschiedliche Verteilung der Fähigkeiten bedingt, dass Entscheidungen aller Staaten wie von einer ‚unsichtbaren Hand‘ primär darauf gelenkt werden, ihre Fähigkeiten zu erhöhen. Staaten unterliegen somit (strukturellen) Zwängen, sich primär auf eine Maximierung ihrer Fähigkeiten zu konzentrieren.
4.1.4 Akteure sichern ihr Überleben durch strategische Sicherheitspolitik In einem anarchischen internationalen System wollen Staaten überleben und ihre Unabhängigkeit (Souveränität) behalten. Staaten kalkulieren erfolgversprechende Maßnahmen strikt nach instrumentellen Gesichtspunkten: Ausschlaggebend ist die Nützlichkeit einer Strategie, gemessen an der Chance zu überleben. Staaten können Fehleinschätzungen unterliegen, weil und insofern sie in einer Welt leben, in der In-
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formationen unvollständig oder fehlerhaft sind. Alle potenziellen Gegner geben sich Mühe, ihre Stärke bzw. Schwäche zu verheimlichen und ihre Absichten zu verschleiern. Deshalb gilt umso mehr, bei der Wahl der richtigen Verteidigungsstrategie größte Sorgfalt walten zu lassen.
4.1.5 Im internationalen System kommt es zu einer Veränderung der Konstellationen Das internationale System unterliegt Veränderungen, insofern sich seine Konstellationen verschieben können. Aus bipolaren können multipolare Systeme werden und umgekehrt. Aus bi- und multipolaren können sich auch unipolare Systeme entwickeln. Unipolare Systeme sind jedoch bereits Vorstufen zu globaler Hegemonie, die es aus Sicht von Neorealisten aufgrund des automatisch einsetzenden Gleichgewichtsmechanismus gar nicht geben kann. Unipolare Systeme sind demzufolge Übergangserscheinungen und nie von langer Dauer. Das internationale System kennt somit Veränderungen innerhalb des anarchischen Systems, aber keine Veränderung des anarchischen Systems hin zu einem hierarchischen System.
4.2 Analytik und Aussagenlogik 4.2.1 Analytik Internationales System Staat Materielle Struktur – Anarchie – Funktionale Gleichheit – Verteilung von Fähigkeiten Wirkung der Struktur – Sozialisation – Wettbewerb Sicherheitsdilemma Selbsthilfe Überlebenskampf
Nullsummenspiel Relative Gewinne Defensive Sicherheitspolitik Balancing-Verhalten – Aufrüstung (Internal Balancing) – Allianzen (External Balancing) Systemkonstellationen: – Bipolarität – Multipolarität – (Unipolarität) Stabilität/Instabilität Veränderung innerhalb des Systems
4.2.2 Aussagenlogik Die neorealistische Theorie von Kenneth N. Waltz interessiert sich weder für eine wie auch immer geartete menschliche Natur, noch für die institutionelle Umgebung poli-
Analytik und Aussagenlogik
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tischer Entscheidungsfindung. Der Einfluss von Faktoren auf der ersten und zweiten Analyseebene ist zwar nicht zu leugnen, dennoch müssen solche Faktoren, um einer ‚eleganten‘ systemischen Erklärung willen, ausgeblendet werden. Relevant für die Erklärung von typischen und immer wiederkehrenden Handlungsmustern ist primär das internationale System. Es besitzt eine Struktur, die das Verhalten aller Einheiten im System (= Staaten) bestimmt. Die Struktur darf nicht so verstanden werden, dass sie selbst bestimmte Ergebnisse produziert. Vielmehr honoriert sie ‚richtige‘ und bestraft ‚falsche‘ Verhaltensweisen⁸⁴. Damit lenkt sie den Prozess der internationalen Politik in eine bestimmte Richtung. Der Begriff Struktur meint: das System ist anarchisch; die handelnden Einheiten sind gleich hinsichtlich ihrer Funktion für das System, nämlich ihr Überleben zu sichern (funktionale Gleichheit) und damit auch das System zu erhalten; die Verteilung von materiellen und quantifizierbaren Fähigkeiten bzw. capabilities (Nuklearwaffen, konventionelle Waffen, Technologie, wirtschaftliche Entwicklung) zu diesem Zweck ist unterschiedlich, insofern einige Staaten mehr Fähigkeiten besitzen, andere Staaten weniger. Die Struktur des internationalen Systems wirkt vermittels Sozialisation der Akteure und durch Wettbewerb. Unter Sozialisation ist die Anpassung staatlicher Verhaltensweisen an die Verhaltensweisen der besonders überlebensfähigen Staaten zu verstehen. In einem System, in dem alle ihr Überleben sichern müssen, wird automatisch der Staat bzw. werden automatisch diejenigen Staaten nachgeahmt, die den Überlebenskampf durch eine Maximierung von capabilities erfolgreich gestaltet haben. Staaten, die sich nicht an den Verhaltensweisen der erfolgreichen Staaten orientieren und falsche Strategien verfolgen, etwa indem sie sich auf Systeme kollektiver Sicherheit, vertraglich begründete Kooperationsformen, oder integrative Prozesse verlassen, setzen ihre Verteidigungsfähigkeit aufs Spiel und gehen irgendwann zugrunde. Unter Wettbewerb ist der Druck auf Staaten zu verstehen, sich gegen Konkurrenten um besagte Fähigkeiten zu behaupten. Die von Staaten zum Zweck der Selbsthilfe durchgeführten Maßnahmen laufen immer auf eine Steigerung der eigenen Fähigkeiten hinaus. Die Verhaltensweisen werden in dieser Hinsicht gleichförmig. Im internationalen System existiert ein Sicherheitsdilemma: Jede politische Handlung eines Staates steigert die Unsicherheit anderer Staaten betreffend der eigenen Chancen, zu überleben. Zugewinne an Fähigkeiten auf der Seite eines Staates nähren gleichzeitig das Gefühl größerer Verwundbarkeit auf der Seite eines anderen Staates. Gewinne an Fähigkeiten werden immer relativ beurteilt. Es handelt sich um ein Nullsummenspiel: Der Gewinn von Fähigkeiten auf der Seite eines Staates geht einher mit dem Verlust von Fähigkeiten auf der Seite eines anderen Staates (relative Gewinne)⁸⁵. Aufgrund dieser permanenten Unsicherheit, und aufgrund der Tatsache, dass die Politik aller Staaten darauf gerichtet ist, die Fähigkeiten zur Sicherung des eigenen Überlebens zu steigern, versuchen Staaten immer und vor allen ande84 Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics (Reading: Addison Wesley, 1979), 92. 85 Vgl. Kenneth N. Waltz, The Stability of a Bipolar World, Daedalus, vol. 93 (1964), 881–909, 882.
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ren Dingen, ihre Position gegenüber anderen Staaten zu verbessern und relativ mehr Fähigkeiten zu gewinnen bzw. den Zugewinn an Fähigkeiten anderer Staaten auszugleichen. Dies mündet in das Interaktionsmuster des sogenannten balancing: Staaten steigern ihre Fähigkeiten durch einseitige Aufrüstung (internal balancing) oder durch die Bildung von temporären Verteidigungsbündnissen, d. h. Allianzen (external balancing). Die unausweichliche Konsequenz dessen ist, dass andere Staaten ebenfalls aufrüsten und/oder sich in Allianzen zusammenschließen. Internationale Politik ist ein Kampf um die beste(n) Position(en), gemessen einzig und allein daran, wer gegenüber wem mehr Fähigkeiten besitzt⁸⁶. Bipolare Systeme, d. h. Systeme, in denen nur zwei Staaten oder Staatengruppen miteinander um einen Ausbau ihrer Fähigkeiten, um die beste Position konkurrieren, sind stabiler als multipolare Systeme, in denen drei und mehr Staaten bzw. Staatengruppen im Wettbewerb stehen. Bipolare Systeme bieten den Vorteil, dass es für zwei Akteure leichter ist, die Verteilung von capabilities und die Intentionen des Gegners einzuschätzen. Zwei konkurrierende Akteure können relativ leicht herausfinden, ob und inwiefern die jeweils andere Seite an Sicherheit gewonnen hat: neue und bessere Fähigkeiten müssen immer getestet werden, damit werden relative Gewinne an Sicherheit erkennbar; eine Ausdehnung der Einflusssphären bleibt nicht verborgen und wird umgehend mit Gegenmaßnahmen beantwortet – im bipolaren System gibt es keine Peripherie; und selbst kleine Verluste an Einfluss bzw. Fähigkeiten tragen noch nicht zu einer Destabilisierung des Systems als solchem bei⁸⁷, da Staaten Mittel und Wege finden, schnell und angemessen auf etwaige Lücken der eigenen Sicherheit zu reagieren. Zudem herrscht aufgrund der hoch ausgeprägten Zweitschlagsfähigkeit bei jedem Pol eine defensive Grundhaltung. Multipolare Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass mindestens drei oder mehrere Staaten bzw. Staatengruppen auf die von allen Staaten betriebene Steigerung von Fähigkeiten durch eigene Anstrengungen reagieren. Die aufgrund der größeren Zahl von Akteuren und möglichen Koalitionen relativ große Unübersichtlichkeit multipolarer Systeme führt leicht dazu, dass sowohl die Fähigkeiten als auch die Intentionen anderer Staaten falsch eingeschätzt werden. Die Fähigkeiten anderer Staaten können über- oder unterschätzt werden. Dies kann zur Folge haben, dass die eigenen Fähigkeiten entweder übermäßig oder unzureichend verbessert werden, was jeweils zu einem Ungleichgewicht führt. Möglicherweise herrscht in einem multipolaren System keine Klarheit mehr, ob die Steigerung von Fähigkeiten anderer Staaten noch der Abwehr potenzieller Feinde oder bereits einem geplanten Angriff dient. Der Interaktionsprozess des balancing gerät leicht aus den Fugen. Das multipolare System ist tendenziell instabiler, als das bipolare System. Das internationale System verändert sich, insofern sich die Struktur des Systems, gemessen an der Verteilung von Fähigkeiten, verändert. Entweder entsteht ein bipo86 Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, a. a. O., 99. 87 Vgl. Kenneth N. Waltz, The Stability of a Bipolar World, a. a. O., 883–885.
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lares System aus einem multipolaren System, oder es entsteht ein multipolares System aus einem bipolaren System. Denkbar ist auch die Entstehung eines unipolaren Systems. Unipolare Systeme sind jedoch Übergangserscheinungen und nie von langer Dauer, weil Ungleichgewichte früher oder später wieder ausgeglichen werden. Eine Veränderung des internationalen Systems ist nur vorstellbar als eine Veränderung innerhalb des Systems (change within the system), nicht jedoch als eine Veränderung des anarchischen Systems als solchem (change of the system).
4.3 Heuristik Im Fokus des Neorealismus stehen solche Phänomene und Entwicklungen, die sich auf die Unsicherheit von Staaten und dadurch motivierte Strategien zur Überlebenssicherung zurückführen lassen. Die Grundannahmen der Theorie strukturieren den relevanten Wirklichkeitsausschnitt vor, indem Neorealisten immer davon ausgehen, dass die den internationalen Beziehungen inhärente Problematik in den strategischen Verhaltensweisen der Staaten zu finden ist. Das Ziel der Theorie ist einerseits, zu beschreiben, welche Staaten sich gegenseitig bedrohen und abschrecken; und andererseits, mit Verweis auf den Begriff der Struktur zu erklären, warum Staaten balancing-Verhaltensweisen an den Tag legen und mit welchem systemspezifischen Ergebnis. Zwei für den Neorealismus interessante Phänomene und Entwicklungen sind die ‚neue Unübersichtlichkeit/Instabilität in Europa‘ und die ‚Rolle der NATO‘ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, weil sie beide den überragenden Einfluss der Struktur auf die Verhaltensweisen der Staaten verdeutlichen.
4.3.1 Die multipolare Konstellation nach dem Ost-West-Konflikt Der Niedergang der Sowjetunion, die damit verbundene Auflösung des Warschauer Paktes und die strukturelle Veränderung des internationalen Systems wurde hervorgerufen durch eine zunehmende Überforderung der Sowjetunion, das bipolare Gleichgewicht auf dem hohen Niveau der gegenseitigen Abschreckungspolitik aufrechtzuerhalten. Die hohen Ausgaben sowohl für die kontinuierliche Weiterentwicklung militärischer Fähigkeiten als auch für den Erhalt des östlichen Staatenbündnisses ließen die Sowjetunion als Staat instabil werden. Schließlich erodierte nicht nur der sowjetische Staat sondern das durch politischen und militärischen Druck zusammengehaltene Bündnis des Warschauer Paktes. Die bipolare Struktur hat zunächst den Weg frei gemacht für eine multipolare Struktur. Die daraus resultierenden Folgen manifestierten sich in einer neuen Instabilität nicht nur, aber v. a. in Europa.
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Neorealismus
4.3.1.1 Das Machtvakuum und die neue Instabilität in Europa Verantwortlich für dieses Resultat war ein Machtvakuum in Europa und der Welt, das zwar bereits durch die politische Aufwertung ehemaliger Mittelmächte wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich gefüllt wurde, das aber genau deswegen in eine Konstellation mündete, die das internationale System relativ instabil hat werden lassen. Befördert wurde diese Instabilität insbesondere durch die Tatsache, dass mit dem Ende der Bedrohung durch das östliche Lager die Einheit des Westens schwand. Diese Einschätzung mutet auf den ersten Blick übertrieben pessimistisch an. Die westlichen Staaten haben schließlich untereinander Wirtschaftsbeziehungen unterhalten, um innerstaatlich Wachstum zu erzielen und das materielle Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern. Zumindest vordergründig scheint es so, also ob die grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen zu Interdependenzverhältnissen führten, die ihrerseits Prozesse der Kommunikation und Kooperation nach sich zogen. Multilaterale Institutionen und Regime zur Verregelung des Freihandels sowie der internationalen Finanzpolitik könnten durchaus als Triebkräfte einer tendenziell friedlicheren Welt verstanden werden. Analog dazu könnte auch die Bildung eines gemeinsamen europäischen Marktes in Europa als ein Fortschritt in Richtung Frieden gedeutet werden. Schließlich hat seit Beginn der europäischen Integration in den 1950er-Jahren kein Staat mehr Krieg in Europa geführt. In Ergänzung dazu könnte man schließlich annehmen, dass die westliche Welt auf der Basis von Werten wie Demokratie und Menschenrechte fest geeint sei, weil die meisten westlichen Staaten demokratisch verfasst sind und daher friedliche außenpolitische Orientierungen an den Tag legen. So plausibel diese Überlegungen vordergründig auch scheinen mögen, sie unterschätzen aus neorealistischer Sicht den fundamentalen Sachverhalt, dass die westlichen Staaten nicht zum Zweck wirtschaftlicher Gewinne und/oder aufgrund gleicher normativer Orientierungen kooperierten. Vielmehr schlossen sie sich unter dem Einfluss des alles überragenden Ost-West-Konflikts zum Zweck der Verteidigung zusammen. Alle institutionellen Arrangements dienten dem Zweck, den durch die Bedrohung aus dem Osten hervorgerufenen Zusammenhalt in sicherheits- und wirtschaftspolitischer Hinsicht zu stabilisieren. Solange die sowjetische Einflusssphärenpolitik das Überleben westlicher Staaten bedrohte, trug die Verregelung der innerwestlichen Wirtschaftsbeziehungen, die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes in Europa und die demokratische Binnenorganisation der Staaten dazu bei, die innere Stabilität des in der nordatlantischen Allianz militär-politisch zusammengefassten Blocks weiter zu festigen. Mit anderen Worten: Die institutionellen Arrangements zwischen den westlichen Staaten wurden nicht eingerichtet, um zwischenstaatliche Kooperation zu befördern. Die Beförderung zwischenstaatlicher Kooperation war ein notwendiges Übel für jeden einzelnen Staat, um im Angesicht der sowjetischen Bedrohung stärker zu werden und die Überlebenschancen zu steigern. In diesem Zusammenhang bedeutete das Ende der Bedrohung durch den Ostblock den Anfang einer unaufhaltsamen Desintegration des westlichen Blocks. Mit anderen Worten: Das Verschwinden der übergreifenden Blockkonfrontation zwischen Ost und West
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hatte zu einer multipolaren Konstellation und damit zu einer neuen gefährlichen Unübersichtlichkeit in Europa geführt. Alle Staaten waren wieder mehr auf sich gestellt, ihr Überleben zu sichern. Die kurz- und mittelfristige Zukunft wird ein mehr an Konflikten, Krisen und sogar Kriegen bringen, weil – die bipolare Konstellation einer relativ instabilen multipolaren gewichen ist; – die militärische Gleichheit zwischen zwei Staaten(gruppen) verloren gegangen ist; – die Verbreitung von nuklearen Waffen nicht mehr auf zwei Pole konzentriert ist. – die Absichten der Staaten nicht mehr rein defensiv ausgerichtet sind⁸⁸; Aus Sicht des ‚offensiven‘ Neorealismus liegt im Wegfall der Bedrohung durch die Sowjetunion und in der Entstehung einer neuen Struktur des internationalen Systems der Hauptgrund dafür, dass die Akteure ihre Überlebensstrategien neu bestimmten. Die fehlende Notwendigkeit, sich zur Abwehr eines übermächtigen gemeinsamen Feindes zusammenzuraufen, brachte es mit sich, dass die Absichten der Akteure nicht mehr rein defensiv ausgerichtet werden. Im Gegenteil steht zu erwarten, dass Mittelmächte wie z. B. Deutschland die Chance ergreifen, ihre eigenen Fähigkeiten durch aggressive Maßnahmen auszubauen, um so ihre Position gegenüber anderen Staaten aufzuwerten. Die Lehren aus der Geschichte lassen erwarten, dass Deutschland seine Position in Europa durch Entwicklung von Nuklearwaffen und durch Expansion nach Polen, Tschechien und Österreich aufwerten wird. Alleine die Präsenz von Akteuren wie z. B. Deutschland, die versuchen, ihr Überleben durch offensive Maßnahmen zu sichern, macht die Kalkulation der Risiken für alle schwieriger. Eng damit verbunden ist auch der Umstand, dass Nuklearwaffen in einer Welt, in der zahlreiche Mittelmächte um Statusgewinne wetteifern, ihre Bedeutung als Defensivwaffen verlieren. Der Ausbruch eines Nuklearkriegs ist umso unwahrscheinlicher, je größer die Zweitschlagkapazität ist. Bei Mittelmächten ist allerdings nicht so klar, ob ihre Zweitschlagkapazität wirklich vernichtend ist. Auf der Seite einiger Staaten wird es deswegen zu der Einschätzung kommen, dass Angriffskriege wieder führbar werden, weil nicht mehr mit vernichtenden Gegenreaktionen gerechnet werden muss, und weil der Ertrag von Kriegen lohnenswert erscheint. Die ‚Obsoleszenz von Kriegen‘ gilt in einem Milieu nicht mehr, in dem die Frage der Überlebenssicherung unter neuen Vorzeichen steht.
4.3.1.2 Die Fortexistenz und Weiterentwicklung der NATO Der Wandel von Bi- zu Multipolarität hat zu einer Konstellation geführt, in der auch das Nordatlantik-Bündnis (NATO) eine neue Rolle spielt. Die NATO hatte über einen Zeitraum von 35 Jahren den Zweck, den Westen in verteidigungspolitischer Hinsicht 88 Vgl. John Mearsheimer, Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War, International Security, vol. 15 (1990), 5–56, besonders 13–19.
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zusammenzuschmieden und gegen eine potenzielle Aggression durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu verteidigen. Das inter-nationale System war strukturiert durch eine dyadische Konfliktformation. Mit dem Wegfall der Bedrohung durch die Sowjetunion verschwand zwar ein Pol und damit der bis dato primäre Bündniszweck der Verteidigung gegen einen Angriff. In der Folge lockerte sich auch der Zusammenhalt zwischen den Bündnismitgliedern. Allerdings gab es für die Mitglieder der NATO zu keinem Zeitpunkt einen Grund, das Bündnis aufzulösen. Auch und gerade in einer multipolaren Welt dient die NATO ihren Mitgliedern als das ‚zweitbeste‘ Instrument für die Befriedigung ihrer strategischen Sicherheitsinteressen: einerseits erfüllt sie weiterhin den Zweck einer Verteidigungsallianz gegen Bedrohungen, die entweder von einem wieder erstarkenden Russland und/oder von bisherigen Schwellenmächten ausgehen, wenn und insoweit diese Akteure ihre Chance darin sehen, ihre Position zu verbessern und mittelfristig den Platz der Sowjetunion einzunehmen; andererseits dient die NATO ihren Mitgliedern als ein Forum, in dem eine stärker werdende Konkurrenz unter den Teilnehmern durch Gegenmachtbildung kontrollieren werden kann. Die Fortexistenz und Entwicklung der NATO hat nicht viel mit institutionellen Faktoren zu tun, sondern muss unter diesen Vorzeichen verstanden werden: Die Erweiterung um neue Mitgliedstaaten, der Umbau der inneren Strukturen, die Ausweitung der Funktionen und die operative Rolle der NATO stehen in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit von der neuen Struktur des internationalen Systems. Ein Grund, die NATO nicht nur am Leben zu erhalten, sondern sie weiterzuentwickeln und auszubauen, bestand für NATO-Mitglieder wie die USA – und indirekt wohl auch Großbritannien – darin, ein wieder erstarkendes Russland und/oder ambitionierte Schwellenmächte auf dem Kontinent daran zu hindern, ihre Position zulasten des internationalen Gleichgewichts zu verbessern. Strategische Interessen an der Bewahrung des Gleichgewichts und gleichbleibend hohe Sicherheitsbedürfnisse einflussreicher Mitgliedstaaten gaben den Ausschlag dafür, die Hauptfunktion der NATO, nämlich kollektive Verteidigung, beizubehalten und diese Kernfunktion um nachrangige Aufgaben (Krisenprävention, Krisenmanagement und Konfliktnachsorge) zu ergänzen. In einer unübersichtlichen Konstellation erlaubt die NATO ihren Mitgliedern, die zur Verfügung stehende militärische Hardware bereits bei Verdachtsmomenten zu aktivieren, um zukünftige Spannungen in Osteuropa und anderen Teilen der Welt durch Abschreckung zu reduzieren. Auch die Osterweiterung im Frühjahr 1999 um drei (Tschechien, Ungarn, Polen) und dann 2004 noch einmal um sieben (Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Slowenien) Staaten hatte den Grund, Russland von dem Versuch abzuschrecken, seine Sicherheit durch Annexion des ‚nahen Auslands‘ zu steigern und damit die Sicherheit Westeuropas zu gefährden. Ein anderer Grund für die Fortexistenz und Weiterentwicklung der NATO bestand darin, dass die USA als einzig verbliebene Supermacht ein Instrument behalten wollte, um die von einigen Bündnismitgliedern in der Zukunft ausgehenden Bedrohungen in Schach halten zu können. Die USA hatte immer ein vorrangiges Interesse daran,
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über die NATO die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa kontrollieren zu können. In der neuen unübersichtlichen multipolaren Konstellation nach dem Ost-WestKonflikt definierten einige europäische Bündnismitglieder ihre Sicherheitsinteressen neu und rückten von den USA, dem Verbündeten mit den meisten Fähigkeiten, ab. Einige Bündnismitglieder in Europa versuchten, sich aus der Umklammerung durch die USA zu lösen, indem sie eigene Verteidigungsfähigkeiten entwickelten. Die europäische sicherheits- und verteidigungspolitische Initiative (ESVI), der Aufbau europäischer Streitkräfte sowie der geplante Aufbau eines europäischen Pfeilers in der NATO waren sichtbare Ausflüsse dieser Bemühungen. Die USA verfolgte demgegenüber die Strategie, jede Pluralisierung und v. a. den Aufbau eines europäischen Pfeilers in der NATO zu verhindern. Die Einführung der sog. Combined Joint Task Forces, logistisch angebunden an die von der USA kontrollierte Kommandostruktur und abrufbar von jeder ‚Koalition der Willigen‘, unterminierte europäische Initiativen in Richtung mehr Eigenständigkeit. Die so herbeigeführte Flexibilisierung der bereits bestehenden Kommandostrukturen und Verteidigungsfähigkeiten verhinderte einerseits die Einführung einer europäischen Säule und stärkte andererseits die Position der USA. Im Ergebnis erreichte die USA nämlich, dass die Europäer selbst bei Aktionen, die sie in Eigenregie durchführen wollen, auf militärische Ressourcen zurückgreifen müssen, die von den USA zur Verfügung gestellt und qua Logistik kontrolliert werden können. Dieser Sachverhalt, wie auch das zunehmend unilaterale Vorgehen der USA bei der Verfolgung ihrer eigenen sicherheitspolitischen Ziele, hat zu einer Entfremdung innerhalb der Allianz geführt. Das entspricht jedoch der Logik zwischenstaatlicher Beziehungen in einer multipolaren Konstellation. Der Zusammenhalt im Bündnis wird schwächer, ohne zunächst das Bündnis als solches zu sprengen. Die USA hat aus strategischen Gründen die NATO am Leben erhalten und zu einem Instrument gemacht, mit dem sie die Außen- und Sicherheitspolitiken europäischer Staaten beeinflussen kann⁸⁹.
4.3.1.3 Die Aufwertung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben nicht erst seit dem Vertrag von Maastricht 1992 versucht, einer gemeinschaftlichen Außen- und Sicherheitspolitik Konturen und Substanz zu verleihen. Frühe Versuche gehen bis zum Pleven-Plan anno 1950 zurück. Freilich sind die nennenswerteren Ergebnisse eher jüngeren Datums, insofern substanzielle Schritte auf dem Weg zu einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unternommen worden sind. Ausschlaggebend dafür wiederum war ein Strukturwandel des internationalen
89 Vgl. Kenneth N. Waltz, Structural Realism after the Cold War, International Security, vol. 25 (2000), 5–41, 20.
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Systems, der sich als unipolares Momentum und in veränderten Sicherheitsinteressen wichtiger EU-Mitgliedstaten manifestierte⁹⁰. Gemessen am Potenzial ihrer Fähigkeiten ist rein faktisch relevant, dass die 1992 vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU, v. a. in Nachbetrachtung der Balkankriege während der 1990er-Jahre, von den Europäern selbst als stumpfes Schwert bezeichnet werden musste. Offensichtlich waren die führenden Mitgliedstaaten der EU, namentlich v. a. Frankreich, Großbritannien und Deutschland, nicht in der Lage gewesen, eine gemeinsame Einschätzung der Bedrohungslage sowie einen Konsens über etwaige Modalitäten wirkungsvoller GASP-Aktionen im Balkan zu finden. Entscheidende Schritte zur Eindämmung und schließlich Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Serben und Bosniern bzw. Serben und Kosovaren waren ausnahmslos initiiert von den USA und durchgeführt von Verbänden der NATO. In diesem Kontext ist weiterhin interessant, dass Großbritannien und Frankreich 1998 nach einem bilateralen Gipfeltreffen in St. Malo mit dem Vorschlag aufwarteten, die verteidigungspolitische Zusammenarbeit innerhalb der EU zu stärken. Die darauffolgenden Treffen des Europäischen Rates 1999 in Köln und Helsinki sowie 2000 in Nizza trugen dieser Initiative Rechnung, insofern nicht nur Ziele und Aufgaben einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) definiert, sondern auch politische und militärische Strukturen der ESVP geschaffen, die Beziehung der ESVP zur NATO thematisiert und operative Fragen der Bewältigung von Petersberg-Aufgaben durch die ESVP unter Rückgriff auf die WEU diskutiert wurden. Im Ergebnis liefen die Gespräche auf der Ebene des Europäischen Rates auf die Vereinbarung hinaus, dass die ESVP kein Ersatz der NATO sein, sondern bis auf Weiteres ‚nur‘ den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO stärken und handlungsfähig machen sollte. Im Vertrag von Nizza 2001 wurde entsprechend festgelegt, dass die ESVP in den Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht beteiligt ist, über den Weg des neu geschaffenen Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) eigene militärische Operationen zum Zweck des Krisenmanagements einleiten und durchführen können sollte. Die 2003 als ‚Berlin-Plus‘ bekannt gewordene Vereinbarung zwischen EU-Mitgliedstaaten und der NATO beinhaltet demzufolge, dass die ESVP als Arm der EU aktiv werden und auf operative Planungskapazitäten sowie militärische Ressourcen der NATO zurückgreifen können soll, wenn und insofern die NATO nicht selbst im Begriff einer militärischen Intervention ist. Gegen eine eigenständige Rolle der ESVP spricht dabei der Umstand, dass die ESVP aufgrund bestehender Defizite hinsichtlich eigener Planungs- und Durchführungskapazitäten anspruchsvolle Einsätze de facto nur durch Hinzuziehung entsprechender NATO-facilities bewerkstelligen kann. In einer neorealistischen Lesart bedeutet all das aber nicht, dass die NATO weiterhin eine unangefochtene Vorrangstellung in allen Fragen betreffend die Sicherheits90 Vgl. Barry R. Posen, ESDP and the Structure of World Power, The International Spectator, vol. 39 (2004), 5–17, 15.
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und Verteidigungspolitik der europäischen Staaten besitzt. Die formalen Vereinbarungen müssen nicht zwingend als Ausdruck für die unveränderte Bereitschaft aller Europäer interpretiert werden, die Priorität und strategische Ausrichtung der von den USA dominierten Allianz anzuerkennen – sich wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts gegenüber den USA im Sinne von bandwagoning zu verhalten. Im Gegenteil erscheint die seit 1998 von verschiedenen europäischen Staaten forcierte Debatte über eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zumal aus neorealistischer Perspektive, als Ausdruck einer beginnenden Distanzierung von den hegemonialen Ansprüchen der USA. Es ist zwar auch nicht zutreffend, die ESVP bereits als sichtbaren Ausdruck einer Gegenmachtbildung, d. h. als Teil von strategisch konzipierten balancing-Bemühungen aufseiten der Europäer zu verstehen. Gleichwohl belegt die Tatsache, dass es auf der Seite Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands seit 1998 kontinuierliche Bemühungen zum Aufbau genuin europäischer Verteidigungskapazitäten gegeben hat, das Vorliegen einer beginnenden strategischen Neuausrichtung⁹¹. Spätestens seit den Anschlägen auf New York im September 2001 und dem sich daran anschließenden Unilateralismus der USA im Rahmen des von ihr ausgerufenen war on terror haben die Regierungen der drei genannten Staaten Interessen artikuliert, die mit Blick auf eine größere Autonomie europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchaus in Konkurrenz zu der von der USA dominierten NATO stehen. Einer der wichtigsten Gründe für die versuchte Aufwertung ihrer jeweiligen Position liegt im sicherheitspolitischen Interesse Großbritanniens und Frankreichs, sich durch eine Maximierung eigener Fähigkeiten in Verteidigungsfragen von der USA unabhängiger zu machen. Dieses veränderte Interesse auf der Seite wichtiger europäischer Staaten lässt sich wiederum auf die Veränderung in der Verteilung von capabilities insgesamt zurückführen. Hätte sich die USA seit dem Ende des Ost-WestKonflikts nicht zur unangefochtenen Supermacht entwickelt, hätte es auch keinen Zwang für die europäischen Staaten gegeben, mehr Augenmerk auf eine nationale Sicherheitsvorsorge zu legen. In einer genaueren Betrachtung mag sich das strategische Interesse Großbritanniens von dem Frankreichs unterscheiden; die britische Regierung hat versucht, durch eine Mehrung von Militärpotenzialen gegenüber den USA sowohl Einfluss als auch Attraktivität als Bündnispartner zurückzugewinnen; die französische Regierung hat mit ihrer Maximierung von capabilities versucht, auf die Herausforderungen einer multipolaren Welt zu reagieren und sich im Rahmen einer gestärkten ESVP gegenüber neuen Konkurrenten außerhalb Europas zu positionieren⁹². Dennoch bleibt festzuhalten, dass beide Staaten in gleicher Weise auf Veränderungen in der Struktur des internationalen Systems reagiert haben.
91 Vgl. Barry R. Posen, ESDP and the Structure of World Power, a. a. O., 11–12. 92 Vgl. ebda., 14.
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4.3.2 Die neue Unipolarität und die Kontinuität der internationalen Politik Der Untergang der Sowjetunion hat einerseits zu einem Machtvakuum und zu neuer Instabilität geführt, andererseits war der Untergang der Sowjetunion auch der Beginn einer Transformation des internationalen Systems, an dessen vorläufigem Ende eine unipolare Konstellation steht. Aus Sicht des Neorealismus stellt sich der Wandel im internationalen System als eine Veränderung der Struktur dar, insofern die capabilities nach dem Untergang der Sowjetunion eine neue Verteilung erfahren haben, die teilweise noch gar nicht abgesehen werden kann. Die typischen Verhaltensweisen von Staaten lassen sich auf diese veränderten strukturellen Bedingungen zurückführen. Scheinbar neue Bedrohungen, wie z. B. solche, die aus dem internationalen Terrorismus resultieren, ändern nichts an der überragenden Rolle der Struktur des internationalen Systems. Die internationale Politik bleibt nach wie vor ein Kampf der stärksten Akteure um ihr Überleben. Die Verhaltensweisen der meisten Akteure spiegeln eine alte Einsicht wieder, dass nämlich in diesem Kampf einzig und allein eine gezielte Aufrüstung und die Bildung von Allianzen einigermaßen verlässlich für nationale Sicherheit sorgen.
4.3.2.1 Der Wandel vom bipolaren zum multipolaren zum unipolaren System Die bipolare Konstellation des Ost-West-Konflikts mündete zunächst in eine multipolare Konstellation. Und auch auf absehbare Zeit wird die internationale Politik multipolar strukturiert sein, insofern vier oder fünf große Mächte um Einfluss konkurrieren. Schließlich steht zu erwarten, dass sich mittel- und langfristig Deutschland oder ein anderer westeuropäischer Staat, Japan, China und eventuell sogar Russland mit der USA in einem Wettbewerb um Einfluss wiederfinden. Diese Einschätzung basiert auf einem Vergleich dieser Staaten anhand einer Reihe wichtiger Kriterien, darunter vor allem eine hohe Bevölkerungszahl und ein großes Territorium, Ressourcenvorkommen, ökonomische bzw. volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit, militärische Stärke, politische Stabilität und Kompetenz⁹³. Innerhalb der neuen multipolaren Konstellation ist freilich zu beobachten, dass sich zwischenzeitlich eine US-amerikanische Führungsposition herauskristallisiert, weil die USA von den neuen Großmächten die wirtschaftlich und v. a. militärisch stärkste ist; und dass sich die neuen Großmächte von den USA distanzieren und ihr Heil in einem Bündnis der schwächeren Staaten suchen, weil die stärkere Seite immer dazu neigt, ihre Interessen den anderen Staaten aufzuzwingen⁹⁴. Japan, China, Deutschland/Westeuropa und evtl. sogar Russland gewinnen wieder zunehmend an Einfluss und werden sich nicht uneingeschränkt den Interessen der USA beugen. Eine Quelle der Instabilität in diesem 93 Vgl. Kenneth N. Waltz, The Emerging Structure of International Poltitics, International Security, vol. 18 (1993), 44–79, 46–57. 94 Vgl. ebda, 70.
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Zusammenhang wird sein, dass ehemalige Großmächte wie Deutschland, Japan und Russland ihre Rollen als Großmächte erst wieder erlernen müssen, während auf der anderen Seite die USA als primus inter pares vor der Schwierigkeit steht, mit den anderen Großmächten koexistieren und manchmal auch interagieren zu müssen, obwohl klar ist, dass kollektive Entscheidungen nur unter annähernd gleichstarken Partnern getroffen werden können. Mit anderen Worten, das neue internationale System ist zwischenzeitlich unipolar, aber nicht sehr lange; einerseits, weil sich die USA als imperiale Macht zu viele Aufgaben zumutet und sich langfristig selber schwächt; und andererseits, weil sich zukünftige Großmächte gegen die Hegemonie der USA verbünden werden⁹⁵. Die Hegemonie der USA führt deshalb zu einem neuen Gleichgewicht, jedoch nur langsam, weil die USA immer noch bestimmte Leistungen erbringt, an die sich viele Staaten, vor allem diejenigen in ihrer früheren Einflusssphäre, gewöhnt haben und die sie nicht unbedingt selber schultern wollen. Die Veränderung in der Struktur des internationalen Systems beeinflusst die internationale Politik. Die Anhäufung von capabilities durch die USA legt nahe, dass sich Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf einen politischen und militärischen Zusammenschluss innerhalb der Europäischen Union einigen, der dem bereits integrierten Binnenmarkt eine staatsähnliche Struktur und eine eigene sicherheitsund verteidigungspolitische Identität gibt. Alternativ dazu könnte es auch dazu kommen, dass Deutschland als die stärkste Macht auf dem Kontinent seine Geduld mit dem Projekt der Europäischen Union verliert und sich anschickt, selbst die Führung einer Koalition der Willigen zu übernehmen. Die entscheidenden Entwicklungen finden jedoch in Asien statt. China verfügt neben seiner großen Bevölkerungszahl und seinem großen Territorium bereits seit längerem über ernst zu nehmende militärische Fähigkeiten, nicht zuletzt Nuklearwaffen. Chinesische Langstreckenraketen können nahezu jedes Ziel in Japan und in den USA erreichen und dort großflächige Zerstörungen hervorrufen. Die USA müssen daher versuchen, ihre Sicherheit durch strategische Defensivwaffen zu garantieren, weil Angriffe auf die USA jederzeit möglich, und weil die Androhung eines effektiven Zweitschlags deswegen notwendig ist. Japan sträubt sich zwar noch, eine Großmacht auch im militärischen Sinn zu werden. Jedoch muss angesichts der Bedrohung durch China und auch wegen der Streitigkeiten zwischen Japan und China über die Senkaku-Inseln und die dortigen Erdgasvorkommen davon ausgegangen werden, dass Japan seine nationalen Interessen durch den Aufbau eigener militärischer Potenziale zu größerer Geltung bringen wird. Schließlich sieht sich Japan auch mit den Interessen Russlands konfrontiert. Der Territorialstreit zwischen Japan und Russland um die fischreichen Kurilen-Inseln vor der Küste Sachalins währt bereits seit Jahrzehnten und ist nur einer von mehreren Konfliktherden, die sich bei zunehmender Besinnung auf die jeweiligen nationalen Interessen Russlands und Japans weiter zuspitzen könnten. Kurz: Die Verfolgung nationaler Interessen im Kon-
95 Vgl. Kenneth N. Waltz, Structural Realism after the Cold War, a. a. O., 27–28.
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text zunehmender Konkurrenz ‚zwingt‘ die aktuellen und potenziellen Großmächte zum Aufbau eigener militärischer Fähigkeiten, was dazu beiträgt, dass sich alle Großmächte in einem Wettlauf um Abschreckungspotenziale wiederfinden.
4.3.2.2 Das Phänomen des Terrorismus und die Kontinuität der internationalen Politik Am Morgen des 11. September 2001 flogen Islamisten und Mitglieder des terroristischen Netzwerks der Al Kaida mit zwei entführten Passagierflugzeugen in die Türme des World Trade Center in New York. Unmittelbar danach steuerten Mitglieder der Al Kaida ein weiteres entführtes Passagierflugzeug in den Ostflügel des Pentagon. Ein viertes Passagierflugzeug, das ebenfalls von Mitgliedern der Al Kaida entführt worden war, wurde auf dem Weg zum Regierungssitz des amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus von der meuternden Besatzung zum Absturz gebracht. Die Reaktion der US-amerikanischen Regierung bestand zunächst darin, den bis dato eingeschlagenen unilateralen Kurs kurz zu unterbrechen, um die dringendsten Fragen in einem multilateralen Ansatz zu lösen. Die USA brauchte polizeiliche und geheimdienstliche Informationen aus einer Reihe von Ländern in Europa und dem Nahen Osten, um die Herkunft der Terroristen zu erfahren und Schritte zur Zerschlagung des Netzwerks zu unternehmen. Das militärische Vorgehen der USA war dann jedoch schnell wieder durch Unabhängigkeit gekennzeichnet. Selbst Angebote der britischen Regierung, im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuarbeiten, wurden abgelehnt. Die Regierung der USA deklarierte ohne weitere Absprachen mit anderen Staaten einen weltweiten ‚Krieg gegen den Terrorismus‘. Terroristen wurden für militärische Zwecke in den Stand von Soldaten erhoben. Gleichzeitig behandelte die US-Regierung die auf dem kubanischen Militärstützpunkt in Guantanamo bereits internierten Gefangenen nicht als Kriegsgefangene, sondern als Kriminelle. Die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen wurde von den USA ohne Konsultation mit anderen Regierungen für nicht anwendbar erklärt. Weitere Beispiele für das unilaterale Vorgehen der USA waren die Durchführung militärischer Operationen in Afghanistan ohne die Einschaltung der NATO, und die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags im Juni 2002, obwohl die US-Regierung noch im Oktober 2001 dazu bereit schien, sich mit Russland auf Modifikationen und eine neue Interpretation des Vertrages zu einigen. Eine neorealistische Lesart und entsprechende Beschreibung der Geschehnisse sieht das Problem des Terrorismus als ein Phänomen, das der US-Regierung lediglich einen Vorwand lieferte, um all die Dinge tun zu können, die sie ohnehin tun wollte: die US-Regierung konnte den Kongress überreden, große Summen für die Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr zu bewilligen; die US-Regierung konnte den ABM-Vertrag kündigen, ohne ernsthaften Widerstand im Kongress befürchten zu müssen; die US-Regierung konnte eine beträchtliche Steigerung des Verteidigungshaushaltes erreichen, um gegen die vergleichsweise schwachen Verbände der Ter-
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roristen vorzugehen. Selbst für starke Staaten wie die USA können Terroristen zwischenzeitlich lästig sein, insofern sie Regierungen zwingen, unbequeme Maßnahmen zu ergreifen. Eine wirkliche Bedrohung stellen Terroristen für die Sicherheit eines starken Staates allerdings nicht dar. Zwar lässt sich mit Blick auf die Anschläge am 11. September 2001 behaupten, die Terroristen hätten den außenpolitischen Kurs der USA beeinflusst, indem sie die US-Regierung zu einer noch stärkeren Betonung der militärischen Komponente ihrer Verteidigungspolitik veranlassten. Die Terroristen waren jedoch nur der Anlass für diese Akzentuierung sicherheitspolitischer Strategien. Die Außenpolitik der USA wurde nicht bestimmt durch eine vermeintlich ‚neue Dimension‘ des Terrorismus. Terrornetzwerke wie Al Kaida sind mittlerweile in der Lage, große Zerstörungen hervorzurufen. Die Inhalte der US-Außenpolitik haben jedoch ihre Ursache in der Konstellation des internationalen Systems⁹⁶. Es sind im Wesentlichen drei Sachverhalte, die dafür verantwortlich sind, dass Staaten wie die USA gewohnte sicherheitspolitische Strategien auch im neuen Jahrtausend verfolgen – sogar noch konsequenter und kompromissloser als bisher. Erstens haben sich die enormen Machtunterschiede zwischen den Staaten nicht aufgelöst. Im Gegenteil lässt sich beobachten, dass diese Machtunterschiede seit dem Ende des Ost-West-Konflikts immer noch größer geworden sind. Die USA besitzt gegenüber dem Rest der Welt mittlerweile eine Position, die sie als den alleinigen Hegemon ausweist. Kein Staat bzw. keine Staatengruppe scheint auf absehbare Zeit in der Lage, die Vormachtstellung der USA in ökonomischer, technologischer und militärischer Hinsicht zu gefährden. Die von der US-Regierung in den 1990er-Jahren vorangetriebene Osterweiterung der NATO bewirkte zudem, dass ihre Einflusssphäre weiter nach Osten reicht. Der Zugriff auf strategische Stützpunkte an der Südflanke Russlands erleichtert der US-Regierung nun, Staaten wie China und Russland langsam einzukreisen. Im Zuge der Bedrohung durch den Terrorismus konnte die US-Regierung darüber hinaus – ohne nennenswerten Widerstand anderer Staaten – verlautbaren, dass sie jederzeit in der Lage und auch willens sei, weitere 15 Staaten unter ihren Einfluss zu bringen, wenn es die Herstellung ihrer nationalen Sicherheit gebiete. Das Erstarken des weltweiten Terrorismus hat nichts an diesem ersten fundamentalen Sachverhalt der internationalen Politik geändert: die ungleiche Verteilung von Macht. Das Verhalten der USA belegt im Gegenteil, dass die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus willkommene Anlässe liefert, um ihren Vorsprung noch weiter auszubauen. Ein weiterer fundamentaler Sachverhalt der internationalen Politik liegt in der Existenz nuklearer Waffen. Die meisten dieser Waffen befinden sich in den Händen der USA. Und obwohl die USA darüber wacht, dass keine Weiterverbreitung nuklearer Waffen stattfindet, entwickeln eine ganze Reihe von Staaten ebenfalls solche Waffen, weil sie sich von der nuklearen Übermacht der USA bedroht fühlen. Auch mit Blick 96 Vgl. Kenneth N. Waltz, The Continuity of International Politics, in: K. Booth & T. Dunne (eds.), Worlds in Collision. Terror and the Future of the Global Order (London: Palgrave McMillan, 2002), 348– 353, 349.
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auf das Vorhandensein nuklearer Waffen und die davon ausgehenden Bedrohungen hat das Phänomen des Terrorismus nichts geändert. Im Gegenteil haben terroristische Anschläge dazu geführt, dass Staaten wie die USA von Plänen Abstand nehmen, ihre Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Die Anschläge vom 11. September waren ein willkommener Anlass für die USA, alte Pläne für ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem wieder aufzunehmen und Gelder für die Entwicklung eines solchen Systems zu beantragen. Nicht nur veranlasst die von den USA forcierte Betonung der nuklearen Komponente seiner Verteidigung andere Staaten, ihrerseits Anstrengungen zur atomaren Aufrüstung zu unternehmen. Die Entwicklung eines Raketenschilds durch die USA motiviert andere Staaten, moderne Angriffswaffen zu entwickeln, um das Ausmaß der Verwundbarkeit der USA zu erhalten und wenn möglich sogar zu erhöhen. Schließlich ist die Entwicklung von nuklearen Offensivraketen billiger, als die Entwicklung von effektiven Defensivwaffen; außerdem sind nukleare Offensivwaffen weitaus effektiver, als die Abwehrraketen eines Verteidigungssystems. Schon die kleinste Lücke in so einem System kann verheerende Konsequenzen für den entsprechenden Staat nach sich ziehen. Der Aufwand für die Errichtung eines wirksamen Verteidigungsschilds ist vergleichsweise enorm. Terrorismus ändert also nichts am zweiten fundamentalen Sachverhalt internationaler Politik: Strategische Nuklearwaffen bestimmen weiterhin die militärischen Beziehungen zwischen Staaten – wahrscheinlich sogar noch viel stärker als das bisher der Fall war, weil die konsequent forcierte Aufrüstung der USA immer mehr andere Staaten zur Nachahmung veranlasst⁹⁷. Der dritte fundamentale Sachverhalt der internationalen Politik liegt in der ständigen Wiederkehr von Krisen – in vielen von diesen Krisen sind große Mächte wie die USA direkt oder indirekt involviert. Argentinien, Tschetschenien, Nord- und Südkorea, Indonesien, Taiwan und zahlreiche andere Fälle liefern reichlich Anschauungsmaterial dafür, was passiert, wenn sich ein starker Staat zur Sicherung seiner eigenen Position in die Belange solcher Staaten politisch und/oder militärisch einmischt: Es kommt zur Krise in der entsprechenden Region. Das Phänomen des Terrorismus ändert nichts an diesem dritten fundamentalen Sachverhalt der internationalen Politik, dem wiederholten Ausbruch von Krisen. Tatsächlich ist es so, dass der Terrorismus selbst ein Resultat des internationalen Systems ist. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann kein kleiner bzw. schwacher Staat mehr versuchen, sein Heil darin zu suchen, zwei Supermächte gegeneinander auszuspielen. Vielmehr ist es nun so, dass kleine/schwache Staaten sich gegen den einzigen übermächtigen Staat im internationalen System, die USA, wenden. Und ihre Waffe in diesem Kampf ist der Terrorismus. Da der Terrorismus somit selbst ein Resultat des internationalen Systems ist, beschleunigt er höchstens andere systeminduzierte Entwicklungen, die bereits im Werden sind. Der Terrorismus tritt nicht als Grund für Verhaltensweisen von Staaten auf; er stellt keine Bedrohung für Staaten dar; er ändert nichts an den
97 Vgl. ebda., 352.
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zwei fundamentalen Sachverhalten der internationalen Politik; und er beeinflusst nicht die Wiederkehr von Krisen. Der alleinige Grund für den Primat strategisch orientierter Sicherheitspolitik auf allen Seiten liegt nach wie vor in der Struktur des internationalen Systems. Sie allein sorgt seit tausenden von Jahren für die Kontinuität des Systems.
4.3.3 Kontrollfragen – – – – – – –
Was ist die Struktur des internationalen Systems? Warum kommt es zu Selbsthilfe? Warum kommt es in der Regel zu balancing (und nicht zu bandwagoning)? Was heißt Stabilität? Inwiefern ist der klassische Realismus reduktionistisch? Warum bleibt das internationale System nicht lange unipolar? Warum ändert der Terrorismus nichts an internationaler Politik?
5 Neoklassischer Realismus Der neoklassische Realismus stellt einen Versuch dar, den Fokus bei der Analyse internationaler Politik wieder stärker auf das Innenleben von Staaten zu richten. Zumal die Theoriebildung aus der Perspektive des Neorealismus sich nach dem Dafürhalten zahlreicher Realisten zu stark darauf konzentriert hat, den Einfluss systemischer Faktoren wie v. a. die Verteilung von capabilities auf das Verhalten von Staaten herauszustellen. Für den neoklassischen Realismus ist die Struktur des internationalen Systems eine durchaus wichtige Variable für die Erklärung internationaler Politik. Gleichwohl gilt zu berücksichtigen, dass die Struktur des internationalen Systems ihre Wirkungen nicht direkt, sondern immer nur über den Umweg entsprechender Wahrnehmungen politischer Entscheidungsträger, d. h. in Verbindung mit Faktoren auf der Ebene handelnder Akteure entfachen kann⁹⁸. Innerstaatliche Faktoren werden damit zur intervenierenden Variable. Allerdings lassen sich diese innerstaatlichen Faktoren aus Sicht neoklassischer Realisten begrifflich nicht auf eine masterVariable reduzieren. Das Kernanliegen des neoklassischen Realismus lässt sich dementsprechend beschreiben als einen Versuch, Entscheidungen von Staaten auf den Einfluss zurückzuführen, den strukturelle in Verbindung mit innerstaatlichen Faktoren ausüben. Die Schwierigkeit liegt dabei in einem zweifachen Problem: einerseits lassen sich innenpolitische Faktoren nicht abstrakt und monolithisch betrachten, denn die analytisch relevante innenpolitische Konstellation variiert je nach historischem Kontext und von Staat zu Staat; andererseits können innenpolitische Faktoren die Wirkung struktureller Faktoren verstärken oder abschwächen, was eine eingehende Betrachtung der Innenpolitik mit Blick auf ihre konkreten raumzeitlichen Umstände umso dringender macht. Berücksichtigt man nämlich diesen Filtereffekt der staatlichen Ebene und v. a. seine Variabilität, wird man in die Lage versetzt, durch eine Betonung innerstaatlicher Faktoren die häufig zu beobachtenden Abweichungen vom balancing-Mechanismus zu erklären⁹⁹. Das neoklassische credo lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Nur vor dem Hintergrund einer synoptischen Betrachtung systemischer und akteursspezifischer Faktoren im historischen Kontext lassen sich die Verhaltensweisen von Staaten in ihrer strategischen Ausrichtung auf militärpolitische, ökonomische und/oder allianzpolitische Zielsetzungen beobachten und erklären¹⁰⁰.
98 Vgl. Gideon Rose, Neoclassical Realism and Theories of Foreign Policy, World Politics, vol. 51 (1998), 144–172, 147. 99 Vgl. Randall Schweller, Unanswered Threats: A Neoclassical Realist Theory of Underbalancing, International Security, vol. 29 (2004), 159–201. 100 Vgl. Gideon Rose, Neoclassical Realism, a. a. O., 147: „In their stress on intervening variables, constrained choice, and historical context, as in other ways, neoclassical realists have much in common with historical institutionalists in comparative politics, who study ‚intermediate-level institutions that mediate the effects of macro-level socioeconomic structures‘.“
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Kritik am neoklassischen Forschungsprogramm wurde – erwartungsgemäß – von Vertretern systemischer Herangehensweisen aus dem neorealistischen mainstream formuliert und hat sich u. a. daran entzündet, dass die Eingrenzung der relevanten innenpolitischen Faktoren (noch) nicht gelungen sei; die Theorie/perspektive sei nicht in der Lage, hinreichend präzise und elegante Begriffe anzubieten, mit denen es möglich wäre, aus der großen Bandbreite innenpolitischer Aspekte die relevanten herauszulesen¹⁰¹. Solange sich empirische Untersuchungen neoklassischer Realisten auf die potenzielle Bedeutung so unterschiedlicher Aspekte wie nationale Intentionen, Kenntnisse von Einzelpersonen, politische Kultur, geteilte Werte innerhalb des politischen Systems, Präferenzen für defensive oder offensive Strategien usw. richten würden, blieben Fortschritte in Richtung eines fruchtbaren Forschungsprogramms minimal. Ohne ein klares Bild hinreichender/notwendiger Bedingungen und unabhängiger Variablen sei es unmöglich, ein umsetzbares Forschungsdesign zu entwickeln und empirische Analysen durchzuführen. Eine andere Kritiklinie hat am neoklassischen Forschungsprogramm bemängelt, dass es eigentlich gar nicht mehr in einem strengeren Sinne ‚realistisch‘ sei. Für Erklärungen auf der Basis realistischer Theorien sei charakteristisch, dass immer drei zentrale Grundannahmen vorausgesetzt werden: der Staat gilt für die Zwecke der Analyse als einheitlicher rationaler Akteur; die staatlichen Präferenzen sind unveränderlich; die Umwelt der Staaten manifestiert sich über den strukturellen Einfluss einer ungleichen Verteilung von Machtressourcen. Neoklassische Realisten würden v. a. mit der Abweichung von der Annahme stabiler Präferenzen die Kohärenz einer typisch realistischen Argumentation verlieren und in den Duktus liberaler Erklärungen abgleiten¹⁰².
101 Vgl. Stephen M. Walt, The Enduring Relevance of the Realist Tradition, in: I. Katznelson & H. Milner (Hg.), Political Science: The State of the Discipline (New York: Norton, 2002), 197–230, 211. 102 Vgl. Jeffrey W. Legro & Andrew Moravcsik, Is Anybody Still a Realist?, International Security, vol. 24 (1999), 5–55. Es kann nicht überraschen, dass diese Kritik Anlass zu kontroversen – und z. T. auch unterhaltsamen – Kommentaren gab: vgl. Peter D. Feaver, Gunther Hellmann, Randall L. Schweller, Jeffrey W. Taliaferro, William C. Wohlforth, Jeffrey W. Legro, and Andrew Moravcsik, Brother, Can You Spare a Paradigm? (Or Was Anybody Ever a Realist?), International Security, vol. 25 (2000), 165–193; stichhaltig erscheinen u. a. die von P. Feaver, 165: „Legro and Moravcsik have written out of the book of realism a crucial insight that informs most realist theories (at least implicitly) and have thereby inadvertently excommunicated too many of the faithful. But they are wrong in a productive way, and correcting their mistake points in the direction of a fruitful research agenda for scholars – realists and antirealists alike.“ Gunther Hellmann, 173: „[W]hat scholars tend to share, whether they call themselves ‚realists‘ or ‚liberals‘, is not an unchanging set of identical core assumptions but what Wittgenstein calls ‚family resemblances‘ – characteristics that reveal they somehow belong together. But these characteristics do not allow for an analytical definition of what might constitute some ‚realist‘ or ‚liberal‘ essence in terms of necessary and sufficient conditions. It merely implies that individuality and similarity can be thought of as useful surrogates for generality and identity.“ Und William C. Wohlforth, 183–184: „Legro and Moravcsik have recast the entire field of international relations, invented two paradigms, completely reformulated two others, either expelled Waltz’s theory from the
Prämissen
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Ganz grundsätzlich könnte man neoklassischen Realisten auch noch entgegenhalten, dass die Vermarktung ihrer Theorieperspektive als eine ‚neue Forschungsrichtung, die eine Berücksichtigung innerstaatlicher und ideeller Faktoren mit dem Neorealismus integriert, ein (weiterer) Beleg für die geschichtsvergessene, selbstreferenzielle und label-orientierte Diskussion im amerikanischen IB-mainstream ist. Vieles, was neoklassische Realisten als ihren Beitrag zur Theoriebildung ausweisen, findet sich ja bereits in Literatur, die man dem klassischen Intergouvernementalismus und/oder der englischen Schule zuschreiben könnte.
5.1 Prämissen 5.1.1 Internationale Politik ist ‚anarchisch‘ Die internationale Politik kennt keine zentrale Ordnungsinstanz und ist vergleichbar mit einem Zustand der ‚Anarchie‘. Darin spielen relative Machtunterschiede zwischen Staaten eine entscheidende Rolle. Anarchie birgt Unsicherheit, ist aber deshalb noch kein ‚feindliches‘ Milieu. Staaten wissen nur nicht genau, was andere Staaten im Schilde führen, und handeln auf der Basis eigener Vorstellungen von anderen Staaten und ihrer Umwelt. Das anarchische Milieu ist in seiner Bedeutung immer auch Ergebnis staatlicher Interaktionen.
5.1.2 Staaten verfolgen (langfristige) Strategien in der Außenpolitik Staaten befinden sich zwar in einem Zustand der Unsicherheit, sie maximieren deshalb aber nicht nur (materielle) Verteidigungskapazitäten. Staaten kalkulieren eher langfristig und versuchen, gegenüber anderen Staaten an Macht und Einfluss zu gewinnen, um das internationale System zu ihren Gunsten verändern zu können. Je mehr Macht Staaten besitzen, desto ambitionierter ist die außenpolitische Strategie angelegt, um ihre Umwelt zu gestalten.
5.1.3 (Fehl-)Wahrnehmungen beeinflussen die Außenpolitik Die Wahrnehmungen außenpolitischer Entscheidungsträger beeinflussen die Anwendung staatlicher Macht in der außenpolitischen Praxis. Wirklichkeitsvorstellungen
realist corpus or else rewritten it, and rendered a stern judgment of ‚degeneration‘ on a large body of [realist] scholarship. […] One can defend the necessity of debating the merits of real schools of international relations scholarship. It is hard to see what value would be added by a new debate over imaginary ones.“
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können falsch sein und Akteure zu einer offensiven Außenpolitik verleiten, wo eine defensive sinnvoller wäre – und umgekehrt. Auf Fehlwahrnehmungen basierende Entscheidungen können das Gegenteil von dem bewirken, was Entscheidungsträger ursprünglich beabsichtigt haben.
5.1.4 Nationale Stärke beeinflusst die Außenpolitik Die Inhalte der außenpolitischen Strategie werden beeinflusst von nationaler Stärke: die Fähigkeit der Regierung, die verfügbaren Ressourcen eines Staates zum Einsatz zu bringen. Die Führungsstärke einer Regierung, ein parteiübergreifender Konsens zwischen den politischen Eliten über den außenpolitischen Kurs, ein hohes Maß an Rückhalt in der Bevölkerung sind Elemente nationaler Stärke, die den Handlungsspielraum einer Regierung bestimmen.
5.1.5 Staaten treffen außenpolitische Entscheidungen im historischen Kontext Machtunterschiede im internationalen System sind strukturelle Einflüsse, die aber nicht unmittelbar auf die Entscheidungsfindung wirken und Verhaltensweisen nach sich ziehen. Machtunterschiede entfalten ihren Einfluss über den Umweg von Regierungen und relevanten Akteuren des politischen Systems bzw. deren Wahrnehmungen von politischer Wirklichkeit. Die Wahrnehmungen politischer Akteure sind ihrerseits geprägt von historisch gewachsenen Vorstellungen, Ideologien, Werten und Normen, die von Staat zu Staat verschieden sein können.
5.2 Analytik und Aussagenlogik 5.2.1 Analytik Internationales System Staaten Anarchie Nationale Sicherheit Bedrohung Geopolitische Situation Machtunterschiede Machtpolitik Unsicherheit Wahrnehmungen
Nationales Interesse Grand Strategy / außenpolitische Strategie state strength / nationale Stärke – Führungsstärke der Regierung – Elitenkonsens im politischen System – Rückhalt in der Bevölkerung Politische Kultur – Traditionen – Ideologien – Werte, Normen
Analytik und Aussagenlogik
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5.2.2 Aussagenlogik Die internationale Politik kennt keine zentrale Ordnungsinstanz und ist vergleichbar mit einem Zustand der ‚Anarchie‘. Darin spielen relative Machtunterschiede zwischen Staaten eine entscheidende Rolle. Anarchie ist allerdings nicht per se unwirtlich in einem Hobbes’schen Sinne. Staaten können die anarchischen Umweltbedingungen weder ignorieren noch umgehen, sie müssen auf der Basis der durch das internationale System vorgegebenen Bedingungen miteinander interagieren. Wie sie das tun, hängt aber davon ab, welchen Spielraum sie in diesem Kontext für sich erkennen¹⁰³. Anarchie lässt sich deswegen am besten verstehen als ein unüberwindlicher und gleichzeitig undurchsichtiger Zustand, in dem Staaten um die Machtunterschiede zwischen ihnen wissen, aber nicht, was andere Staaten im Schilde führen. Staaten handeln in einem Zustand der Unsicherheit auf der Basis eigener Vorstellungen von ihrer Umwelt. Das anarchische Milieu ist zu jedem Zeitpunkt auch das Resultat staatlicher Interaktionen, insofern Staaten mit relativen Machtvorsprüngen entsprechend der von ihnen wahrgenommenen Handlungsspielräume als Akteure auftreten und die Bedingungen für alle anderen Staaten im System mitgestalten. Staaten streben dabei nicht grundsätzlich nach mehr Sicherheit gegenüber anderen Staaten sondern versuchen, gegenüber anderen Staaten an Macht zu gewinnen, um das internationale System zu ihren Gunsten zu verändern. Je mehr Macht Staaten besitzen, desto ambitionierter sind ihre außenpolitischen Versuche, die Umwelt in ihrem Sinn zu gestalten; sei es, dass sie gegen andere Staaten Maßnahmen ergreifen, um militärische, wirtschaftliche oder zivilgesellschaftliche Bedrohungen abzuwehren; oder sei es, dass sie alleine oder zusammen mit anderen Staaten Maßnahmen ergreifen, um mittel- und langfristig die nationale Sicherheit, Versorgung und industrielle Entwicklung zu gewährleisten. Dabei beeinflussen die Wahrnehmungen außenpolitischer Entscheidungsträger die Anwendung der verfügbaren Machtressourcen in der außenpolitischen Praxis¹⁰⁴. Hier gilt zu berücksichtigen, dass die Welt, in der sich Staaten befinden bzw. in der außenpolitische Eliten Entscheidungen treffen, zwar in einem objektiven Sinn existiert. Aber dennoch ist z. B. die Wahrnehmung nationaler Bedrohungen kein unproblematischer Sachverhalt, vielmehr unterliegt die Wahrnehmung der Umwelt immer historisch spezifischen Einflüssen ideologischer, politischer und kognitiver Art¹⁰⁵. Entscheidungsträger sind schließlich immer eingebunden in einen mehr oder weniger umfangreichen Personenkreis, der sich durch mehr oder weniger kohärente Werte und Vorstellungen auszeichnet. Unter diesem Einfluss gelangen Entscheidungsträger zu Wahrnehmungen und Wirklichkeitsvorstellungen,
103 Vgl. Gideon Rose, Neoclassical Realism, a. a. O., 151. 104 Vgl. ebda., 158. 105 Vgl. Steven E. Lobell, Threat Assessment, the State and Foreign Policy, in: J. W. Taliaferro, St. E. Lobell & N. M. Ripsman (Hg.), Neoclassical Realism, the State and Foreign Policy (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 42–74, 46–56.
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die richtig oder falsch sein und Staaten zu einer offensiven Außenpolitik verleiten können, wo eine defensive sinnvoller wäre – oder umgekehrt. Fehlwahrnehmungen können dazu führen, dass Entscheidungsträger das Gegenteil von dem bewirken, was sie ursprünglich beabsichtigt haben¹⁰⁶. Die Wahl der außenpolitischen Strategie wird außerdem stark beeinflusst von nationaler Stärke: die Fähigkeit entsprechender Entscheidungsträger in der Regierung, die verfügbaren Ressourcen eines Staates, v. a. Streitkräfte und militärisches Gerät, aber auch Produktion, Handel, Kredite und Investitionszusagen, gegenüber anderen Staaten zum Einsatz zu bringen. Die nationale Stärke bezieht sich in letzter Konsequenz auf die Zugriffsmöglichkeiten, die eine Regierung aufgrund der Funktionsfähigkeit der staatlichen Bürokratie besitzt, um auf die Ressourcen der innerstaatlichen Gesellschaft zurückzugreifen, die angesichts konkreter Umstände nützlich erscheinen. Dieser Zugriff wird erleichtert durch die Führungsstärke einer Regierung, einen parteiübergreifenden Konsens zwischen den politischen Parteien über den außenpolitischen Kurs, ein hohes Maß an Loyalität unter den gesellschaftlichen Eliten sowie eine große Legitimation der Regierung in der Bevölkerung. Als Elemente nationaler Stärke bestimmen diese Aspekte die Größe des außenpolitischen Handlungsspielraums, den eine Regierung im konkreten Fall besitzt. Aufgrund der Verschiedenheit vieler Staaten, was die innerstaatlichen Voraussetzungen für außenpolitische Entscheidungen betrifft, verbietet es sich, Wahrnehmungen, Wirklichkeitsvorstellungen, nationale Stärke und ihre jeweiligen Determinanten in einem rein formalen Sinn zu bestimmen. Die Mechanismen, die auf staatlicher Ebene den Einfluss der ungleichen Machtverteilung internationaler Politik filtern, müssen mit Blick auf die Besonderheiten des raumzeitlichen Kontexts konzipiert und operationalisiert werden. Wahrnehmungen, Wirklichkeitsvorstellungen und die nationale Stärke, die den Handlungsspielraum einer Regierung abgrenzen und zu Möglichkeitsbedingungen für außenpolitische Entscheidungen werden, sind ihrerseits geprägt von historisch gewachsenen und kulturell spezifischen Werten und Normen.
5.3 Heuristik Das erkenntnistheoretische Kernanliegen des neoklassischen Realismus lässt sich als einen Versuch beschreiben, Entscheidungen von Staaten auf den Einfluss zurückzuführen, den strukturelle in Verbindung mit innerstaatlichen Faktoren ausüben. Die Schwierigkeit liegt dabei in einem zweifachen Problem: einerseits lassen sich innenpolitische Faktoren nicht abstrakt und monolithisch betrachten, denn die analytisch 106 Vgl. Randall L. Schweller, Deadly Imbalances: Tripolarity and Hitler’s Strategy of World Conquest (New York: Columbia University Press, 1998), 168, z. B. mit dem Verweis auf die Fehleinschätzung auf der Seite der Sowjetunion gegenüber den Absichten des Deutschen Reichs im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs.
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relevante innenpolitische Konstellation variiert je nach historischem Kontext und von Staat zu Staat; andererseits können innenpolitische Faktoren die Wirkung struktureller Faktoren verstärken oder abschwächen, was eine eingehende Betrachtung der Innenpolitik mit Blick auf ihre konkreten raumzeitlichen Umstände umso dringender macht. In empirischer Hinsicht interessieren sich neoklassische Realisten sowohl für eher reaktive Verhaltensweisen als auch für den außenpolitischen Kurs, den Staaten für sich definieren, um ihre mittel- und langfristigen Interessen zu befriedigen. Dieser empirische Fokus geht über den neorealistischen Untersuchungsgegenstand hinaus. Zwar können auch Neorealisten die von Staaten betriebene Sicherheitsmaximierung für die Zwecke der Analyse als eine langfristig angelegte Strategie betrachten, dennoch bleibt diese Art von Politik ausschließlich eine Reaktion auf immer dieselben Systemimperative, nämlich: Verteidigungskapazitäten zu erhöhen. Um staatliche Politik angemessen verstehen zu können, ist es jedoch unabdingbar, die Herausforderungen für Staaten nicht nur militärisch zu begreifen sondern den Fokus auch auf die Inhalte der Außenpolitik zu richten, die innenpolitisch begründet sind und staatlicher Außenpolitik eine kontextspezifische Richtung geben¹⁰⁷.
5.3.1 Außenpolitik im Zeichen akuter Bedrohung 5.3.1.1 Die innerstaatlichen Grundlagen für das britische Appeasement Die britischen Verteidigungsausgaben in der Zeit zwischen 1920 und 1939 waren mit weniger als 5% des Nationaleinkommens die niedrigsten in der Geschichte des Landes überhaupt. Das ist umso erstaunlicher, als Großbritannien während der Zwischenkriegszeit auf dem Zenit seiner Macht war, gemessen an der Größe seiner Einflusssphäre. Vielleicht noch überraschender ist in dem Zusammenhang die konsequent betriebene Appeasement-Politik, zumal gegen Deutschland in den 1930erJahren, die offensichtlich mit der Tradition der britischen balance-of-power Politik vor 1914 gebrochen hatte¹⁰⁸. Die Imperative des internationalen Systems, abgeleitet aus dem rapiden Machtzuwachs Deutschlands und der daraus resultierenden Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien, hätten eine aktive balancing-Politik gegen Deutschland spätestens ab Anfang der 1930er-Jahre noch stärker nahegelegt, als in der Zeit vor 1914. Die Gründe für das ‚Versäumnis‘ auf der Seite Großbritanniens, sich entsprechend der vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten des internationalen Systems zu verhalten, lagen v. a. in einem breiten Konsens zwischen relevanten politischen und gesellschaftlichen Eliten, dass die innerstaatliche Rentabilität des sozio-
107 Vgl. Richard Rosecrance & Arthur A. Stein, Beyond Realism: The Study of Grand Strategy, in: R.Rosecrance & A.A. Stein (Hg.), The Domestic Bases of Grand Strategy (Ithaca: Cornell University Press, 1993), 3–21, 13. 108 Vgl. Randall L. Schweller, Unanswered Threats, a. a. O., 187–188.
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ökonomischen Systems nicht auf Kosten der internationalen Stabilisierung gefährdet werden dürfe. Die britische Innenpolitik hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs große Anstrengungen unternehmen müssen, um einem ‚Linksruck‘ im politischen System entgegenzuwirken. In dem Maß, wie die Liberalen noch während des Ersten Weltkriegs an Rückhalt in der Bevölkerung verloren, gewannen Gewerkschaften und die LabourPartei an Zulauf¹⁰⁹. Nach dem Ersten Weltkrieg verschärften sich die Spannungen zwischen den eher konservativen und den linken Milieus der Arbeiterschaft aufgrund zunehmender wirtschaftlicher Probleme. Industriearbeiter und ihre Gewerkschaften gerieten in Konflikt mit den überwiegend öffentlichen Arbeitgebern über die geplante Privatisierung der international kaum noch konkurrenzfähigen Montanindustrie. Die Schwerindustrie v. a. der USA hatte britische Produkte zusehends vom Weltmarkt verdrängt. Die britische Stahlproduktion stieg zwar weiter an, doch die Kohleförderung und auch der Schiffbau erreichten in der Zwischenkriegszeit nicht mehr den Stand vor 1914. Kohle wurde zudem von Öl als neuem Energieträger verdrängt. Daneben wuchs auch die Konkurrenz für die britische Textilindustrie aus den asiatischen Staaten. Verschärft wurde diese Entwicklung durch den schleichenden Kapitaltransfer, der mit den Kriegskrediten aus den USA begann, die insgesamt 11 % zur britischen Kriegsfinanzierung beitrug, und die darin kulminierte, dass London seine Position als wichtigster Finanzplatz an New York verlor. Die sozioökonomisch bedingten Unruhen im Land wurden erst 1926 mit einem allgemeinen Streikverbot beruhigt, das von einer bürgerlich-konservativen Mehrheit initiiert worden war und sogar auf Zustimmung bei vielen Arbeitern stieß, die entsprechende Warnungen der Oberschicht vor einer Gefährdung der wirtschaftlichen Stabilität aufgrund maßloser Forderungen der Gewerkschaften für glaubwürdig hielten. Die britische Politik während der Zwischenkriegszeit war grundsätzlich geprägt von diesem cleavage zwischen den dominierenden Konservativen und der aufbegehrenden Arbeiterbewegung. Und in dem Maß, wie die Konservativen die Oberhand behielten, stand sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik im Dienst, die Aufwertung der Arbeiterschaft und eine Stärkung ihrer politischen Institutionen um jeden Preis zu verhindern. Praktisch bedeutete das für die britische Außenpolitik eine Abkehr von der traditionellen – und verhältnismäßig teueren – balance-of-power-Strategie. Ohne wie auch immer geartete Verbindungen zu Staaten wie Frankreich, Belgien oder 109 Vgl. Hans-Christoph Schröder, Englische Geschichte (München: Beck, 5. Auflage, 2006), 68–69: „Im Unterschied zu den Arbeiterbewegungen anderer Länder ist die britische Arbeiterbewegung durch den Ersten Weltkrieg trotz der in ihr vertretenen unterschiedlichen Positionen nicht anhaltend gespalten worden. Vielmehr gelang es ihr auf erstaunliche Weise, die Vorteile einer Kooperation im Rahmen der Kriegswirtschaft für die Arbeiterschaft zu nutzen und zugleich von einer kritischen Haltung gegenüber der Außen- und Kriegspolitik zu profitieren, die wegen der starken moralischen Tradition in England, besonders unter Intellektuellen großen Anklang fand. Bei den Wahlen von 1918 erhielt die Labour Party 22,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie löste die Liberale Partei als die wichtigste Partei des Fortschritts ab.“
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der Sowjetunion stand nicht zu befürchten, dass entsprechende Bündnisverpflichtungen gegenüber diesen Staaten eine Koordinierung der nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken erforderlich machen würde. Einmischungen dieser Staaten in die inneren Angelegenheiten und eventuelle Zusagen für kostspielige Rüstungsanstrengungen würden damit umgangen werden¹¹⁰. Stattdessen verfolgte die britische Regierung zunächst eine zweispurige Strategie, indem sie einerseits eine Haltung des Appeasements, basierend auf bilateralen Abrüstungsgesprächen und Friedensverhandlungen, gegenüber Deutschland einnahm und andererseits eine begrenzte Aufrüstung der Royal Air Force zur Steigerung ihrer Luftabwehrkapazitäten betrieb. Die britische Regierung hielt an dieser Strategie, die der innerstaatlichen Stabilisierung einen Primat gegenüber nationaler Aufrüstung und auswärtigen Sicherheitsgarantien einräumte, sogar fest, als sich abzeichnete, dass Deutschland durch Konzessionen allein nicht beschwichtigt werden konnte. Die wachsende Bedrohung, die von Deutschland ausging, wurde im politischen System durchaus gesehen. Bereits 1932 annullierte das britische Kabinett seine Anweisung an die Streitkräfte, Anschaffungsvorschläge für militärisches Gerät auf der Basis zu formulieren, dass Großbritannien während der nächsten zehn Jahre nicht in einen größeren Krieg hineingezogen werden würde. Und 1935 formulierte das Defense Requirement Committee seine Richtlinien, dass dringende Sicherheitsbedürfnisse des Staates Vorrang gegenüber finanziellen Erwägungen besäßen¹¹¹. Damit war schon vor der Rheinland-Besetzung durch deutsche Truppen anno 1936 offensichtlich geworden, dass auch das Regierungslager in seiner außen- und sicherheitspolitischen Haltung nicht homogen war. Nach 1936 stellte sich dieses Problem noch akuter dar, insofern im Lager der Konservativen ein tragfähiger Kompromiss zwischen denen gefunden werden musste, die weiterhin an ihrer Appeasement-Strategie festhielten, und den sogenannten antiappeasers, die jetzt bereit waren, Deutschland an der Seite von Frankreich oder der Sowjetunion entgegenzutreten. Der Grund dafür, dass die konservativen Eliten sich nicht mehrheitlich auf den Kurs der anti-appeasers um Churchill einigen konnten, hatte viel damit zu tun, dass die größere Gruppe um Chamberlain der innerstaatlichen Bedrohung durch die Linke ein großes Gewicht beimaß. Bei ihnen überwog die Furcht, dass eine aktive balancingPolitik die Kriegswahrscheinlichkeit erhöhte und eine Steigerung der Rüstungsausgaben für die Produktion von Schiffen, Flugzeugen, Kanonen, gepanzerten Fahrzeugen usw. nach sich ziehen würde. Zwangsläufig wäre mit Forderungen der organisierten Industriearbeiterschaft nach kompensatorischen Maßnahmen zu rechnen. Für die Arbeiter waren Investitionen in Sozialleistungen und eine Verbesserung der Lebensbedingungen lange Zeit wichtiger als die Anschaffung von Kriegsgerät. Außenpolitisch machte sich Labour grundsätzlich für ein größeres Engagement Großbritanniens im Völkerbund stark und beschwor eine Orientierung der Außenpolitik an den Prinzi110 Vgl. Randall L. Schweller, Unanswered Threats, a. a. O., 188. 111 Vgl. ebda., 189.
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pien der rule of law und ‚kollektive Sicherheit‘. Gleichzeitig sollte sichergestellt sein, das Großbritannien dabei keine führende Rolle übernahm. Ab 1936 erkannte zwar auch Labour die Gefahr, die von Deutschland ausging und befürwortete ein aktiveres Vorgehen gegen Aggressionen sowohl im Völkerbund als auch in einer Allianz mit der Sowjetunion. Ein Krieg gegen Deutschland wäre dabei allerdings nicht das Ziel. Sollte der Kriegseintritt dennoch notwendig werden, dann wäre die Unterstützung von Labour an die Bedingung geknüpft, dass alle Schichten ihren Anteil der Kriegslasten übernehmen müssten¹¹². Die Appeasement-Politik der britischen Regierung gegenüber Deutschland war die Verwirklichung einer außenpolitischen Strategie, die in einem zunehmend heterogenen politischen System einen Kompromiss auf der Basis des größten gemeinsamen Nenners widerstreitender Parteien und Fraktionen darstellte. Dabei war entscheidend, dass eine konservative Mehrheit die Inhalte der Außenpolitik in Abhängigkeit von innerstaatlichen Konfliktlinien festlegte.
5.3.1.2 Der Kosovo-Konflikt, die Intervention des ‚Westens‘ und die Reaktion Serbiens Konflikte zwischen Serben und Albanern über das Gebiet des Kosovo reichen weit in die Geschichte zurück und bilden den historischen Kontext der Spannungen, die in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in einem Bürgerkrieg eskalieren sollten. Den Stein ins Rollen brachten im Jahr 1980 die Forderungen der Kosovo-Albaner nach politischer Autonomie und Anerkennung des Kosovo als eigenständiger Teil des jugoslawischen Bundesstaates. Kosovo-Serben reagierten auf diese Forderungen mit Provokationen, die den althergebrachten Konflikt von Neuem schürten, und die im Ergebnis dazu beitrugen, dass der jugoslawische Präsident Milosevic 1989 zuerst den Autonomiestatus des Kosovo abschaffte, um darauf die Diskriminierung der Kosovo-Albaner zu verstärken. Die Kosovo-Albaner leisteten anfangs v. a. passiven Widerstand, um ihre Unzufriedenheit über den Autonomieverlust zum Ausdruck zu bringen. Ab Mitte der 1990er-Jahre nahm die Radikalisierung des Protests zu und die Bildung einer albanischen Befreiungsarmee für das Kosovo (UCK) wurde zur Plattform für die Planung und Durchführung eines Guerillakrieges gegen serbische Verbände und Behörden. Ab 1998 herrschte im Kosovo Bürgerkrieg, als die albanische Befreiungsarmee offen
112 Vgl. Paul Kennedy, zitiert in Randall L. Schweller, Unanswered Threats, a. a. O., 194: „Already the Labour Party spokesmen and trade unions were making it clear that, if war came, the price for their full-hearted support would be the ‚conscription of wealth‘ as well as manpower, and the nationalization of certain key industries. Churchill, Eden and their friends might have been willing to pay this price; but there was little sign that Chamberlain, or many industrialists, or most of the Conservative Party, were.“
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gegen serbische Militärs vorging und serbische Verbände im Gegenzug Vergeltungsmaßnahmen an der albanischen Zivilbevölkerung durchführten¹¹³. Nach den Erfahrungen mit den serbischen Aggressionen in Bosnien, beeilten sich zahlreiche westliche Regierungen unter der Führung durch die USA, auf die Krise im Kosovo frühzeitig und wirksam zu reagieren. Bereits 1998 unternahm die sogenannte ‚Kontaktgruppe‘, bestehend aus den Regierungen der USA, EU und Russlands, erste Vermittlungsversuche gegenüber albanischen Milizen und serbischen Behörden. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete zwischenzeitlich eine Resolution, mit der Waffenlieferungen nach Serbien untersagt wurden. Unter Androhung von Luftschlägen willigte die serbische Regierung ein, eine Beobachter- und Verifikationsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in den Kosovo zu lassen, um einen vorher vereinbarten Waffenstillstand zu überwachen. All das konnte allerdings nicht bewirken, dass die Kämpfe zwischen albanischen und serbischen Verbänden zum Stillstand kamen. Im Gegenteil erschwerte die hartnäckige Weigerung der serbischen Regierung, ihrerseits ernsthafte Schritte zur Lösung des Kosovo-Konflikts zu unternehmen, jedwede Friedensbemühung und nährte die Bereitschaft westlicher Regierungen, den Konflikt mithilfe der NATO und militärischen Zwangsmaßnahmen zu beenden. Schließlich richtete die NATO am 23. Februar 1999 auf der Grundlage des Rambouillet-Vertrages zwei konkrete Forderungen an die serbische Regierung: Anerkennung einer weitgehenden Autonomie für das Kosovo und eine Erlaubnis für die NATO zur Stationierung von Friedenstruppen mit dem Recht auf freie Bewegung inklusive der Durchführung von Manövern auf jugoslawischem Hoheitsgebiet. Auf die Weigerung der serbischen Regierung, diesen Forderungen nachzukommen, erhöhten v. a. die Regierungen der ‚Kontaktgruppe‘ den diplomatischen Druck auf Serbien, um auf diesem Wege noch eine Zustimmung ohne militärische Zwangsmaßnahmen zu erreichen¹¹⁴. Die serbische Regierung ließ sich aber auch durch diese Versuche nicht zu einer Einwilligung bewegen. Stattdessen präsentierte sie am 15. März in Paris ihrerseits politische Forderungen gegenüber den westlichen Staaten, die so unvereinbar mit denen der NATO waren, dass sie von westlicher Seite nur als Ausdruck eines fehlenden Interesses an einer diplomatischen Lösung der Krise angesehen werden konnten¹¹⁵. Tatsächlich verlautbarte der serbische Präsident Milose113 Balkan Devlen & Özgür Özdamar, Neoclassical Realism and Foreign Policy Crises, in: A. FreybergInan, E. Harrison & P. James (Hg.), Rethinking Realism in International Relations: Between Tradition and Innovation (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2009), 136–162, 149. 114 Vgl. ebda., 154: „German Foreign Minister Joschka Fischer and EU Commissioner for Foreign Affairs Hans Van den Broek went to Belgrade on March 8 to try to convince Milosevic personally. Richard Holbrooke and Christopher Hill followed them a few days later.“ 115 Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der PDS, BTDrucksache 14/3047, ‚Kriegsbilanz‘ (Berlin, 2001), 45: „Die Belgrader Delegation war nach Wiederaufnahme der Verhandlungen in Paris am 15. März 1999 nicht bereit, das Verhandlungsergebnis von Rambouillet anzuerkennen; sie hat sich darüber hinaus auch in Paris jeglicher Diskussion sowohl
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vic wenige Tage später, dass Serbien den westlichen Forderungen nicht nachkommen würde. Und wie als Beweis dafür beschloss die serbische Regierung fast zeitgleich, mit der Umsetzung des sogenannten ‚Hufeisenplans‘ zu beginnen, wodurch die ethnischen Säuberungen im Kosovo noch intensiviert werden sollten¹¹⁶. Nachdem aufs Neue Tausende Kosovo-Albaner aufgrund serbischer Angriffe aus ihren Häusern vertrieben worden waren, entschied die Regierung der USA, mithilfe der NATO die Operation Allied Force durchzuführen¹¹⁷. Konzipiert als Luft-Boden-Offensive richtete sich diese Operation gegen serbische Ziele im Kosovo und im serbischen Kernland, wobei sich Umfang, Dauer, Intensität und Zielauswahl ausschließlich an politischen Vorgaben orientierten. Je schneller die serbische Regierung einlenkte, desto eher würden die militärischen Aktionen beendet werden. Aus westlicher Sicht überraschend, dauerte die Operation über elf Wochen – vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 –, beinhaltete zum Teil drastische Maßnahmen, die nachträglich durchaus kritisch beurteilt wurden¹¹⁸,
über die zivilen als auch militärischen Strukturen einer Umsetzung des Abkommens verweigert. Vor diesem Hintergrund musste die internationale Gemeinschaft davon ausgehen, dass auf Belgrader Seite keine Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen und zur Unterzeichnung eines Abkommens bestand.“ 116 Vgl. Balkan Devlen & Özgür Özdamar, Neoclassical Realism, a. a. O., 155. 117 Vgl. Peter Mayer, War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt? Die Operation „Allied Force“ im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, vol. 6. (1999), 287–321, 302: „Mit ‚Allied Force‘ verfolgte die NATO offiziell fünf Ziele: Jugoslawien sollte (1) die Gewalt im Kosovo einstellen, (2) seine Truppen aus der Provinz zurückziehen, (3) der Stationierung einer internationalen Friedenstruppe unter NATO Führung zustimmen, (4) den Flüchtlingen die Rückkehr erlauben und internationalen Hilfsorganisationen Zutritt gewähren und (5) eine am Rambouillet-Abkommen orientierte politische Lösung für das Kosovo akzeptieren.“ 118 Vgl. Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo Report. Conflict, International Response, Lessons Learned (Oxford: Oxford Univ. Press, 2000), 179–182: „After the first period of bombing, NATO expanded its target list and began destroying the civilian infrastructure of Serbia, bombing bridges, broadcasting stations, electricity supply, political party offices, and other facilities considered basic to civilian survival. Such targeting is questionable under the Geneva Conventions and Protocol I, but it must be acknowledged that state practice in wartime since World War ii has consistently selected targets on the basis of an open-ended approach to ‚military necessity‘, rather than by observing the customary and conventional norm that disallows deliberate attacks on non-military targets. […] Human Rights Watch has carefully documented that at least 500 non-combatant civilians were killed by NATO bombs and missiles in Serbia and Kosovo. A significant number of these civilian deaths occurred during attacks on civilian infrastructure targets, and others as a result of the use of legally dubious cluster bombs against targets located in densely populated areas.[…] The ecological/ environmental effects of the bombing campaign also are alleged to have a long-term civilian consequences, both in Serbia and in Kosovo. […] UNEP does document several extremely serious toxic leaks caused by the bombing of industrial and petroleum complexes in several cities. These leaks created environmental and humanitarian emergencies posing uncertain long-term risks and demanding immediate clean-up. […] Another disturbing environmental concern raised during the war was the widespread use of depleted-uranium (du) tipped armor-piercing shells and missiles. Upon explosion, such shells and missiles release respirable uranium dioxide into the atmosphere, with potential serious long-term health consequences.“
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und brachte im Ergebnis den Rückzug serbischer Streitkräfte aus dem Kosovo, aber nicht die erhoffte Diskreditierung der serbischen Regierung¹¹⁹. Auf den ersten Blick wirkt überraschend, dass die serbische Regierung trotz der von westlichen Staaten aufgebauten Drohkulisse nur sehr zögerlich von ihrer aggressiven Haltung gegenüber dem Kosovo abrückte. Die Vorbereitungen für militärische Maßnahmen liefen bereits seit 1998, erstreckten sich auf eine beträchtliche Mobilisierung schlagkräftiger Angriffssysteme (u. a. Flugzeugträger, Kampfflugzeuge, Marschflugkörper) und wären somit eigentlich geeignet gewesen, der serbischen Regierung die riesige militärische Überlegenheit der NATO klar vor Augen zu führen. Selbst als die NATO massive Militärschläge durchgeführt hatte, ließen serbische Einheiten im Kosovo immer noch nicht von systematischen Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen an der albanischen Zivilbevölkerung ab. Die Gründe für die relativ unbewegliche Haltung der serbischen Regierung können mithilfe des neoklassischen Realismus allerdings gut in den Blick genommen werden: Einerseits lagen sie in Wahrnehmungsfehlern auf der Seite der serbischen Regierung und andererseits in einem parteiübergreifenden Konsens über die nationalistische Ausrichtung der serbischen (Außen-) Politik, der sich zudem auf einen starken Rückhalt in der serbischen Bevölkerung stützen konnte. Irrtümlicherweise gingen Milosevic und seine Berater davon aus, dass die wiederholte Geltendmachung nationaler serbischer Interessen gegenüber dem Kosovo und die damit verbundene unnachgiebige Haltung gegenüber den Forderungen des Westens keine ernsten Konsequenzen haben würden. Die Erfahrungen mit der zögerlichen und uneinheitlichen Politik westlicher Staaten angesichts der ethnischen Säuberungen in Bosnien gaben zumal keinen Anlass zu Befürchtungen, dass westliche Regierungen gegen vermeintliche Stabilisierungsversuche der Regierung Rest-Jugoslawiens im Kosovo konkrete Schritte unternehmen würden. Nicht zuletzt die USA schien für Milosevic ein verlässlicher Partner, weil die amerikanische Regierung angesichts diplomatischer Konflikte grundsätzlich eine Verhandlungslösung anstrebte und kooperative Gesten honorierte. Vor allem deutete aus seiner Sicht nichts darauf hin, dass die USA auf einen Regimewechsel in Rest-Jugoslawien hinarbeitete, wenngleich auch nicht von einer Duldung aller serbischer Aktivitäten durch die USA auszugehen war¹²⁰. Dass die serbische Regierung selbst dann noch an der Version festhielt, albanische Separatisten bedrohten die öffentliche Sicherheit und territoriale Integrität des Staates, weswegen der Einsatz staatlicher Gewalt gleichzusetzen wäre mit antiterroristischen Maßnahmen, als die NATO schon Militärschläge durchführte, erklärt sich durch den parteiübergreifenden Konsens und die Unterstützung durch die serbische Bevölkerung. Die Regierung Milosevic stützte sich seit ihrem Amtsantritt 1987 119 Vgl. Berthold Meyer & Peter Schlotter, Die Kosovo-Kriege 1998/99. Die internationalen Interventionen und ihre Folgen, Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report 1/2000 (Frankfurt, 2000), 41. 120 Vgl. Balkan Devlen & Özgür Özdamar, Neoclassical Realism, a. a. O., 152.
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auf einen starken Rückhalt unter nationalistischen serbischen Bevölkerungskreisen, nicht ohne selbst zum Erstarken eben dieses serbischen Nationalismus beigetragen zu haben¹²¹. Je mehr der jugoslawische Bundesstaat seit 1991 durch ethnische Konflikte und Separationsbestrebungen in seiner Existenz gefährdet wurde, desto stärker kam der serbische Nationalismus als aggressive und chauvinistische Haltung zum Ausdruck. Die aus Sicht westlicher Staaten als irrationale Sturheit anmutende Haltung der serbischen Regierung anno 1999 lässt sich vor diesem Hintergrund besser und angemessener verstehen als ideologisch und opportunistisch motivierter Schulterschluss mit der innerstaatlichen Klientel. Jede Preisgabe des serbischen Kernlands, zu dem seit 1389 auch das Kosovo gehörte, wäre für die Regierung Milosevic gleichbedeutend gewesen mit einem Verlust an Unterstützung im politischen System und im serbischen Volk¹²².
5.3.2 Außenpolitik als Grand Strategy 5.3.2.1 Die Formulierung der Grand Strategy Staatliche Außenpolitik lässt sich mit Blick auf ihre policy-Dimension für die Zwecke der Untersuchung am besten als Grand Strategy beschreiben. Damit sind die grundsätzlichen inhaltlichen Zielvorstellungen eines Staates gemeint, die ihrerseits festlegen, welche staatlichen Ressourcen bei der Verfolgung dieser Zielsetzungen zum Einsatz kommen sollen¹²³. Aus neoklassischer Perspektive erfüllt die allgemeine strategische Ausrichtung von Staaten, ihre jeweilige Grand Strategy, die zweifache Anforderung an ein kohärentes Untersuchungsobjekt: Die Untersuchung der Grand Strategy erlaubt, sowohl systemische Phänomene als auch innerstaatliche Faktoren bei der Analyse zu berücksichtigen. Die Formulierung einer Grand Strategy speist sich zunächst und primär aus der Identifikation möglicher Bedrohungen für die nationale Sicherheit. Nationale Sicherheit kann sich auf das kurz- und mittelfristige Überleben eines Staates beziehen, nationale Sicherheit kann aber auch die mittel- und langfristige Unversehrtheit des Staates bedeuten. Staatliche Eliten investieren viel Zeit und Energie in die Beurteilung der strategischen Lage, in der sich Staaten befinden; dabei versuchen sie, die Besonderheiten der geopolitischen Konstellation mit Blick auf materielle Machtunterschiede, 121 Vgl. ebda. 122 Vgl. ebda.: „Without a doubt, the Kosovo issue was, and still is, deeply entwined within the largegroup identity of Serbs and had a special meaning for Milosevic’s political career. Concern for this issue ruled out any policy that suggested submitting to the U.S. demands articulated in Rambouillet (which could have led to Kosovar independence) to avoid a militarized conflict. Thus Milosevic had to choose between engaging in negotiations to avoid conflict or standing firm and risking military confrontation.“ 123 Vgl. Nicholas Kitchen, Systemic Pressures and Domestic Ideas: A Neoclassical Realist Model of Grand Strategy Formation, Review of International Studies, vol. 36 (2010), 117–143, 120.
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aber auch mit Blick auf eine Vielzahl weiterer Risikofaktoren und die sich daraus ergebenden Bedrohungen zu erkennen. Die Forcierung zumal der atomaren Rüstungsanstrengungen eines Staates kann bedrohlich sein, gleichermaßen kann aber auch eine wissenschaftliche bzw. (militär-)technische Revolution in einem anderen Staat/ Erdteil und/oder die relative Überalterung der eigenen Gesellschaft zur Bedrohung werden. Wichtig ist der Umstand, dass die Bedrohung zwar objektiv vorliegt, aber als solche gedeutet und erkannt werden muss. Je ambivalenter die Informationen über die strategische Lage, desto mehr beeinflussen Vorurteile und Annahmen das Urteilsvermögen. Die Einschätzung der Lage durch außenpolitische Eliten ist ihrerseits immer von historisch spezifischen, ideologischen, politischen und kognitiven Vorurteilen geprägt. Je nachdem, wie außenpolitische Eliten ihren eigenen Staat und sein Umfeld zu sehen gelernt haben, nehmen sie eine entsprechende Einschätzung der Lage vor und identifizieren relevante Bedrohungen. Selbst wenn außenpolitischen Entscheidungsträgern stichhaltige Informationen zur Verfügung stehen, sie die Umstände bestimmter Situationen mit hinreichender Klarheit erkennen und mehr oder weniger unstrittige Lageeinschätzungen vornehmen können, bleibt immer Spielraum für Interpretationen. Selbst für den Fall, dass eine Risikoeinschätzung z. B. mit Blick auf offensichtlich ungleich verteilte (militärische) Potenziale vorgenommen wird, lassen sich die damit verbundenen Bedrohungen nur als solche erkennen, wenn neben der Analyse einsatzfähiger materieller Ressourcen auch die Intention eines anderen Staates an der Frage überprüft wird, ob etwaige Vorteile auf seiner Seite zum Nachteil des eigenen Staates ausgenutzt werden. Und diese letztere Aufgabe ist deswegen umso wichtiger, weil Wahrnehmungsfehler die Einschätzung dieser Intention verzerren können. Abgesehen davon, liegt eine weitere Schwierigkeit darin, dass Bedrohungen in der Praxis von den an der Strategiewahl Beteiligten gar nicht auf dieselben Ursachen zurückgeführt werden müssen; während die einen capabilities und die dahintersteckenden Intentionen eines Staates als bedrohlich empfinden, sehen andere bestimmte Staaten aufgrund ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und/oder Kultur als bedrohlich an; wieder andere sehen in Veränderungen des internationalen Systems, z. B. mit Blick auf wirtschaftliche Prozesse, Bevölkerungsentwicklungen und/oder Umweltschäden, die größten Herausforderungen für die nationale Situation¹²⁴. Eine Untersuchung aus neoklassischer Perspektive kommt nicht umhin, entsprechende Deutungen der Situation durch außenpolitische Eliten, zumal wenn sie nicht deckungsgleich sind und miteinander vereinbart werden müssen, sehr ernst zu nehmen. Das zweite Element, das in die Formulierung einer Grand Strategy einfließt, ist die Auswahl geeigneter Maßnahmen, um vorliegenden Bedrohungen begegnen zu können. Dieser Prozess beginnt mit einem Überblick über die vorhandenen Ressourcen, daran schließt sich eine Evaluation ihrer Effektivität sowie ihrer Legitimität an.
124 Vgl. ebda., 135.
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In nahezu allen Staaten herrschen unterschiedliche Auffassungen im außenpolitischen Establishment darüber, welche Mittel zum Einsatz gebracht werden sollen, um auf Gefahren zu reagieren¹²⁵. Damit ist nicht nur die Art der wahrgenommenen Bedrohung sondern auch die Mehrheit der Befürworter entsprechender Maßnahmen dafür entscheidend, wie ein Staat im konkreten Fall re/agiert. Bevor also noch Fragen nach der Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen diskutiert werden, wird oft zu beobachten – und analysieren – sein, welche Fraktionen und welche Vorstellungen die Diskussionen über den außenpolitischen Kurs prägen. Effektivitätsgesichtspunkte können vor diesem Hintergrund auch nicht als rein technische Standards erachtet werden, sondern sind eng verbunden mit Glaubensfragen betreffend die ‚richtige‘ Antwort auf äußere Gefahren. Das drückt sich auch noch einmal in der Rechtfertigung aus, die immer mit dem Einsatz außenpolitischer Maßnahmen einhergeht. Je nachdem, welche Vorstellungen von der außenpolitischen Rolle eines Staates im innerstaatlichen Bereich dominieren, z. B. als ‚Zivilmacht‘ oder als ‚Ordnungsmacht‘, werden sich die Legitimationsversuche entsprechender Kreise daran orientieren¹²⁶. Das dritte Element der Grand Strategy-Formulierung beinhaltet die Festlegung komplementärer Ziele und entsprechender Hilfsmaßnahmen. Komplementärziele können auf expansionistische Unternehmungen im Sinne der klassischen Einflusssphärenpolitik oder eine Steigerung ökonomischer Potenz hinauslaufen; sie können die Verfolgung von historisch und kulturell gewachsenen Interessen nahelegen; sie können die Förderung ethischer oder politischer Ideen beinhalten; sie können sich aber auch auf ‚globale‘ Interessen erstrecken. Der Wahl komplementärer Ziele und entsprechender Hilfsmaßnahmen geht immer eine Diskussion über allgemeine Prinzipien und Ziele der staatlichen Außenpolitik voraus, nachdem systembedingte Herausforderungen in ihrer Bedeutung für den spezifischen nationalen Kontext bis auf weiteres geklärt worden sind.
5.3.2.2 Parteiübergreifender Konsens in der amerikanischen Außenpolitik 1945–1950 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sahen sich die außenpolitischen Eliten der USA erneut mit dem Dilemma konfrontiert, zwischen zwei grundsätzlichen außenpolitischen Orientierungen wählen zu müssen: ‚Isolationismus‘ oder ‚Internationa125 Vgl. ebda: „For example, within militaries the different forces tend to hold competing ideas about the effectiveness of their respective methods. Elsewhere within the state, some actors may consider that particular goals require the use of economic sanctions and military ‚sticks‘, whereas other actors prefer to rely on the ‚carrots‘ of trade and softer elements of power.“ 126 Die Regierung einer ‚Zivilmacht‘ wie z. B. Deutschland seit 1945 rechtfertigt ihre eher zurückhaltende Beteiligung an humanitären Interventionen mit Hinweis auf verfassungsrechtliche Schranken für außenpolitische Militäreinsätze; die Regierung einer ‚Ordnungsmacht‘ wie z. B. Großbritannien während des 19. Jahrhunderts rechtfertigt ihr auswärtiges militärisches Vorgehen mit Verweis auf die Verantwortung für Sicherheit und Frieden.
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lismus‘. Bis unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herrschte innerstaatlich ein parteiübergreifender Konsens dahingehend vor, dass die USA sich nur dann politisch und militärisch außerhalb ihrer eigenen Hemisphäre engagieren sollte, wenn ihre Interessen unmittelbar betroffen wären¹²⁷. Militärische Interventionen, wie die in den Philippinen 1899–1902, blieben die Ausnahme. Wilson unternahm im Rahmen der Pariser Friedensverhandlungen ab Januar 1919 den ersten Versuch, diese traditionell isolationistische Orientierung zugunsten einer aktiveren Rolle der USA im Völkerbund zu überwinden, scheiterte jedoch aufgrund der starken Opposition im amerikanischen Senat¹²⁸. Die überwiegend isolationistische Haltung unter außenpolitischen Eliten veranlasste die amerikanische Regierung noch 1939, gegenüber dem deutschen Angriff auf Polen ‚neutral‘ zu bleiben. Während und v. a. nach dem Zweiten Weltkrieg unternahmen Roosevelt und dann Truman einen weiteren Versuch, die isolationistische Haltung zu überwinden. Ihrer Auffassung nach lag es im ureigensten Interesse der USA, sich mit anderen Staaten zu verbünden und gewisse Verpflichtungen einzugehen, um die Unwägbarkeiten der politischen Entwicklung zu den eigenen Gunsten beeinflussen zu können. Gegenüber der nach wie vor isolationistisch gestimmten Mehrheit im Kongress versuchten sie, mit Unterstützung einflussreicher Personen einen parteiübergreifenden Konsens herzustellen, um die Bündnisverpflichtungen der USA zum Kern einer neuen internationalistischen Strategie machen zu können¹²⁹. Roosevelt und auch Truman, bzw. ihre jeweiligen Berater und Stäbe, erkannten recht schnell die Besonderheiten der neuen geopolitischen Konstellation. Die Sowjetunion demonstrierte im Krieg gegen Deutschland ihre Fähigkeit, die Bedrohung 127 Vgl. Raymond A. Esthus, Isolationism and World Power, Diplomatic History, vol. 2 (1978), 117–128. Auch dieser Sachverhalt ist hier aus Gründen der theoretischen Veranschaulichung stark vereinfacht. Geschichtliche Epochen lassen sich nie mit so kurzen Sätzen angemessen repräsentieren. Deswegen sei an dieser Stelle kurz darauf hingewiesen, daß eine anspruchsvollere Betrachtung des sog. amerikanischen ‚Isolationismus‘ ein differenziertes Bild ergibt: “Economic nationalism and ideological discord dominated the U.S. political economy and Republican foreign policy making at the turn of the century. The Republican Party, the party of protectionism, found itself riven by internal disagreements over the future course for the protectionist system and U.S. imperial expansion. From within Republican protectionist ranks arose a progressive wing that increasingly looked beyond the home market for the country’s growing agricultural and manufacturing surpluses. They did so against staunch antiimperial opposition not only from Democratic President Grover Cleveland and American free-trade independents, but also from the Republican Party’s isolationist homemarket protectionists, who yet feared or disdained foreign markets and colonial acquisitions. These progressive Republican proponents of empire combined coercive trade reciprocity with protectionism – an expansive closed door – and struggled for control of Republican foreign policy from the Harrison to the Taft administrations.” Marc-William Palen, The Imperialism of Economic Nationalism, 1890–1913, Diplomatic History, Advance Access published February 7, 2014, doi:10.1093/dh/dht135, 6. 128 Vgl. Charles A. Kupchan & Peter L. Trubowitz, Grand Strategy for a Divided America, Foreign Affairs, vol. 86 (2007), 71–83, 74. 129 Vgl. Norrin M. Ripsman, Domestic Practices and Balancing: Integrating Practice into Neoclassical Realism, in: E. Adler & V. Pouliot (Hg.), International Practices (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2011), 200–228, 209.
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durch einen scheinbar überlegenen Feind mit hohen Investitionen in die eigene Aufrüstung abwehren zu können. Die Ausdehnung ihrer Einflusssphäre nach Westen und die in kürzester Zeit vorangetriebene Industrialisierung unterstrichen zudem die Aufwertung ihrer Machtposition, v. a. gegenüber Großbritannien und Frankreich. Die Zukunft des europäischen Kontinents würde ganz erheblich davon abhängen, wie sich auch und v. a. die USA gegenüber der Sowjetunion positionierte. Zusätzlich zur Bewertung internationaler Machtverhältnisse stützte sich die Einschätzung der geostrategischen Lage auf eine Berücksichtigung militärtechnischer Neuerungen: der verbreitete Einsatz von Flugzeugträgern während des Zweiten Weltkriegs bedeutete für die USA, dass feindliche Angriffsfähigkeiten, z. B. durch den Transport von Jagdund (kleinen) Bomberflugzeugen, in Reichweite strategisch wichtiger Einrichtungen gebracht werden konnten; die räumliche Entfernung von Feinden und die natürliche Barriere der Ozeane verloren für die USA auf einen Schlag ihren Wert als strategische Vorteile. Auch die neuesten Erkenntnisse über Aspekte der Raketentechnologie verstärkten die Überzeugung von Roosevelt, Truman und Co., die vormals bestehende Unverwundbarkeit verloren zu haben. Dazu trug zumal der Durchbruch in der atomaren Forschung bei. Es stand zu erwarten, dass früher oder später auch andere Staaten über Atomwaffen verfügen würden, weshalb eine Abkehr vom politischen Weltgeschehen keine besonders kluge Haltung sein würde¹³⁰. Eine neue ‚internationalistische‘ Strategie schien der US-amerikanischen Regierung notwendig, um diesen Herausforderungen außenpolitisch begegnen zu können. Dafür brauchte sie aber einen gewissen Rückhalt im politischen System, der aufgrund traditioneller und ideologischer Präferenzen für eine isolationistische Haltung alles andere als selbstverständlich war. Trotz weitreichender Veränderungen in der Machtkonstellation und geopolitischen Lage, machte sich die Mehrheit der Republikaner im Kongress für eine Abkehr der USA vom Weltgeschehen stark und sah eine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen höchst kritisch. Pragmatismus und selektives Engagement von Fall zu Fall waren aus ihrer Sicht die sinnvollste Strategie; und das nicht unbedingt deswegen, weil es ihrer Überzeugung entsprach, sondern weil viele Republikaner gegen alles waren, wofür sich Roosevelt einsetzte und/oder weil sie prinzipiell einem intellektuellen oder moralischen Isolationismus anhingen, der sich noch von den Schriften Paines und Jeffersons her inspirierte. Roosevelt und Truman strebten deswegen nach einem parteiübergreifenden Konsens über die neue internationalistische Strategie und konnten auf wichtige Verbündete im Lager der politischen Opposition zählen: Der Republikaner Arthur Vandenberg, innenpolitisch fast immer ein Gegenspieler der demokratischen Regierung, erkannte ebenfalls die Notwendigkeit eines Strategiewechsels in der amerikanischen Außenpolitik. V. a. erforderte die Bedrohung durch die Sowjetunion aus seiner Sicht Geschlossenheit im politischen System, umso mehr, da die Kompetenzen für die Führung der Außenpoli130 Vgl. Grayson Kirk, National Power and Foreign Policy, Foreign Affairs, vol. 23 (1945), 620–626, 620–621.
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tik qua Verfassung zwischen Kongress und dem Präsidenten geteilt waren und jederzeit Gegenstand politischer Kämpfe werden konnten. Vandenberg wurde, zusammen mit anderen Republikanern wie z. B. Alexander Smith und Henry Cabot Lodge, zum verlängerten Arm der Regierung bei der Fabrikation eines parteiübergreifenden Konsenses¹³¹. Genauso wenig, wie die außenpolitische Strategie bereits durch die politischen Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt wurde, herrschte Klarheit über geeignete Maßnahmen für ihre Verfolgung, die infrage kommenden Ressourcen und komplementäre Zielsetzungen. Die von Roosevelt avisierte Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie v. a. den Vereinten Nationen war eine der wichtigsten Maßnahmen für die Umsetzung eines neuen Internationalismus, gleichwohl konnte niemand in der Administration davon ausgehen, dass ein Konsens in dieser Hinsicht mit dem Kongress einfach zu erzielen war. Die frühzeitige Einbindung von Vertretern aus dem republikanischen Lager erwies sich als hilfreich, um die zwischen den Parteien herrschenden Meinungsunterschiede über die Rolle der USA in internationalen Organisationen nicht hinderlich werden zu lassen¹³². Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Einsatz von Ressourcen zur Förderung der bi- und multilateralen Kooperation und der sie begleitenden Komplementärziele. Um Staaten zu befähigen, in das von den USA geförderte Netz internationaler Regime und Organisationen einzutreten, schlugen Regierungsvertreter gezielte militärische und wirtschaftliche Hilfeleistungen vor. Über den Truman-Plan sollten solche Staaten militärische Unterstützung bekommen, die von innerstaatlichen Umwälzungen bedroht waren und dem Einflussbereich der Sowjetunion zuzufallen drohten; ganz ähnlich verhielt es sich mit den Leistungen, die an wirtschaftlich angeschlagene Staaten aus dem Topf des Marshall-Funds erbracht werden sollten. Die Zustimmung des Kongresses zu solch teuren und möglicherweise auszubauenden Hilfsprogrammen war alles andere als selbstverständlich. Erst als zwischen Demokraten und Republikanern Einigung darüber erzielt werden konnte, dass diese Hilfsmaßnahmen im nationalen Interesse der USA lagen, hatte die Regierung einen ausreichenden Handlungsspielraum für entsprechende Entscheidungen zugunsten bilateraler Hilfeleistungen plus ihrer Einbettung in eine liberale Weltordnung. Im Unterschied zur Argumentation aus der Perspektive des Neorealismus betont der neoklassische Realismus, dass der Machtzuwachs der Sowjetunion und die Veränderungen in der geopolitischen Situation der USA in ihrer Bedrohung für die nationale Sicherheit wahrgenommen und entsprechend interpretiert werden mussten, um als systemische Phänomene für die US-Außenpolitik relevant zu werden. Und selbst als genügend Informationen über diese Fakten auf dem Tisch lagen, war es den außenpolitischen Eliten immer noch möglich, unterschiedliche Strategien und komplementäre Zielsetzungen zu formulieren. Die Wahl zugunsten eines multilateralen 131 Vgl. Norrin M. Ripsman, Domestic Practices and Balancing, a. a. O., 211. 132 Vgl. ebda., 215.
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Internationalismus und der Zielsetzung, im Rahmen internationaler Institutionen die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern, inklusive entsprechender Investitionen vonseiten der USA in die Stabilität der Nachkriegsordnung, war alles andere als selbstverständlich und wurde ermöglicht durch einen parteiübergreifenden Konsens, der von Vertretern beider politischer Parteien wiederholt erneuert wurde: „The successive Secretaries of State sacrificed foreign policy privilege at the altar of consensus-building in order to overcome the constitutional division of powers and to forge an American-led post-war Western order. The community of practice was constituted in large part by their beliefs in the competency of consultation and compromise in the face of the great challenges that faced the United States in the post-war world.“¹³³
5.3.3 Kontrollfragen – – – – – – –
Was bedeutet Anarchie? Warum streben Staaten nach Macht? Inwiefern sind Bedrohungen objektiv? Warum kommt u. U. zu unverhältnismäßigen Reaktionen (under-/overbalancing)? Was heißt nationale Stärke (state strength)? Wie bemisst sich staatlicher Handlungsspielraum? Was heißt und wie entsteht Grand Strategy?
133 Ebda., 214.
6 Neoliberalismus Die neoliberale Theorieperspektive der internationalen Beziehungen hat sich einerseits aus liberalen Prämissen und andererseits in Auseinandersetzung mit der Theorieperspektive des Realismus/Neorealismus entwickelt. Zur neoliberalen Theorieperspektive, die von ihren Adepten auch ‚neoliberaler Institutionalismus‘, ‚Neoinstitutionalismus‘ oder (genauso irreführend wie anmaßend¹³⁴) ‚Institutionalismus‘ betitelt wurde, gehören v. a. der Interdependenz-Ansatz und die funktionale (auch: ‚rationale‘) Regimetheorie. Vertreter der neoliberalen Theorieperspektive betrachten Kooperation als Paradoxon. Ihr Hauptaugenmerk gilt der Frage, warum egoistische Akteure im internationalen System kooperieren und welche Auswirkungen kooperative Verhaltensweisen auf die entsprechenden Akteure haben¹³⁵. Die neoliberale Beschreibung widmet sich Formen kooperativer Verhaltensweisen zwischen Staaten in einem anarchischen internationalen System; die neoliberale Erklärung konzentriert sich auf die Interessenkonstellation zwischen Staaten als rationalen Akteuren. Die Gründe für kooperatives Verhalten von Staaten liegen in rationalen Interessen an Nutzenmaximierung. Die Interessenkonstellation zwischen Staaten wird zur unabhängigen Variable, das kooperative Verhalten der Staaten wird zur abhängigen Variable. Institutionen besitzen die Eigenschaft von intervenierenden Variablen, insofern sie die Interessenkonstellation beeinflussen. Kritikpunkte richteten sich gegen eine ganze Reihe von Aspekten der neoliberalen Theorie. Einigen erschien es als reiner Opportunismus, dass die ersten einflussreichen Protagonisten der Theorie erst dann damit begannen, sich mit dem Phänomen der Kooperation aus politikwissenschaftlicher Sicht zu beschäftigen, nachdem Entscheidungsträger der US-Außenpolitik angefangen hatten, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen interdependenzinduzierter zwischenstaatlicher Kooperation auseinanderzusetzen. Andere störten sich daran, dass die neoliberale Theorie im Grunde nur eine vereinfachte und in wenigen Punkten modifizierte Version des ökonomischen Neo-Institutionalismus darstellt. Mithin spricht genauso viel – oder wenig – für Erklärungen aus der Perspektive des ‚soziologischen‘ oder des ‚historischen‘ Institutionalismus. Diese beiden Perspektiven bemühen sich ebenfalls um Erklärungen für Kooperation, stützen sich dabei aber jeweils auf Annahmen betreffend das Zusammenspiel zwischen Strukturen und Akteuren wie sie in der Soziologie bzw. Geschichtswissenschaft für sinnvoll gehalten werden. Ein damit zusammenhängender Kritikpunkt bezog sich auf den Hochmut, mit dem neoliberale Theoretiker ‚ihr‘ aus ökonomischen Theoremen abgeleitetes Forschungsprogramm als eines priesen,
134 Unter der Bezeichnung ‚Institutionalismus‘ ist seit jeher die Perspektive der sogenannten ‚Englischen Schule‘ bekannt. Vgl. Hidemi Suganami, The Structure of Institutionalism: An Anatomy of British Mainstream International Relations, International Relations, vol. 7 (1983), 2363–2381. 135 Vgl. Robert O. Keohane, After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy (Princeton: Princeton University Press, 1984), besonders 49–64.
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das auch solchen Kooperationstheorien zum Vorbild gereichen würde, die ihre Erklärungen weniger auf materielle Interessen als auf ideelle und kognitive Faktoren stützten. Stein des Anstoßes war für Kritiker die offensichtliche Willkür, mit der soziologische und historische Herangehensweisen im Vergleich mit ökonomischen als unwissenschaftlich herabgewürdigt wurden. Die vielleicht fundamentalste Kritik richtete sich auf die Inkonsistenz, mit der die neoliberale Theorie über Jahre hinweg propagiert wurde und wird: Interdependenz war für Vertreter der Theorie sowohl Ursache, als auch Wirkung von Kooperation; selbst Kooperation wurde von Neoliberalen oft mit Verweis auf intersubjektiv geteilte Normen begründet, obwohl Akteure für die Zwecke der Theorie als rationale Egoisten gelten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Interessen bzw. Präferenzen immer schon besitzen, und obwohl Verweise auf ideelle/kognitive (und damit nicht messbare) Faktoren von denselben Neoliberalen als unwissenschaftlich deklariert wurden¹³⁶.
6.1 Prämissen 6.1.1 Das internationale System ist ‚anarchisch‘ Anarchie bedeutet, dass im internationalen System eine Instanz mit quasi-legislativer Entscheidungsbefugnis fehlt. Anarchie heißt nicht ‚Kampf aller gegen alle‘. Anarchie bezieht sich auf das Fehlen einer Instanz, die regulierend tätig wird. Anarchie bedeutet nicht zwangsläufig Unordnung und Unsicherheit. Anarchie bezieht sich auf den Umstand, dass souveräne Staaten selbst Mittel und Wege finden müssen, um Regeln zu setzen und zu überwachen, um so Kooperation zu fördern und den zwischenstaatlichen Verkehr zu ordnen.
6.1.2 Die Akteure stehen in Interdependenzbeziehungen Staaten sind aufgrund zunehmender Spezialisierung wechselseitig voneinander abhängig. Das Ausmaß ihrer Abhängigkeit bemisst sich nach den für sie entstehenden Kosten plus der damit verbundenen Fähigkeit, diese Kosten zu regulieren. Staaten, die entstehende Kosten mit geringem Aufwand regulieren können, sind empfindlich; Staaten, die entstehende Kosten nur mit relativ hohem Aufwand regulieren können,
136 Zum Problem ‚Interdependenz‘, vgl. Beate Kohler-Koch, Interdependenz, in: V. Rittberger (Hg), Theorien der internationalen Beziehungen. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven (Opladen: Leske & Budrich, 1990), 110–129; zum Problem von Normen als intersubjektiv begründete Variablen, Friedrich V. Kratochwil & John G. Ruggie, International Organization: A State of the Art on an Art of the State, International Organization, vol. 40 (1986), 753–775.
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sind verwundbar. Immer mehr Staaten werden im Zuge weltweiter Transaktionen voneinander abhängig, wobei die gegenseitigen Abhängigkeiten in einem Politikfeld wie z. B. dem des Handels oft asymmetrisch sind, insofern einige Staaten empfindlich und andere Staaten verwundbar sind. Allerdings sind Staaten, die in einem Politikfeld nur empfindlich sind, in der Regel in einem anderen verwundbar – und umgekehrt.
6.1.3 Die Akteure streben nach Kooperation Abhängigkeiten im Sinne von Verwundbarkeitsstrukturen bedeuten, dass Staaten überfordert sind, die ihnen entstehenden Kosten alleine zu regulieren. Staaten sehen sich gewissermaßen ‚gezwungen‘, die ihnen entstehenden Kostenwirkungen durch eine Veränderung des Interaktionsrahmens plus der dazugehörigen Normen und Regeln zu regulieren. Staaten treten in Verhandlungen und richten dauerhafte Kooperationsformen ein. Eine auf Dauer gestellte, d. h. institutionalisierte Kooperation erlaubt es Staaten, ihre gegenseitigen Abhängigkeiten zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten. Dabei können alle Staaten von Kooperation ‚gewinnen‘.
6.1.4 Die Akteure wollen ihren Nutzen steigern Staaten achten nicht primär darauf, dass sie relativ mehr gewinnen als andere Akteure. Staaten wollen aus Kooperation mit anderen Staaten für sich Nutzen ziehen. Ihr Hauptaugenmerk ist nicht darauf gerichtet, ihre Position zu verbessern, sondern überhaupt etwas, d. h. ‚absolut‘ zu gewinnen. Ihr Interesse gilt nicht der Steigerung ihres Einflusses bzw. der Sicherung ihres Überlebens. Ihre Intention richtet sich auf die Kontrolle von Ergebnissen zwischenstaatlicher Interaktion. Staaten sind Nutzenmaximierer (utility maximizer) bzw. -befriediger (utility satisficer).
6.1.5 Internationale Institutionen dienen den Akteuren als Instrumente Staaten kalkulieren strikt nach instrumentellen Gesichtspunkten. Um die Chancen auf mögliche absolute Gewinne trotz unvollständiger und/oder fehlerhafter Informationen nicht aufs Spiel zu setzen, richten Staaten auf der Basis gemeinsamer Ziele und Verhaltenserwartungen Kommunikations- und Verhandlungssysteme ein. Solche Institutionen bestehen aus gemeinsamen Zielvorstellungen, Normen, Regeln und Verfahren und helfen Staaten dabei, sich an allgemein verbindlichen Vorgaben zu orientieren und so ihre Unsicherheit gegenüber den Intentionen und Motiven anderer Staaten zu reduzieren. Institutionen stabilisieren Erwartungen in reziprokes Verhalten, fördern Vertrauen und sichern damit den Fortbestand von Kooperation selbst im Falle von Enttäuschungen.
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6.2 Analytik und Aussagenlogik 6.2.1 Analytik Internationales System Anarchie Staaten Rationalität Interdependenz – komplexe Interdependenz – asymmetrische Interdependenz Kostenwirkungen – Empfindlichkeit – Verwundbarkeit Handlungsspielraum Verhandlungen/Kommunikation Problemfeld (issue area) Problemverknüpfung (issue-linkage) Kooperationsbedarf Institution (Begriff) – Ziele
– Erwartungen/Normen – Regeln – Verfahren Institutionen, egalitäre/hierarchische – Konventionen – Regime – Organisationen – Protektorate – Einflusssphäre – Imperien Information Vertrauen Effizienz Macht als Verhandlungsmacht – Agenda-Setting – Ergebniskontrolle
6.2.2 Aussagenlogik Neoliberale Theoretiker gehen davon aus, dass sich die internationalen Beziehungen nicht auf sicherheitspolitisch motivierte Interaktionen reduzieren lassen. Die Welt der internationalen Beziehungen ist zwar anarchisch, aber das meint aus neoliberaler Perspektive in erster Linie, dass es keine zentrale Instanz gibt, die verbindliche Regeln setzt und sanktioniert. Das Problem in diesem Kontext besteht darin, dass Staaten nicht immer wissen, wie sie sich zu ihrem eigenen Vorteil verhalten sollen. Das Problem ist nicht so sehr das Sicherheitsdilemma, sondern das durch einen Mangel an Information bedingte Dilemma kollektiver Handlung: Obwohl alle von Kooperation profitieren, erschwert Unwissenheit über die Strategien der anderen die Entscheidung pro Kooperation. Internationale Beziehungen sind gekennzeichnet von einem Zustand zunehmender Interdependenz¹³⁷ – vor allem zwischen den fortgeschrittenen Industriestaaten. Interdependenz bedeutet wechselseitige Abhängigkeit. Für wechselseitig abhängige Staaten sind die Interessen und Handlungen anderer Staaten externe Kräfte, die oft
137 Robert O. Keohane, After Hegemony, a. a. O., 6.
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Kostenwirkungen verursachen und so den staatlichen Handlungsspielraum beeinträchtigen. Reduziert zum Beispiel ein Staat – egal aus welchen Motiven – die Lieferung von bestimmten Gütern, kommt es in einem anderen Staat zu einer Versorgungslücke, einem Mangel, und damit zu politischen ‚Kosten‘. Letzterer Staat muss die Versorgungslücke wieder schließen, und das ist kostenintensiver als Nichtstun. Der Handlungsspielraum eines Staates bemisst sich danach, ob und unter welchem Aufwand er eine Lücke schließen kann. Ist ein Staat in der Lage, den Mangel alleine und/oder durch relativ geringen Aufwand zu kompensieren, liegt InterdependenzEmpfindlichkeit vor; ist derselbe Staat nur unter sehr hohem Aufwand und alleine vielleicht gar nicht mehr in der Lage, die Lücke zu schließen, liegt InterdependenzVerwundbarkeit vor. Empfindlichkeit meint den Grad der Reaktionsfähigkeit innerhalb eines gegebenen politischen Rahmens – es kann relativ schnell und effizient auf entstehende Kosten bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen reagiert werden. Verwundbarkeit meint den Grad der Reaktionsfähigkeit, der die Suche nach Alternativen jenseits herrschender Rahmenbedingungen lenkt – es kann nicht mehr schnell und effizient innerhalb bestehender Rahmenbedingungen reagiert werden. Interdependenz-Verwundbarkeit lässt eine Änderung des politischen Rahmens notwendig erscheinen. Empfindlichkeit und Verwundbarkeit sind Indikatoren für das Ausmaß der Abhängigkeit eines Staates, sie definieren gleichzeitig die relative Machtposition eines Staates zu anderen Staaten. Interdependenz bezieht sich nicht so sehr auf eine Situation, in der wechselseitige Abhängigkeiten Staaten schon vollständig durchdrungen haben, sodass sie aufgrund ihrer Verflochtenheit nicht mehr als politische Akteure in Erscheinung treten. Diese Situation der komplexen Interdependenz ist eine idealtypische Verkürzung der internationalen Beziehungen, ein Gedankenexperiment und nicht zu verstehen als eine eigene Theorie. Komplexe Interdependenz beschreibt eine Konstellation, in der die westlichen Industriestaaten militärischer Macht eine untergeordnete Bedeutung beimessen und keine klaren außenpolitischen Prioritäten mehr besitzen, weil der transnationale Vergesellschaftungsprozess schon so weit gediehen ist, dass klassische Dimensionen der zwischenstaatlichen Beziehungen sowie das genuin ‚Politische‘ daran aufgehört haben zu existieren¹³⁸. Diese Situation ist nicht einmal in der EU vollständig erreicht, die zweifellos am weitesten entwickelte Vergesellschaftung zwischen Staaten. Komplexe Interdependenz ist weitaus seltener zu beobachten, als eine, in der ungleiche Abhängigkeiten zwischen Staaten bestehen. Der Begriff Interdependenz bezieht sich deswegen in der Regel auf eine Situation asymmetrischer Abhängigkeit, in denen einige Staaten in bestimmten Problembereichen weniger und andere Staaten mehr miteinander verflochten sind. Außenpolitik steht noch im Dienst nationaler Interessen und dient der Kostenreduzierung. Weniger stark abhängige, d. h. empfindliche Akteure besitzen größere außenpolitische Handlungsspielräume gegenüber stark 138 Vgl. Robert O. Keohane & Joseph Nye, Power and Interdependence Revisited, International Organization, vol. 41 (1987), 725–753, 737.
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abhängigen, d. h. verwundbaren Akteuren. Weniger stark abhängige Akteure können eine asymmetrische Interdependenzbeziehung nutzen, um ihre Interessen an einer Senkung der Kosten gegenüber einem stark abhängigen Staat durchzusetzen. Sie besitzen einen Vorsprung hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die von ihnen gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Dieser (Macht-)Vorsprung bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass Asymmetrien in interdependenten Beziehungen auch größere Möglichkeiten der Ergebniskontrolle mit sich bringen. Ein größerer Handlungsspielraum kann nur selten unmittelbar für eine Kontrolle der Ergebnisse genutzt werden. Der Grund dafür liegt im unterschiedlichen Grad der gegenseitigen Abhängigkeiten in mehreren vitalen Sach- oder Problembereichen (issue areas) bzw. Politikfeldern (policy areas). Ein hinsichtlich des Erhalts von Rohstoffen lediglich empfindlich abhängiger Staat kann hinsichtlich der Versorgung mit hochtechnologischen (dual use) Gütern verwundbar sein. Die relativ große Macht zur Ergebniskontrolle im einen Bereich wird durch seine relative Ohnmacht zur Ergebniskontrolle im anderen Bereich ausgeglichen. Da fast alle Staaten in einigen Sachbereichen empfindlich und gleichzeitig in anderen Sachbereichen verwundbar sind, können issue area-spezifische Machtvorsprünge durch eine Verknüpfung von Sachfragen aus verschiedenen Bereichen (issue-linkage) relativiert werden. Das am besten geeignete Verfahren, um mit dem gegebenen Handlungsspielraum konkrete Ergebnisse zu erreichen und Kosten zu regulieren, ist Verhandeln in eigens dafür bereitgestellten Arenen der Kommunikation und Entscheidungsfindung¹³⁹. Die im Rahmen von Verhandlungen ausgeübte Macht manifestiert sich als die Fähigkeit eines Akteurs, andere durch Überredung, Druck oder auch Drohungen dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würden. Asymmetrische Interdependenzbeziehungen bringen es mit sich, dass Staaten ihre Vorteile verstärkt in Verhandlungen wahrzunehmen versuchen. Dabei setzen sie unterschiedlich ausgeprägte Abhängigkeiten im Sinne von Machtressourcen für die Einflussnahme und Realisierung konkreter Ergebnisse ein. Verhaltensregulierende und ergebnissteuernde Verhandlungssysteme, z. B. sogenannte Regime, sind Institutionen, die auf gemeinsamen Prinzipien und Normen basieren und konkrete Regeln und Verfahren zur Kommunikation und Entscheidungsfindung beinhalten. Internationale Institutionen sind sowohl Resultate interdependenter Beziehungen als auch Einflussfaktoren für diese Beziehungen. Institutionen stellen den Teilnehmern Informationen zur Verfügung, die ihre Bereitschaft zu Kooperation erhöht. In ihrer Eigenschaft als Verhandlungssysteme ‚intervenieren‘ internationale Institutionen zwischen der Machtstruktur des internationalen Systems und den interessengeleiteten Interaktionen zwischen Staa-
139 Vgl. Robert O. Keohane, After Hegemony, a. a. O., 52: „Frequently, of course, negotiation and bargaining take place, often accompanied by other actions that are designed to induce others to adjust their policies to one’s own.“
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ten¹⁴⁰. Die Struktur des Systems, d. h. die zwischenstaatliche Machtverteilung, beeinflusst die Natur der Institution, insofern die mächtigeren Staaten oft für die Einrichtung von – egalitären oder hierarchischen – Institutionen verantwortlich zeichnen. Einmal errichtet, setzt eine Institution dann für alle Staaten Schranken bzw. eröffnet Möglichkeiten für Staaten, ihre Interessen über Verhandlungen in konkrete Ergebnisse zu übersetzen. Grundsätzlich gilt in Zeiten asymmetrischer Interdependenz, dass die Macht eines Staates durch seine Fähigkeit definiert ist, Abhängigkeiten anderer Staaten im Rahmen von Verhandlungen für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Macht hat nicht mehr primär etwas mit militärischer Stärke und einer hervorgehobenen Position zu tun. Nicht zuletzt die Realisierung politischer Interessen durch Krieg ist angesichts der damit verbundenen Kosten (Reputationsverlust) für den Wiederaufbau und die abermalige Einrichtung effizienter Transaktionsbeziehungen verhältnismäßig teuer. Der Anreiz zur Selbsthilfe wird durch den Glauben aller Staaten an die Möglichkeit von Kooperationsgewinnen überlagert. Der militärische Aspekt internationaler Politik rückt in den Hintergrund. Allerdings ist es nicht so, dass militärisch starke Staaten überhaupt keinen Vorsprung mehr haben. Solche Staaten besitzen immer noch ein beträchtliches Maß an Einfluss darauf, ob Verhandlungssysteme zur Regulierung entstehender Transaktionskosten eingerichtet, welche Sachbereiche als Verhandlungsmaterien festgelegt, und welche Staaten als Teilnehmer zu den Verhandlungen zugelassen werden. Zwar schaden sich militärisch starke Staaten auch selbst, wenn sie sich der Einrichtung von Verhandlungsarenen zur kooperativen Bewältigung anfallender Transaktionen versagen. Allerdings ist davon auszugehen, dass militärisch starke Staaten bei der Regulierung von Transaktionskosten darauf achten, ob sie durch internationale Institutionen nicht mehr an Macht einbüßen als ihnen lieb ist. Interdependente Beziehungen sind nicht frei von Verteilungskonflikten¹⁴¹. Grundsätzlich gilt, dass alle Staaten aus einer Teilnahme an einer Institution zunächst überhaupt einen Vorteil für sich ziehen wollen: Sie wollen ihre Kosten senken, d. h. sie wollen absolute Gewinne erzielen. Und internationale Institutionen eröffnen diese Möglichkeit, indem es allen an den Verhandlungen beteiligten Staaten möglich wird, an einer für sie nützlichen Verregelung der zur Diskussion stehenden Sachfragen mitzuwirken. Dennoch achten Staaten auch immer darauf, dass sie ihren Anteil an Kooperationsgewinnen vergrößern. Zunehmende Interdependenz kann dazu führen, dass die Zahl der Verhandlungssysteme immer weiter zunimmt und das Netz der Verregelung politischer Probleme dichter wird. Dabei entsteht nicht zwangsläufig eine ‚neue heile Welt‘ der Kooperation, die eine ‚alte böse Welt‘ internationaler Konflikte ersetzt. Konflikte bleiben erhalten und werden zunächst ‚nur‘ in die Gremien von Verhandlungssystemen verschoben. Die Politik der ökonomischen (und auch ökologischen) Interdependenz umfasst selbst dann Wettbewerb, wenn aus der Kooperation 140 Vgl. ebda., 63. 141 Vgl. ebda., 252–257.
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für alle Staaten große Vorteile zu erwarten sind. Freilich ‚zivilisiert‘ das Verhandeln in Institutionen den Konfliktaustrag im Vergleich zur Kommunikation mit Massenvernichtungswaffen beträchtlich. Mithilfe von Institutionen regulieren Staaten den regellosen Zustand der Anarchie.
6.3 Heuristik Im Fokus des Neoliberalismus stehen solche Phänomene und Entwicklungen, die sich auf die Motivation der Staaten zur Kostenreduzierung zurückführen lassen. Die Grundannahmen der Theorie definieren den relevanten Wirklichkeitsausschnitt, indem sie den Blick auf strategische Verhaltensweisen egoistisch denkender Staaten und das Dilemma kollektiver Handlung lenken. Das Ziel der Theorie ist einerseits, zu beschreiben, wie Staaten ihre komparativen Kostenvorteile durch kooperative Interaktionen ausnutzen; und andererseits, zu erklären, warum Staaten sich überhaupt kooperativ verhalten können. Schließlich gilt die Zunahme der zwischenstaatlichen Kooperation angesichts anarchischer Rahmenbedingungen als Anomalie. Der Grund für die Verdichtung zwischenstaatlicher Kooperation liegt v. a. in den Wirkungen, die von dynamischen Verhandlungssystemen auf die Interessenabwägung der Staaten ausgehen. Institutionalisierte Kommunikation hilft Staaten dabei, – Transaktionskosten zu senken, – Informationen über Motive und Verhaltensweisen anderer Staaten zu gewinnen, – Transparenz hinsichtlich der Einhaltung von Normen und Regeln herzustellen sowie – Sanktionierung abweichender Verhaltensweisen zu ermöglichen. Je nachdem, wie gut internationale Institutionen ihre Funktionen für Staaten erfüllen, gehen von ihnen unterschiedlich weitreichende Wirkungen aus – auf die Teilnehmer – Informationen verändern die Kalkulationen der Akteure; – das Politikfeld – die Erreichung gemeinsamer Ziele verändert den Sachbereich; – die normativ-institutionelle Struktur des internationalen Systems – die Regelungsdichte nimmt zu. Zwei aus Sicht des Neoliberalismus interessante, weil mit dem analytischen Instrumentarium des Realismus bzw. des Neorealismus nicht überzeugend zu erklärende, Phänomene sind einerseits das Zustandekommen von Kooperation und die Einrichtung von Regien, und andererseits die Wirkung von internationalen Institutionen auf die Teilnehmer an Kooperationsprozessen. Das Zustandekommen und die Institutionalisierung von Kooperation lässt sich gut veranschaulichen mit einem Blick auf die Einrichtung und die Fortdauer des GATT-Regimes trotz der Wirtschaftskrise während der 1970er-Jahre sowie mit einem Blick auf die Einrichtung eines Ölverbraucher-Regimes ebenfalls während der 1970er-Jahre. Die Wirkung von internationalen Institu-
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tionen lässt sich gut veranschaulichen mit Blick auf die Fortexistenz der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, mit einem Blick auf die Rolle des Nonproliferationsregimes seit den frühen 1960er-Jahren und mit einer differenzierenden Betrachtung der NATO und des Warschauer Pakts als egalitäre bzw. hierarchische Institutionen.
6.3.1 Die Entstehung von Kooperation 6.3.1.1 Die Einrichtung des GATT-Regimes Im Unterschied zur realistischen Sichtweise ist es aus Sicht der neoliberalen Theorie nicht ausreichend, darauf zu verweisen, dass ein hegemonialer Staat Regime begründet und die Normen und Regeln des Regimes gegenüber anderen Staaten durchsetzt. Ferner ist es nicht zutreffend, dass sich internationale Regime auflösen, wenn der Hegemon seine hervorgehobene Machtposition verliert. Die Entstehung und Stabilität eines Regimes ist auf Ursachen zurückzuführen, die in einer interdependenten Welt zu finden sind, in der selbst starke und einflussreiche Staaten Einschränkungen ihres Handlungsspielraums erfahren. Die Entstehung von Regien gründet sich – analytisch ausgedrückt – auf ein rationales Interesse der Akteure, ihre Kosten aus wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen mittel- bis langfristig durch Einrichtung von Verhandlungs- und Regelsystemen zu senken. Dazu braucht es die Einsicht in den ‚Bedarf ‘ an institutionalisierter Kooperation. Aus Sicht der neoliberalen Theorie kann die Einrichtung des GATT-Regimes folgendermaßen beschrieben werden: Die bis 1914 forcierte Liberalisierung des Welthandels wurde unterbrochen von einer Phase des Protektionismus (1914–1939), der einen rapiden Abfall des wirtschaftlichen Wachstums bewirkte und der innerhalb von wenigen Jahren zu großen Weltwirtschaftskrisen und zwei Weltkriegen führte. Staaten litten sowohl unter den Kostenwirkungen protektionistischer Politik als auch unter den dadurch mitbedingten Konsequenzen. Der Zweite Weltkrieg war zwar keine unmittelbare Folge dieser Kostenwirkungen, aber er war durch sie mitbedingt. Die Unterzeichnung des ‚Allgemeinen Übereinkommens über Tarife und Handel‘ (GATT) im Jahr 1947 war der offizielle Abschluss von Verhandlungen über die Einrichtung einer internationalen Handelsorganisation (ITO), mit der die bis 1914 florierende Weltwirtschaft durch eine abermalige Liberalisierung des Welthandels wieder angekurbelt werden sollte. Forciert durch zwei mächtige Staaten, USA und Großbritannien, einigten sich am Ende insgesamt 23 Staaten wenigstens auf eine Reduzierung der Zollsätze, bestimmter Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie einer Förderung grenzüberschreitender Handelstätigkeiten, um so ihre Interessen an einer Steigerung ihres binnenwirtschaftlichen Wachstums zu befriedigen. Von den USA wurde – zu ihrem eigenen Vorteil – das Ziel des freien Welthandels ausgerufen und die Notwendigkeit einer allmählichen Reduzierung diskriminierender Handelspraktiken betont. Die Unterzeichnerstaaten unterwarfen sich in der Folge nicht nur der Pflicht zur Meistbegünstigung. Sie paraphierten in diversen Verhandlungsrunden (‚Genf‘ 1947;
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‚Annecy‘ 1949; ‚Torquay‘ 1950/51; ‚Genf‘ 1955/56; ‚Dillon‘ 1961/62; ‚Kennedy‘ 1964–67; ‚Tokio‘ 1973–79; ‚Uruguay‘ 1986–94) auch entsprechende Verträge, mit denen unter anderem die durchschnittliche Tarifhöhe für Manufakturen von 40 % in den 1930erJahren auf 3 % in den 1990er-Jahren gesenkt wurde. Das allgemeine Übereinkommen war zwar von Beginn an ‚nur‘ eine Kompromisslösung. Diese basierte freilich auf einem rationalen Interessenkonsens aller Unterzeichnerstaaten, woraus sich ein arbeitsfähiges Regime zur Koordinierung nationaler Handelspolitiken entwickelte. Aus neoliberaler Sicht ist für die Erklärung wichtig, dass das Regime des GATT zwar zurückgeht auf den Einfluss der USA, dass es aber dennoch auf einer zwischen 23 rationalen Akteuren geteilten Interessenbasis stand. Kein Staat war während der 1930er- und 1940er- Jahre in der Lage, die durch Protektionismus hervorgerufenen Kosten alleine zu senken. Die USA übernahmen die Rolle des Sponsors von Verhandlungen über Wege zur Reduzierung von Kostenwirkungen. Aber nicht die Stärke der USA war der Grund für das Zustandekommen des Regimes, sondern der Umstand, dass unter den beteiligten Staaten sowohl Konsens über das Prinzip ‚Freihandel‘ herrschte, als auch, dass alle beteiligten Staaten sich übereinstimmend zur Erwartung (Norm) ‚nicht-diskriminierender‘ Handelspraktiken bekannten. Die auf der Basis dieses gemeinsamen normativen Nenners vereinbarten Regeln des Regimes reichten von der Pflicht zur ‚Meistbegünstigung‘ bis hin zu detaillierten Vorschriften für den Im- und Export. Das Regime entstand somit nicht nur aufgrund der überragenden Machtposition der USA. Der Grund für die Einrichtung des GATT ist v. a. in einer weithin geteilten rationalen Interessenbasis zwischen empfindlichen und verwundbaren Staaten zu sehen, den Welthandel zu liberalisieren, um den daraus entstehenden Nutzen für die eigene Volkswirtschaft zu steigern. Der Grund dafür, dass das GATT auch in Krisenzeiten weiter bestand, lag im Vorteil, den die Staaten mit einer fortgesetzten Teilnahme verbanden. Ohne das GATT wären alle Staaten gezwungen gewesen, Handelsgewinne über bilaterale Verhandlungen zu erreichen. Die Aufrechterhaltung war deswegen eine viel günstigere Alternative. Zudem erlaubte das GATT eine schnellere Verbreitung von Informationen über Intentionen und Strategien der Teilnehmer – auch und gerade in Krisenzeiten. Das GATT bot eine Reihe von Vorteilen, die mit den rationalen Interessen aller Teilnehmer korrespondierten. Deswegen herrschte eine kollektive Neigung vor, das GATT als Verhandlungsplattform beizubehalten.
6.3.1.2 Der Bedarf an einem Regime zur Koordinierung des Ölverbrauchs Bei der Entstehung z. B. des ‚Ölverbraucher-Regimes‘ sind aus neoliberaler Sicht folgende Sachverhalte wichtig: Die erdölimportierenden Länder bekamen seit 1973/1974 ihre Abhängigkeit von Öllieferungen zu spüren, nachdem die erdölexportierenden Länder die Förderung von Öl reduziert und die weltweiten Ölmärkte mit weniger Öl beliefert hatten. Zwischen Oktober und Dezember 1973 sanken die Vorräte auf den Weltmärkten um 7%. In der Folge stiegen die Preise für verfügbares Öl. Die großen
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erdölimportierenden Länder reagierten auf die Krise in einer unkoordinierten und wettbewerbsorientierten Art und Weise: Jeder Staat versuchte, die aus fehlenden Ölimporten und gestiegenen Ölpreisen entstandenen Kosten durch egoistische Maßnahmen zu regulieren. Großbritannien und Frankreich verlangten von ‚ihren‘ Ölfirmen bevorzugte Behandlung; Italien, Spanien und Belgien verhängten Ausfuhrbeschränkungen für Öl; Japan, Deutschland und die USA erhöhten die Ölpreise auf den heimischen Käufermärkten. Diese unkoordinierten Schritte führten in der Konsequenz zu einem Ergebnis, das kein Staat wollte. Denn genau durch diese unkoordinierte Herangehensweise der einzelnen erdölimportierenden Staaten, nämlich bei der Regulierung der anfallenden Kosten einseitige und kurzsichtige, weil nur den eigenen kurzfristigen Nutzen kalkulierende, Maßnahmen zu ergreifen, verschlimmerten sie die Situation für alle Staaten: Die offiziellen Ölpreise vervierfachten sich zwischen Oktober 1973 und Januar 1974. Aus Sicht der neoliberalen Theorie lag ein ‚Dilemma kollektiver Handlung‘ vor¹⁴². Alle erdölimportierenden Länder hatten eigentlich ein vorrangiges Interesse daran, die Vorräte auf den Weltmärkten zu erhöhen und die Ölpreise zu senken. Ihre egoistischen und unkoordinierten Handlungsweisen bewirkten aber genau das Gegenteil. Es fehlte eine Institution, die den beteiligten Staaten über entsprechende Verhaltensrichtlinien die für sie günstigsten Handlungsoptionen auswies, und die über die Einübung von Rollenverständnissen Erwartungssicherheit gegenüber den Verhaltensweisen der anderen Staaten herbeiführen konnte. Nur deswegen, weil kein Staat wusste, wie sich die anderen in der Situation verhalten würden, suchten alle Staaten ihr Heil in egoistischen Strategien, die am Ende zu einer Verschlimmerung der Situation für alle führten. In diesem Zusammenhang ergriffen die USA Anfang 1974 die Initiative und beriefen eine internationale Energiekonferenz in Washington ein, die zu einer Vereinbarung über ein internationales Energieprogramm führte, dessen wichtigster Bestandteil die Einrichtung der Internationalen Energieagentur (IEA) im November desselben Jahres war. Die USA hatten ein vorrangiges Interesse an einer Koordinierung einzelstaatlicher Energiepolitiken, einerseits weil nicht-abgestimmte Maßnahmen und daraus resultierende Konflikte zwischen den Industrieländern schwerwiegende Konsequenzen für die Weltwirtschaft hatten, andererseits weil die Uneinigkeit im Lager der westlichen Industriestaaten eine Gefährdung des US amerikanischen Einflusses sowie der Stabilität existierender Sicherheitsbeziehungen gehabt hätte. Die westlichen Industriestaaten hatten ihrerseits ein Interesse an einer Institution zur Koordinierung einzelstaatlicher Außenpolitiken, weil sich gezeigt hatte, dass die von ihnen ergriffenen Maßnahmen nicht geeignet waren, ihre Verwundbarkeit gegenüber ausbleibenden bzw. teueren Öllieferungen zu lindern. Bis zum Ende des Jahres 1978 traten alle westlichen Industriestaaten außer Frankreich der IEA bei – und selbst Frankreich unterhielt enge Beziehungen zur Organisation, die am Sitz des OECD-
142 Vgl. Robert O. Keohane, After Hegemony, a. a. O., 223.
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Hauptquartiers in Paris eingerichtet wurde. Die von vier Arbeitsgruppen im Rahmen der Agentur unternommenen Aktivitäten waren darauf gerichtet, verschiedene Mechanismen zu etablieren: ein System zur Ölversorgung im Notfall; ein Informationssystem zur Beobachtung des Ölmarktes; ein Bündel von langfristigen Maßnahmen zur Reduzierung des Ölverbrauchs und ein gemeinsames System zur Erforschung und Entwicklung von Energie. Ein wichtiges Instrument bei der Herstellung solcher Systeme war die Ausarbeitung von allgemeinen Regeln, z. B. derjenigen, die im ‚Energie Management-Handbuch‘ festgelegt wurden, und die Prozeduren festlegten, wie im Notfall auf Versorgungsengpässe reagiert werden sollte. Den Regierungen der westlichen Industriestaaten, den großen internationalen Ölkonzernen und der IEA wurden Pflichten auferlegt, um Krisen durch konzertierte Maßnahmen zu lösen. Der Hauptgrund für die Einrichtung der IEA lag darin, dass alle westlichen Industriestaaten ihre Verwundbarkeit gegenüber den erdölexportierenden Ländern sowie die Unzulänglichkeit unkoordinierter Maßnahmen erkannten. Jeder Staat perzipierte einen Bedarf an Koordination von energiepolitischen Maßnahmen, um die für ihn anfallenden Kosten zu senken.
6.3.2 Die Wirkung von internationalen Institutionen 6.3.2.1 Die Fortexistenz der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO) wurde 1949 mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages gegründet. Ihr primäres Ziel bestand darin, ein mächtiges westliches Bollwerk gegen die politische und militärische Bedrohung durch die Sowjetunion herzustellen, die ihre Einflusssphäre seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Mitte Europas ausgedehnt hatte. Die Teilnehmer an diesem Bündnis waren nicht mehr nur europäische Staaten, von denen sich einige bereits 1948 im ‚Brüsseler Pakt‘ zusammengeschlossen hatten, sondern auch die neue Supermacht USA und Kanada. Gleichzeitig sollte die NATO verhindern, dass Deutschland noch einmal zu einer Bedrohung für die Staaten Europas wird. Die politische Geschäftsgrundlage der NATO bestand – etwas zugespitzt – darin, ‚to keep the Soviets out, the Germans down, and the Americans in‘. Unabhängig von diversen Strategiewechseln (von strategic ambiguity zu massive retaliation zu flexible response) und Erweiterungsrunden, belief sich das operative Geschäft der NATO während der ganzen Zeit des Ost-West-Konflikts darauf, die Freiheit und Sicherheit der Mitglieder durch Abschreckung, Aufrüstung und ständige Abwehrbereitschaft zu garantieren. Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Gut 40 Jahre nach der Gründung der NATO begann damit eine Entwicklung, die innerhalb von ca. zwei Jahren in einen kompletten Wegfall der Geschäftsgrundlage der NATO mündete: Nicht nur erlangte Deutschland seine volle Souveränität und die Sowjetunion zog sich aus dem Herzen Europas zurück, am 1. April 1991 löste sich das von der Sowjetunion organisierte Bündnis des Warschauer Paktes auf und im Dezember 1991 sogar die Sowjetunion selbst.
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Trotz des Wegfalls der Bedrohung durch die Sowjetunion, löste sich die NATO jedoch nicht auf. Im Gegenteil bemühten sich die NATO-Mitglieder um eine Anpassung der NATO an die neue Konstellation. Die Ausgaben für die Entwicklung und Aufrechterhaltung konventioneller und atomarer Waffenbestände wurden drastisch gekürzt, die Mittel für die Durchführung gemeinsamer Übungen und Ernstfallsimulationen wurden sichtlich reduziert, die militärische Infrastruktur der NATO wurde in drei multinationale Einheiten aufgeteilt und das strategische Programm der NATO wurde verändert, insofern sich die militärische Verteidigung nicht mehr gegen einen klar definierten Feind richtete, und insofern das Tätigkeitsfeld der NATO um politische Aspekte wie Krisenmanagement und Stabilitätsförderung ergänzt wurde. Außerdem wurde die NATO bereits während des Jahres 1991 zu einem Forum weiterentwickelt, das den ehemaligen Staaten der Sowjetunion mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) Möglichkeiten bot, um im Rahmen diplomatischer Treffen über Fragen der gesamteuropäischen Sicherheitspolitik zu debattieren. Zudem wurde 1994 mit dem Partnership for Peace (‚P4P‘)-Programm ein Mechanismus geschaffen, der es den ehemaligen Staaten der Sowjetunion ermöglichte, mit den NATO-Staaten militärisch zusammenzuarbeiten, sei es im Rahmen gemeinsamer Manöver, sei es bei der Ausrichtung und Bewaffnung nationaler Streitkräfte, oder sei es im Rahmen friedenserhaltender und friedensschaffender Missionen der NATO. Kurz: Die NATO hatte sich trotz des Wegfalls ihrer ursprünglichen Geschäftsgrundlage nicht aufgelöst, sondern einen Anpassungsprozess durchlaufen. Aus Sicht des Neoliberalismus ‚beweist‘ dieser Sachverhalt, dass Institutionen Wirkungen entfachen. Der Grund dafür, warum die Mitgliedstaaten die NATO nicht auflösten, liegt für neoliberale Theoretiker darin, dass entsprechende Wirkungen von der Institution NATO auf die Teilnehmer ausgingen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, wie neoliberale Wissenschaftler die NATO ‚sehen‘. Für Vertreter der neoliberalen Theorie stellt sich die NATO in diesem Zusammenhang nämlich weder als klassische Verteidigungsallianz noch als formale internationale Organisation dar. Aus Sicht der neoliberalen Theorie ist die NATO mehr als eine rein zweckgebundene Allianz, die es den Teilnehmern erlaubt, Verteidigungsressourcen zu bündeln, um im Angesicht einer militär-politischen Bedrohung die eigenen Überlebenschancen zu steigern. Gleichzeitig ist die NATO weniger als eine hierarchisch strukturierte internationale Organisation, deren bürokratischer Apparat eigene Interessen verfolgt und unabhängig von den Staaten operiert. Die NATO ist vielmehr ein Kompendium von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren, das über Zeit zu bestimmten Rollenverständnissen und entsprechenden Verhaltensweisen unter den NATO-Mitgliedern beigetragen hat. Ein grundlegendes Prinzip der NATO war seit ihrer Gründung die gemeinsame Verteidigung der demokratischen Staaten in Westeuropa und Nordamerika gegen Bedrohungen durch die Sowjetunion. Normative Erwartungen der Teilnehmer richteten sich auf die Formulierung und Umsetzung angemessener sicherheits- und verteidigungspolitischer Strategien zum Schutz des Bündnisgebiets. Regeln beinhalteten z. B. Bestimmungen zur Stärke konventioneller NATO-Streitkräfte im Bündnis-
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gebiet sowie deren Verteilung und Zusammensetzung aus nationalen Verbänden¹⁴³. Verfahren bzw. Prozeduren bestanden und bestehen in den vielfältigen Gremien der NATO, angefangen bei politischen Gremien des Nordatlantikrats, bis hin zu militärischen und technischen Gremien auf Verwaltungsebene der Außen- und Verteidigungsministerien. Als eine regimeähnliche Institution verband die NATO nach 1990 die Regierungen der Mitgliedstaaten auf mehreren politischen Ebenen und in diversen Politikfeldern, insofern alle NATO-Mitglieder untereinander Erwartungen an eine Orientierung aller an gemeinsamen Strategien in Bereichen der politischen und militärischen Sicherheit hegten, ohne dass ihre Souveränität davon beeinträchtigt würde. Für die Beantwortung der Frage, warum die NATO-Mitglieder die NATO nach 1990 nicht auflösten, wird eine Berücksichtigung ihrer Rolle bei der Senkung von Transaktionskosten und der Generierung von Verhaltenserwartungen wichtig. Die NATO trug sowohl über ihre Verhandlungsplattformen als auch über bestimmte Normen dazu bei, dass die Mitglieder keine Notwendigkeit sahen, sicherheitspolitische Maßnahmen in einer neuen Konstellation grundlegend neu zu organisieren. Die eingerichteten Verfahren der NATO erleichterten nach 1990 den Dialog über angemessene Maßnahmen, insofern in den verschiedenen Gremien auf einer Vielzahl von Ebenen schnell Klarheit über die veränderte Situation hergestellt und insofern eine Abstimmung über geeignete politische und militärische Maßnahmen befördert werden konnte. Die NATO minderte damit die Kosten für die Regierungen der Mitgliedstaaten, denn die Arenen zur Kommunikation und Entscheidungsfindung mussten nicht extra eingerichtet werden. Außerdem wussten die Verhandlungspartner aufgrund der bis dato entstandenen gemeinsamen Erwartungen und Zielvorstellungen inter se bereits in etwa, wie sie die neue Situation einschätzen mussten bzw. welche neuen Maßnahmen zur Bewältigung der Situation geeignet waren. Obwohl sich die Situation seit ihrer Einrichtung fundamental geändert hatte, stellte die NATO immer noch Leistungen bereit, die ihr die Wertschätzung der Mitglieder eintrugen und ihren Fortbestand als nützlich erscheinen ließ. Die Frage nach den Gründen für die Fortexistenz der NATO lässt sich mit Verweis auf ihre Wirkungen auf die Teilnehmer beantworten: Die NATO existierte schon und leistete den Teilnehmern hilfreiche Dienste bei der Kommunikation über sicherheits- und verteidigungspolitische Herausforderungen. Die NATO war eine kostengünstige Alternative zu völlig neuen sicherheitspolitischen Arrangements. Zudem lieferten entstandene Normen allen Teilnehmern Informationen darüber, wie die neuen Herausforderungen zu deuten und welche Strategien angemessen waren. Die Teilnehmer passten ihre Verhaltensweisen an, insofern sie davon Abstand nahmen, eine neue organisatorische Infrastruktur einzurichten, um
143 Vgl. John Duffield, International Regimes and Alliance Behavior: Explaining NATO Conventional Force Levels, International Organization, vol. 46 (1992), 819–855, 835.
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die Situation zu bewältigen. Stattdessen benutzten sie die NATO als Plattform, um mit neuen Akteuren über neue Anliegen zu kommunizieren¹⁴⁴.
6.3.2.2 Die Rolle des Nonproliferationsregimes Der Rüstungswettlauf zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion gab in den frühen 1960er-Jahren Anlass zu Befürchtungen, dass sich das know how zur Herstellung atomarer Waffen nicht auf ein paar wenige Kernwaffenstaaten begrenzen lasse; dass die Welt in absehbarer Zeit von dreißig und mehr Staaten mit Nuklearwaffen bevölkert werde; und dass ein Nuklearkrieg eine zwangsläufige Folge dieser Entwicklung sei. Aus Sicht der beiden Supermächte bestand die Gefahr darin, dass kleinere Atommächte durch ihr Verhalten einen ‚katalytischen Krieg‘ vom Zaun brechen könnten, in den die Supermächte gegen ihren Willen hineingezogen werden würden¹⁴⁵. In diesem Kontext unterstützte die US-amerikanische Regierung einen irischen Vorschlag zur vertraglichen Regelung des Besitzes und der Verbreitung von Kernwaffen, für den sie auch die sowjetische Regierung gewinnen konnte. Angesichts der Gefahren aus einer ungehemmten Verbreitung atomarer Waffen schien es der USA und der Sowjetunion vorteilhafter, sich auf ein gemeinsames Regelwerk zu verständigen, als einem quasi-‚natürlichen Trend‘, nämlich dem Erwerb der modernsten Waffenkategorie auf Seiten vieler Staaten, durch Untätigkeit auch noch Vorschub zu leisten. Der Nichtverbreitungsvertrag wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der Sowjetunion und Großbritannien unterzeichnet und trat 1970 in Kraft. Nicht unterzeichnet haben den Vertrag Indien, Pakistan und Israel. Nordkorea trat dem Vertrag 1985 bei, erklärte aber im Januar 2003 seinen Austritt und testete im Oktober 2006 eine Atombombe. Der Nichtverbreitungsvertrag war zunächst für 25 Jahre gültig und wurde 1995 verlängert. Der Nichtverbreitungsvertrag ist nur das auffälligste Element eines internationalen Verhandlungssystems, d. h. eines Regimes, basierend auf Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren. Zu den Prinzipien gehören z. B. das ‚Kriegsgefahrprinzip‘ (die Verbreitung von Nuklearwaffen erhöht die Kriegsgefahr); das ‚Kernenergienutzenprinzip‘ (die friedliche Nutzung von Kernenergie ist mit einer Nichtverbreitungspolitik vereinbar); das ‚Verknüpfungsprinzip‘ (der Ausbau von Kernwaffenarsenalen befördert die Verbreitung von Nuklearwaffen); und das ‚Verifikationsprinzip‘ (Verpflichtungen zur friedlichen Nutzung von Kernenergie bedürfen internationaler Kontrollen). Normative Erwartungen der Regimeteilnehmer richteten sich auf den Verzicht zur Herstellung und den Erwerb von Kernwaffen, die Nichtweitergabe von know how und/oder Materalien zur Entwicklung von Kernwaffen und die Bereitschaft, Inspekti144 Vgl. Robert McCalla, NATO’s Persistence after the Cold War, International Organization, vol. 50 (1996), 445–475, 464. 145 Vgl. Harald Müller, Die Zukunft der nuklearen Ordnung, Aus Politik und Zeitgeschichte 48/2005 (28. Nov. 2005), 3–9, 3.
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onen atomarer Anlagen zu dulden, Nuklearexporte zu limitieren, Lieferungen zu koordinieren und beim Handel mit Kernenergie zusammenzuarbeiten. Die Regeln des Regimes umfassen Vorschriften betreffend den Atomexport, Verifikationsprozesse sowie die Sicherheit von Kernmaterial in grenzüberschreitendem Transport. Die Verfahren des Regimes umfassen u. a. Revisionsprozeduren, Teilnahmeprozeduren, Konfliktregelungsprozeduren und Informationsprozeduren¹⁴⁶. Die Wirkung des Nonproliferationsregimes bestand in einer Änderung der Exportpolitik auf der Seite vieler Regimeteilnehmer und hängt eng mit den Funktionen zusammen, die das Regime für die Teilnehmer erfüllte. Einerseits etablierten sich im Rahmen der Kommunikation über die Nichtverbreitung von Kernwaffen Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens der Regimeteilnehmer betreffend die Nutzung und den Export von Atommaterial. Die Ungewissheit über Verhaltensweisen der Teilnehmer in der Zukunft wurde durch solche Normen reduziert. Andererseits verringerte das Regime spezifische Transaktionskosten, „[…] insbesondere Versicherungskosten, die Konstruktion von Kommunikationskanälen, den Entwurf von Ad-Hoc-Regeln sowie Seitenzahlungen (beispielsweise an obstinate Alliierte).“¹⁴⁷ Die Normen können als notwendige Bedingungen für einen veränderten Umgang vieler Regierungen mit Atommaterial angesehen werden, insofern alle Regimeteilnehmer die Dringlichkeit von Exportbeschränkungen für sich anerkannten. Hinreichende Bedingungen lagen in den Regeln, die von der London Suppliers Group angesichts des indischen Atomtests am 18. Mai 1974 in der Wüste von Rajasthan ausgearbeitet wurden. Besagte Regeln bedeuteten für die Regierungen der Teilnehmerstaaten in der Konsequenz, dass sie Entscheidungen über die Art und Weise der Umsetzung von Regimenormen im Einklang mit konkreten Kriterien treffen mussten, die für alle galten. Die Londoner Richtlinien wurden nämlich zur Grundlage für eine Reihe von exportbeschränkenden Gesetzen und Verordnungen, die alle Teilnehmerstaaten erlassen mussten. Nicht zuletzt die (damalige) EG nahm die Londoner Richtlinien in den Kanon der Gemeinschaftspolitik auf, um Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt, und um Atomexporte in unerwünschte Zielstaaten zu verhindern¹⁴⁸. Da außerdem vielfältige Verfahren, etwa die Gremien der internationalen Atomenergiebehörde, den Teilnehmerstaaten des Regimes erlaubten, die Einhaltung der Regeln – unter Rückgriff auf immer ausgefeiltere Hilfsmittel wie z. B. Satellitenaufklärung – zu überwachen und etwaige Verletzungen der Exportbeschränkungen zum Thema zu machen, konnten Kosten für Versicherungen gegen Regimeverletzungen und die Einrichtung von Überwachungsgremien gespart werden. Von Ausnahmen abgesehen, setzten die Regime-
146 Vgl. Harald Müller, Regimeanalyse und Sicherheitspolitik: Das Beispiel Nonproliferation, in: Beate Kohler-Koch (Hg), Regime in den internationalen Beziehungen (Baden-Baden: Nomos, 1989), 277–313, insbesondere 282–290. 147 Vgl. ebda., 278. 148 Vgl. ebda., 295.
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regeln Maßstäbe für kommunikative Interaktionen in ständigen Gremien, die auf Teilnehmer und Nichtteilnehmer disziplinierend wirkten.
6.3.3 Anarchische und hierarchische Institutionen Ein Problem der neoliberalen Theorie, bzw. eine auffällige Schwäche bei der Heranziehung des neoliberalen Vokabulars, besteht oft in der fehlenden Differenzierung des Begriffs der Institution. Internationale Institutionen werden in der Regel als Gebilde verstanden, die aus Verhandlungen zwischen souveränen Staaten hervorgehen, die dann auf der Basis formeller Gleichheit und nach Maßgabe institutioneller Regeln interagieren. De facto mögen gewisse Machtunterschiede und divergierende Einflussgrößen vorhanden sein. Für die Zwecke der Erklärung werden Machtunterschiede aber nicht als relevant erachtet. Nach diesem Verständnis wird die NATO als eine Institution gesehen, in der die Mitglieder ihre strategischen Entscheidungen auf der Basis souveräner Gleichheit treffen. Solange jeder Teilnehmer für sich einen unmittelbaren oder auch zukünftigen Nutzen in der fortgesetzten Teilnahme an solchen egalitären Institutionen erkennt, respektiert er die Entscheidungen der Institution, lässt sich auf den vereinbarten Kompromiss ein und richtet sein Verhalten bis auf weiteres danach aus.
6.3.3.1 Das Design internationaler Institutionen beeinflusst ihre Wirkung Ein differenzierteres Verständnis des Begriffes der Institution legt demgegenüber nahe, internationale Institutionen nicht nur als egalitär strukturierte Arrangements zu verstehen. Schließlich zeigt auch und v. a. die Geschichte der internationalen Politik, dass mächtigere Staaten sich bei der Einrichtung internationaler Institutionen, also während der Phase, in der die Mitglieder, Abstimmungsmodalitäten, Stimmengewichtung und evtl. auch die Kompetenzverteilung zwischen den Organen internationaler Organisationen festgelegt werden, oft gewisse Privilegien sichern. Die Stimmengewichtungen in den Verfahren der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und des Rats der Europäischen Union sowie die Stellung des UN-Sicherheitsrats gegenüber der UN-Generalversammlung sind institutionelle Arrangements, durch die sich die größeren und mächtigeren Staaten ein ‚mehr‘ an Einfluss auf die konkreten Inhalte von Entscheidungen der entsprechenden Institution gesichert haben. Noch offensichtlicher ist die ungleiche Machtverteilung bei Institutionen, die ihrer ganzen Form nach hierarchisch strukturiert sind, und die man auch unter den Begriffen der ‚Einflusssphäre‘, des ‚Protektorats‘ und des ‚Imperiums‘ kennt¹⁴⁹. 149 David A. Lake, Beyond Anarchy: The Importance of Security Institutions, International Security, vol. 26 (2001), 129–160, 132–133: „A more complete accounting would include such increasingly hierarchic security institutions as: spheres of influence, in which dominant states prevent subordinates
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Der Gewinn einer solchen Taxonomie internationaler Institutionen liegt zum einen darin, dass die verschiedenen und in der Wirklichkeit oft zu beobachtenden Formen institutioneller Arrangements angemessener abgebildet werden können; zum anderen liegt ein Mehrwert darin, dass die spezifischen Wirkungen, die von den unterschiedlichen Institutionen ausgehen, stärker differenziert werden können. Mit anderen Worten: Für die Analyse der internationalen Beziehungen ist es hilfreich, zu berücksichtigen, dass sich Institutionen in ihrem Design unterscheiden und deswegen auch unterschiedlich geartete Wirkungen entfachen. Diese Wirkungen von internationalen Institutionen lassen sich mit einem Blick auf das Verhalten der Mitglieder, aber auch das der Nichtmitglieder bzw. Außenstehender feststellen – je nachdem, wie stark außenstehende Staaten auf die Einrichtung und/oder Erneuerung institutioneller Arrangements reagieren, desto größer die Bedeutung und Wirkung dieser Institution¹⁵⁰. Solche Erkenntnisse über die relative Bedeutung einer internationalen Institution lassen sich ergänzend auch unter Anstellung kontrafaktischer Überlegungen erhärten – ausgehend von der Existenz alternativer Institutionen lassen sich verschiedene Verhaltensweisen als mögliche Reaktion darauf denken. Um zu verstehen, wie unterschiedlich strukturierte internationale Institutionen ihre Wirkungen entfachen, ist es sinnvoll, die typischen Kosten-Nutzen Kalkulationen zu differenzieren, die Staaten vor der Einrichtung einer bestimmten Institution anstellen. Schließlich sind sowohl anarchische als auch hierarchische Institutionen Produkte rationaler Entscheidungen egoistischer Staaten. Vor ihrer Entscheidung kalkulieren Staaten: – die Größe der entstehenden Gemeinschaftsproduktion, die auf Arbeitsteilung beruht, die Rationalisierungseffekte mit sich bringt, und von der die Summe absoluter Gewinne abhängt; – die zu erwartenden Opportunitätskosten, die Trittbrettfahrer verursachen; – die zu erwartenden Governance-Kosten, die mit der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer Institution verbunden sind. Hierarchische Institutionen, wie z. B. Einflusssphären, Protektorate oder Imperien, werden umso nützlicher, wenn die zu erwartenden Opportunitätskosten hoch sind; anarchische Institutionen werden gegenüber hierarchischen Institutionen günstig, wenn die anfallenden Governance-Kosten gering bleiben. Staaten berechnen die zu erwartenden Kosten allerdings nicht isoliert voneinander sondern kalkulieren die from entering into security relationships with third parties […]; protectorates, where subordinate states yield control over their foreign and defense policies to dominant powers […]; informal empires, through which dominant states control substantial areas of policy in subordinate polities-even some typically regarded as purely domestic-but subordinates continue to interact with third parties on the basis of sovereignty […]; and empires, where dominant states formally control subordinates that retain no independent international ‚personality‘, and therefore no right to enter international agreements in their own name.“ 150 Vgl. ebda., 130.
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Summe aller möglichen Kosten im Licht aller möglichen Gewinne. Daraus folgt, dass anarchische Institutionen immer dann eine günstige Einrichtung für Staaten sind, – wenn die zu erwartenden Opportunitätskosten bei geringer Gemeinschaftsproduktion und entsprechend geringen Rationalisierungseffekten niedrig bleiben und das Arrangement für den jeweiligen Staat keine größeren Einschränkungen darstellt; – wenn die Gemeinschaftsproduktion und ihre Rationalisierungseffekte beträchtlich sind und gleichzeitig die mit der Einrichtung von Hierarchien verbundenen Kosten ebenfalls hoch wären. Demnach kommt es immer dann zu anarchischen Institutionen, wenn die zu stabilisierende Kooperation mit anderen Staaten einerseits keine große Anstrengung mit sich bringt, andererseits aber dennoch einen attraktiven Mehrwehrt produziert. Alle kooperierenden Staaten sind deswegen bereit, einen überschaubaren Anteil für das Gesamtprodukt auf- und einzubringen, die eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, und sogar ein gehöriges Maß an Opportunismus hinzunehmen¹⁵¹. Zu hierarchischen Institutionen kommt es immer dann, – wenn die Summe der möglichen Gewinne aus einer Gemeinschaftsproduktion trotz erheblicher eigener Anstrengungen beträchtlich hoch ist; – wenn die zu erwartenden Opportunitätskosten hoch sind; – und wenn die Kosten für die Kontrolle und Sanktionierung abweichenden Verhaltens gemessen an den zu erwartenden Gewinnen erträglich bleiben.
6.3.3.2 NATO und Warschauer Pakt während des Ost-West-Konflikts Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben sich für die USA und die Sowjetunion in einem veränderten Kontext neue Rahmenbedingungen für die Gewährleistung ihrer jeweiligen Sicherheit. Auf den ersten Blick war die Situation für beide Staaten sehr ähnlich: In Abwesenheit einer zentralen Regierungsinstanz sahen sich die USA und die Sowjetunion gezwungen, ihr Überleben durch eigene Anstrengungen zu sichern. Grundsätzlich bestand für beide Staaten auch eine ähnliche Situation mit Blick auf ihre sicherheitspolitische Interdependenz, insofern die Höhe der Kosten für die Herstellung der eigenen Sicherheit zu einem erheblichen Teil von den sicherheitspolitischen Anstrengungen des jeweils anderen Staates abhing. Angesichts ähnlicher Rahmenbedingungen für die Sicherheit beider Staaten hätte man vielleicht erwarten können, dass die USA und die Sowjetunion ähnliche Strategien zum Zwecke ihrer Überlebenssicherung verfolgten. Stattdessen wählten beide Staaten aber unterschiedliche institutionelle Arrangements, um sich zu schützen. Die Sowjetunion entschied sich nach Abwägung entsprechender Vor- und Nachteile für den Aufbau
151 Vgl. ebda., 138.
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einer hierarchischen Institution, während die USA unter Zugrundelegung ähnlicher Kriterien für sich einen größeren Nutzen in der Einrichtung einer anarchischen Institution sah. Nicht zuletzt die historischen Erfahrungen mit wiederholten Aggressionen westlicher Staaten gegen das eigene Staatsgebiet hatten die Sowjetunion gegenüber dem Westen vorsichtig werden lassen; zumal bestand mit dem sich verschärfenden Gegensatz zum kapitalistischen Westen ein triftiger Grund, skeptisch gegenüber etwaigen Absichten westlicher Staaten zu sein. Die Ausweitung der politischen Kontrolle nach Westen und die damit verbundene Einrichtung einer Pufferzone gegenüber den westlichen Staaten versprach einen enormen Sicherheitsgewinn für die Sowjetunion. Da neuere militärtechnische Entwicklungen zudem eine größere Mobilität der Streitkräfte und einen flexibleren Einsatz militärischer Ressourcen erlaubten, schien der sicherheitspolitische Nutzen einer Kooperation mit den osteuropäischen Staaten beträchtlich. Gegenüber diesen Staaten konnte die Sowjetunion allerdings nicht unbedingt von einer hohen Bereitschaft zur freiwilligen Kooperation ausgehen. Im Gegenteil stand zu erwarten, dass sich die Staaten Osteuropas eher unfreiwillig von der Sowjetunion für die Einrichtung eines sowjetischen Blocks und als möglicher Kriegsschauplatz heranziehen lassen würden. Um die notwendige Blockdisziplin aufseiten der osteuropäischen ‚Bruderstaaten‘ zu erreichen bzw. etwaige Neigungen zum Trittbrettfahren zu minimieren, musste die Sowjetunion in der Lage sein, besagte Disziplin mit politischem Druck und notfalls auch über militärischen Zwang aufrechtzuerhalten. Die zu diesem Zweck nötigen Investitionen in die institutionelle Infrastruktur fielen vergleichsweise moderat aus. Einerseits stand die Rote Armee nach dem Zurückdrängen der Reichswehr bereits in allen Staaten Osteuropas; andererseits konnte die sowjetische Führung auf dieser Basis umso leichter illoyale Regierungen durch Moskautreue auswechseln. Das Problem der fehlenden Legitimität dieser Regierungen wurde so lange nicht virulent, wie es die osteuropäischen Vasallenregierungen vermochten, ihrerseits durch Zwang innerstaatliche Disziplin herzustellen. Die von der Sowjetunion vorgenommene Überprüfung der Rentabilität des Warschauer Pakts mit Blick auf die drei relevanten Kalkulationsgrößen ‚Gemeinschaftsproduktion‘, ‚Opportunitätskosten‘ und ‚Governance-Kosten‘ ergab folgendes Bild zugunsten einer hierarchischen Institution in der Form eines informellen Imperiums: – die zu erwartenden Sicherheitsgewinne aus einer militärpolitischen Kooperation mit Staaten Osteuropas waren beträchtlich; – die zu erwartenden Kosten aufgrund des Abweichens einzelner Staaten von der Blockdisziplin waren ebenfalls beträchtlich; – die fälligen Investitionen in die Einrichtung einer funktionsfähigen institutionellen Infrastruktur, die es der Sowjetunion erlaubte, notfalls auch durch militärischen Zwang Gefolgschaft herzustellen, waren vergleichsweise gering, sodass es für die Sowjetunion rational und kosteneffizient schien, im Rahmen eines informellen Imperiums mit den osteuropäischen Staaten zu kooperieren.
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Auch die USA hatte von einer längerfristigen Zusammenarbeit mit europäischen Staaten im Rahmen einer internationalen Institution prinzipiell große Vorteile. Der Kriegsverlauf hatte gezeigt, dass auch die USA nicht mehr unverwundbar waren. Neue Technologien erlaubten es den industriell entwickelten Staaten, potenzielle Feinde in ihrem Kernland anzugreifen. Umgekehrt war es damit aber ebenso möglich, die Verteidigung nach vorne zu verlagern. In dieser Hinsicht hatte die USA gegenüber anderen Staaten aufgrund ihrer Verfügbarkeit über entsprechende Ressourcen sogar große Vorteile. Allerdings blieb die USA angewiesen auf ein gewisses Maß an Lastenteilung durch ihre europäischen Partner. Sollte die Sowjetunion tatsächlich den ganzen europäischen Kontinent erobern wollen, mussten die europäischen Verbündeten einen Teil der Verteidigungsanstrengungen übernehmen. Aufgrund der unmittelbaren Bedrohung durch die Sowjetunion, die für Staaten wie Frankreich, die Beneluxstaaten und Großbritannien ungleich höher war, als für die USA, konnte bezüglich der Bereitschaft dieser Staaten aber kein Zweifel bestehen. Weil ihre Sicherheit eng an eine sinnvolle und im Ernstfall funktionierende Lastenteilung geknüpft war, konnte zudem davon ausgegangen werden, dass die Neigungen zum Trittbrettfahren nicht unerträglich wurden. Auf gar keinen Fall stand für die USA zu befürchten, dass ihre eigenen Kooperationspartner versucht wären, eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion vorzuziehen. Deshalb sprach auch nichts dafür, Mechanismen für eine Erzwingung von Kooperationsbereitschaft in die Institution einzubauen. Die späteren Mitgliedstaaten der NATO hatten ihrerseits ein großes Interesse daran, die USA als Partner für ihre Verteidigung zu gewinnen. Eine stärkere Einmischung der USA und Kontrolle ihrer Partner hätte ungleich höhere Investitionen in die Institution erfordert, ohne dass deswegen jedoch ein mehr an Gewinnen zu erwarten war. Die von der USA vorgenommene Überprüfung der Rentabilität der NATO mit Blick auf die drei relevanten Kalkulationsgrößen ‚Gemeinschaftsproduktion‘, ‚Opportunitätskosten‘ und ‚Governance-Kosten‘ ergab folgendes Bild zugunsten einer vergleichsweisen anarchischen Institution, in der jeder Mitgliedstaat (außer Deutschland) seine volle Souveränität behielt: – die zu erwartenden Sicherheitsgewinne aus einer militärpolitischen Kooperation mit Staaten Westeuropas waren aus Sicht der USA beträchtlich; – die zu erwartenden Kosten aufgrund des Abweichens einzelner Staaten von etwaigen Bündnisverpflichtungen waren zu vernachlässigen; – die fälligen Investitionen in die Einrichtung einer funktionsfähigen institutionellen Infrastruktur waren erträglich, weil ein hohes Maß an Freiwilligkeit unter den Kooperationspartnern bestand und eine Lastenteilung möglich war.
6.3.4 Kontrollfragen – –
Was ist Interdependenz? Wie und warum kommt es zu Kooperation?
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– – – – –
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Welche Rolle spielt Macht in Interdependenz? Welche Funktionen besitzen internationale Institutionen? Wie entstehen und wie wirken internationale Institutionen? Inwiefern unterscheiden sich egalitäre und hierarchische Institutionen? Inwiefern ist die neoliberale Theorie eine systemische Theorie?
7 Neofunktionalismus Integrationstheorien bzw. integrationstheoretische conventions (Föderalismus, Kommunikationstheorie à la Deutsch, Neofunktionalismus)¹⁵² zeichnen sich aus durch die Problematisierung zweier zentraler Gesichtspunkte: die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik sowie die Rolle des Staates als Organisationsform moderner Gesellschaften¹⁵³. Integrationstheorien teilen die Ausgangsüberlegung, dass Regierungen in einem Bereich, wie z. B. dem der Wirtschaft, zusammenarbeiten und Institutionen einrichten, die den Kooperationsprozess steuern. Die einflussreichste convention, der Neofunktionalismus, leitete daraus die Hypothese ab, dass die von Regierungen eingerichteten Entscheidungsmechanismen eigene Dynamiken entfalten und staatliche Regulierung in immer mehr Sektoren ersetzen. Aufgrund einer ‚verbesserten‘ Bewältigung von Staatsaufgaben in einem Bereich, würden sich immer mehr loyale Befürworter sogenannter supranationaler Lösungen auch für andere Sektoren finden. Allmählich würden souveräne Staaten in der Bürokratie der internationalen Behörde verschmelzen und eine prozedurale Problembewältigungsgemeinschaft bilden¹⁵⁴. Neofunktionalisten suchten nach Erklärungen für den Beginn von Integrationsprozessen und für die ihnen innewohnende Dynamik. Selbst prominente Vertreter der Theorie waren sich jedoch nie so ganz sicher, worauf sich die Beschreibung konzentrieren sollte¹⁵⁵. Ebenso vorsichtig waren ihre Bemerkungen zu den mutmaßlichen Ursachen von Integration; Erklärungen konnten sich auf eine ganze Reihe von ‚unabhängigen Variablen‘ stützen. Besonders hilfreich für die Erfassung dieser Variablen schienen die ‚bewertenden Konzepte‘ des spill-over, der elite responsiveness und des bargaining style. Obwohl einige der populärsten Vertreter der Theorie ein gewisses Unbehagen entwickelten und sich anderen Theorieperspektiven zuwandten¹⁵⁶, blieb der Neofunktionalismus in der Diskussion. Zumal sein Zuschnitt auf die Analyse der europäischen Integration motivierte zahlreiche Europaforscher zu einer Weiterentwicklung zentraler Gesichtspunkte. In gewissem Sinn hat der Neofunktionalismus
152 Zum Begriff integrationist conventions, vgl. Ernst B. Haas, The Study of Regional Integration: Reflections on the Joy and Anguish of Pretheorizing, International Organization, vol. 24 (1970), 607–646, 622. 153 Vgl. Ben Rosamond, Theories of European Integration (Houndmills: Palgrave, 2000), 1. 154 Vgl. Ernst B. Haas, Beyond the Nation-State. Functionalism and International Organization (Stanford: Stanford University Press, 1964), 39. 155 Vgl. Haas, The Study of Regional Integration, a. a. O., 630. 156 V. a. zu nennen, wäre Haas selbst, der sich seit den 1980er-Jahren mit einer Reihe einflussreicher Publikationen sowohl in Diskussionen über die neoliberale Institutionentheorie als auch in die sozialkonstruktivistische Theoriebildung ‚eingemischt‘ hatte. Vgl. u. a. Ernst B. Haas, Words Can Hurt You; Or, Who Said What To Whom About Regimes, in St. Krasner (Hg.), International Regimes (Ithaca: Cornell Univ. Press, 2003), 23–59; Ernst B. Haas & Peter Haas, Pragmatic Constructivism and the Study of International Institutions, Millennium, vol. 31 (2002), 573–601.
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wichtige Vorarbeiten für die Konzeption der EU als ein dynamisches Mehrebenensystem geleistet. Kritiker der neofunktionalistischen Theorie haben betont, dass Staaten aufgrund der prekären Situation in einem anarchischen Milieu und/oder aufgrund national(istisch)er Gesinnungen unter Entscheidungsträgern keine Integration außen- und sicherheitspolitischer Bereiche zulassen würden¹⁵⁷. Andere Kritikpunkte richteten sich auf die der Theorie zugrunde liegende naive und elitäre Vorstellung von ‚Pluralismus‘. Anders als von der Theorie beschrieben, wären konkurrierende Interessengruppen nicht bereit, nur in den vom Staat vorgesehenen Einflusskanälen zu agieren. Sie stünden vielmehr in einem labilen Gleichgewichtszustand, zerstörten den Staat in seinem Wesenskern und reduzierten jedes supranationale politische System zu einer ‚Zweckapparatur‘, die nur der Realisierung exklusiver Interessen diene¹⁵⁸. Das Ungleichgewicht zwischen konkurrierenden Interessengruppen sei bedingt durch Unterschiede in der sozialen Basis, im politischen Einfluss der Apparate und in der Verfügung über Geldmittel. Supranationale Mechanismen glichen oligarchischen Systemen, in denen einflussreiche Interessenverbände hegemoniale Strukturen für eine ‚Politik der Vorherrschaft‘¹⁵⁹ missbrauchten. Unorganisierten Gruppen sei der Zugang zu staatlichen und supranationalen Entscheidungsmechanismen komplett verbaut. Dieser Umstand, dass nämlich Kinder, Studenten, Alte, Selbstständige, Arbeitslose, Kranke etc. vom Wettbewerb um politische Einflussnahme zugunsten der eigenen Wohlfahrtsmaximierung ausgeschlossen sind, werde als Ursache für Legitimationsdefizite überhaupt nicht berücksichtigt.
7.1 Prämissen 7.1.1 Internationale Beziehungen sind eingebettet in Vergesellschaftungsprozesse Staaten unterhalten zwar dem Namen nach zwischenstaatliche Beziehungen, treten aber nicht selbst als Akteure auf. Die staatlichen Arenen und Entscheidungsprozesse dienen organisierten und einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen als Plattformen und Mechanismen für die Realisierung ihrer Interessen. Die Verfolgung organisierter gesellschaftlicher Interessen geschieht nicht nur im Rahmen innerstaatlicher, son157 Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, a. a. O., 104–108. Vgl. Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation-State and the Case of Western Europe, Daedalus, vol. 95 (1966), 862–915, 867–869. 158 Vgl. Hans-Jürgen Bieling & Jochen Steinhilber, Hegemoniale Projekte im Prozess der europäischen Integration, in: Bieling & Steinhilber (Hg.), Die Konfiguration Europas: Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2000), 102–130. 159 Vgl. Stephen Gill, The Emerging World Order and European Change: The Political Economy of European Union, in: R. Miliband & L. Panitch (Hg.), The Socialist Register: New World Order? (London: Merlin Press, 1992), 157–196.
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dern zunehmend auch im Rahmen überstaatlicher Entscheidungsprozesse. Der Pluralismus von Interessen sowie ein zunehmender Wettbewerb zwischen Gruppen um die Realisierung ihrer Interessen über Entscheidungsprozesse in und außerhalb von Staaten intensivieren die transnationale Vergesellschaftung und verändern die internationalen Beziehungen.
7.1.2 Die Akteure sind Gruppen mit spezifischen Interessen In den pluralistischen Systemen der westlichen Industriestaaten sind private und politische Interessengruppen die relevanten Akteure im politischen Prozess. Innerhalb der staatlichen Gesellschaften stehen eine Vielzahl von privaten Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen in Konkurrenz zueinander und kämpfen um politischen Einfluss, um ihre eigene Wohlfahrt zu steigern. Gruppen verfolgen ausschließlich ihre eigenen Interessen an der Lösung von Sachfragen, die aus ihrer Sicht einer ganz bestimmten Lösung harren. Die Regierung ist selbst eine Interessengruppe.
7.1.3 Akteure politisieren Sachfragen in institutionalisierten Kommunikationskanälen Interessengruppen benutzen verfügbare Kommunikationskanäle, um ihre Interessen an der Lösung von ‚technischen‘ Sachproblemen vernehmbar zu artikulieren (= ‚Politisierung‘). Sie bilden Koalitionen, oft über staatliche Grenzen hinweg, um die Dringlichkeit supranationaler Aufgabenerledigung zu betonen, und um politische Entscheidungsträger zu überreden, ‚überstaatliche‘ Entscheidungsmechanismen einzurichten, in denen ‚Experten‘ Sachprobleme ohne parteitaktische Kalküle und in technokratischer Manier durch supranationale Verwaltungsentscheidungen effizienter lösen können.
7.1.4 Supranationale Problemlösungen entfalten nicht-intendierte Konsequenzen Erfolge bei der supranationalen Aufgabenbewältigung in einem spezifischen Sachbereich durch technokratische Entscheidungsfindung entfalten nicht-intendierte Konsequenzen: Einerseits steigt der Druck zur technokratischen Verregelung angrenzender Sachbereiche, andererseits ‚lernen‘ Interessengruppen aus erfolgreicher supranationaler Problemlösung, insofern sie die Problemlösungskapazität technokratischer Verfahren erkennen. Akteure hegen Erwartungen, dass Probleme in angrenzenden Sachbereichen ebenfalls durch supranationale Lösungsversuche erfolgreich bearbeitet werden können.
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7.1.5 Integration führt zu einer politischen Gemeinschaft Interessengruppen entwickeln Vertrauen, Erwartungen und sogar Loyalitäten zu den überstaatlichen Mechanismen zur Problemlösung. Supranationale Lösungen von Sachfragen in einem Bereich dienen u. U. als Modell für die Problemlösung in anderen Bereichen. Insofern Gruppen in noch nicht vergemeinschafteten Bereichen supranationale Problemlösungen staatlicher Regulierung vorziehen, springt der supranationale Lösungsansatz über in andere Sachbereiche. Mit Zunahme supranationaler Entscheidungsmechanismen entsteht allmählich eine neue bürokratische Organisation und Problembewältigungsgemeinschaft – Regierungen können diesen Prozess jedoch unterbrechen.
7.2 Analytik und Aussagenlogik 7.2.1 Analytik Interdependenz Eliten/Interessengruppen Pluralismus/Konflikte Wohlfahrt Interessenartikulation Politisierung von Sachfragen Problembereiche Aufgabenerledigung Staat als Transmissionsriemen Gesetzgebung Souveränitätstransfer Vergemeinschaftungsprozess Kompetenzübertragungen Internationale Organisation
Funktionales Recht Nicht-Intendierte Konsequenzen Übersprung (spill-over) – Vernetzung von Problemlösungen (funktionaler spill-over) – Loyalitätstransfers pol. Gruppen (politischer spill-over) – Informelle Einbindung privater Gruppen und öffentlicher Akteure (erzeugter spillover) Vertiefung Erweiterung Integrationsunterbrechung (stop and go) Integrationsrückschritt (spill back)
7.2.2 Aussagenlogik Nach dem Dafürhalten von Funktionalisten und Neofunktionalisten ist es irreführend, davon auszugehen, dass Staaten als einheitliche Akteure in den internationalen Beziehungen in Erscheinung treten. Neofunktionalisten gehen davon aus, dass Staaten in ihrem innerstaatlichen Raum von einem wettbewerbsorientierten Pluralismus einflussreicher gesellschaftlicher Eliten bzw. Gruppen mit bestimmten Interessen
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gekennzeichnet sind¹⁶⁰. In der neofunktionalistischen Vorstellung nehmen auch politische Eliten und sogar Regierungen an diesem Wettbewerb teil. Alle organisierten Gruppen versuchen, ihre jeweiligen Interessen an der Steigerung der eigenen Wohlfahrt über eine Beeinflussung der Entscheidungsfindung im politischen System zu verwirklichen. Dabei kommt es zwangsläufig dazu, dass die Steigerung der Wohlfahrt einer Interessengruppe (z. B. der Arbeitgeber) wenigstens für eine gewisse Zeit mit einer Beeinträchtigung der Wohlfahrt anderer Interessengruppen (z. B. der Gewerkschaften) einhergeht. Pluralismus heißt immer auch Konflikt. Die Tatsache, dass gesellschaftliche und politische Gruppen mit verschiedenen Interessen ihre Anliegen politisieren, auf den politischen Entscheidungsprozess einwirken und unterschiedlich viel Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben, bedeutet, dass staatlicher Politik kein nationales Interesse im engeren Sinn des Wortes zugrunde liegt. Regierungspolitik besteht zu einem ganz wesentlichen Teil im Ausgleich der konkurrierenden Interessen, ganz besonders in der Lösung vieler technischer Probleme, den sogenannten Sachfragen. Je mehr Interessengruppen versuchen, ihre spezifischen Interessen an der Lösung von Sachfragen über Teilnahme an diesem innerstaatlichen Problemlösungsprozess zu realisieren, desto weniger kann von einem nationalen Interesse die Rede sein. Vor allem in den modernen Industriestaaten sind es oft gut organisierte gesellschaftliche Eliten, nämlich wirtschaftliche Interessengruppen wie die Industrieund Handelskammern, die Sachfragen politisieren und – durch direkte oder indirekte Lobbyarbeit – großen Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung und Gesetzgebung ausüben. Zusammengeschlossen in großen Wirtschaftsverbänden, versuchen Interessengruppen der Industrie und/oder des Handels politische Parteien und Regierungen für ihre Ziele einzunehmen. Sie versuchen, unter den tonangebenden politischen Eliten einen tragfähigen Konsens über Problemlösungsbedarf herzustellen und wirtschaftliche Sachprobleme einer nach ihrer Meinung effizienten Lösung zuzuführen. Solche Verbände organisieren sich und operieren zusehends transnational, indem sie Koalitionen über staatliche Grenzen hinweg bilden. Als transnationale Interessengemeinschaften üben sie u. U. noch mehr Einfluss auf innerstaatliche Rechtspolitik aus. Diese innerstaatlich gebündelte und über grenzüberschreitende Zusammenarbeit verstärkte Einflussnahme wirtschaftlich motivierter Interessengruppen kann im Ergebnis dazu führen, dass eher technisch anmutende Probleme z. B. in der Industrieproduktion bzw. dem Vertrieb von Industriegütern nicht mehr durch nationale Gesetze, sondern durch eine von Wirtschaftsexperten koordinierte Sachpolitik auf supranationaler Ebene gelöst werden. Die Voraussetzung dafür ist geschaffen, wenn sich Regierungen dem Druck dieser Interessengruppen beugen und die Zuständigkeit für die Lösung von wirtschaftlichen Sachfragen auf eine internationale Behörde übertragen. Der gebündelte ‚wirtschaftliche Sachverstand‘ von Interessengruppen 160 Vgl. Leon Lindberg, The Political Dynamics of European Economic Integration (Stanford: Stanford University Press, 1963), 9.
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aus mehreren Ländern bewegt die Regierungen wirtschaftlich bedeutender Staaten dazu, ausgewählte Gesetzgebungs- und Regulierungskompetenzen auf die internationale Behörde zu übertragen. Die dort getroffenen Entscheidungen führen wirtschaftliche Probleme in ausgewählten Sektoren einer staatenübergreifenden Lösung zu, die aus rein sachspezifschen Gesichtspunkten effizient und wünschenswert ist. Die erfolgreiche Befriedigung spezifischer Bedürfnisse an effizienter Sachpolitik in einem wirtschaftlichen Problemfeld – z. B. dem der Bergbau- oder der chemischen Industrie – durch die von einer internationalen Behörde vorgenommenen Regulierungen zeitigt dann unter Umständen nicht-intendierte Konsequenzen: Die Problemlösung in einem wirtschaftlichen Bereich wirft Probleme in anderen Wirtschaftssektoren auf, z. B. in der Verpackungsindustrie oder der Verkehrsindustrie; oft sind davon ganz andere Sachbereiche betroffen (Finanzen, Soziales, Umwelt). Je nach dem Dafürhalten der betroffenen Interessengruppen bedürfen die dort entstehenden Sachfragen ebenfalls einer effizienteren Regulierung durch die internationale Behörde. Mithin führt also die erste erfolgreiche Aufgabenbewältigung durch die internationale Behörde zu Handlungsbedarf in angrenzenden Sachbereichen und veranlasst andere Interessengruppen, diesen ‚supranationalen Ansatz‘ z. B. mit Blick auf Fragen der Verpackung und/oder des Verkehrs bzw. auf den Feldern der Finanz-, Sozial- oder Umweltpolitik zu verfolgen. Wenn und insofern es solchen gesellschaftlichen Gruppen ihrerseits gelingt, Regierungen zu Kompetenzübertragungen für diese Bereiche zu bewegen, zieht die erste supranational vollzogene Problemlösung in einem Bereich weitere Schritte solcher Art in anderen Bereichen nach sich. Die von einer Gruppe zur Lösung von Problemen in einem Sektor angestoßene Regulierung vernetzt sich mit und ‚springt über‘ auf Interessengruppen mit Erwartungen an eine effiziente Problemlösung in einem angelagerten Sektor (funktionaler spill-over). Der Erfolg supranationaler Problemlösung(en) kann dazu führen, dass nicht nur gesellschaftliche Eliten, sondern sogar die jeweiligen Regierungen der Staaten selbst einen Wert in technokratischer Regulierung sehen und die Arbeit der internationalen Behörde wertschätzen. Politische Eliten wenden sich u. U. aus eigenem Antrieb dem supranationalen Ansatz zu, weil sie Loyalitäten für die internationale Verwaltungsbürokratie entwickelt haben (politischer spill-over). Sie favorisieren selbst immer mehr supranationale Lösungen für gesellschaftliche Sachprobleme und rufen nach der Setzung von supranationalem funktionalen Recht. Politische Eliten sorgen auf der Basis ihrer neuen Identifikation mit supranationaler Problemlösung durch freiwillige Kompetenzabtretungen dafür, dass immer mehr Sektoren für den Zugriff internationaler Entscheidungsprozesse geöffnet werden. Darüber hinaus ist oft zu beobachten, dass die auf internationaler Ebene tätigen Beamten und politischen Eliten ebenfalls positive Erwartungen an und Loyalitäten für die internationale Bürokratie entwickeln. Sie versuchen, politische Eliten und gesellschaftliche Interessengruppen vom Vorteil supranationaler Lösungen zu überzeugen, und binden z. B. Wirtschaftsund/oder Sozialverbände direkt in die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse auf supranationaler Ebene ein. Interessengruppen lassen sich u. U. von internationa-
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len Verwaltungsbeamten und ihren Vorschlägen überzeugen, sodass der Bedarf an wirtschafts-, finanz-, oder sozialpolitischen Problemlösungen nicht mehr von gesellschaftlichen Interessengruppen formuliert, sondern durch die Beamten auf internationaler Ebene erzeugt wird (erzeugter spill-over). Oft werden Interessengruppen von supranational ‚denkenden‘ Akteuren und bereits im Vorfeld geplanter Regulierungen in informelle Gespräche eingebunden, sodass der für die Lösung von Problemen nötige Sachverstand aus der supranationalen Verwaltungsmaschinerie heraus nachgefragt wird. Entscheidungen resultieren in letzter Konsequenz aus Kommunikationsprozessen, die informell und auf verschiedenen supranationalen Ebenen, aber nicht mehr unbedingt innerhalb der vorgesehenen Institutionen ablaufen. Der zunehmende Übersprung von Erwartungen und Loyalitäten auf der Seite von Interessengruppen in immer mehr Sektoren, begleitet von entsprechenden Kompetenzübertragungen durch die nationalen Regierungen, bedeutet eine allmähliche Vertiefung der Integration. Es entsteht allmählich eine neue politische Gemeinschaft – nicht im Sinne einer Werte-, oder gar ‚Schicksalsgemeinschaft‘, sondern im Sinne einer Problembewältigungsgemeinschaft, eines staatenübergreifenden Entscheidungszentrums, in das gesellschaftliche und politische Eliten positive Erwartungen mit Blick auf ihre Wohlfahrtsmaximierung setzen. Des Weiteren kommt es u. U. zu Begehrlichkeiten auf der Seite von Regierungen, deren Staaten noch nicht Teilnehmer des Integrationsprozesses sind. Geglückte Integrationsfortschritte und die damit verbundenen Gewinne für die Teilnehmer an internationaler Integration nähren den Wunsch auch unter Nichtmitgliedern, dem Integrationsprozess beizutreten. Aus der Sicht von Nichtmitgliedern scheint der Beitritt zu einem funktionierenden wirtschaftlichen Integrationsprozess, nachgerade im Zeitalter der Interdependenz und transnationalen Vergesellschaftung, ein lohnenswertes Unterfangen. In diesem Fall springen positive Erwartungen und evtl. sogar Loyalitäten in einem geografischen Sinn über den bisherigen Integrationsraum hinaus. Je nach Vorliegen eines Konsenses unter den Mitgliedern betreffend die geografische Ausweitung der Integration kommt es zur Erweiterung um beitrittswillige Staaten. Es ist freilich nicht gesagt, dass Integration zwangsläufig und automatisch in Richtung einer vertieften bzw. erweiterten Gemeinschaft voranschreitet. Einzelne Regierungen können jederzeit feststellen, dass die Souveränität der Staaten – wenigstens vorläufig – zu weit ausgezehrt und/ oder dass die geografische Ausdehnung der Gemeinschaft an ihr Ende gekommen ist. Integrationsunterbrechungen (stop-and-go) und u. U. sogar Integrationsrückschritte (spill back) sind möglich¹⁶¹.
161 Vgl. Leon Lindberg & Stuart Scheingold, Europe’s Would-Be Polity: Patterns of Change in the European Community (Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1970), 199.
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7.3 Heuristik Im Fokus des Neofunktionalismus stehen die Initiativen gesellschaftlicher und politischer Eliten bzw. einflussreicher Interessengruppen, die sich von einer überstaatlichen Koordinierung von Sachaufgaben größere Wohlfahrtsgewinne versprechen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den nicht-intendierten Konsequenzen von Entscheidungen internationaler Institutionen. Neofunktionalisten nehmen an, dass eine für die internationalen Beziehungen immer wichtiger werdende Problematik im Zusammenspiel der strategischen Verhaltensweisen einflussreicher und transnational vernetzter Interessengruppen zu finden ist. Durch eine gezielte Einflussnahme auf die nationalen politischen Systeme verlagern diese Gruppen die Vorbereitung und Durchführung regulierender Maßnahmen immer mehr auf eine supranationale Ebene, auf der die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse nicht von so vielen unterschiedlichen Interessen und Veto-Spielern blockiert werden, wie die Verfahren im Rahmen der nationalen politischen Systeme. Im Resultat führen solche Prozesse zu einer allmählichen Überwindung nationaler Staatlichkeit und der Entstehung einer supranationalen Problembewältigungsgemeinschaft. Diese und andere Grundannahmen der Theorie strukturieren den relevanten Wirklichkeitsausschnitt vor. Mithilfe der neofunktionalistischen Theorie lässt sich beschreiben, welche inter- und supranationalen Institutionen Regierungen einrichten, um Sachprobleme ‚besser‘ regulieren zu können, und welche Konsequenzen sich daraus ergeben – d. h., inwiefern sich die Entscheidungsfindung für immer mehr Politikfelder auf die Ebene der internationalen Institutionen verlagert, sodass allmählich eine supranational operierende Entscheidungsinstanz entsteht, die als politisches System sui generis über den Mitgliedstaaten steht und sie überwölbt. Mithilfe der Theorie kann und soll erklärt werden, warum die Regierungen pluralistisch verfasster Staaten immer mehr Kompetenzen an die supranationale Organisation abtreten und vormals staatliche Zuständigkeiten zusammenlegen bzw. ‚vergemeinschaften‘. Zwei für den Neofunktionalismus interessante Phänomene sind der Beginn von Integration, wobei vor allem der Zeitpunkt interessiert, an dem der Prozess in Richtung Gemeinschaftsbildung ‚abhebt‘ (take-off), und die der Integration innewohnende Dynamik von Übersprüngen (spill-over) und sektoralen Vernetzungen.
7.3.1 Der Beginn von Integration 7.3.1.1 Die Integrationsdynamik nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Für Haas, den wohl bekanntesten neofunktionalistischen Integrationstheoretiker, war interessant, dass sechs westeuropäische Staaten (Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg) nach dem Zweiten Weltkrieg damit begannen, wirtschaftliche Belange in der Schwerindustrie durch multilaterale Aushandlungs-
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prozesse und sogar durch Zusammenlegung von sachpolitischen Zuständigkeiten zu organisieren. Im Sinne einer Beschreibung lässt sich zunächst festhalten, dass die Regierungen dieser sechs Staaten am 18. April 1951 mit dem Vertrag von Paris die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gründeten. Die Vereinbarung trat am 23. Juli 1952 in Kraft und setzte gemeinsame Produktionsbedingungen und Kontrolle der Eisen- und Stahlproduktion durch eine supranationale Verwaltung fest. Die sogenannte ‚Hohe Behörde‘, die Vorgängerin der heutigen Kommission, war das ausführende Verwaltungsorgan der Gemeinschaft mit Sitz in Luxemburg. Die Hohe Behörde ermöglichte den Mitgliedstaaten einen zollfreien Zugang zur Eisen- und Stahlproduktion aller Mitgliedsländer der EGKS. Der Hohen Behörde oblag der Vollzug der Beschlüsse der EGKS, auch ‚Montanunion‘ genannt. Die sechs Unterzeichnerstaaten bestimmten acht Mitglieder der Hohen Behörde selbst, ein neuntes wurde von der Behörde gewählt. Die Mitglieder der Hohen Behörde entschieden mit einfacher Stimmenmehrheit über Belange der Eisen- und Stahlproduktion. Durch diese Vergemeinschaftung von vormals staatlichen Kompetenzen zur Regulierung wichtiger Abläufe im Kohle- und Stahlsektor öffneten die sechs Gründerstaaten die Bereiche der Schwerindustrie für die Regelung durch supranationales Recht. Für den Montansektor wurde eine gemeinsame Rechtsordnung mit zuständigen Organen, eben der Hohen Behörde, eingerichtet, deren Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten verbindlich waren. Aus Sicht der neofunktionalistischen Theorie ist diese faktische Skizze relevant und wichtig, weil die Europäisierung der Stahl- und Energieerzeugung nur der Anfang eines dynamischen Integrationsprozesses war. Nahezu gleichzeitig fanden Versuche statt, die Bereiche der Verteidigung und der Außenpolitik der sechs Mitgliedsstaaten zu europäisieren. Diese Versuche scheiterten jedoch in den Jahren 1954 und 1955. Und obwohl diese Initiativen zunächst nicht zu einer weiteren Vergemeinschaftung von Sektoren führten, ist bemerkenswert, dass die sechs Gründerstaaten ab 1955 an der Errichtung einer Europäischen Wirtschafts- und einer Europäischen Atomgemeinschaft arbeiteten, deren Einrichtung sie mit den Römischen Verträgen 1957 auch vertraglich beurkundeten. Mehrere Bedingungen ließen diese Entwicklung überhaupt möglich werden. Mit Ausnahme der Niederlande und Luxemburgs waren die nationalen Identitäten in diesen Staaten schwach ausgeprägt; politisch gab es keine bedeutenden Konfliktlinien mehr; die Gesellschaften in den jeweiligen Staaten unterschieden sich auch in kultureller Hinsicht nicht wesentlich; schließlich verfolgten auch die politischen Parteien ähnliche Programme¹⁶². Diese Voraussetzungen waren wichtige Rahmenbedingungen dafür, dass innerhalb der EGKS und anderer nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteter Institutionen kollektive Entscheidungen in Sachbereichen getroffen werden konnten, in denen sich einflussreiche gesellschaftliche Interessengruppen Wohlfahrtssteigerungen erhofften. Diese Voraussetzungen waren notwendige Bedingun-
162 Vgl. Ernst B. Haas, The Uniting of Europe (Stanford: Stanford University Press, 1958), 290–291.
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gen für Integration, sie stellten aber für sich genommen noch keine hinreichenden Gründe für die Vergemeinschaftung dar. Die zentrale Frage des Neofunktionalismus richtete sich deshalb auf die hinreichenden Gründe dafür, warum die Regierungen der sechs Staaten den gemeinsamen Markt für Stahlprodukte einrichteten und sogar weitere Zuständigkeiten auf internationale Verwaltungsorganisationen abtraten. Die inter- und supranationalen politischen Institutionen wurden erst durch Kompetenzübertragungen bzw. politische Akte der einzelnen Regierungen dazu befähigt, bestimmte Sektoren zu regulieren und sachpolitische Sichtweisen und Überzeugungen zur Grundlage verbindlicher Entscheidungen zu machen¹⁶³. Für die neofunktionalistische Erklärung des Phänomens ist relevant, dass es trotz beträchtlicher Skepsis aufseiten zahlreicher Akteure genug einflussreiche gesellschaftliche und politische Gruppen in den sechs Staaten gab, die verantwortlich dafür waren, dass die EGKS überhaupt eingerichtet wurde. Zu nennen sind v. a. die Initiativen von politischen Gruppen um Akteure wie Monnet und Schuman, die Vorschläge machten, wie die Produktionsbedingungen und der Vertrieb von Schwerindustrieprodukten verbessert werden könnten. Entscheidend war dann, den Vertrag zur Gründung der EGKS so zu formulieren, dass alle betroffenen Gruppen einen Vorteil in der neuen Institution sehen konnten. Die Führungsgremien der kohle- und stahlverarbeitenden Industrien, Wirtschaftsfunktionäre in den jeweiligen Handelskammern, die Spitzen der Gewerkschaften sowie Spitzenbeamte aus den nationalen Verwaltungen teilten keine gemeinsame Ideologie gegen den Vertrag, daher mussten entsprechende Bestimmungen gefunden werden, mit denen diese Gruppen für das Projekt gewonnen werden konnten¹⁶⁴. Weil das gelang, erwarteten sich einige Industrieverbände, vor allem die deutschen, eine Wiederbelebung der deutschen Stahlproduktion; die Handelskammern versprachen sich von der Liberalisierung des Marktes für Schwerindustriegüter mehr Wettbewerb und dadurch bedingt eine Verminderung der Produktionskosten, höhere Produktivität und niedrigere Preise für Eisen- und Stahlprodukte; schließlich verfochten Spitzenbeamte – neben Jean Monnet auch Ludwig Erhard – in den nationalen Verwaltungen neoliberale Ideen und knüpften an die Arbeit der EGKS die Hoffnung, dass geografische Vorteile bestimmter Industrien maximiert und der Vertrieb von Produkten rationalisiert werden könnten¹⁶⁵. Eine weitere Überlegung auf der Seite all dieser Gruppen bestand darin, dass weltwirtschaftliche Entwicklungen, v. a. die Konkurrenz aus der USA, eine Effizienzsteigerung in der europäischen Schwerindustrie dringend nahelegten. Aus Sicht der neofunktionalistischen Theorie ist der entscheidende Gesichtspunkt für einen Integrationsfortschritt darin zu sehen, dass nach der Einrichtung der EGKS viele gesellschaftliche Gruppen einen Vorteil für sich darin erkannten, industriepolitische Entscheidungen über die EGKS und in Umgehung der staatlichen 163 Vgl. ebda., 7. 164 Vgl. ebda., 290. 165 Vgl. ebda., 18–21.
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Entscheidungsprozesse direkter und erfolgreicher zu beeinflussen. Die Einrichtung der EGKS als einer supranationalen Behörde zur Regulierung der Schwerindustrie bot zunächst nur einigen Interessengruppen größere Wohlfahrtsgewinne. Für andere Gruppen lieferte sie aber zumindest wenig Anlass für politische Kontroversen. Schließlich war klar, dass die vielen technischen Fragen, z. B. der Vereinheitlichung von Normen und Standards betreffend den Umfang der Förderung sowie der Preisgestaltung, besser von Fachleuten als von Politikern gelöst werden könnten. Nach und nach keimten dann auch bei anderen Gruppen Erwartungen in die Problemlösungskapazität der supranationalen Behörde. Und damit verbanden sich Hoffnungen auf Wohlfahrtsgewinne, sei es im Sinne wirtschaftlicher Wohlfahrt, oder sei es im Sinne einer hohen Friedensdividende. Die ‚expansive Logik‘ ökonomischer Integration versprach ja nicht nur, die Sektoren der Volkswirtschaften miteinander zu verflechten, sondern auch einen Bedarf an politischer Zusammenarbeit auf Seiten der Regierungen zu erzeugen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach der Gründung der EGKS Nachahmungseffekte auf Seiten anderer gesellschaftlicher Gruppen und der Druck aus weltwirtschaftlichen Entwicklungen zu einem funktionalen spill-over führten, der eine gewisse Integrationsdynamik hervorrief.
7.3.2 Die Dynamik von Integration 7.3.2.1 Der neue (Integrations-)Schub durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) Aus Sicht der neofunktionalistischen Theorie hat die Einheitliche Europäische Akte (EEA) während der 1980er-Jahre zu einer ‚neuen Dynamik‘ im europäischen Integrationsprozess geführt. Nach einer langen Periode des Stillstands während der 1960er und der ‚Eurosklerose‘ in den 1970er-Jahren kam in den frühen 1980er-Jahren auf Initiative einiger Regierungen wieder Bewegung in den Integrationsprozess. Im Sinne einer Beschreibung lässt sich festhalten, dass der Europäische Rat im Juni 1981 damit begann, die Kommission und den Ministerrat zu ermutigen, Pläne für die Schaffung eines Binnenmarktes auszuarbeiten. Unter der Präsidentschaft von Gaston Thorn wurden dann tatsächlich zahlreiche Vorschläge von der Generaldirektion III der Kommission entworfen und archiviert. Aber erst nach der Einigung über den Haushaltsbeitrag Großbritanniens im Juni 1984 forcierte der Europäische Rat das Projekt des Binnenmarkts in einer Weise, sodass die neue Kommission unter Präsident Jacques Delors die bis dato angestellten Überlegungen in einem kohärenten Programm, dem Weißbuch zur Vervollständigung des Binnenmarktes, zusammenfasste und dem Europäischen Rat im Juni 1985 in Mailand vorlegte. Die Vorbereitungen für das Weißbuch sowie seine Annahme als Arbeitsprogramm – im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte im Februar 1986 – hatten der Integration einen ‚neuen Schub‘ gegeben. Bis 1992 war die Umsetzung von insgesamt 279 Richtlinien zur Herstellung des Binnenmarkts, eine Erneuerung der vertraglichen Grundlage des europäischen Integrationsprozesses und die Revision formaler Arran-
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gements wie z. B. der europäischen Sozialcharta und des Systems der Europäischen Währungsunion zu beobachten. Die Gründe für diese ‚neue Dynamik‘ sind nach Einschätzung neofunktionalistischer Theoretiker in nicht-intendierten Konsequenzen zu suchen. Der ‚neue Schub‘ bestand darin, dass von der bereits erreichten Integration weitere Integrationsimpulse ausgingen, insofern ‚Übersprünge‘ (spill-overs) in andere Sachbereiche stattfanden¹⁶⁶. Zunächst machten sich konservative Parteien (z. B. die deutsche CDU und FDP) und Industrieverbände (die ‚Konföderation der Europäischen Industrien‘ bzw. der von Philips, Fiat, Volvo und Siemens eingerichtete ‚Runde Tisch Europäischer Industrien‘) aus mehreren Ländern in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre dafür stark, die Standortbedingungen für Unternehmen durch neue gemeinschaftliche Rahmenbedingungen zur Steigerung der Mobilität von Gütern, Dienstleistungen, Personen und Kapital zu verbessern. Nach ihrem Dafürhalten behinderten nichttarifäre Hindernisse den innergemeinschaftlichen Handel. Und das gereichte nach Meinung dieser Akteure allen europäischen Volkswirtschaften aufgrund der weltwirtschaftlichen Entwicklungen zum Nachteil. Fast im gleichen Atemzug sprachen sich andere einflussreiche Gruppen aus Politik und Gesellschaft dafür aus, rechtspolitische Lösungen für Probleme in angrenzenden Sachbereichen, vor allem auf den Feldern der Fiskal- und der Sozialpolitik, nicht wie bisher in nationalen Gremien sondern in den bereits eingerichteten supranationalen Entscheidungsprozessen zu suchen. Insgesamt betrachtet, suchten diverse Akteure auf der Basis jeweils interessengeleiteter Wahrnehmungen nach supranationalen Lösungen für Sachfragen, die aufgrund ihrer Natur bis dato eigentlich in der Zuständigkeit nationaler Behörden lagen. Analytisch gesprochen lässt sich diese Suche nach supranationalen Lösungen für bislang nationale Sachfragen als eine Übersprungsdynamik bezeichnen, die in drei verschiedenen Modi auftrat: im Modus des ‚funktionalen spill-over ‘, im Modus des ‚politischen spillover ‘ und im Modus des ‚erzeugten spill-over ‘. Der funktionale spill-over bestand darin, dass v. a. auf der Seite der großen Industrieunternehmen Reformdruck wahrgenommen und so wirksam kommuniziert wurde, dass die Kommission mit einem Maßnahmenpaket (Weißbuch) reagierte, das Auswirkungen auf Sachbereiche hatten, die in der Zuständigkeit der Nationalstaaten lagen. Viele Maßnahmen des Weißbuchs zielten darauf ab, technische, physische und fiskalische Hindernisse für grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten abzuschaffen. Der Charakter dieser Maßnahmen war damit eindeutig deregulatorisch und stand unter dem Namen größtmöglicher Liberalisierung¹⁶⁷. Um einen freieren Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen zu befördern, wurden die Regierungen der Mitgliedstaaten daran gehindert, Maßnahmen zu erlassen, die dem Ziel dieser Strategie im Wege standen. Eben diese Maßnahmen im Sinne ‚negativer In166 Vgl. Jeppe Tranholm-Mikkelsen, Neo-Functionalism: Obstinate of Obsolete? A Reappraisal in the Light of the New Dynamism of the EC, Millennium, vol. 20 (1991), 1–22, 10. 167 Vgl. ebda., 12–13.
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tegration ‘ führten jedoch zu Folgeproblemen, die ihrerseits nach gemeinschaftlichen Maßnahmen verlangten. Die Abschaffung physischer Grenzen und Grenzkontrollen bedeutete, dass funktionale Lösungen für das Problem gefunden werden mussten, den Schmuggel mit Waffen und Drogen zu verhindern. Entsprechende Interessen richteten sich in der Folge darauf, die Kooperation polizeilicher Kräfte und gemeinschaftliche Einwanderungspolitiken durch supranationale Maßnahmen herbeizuführen. Die Abschaffung von Restriktionen für die Bewegung von Kapital bedeutete, dass die Gefahren für die Stabilität der Wechselkurse größer wurden, was eventuell mit höheren Kosten für die Industrieproduktion einhergehen könnte. Daraus wiederum resultierte der Anlass für die Einführung der Europäischen Währungsunion. Die Abschaffung von Barrieren für den Verkehr von Gütern und Dienstleistungen eröffnete der Industrie größere Möglichkeiten für Standortverlagerungen und versetzte sie damit in die Lage, die zuständigen politischen Eliten in Kreisen und Gemeinden unter Druck zu setzen, die Produktionskosten (v. a. für Löhne und Sozialversicherung) senken zu können oder die Produktion woandershin zu verlagern. Dieser Umstand rief wiederum Gewerkschaften auf den Plan, die Sozialdumping fürchteten und auf die Einführung gemeinschaftlicher Arbeits- und Sozialstandards hinarbeiteten. Der politische spill-over bestand darin, dass die Spitzen aus sechs wichtigen Regierungen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande und Dänemark Handlungsbedarf dahingehend erkannten, die Europäische Gemeinschaft zu einem konkurrenzfähigen Wirtschaftsraum auszubauen, der gegen die Handelsmächte USA einerseits und Japan andererseits bestehen konnte. Wichtig dabei ist, dass sich in allen diesen Ländern zwischen 1979 und 1982 Regierungswechsel ereigneten, mit der die jeweilige ideologische Grundausrichtung und damit auch die politischen Interessenlage ‚nach rechts‘ und damit hin zu einer größeren Wirtschaftsfreundlichkeit rückte. Dieser ‚neoliberale/konservative turn‘ tat viel für eine Verlagerung der Loyalitäten unter den jeweiligen politischen Eliten von den Institutionen nationaler hin zu den Institutionen supranationaler Entscheidungsfindung. Die größer werdende weltwirtschaftliche Konkurrenz überforderte die Leistungsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften. Also lag es für die genannten Regierungen nahe, die bereits erreichte Integration v. a. in wirtschaftlicher Hinsicht zu vertiefen, d. h. den Unternehmen mehr Spielraum und bessere Rahmenbedingungen für die Produktion konkurrenzfähiger Produkte zu geben, um damit eine Stärkung der ‚Wirtschaftsmacht Europa‘ zu erreichen. Insofern sich auch die Kommission unter den Präsidentschaften von Gaston Thorn und Jacques Delors ausgesprochen industriefreundlich zeigte und die neoliberale Ideologie der neuen (konservativen) Regierungen uneingeschränkt unterstützte, verbanden die Regierungen wichtiger Mitgliedsstaaten positive Erwartungen an Integrationsfortschritte und entwickelten sogar Loyalitäten gegenüber supranationalen Problemlösungen¹⁶⁸. 168 Sehr viel vorsichtiger in dieser Hinsicht, Jeppe Tranholm-Mikkelsen, Neo-Functionalism, a. a. O., 13–15.
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Neofunktionalismus
Der erzeugte spill-over bestand darin, dass die Kommission nicht nur das Maßnahmenpaket schnürte, das der Einrichtung des Binnenmarktes dienen sollte. Die Kommission versuchte auch, Unterstützung für ihr Maßnahmenpaket zu erreichen, indem sie hochrangige Offizielle, unabhängige Experten und Interessengruppen in die Kommunikationsprozesse auf europäischer Ebene involvierte. Eines der eindrücklichsten Beispiel dafür ist der Besuch des Kommissionspräsidenten Delors’ beim Kongress der britischen Gewerkschaftsunion anno 1988, um mit dem Projekt der europäischen Sozialcharta für die Zustimmung der britischen Gewerkschaften zum europäischen Binnenmarkt zu werben¹⁶⁹.
7.3.2.2 Die integrative Dynamik in der lateinamerikanischen Freihandelszone Im Juni 1961 unterzeichneten die Regierungen von Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay, Peru, Ecuador, Kolumbien und Mexiko den Vertrag von Montevideo. Das ausgewiesene Ziel des Vertrages bestand darin, mit einem Gemeinsamen Markt größere Absatzgebiete für Industrieprodukte zu schaffen, die auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren. Die Koordinierung von Industriepolitiken sollte die Staaten zudem in die Lage versetzen, industrielle Produkte aus den USA und Europa durch eigene Produkte zu substituieren. Der im Vertrag vereinbarte Zeitplan sah vor, dass bis 1973 alle wichtigen Zollschranken abgebaut werden würden. Aus Sicht der neofunktionalistischen Integrationstheorie stellte sich nach der Unterzeichnung des Vertrages die Frage, ob sich unter den Vertragspartnern in Lateinamerika die gleiche bzw. eine ähnliche Entwicklung beobachten lassen würde wie im ‚Europa der Sechs‘¹⁷⁰. M. a. W.: Würde in Lateinamerika ein ähnlicher Prozess der fortschreitenden Integration und Gemeinschaftsbildung voranschreiten, wie in Europa? Ganz offensichtlich waren bei der Analyse der ausschlaggebenden Faktoren für eine Vertiefung der Integration die sozialen und kulturellen Unterschiede in Lateinamerika und Europa zu berücksichtigen. Notwendige Bedingungen für die Integration in Europa waren moderne Strukturen, v. a. ein fortgeschrittenes Maß an Industrialisierung der Volkswirtschaften und eine pluralistische Staatsverfassung, die es einflussreichen gesellschaftlichen und politischen Eliten erlaubten, ihre jeweiligen Ansprüche durch die Inanspruchnahme bzw. Instrumentalisierung der Maschinerie des politischen Systems zu befriedigen, ohne von einem Kartell mit Monopolstellung daran gehindert zu werden. Diese Voraussetzungen waren im Lateinamerika der 1960er-Jahre so nicht gegeben. Allerdings gab es auch dort Faktoren, die eine ähnlich zuträgliche Rolle für den Beginn und evtl. sogar eine Intensivierung der Integration Lateinamerikas spielen konnten, wie Industrialisierung und Pluralismus als 169 Vgl. ebda., 15. 170 Vgl. Ernst B. Haas & Philippe Schmitter, Economics and Differential Patterns of Political Integration: Projections about Unity in Latin America, International Organization, vol. 18 (1964), 705–737, 706–707.
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Elemente der Moderne in Europa. Eine der Industrialisierung und dem Pluralismus vergleichbare katalysatorische Wirkung übten nämlich Sozialstrukturen und Standpunkte aus, die für die im Übergang zur Moderne befindlichen lateinamerikanischen Staaten typisch waren. Die maßgeblichen Akteure in den lateinamerikanischen Staaten waren einerseits die Regierungsbürokratie und andererseits die über vielfältige Kanäle damit verbundenen Gruppen des Militärs, der Wirtschaftselite und der Gewerkschaften. Ökonomische und politische Modernisierung, i. S. einer fortschreitenden Rationalisierung industrieller Prozesse sowie der ständigen Verbesserung von Problemlösungen mithilfe trans- und supranationaler Institutionen, fanden bei diesen Akteuren und ihren Interessen ihren Ausgangspunkt – jedoch ohne, dass unter diesen Akteuren das gleiche Maß an funktionaler Differenzierung herrschte, wie zwischen den Gruppen in Europa. Auf jeden Fall kamen auch aus einem sozialen Kontext, der noch stark durch familiäre Machtstrukturen, Klientelismus, Religion, Korruption und Günstlingswirtschaft geprägt war, Impulse zur Innovation, die ihrerseits Erwartungen, Hoffnungen und Loyalitätsübertragungen nähren konnten¹⁷¹. Ein weiterer wichtiger Faktor, der zunächst allerdings eher gegen eine Intensivierung der Integration in Lateinamerika sprach, war die ausgeprägte Identifikation vieler Kreise mit der Nation; und zwar nicht in einem positiven Sinn, sondern eher in einem negativen Sinn, insofern sich der Nationalismus gegen alles Fremde richtete, vor allem gegen die imperialistische Ausbeutung durch ‚den Westen‘, und nicht im positiven Sinn auf ein gemeinsames nationales Ziel der Vereinigung. Freilich barg der in vielen Staaten Lateinamerikas anzutreffende Nationalismus durch seine Ablehnung extrakontinentaler Einflüsse auch das positive Moment der gemeinsamen Identifikation als Opfer westlicher Ausbeutung in sich. Ein möglicher Stimulus für die lateinamerikanische Integration, so schien es, konnte in dieser gemeinsamen Identifikation liegen. Ein weiterer Faktor, der charakteristisch für den lateinamerikanischen Kontext war, lag in dem weithin geteilten Gefühl des Misstrauens, des Argwohns und der Ungeduld gegenüber der industrialisierten Welt. Anstelle von Wettbewerb zwischen den einzelnen auf ihre eigene Wohlfahrt konzentrierten Gruppen, teilten die relevanten Akteure ein gemeinsames politisches Motiv: die Schaffung von Synergieeffekten zum Zwecke der Abwehr von Ausbeutung durch die entwickelten Staaten. Das Vorhandensein bestimmter Akteure und ihrer Interessen, ein weithin geteilter Nationalismus und ein gemeinsames politisches Motiv waren wichtige Voraussetzungen für die Errichtung einer Freihandelszone. Gleichwohl waren sie noch nicht im engeren Sinn ausschlaggebend für eine dynamische Vertiefung der Integration. Aus Sicht des Neofunktionalismus bestanden effektive Gründe für den dynamischen Fortgang der Integration und der Bildung einer lateinamerikanischen Gemeinschaft darin, dass sich auf der Basis des Vertrages von Montevideo spill-overEffekte einstellten. Das setzte jedoch seinerseits voraus, dass die Abschaffung von
171 Vgl. ebda., 727.
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Neofunktionalismus
Zollschranken und die Koordinierung von Industriepolitiken neue Begehrlichkeiten auf der Seite einflussreicher Akteure weckten; dass diese Akteure Lösungen für neu entstehende Probleme suchten, die aus ihrer Sicht ihre Wohlfahrt beeinträchtigten; und dass diese Akteure zum Zweck ihrer Wohlfahrtssteigerung damit begannen, den positiven Effekt sachpolitischer trans- und supranationaler Entscheidungen zu beschwören (‚Politisierung‘) und für sich zu nutzen¹⁷². Die abschließende Behauptung, dass der Vertrag von Montevideo durchaus integratives Potenzial freisetzen und einer Gemeinschaftsbildung Vorschub leisten konnte, ließ sich dadurch stützen, dass wichtige Akteure vorhanden waren, die als Katalysatoren einer solchen Entwicklung wirkten: Staatliche Bürokraten und solche der ökonomischen Verbände, die sogenannten técnicos, wären zwar nicht vergleichbar mit rivalisierenden Interessengruppen pluralistischer Staaten in Europa, aber sowohl ihre Disposition als auch ihre Stellung und Funktion in den lateinamerikanischen Staaten wären geeignet, transnationale Verbindungen herzustellen, die ihrerseits zu spill-over-Effekten führen könnten. Die über solche transnationalen Verbindungen operierenden Bürokraten könnten nämlich versuchen, innerhalb der durch den Vertrag von Montevideo geschaffenen Zusammenarbeit ständige Arenen der Kommunikation und Entscheidungsfindung einzurichten. Sie würden jenseits der staatlichen Bürokratien die Modernisierung Lateinamerikas vorantreiben, ohne dabei jedoch eine Schocktherapie nach ‚fremden‘ neoliberalen Prinzipien zu versuchen und so die Zustimmung der Bevölkerung zu verlieren. Erwartungen an die Problemlösungsfähigkeit solcher Arenen würden sich wahrscheinlich erst sehr langsam bilden. Andererseits sei die gemeinsame Erfahrung mit der Ausbeutung durch die industrialisierten Staaten als Quelle für die Herausbildung von Loyalitäten mit einer übernationalen Bürokratie nicht zu unterschätzen. Letztere Überlegung sei umso plausibler, so Haas und Schmitter, je stärker sich der Trend hin zur Einrichtung regionaler Märkte in Europa und anderswo fortsetze. Solche weltwirtschaftlichen Sachzwänge i. S. der Notwendigkeit, effizientere Produktions- und Vertriebsprozesse für industrielle und andere wirtschaftliche Produkte zu finden, könnten nämlich unter den técnicos eine größere Wertschätzung für lateinamerikanische Entscheidungsverfahren jenseits souveräner Staatlichkeit entstehen lassen.
7.3.3 Kontrollfragen – – – –
Was heißt Integration? Was heißt politische Gemeinschaft? Welche Rolle spielen Interessengruppen? Wie und warum kommt es zum Prozess der Integration?
172 Vgl. ebda., 730.
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– – –
Welche Rolle spielt der Staat? Was ist und welche Rolle spielt funktionales Recht? Was ist und wie kommt es zum spill-over?
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8 Theoriebildung zwischen Traditionalismus und Szientismus Bereits während der 1950er- und dann v. a. zu Beginn der 1960er-Jahre stellte sich heraus, dass die europäische Integration nicht linear voranschreiten würde, dass Integrationsfortschritte nicht zwangsläufig sein würden. Nationale Loyalitäten richteten sich zumal unter politischen Eliten nicht automatisch auf die neue Entscheidungsebene in Brüssel aus. Die französische Nationalversammlung weigerte sich im Jahr 1954, Verträge zur Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft als Dach der EGKS und einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu ratifizieren. Insbesondere die Veto-‚Politik des leeren Stuhls‘¹⁷³ der französischen Regierung unter Führung von Charles de Gaulle anno 1965 unterstrich, dass Souveränitätsvorbehalte nationaler Kräfte bzw. ‚dramatisch‘ agierender Staatsmännereben nicht bloß harmlose Spannungen erzeugen, sondern jederzeit eine ernste Störung des Integrationsprozesses herbeiführen können. In den 1970er-Jahren stagnierte die Vertiefung nach der Norderweiterung, obwohl Integrationsbefürworter einen gestiegenen Bedarf an Integration in den Bereichen der Währung sowie der Außen- und Sicherheitspolitik ausgemacht hatten. Und in den 1980er-Jahren scheiterte die avisierte Integration im Bereich der Sozialpolitik an nationalen Souveränitätsvorbehalten Großbritanniens. Skeptische Beobachter der Integration kamen mit Blick auf solche Ereignisse wiederholt zu dem Schluss, dass die Regierungspolitik der Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene in Wirtschaftsfragen zwar durchaus konstruktiv mit der Europäischen Kommission zusammenarbeite, dass die Entscheidungsfindung in fast allen anderen Bereichen aber eher als ein Prozess zu verstehen sei, in dem die supranationale bürokratische Maschinerie einer ständigen Regierungskonferenz hinterher laufen würde. Und selbst die wirtschaftliche Integration berühre fast ausschließlich solche Sachfragen, denen kein nennenswerter Politisierungsgrad innewohnen würde. Deren Bewältigung durch supranationale Entscheidungsprozesse dürfe nicht unbedingt als Vorstufe für eine Integration sensibler nationalstaatlicher Materien wie z. B. der Arbeits- und Sozialpolitik, Standortpolitik und Wirtschaftsförderung, Schul- und Bildungspolitik sowie der außen- und sicherheitspolitischen Zuständigkeiten gewertet werden. Ein Grund für die neofunktionalistische Fehldiagnose betreffend die automatische Vertiefung der europäischen Integration lag aus Sicht traditionalistisch denkender Wissenschaftler wie z. B. Stanley Hoffmann auch darin, dass amerikanische The173 Das Veto richtete sich gegen die geplante Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben z. B. im Sektor Landwirtschaft durch die Einnahmen der Mitgliedstaaten aus Binnenzöllen, die Streichung der bis dato üblichen und am Bruttosozialprodukt bemessenen Mitgliedsbeiträge, die Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments in Haushaltsfragen. Vgl. Philip Bajon, The European Commissioners and the Empty Chair Crisis of 1965–66, Journal of European Integration History, vol. 15 (2009), 105–124, 105.
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Theoriebildung zwischen Traditionalismus und Szientismus
oretiker wie Haas wegen ihrer szientistischen Herangehensweise viel zu optimistisch waren. Haas und andere Integrationstheoretiker gingen davon aus, die europäische Integration als ein generisches Phänomen betrachten zu können, das in einem festen Ablauf gesetzmäßiger Regelmäßigkeiten der internationalen Beziehungen eingebunden war. Dessen Mechanismen würden sich also mithilfe abstrakter Konzepte ‚entdecken‘ lassen. Haas et al. ignorierten dabei eine ganze Reihe von Besonderheiten des europäischen – und lateinamerikanischen – Kontexts. Sie begingen aufgrund ihrer wissenschaftstheoretischen Prämissen den Fehler, moralische Grundsatzfragen und historische Einzelfälle zu bloßen Datensets herabzustufen, deren Untersuchung weniger das Problem des intuitiven Verstehens sondern die Wahl der richtigen Methode berührte. Aufgrund ihrer szientistischen Untersuchungskriterien hätten Haas und andere Theoretiker die fundamentalen Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem Regierungsstil der Europäischen Gemeinschaften verkannt und Ähnlichkeiten vorausgesetzt, wo keine waren¹⁷⁴. In gewisser Weise spiegelt/e sich in der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Orientierung – Szientismus als neues Wissenschaftsverständnis unter amerikanischen Theoretikern; Traditionalismus als einflussreiches Wissenschaftsverständnis unter europäischen Theoretikern – ein allgemeiner Unterschied im kulturellen Selbstverständnis: „Sie [die Europäer] sind nicht so sicher, dass ihre Geschichte ein Erfolg ist und wollen deshalb ihre Lehren nicht auf den gesamten Erdkreis ausdehnen. Die Amerikaner aber […] neigen zu der Annahme, dass die aus ihrer Erfahrung entspringenden Werte universaler Anwendung fähig sind, und sie wollen nicht anerkennen, dass sie mit besonderen Bedingungen zusammenhängen […].“¹⁷⁵ Der Streit zwischen Traditionalisten und Szientisten rührte freilich nicht nur aus den unterschiedlichen Theoriebildungsversuchen zur Deutung der europäischen Integration. Die Frage, ob Ereignisse der internationalen Beziehungen – ähnlich dem Standardverfahren in Naturwissenschaften, wie z. B. der Physik –, auf typische Merkmale und die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten untersucht werden können (und sollen), ob mit anderen Worten die historisch informierte und am deutenden Verstehen konkreter Einzelfallgeschehnisse orientierte Untersuchung der internationalen Beziehungen einer ‚Analyse‘ von typischen Fällen mithilfe formaler Begriffe einer der Mathematik ähnlichen theoretischen Kunstsprache weichen soll, war ein grundsätzlicher Richtungsstreit und als solcher auch nicht eigentümlich für die Disziplin Internationale Beziehungen. Seit Beginn der erkenntnisorientierten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen ist es immer wieder zum Streit über Gegenstand, Methode und Wissenschaftlichkeit entsprechender Bemü-
174 Vgl. Stanley Hoffmann, Gulliver’s Troubles oder die Zukunft des internationalen Systems (Bielefeld: Bertelsmann, 1970), 110–111. 175 Ebda., 112.
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hungen gekommen¹⁷⁶. In der Disziplin IB ist der besagte Streit seit den 1960er-Jahren unter veränderlichen Schlagworten¹⁷⁷ leidenschaftlich geführt¹⁷⁸, aber bis zum heutigen Tag ohne klares Ergebnis geblieben. Kontextspezifische, historische und interpretative Herangehensweisen gehören weiterhin genauso zum Inventar der Disziplin, wie empirisch-analytische und formal-generalisierende. Unter dem Einfluss der Perspektive des Sozialkonstruktivismus und der Prämisse, dass sogar die basalen Analyseeinheiten der Disziplin, wie etwa die Denkfiguren des souveränen Staates sowie der Anarchie, durch soziale Interaktionen immer wieder neu konstituiert werden, haben veränderliche und als solche der Deutung durch den jeweiligen Wissenschaftler unterworfene Bestandteile der sozialen Wirklichkeit sogar eine Aufwertung erfahren. Zumal die durch den US-amerikanischen mainstream sozialisierten Vertreter sozialkonstruktivistischer Herangehensweisen haben freilich auch versucht, eine Brücke bzw. einen Mittelweg (‚via media‘) zwischen den beiden wissenschaftstheoretischen Positionen zu schlagen. Basierend auf der Annahme, dass sich Wissenschaftler der Internationalen Beziehungen wie alle Sozialwissenschaftler primär mit Wirklichkeitsfragen beschäftigen (sollten), erachten es mittlerweile zahlreiche Vertreter der Disziplin für wichtig, sich in erster Linie über die empirischen Phänomene der Disziplin und nicht so sehr über epistemologische Verpflichtungen und die relative Fruchtbarkeit historisch-interpretativer bzw. formal-analytischer Herangehensweisen zu streiten. In Anlehnung an die erkenntnistheoretische Position des sogenannten ‚wissenschaftlichen Realismus‘¹⁷⁹ plädieren sie für die Annahme, dass es eine 176 Die Streitigkeiten über den Wissenschaftsbegriff der Sozialwissenschaften sind gewissermaßen ‚chronisch‘ und wurden in Deutschland wiederholt unter dem Titel ‚Methodenstreit‘ bekannt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entbrannte ein solcher ‚Methodenstreit‘ u. a. zwischen Gustav Schmoller, Karl Menger und Max Weber über die Methode und den Gegenstand der politischen Ökonomie, vgl. Aliki Lavranu, Deskription, Kausalität und Teleologie, in: O. Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), 181–206; in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts speiste sich ein weiterer ‚Methodenstreit‘ aus den Argumenten zwischen Theodor Adorno einerseits und Karl Popper andererseits über Gegenstand und Methode der Soziologie. Mittlerweile gehen zahlreiche Kommentatoren dieser regelmäßig aufflammenden Kontroversen davon aus, dass die sozialwissenschaftliche Praxis immer durch solche Streitigkeiten über grundsätzliche Glaubensfragen charakterisiert sein wird. Vgl dazu Harald Homann, Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften: Vom Methodenstreit zum Positivismusstreit (Tübingen: Univ. Diss., 1989), 1. 177 U. a. ‚Traditionalism vs. Scientism‘, ‚Interpretivism vs. Empiricism‘, ‚‚Positivism vs. Post-Positivism‘. 178 Genauso faszinierend wie informativ hinsichtlich der konkreten Streitpunkte ist bis heute der ‚Schlagabtausch‘ zwischen Hedley Bull und Morton Kaplan, der 1966 in World Politics geführt wurde, und der im Handbuch von Klaus Knorr & James N. Rosenau, Contending Approaches to International Politics (Princeton: Princeton University Press, 1969) zusammen mit anderen Beiträgen abgedruckt ist. Eine kurze Zusammenfassung des Streits zwischen ‚Traditionalisten‘ und ‚Szientisten‘ findet sich in Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus, a. a. O., 97–103. 179 Offensichtlich hat die Bezeichnung wissenschaftlicher Realismus nichts zu tun mit der Theorieperspektive des klassischen und/oder Neorealismus. Der wissenschaftliche Realismus interessiert
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Theoriebildung zwischen Traditionalismus und Szientismus
soziale Wirklichkeit gibt, die unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert. Panzer, Geschütze, Verträge, Erwartungen, Überzeugungen und Ideen wären allesamt Bestandteile dieser Wirklichkeit, die somit als eine Summe objektiv vorhandener Phänomene und Tatsachen wahrgenommen und bezeichnet werden könnte. Diese Wirklichkeit bzw. ihre objektiven Phänomene und Tatsachen könnten dementsprechend auch mit allen verfügbaren Herangehensweisen auf ihre konstitutiven und kausalen Eigenschaften untersucht werden. Für Anhänger des wissenschaftlichen Realismus sind Fragen nach den fundamentalen Tatsachen und Untersuchungsgegenständen einer Disziplin wichtiger als Fragen nach den besseren Möglichkeiten ihres Erkennens. Das sinnstiftende Credo dieser Richtung könnte man betiteln als ‚Ontologie vor Epistemologie‘. Die Soziale Theorie der Internationalen Beziehungen von Alexander Wendt wäre ein Beispiel für diese vermittelnde Position¹⁸⁰. Freilich scheint es angezeigt, bezüglich dieser ‚via media‘ eine gewisse Vorsicht an den Tag zu legen. Denn einmal angenommen, es ließe sich quer durch die konkurrierenden Theorieperspektiven der Disziplin, also des Realismus, des Neoliberalismus, des Liberalismus, des Neofunktionalismus usw., tatsächlich ein Konsens über die Art und Beschaffenheit der empirischen Phänomene der internationalen Beziehungen finden, einmal angenommen, die Vertreter der erwähnten Theorieperspektiven könnten wirklich einen gemeinsamen Nenner über die Bezeichnungen für die Grundelemente der Weltpolitik finden, gäbe es dennoch ein ungelöstes Problem. Denn es wäre immer noch nicht geklärt, ob und inwiefern mit der Einigung auf bestimmte Grundtatsachen der fundamentale epistemologische Glaubenskrieg zwischen Interpretivisten und Post-Positivisten einerseits und Szientisten und Positivisten andererseits mit Blick auf die Position des untersuchenden Wissenschaftlers befriedet worden wäre. Schließlich ändert die geforderte Offenheit für unterschiedliche Untersuchungsarten nichts daran, dass Interpretivisten und Post-Positivisten
sich in einer fundamentalen Art für die Verfügbarkeit der (sozialen) Wirklichkeit und die Anforderungen an die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse; der klassische/Neorealismus interessiert sich für die Grundtatsachen der internationalen Politik und ihr Zusammenspiel. 180 Vgl. Alexander Wendt, Social Theory, a. a. O., 90: „The discipline of International Relations today is polarized into incompatible epistemological standpoints, a positivist majority arguing that social science gives us privileged access to reality, a significant post-positivist minority arguing that it does not. […] I have suggested that since both sides are tacit realists in their substantive research, epistemological issues are relatively uninteresting. The debate should be about what the international world is made of – ontology – not how we can know it.“ Vgl. in diesem Sinne auch Colin Wight, Agents, Structures and International Relations: Politics as Ontology (Cambridge: Cambridge University Press, 2006). Inwiefern diese Sichtweise des sogenannten scientific realism in eine ‚ontological fallacy‘ mündet, veranschaulicht Fred Chernoff, The Ontological Fallacy: A Rejoinder on the Status of Scientific Realism in International Relations, Review of International Studies, vol. 35 (2009), 371–395, 392 so: „The competing social science theories postulate very different theoretical entities. Since scientific realists are not ontological relativists […], they face a serious problem when they try to apply scientific realism to disciplines where the central theoretical questions are debated decade after decade without community-wide acceptance of a single theory.“
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mit guten Gründen davon ausgehen, an der zu untersuchenden Welt und ihren sozialen Phänomenen selbst teilzunehmen und deswegen das Deutungsangebot der daran involvierten Akteure berücksichtigen zu müssen, während Szientisten und Positivisten ihrerseits annehmen, einem Arrangement von objektiv gegebenen Tatsachen und Dingen als erkennende Subjekte gegenüberzustehen und damit auch die Deutungshoheit gegenüber diesen Objekten zu besitzen – was für Erstere schlicht und ergreifend nicht zu haben ist¹⁸¹.
181 Vgl. Torsten Michel, Pigs Can’t Fly, or can They?, Review of International Studies, vol. 35 (2009), 397–419, 417: „Even if we posit a world of intransitive objects outside human minds and inscribe these objects with certain powers which constrain and enable human agency, we are still faced with the need to account for the criteria we used in order to establish the knowledge about what these intransitive objects are. It is exactly not enough to posit these beings as existent and then acknowledge subsequently many ways in which they can be known.“
9 Klassischer Intergouvernementalismus Die Theorie des ‚klassischen‘ Intergouvernementalismus ist in erster Linie bekannt als eine Alternative zum Neofunktionalismus geworden. Gleichwohl hat Stanley Hoffmann versucht, einen eigenständigen theoretischen Ansatz für die Analyse der internationalen Politik, und nicht nur der europäischen Integration, zu entwickeln¹⁸². In Auseinandersetzung mit der neofunktionalistischen Theorie hat Hoffmann zwei Aspekte kritisiert: 1) die rein formalistische Sichtweise von Integration, basierend auf der Idee, dass Eliten aufgrund sachpolitischer Gründe einen höheren Wert in technokratischer Problemlösung durch supranationale Kommunikations- und Entscheidungsprozeduren sehen; und 2) die pluralistische Sichtweise von Integration, gemäß der Konflikte zwischen gut organisierten gesellschaftlichen Gruppen die Basis für die Entstehung von gemeinsamen Erwartungen und sogar Loyalitäten darstellen. Nach Dafürhalten Hoffmanns ließ sich die europäische Integration nicht auf eine Problembewältigungsgemeinschaft reduzieren; genauso wenig ließ sich die Identifikation sowohl gesellschaftlicher als auch politischer Gruppen mit der Idee der Nation ignorieren. Nationalismus würde der Entwicklung eines europäischen (Problem-) Bewusstseins sowie der Identifikation mit einer supranationalen Bürokratie entgegenstehen und sei Grundlage für ein immer wieder von Neuem zu beobachtendes Auseinanderstreben der Staaten. Ökonomische Bereiche der low politics ließen sich wahrscheinlich integrieren. Nationalismus verhindere jedoch eine sich selbst reproduzierende ‚Logik der Integration‘ in Bereichen der high politics und bedinge gewissermaßen eine ‚Logik der Diversität‘¹⁸³. Ganz ähnlich wie es das (neoklassisch) realistische Deutungsangebot vorschlägt, finden sich die entscheidenden Triebkräfte politischen Handelns auch nach Stanley Hoffmanns Meinung in den Zielen und Inhalten von Regierungspolitik. Diese wiederum müsse immer mit Blick auf konkrete historische Zusammenhänge untersucht werden. Eine szientistische Suche nach allgemeinen Mustern und zeitlosen Gesetzmäßigkeiten verleite Wissenschaftler allzu oft dazu, raumzeitlich kontingente Gründe für politische Prozesse als generische Ursachen und raumzeitlich kontingente Resultate als generische Wirkungen misszuverstehen. Die intergouvernementalistische Beschreibung richtet sich immer auf das Handeln von Regierungen und typifiziert die dabei zum Vorschein kommenden außenpolitischen Strategien von Staaten als ‚Imperialismus‘, ‚Isolationismus‘, ‚Kooperation‘, oder ‚Integration‘; die Erklärung für die Wahl einer dieser Strategien stützt sich auf den Begriff des nationalen Interesses. Kritik am Intergouvernementalismus richtete sich einerseits auf die quasi-realistische Prämisse, dass politisches Handeln immer als Regierungshandeln und durch die Brille des nationalen Interesses zu verstehen sei; der damit postulierte Primat der Außenpolitik sowie ein qualitativer Unterschied zwischen Bereichen der sogenann182 Vgl. Stanley Hoffmann, The State of War, a. a. O., vii. 183 Vgl. Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete?, a. a. O., 881–882.
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Klassischer Intergouvernementalismus
ten high politics und low politics sei nicht bewiesen und auch nicht fruchtbar¹⁸⁴. Kritik am Intergouvernementalismus richtete sich andererseits auf die Prämisse, dass Regierungspolitik primär geopolitisch und/oder ideologisch motiviert sei. Regierungen würden aber nicht immer nationale Interessen auf der Basis geopolitischer Überlegungen und/oder ideologischer Überzeugungen formulieren. Viel eher wäre zu beobachten, dass gesellschaftliche Interessengruppen einen beträchtlichen Einfluss auf die Außenpolitik ausüben. Zwar seien Regierungen die entscheidenden Akteure auf europäischer und internationaler Ebene, aber gesellschaftliche Interessengruppen im Inneren der Staaten seien zunehmend in der Lage, die staatliche Außenpolitik zu beeinflussen. Diverse Interessengruppen hätten genug Einfluss, um z. B. wirtschaftliche Interessen in die Außenpolitik zu übersetzen¹⁸⁵.
9.1 Prämissen 9.1.1 Die basalen Einheiten des internationalen Systems sind Nationalstaaten Die basalen Einheiten des internationalen Systems sind Nationalstaaten. Nationalstaaten sind historisch gewachsene Einheiten, die in ihrem Innern durch die Idee und eine Identifikation mit der Nation zusammengehalten werden. Bedrohungen von außen sorgen zusätzlich für innere Stabilität. Innen- und Außenpolitik stehen im Dienst, das Überleben und Wohlergehen der Nation zu sichern.
9.1.2 Die entscheidenden Akteure der internationalen Politik sind Regierungen Nationalstaaten treten vermittels ihrer Regierungen in Erscheinung. Regierungen sind die entscheidenden Akteure in der Außenpolitik. Regierungen gehen hervor aus einem organisierten Wettbewerb gesellschaftlicher Kräfte im innerstaatlichen Raum und stützen ihre Autorität auf die Zustimmung durch das Volk. Regierungen setzen sich aus mehreren Entscheidungsträgern zusammen. Gleichzeitig können insbesondere Staatsmänner mit starker politischer Stellung und/oder charismatischer Persönlichkeit den Kurs der Regierung ganz entscheidend prägen.
184 Vgl. Ernst B. Haas, The Study of Regional Integration, a. a. O., 621. 185 Vgl. Andrew Moravcsik, The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht (Ithaca: Cornell University Press, 1998), 160 f.
Prämissen
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9.1.3 Regierungen handeln auf der Basis des nationalen Interesses Regierungen handeln zum Wohl und im Auftrag des Nationalstaates. Regierungen fühlen bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit eine primäre Verpflichtung, die Sicherheit und das Wohlergehen des Nationalstaates zu erhalten. Diese Orientierung am Wohl des Nationalstaates wird dadurch bekräftigt, dass auch die Regierungen anderer Staaten primär das Wohl ihres Nationalstaates im Sinn haben und nach entsprechenden Mitteln zu seiner Herstellung suchen. Internationale Politik ist die Summe der Außenpolitiken von Nationalstaaten. Alle Regierungen handeln immer im Sinne des von ihnen definierten nationalen Interesses.
9.1.4 Das nationale Interesse speist sich aus der Beurteilung der nationalen Situation Das nationale Interesse ist formal auf die Sicherheit und das Wohl des Nationalstaates gerichtet, aber inhaltlich nicht ein und für alle Mal festgelegt. Im Gegenteil hängt die Festlegung der konkreten außenpolitischen Ziele und Mittel, die im nationalen Interesse liegen, davon ab, wie Regierungen die nationale Situation einschätzen. Die Einschätzung der nationalen Situation wird beeinflusst durch die innerstaatliche politische Kultur, politische Institutionen, die relative Effizienz des nationalen politischen Systems für die Erledigung dringlicher Aufgaben, die geografische Lage des Nationalstaates gegenüber anderen Staaten, historische Erfahrungen mit anderen Staaten sowie dadurch bedingte Prinzipien und Selbstverständnisse der Nation.
9.1.5 Im nationalen Interesse zeigt sich die außenpolitische Orientierung der Regierung In der außenpolitischen Orientierung einer Regierung ist die nationale Identität und/ oder Ideologie stark oder schwach ausgeprägt. Neben Nationalismus ist die außenpolitische Orientierung einer Regierung geprägt durch den Nationalcharakter und traditionelle Wesensmerkmale der Nation. In der Regierungspolitik kanalisieren sich nationale Werte und Selbstverständnisse, zu denen Pragmatismus, Optimismus, Flexibilität und militärische Entschlossenheit genauso gehören können, wie Zurückhaltung, Vorsicht, Kompromissneigung und Antimilitarismus. Je nationalistischer die Grundhaltung einer Regierung, desto aggressiver der außenpolitische Stil.
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Klassischer Intergouvernementalismus
9.2 Analytik und Aussagenlogik 9.2.1 Analytik Nationalstaaten Regierungen/Staatsmänner Nationales Interesse Sicherheit/Wohlfahrt Nationalismus Nationale Situation – innerstaatliche Faktoren – Tradition/Kultur – politische Institutionen – internationale Faktoren – historische Erfahrungen – geografische Lage – Zentrum – Peripherie Nationale Gesinnung Außenpolitische Haltung/Orientierung – Prinzipien – Regierungsstil – pragmatisch/risikobereit
– vorsichtig/zurückhaltend – ausgeglichen Außenpolitische Optionen – Imperialismus – Isolationismus – Unilateralismus – Multilateralismus/Kooperation – Integration Kooperations-/Integrationsbedingungen – innerstaatliche Integration – Unterstützung durch das Volk – ähnliche subjektive Einschätzung unter Regierungen – schwache Involvierung in die internationale Politik – gemeinsame Bedrohung Interaktionslogiken – Logik der Diversität – Logik der Integration
9.2.2 Aussagenlogik Im Milieu der internationalen Politik stehen Staaten zueinander in einem Wettbewerb um Sicherheit und Wohlfahrt. Viele Staaten sind Gebilde, die aus einer langen historischen Entwicklung hervorgingen. Als solche werden sie nicht bloß durch staatliche Verwaltungen oder wirtschaftliche Prozesse zusammengehalten. Staaten basieren vor allen anderen Dingen auf der Idee der Nation und einem mehr oder weniger ausgeprägten Nationalbewusstsein sowohl in der Bevölkerung bzw. gesellschaftlichen Eliten als auch unter den politischen Entscheidungsträgern bzw. Regierungen¹⁸⁶. Regierungen verfolgen in ihren Beziehungen zu anderen Staaten ein nationales Interesse, das auf die Herstellung der nationalen Sicherheit und des nationalen Wohlergehens eines Staates gerichtet ist. Das nationale Interesse eines jeden Staates wird durch die entsprechende Regierung definiert und basiert einerseits auf der Einschätzung der nationalen Situation, in der sich ein Staat befindet, sowie auf der Überzeugung und
186 Vgl. Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete?, a. a. O., 862.
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Gesinnung des bzw. der relevanten Entscheidungsträger eines Staates¹⁸⁷. Bei der Bestimmung der nationalen Situation stehen Entscheidungsträger unter dem Einfluss innerstaatlicher Faktoren, vor allem der Art und Funktionsweise politischer Institutionen sowie der Effizienz ‚ihres‘ politischen Systems, und internationaler Faktoren. Unter letztere fallen die geostrategische Lage ihres Staates und historische Erfahrungen ihres Staates mit anderen Staaten. Der bedeutsamste Einfluss aus dem innerstaatlichen Bereich auf die Definition des nationalen Interesses kommt von den politischen Institutionen eines Staates¹⁸⁸. Hierunter fallen innergesellschaftliche Traditionen, Anschauungen und Haltungen zur Rolle des eigenen Nationalstaats ebenso, wie die aktuellen Kräfteverhältnisse innerhalb und außerhalb des politischen Systems sowie die Art der Bündelung innerstaatlicher Kräfte durch formale Entscheidungsprozesse. Regierungen, die sich mit einer innerstaatlich weit verbreiteten Geringschätzung außenpolitischer Aktivitäten konfrontiert sehen, stehen unter einem ganz anderen Rechtfertigungsdruck als solche Regierungen, die von einem Volk bzw. gesellschaftlichen Eliten mit internationalistischer Grundhaltung unterstützt werden. Eine traditionelle Binnenorientiertheit gesellschaftlicher Kräfte wirkt sich viel hemmender auf die auswärtige Regierungspolitik aus als eine prinzipiell weltoffene. Darüber hinaus können eine gespaltene Gesetzgebung zwischen Parlament und Regierung, schwächliche Koalitionsregierungen, starke Oppositionsparteien, einflussreiche intermediäre Institutionen und/oder aufgeblähte Ministerialbürokratien zur Folge haben, dass Regierungen tatsächlich wenig Spielraum für die Definition des nationalen Interesses besitzen. Zudem können institutionalisierte Kontrollen der Regierungspolitik, z. B. die regelmäßige Einschaltung von Gerichten durch politische und/oder gesellschaftliche Kräfte, dazu führen, dass Regierungen von sich aus diverse Instanzen in die Entscheidungsfindung einbinden und erst über lange Aushandlungsprozesse zu einer Definition des nationalen Interesses kommen. Zu den internationalen Faktoren gehören historische Erfahrungen; darunter fallen die Bedingungen, unter denen eine Nation ihre geistigen Gewohnheiten, ihre Stellung zur restlichen Welt und ihre Handlungsweisen entwickelt hat¹⁸⁹. Erfahrungen mit unmittelbaren Nachbarstaaten bzw. mit Staaten, die in der Vergangenheit als Verbündete, als Rivalen oder sogar Feindstaaten, als imperiale bzw. Kolonialstaaten, als Handelspartner, als special partner usw. eine Rolle gespielt haben, sind besonders prägend für die Entwicklung solcher Gewohnheiten, Stellungen und Handlungsweisen. Aufgrund dieser ganz eigenen Erfahrungen bilden sich zwischen Staaten nämlich ganz unterschiedliche Selbstverständnisse und Handlungsweisen heraus. Der eine Staat versteht sich und handelt aufgrund seiner Erfahrungen als ‚Hüter des 187 Vgl. ebda, 869: „N.I. [National Interest] = National Situation X outlook of the foreign policy-makers.“ 188 Vgl. Stanley Hoffmann, Gulliver’s Troubles, a. a. O., 209. 189 Ebda., 100.
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Gleichgewichts‘, ein anderer versteht sich und handelt aufgrund seiner Erfahrungen als ‚Große Nation‘, wieder ein anderer versteht sich und handelt aufgrund seiner Erfahrungen als ‚moralischer Führer‘, und noch ein anderer versteht sich und handelt aufgrund seiner Erfahrungen als ‚Zivilmacht‘. Zu den internationalen Faktoren gehören weiterhin Besonderheiten der geopolitischen Lage. Ganz allgemein lassen sich Staaten im Zentrum der internationalen Politik von Staaten in der Peripherie unterscheiden. Erstere unterhalten gleichzeitig mit vielen anderen Staaten Beziehungen. Aufgrund der sich für diese Staaten ständig verändernden Bündniskonstellationen, sind diese Staaten daran interessiert, flexible Koalitionen mit wechselnden Bündnispartnern eingehen zu können. Dauerhafte Kooperation und sogar Integration sind dabei keine bevorzugten Strategien. Staaten in einer relativen Randlage der internationalen Politik unterhalten vergleichsweise zu relativ wenigen Staaten Beziehungen und neigen eher dazu, mit Handelspartnern Kooperation und mit Nachbarstaaten sogar eine Integration bestimmter Bereiche auf Dauer anzustreben. Die Regierungen aller Nationalstaaten, derjenigen im Zentrum und derjenigen in der Peripherie des internationalen Systems, ziehen immer die aktuellen Geschehnisse der internationalen Politik als Grundlage für eine Bewertung der jeweiligen nationalen Situation und der geeigneten Strategien zur Beförderung des nationalen Interesses heran. Politische Institutionen, historische Erfahrungen und die geopolitische Lage beeinflussen die Einschätzung der nationalen Situation und münden in einen bestimmten außenpolitischen Kurs einer Regierung. Entscheidend für die Richtung dieses Kurses ist neben der Einschätzung der nationalen Situation außerdem die außenpolitische Haltung der Regierung. Diese Haltung zeichnet sich entweder durch Risikobereitschaft und Pragmatismus, durch starke Vorsicht und Zurückhaltung, oder durch Ausgeglichenheit und Kompromissbereitschaft aus. Entsprechend ihrer Beurteilung der nationalen Situation und ihrer außenpolitischen Haltung ergreifen Regierungen Maßnahmen, um im Sinne des nationalen Interesses Sicherheit und Wohlfahrt herzustellen. Die Optionen der Regierungen reichen von aggressiver imperialistischer Außenpolitik, isolationistischer Versuche der Reproduktion nationaler Stärke und kooperativer Verhaltensweisen im Sinne von Vertragsbeziehungen bis hin zu integrativer Zusammenlegung von Entscheidungskompetenzen, einschließlich der Verschmelzung der Systeme zu einer neuen Entscheidungsinstanz. Regierungen entscheiden sich für diese oder jene Option nach der Maßgabe, ob und inwieweit sie eine nützliche Strategie ist, um das nationale Interesse, d. h. vor allem die Herstellung von nationaler Sicherheit und/oder Wohlfahrt, zu befördern. Imperialismus und aggressive Außenpolitik – vor allem gegen kleine Staaten – war noch zu Zeiten des Großmächtekonzerts während des 19. Jahrhunderts ein bewährtes Mittel zur Herstellung nationaler Sicherheit und Wohlfahrt. Im Nuklearzeitalter hat diese Strategie für viele Regierungen an Bedeutung verloren. Auch Isolationismus scheint für viele Staaten im Zeitalter der Interdependenz keine besonders günstige Strategie mehr zu sein. Kooperation und sogar Integration bzw. eine partielle Zusammenlegung von Staatsaufgaben in solchen Bereichen, die nicht den Kern der Staatlichkeit betreffen erscheinen
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vielen Regierungen als sehr viel erfolgversprechendere Strategien für die Herstellung nationaler Sicherheit und Wohlfahrt. Insbesondere im ökonomischen Bereich scheinen kooperative und integrative Politiken nützlich, wenn Regierungen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und Wohlfahrt wahrnehmen. In dieser Situation empfehlen sich andere Staaten, die der gleichen Bedrohung ausgesetzt sind, als Kooperationspartner. Kooperation und Integration erscheinen als eher riskante Strategien, wenn eine äußere Bedrohung fehlt und die Gesinnung in anderen Staaten sehr nationalistisch ist. In solchen Fällen kommt es durchaus vor, dass sich Regierungen aufgrund ihrer Einschätzung der nationalen Situation für Alleingänge entscheiden. Die Strategie der Integration ist vor allem unter folgenden Bedingungen nützlich¹⁹⁰: Zum einen müssen Staaten in ihrem innerstaatlichen Raum integriert sein, d. h. die Bevölkerungen und einflussreiche gesellschaftliche Eliten müssen durch Regierungsvertreter repräsentiert sein, sodass sich Regierungen mit einem Interesse an Integration auf die Unterstützung durch das Staatsvolk bzw. der einflussreichsten Schichten stützen können; zum Zweiten müssen auch die Staatsmänner anderer Staaten zu einer ähnlichen subjektiven Einschätzung dahingehend kommen, dass Integration angesichts ihrer nationalen Situation eine nützliche Strategie ist; zum Dritten (das zeigen die historischen Beispiele der Vereinigten Staaten und der Schweiz) dürfen die an einer Integration interessierten Staaten nicht zu sehr in das Geschehen der internationalen Politik involviert sein – das Vorhandensein einer gemeinsamen Bedrohung hat nur vorübergehend eine integrationsförderliche Wirkung, wenn Staaten zu sehr ins internationale Geschehen involviert sind. Da die nationalen Interessen, die Staaten zur Grundlage ihrer Außenpolitik machen, immer mit Blick auf die nationale Situation definiert werden und damit historisch geprägt und kontextgebunden sind, da weiterhin alle Staaten in einem fragmentierten internationalen System unter Rückgriff auf nationale Strategien immer nach ihrer eigenen Sicherheit und Wohlfahrt streben, bleibt das Geschehen wettbewerbsorientiert und wird nicht harmonisch. Die durch nationale Gesinnungen in den jeweiligen Bevölkerungen und Regierungen hervorgerufene Verschiedenheit von Staaten und damit auch ihrer Außenpolitiken bleibt die wichtigste Konstante der internationalen Politik und lässt eine ‚Logik der Diversität‘ naheliegender erscheinen, als eine ‚Logik der Integration‘.
9.3 Heuristik Im Fokus des klassischen Intergouvernementalismus stehen Interaktionsmuster, in die Staaten involviert sind, weil sie nationale Interessen verfolgen. Typische Interaktionsmuster sind Isolationismus, Imperialismus, Unilateralismus, Kooperation oder Integration. Staaten handeln vermittels ihrer Regierungen. Regierungen definieren
190 Vgl. Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete?, a. a. O., 904–908.
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das nationale Interesse mit Blick auf innerstaatliche Gegebenheiten, ihre Erfahrungen mit anderen Staaten sowie der aktuellen geopolitischen Lage gegenüber anderen Staaten. Das nationale Interesse ist nicht unveränderlich und einfach gegeben. Es speist sich immer aus der raumzeitlich spezifischen Beurteilung durch den bzw. die Entscheidungsträger eines Staates. Zudem manifestiert sich im nationalen Interesse die außenpolitische Gesinnung, die der/die Entscheidungsträger in diese Beurteilung einfließen lassen. Die Beschreibung aus der Perspektive des Intergouvernementalismus richtet sich auf relevante außenpolitische Entscheidungen mächtiger Staaten; die Erklärung konzentriert sich auf die Art und den Einfluss der das nationale Interesse konstituierenden Faktoren. Die insbesondere durch Frankreich beeinflusste Realität der europäischen Integration während der 1960er-Jahre und die Rolle der USA in den transatlantischen Beziehungen während der 1980er-Jahre sind anschauliche Beispiele für die Art und den relativen Einfluss der das nationale Interesse konstituierenden Faktoren auf außenpolitische Entscheidungen in konkreten Handlungskontexten.
9.3.1 Die Realität der europäischen Integration 9.3.1.1 Nationale Interessenpolitik versus spuranationale Loyalitäten Die von den Regierungen Frankreichs, Italiens, Deutschlands und der Beneluxstaaten forcierte Einrichtung eines gemeinsamen Marktes durch die Europäische Gemeinschaft geschah vor dem Hintergrund zerstörter Volkswirtschaften und dem Bedarf an einer raschen Wiederbelebung funktionsfähiger ökonomischer Strukturen. Aufgrund bereits früher einsetzender Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung und Demokratisierung und nicht zuletzt aufgrund der Einrichtung des besagten gemeinsamen europäischen Marktes glichen sich die sechs Staaten nicht nur hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitiken an. Auch ihre Sozialstrukturen ähnelten sich. Im jeweiligen innerstaatlichen Kontext hatten sich gesellschaftliche Gruppen auf der Basis bestimmter Interessen formiert, die sie gegenüber ihren Regierungen artikulierten. Mittlerweile war sogar zu beobachten, dass sich diese Interessengruppen transnational organisierten, um noch mehr Druck auf die Regierungen ausüben zu können, damit diese den gemeinsamen Markt funktionsfähig halten bzw. noch effizienter gestalten. Gleichzeitig ließ sich beobachten, dass kein europäischer Staat mehr den Status einer Weltmacht besaß. Die Bedeutung der militärischen Absicherung etwaiger Weltmachtansprüche war so gut wie verschwunden. Und doch war ein Aspekt von überragender Bedeutung erhalten geblieben: Auch diese Staaten existierten weiter als Nationalstaaten¹⁹¹. Das zeigte sich darin, dass kein Staat bisher irgendwelche Kompetenzen an europäische Institutionen übertragen hatte. Das zeigte sich weiter-
191 Vgl. ebda, 889.
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hin darin, dass Frankreich sogar wieder Kompetenzen aus der NATO zurückgenommen hatte. Und es zeigte sich darin, dass die Unterschiede in der jeweiligen Bewertung der nationalen Situationen durch die Regierungen angesichts der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen größer und nicht kleiner geworden waren. Die außenpolitische Orientierung der französischen Regierung und die Meinungen der französischen Eliten betreffend die auswärtigen Angelegenheiten zeichneten sich noch während der 1950er-Jahre aus durch eine eindeutige Präferenz für eine Partnerschaft mit den Staaten Europas. Aus der Perspektive dieser innerstaatlichen Gruppen erschien die noch zu Zeiten des Kalten Kriegs, also von 1945 bis 1957, herrschende Bipolarität obsolet. Diese Gruppen waren sich einig in ihrer Indifferenz bzw. latenten Feindschaft gegenüber den Vereinigten Staaten und in ihrem Misstrauen gegenüber Deutschland. Nur eine kleine Minderheit votierte für eine politische Föderation Westeuropas und hielt französische und amerikanische Interessen für kompatibel. Die außenpolitische Orientierung der deutschen Regierung und einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen offenbarte dagegen eine klare Präferenz für eine Partnerschaft mit den USA, erst an zweiter Stelle rangierte hier die westeuropäische Einigung. Deutsche Eliten sahen die Welt weiterhin als bipolar und fühlten sich den US-amerikanischen Zielen und Interessen stark verbunden. Gegenüber Frankreich hegten die meisten freundschaftliche, zumindest keine feindlichen Gefühle. Die meisten votierten für die europäische Integration, allerdings fehlte den deutschen Eliten eine europäische Orientierung und eine klare Vorstellung davon, was Europa sein und was es in Zukunft werden sollte – insbesondere fehlte den Deutschen eine Vorstellung von der Rolle, die Europa in der Welt und als Lösung für die Probleme der Staaten im Industriezeitalter spielen könnte¹⁹². Die Gründe für diese Divergenz in den außenpolitischen Orientierungen hatten möglicherweise mit der Ausprägung des nationalen Bewusstseins zu tun. Das schien paradox, denn bei einem ersten Blick fielen eher Ähnlichkeiten auf. Einerseits war nämlich festzustellen, dass Deutschland bzw. die deutschen politischen Eliten ihr Nationalbewusstsein wiedererlangt hatten. Die Situation Deutschlands wurde in den 1950er-Jahren wieder stärker mit Blick auf das Wohl und Wehe der Nation beurteilt. In dieser Hinsicht ähnelte Deutschland Frankreich und anderen Staaten. Andererseits bestand eine Ähnlichkeit in den nationalen Befindlichkeiten darin, dass sie auf Gewohnheit und Routine basierten. Konkreter: Die nationalen Stimmungen waren nicht geprägt durch eine bewusste Identifikation mit etwas, diese Stimmungen und Gesinnungen waren eher hervorgerufen durch eine im Namen der jeweiligen Nation gefühlte Abneigung gegen etwas. Die Deutschen besannen sich auf ihre Nation im Angesicht ihres Überlebens als Staat, andere Völker wie die Franzosen besannen sich auf ihre Nation aus Angst, im Zuge der Modernisierung eigene Traditionen, die eigene Kultur und die eigene Identität zu verlieren – und selbst das weniger aus dem
192 Vgl. ebda, 890.
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Grund, weil diese wertvoll und bedeutend, als vielmehr aus dem Grund, dass sie eben ‚eigene‘ waren. Bei einem zweiten und gründlicheren Blick offenbart sich freilich ein wesentlicher Unterschied in diesen nationalen Gesinnungen: die französischen waren relativ stark ausgeprägt, die deutschen relativ schwach. Dieser Unterschied wurde zur Schwierigkeit für eine gemeinsame Identifikation mit Europa, insofern die Franzosen jeden Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa nur als Mittel zur Erhaltung und Verbreitung ihrer Tradition, Kultur und Identität begrüßten, während die Deutschen den Weg der europäischen Integration nur bejahten, solange er keine klaren Bekenntnisse zu einer wie auch immer ausgeprägten machtpolitischen Rolle Europas im transatlantischen Kontext forderte. Man könnte schlussfolgern, dass das starke nationale Selbstbewusstsein der Franzosen ein europäisches Einheitsdenken genauso verhinderte, wie das schwach ausgeprägte Selbstbewusstsein der Deutschen. Das jeweilige Nationalbewusstsein in wichtigen Staaten der Europäischen Gemeinschaft spielte eine gewisse Rolle für die Resistenz des Nationalstaates, die entscheidenden Gründe lagen jedoch woanders¹⁹³. Wichtigere Gründe für ein Scheitern der Integration lagen in den unterschiedlichen Einschätzungen der nationalen Situation; und zwar sowohl hinsichtlich der innerstaatlichen Dimension als auch hinsichtlich der internationalen Dimension. Zuerst zu den innerstaatlichen Aspekten. Aus der Sicht von Supranationalisten wie Monnet war es eine Frage der Zeit, wann die europäische Bürokratie die nationalen politischen Systeme und Verwaltungen überwölben und auszehren würde. Wenn es nur gelänge, gut organisierte Interessengruppen wie v. a. Parteien und Verbände für die Arbeitsweise der europäischen Institutionen zu begeistern, würde der Widerstand national gesinnter Regierungen und damit auch das Haupthindernis für Integrationsfortschritte geringer werden. Die europäischen Institutionen würden aufgrund von positiven Erwartungen und Loyalitätsgewinnen immer mehr Zulauf bekommen und gewissermaßen automatisch immer mehr Entscheidungskompetenzen an sich ziehen. Interessengruppen würden sich gleichzeitig transnational vernetzen und damit auch die Entstehung einer europäischen Gesellschaft, den eigentlichen Träger der europäischen Bürokratie, befördern. Genau in dem Maß, wie das supranationalistische Argument die Rolle pro-europäischer Interessen betonte, vernachlässigte es den ganz wichtigen Umstand, dass Regierungen in allen westeuropäischen Staaten nicht nur durch die nationalen Bevölkerungen legitimiert waren, deren Interessen sie vertraten, sondern dass dieselben Regierungen jederzeit in der Lage waren, dem Druck gut organisierter gesellschaftlicher Gruppen zu widerstehen, Opposition zu zerstreuen und Unterstützung für ihre politischen Vorhaben herzustellen – und das umso mehr, je stärker die Stellung der betreffenden Regierung im Gefüge des nationalen politischen Systems war. Die Regierungen in allen Staaten Westeuropas vermochten es aufgrund gezielter
193 Vgl. ebda, 892.
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Steuerung der öffentlichen Meinung, dass Probleme und ihre Lösungen durch eine nationale und keine europäische Brille gesehen wurden¹⁹⁴. Die Beurteilung der nationalen Situation anhand international relevanter Faktoren stützte sich auf historische Erfahrungen und die geografische Lage. Aus deutscher Sicht prägten v. a. die jüngeren historischen Erfahrungen die Einschätzung der Situation. Aus Sicht der deutschen und mit Abstrichen auch der italienischen Regierung befand sich der eigene Staat als Kriegsverursacher und Feindstaat in einer Situation, die durch die Integration nur besser werden konnte. Zusammenarbeit in einer internationalen Organisation war gleichbedeutend mit einer Anerkennung durch andere Staaten und einer Wiedererlangung bestimmter Rechte. Für die kleineren Staaten Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs bedeutete Integration Aufgabe von Autonomie bei gleichzeitiger Teilhabe an einer Zusammenarbeit mit wirtschaftlich starken Staaten. Für Frankreich bedeutete die Zusammenarbeit in einer internationalen Organisation vor allem Autonomieverluste und Beschränkungen der lange eingeübten Rolle als Großmacht. Etwaige wirtschaftliche Gewinne wären zwangsläufig überschattet gewesen von Machtverlusten gegenüber Deutschland. Gerade an der Frage der nuklearen Bewaffnung zeigte sich, dass Frankreich durch eine politische Integration so gut wie nichts zu gewinnen hatte. Im Gegenteil bedeutete der Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einzig und allein für Frankreich signifikante Einbußen nationaler Souveränität. Ähnlich stand es mit der Einschätzung der nationalen Situation in geografischer Hinsicht. Frankreich hatte sich lange den Status als Kolonialmacht bewahrt. Die französische Regierung formulierte ihre außenpolitischen Interessen auch mit Blick auf die (ehemaligen) Kolonien. Aus französischer Sicht musste sich die europäische Integration in den Dienst dieser Interessen stellen lassen, um eine nützliche Strategie zu bedeuten. Schon aus symbolischen Gründen war die Fortführung der Kooperation mit den Kolonialgebieten eine wichtige Bedingung, unter der die europäische Integration für Frankreich beurteilt wurde – völlig im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, die solche Faktoren nicht zur Bewertungsgrundlage ihrer Interessen machten. Ein weiterer wichtiger Grund, vielleicht sogar der wichtigste im Zusammenhang mit dem Scheitern der europäischen Integration während der 1960er-Jahre, bestand in der Renaissance des Nationalismus in Frankreich. Damit ist nicht nur die ausgeprägte nationale Gesinnung unter den Eliten gemeint. Gemeint ist die betont nationalistische Überzeugung des französischen Präsidenten de Gaulle. Dessen risikobereiter und entschlossener Regierungsstil und dessen Außenpolitik manifestierten eine Sehnsucht nach staatlicher Größe. Unter seiner Regierung verfolgte Frankreich von Anfang an das Ziel, jede sich bietende Möglichkeit für eine Zurückdrängung des Einflusses anderer Staaten, inklusive des Einflusses der zwei Großmächte USA und Sowjetunion, zu nutzen. Aus de Gaulles Sicht musste Frankreich die größte sich
194 Vgl. ebda, 893.
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ihm bietende Rolle in der Weltpolitik spielen. Kooperation mit anderen Staaten im Rahmen der europäischen Integration war nicht grundsätzlich ausgeschlossen; sie musste aber zum Vorteil Frankreichs sein. Dabei bestand keinerlei Spielraum für eine Bewegung hin zu Mehrheitsentscheidungen in europäischen Institutionen. Von ganz entscheidender Bedeutung war, dass jede Kooperation mit europäischen Staaten bei der Verfolgung gemeinsamer Politiken unter französischer Führung zu stehen hatte. Aus Sicht von de Gaulle war die europäische Integration zu keinem Zeitpunkt Zweck an sich. Im Gegenteil war die europäische Integration neben der französischen Nuklearpolitik und neben der französischen Kolonialpolitik eines mehrerer Mittel zum Zweck, die internationale Politik multilateral zu gestalten und Frankreich wieder im Kreis der Großmächte zu etablieren. Schlussendlich waren zwei wichtige Bedingungen für Integration nicht erfüllt: Alle beteiligten Staaten waren zwar in ihren innerstaatlichen Räumen integriert, insofern Regierungen durch Bevölkerungen und einflussreiche Eliten gestützt wurden. Fraglich war jedoch, ob sich alle Regierungen bei ihren Integrationsvorhaben auf die Unterstützung durch das Staatsvolk bzw. der einflussreichsten Schichten stützen konnten. Wichtige Staatsmänner kamen nicht zu einer ähnlichen Einschätzung dahingehend, dass Integration eine nützliche außenpolitische Strategie war. Die französische Position zeigte sich aufgrund geopolitischer, historischer und ideologischer Gründe alles andere als europafreundlich. Die französische Regierung verfolgte eine ganze Reihe unterschiedlicher Interessen, die einer Verpflichtung auf die europäische Integration und einer Bindung an Nachbarstaaten wie Deutschland diametral entgegenstanden.
9.3.2 Die USA und die transatlantischen Beziehungen zu Beginn der 1980er-Jahre 9.3.2.1 Die unilaterale Außenpolitik der USA Zu Beginn der 1980er-Jahre verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den westeuropäischen Ländern der EU auf der einen Seite und den USA auf der anderen Seite. Zwar konnten sich Europäer und die USA im sogenannten ‚NATO-Doppelbeschluss‘ auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Nachrüstung einigen, dennoch herrschte zwischen Europäern und Amerikanern eine größere Distanz¹⁹⁵. Für die Europäer war der außenpolitische Kurs der Reagan-Regierung in mehrerer Hinsicht irritierend. Erstens vermissten die Europäer auf Seite der USA eine differenzierte Betrachtung der weltpolitischen Lage. Aus europäischer Sicht neigte die amerikanische Regierung dazu, alle möglichen Probleme durch die Brille der Supermacht-Konfrontation wahrzunehmen, was zur Folge hatte, dass auch solche Konflikte, in denen die Sowjetunion oder ihre 195 Vgl. Stanley Hoffmann, Cries and Whimpers: Thoughts on West-European-American Relations in the 1980s, in: St. Hoffmann (Hg.), Janus and Minerva: Essays in the Theory and Practice of International Politics (Boulder: Westview, 1987), 243–267, 243.
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Verbündeten gar nicht involviert waren, mit den gleichen Kriterien beurteilt wurden. Eng damit verbunden war die Unzufriedenheit der Europäer mit dem amerikanischen Ansatz, das Gleichgewicht der Mächte in Europa und der Welt alleine auf Drohungen und machtpolitische Rhetorik zu stützen. Aus europäischer Sicht war es mindestens genauso notwendig, alle sich bietenden Möglichkeiten für politischen Dialog und ernsthafte Rüstungskontrollverhandlungen zu nutzen. Zweitens hegten die Europäer Zweifel an der Stoßrichtung der US-amerikanischen Politik in Lateinamerika und im Nahen Osten. Bei ihrem Umgang mit den Unruhen in Mittelamerika überschätzte die amerikanische Regierung die Gefahr kommunistischer Infiltrationsversuche, während sie den Einfluss innerstaatlicher Konfliktursachen ignorierte. Im Nahen Osten vernachlässigte die USA die Motive der Palästinenser gegenüber Israel und vertrat einen zu unnachgiebigen Standpunkt gegenüber Syrien. In diesen Fällen zeigten sich die Europäer insbesondere darüber besorgt, dass die USA einen ‚neuen‘ Unilateralismus praktizierte. Drittens fürchteten die Europäer, dass die USA durch die im Zuge der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa vollzogene Abkehr von der Strategie der flexible response die Stabilität nuklearer Abschreckung in Europa gefährdete¹⁹⁶. Die Gründe für diese ‚neue Außenpolitik‘ der USA und die damit einhergehende Veränderung der transatlantischen Beziehungen lagen in der Einschätzung der nationalen Situation sowie in einer neuen außenpolitischen Haltung wichtiger amerikanischer Entscheidungsträger – der Einfluss dieser beiden Faktoren wurde von den Europäern nicht richtig verstanden. Die neuen Entscheidungsträger im außenpolitischen Establishment der USA zeichneten sich aus durch einen größeren Patriotismus als ihre Vorgänger. Die Erfahrungen mit Vietnam waren zwar nicht vergessen, beeinflussten die Regierungspolitik jedoch nicht mehr so stark wie noch zu Zeiten der Carter-Regierung, als die Tendenz zu Kooperation im Rahmen von Bündnissen und internationalen Organisationen überwog. Eine Folge dessen war die Abkehr von Prinzipien des Multilateralismus und der Kooperation. In der amerikanischen Außenpolitik spiegelten sich zu Beginn der 1980er-Jahre ein größeres Selbstbewusstsein und eine größere Selbstsicherheit hinsichtlich unilateraler Vorgehensweisen. Bedingt auch durch eine Wiederbelebung der amerikanischen Wirtschaft nach den Ölkrisen der 1970er-Jahre und einer relativen Zufriedenheit der Ober- und oberen Mittelschicht konnte die Reagan-Regierung auf breite Zustimmung durch einflussreiche gesellschaftliche Eliten bauen. Entsprechend dieser Gesinnung fiel die Einschätzung der nationalen Situation aus. Den außenpolitischen Entscheidungsträgern war bewusst, dass die USA nicht mehr die alleinige Supermacht war, wie noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die zunehmende Konkurrenz mit der Sowjetunion hatte den Einfluss der USA in der Welt verringert, gleichzeitig hatte sich die Rolle der USA gegenüber anderen Staaten und Regionen im
196 Vgl. ebda, 250–253.
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Zuge dieser Konkurrenz verändert. M. a. W., die neue geografische und geopolitische Lage brachte die USA immer stärker in Kontakt mit Problemen überall auf der Welt, die sich nicht durch eine militärische Präsenz vor Ort und/oder bilaterale Abkommen lösen ließen. Der geschwundene Einfluss und die Häufigkeit von Krisen erforderten einen größeren Handlungsspielraum für die außenpolitischen Entscheidungsträger. Aus Gründen nationaler Sicherheit war es unabdingbar, sich unnötiger Verpflichtungen zu entledigen und eine breite Palette von Strategien für ein effektives militärisches Eingreifen in Krisenregionen offen zu halten¹⁹⁷. Verstärkt wurde diese Einschätzung der nationalen Situation durch die bisherigen Erfahrungen mit den europäischen Verbündeten. Die Heterogenität der außenpolitischen Orientierungen sowie die schwerfällige außenpolitische Koordinierung unter den europäischen Verbündeten, auch innerhalb gemeinsamer Bündnissysteme, waren aus Sicht der USA oft hemmend für eine erfolgreiche Politik. Wiederholte Krisen innerhalb der NATO, mit dem vorläufigen Höhepunkt des französischen Ausstiegs aus der integrierten militärischen Kommandostruktur im Jahr 1966, erschwerten immer wieder die Herstellung einer Position der Stärke gegenüber der Sowjetunion. Ähnlich hinderlich war die Forcierung einer politischen Zusammenarbeit innerhalb der EG für die Behandlung globaler Herausforderungen, wie z. B. den beiden Ölkrisen über das GATT. Ein weiterer Faktor für die Entwicklung einer neuen außenpolitischen Einschätzung und entsprechender Handlungsweisen auf Seiten der USA war die Erfahrung mit der betont konzilianten Einstellung westeuropäischer Staaten, insbesondere Deutschlands unter einer sozialdemokratischen Regierung, gegenüber der Sowjetunion während der 1970er-Jahre. Die vor allem auf Betreiben der Europäer einberufene Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) genoss im außenpolitischen Establishment der USA nie besonders viel Wertschätzung. Aus Sicht der neuen Entscheidungsträger erschwerte eine blockübergreifende Konferenz die Aufrechterhaltung des atomaren Gleichgewichts sogar, da die westeuropäischen Bündnispartner im Vergleich mit den USA offensichtlich viel weniger geneigt waren, der Sowjetunion mit einer Demonstration von Stärke und Entschlossenheit entgegenzutreten. Schließlich zeigte sich bei den neuen Entscheidungsträgern im außenpolitischen establishment der USA auch eine veränderte politische Gesinnung betreffend den außenpolitischen Kurs. Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern der Carter-Regierung zeichneten sich viele Offizielle durch eine stärkere Binnenorientierung auf der einen Seite und durch eine flexiblere globale Außenorientierung auf der anderen Seite aus. Für viele war die Herstellung von Sicherheit und Wohlfahrt der USA gleichbedeutend mit einer guten Verfassung der amerikanischen Industrie. Eng damit verbunden war eine Neubewertung globaler Konstellationen. Der Blick richtete sich nicht mehr nur auf die Bedingungen in Europa sondern auch und vor allem auf diejenigen im
197 Vgl. ebda., 264.
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Nahen Osten und in Ostasien. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten amerikanische Regierungen ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Entwicklungen in Europa gerichtet. Nicht zuletzt hatten sie die wirtschaftliche Integration Westeuropas durch eine enge Kooperation maßgeblich unterstützt. Die fortgesetzte Krise der europäischen Integration sowie der Aufschwung Japans zum wichtigsten Konkurrenten der USA bei der Erschließung von neuen Märkten und der Entwicklung technologischer Produkte trugen zu Beginn der 1980er-Jahre zu einer Lockerung der bestehenden Verpflichtungen bei. Für die amerikanische Regierung erschien Ostasien aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten immer wichtiger als ‚die kleine Landzunge Europas vor der großen asiatischen Landmasse‘. Für die amerikanische Regierung war die entscheidende Frage, wie die globalen Rahmenbedingungen so gestaltet werden konnten, dass sie gute Chancen für die (wirtschaftliche) Entfaltung der USA boten¹⁹⁸. Auch sicherheitspolitisch änderte sich die außenpolitische Orientierung. Westeuropa schien im Vergleich zu den Regionen Lateinamerikas, des Persischen Golf und Nordostasiens relativ stabil. V. a. in der letzteren Region waren ernst zu nehmende Rüstungsanstrengungen nicht nur auf Seite der Sowjetunion, sondern auch auf der Seite von China und Japan zu beobachten. Die zentrale Bedeutung der Atlantischen Allianz als Abwehrbollwerk gegen die Sowjetunion wich daher einer flexibleren und auch entschlosseneren Sicherheitspolitik der USA gegenüber der Sowjetunion, Chinas und Japans im Fernen Osten¹⁹⁹. Aus Sicht des klassischen Intergouvernementalismus hat sich die Außenpolitik der USA gegenüber den westeuropäischen Staaten zu Beginn der 1980er-Jahre verändert und zu einer Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen beigetragen. Der Grund für diese Veränderung im außenpolitischen Verhalten lag in der Formulierung eines neuen nationalen Interesses. Neue Entscheidungsträger kamen zu einer Neueinschätzung der nationalen Situation, bedingt durch den Einfluss innerstaatlicher Faktoren (Patriotismus, Prinzipien und politische Institutionen) und internationaler Einflüsse (veränderte geopolitische Herausforderungen und Erfahrungen mit den westeuropäischen Bündnispartnern).
9.3.3 Kontrollfragen – – –
Welche außenpolitischen Optionen besitzen Staaten? Warum verfolgen Staaten z. B. die Strategie der Kooperation? Woraus besteht/entsteht das nationale Interesse?
198 Vgl. Stanley Hoffmann, Taming the Eagle: U.S. Foreign Policy and National Security, in: St. Hoffmann (Hg.), Janus and Minerva, a. a. O., 318: „The United States tends to see its national security as entailing the maintenance of conditions abroad that will allow the economy to function adequately – i.e. to obtain the energy, raw materials, and markets necessary to its prosperity.“ 199 Vgl. Stanley Hoffmann, Cries and Whimpers, a. a. O., 253.
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– – –
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Inwiefern beeinflusst die Innenpolitik die Außenpolitik? Welche Überlegungen fließen in die Beurteilung der nationalen Situation? Welchen relativen Einfluss haben innerstaatliche bzw. internationale Faktoren auf die Beurteilung der nationalen Situation?
10 Neuer Liberalismus Die Theorie des ‚neuen Liberalismus‘ (bzw. des ‚liberalen Intergouvernementalismus‘) beschäftigt sich mit dem aus dieser Perspektive zentralen Sachverhalt, dass Staaten bzw. politische Systeme in ihrem Verhalten sehr stark von den Interessen einflussreicher Individuen und Gruppen beeinflusst werden²⁰⁰. Staaten sind nicht die eigentlichen Akteure der internationalen Politik. Staaten sind, ähnlich wie im Bild der neofunktionalistischen Theorie, Komplexe kommunikativer und bürokratischer Entscheidungsverfahren. Politik ist eine Angelegenheit von Regierungen (daher auch die Betonung des inter‚gouvernementalen‘ Aspekts) und findet statt in einem Kontext innerstaatlicher und transnationaler Interessen an Wohlfahrtssteigerung. Die liberale Theorie der internationalen Politik versucht mit ihrem analytischen Vokabular zu beschreiben, dass Staaten aufgrund dieser kontextuellen Einbindung keine feststehenden nationalen Interessen besitzen und verfolgen; dass Regierungen zwar nominal im Auftrag von Staaten handeln, dabei aber unter dem Einfluss gesellschaftlicher Akteure stehen und entsprechende Präferenzen verfolgen; und dass Staaten – vermittels der jeweiligen Regierungen – sich gegenüber anderen Staaten im Prinzip so verhalten, wie sie (unter dem Einfluss von Interessengruppen) ‚wollen‘. Die heuristische Leistung der Theorie besteht darin, unter Verweis auf momentan existierende Präferenzstrukturen zwischen Staaten zu erklären, warum die Verhaltensweisen mehrerer Staaten zueinander konflikthaft, kooperativ oder harmonisch erscheinen²⁰¹. Die Kritik an der liberalen Theorie kam aus mehreren Richtungen. Institutionenforscher bemerkten, dass Moravcsik bei seiner Rekonstruktion der Regierungspolitik im Rahmen der europäischen Integration den Einfluss institutionalisierter Verhandlungsgremien und supranationaler Organe komplett vernachlässigte. Sowohl die Europäische Kommission als auch der Europäische Gerichtshof übten beträchtlichen Einfluss auf die Regierungen bei ihrer Entscheidungsfindung aus. Zudem hätte der Verhandlungsprozess auf europäischer Ebene den Effekt, dass sich Beratungen über neue Maßnahmen und Programme immer an bereits etablierten Themen der europäischen Integration orientierten und damit von der Geschichte der Integration ‚eingeschlossen‘ wurden²⁰². Vertreter konstruktivistischer Erklärungen wandten ein, dass Moravcsik übersehen hätte, wie sehr die Regierungen auf europäischer Ebene von den Interaktionen beeinflusst worden waren. Die Teilnahme an den Verhandlungen in der EU würde sozialisierend wirken, sodass Präferenzen und sogar Identitäten
200 Vgl. Andrew Moravcsik, Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory of International Politics, International Organization, vol. 51 (1997), 513–553, 516; vgl. auch Andrew Moravcsik, The Choice for Europe, a. a. O., 22. 201 Vgl. Andrew Moravcsik, Taking Preferences Seriously, a. a. O., 520–21. 202 Vgl. Paul Pierson, The Path of European Integration, Comparative Political Studies, vol. 29 (1996), 123–163.
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der Regierungen zu einem gewissen Teil von der EU-Mitgliedschaft geprägt seien²⁰³. Governance-Forscher lehnten die viel zu enge Fokussierung auf Regierungshandeln ab. Die EU habe sich im Laufe der Zeit zu einem Mehrebenensystem entwickelt, in dem Regierungen neben diversen sub- und supranational agierenden Akteuren nur eine Akteurskategorie darstellten. Zwar hätten Regierungen weiterhin beträchtlichen Einfluss. Gleichwohl könne angesichts des komplexen Zusammenspiels der verschiedenen Akteure auf allen Ebenen der EU von einer rationalen Verfolgung innerstaatlich wurzelnder Präferenzen keine Rede mehr sein²⁰⁴.
10.1 Prämissen 10.1.1 Akteure sind Individuen und private Gruppen Die Akteure der internationalen Politik sind einflussreiche Individuen und/oder Gruppen der innerstaatlichen und transnationalen Zivilgesellschaft. Diese Akteure zeichnen sich aus durch spezifische normative Sichtweisen und/oder Interessen an materiellen Ressourcen. Diese gesellschaftlichen Akteure definieren ihre ideellen und/oder materiellen Interessen unabhängig von Politik. Aufgrund der Konkurrenz mit anderen gesellschaftlichen Akteuren versuchen sie, ihre Interessen über Einflussnahme auf politische Entscheidungen zu realisieren.
10.1.2 Interessengruppen streben nach Wohlfahrt Gesellschaftliche Akteure sind rational und streben nach Gütern, die ihre Wohlfahrt steigern. Ideelle Interessen richten sich z. B. auf die Idee der Nation bzw. den Schutz der eigenen Identität. Materielle Interessen richten sich oft auf Ressourcen und ökonomische Gewinne. Republikanische Interessen beziehen sich auf eine Art Gemeinwohl und die Teilhabe an politischen Entscheidungen. Republikanisch gesinnte Akteure erachten es als wertvoll, Gruppen mit exklusiven Interessen, sogenannte rent-seeking actors, zum Wohle der Mehrheit an der Verfolgung ihrer exklusiven Interessen zu hindern. Mangel an materiellen, ideellen und republikanischen Gütern kann die Risikobereitschaft und damit auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Interessengruppen erhöhen.
203 Vgl. Wayne Sandholtz, Membership Matters: Limits of the Functional Approach to European Institutions, Journal of Common Market Studies, vol. 34 (1996), 403–429. 204 Vgl. Gary Marks, Liesbeth Hooge & Kermit Blank, European Integration from the 1980s: StateCentric v. Multi-Level Governance, Journal of Common Market Studies, vol. 34 (1996), 341–378.
Prämissen
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10.1.3 Staaten sind Transmissionsriemen für Interessengruppen Politische Systeme und repräsentative Institutionen des Staates stellen Mechanismen dar, mit deren Hilfe gesellschaftliche Akteure versuchen, ihre Interessen zu verwirklichen. Die Innen- und Außenpolitik von Regierungen steht immer auch im Dienst der einflussreichsten Individuen und Gruppen mit bestimmten Wohlfahrtsinteressen. Staatliches bzw. Regierungshandeln besteht darin, einflussreichen gesellschaftlichen Akteuren bei der Realisierung ihrer Interessen zu helfen. Regierungen bündeln die Interessen der einflussreichsten Gruppen und verfolgen Präferenzen – nach innen und nach außen. Daneben verfolgen Regierungen eigene politische Interessen wie z. B. Machterhalt.
10.1.4 Das internationale System ist geprägt von einer Interdependenz politischer Präferenzen Im internationalen System bilden sich aus den verschiedenen Präferenzen, die Regierungen in ihrer Außenpolitik verfolgen, Präferenzstrukturen. Diese wirken zurück auf das Verhalten der Staaten – je inkompatibler Präferenzen zwischen Regierungen sind, desto mehr neigen sie in ihrem Verhalten zu Konflikt; wenn Präferenzen zumindest teilweise kompatibel sind, legen Regierungen Verhandlungsbereitschaft an den Tag und bemühen sich um Kooperation; je harmonischer Präferenzen sind, desto mehr neigen Regierungen zu Koexistenz mit sehr geringer Konfliktneigung.
10.1.5 Politische Macht ist eine Funktion von Präferenzen Politische Macht zeigt sich darin, wie entschlossen Regierungen auf internationaler Ebene ihre Präferenzen verfolgen können, ohne Kompromisse machen zu müssen. Macht ist eine Funktion von Präferenzen – und nicht von (militärischen) Fähigkeiten. Je stärker die Präferenzen einer Regierung in den Interessen innerstaatlicher Gruppen verankert sind, desto entschlossener kann sie gegenüber anderen Regierungen auftreten und Ressourcen für die Realisierung außenpolitischer Ziele einsetzen.
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10.2 Analytik und Aussagenlogik 10.2.1 Analytik Individuen/Gruppen Rationale risikoscheue Akteure Wohlfahrtsinteressen – ideelle – materielle – republikanische Pluralismus Wettbewerb Konflikt Staat als Transmissionsriemen Regierungen Repräsentation Präferenzen Internationales System
Policy Interdependence Präferenzstruktur(en) – inkompatible – kompatible – harmonische Interaktionsmuster – Konflikt – Kooperation – Koordination Mechanismen der Präferenzbildung – ideeller Liberalismus – kommerzieller Liberalismus – republikanischer Liberalismus Macht als innerstaatlicher Rückhalt
10.2.2 Aussagenlogik Die Hauptakteure der (internationalen) Politik sind einflussreiche gesellschaftliche Individuen und private Gruppen. Diese Akteure definieren ihre ideellen und/oder materiellen Wohlfahrtsinteressen zunächst unabhängig von Politik und benutzen dann die zur Verfügung stehenden offiziellen staatlichen Kommunikations- und Entscheidungskanäle²⁰⁵. Über das politische System können sie ihre Interessen durch die Bildung von Koalitionen mit politischen Akteuren in der Regierung und mit entsprechender Autorität realisieren. Als rationale und risikoscheue Akteure verhalten sich gesellschaftliche Akteure politisch und streben nach Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten, um ihre jeweiligen Interessen zu realisieren. Dabei unterliegen sie ideellen, ökonomischen und politischen Zwängen, insofern die Realisierung ihrer Interessen von konfligierenden Werten, der eingeschränkten Verfügbarkeit von Ressourcen und/oder Veränderungen ihres Einflusses beeinträchtigt wird. Sowohl diese Knappheit an Wohlfahrtsgütern als auch die Differenzierung gesellschaftlicher Lebensbereiche, einschließlich der dort entstehenden Sichtweisen und Interessen, bedingen ein beträchtliches Maß an gesellschaftlichem Wettbewerb um politische Einflussnahme. Ein extremer Unterschied in den Werten und/oder ein extremer Mangel an Gütern und/oder ein extremer Unterschied in politischem Einfluss sorgen dafür,
205 Vgl. Andrew Moravcsik, Taking Preferences Seriously, a. a. O., 516–517.
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dass der Wettbewerb zwischen Individuen und Gruppen antagonistisch verläuft und an Schärfe gewinnt. Der Staat bzw. das politische System ist in diesem Zusammenhang immer als ‚Beute‘ der stärksten Gruppe oder Koalition zu betrachten, die den Staat für die Realisierung ihrer Zwecke benutzt. Die repräsentativen Institutionen des Staates dienen dabei als Scharnier bzw. Transmissionsriemen über das/den die Interessen der einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppe/n in staatliche Politik übersetzt werden können. Staatliche Politik ist Regierungspolitik. Die Regierung ist selbst ebenfalls eine Interessengruppe, die das Ziel verfolgt, an der Macht zu bleiben. Regierungspolitik repräsentiert die Sichtweisen, Werte und Interessen der einflussreichsten Gruppen, die Druck auf das Regierungshandeln ausüben und versuchen, es zum Wohle ihrer eigenen Interessen zu beeinflussen. Die einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen sind so in der Lage, die Präferenzen des Staates und damit auch seine Verhaltensweisen gegenüber anderen Staaten zu beeinflussen. Wenn und insofern Staaten vermittels der jeweiligen Regierungen in ihrer Außenpolitik ‚Sicherheit‘, ‚Wohlfahrt‘, ‚Souveränität‘ oder eine Kombination all dieser Präferenzen verfolgen, dann aufgrund des Einflusses gut organisierter gesellschaftlicher Gruppen im Innern der jeweiligen Staaten. Für diese Gruppen sind außenpolitische Präferenzen wie nationale Sicherheit, wirtschaftliche Wohlfahrt, oder Souveränität nicht Selbstzweck, sondern Ausfluss ihrer Interessen an ideellen, materiellen und/oder republikanischen Gütern. Jeder Staat, d. h. jede Regierung versucht, im internationalen System die eigenen Präferenzen zu realisieren. Regierungen werden in Interaktion mit den Regierungen anderer Staaten zwangsläufig mit deren Präferenzen und den dadurch motivierten Verhaltensweisen konfrontiert. Im internationalen System bilden sich Präferenzstrukturen. Je nach dem Grad der Vereinbarkeit staatlicher Präferenzen lassen sich – idealtypisch gesprochen – unterschiedliche Strukturen und verschiedene Interaktionsmuster im internationalen System beobachten²⁰⁶: je geringer der Grad an Vereinbarkeit staatlicher Präferenzen, desto größer die Wahrscheinlichkeit antagonistischer bzw. konfligierender Verhaltensweisen (Konflikt); je höher der Grad an Vereinbarkeit staatlicher Präferenzen, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer reibungslosen Koexistenz bzw. harmonischer Verhaltensweisen, die lediglich koordiniert werden müssen (Koordination); und wenn die Präferenzen von Staaten sich teilweise ausschließen und teilweise überlappen, wenn Regierungen also ‚gemischte Motive‘ besitzen, dann besteht zumindest die Möglichkeit, dass Regierungen über Verhandlungen Kompromisse herstellen und in bestimmten Bereichen zusammenarbeiten (Kooperation). Typische Prozesse und Interaktionsmuster der internationalen Politik, nämlich Konflikt, Koordination und Kooperation werden immer hervorgeru-
206 Vgl. ebda., 520.
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fen von der zu einem bestimmten Zeitpunkt existierenden systemspezifischen Konfiguration staatlicher Präferenzen, der internationalen Präferenzstruktur. Es gibt unterschiedliche Mechanismen der Präferenzenbildung²⁰⁷. Im Modell des ideellen Liberalismus werden außenpolitische Präferenzen durch soziale Identitäten und Werte bestimmt. Je nachdem, wie ausgeprägt unter Individuen/Gruppen das Bewusstsein um ideelle Werte (nationales Bewusstsein; religiöse Überzeugungen; sozioökonomische Ideologien) ist, und je nachdem, wie ausgeprägt das Interesse unter Individuen/Gruppen an einer Versorgung mit ganz bestimmten öffentlichen Gütern ist, strebt der Staat danach, sein Handeln auf die Bedürfnisse der Nation oder die herrschende Religion zuzuschneiden bzw. seine territorialen Grenzen zu sichern, legitime politische Institutionen einzurichten und sozioökonomische Wohlfahrtsleistungen anzubieten. Im Modell des kommerziellen Liberalismus werden außenpolitische Präferenzen in Abhängigkeit von den ökonomischen Interessen gesellschaftlicher Individuen/Gruppen bestimmt. In dem Maße, wie gesellschaftliche Akteure ein Interesse daran haben, zu exportieren, zu expandieren und ihre Produktionsstandorte in die Welt zu verlagern, werden staatliche Präferenzen z. B. auf die Errichtung offener Märkte und das Prinzip des Freihandels ausgerichtet sein. Im Modell des republikanischen Liberalismus werden Präferenzen in Abhängigkeit vom Modus der innerstaatlichen Repräsentation und den Interessen von Gruppen an einer ausreichenden Partizipation zur Verhinderung einer Politik des rent-seeking bestimmt. Je größer die Repräsentation des Volkes, und je größer die Interessen des Volkes an der Außenpolitik, desto stärker wird sich der Volkswille in den außenpolitischen Präferenzen widerspiegeln. Das heißt, die Präferenzen des Staates werden stark auf das Ziel, kooperative bzw. freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten, gerichtet sein. Je stärker der Einfluss von Gruppen mit Partikularinteressen und je schwächer das Interesse der Bevölkerung an der Außenpolitik, desto größer kann die Neigung der Regierung sein, rent-seeking zu betreiben – und desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung in ihrem Außenverhalten eine Konfrontation und sogar Konflikt mit anderen Regierungen riskiert, wenn sie dadurch Gewinne einfährt und gleichzeitig die dadurch entstehenden Kosten auf die Bevölkerung abwälzen kann. Obwohl sich Staaten im Prinzip so verhalten, wie sie es – abhängig von ihren innerstaatlich fundierten Präferenzen – auch wollen, kann sich kein Staat tatsächlich immer und überall so verhalten, wie er es will. Einerseits steht dem entgegen, dass sich gesellschaftliche Gruppen in ihren Interessen davon leiten lassen, was einflussreiche Gruppen und Regierungen jenseits staatlicher Grenzen anstreben und was damit realisierbar ist. Zum Beispiel orientieren sich Industrie- und Arbeitgeberverbände im innerstaatlichen Kontext daran, was die entsprechenden Verbände jenseits staatlicher Grenzen anstreben und ob das eigene Wohlfahrtsinteresse in diesem Kontext auch realisierbar ist. Steigt etwa unter den transnational vernetzten Industrie- und Arbeit-
207 Vgl.ebda., 524–533.
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geberverbänden das Interesse an einer Lockerung des Kündigungsschutzes und einer Senkung von Lohnnebenkosten, so gewinnen auch die Verbände im innerstaatlichen Bereich ein größeres Interesse daran, dieses Ziel zu erreichen. Andererseits beeinflusst die internationale Präferenzstruktur, wie sich Staaten bzw. Regierungen verhalten. Staatliche Entscheidungsträger lassen sich bei ihren Entscheidungen nicht nur davon leiten, was sie wollen, sondern auch, was die Entscheidungsträger in anderen Staaten wollen. Das bedeutet nicht, dass sie sich die Präferenzen anderer Staaten zu eigen machen. Sie ziehen aber bei ihren Entscheidungen auf internationaler Ebene in Betracht, was andere Staaten wollen. Nicht zuletzt ist die erfolgreiche Realisierung der eigenen Präferenzen auch davon abhängig, was andere Staaten wollen. Politische Macht hat in diesem Zusammenhang etwas damit zu tun, dass Staaten auf der intergouvernementalen Ebene eine hohe Bereitschaft besitzen, ihre Präferenzen zu realisieren. Das wiederum liegt daran, dass die auf intergouvernementaler Ebene verhandelnden Regierungen eine hohe Rückendeckung aus dem innerstaatlichen Bereich besitzen. Mit anderen Worten: Macht zwischen Staaten ist bestimmt durch die relative Intensität der Präferenzen, die von Regierungen in internationale Verhandlungen gebracht werden. Je größer die innerstaatliche Rückendeckung für die auswärtige Regierungspolitik, desto stärker die Intensität der Präferenzen²⁰⁸.
10.3 Heuristik Im Fokus des neuen Liberalismus stehen Interaktionsmuster, in die Staaten involviert sind, weil sie versuchen, ihre Präferenzen zu realisieren. Staaten bzw. Regierungsvertreter können als rationale Akteure verstanden werden, die auf internationaler Ebene versuchen, ihre Präferenzen in Politikergebnisse umzusetzen. Allerdings ist das, was Regierungen auf internationaler Ebene erreichen wollen, ganz entscheidend beeinflusst von einflussreichen Interessengruppen im innerstaatlichen Bereich. Diese Grundannahmen der Theorie strukturieren den relevanten Wirklichkeitsausschnitt vor. Eine Beschreibung mithilfe der liberalen Theorie konzentriert sich auf Verhaltensweisen und Interaktionsmuster zwischen Regierungen auf internationaler Ebene. Dafür stellt die Theorie die Kategorien ‚Konflikt‘, ‚Kooperation‘ und harmonische ‚Koexistenz‘ zur Verfügung. Für die Erklärung der Verhaltensweisen von Regierungen wird wichtig, dass im innerstaatlichen Bereich der interagierenden Staaten gesellschaftliche Akteure Interessen an der Versorgung mit ideellen und/oder materiellen und/oder republikanischen Gütern artikulieren und über Einflussnahme auf außenpolitische Entscheidungen zu realisieren versuchen. Der entscheidende Grund dafür, warum Regierungen sich in konfliktiven, kooperativen, oder harmonischen Interaktionen befinden, liegt aus Sicht der Theorie in Präferenzstrukturen auf der Ebene des
208 Vgl. ebda., 523–524.
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internationalen Systems. Die Entstehung dieser Präferenzstrukturen liefert wiederum die Erklärung für konkrete Sachverhalte, z. B. warum Regierungen wichtiger Staaten zu Beginn der 1980er-Jahre den Prozess der europäischen Integration wiederbelebt, warum die USA und der Irak anno 2003 Krieg geführt und warum die USA und Großbritannien harmonische Beziehungen unterhalten haben.
10.3.1 Regierungspolitik und Europäische Integration 10.3.1.1 Der ‚neue Schub‘ für die Europäische Integration in den 1980er-Jahren Während der 1980er-Jahre erfuhr die europäische Integration ihren bedeutendsten Schub auf dem Weg zur Handelsliberalisierung seit der Vollendung des Gemeinsamen Marktes im Jahr 1968. Dieser Schub war völlig unerwartet, weil die Zeit während der 1970er-Jahre als Phase der ‚Eurosklerose‘ und des ‚Europessimismus‘ bekannt geworden war. Praktiker und Theoretiker hatten ihren Glauben an die positive Rolle europäischer Institutionen verloren. Umso überraschender war die Tatsache, dass die Kommission nicht nur einen Maßnahmenkatalog entwarf, um einen Raum ohne Binnengrenzen herzustellen, in dem die Freizügigkeit von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital rechtlich abgesichert war. Unerwartet war auch, dass einflussreiche Akteure sich zu Anwälten des Projekts machten und die Abschaffung von Tarifen und Quoten im Sinne ‚negativer Integration‘ beförderten. Die 1986 unterzeichnete Einheitliche Europäische Akte (EEA), in der die genannten Wiederbelebungsversuche ihren Niederschlag fanden, beinhaltete drei große Reformschritte: Erstens wurde mit einer Ergänzung des Art. 100 EWG-Vertrag festgelegt, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten beschließt, die die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben – gleichzeitig wurde jedoch die unausgesprochene Erwartung bestätigt, dass sich die Regierungsvertreter nach Maßgabe des ‚Luxemburger Kompromisses‘ weiter um Einstimmigkeit in Fragen bemühen würden, die von vitalem nationalen Interesse für einen Staat sind; zweitens wurde das Prinzip der ‚gegenseitigen Anerkennung‘ eingeführt, gemäß dem der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen auch ohne Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten funktionieren soll. Kein Mitgliedstaat sollte den Verkauf eines in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten Erzeugnisses verbieten können, auch wenn dieses Erzeugnis nach anderen technischen oder qualitativen Vorschriften als den für die inländischen Erzeugnisse geltenden Vorschriften produziert wurde. Ausnahmen, die sich auf das Allgemeininteresse wie den Schutz der Gesundheit, der Verbraucher oder der Umwelt stützen, sollten an strenge Bedingungen geknüpft sein. Drittens wurde dem Europäischen Parlament die Fähigkeit zugestanden,
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Änderungsvorschläge zu Gesetzesvorhaben einzubringen, die vom Rat nicht einfach ignoriert werden dürfen, wenn die Kommission diese Vorschläge unterstützt²⁰⁹. Der Grund für die Einführung dieser Regelungen lag nicht darin, dass sich proeuropäische Akteure auf gesellschaftlicher und/oder supranationaler Ebene als Motoren erwiesen. Die Triebkräfte hinter dem neuen Schub waren wichtige Entscheidungsträger in den großen Mitgliedstaaten, allen voran Helmut Kohl, François Mitterand und Margaret Thatcher²¹⁰. Diese gouvernementalen Akteure waren in der Lage, innerstaatliche Widerstände gegen das Reformprojekt der EEA zu überwinden und so eine konzertierte Aktion dreier eminent wichtiger Staaten, nämlich Deutschland, Frankreich und Großbritannien ins Leben zu rufen. Die Regierungen dieser drei sehr einflussreichen Staaten zeichneten primär für die Realisierung des Binnenmarktprojekts verantwortlich, insofern sie die meisten entscheidenden Vorschläge einbrachten, die Verhandlungen auf europäischer Ebene bestritten und innerstaatliche Unterstützung für diese Vorschläge auch in anderen Staaten mobilisierten. Die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens waren jedoch eher ‚Erfüllungsgehilfen‘ einflussreicher Gruppen innerhalb ihrer Staaten als dramatisch handelnde Akteure. Entscheidend für den Erfolg des gemeinsamen Vorgehens war, dass die Regierungen der drei größten Staaten sehr weit überlappende Präferenzen mit Blick auf die Herstellung des europäischen Binnenmarktes formulierten. Weil sie sehr ähnliche Präferenzen am Fortgang der europäischen Integration auf wirtschaftlichem Gebiet nach außen vertraten, wurde es für sie möglich, während der entscheidenden Phasen des intergouvernementalen Verhandlungsprozesses zu kooperieren. Dabei zeigte sich, dass die innerstaatlichen Mechanismen in den drei genannten Mitgliedstaaten zu außenpolitischen Präferenzen führten, die auf internationaler Ebene überlappten. Die britischen Präferenzen waren ganz überwiegend eine Verlängerung der wirtschaftlichen Interessen einflussreicher Kreise in London. Die Konföderation der Britischen Industrie (KBI) hatte bereits 1980 festgestellt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber den südostasiatischen Staaten gesunken war. Die KBI machte sich deswegen für die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes stark, einschließlich der Liberalisierung von Gütern, Dienstleistungen und Transport sowie der Abschaffung von nicht-tarifären Handelshindernissen. Außerdem sahen die einflussreichen Bankhäuser und Versicherungen in London große Wachstumschancen in einem liberalisierten europäischen Markt. Nachgerade Industrie, Banken und Versicherungen hatten den größten Einfluss auf die britische Regierung. Die britische Europapolitik war deshalb in den 1980er-Jahren geprägt von den ökonomischen Interessen dieser Gruppen²¹¹. Deutschland verfolgte Präferenzen, die zwar nicht nur, aber zum überwiegenden Teil auf den Einfluss der Industrieverbände und Banken 209 Vgl. Andrew Moravcsik, The Choice for Europe, a. a. O., 315. 210 Vgl. ebda., 317. 211 Vgl. ebda., 322–326.
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zurückgingen. Der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) sowie der Bund Deutscher Industrie (BDI) hatten 1981 bzw. 1982 festgestellt, dass eine weitgehende Liberalisierung des europäischen Marktes vonnöten sei, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen und insbesondere der deutschen Wirtschaft zu erhöhen. Die einflussreichsten deutschen Banken machten sich dafür stark, den Markt für Finanzdienstleistungen zu liberalisieren, wenngleich die Bundesbank die Position vertrat, dass eine Integration der Finanzmärkte erst dann sinnvoll sei, wenn die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten wirtschaftliche Konvergenzkriterien erfüllten. Neben den wirtschaftlichen Interessengruppen spielten auch Bauernverbände, Bürokratien der öffentlichen Hand, Gewerkschaften und Kleinunternehmer eine Rolle bei der Präferenzenbildung. Die Interessen dieser Gruppen liefen darauf hinaus, die Liberalisierung des europäischen Marktes nur mit entsprechenden Ausnahmen für den Agrarsektor, für Monopolstellungen bundeseigener Unternehmen (z. B. die Bundespost), oder für die Rechte von Arbeitnehmern voranzutreiben. In letzter Konsequenz führte der Einfluss dieser Interessengruppen zwar zu einer etwas differenzierteren Haltung in der deutschen Europapolitik, dennoch waren die wirtschaftlichen Interessengruppen, und hier vor allem die Industrie und die Bundesbank, bei Weitem einflussreicher. Letztere zeichneten deshalb auch verantwortlich für die Verfolgung materieller Präferenzen durch die Bundesregierung: Forcierung des Binnenmarktprojekts bei verzögerter Integration der Finanzmärkte²¹². In Frankreich kehrte sich die Mitterand-Regierung 1983/84 ab vom Projekt eines ‚sozialistischen Europa‘, nachdem das sozialistische Experiment in der heimischen Wirtschaftspolitik gescheitert war. Anstatt wie bisher auf Industriesubventionen für französische Konzerne, Kreditkontrollen und geschlossene Finanzmärkte auch und v. a. zugunsten von Arbeitnehmern und im Namen sozialer Gerechtigkeit zu setzen, befürwortete Mitterand schließlich die Liberalisierung des Handels und die Herstellung eines einheitlichen europäischen Marktes. Konfrontiert mit der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der europäischen und insbesondere der französischen Wirtschaft, was sich vor allem in sinkenden Exporten im Bereich industriell gefertigter und Hochtechnologie-Güter manifestierte, wechselte Mitterand die wirtschaftspolitische Orientierung und favorisierte Deregulierung, die Öffnung heimischer Märkte für ausländische Investitionen und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Der Hauptgrund für diesen Wandel hin zu einer dezidiert wirtschafts- bzw. neoliberalen Position lag darin, dass Mitterand im politischen System Frankreichs, ob seiner bis dato zurückhaltenden Europapolitik, merklich unter Druck geriet und sogar von der Gaullistischen Partei um Chirac in die Defensive gedrängt wurde. Während der cohabitation, in der Präsident und Premierminister unterschiedlichen Parteien angehörten, weil der Präsident im Parlament nicht über eine kooperationsbereite Mehrheit verfügte, profilierten sich die Gaullisten als ‚wahre‘ europäische Partei. Die Hinwendung Frankreichs zum Projekt des eu-
212 Vgl. ebda., 328–332.
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ropäischen Binnenmarktes war somit einerseits motiviert durch wirtschaftliche Interessen und andererseits durch das Interesse der Regierung Mitterands, politische Legitimation für die Regierungspolitik zurückzugewinnen, um nicht als rent-seeker dazustehen²¹³. Die Gründe für die Wiederbelebung der Integration durch eine konzertierte Aktion wichtiger Mitgliedstaaten, versinnbildlicht und dokumentiert durch die Unterzeichnung der EEA, lagen in den weitgehend überlappenden Präferenzen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands. Die Regierungen der drei Staaten machten sich zu Anwälten einflussreicher innerstaatlicher Interessengruppen und verzichteten auf bzw. stellten die Geltendmachung ideologischer und/oder nationaler Interessen zurück. Bedingt durch die Ähnlichkeit der Interessen unter den innerstaatlichen Gruppen einerseits und ihrer eigenen Bereitschaft zur Vertretung dieser Interessen andererseits, besaßen die Regierungen der genannten Staaten eine Grundlage für Verhandlungen, die sie nach Auflösung diverser Schwierigkeiten²¹⁴ seit Ende 1983 bzw. Anfang 1984 nutzten, um Einstimmigkeit in den für die Wiederbelebung der Integration wichtigen Fragen herzustellen²¹⁵.
10.3.2 Demokratischer Friede/Krieg 10.3.2.1 Die Friedfertigkeit demokratischer Staaten gegenüber demokratischen Staaten Nach Meinung vieler liberaler Theoretiker sind demokratische Staaten in ihrem Außenverhalten gegenüber anderen demokratischen Staaten tendenziell friedlich. Staaten, die qua Verfassung so organisiert sind, dass das Volk über Wahlen an einer Regierung beteiligt ist, die auf dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive beruht, können in ihrem Außenverhalten zwar kriegerisch sein. Diese Staaten führen aber in der Regel keine Kriege gegen andere demokratische Staaten. Nach Meinung liberaler Theoretiker zeichnen sich die Beziehungen zwischen den USA und Großbritannien dadurch aus, dass nach Beginn der Demokratie in Großbritannien im Jahr 1832 keine Kriege zwischen diesen beiden Staaten zu beobachten waren. Statt ihre Differenzen mit Gewalt zu lösen, legten die USA und Großbritannien während des 19. Jahrhunderts ihre Grenzstreitigkeiten im Norden der USA durch Verhandlungen bei. Selbst in der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs während der 1860er-Jahre, in denen die Verbindungen zwischen den Südstaaten und der Britischen Krone einen
213 Vgl. ebda., 335–343. 214 Gemeint sind bis dato ungelöste Fragen betreffend den britischen Haushaltsbeitrag, die Höhe der Agrarsubventionen und die Süderweiterung um Spanien und Portugal. Vgl. ebda., 347–353. 215 Vgl. ebda., 369: „By 1983 national preferences had converged sufficiently that the three major governments were willing to move beyond the existing level of European integration and supported single market reform as the optional way to do so.“
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Kriegseintritt Großbritanniens auf der Seite der Konföderation eigentlich geboten erscheinen ließen, brach kein Krieg zwischen der Union und Großbritannien aus. In der weiteren Folge war zu beobachten, dass sich gerade zwischen diesen beiden Staaten eine special partnership entwickelte, die auf gemeinsame liberal-demokratische Werte begründet ist. Die Erklärung für diesen Befund liegt im innerstaatlichen Bereich liberaler Staaten. Erstens hindert eine verfassungsmäßig garantierte Kontrolle der Exekutive durch die Legislative die jeweiligen Entscheidungsträger daran, Kriege aus aggressiven Überlegungen heraus zu führen. Das Volk, bestehend aus vernünftigen (und vermögenden) Bürgern der Mittelschicht, teilt eine grundsätzliche Kriegsaversion und lehnt Kriege gegen Staaten, in denen das Volk ebenso an der Regierung beteiligt ist, aus ideellen und moralischen Gründen kategorisch ab. Die Legislative handelt im Sinne dieses aufgeklärten Bürgerinteresses und hindert die Regierung daran, Staaten mit gleichen ideellen Werten anzugreifen. Zweitens liegt eine Schranke gegen den Kriegseintritt in der Furcht des Volkes, dass Krieg nicht nur Menschenleben fordert, sondern auch Eigentum und Vermögenswerte zerstört. Zum ideell-moralischen kommt somit ein materieller Grund. Und beide Überlegungen verstärken sich, sodass das Volk bzw. die Legislative in der Regel versucht, Entscheidungen zugunsten eines Krieges zu verhindern. Drittens führt die Herausbildung republikanisch verfasster Staaten dazu, dass sich zwischen diesen Staaten Respekt gegenüber der Integrität und Selbstbestimmung anderer Staaten entwickelt. Es entwickeln sich fundamentale Prinzipien des internationalen öffentlichen Rechts, die ihre eigene Wirkung entfalten. Eng damit zusammen hängt eine kosmopolitische Orientierung der Bürger. Die Rechte der Person werden als unveräußerlicher Besitz jedes Menschen anerkannt. Willkürliche kriegerische Gewalt gegenüber Personen ist aus kosmopolitischen Erwägungen grundsätzlich illegitim.
10.3.2.2 Die Kriegsneigung demokratischer Staaten gegenüber nichtdemokratischen Staaten: USA versus Irak anno 2003 Im Zuge des von ihr ausgerufenen ‚Kampfes gegen den Terrorismus‘ nahm die Regierung der USA anno 2002 insbesondere den Irak ins Visier der Kriegsvorbereitungen. US-amerikanische Regierungsspitzen wie z. B. der Präsident, sein Vize, die Sicherheitsberaterin und der Verteidigungsminister wiederholten immer wieder, dass der Irak an Massenvernichtungswaffen arbeite und bereits ein großes Arsenal von ABCWaffen entwickelt hätte. Der bei den Präsidentschaftswahlen anno 2000 unterlegene Kandidat der Demokratischen Partei, Al Gore, rief zur ‚finalen Abrechnung‘ mit dem irakischen Präsidenten Saddam Hussein auf. Sogar der als gemäßigt geltende ehemalige Außenminister Colin Powell sprach vom Irak als Teil der ‚Achse des Bösen‘, demgegenüber die einzig sinnvolle Strategie die eines Regimewechsels sei. In der Vorbereitung auf den Krieg, der am 20. März 2003 ohne formelle Kriegserklärung begonnen wurde, verschwammen Charakterisierungen des Irak als Bastion des islamistischen
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Terrorismus mit solchen, in denen der Irak als militärische Bedrohung für Frieden und Sicherheit ausgewiesen wurde. Letzteres wurde u. a. von Scott Ritter und Hans Blix, die nacheinander Leiter der UN-Waffeninspektoren im Irak waren, verneint. Beide beteuerten im Jahr 2002, dass es keine Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak gebe. Scott wies darauf hin, dass bereits unter seiner Leitung zwischen 80–90 % der ABC-Waffen vernichtet worden seien. Angesichts der gerade von demokratisch gewählten Regierungen oft betonten Notwendigkeit völkerrechtlicher Legalität und Legitimität außenpolitischer Handlungen war interessant zu beobachten, dass US-amerikanische Entscheidungsträger den Krieg gegen den Irak als einen legitimen Präventivkrieg einschätzten. Der Krieg war aus US-amerikanischer Sicht das einzig effektive Mittel, terroristischen Anschlägen vorzubeugen. Ebenso bedeutend war die Tatsache, dass der Krieg gegen den Irak durch die USA und eine ‚Koalition der Willigen‘ nicht auf eine Resolution des UNSicherheitsrates hin begonnen wurde. Grundsätzlich gilt für alle Regierungen der UN-Mitgliedstaaten das Gewaltverbot der UN-Charta, wenn und insofern sie nicht zu einem Verteidigungskrieg gezwungen sind, oder an einer vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten Sanktionsmaßnahme teilnehmen. Nachgerade die demokratisch gewählten Regierungen liberaler Staaten stützen ihre politische Autorität auf Verfassungen und die rule of law. Dieselben Regierungen zeichnen sich in ihrem rhetorischen Handeln oft dadurch aus, dass sie auch im zwischenstaatlichen Bereich im Geist freundschaftlicher Beziehungen und auf der Basis des Völkerrechts zusammenarbeiten wollen. Diese normative Verpflichtung demokratisch gewählter Regierungen gilt jedoch nicht unbedingt gegenüber nicht-demokratischen Regierungen. Im Gegenteil tendieren demokratisch gewählte Regierungen liberaler Staaten dazu, gegenüber autokratischen Regimen auf der Basis anderer Kriterien und Gesichtspunkte zu handeln. Das zeigte sich im Vorfeld des Irakkrieges, als Verhandlungen im UN-Sicherheitsrat im November 2002 in eine Sicherheitsrats-Resolution mündeten, die im Wortlaut unklar blieb und den (fehlenden) Kompromiss der ständigen Mitglieder widerspiegelte. Bereits während der Verhandlungen im Sicherheitsrat verlautbarte der amerikanische Präsident seine Präventivschlag-Strategie, die sogenannte ‚Bush-Doktrin‘. In der Folge bemühte sich die USA, eine ‚Koalition der Willigen‘ zu schmieden, um im Rahmen einer multilateralen Vorgehensweise – aber unter Umständen auch außerhalb eines UN-Mandats – losschlagen zu können. In den ersten Monaten des Jahres 2003 verlegten die USA große Truppenkontingente in die Golfregion. Am 19. März begann nach Ablauf eines vorher gestellten Ultimatums – jedoch ohne offizielle Kriegserklärung – der Krieg gegen den Irak. Ein wesentlicher Grund dafür lag darin, dass während der 1990er-Jahre und insbesondere nach den terroristischen Anschlägen auf New York im September 2001 neokonservative Kreise erheblichen Einfluss auf die Regierungspolitik ausübten. Führende Vertreter der Neokonservativen, wie z. B. Donald Rumsfeld und Dick Cheney, bekamen sogar Zutritt zum politisch-administrativen Establishment. Als solche standen die unter diesem Banner des Neokonservatismus
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vereinten Interessengruppen und ihre Vertreter den eher klassischen Konservativen gegenüber. Neokonservative verfolgten einerseits dezidiert ideelle Werte, wie z. B. die globale Verbreitung der Demokratie, eine Suprematie der westlichen Kultur sowie einen unverhohlenen Führungsanspruch der amerikanischen Nation in der Welt. Weil diverse einflussreiche Neokonservative, wie zum Beispiel Dick Cheney, ihre Wurzeln in Kreisen der Hochfinanz, der Öl- und/oder der Rüstungsindustrie hatten (und haben), verfolgten sie andererseits auch materielle Interessen – sei es, dass sie diese in Ergänzung ideeller Interessen verfolgten; oder sei es, dass diese materiellen Interessen ihre eigentlichen Motive waren. In der Summe ließ sich beobachten, dass sich der Einfluss neokonservativer Kreise in der Verfolgung ideeller und materieller Präferenzen niederschlug. Die amerikanische Regierung machte sich aufgrund des Einflusses neokonservativer Kreise zum Anwalt eines amerikanischen bzw. westlichen Suprematiedenkens und der Demokratieförderung. Daneben ließ sich beobachten, dass das Augenmerk der amerikanischen Regierung auf eine größere Kontrolle über weltweite Ölressourcen und die weltweite Herstellung marktwirtschaftlicher Strukturen gerichtet war. Weiterhin dienten Demonstrationen militärischer Schlagkraft auch dazu, die Leistungsfähigkeit der amerikanischen (Rüstungs-)Industrie herauszustellen – und damit die voluminöse Auftragsvergabe an den militärisch-industriellen Komplex durch den Kongress zu rechtfertigen bzw. auch in Zukunft zu sichern. Aufgrund ihrer Verpflichtung auf dezidiert neokonservative Interessen innerstaatlich einflussreicher Gruppen und aufgrund völlig unvereinbarer Präferenzen auf Seite des Irak definierte die US-amerikanische Regierung im Jahre 2002 einen Regimewechsel im Irak als ein vorrangiges Ziel. Entscheidend war in diesem Zusammenhang also einerseits, dass die amerikanische Regierung den Irak nicht nur als einen von mehreren Gegnern im Kampf gegen den internationalen Terrorismus identifizierte. Die Regierung des Irak geriet aufgrund ideeller Gesichtspunkte ins Fadenkreuz, nämlich ihrer mutmaßlichen Nähe zum radikalen Islamismus, sowie ihrer Unterdrückung der Demokratie und liberaler Menschenrechte. Der Einfluss neokonservativen Denkens zeigte sich im innerstaatlichen Raum darin, dass sogar die von der CIA vorgelegten Berichte, die alle von der Regierung vorgelegten ‚Beweise‘ für Massenvernichtungswaffen im Irak entkräfteten, die Stoßrichtung der Regierungspolitik nicht verändern konnten. Im Gegenteil konnte die US-amerikanische Regierung, aufgrund ihrer starken Unterstützung durch neokonservative Kreise, sowohl gegenüber inner-staatlichen Gruppen mit einem Interesse an einer Kontrolle der Regierung im Namen inklusiver Repräsentation, als auch gegenüber anderen Regierungen im internationalen Milieu, namentlich der Regierungen Frankreichs und Deutschlands, auf ihrer Position beharren, dass der Irak eine Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit darstelle, und dass deshalb ein Regimewechsel notwendig und legitim sei. Die aus 34 Staaten bestehende ‚Koalition der Willigen‘ legt den Schluss nahe, die amerikanische Regierung und eine nicht unerhebliche Zahl von Regierungen anderer Staaten sehr
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ähnliche Präferenzen verfolgten und deswegen mit den USA zum Zwecke des Krieges kooperierten. Entscheidend für den Kriegsbeginn war andererseits, dass für die hinter der Regierung der USA stehenden Interessengruppen mit einem durch Krieg herbeigeführten Regimewechsel und der Einsetzung ‚demokratischer‘ Kräfte im Irak eine große Chance auf materielle Gewinne verbunden war: eine Kontrolle der Ölvorkommen im Irak; Investitionsgewinne nach Errichtung marktwirtschaftlicher Strukturen; und die Sicherung von weiteren hoch dotierten Rüstungsaufträgen in der Zukunft. Innerstaatliche amerikanische Interessengruppen, angeführt von einem der größten Ölkonzerne und militärischen Auftraggeber der USA (Halliburton), hatten bereits im Zuge der Sanktionsmaßnahmen gegen den Irak während der 1990er-Jahre vom Oil for Food-Programm der Regierung profitiert. Noch viel lukrativer schien das Geschäft mit dem Wiederaufbau des Irak nach einem erfolgreichen Krieg. Eine schnelle und effektive Kriegführung mithilfe modernster Waffen gegen einen angeblich hochgerüsteten Gegner hatte für Rüstungsfirmen wie Lockheed Martin schließlich auch den Vorteil, die bisherige Finanzierung der amerikanischen Rüstungsindustrie durch staatliche Aufträge zu rechtfertigen sowie lukrative Aufträge in der Zukunft zu sichern.
10.3.3 Kontrollfragen – – – – – –
Welche Rolle spielt der Staat? Was sind Interessen und Präferenzen? Wie kommt es zu Präferenzen? Wie bilden sich Präferenzstrukturen? Welche Rolle spielt die Präferenzstruktur? Was ist und welche Rolle spielt Macht?
11 Global Governance Im Zusammenhang mit neoliberalen Deutungsversuchen der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stellten Wissenschaftler zunehmend fest, dass intergouvernementale Organisationen, Regime und Koordinationsnetzwerke angesichts grenzüberschreitender Vergesellschaftungsprozesse nicht mehr ausschließlich als funktionale Einrichtungen zur Befriedigung rationaler staatlicher Interessen konzipiert werden konnten. Nicht-staatliche Akteure haben sich zusehends in norm- und regelsetzende Verfahren gouvernementaler Akteure eingemischt. Einerseits evaluieren sie die Leistungen internationaler Institutionen anhand sachlicher und/oder normativer Beurteilungskriterien, wie etwa transnationale Konzerne die Welthandelsorganisation mit Blick auf effektive Fortschritte in konkreten Fragen der Handelsliberalisierung und/oder des Investitionsschutzes; oder wie Umweltverbände das Kyoto-Protokoll mit Blick auf tatsächliche Verbesserungen im Klimaschutz; oder wie globalisierungskritische Netzwerke Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds mit Blick auf Probleme der ungleichen Entwicklung und zunehmender Armut in vielen Entwicklungsländern. Andererseits drängen sie sogar durchaus erfolgreich auf Teilhabe an diesen Verfahren und versuchen, als stakeholder und/oder als Betroffene Einfluss auf die Formulierung bzw. Implementation politischer Entscheidungen internationaler Institutionen zu nehmen²¹⁶. Ein Schwerpunkt der Global-Governance-Forschung liegt deswegen in der begrifflichen Präzisierung des Begriffs der ‚Institution‘ unter besonderer Berücksichtigung etwaiger Trends zur Supra- und Transnationalisierung politischer Entscheidungsfindung²¹⁷. Ein überwiegend polity-orientiertes Erkenntnisinteresse gilt dabei einer taxonomischen Bestandsaufnahme dynamischer institutioneller Formen und der davon ausgehenden Effekte auf Modi des Regierens sowie der diesen zugrunde liegenden Kausalmechanismen. Liberale Deutungsversuche der internationalen Beziehungen hatten bereits darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl von Interessengruppen nicht nur innerstaatlich versucht, über entsprechende Kommunikationskanäle Einfluss auf die jeweilige Regierungspolitik auszuüben. Im gleichen Maß wie Regierungen die zwischenstaatliche Koordination und Kooperation im Rahmen internationaler Organisationen forcieren, starten Interessengruppen und Verbände ihrerseits Versuche, die politischen Entscheidungsfindungsprozesse durch konzertierte Aktionen auf transnationaler Ebene zu beeinflussen²¹⁸. Was die liberale Deutung des Geschehens aufgrund ihrer Priori216 Vgl. Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt – eine Zwischenbilanz, in: E. Grande & St. May (Hg.), Perspektiven der Governanceforschung (Nomos: Baden-Baden, 2009), 61–75, 71. 217 Vgl. Michael Zürn, Martin Binder, Matthias Ecker-Erhardt, Katrin Radtke, Politische Ordnungsbildung wider Willen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, vol. 14 (2007), 129–164, 141–142. 218 Bereits Andrew Moravcsik, Taking Preferences Seriously, a. a. O., 522–523, hat schon darauf hingewiesen, daß „[…] state preferences may reflect patterns of transnational societal interaction. While state preferences are (by definition) invariant in response to changing interstate political and strate-
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sierung der inter/gouvernementalen Dimension politischer Entscheidungsfindung übersehen musste, war die sich verändernde Rolle transnationaler Akteure. Firmen, Verbände, Interessengruppen und Netzwerke begnügen sich seit geraumer Zeit nicht mehr mit Lobbytätigkeiten, um politische Entscheidungen hoheitlicher Akteure in formalen und offiziellen Verfahren zu beeinflussen. Einrichtungen, die eher dem Typ der transnationalen Lobbyorganisation entsprechen, unterscheiden sich von einem neueren Typ des transnationalen Akteurs, der geeignete Organisationsstrukturen aufbaut, um dort selbst Entscheidungen zur Lösung von Problemen transnationaler Reichweite treffen zu können. In Ergänzung zum liberalen Deutungsangebot hat die Global-Governance-Forschung versucht, die Rolle dieses neuen Akteurs zu beleuchten, der Defizite bei der Problemlösung durch Regierungen zum Anlass nimmt, um im transnationalen Raum ebenfalls regulativ und sogar implementierend tätig zu werden. Neben ihrer polity-Orientierung richtet die Global-Governance-Forschung einen weiteren Focus auf die eher policy-orientierte Analyse supra- bzw. transnationaler Regulierung; dabei interessiert sie sich einerseits für die Gründe hinter der Differenzierung von Entscheidungsmacht in ‚heterarchischen‘ Prozessen²¹⁹ bzw. im Kontext von ‚multi-level governance‘, wo zunehmend auch private Akteure ihre jeweiligen Interessen, Ziele und die einzusetzenden Mittel mit Blick auf die Lösung politikfeldspezifischer Probleme abstimmen bzw. ständig von Neuem miteinander verhandeln²²⁰; andererseits nimmt sie dabei in den Blick, wie öffentliche und private Akteure ihrem Tun in diesem Kontext Legitimität verleihen²²¹. Auch die Global-Governance-Forschung hat zum Teil scharfe Kritik auf sich gezogen. Eine Stoßrichtung kritischer Kommentare richtet sich gegen den (fehlenden) konzeptuellen Gehalt des Begriffes governance. Aufgrund seiner konzeptuellen Unschärfe erlaube der Begriff keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Praxisformen, die als governance und solchen, die als nicht-governance zu verstehen wären²²².
gic circumstances, they may well vary in response to a changing transnational social context. In the political economy for foreign economic policy, for example, social demands are derived not simply from ‚domestic‘ economic assets and endowments, but from the relative position of those assets and endowments in global markets. Similarly, the position of particular values in a transnational cultural discourse may help define their meaning in each society. In this regard, liberalism does not draw a strict line between domestic and transnational levels of analysis.“ 219 Vgl. Jürgen Neyer, Politische Herrschaft in nicht-hierarchischen Mehrebenensystemen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, vol. 9 (2002), 9–38, 32: „Das wesentliche Instrument der Ausübung von Herrschaft in heterarchischen Strukturen ist nicht mehr die (im Rahmen demokratischer Verfahren disziplinierte) Anordnung, das Kommando oder der Befehl, sondern die Gestaltung von verständigungsorientierten Formen der politischen Interaktion.“ 220 Vgl. Arthur Benz, Multi-Level Governance – Governance in Mehrebenensystemen, in: A. Benz & N. Dose (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung (Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004), 111–135. 221 Vgl. u.a. die Beiträge zum Sammelband von Rodney Hall & Thomas Biersteker (Hg), The Emergence of Private Authority in the International System (Cambridge: Cambridge University Press, 2002). 222 Vgl. Claus Offe, Governance: An „Empty signifier“?, Constellations, vol. 16 (2009), 550–562, 557.
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In Ermangelung von Kriterien, um bestimmte Phänomene als Ausdruck von governance zu identifizieren, lasse sich schlussendlich jede Form des Handelns als governance ausweisen. In enger Verbindung mit besagter Unschärfe steht ein weiterer Kritikpunkt. Da durchweg alles als Ausdruck von governance – im Sinne von gezielter Steuerung und konstruktiver Problemlösung – angesehen werden könne, gerieten Fragen nach solchen Formen der Machtausübung in den Hintergrund, die nicht per se bereits wünschenswert im Sinne einer allgemein angestrebten Problemlösung seien. Die Global-Governance-Forschung zeichne sich deswegen aus durch eine Vernachlässigung der politics-Dimension und offenbare eine frappierende Ignoranz gegenüber Willkür und Ungerechtigkeit²²³. Ein dritter Einwand gegen die Global-GovernanceForschung lässt sich seinerseits als eine Verlängerung des zweiten Kritikpunktes verstehen. Denn in der Konsequenz bedeute eine Blindheit gegenüber etwaigen Fällen der Diskriminierung und Ausgrenzung innerhalb von supra- und transnationalen Prozessen der Problemlösung, dass die ganze Perspektive des Ansatzes dem Blickwinkel der verhandlungsführenden Eliten ähnelt, deren Tätigkeiten eigentlich ohne diesen bias zu analysieren wären. Ob und inwiefern diejenigen Evaluationen, Strategien und Expertisen, die in transnationalen Prozessen des Problemlösens von den dortigen Akteuren wie selbstverständlich als Sachverstand verhandelt werden, in einer breiteren Öffentlichkeit Gegenstände unüberbrückbarer politischer Konflikte sind, bleibe weitgehend unberücksichtigt²²⁴. Dieser Kritikpunkt gewinnt an Schärfe, wenn man eine vierte kritische Beobachtung damit verknüpft: Die Global-Governance-Forschung ist weit weniger ‚global‘, als es das Epithet des Programms suggeriert. Die Globalisierungsdiskussion findet v. a. in der OECD-Welt statt. Überlegungen zu den Formen und Errungenschaften des globalen Regierens richten sich überwiegend auf den Aspekt der Re-Regulierung der (ökonomischen) Globalisierung v. a. in dieser Hemisphäre. Beiträge aus den Entwicklungsländern zur Theorie und Praxis des globalen Regierens im Süden sind von Anfang an übersichtlich geblieben und werden als solche im neoliberalen mainstream der Debatte auch kaum rezipiert²²⁵. Manche Kritiker sehen den Global-Governance-Diskurs deshalb weniger als eine wissenschaftliche Praxis,
223 Vgl. ebda. Wahrscheinlich müsste man gegenüber diesem Kritikpunkt von Offe mittlerweile relativierend hinzufügen, dass das Problem der sogenannten Machtasymmetrie in der Literatur durchaus gesehen wird. Vgl. z. B. Renate Mayntz, Von der Steuerungstheorie zu Global Governance, in: G. F. Schuppert & M. Zürn (Hg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 41 (2008), 43–60, 57–8. Allerdings scheint dieses Problem mehrheitlich eher als negative Begleiterscheinung denn als fundamentales Problem des ‚globalen Regierens‘ gesehen zu werden. 224 Vgl. Claus Offe, Governance, a. a. O. 558. 225 Eines der daraus resultierende Probleme liegt darin, dass „[…] selbst auf Inklusion und Kooperation ausgerichtete Problemlösungen im Kontext der Global Governance-Architektur, die aus Industrieländerperspektive entwickelt werden, oft die spezifischen Interessen und Problemlagen von Entwicklungsländern nur unzureichend berücksichtigen.“ Dirk Messner & Franz Nuscheler, Das Konzept Global Governance. Stand und Perspektiven, INEF Report 67 (2003), 43.
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denn als ideologisch aufgeladenes Programm und integralen Bestandteil einer hegemonialen neoliberalen Politik²²⁶.
11.1 Prämissen 11.1.1 Die Akteure sind öffentliche und private Einrichtungen Relevante Akteure im Prozess der globalen Vergesellschaftung sind öffentliche und private Einrichtungen. Nach wie vor sind v. a. die staatlichen Regierungen in Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten involviert; dabei sind sie jedoch oft der Einmischung und zunehmend auch einer Mitsprache öffentlicher und privater Einrichtungen ausgesetzt. Zum Teil haben private Akteure und Netzwerkorganisationen gegenüber Regierungen und/oder halbstaatlichen Einrichtungen sogar schon weitreichende Entscheidungsbefugnisse, was einer fortschreitenden Erosion ehedem hierarchischer Formen des Regierens gleichkommt.
11.1.2 Die Formen des Regierens werden heterarchisch Während die Herstellung politischer Ordnung in einem hierarchisch gegliederten politischen System durch Prinzipien wie ‚Führung‘ und ‚Kontrolle‘ durch politischadministrative Entscheidungen charakterisiert ist, zeichnen sich neue Formen des Regierens durch ‚offene‘ Kommunikations- und Verhandlungsprozesse aus, an denen öffentliche und/oder private Akteure auf unterschiedlichen Entscheidungsebenen tendenziell gleichberechtigt teilnehmen, um mit Blick auf die Lösung von Sachproblemen einen tragfähigen Konsens zu finden.
11.1.3 Prozesse der Problemlösung zeichnen sich aus durch Informalisierung und Pragmatismus Neben intergouvernementalen Formen der Entscheidungsfindung sind Modi der Problemlösung zu beobachten, die sich durch ihre Informalität auszeichnen. Mitunter 226 Vgl. Ulrich Brand, Order and regulation: Global Governance as a hegemonic discourse of international politics?, Review of International Political Economy, vol. 12 (2005), 155–176, 156: „Especially at the moment in which the negative implications of the present dramatic changes become obvious, i. e. articulate themselves as crises or criticism and protest […], the general concept [of global governance] becomes important. From this point of view […], the various contributions on Global Governance are interesting even though they represent only a partial area of the search for post-Fordist compromises, its material basis, specific institutional configurations and socially accepted reference points, and have not yet provided a compact definition of the hegemonic pattern of the political.“
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gehen Impulse zur Verhaltenskoordinierung von Normen, Regeln und Standards aus, die aus einem Konsens zwischen öffentlichen und/oder privaten Akteuren jenseits bürokratischer Verfahren resultieren und in bestimmten Politikfeldern alleine aufgrund ihrer Nützlichkeit und Praktikabilität für bindend erachtet werden. MonitoringPraktiken und Evaluationen privater Akteure können jederzeit zu quasi-verbindlichen benchmarks in bestimmten Politikfeldern werden.
11.1.4 Die Regulierungsmodi differenzieren sich aus im Sinne von Verrechtlichung und Prozeduralisierung Im Kontext der fortschreitenden Supra- und Transnationalisierung hat die Vielzahl von mehr und weniger formalen Regulierungsmodi zu einer lose vernetzten internationalen Rechtsordnung mit relativer Normativität geführt, die zudem durch ständig neues soft law erweitert wird. Transnationale Akteure sind zugleich Adressaten und Mitwirkende dieser Verrechtlichung, indem sie sich einer Vielzahl neuer Verfahren zur Regulierung bzw. der Entdeckung und Sanktionierung von Normverletzungen bedienen. Diese Prozeduralisierung des transnationalen Rechts befördert gleichzeitig einen Konsens unter den Beteiligten darüber, wie Problemlösungen auch und gerade auf der Basis von soft law unternommen werden sollen, was funktional einer Evolution konstitutioneller Prinzipien im globalen Recht gleichkommt.
11.1.5 Legitimität speist sich (weniger) aus Partizipation bzw. Transparenz und (mehr) aus Funktionalität Die Modi des globalen Regierens sind eine Reaktion auf eigendynamische (ökonomische) Globalisierungsprozesse. Sie besitzen die Funktion, bestehende Regelwerke an grenzüberschreitende ökonomische und soziale Handlungszusammenhänge anzupassen und überall dort neues ‚Recht‘ zu setzen, wo Bedarf zur Verhaltenskoordinierung entsteht. In dem Maß, wie sich diese Ansätze des Regierens demokratischer Partizipation bzw. der Kontrolle von gewählten Parlamenten entziehen, steigt der Druck, Legitimation durch Problemlösungsfähigkeit bzw. effektives Regieren zu gewinnen. Tendenziell verlagert sich die Legitimation des Regierens durch partizipatorische Verfahren (Input-Legitimation) zur effektiven Bearbeitung grenzüberschreitender Probleme im Sinne „guter‘ Ergebnisse (Output-Legitimation).
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11.2 Analytik und Aussagenlogik 11.2.1 Analytik Globalisierung Vergesellschaftung Institutionen Transnationale Akteure – transnationale Konzerne – Interessenverbände – öffentlich-private Partnerschaften – Nichtregierungsorganisationen Heterarchie Mehrebenenpolitik Sachpolitik Problemlösung Regulierung Implementierung
Soft Law – Normen – Regeln – Standards Verrechtlichung – Internalisierung – Normenkontrolle – Sanktionierung Monitoring Informalisierung Prozeduralisierung Konstitutionalisierung Legitimität/Legitimation – Input-Legitimation – Output-Legitimation
11.2.2 Aussagenlogik In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders aber nach dem Ende des OstWest-Konflikts, haben viele Regierungen ihre Anstrengungen forciert, zusätzlich zu ihren Wirtschaftsbeziehungen einzelstaatliche Außenpolitiken in weiteren Politikfeldern zu koordinieren. Internationale Konferenzen zum Klimaschutz, zu Menschenrechten, zur Armutsbekämpfung, zur Drogenbekämpfung, zur Gesundheitspolitik usw. endeten mit der Proklamation ambitionierter Ziele, der Beschreibung geeigneter Maßnahmen und der Beschwörung internationaler Zusammenarbeit bei der Lösung grenzüberschreitender bzw. ‚globaler‘ Probleme. In vergleichsweise kurzer Zeit ist unterhalb des Weltwirtschaftssystems ein komplexes Arrangement von politikfeldspezifischen Regimen, Verfahren, Regierungsnetzwerken und Regeln entstanden, das die alleinige Ausrichtung diplomatischer Rationalitäten auf die Befriedigung nationaler Sicherheits- und/oder Wirtschaftsinteressen aufgebrochen hat. In diesem Kontext haben sich öffentliche und/oder private Einrichtungen mit entsprechenden Interessen an politikfeldspezifischen Problemlösungen immer stärker eingemischt und Einfluss auf intergouvernementale Entscheidungsfindungsprozesse gewonnen. Staatliche Verwaltungsbehörden, transnationale Konzerne, Interessenverbände und Nichtregierungsorganisationen (NGO) haben ihrerseits Problemeinschätzungen vorgenommen und Maßnahmenkataloge entworfen, um Fehlentwicklungen in bestimmten Sachbereichen wie z. B. dem Klimaschutz, der Ressourcenausbeutung
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oder der Gesundheitspolitik gegenzusteuern. Dabei haben solche Akteure zusehends darauf geachtet, wichtige stakeholder aus Wirtschaft und Gesellschaft frühzeitig einzubinden, um alle potenziellen Vetospieler an den Aushandlungen zu beteiligen. Die Kommunikation in offenen Verfahren scheint öffentlichen und privaten Akteuren gleichermaßen sinnvoll, um auf der Basis von Inklusion und Transparenz tragfähige Lösungsmöglichkeiten auszuloten, die später nicht Gegenstand einer etwaigen Politisierung und deswegen revidiert und angepasst werden müssen. Transnationale Gebilde dieser Art, bestehend aus Delegierten öffentlicher Verwaltungen und/oder großer Konzerne und/oder gesellschaftlicher Netzwerkorganisationen, erzeugen spezialisiertes Wissen über einzelne Probleme oder über den Zusammenhang verschiedener Probleme. Transnationale Organisationen, die mit ihrem Wissen den Sachverstand intergouvernementaler Gremien bereichern, verbessern die Inhalte politischer Entscheidungen und tragen zu mehr Effektivität und Legitimität zwischenstaatlicher Politik bei. Die Formen des Regierens innerhalb und jenseits souveräner Staaten werden vergesellschaftet und in dem Maße heterarchisch, in dem die nicht staatlichen Betroffenen intergouvernementaler Entscheidungen im Prozess der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden; sei es, dass Vertreter von Verwaltungen, Konzernen und/oder gesellschaftlichen Interessengruppen an Verhandlungen auf intergouvernementaler bzw. supranationaler Ebene mehr oder weniger gleichberechtigt teilnehmen und den Verlauf dort direkt beeinflussen können; oder sei es, dass Repräsentanten der transnationalen Gesellschaft über beratende Gremien und ohne aktives Stimmrecht eingebunden werden, aufgrund ihrer Sachkompetenz von gouvernementalen Akteuren aber nicht einfach ignoriert werden können. Dabei gehen weitreichende Impulse zur Koordinierung in Verhandlungen auf intergouvernementaler Ebene mittlerweile von Normen, Regeln und Standards aus, die aus einem Konsens zwischen öffentlichen und/oder privaten Akteuren jenseits bürokratischer Verfahren resultieren und in bestimmten Politikfeldern von den Normadressaten in der transnationalen Gesellschaft alleine aufgrund ihrer Nützlichkeit und Praktikabilität für bindend erachtet werden. So werden Statistiken, monitoring-Praktiken und Evaluationen darauf spezialisierter privater Akteure oft alleine aufgrund ihrer Veröffentlichung zu quasi-verbindlichen benchmarks in bestimmten Politikfeldern. Die grundsätzliche Akzeptanz anwendbarer Rationalitätsstandards, die jedwede Bindungswirkung von Normen, Regeln und Standards in einem so heterogenen Kontext wie dem der inter- und transnationalen Gesellschaft erst möglich macht, insofern die relevanten Akteure auf dieser Basis zwischen überzeugenden und akzeptablen bzw. unhaltbaren und inakzeptablen Positionen im Kontext von Regulierungsprozessen unterscheiden können, wird befördert durch inter- und transnationale Verrechtlichungsprozesse. Als Ausdifferenzierung des modernen Rechts, besonders des internationalen Wirtschaftsrechts, bewirkt Verrechtlichung im Raum jenseits souveräner Staaten mehr Internalisierung, Kontrolle und Sanktionierung von Normen. Die Akteure erhalten somit Kriterien für die Beurteilung der Legitimität ihrer Forderungen.
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Verrechtlichung manifestiert sich in einer Vielzahl mehr und weniger formaler Regulierungsmodi: Einigungen auf die Etablierung unabhängiger Schiedsgerichte bzw. die Einklagbarkeit von Regeln gegenüber privaten Akteuren und sogar Staaten; die Etablierung von Berichtspflichten für die Normadressaten bzw. die Mandatierung einer Institution zur Durchführung von Rechtskontrollen gegenüber Normadressaten; das Anprangern und shaming bzw. die Zulassung ausgewogener Vergeltungsmaßnahmen und Verhängung von Bußgeldern. Verrechtlichungsprozesse dieser Art konstituieren eine lose vernetzte Rechtsordnung mit relativer, d. h. vor allem politikfeldspezifischer, Normativität. Das so entstehende globale Recht wird durch neue Normsetzungen besonders im Sinne von soft law ständig erweitert, motiviert zum Rückgriff auf Verfahren zur Entdeckung und Sanktionierung von Normverletzungen und bildet damit evolutionär seine eigenen konstitutionellen Prinzipien heraus. Die Modi des globalen Regierens sind eine Reaktion auf eigendynamische, d. h. in erster Linie sozioökonomische, Globalisierungsprozesse. Sie besitzen die Funktion, bestehende Regelwerke und Verfahren an grenzüberschreitende ökonomische und soziale Handlungszusammenhänge anzupassen und überall dort neues ‚Recht‘ zu setzen, wo Bedarf zur Verhaltenskoordinierung entsteht. In dem Maß, wie sich diese Ansätze des Regierens demokratischer Partizipation durchs Volk bzw. der Kontrolle von gewählten Parlamenten entziehen, steigt der Druck auf die transnationalen Akteure, Legitimation durch Problemlösungsfähigkeit bzw. effektives Regieren zu gewinnen. Tendenziell verlagert sich die Input-Legitimation des Regierens, d. h. einem weitverbreiteten Glauben der Bürger, an politischen Entscheidungen direkt oder indirekt beteiligt zu sein, hin zur Output-Legitimation: ‚gute‘ Entscheidungen, die zur Befriedigung von Forderungen beitragen, die v. a. relevante Akteure der transnationalen Gesellschaft an die effektive Bearbeitung grenzüberschreitender Probleme stellen.
11.3 Heuristik Wie bereits erwähnt, liegt ein Schwerpunkt der Global-Governance-Forschung in einer differenzierteren Verwendung des Begriffs der ‚Institution‘. Besondere Berücksichtigung erfahren bei der Beschäftigung mit Institutionen Trends zur Supra- und Transnationalisierung politischer Entscheidungsfindung. Dabei interessiert sich die Forschung für dynamische Veränderungen institutioneller Entscheidungsverfahren mit Blick auf etwaige Ursachen sowie davon ausgehende Wirkungen auf Praktiken des Regierens. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt richtet sich auf Differenzierungen politischer Macht in ‚heterarchischen‘ Entscheidungsprozessen und im Kontext von ‚multi-level governance‘. Dabei nimmt die Forschung einerseits in den Blick, wie und warum private Akteure in die Lage versetzt werden, ihre jeweiligen Interessen, Ziele und die einzusetzenden Mittel mit Blick auf die Lösung politikfeldspezifischer Probleme zusammen mit öffentlichen Akteuren zu verhandeln; und andererseits, in-
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wiefern kollektive Handlungen öffentlicher und privater Akteure auf supra-/transnationaler Ebene Legitimität erlangen können.
11.3.1 Dynamische Institutionen und ihre Governance-Effekte 11.3.1.1 Institutioneller Wandel in der EU durch Einbettung in die WTO Die Uruguay-Runde des GATT (1986–1994) brachte im Ergebnis einen Durchbruch in Richtung Handelsliberalisierung. Die Mitgliedstaaten unterzeichneten das General Agreement on Trade and Services (GATS) und unterstellten so den Handel mit Dienstleistungen den Prinzipien der Meistbegünstigung, Transparenz, Liberalisierung und Inländerbehandlung. Sie unterzeichneten ferner das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS), mit dem das materielle Recht der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ) auf alle WTO-Mitglieder erstreckt wurde, die (noch) nicht Mitglieder der PVÜ waren (Art. 2 TRIPS). Sie einigten sich außerdem auf ein Abkommen über die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien in einem schiedsgerichtlichen Verfahren, das von wirksamen Durchsetzungsmechanismen bei Regelverletzungen gegen GATTAbkommen begleitet wird²²⁷. Sie integrierten schließlich die Bereiche Landwirtschaft und Textilien in das Güterabkommen des GATT und einigten sich auf die Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) mit einer einheitlichen Mitgliedschaft (single package) für alle Teilnehmer. Auf seiner Tagung im März 1994 beschloss der Rat der Europäischen Union (EU), die Schlussakte der Uruguay-Runde und die verschiedenen Abkommen auch im Namen der EU am 15. April 1994 in Marrakesch zu unterzeichnen. Diese Einbettung der EU in die neu gegründete WTO und die Übernahme der entsprechenden Pflichten zur fortschreitenden Liberalisierung des Handels, auch und gerade unter Rückgriff auf geregelte Verfahren der Rechtsanwendung und -durchsetzung, hat innerhalb der EU einen breiten institutionellen Wandel bewirkt und damit auch die Modi des Regierens verändert. Veränderungen in der Gesetzgebungskompetenz, in etablierten Problemlösungsstrategien und in den herrschenden Ordnungsvorstellungen haben u. a. die Routinen des europäischen Regierens verändert²²⁸. Ausgangspunkt für diese Entwicklung war ein Streit zwischen Kommission und zahlreichen EU-Mitgliedstaaten über die Kompetenzverteilung in den neuen Feldern der Handelspolitik. Die Kom-
227 Vgl. Bernhard Nagel, Wirtschaftsrecht der Europäischen Union. Eine Einführung (Baden-Baden: Nomos, 1998), 260: „Als Reaktion auf Vertragsverletzungen eines anderen Vertragsstaates dürfen Gegenmaßnahmen nur auf Grund einer Ermächtigung des Streitbeilegungsorgans ergriffen werden. Um die Sanktionen zu effektivieren, können nach dem Streitbeilegungsverfahren auch sektorenübergreifende Gegenmaßnahmen ergriffen werden (cross retaliation).“ 228 Michèle Knodt, Regieren im erweiterten Mehrebenensystem: Internationale Einbettung der EU in die WTO, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, vol. 14 (2007), 101–128, 103.
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mission ließ in das Protokoll der Uruguay Runde nämlich die Erklärung aufnehmen, dass die Schlussakte sowie die Übereinkünfte des GATS und des TRIPS in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft fallen. Die Kommission vertrat dabei den Standpunkt, dass die EU-Mitgliedstaaten bereits während der Verhandlungen grundsätzlich mit einer Stimme gesprochen hatten, deswegen müssten die Ergebnisse der Uruguay-Runde auch von der EU als ganzer angenommen werden. Die Regierungen der meisten Mitgliedstaaten argumentierten jedoch, dass zumal der Handel mit Dienstleistungen und geistigem Eigentum auch Aspekte nationaler Zuständigkeiten betreffen und daher nicht zu den ausschließlichen Kompetenzen der Gemeinschaft zählen würde. Im Streit zwischen der Kommission und den EU-Mitgliedstaaten über die Zuständigkeiten bei der rechtspolitischen Ausgestaltung dieser neuen Bereiche entschied der EuGH mit einem Gutachten im November 1994, dass die Gemeinschaft gemäß Artikel 113 EG-Vertrag allein zuständig für den Abschluss der multilateralen Handelsübereinkünfte sei, dass aber die Zuständigkeiten für den Abschluss – und damit auch der weiteren rechtspolitischen Implementierung – des GATS sowie des TRIPS zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geteilt seien²²⁹. Dieses Gutachten motivierte die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten zu einem Kompromiss, denn “[…] sie vereinbarten daraufhin 1995 auf der Grundlage des Gutachtens 1/94 einen code of conduct, der die Ausgestaltung der geteilten Kompetenzen festlegte. Er besagt, dass die Kommission in Verhandlungen über Dienstleistungen und geistiges Eigentum als alleiniger Verhandlungspartner auftreten solle, die Mitgliedstaaten aber an den Verhandlungen teilnehmen könnten.“²³⁰ In den folgenden Jahren war es v. a. die Kommission, die versuchte, diesen modus vivendi zugunsten einer Kompetenzverschiebung für die Gemeinschaft zu verändern. Bis zum Ende der 1990er-Jahre führten entsprechende Versuche aber nicht zu nennenswerten Ergebnissen. Erst angesichts neuer Rahmenbedingungen zu Beginn des neuen Jahrtausends sollte sich ein größerer Spielraum für die von der Kommission angestrebten Veränderungen öffnen, der im Resultat eine signifikante Aufwertung der Gemeinschaft in Handelsfragen mit sich brachte. Im Kern waren es zwei Sachverhalte, die neue Möglichkeiten boten: Einerseits standen in der WTO ein weiteres Mal Verhandlungen über den Dienstleistungsbereich sowie über Gesundheit und Soziales, Entwicklung und Umweltschutz auf der Agenda, andererseits liefen zwischen der EU und zahlreichen Staaten Mittel- und Osteuropas Beitrittsverhandlungen, die 2004 zu einer Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedstaaten führen sollten. Die Bedeutung des letzteren Sachverhalts lässt sich daran ersehen, dass eine weiterhin geteilte Kompetenz in wichtigen Handelsfragen zwischen der Gemeinschaft und den 25 Mitgliedstaaten nicht nur dem von der EU verlautbarten Ziel entgegenstand, die qualifizierte 229 Vgl. EuGH, Gutachten 1/94 vom 15.11.1994, I–5422 (http://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri= cellar: 3568c114-591b-4373-bb72-53523ffd70ce.0003.03/DOC_1&format=PDF, zuletzt aufgerufen am 15.08.2014). 230 Vgl. Michèle Knodt, Regieren im erweiterten Mehrebenensystem, a. a. O., 107.
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Mehrheitsentscheidung auf möglichst viele Bereiche der Unionspolitik auszudehnen, sondern auch die Gefahr einer Blockade für die EU-Handelspolitik als solche vergrößert hätte²³¹. Nach mitunter zähen Verhandlungen wurden der Gemeinschaft nun hinsichtlich der Aushandlung und des Abschlusses von Verträgen, die den Handel mit Dienstleistungen und geistigem Eigentum berühren, ausschließliche Kompetenzen zugesprochen. Ausnahmen wurden einstweilen [!] noch für solche Verträge vereinbart, die den Handel mit Dienstleistungen in den Bereichen Kultur, Film, Bildung, Gesundheit und Soziales betreffen²³². Gegenüber dem 1995 gefundenen Kompromiss, der die Kompetenzen für Handelsfragen in den Bereichen des GATS und des TRIPS noch der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zusprach, gilt seit dem 2003 in Kraft getretenen Vertrag von Nizza, dass die Gemeinschaft nun abgesehen von den erwähnten Ausnahmen ausschließliche Kompetenzen in allen Handelsfragen besitzt²³³. Aufgrund dieser Einbettung der EU in die WTO, bzw. aufgrund der sukzessiven Verlagerung von rechtspolitischen Kompetenzen in Handelsfragen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft, haben sich Auswirkungen u.a. auf bestimmte Routinen im europäischen Regieren ergeben. Interessant ist dabei hinsichtlich einer zunehmenden Verrechtlichung und Prozeduralisierung im Kontext des supra- und transnationalen Regierens die Veränderung der Kommunikationswege und Entscheidungskanäle zwischen der Kommission einerseits und Wirtschaftsakteuren auf transnationaler und nationaler Ebene andererseits. Letztere wurden durch Rechtsakte der 231 Vgl. ebda. 108. 232 Mittlerweile (Stand August 2014) haben sich die Anstrengungen zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors auch auf die vormals ausgenommenen Bereiche erstreckt. Bereits im November 2001 hatten die WTO-Mitglieder im Rahmen der Doha-Runde mit Verhandlungen über eine Liberalisierung weiterer Dienstleistungsbereiche begonnen, diese aber v. a. wegen des Widerstands aus Entwicklungsländern zu keinem Ergebnis bringen können. Seit 2012 haben sich diverse Regierungen auf Vorschlag der USA als Really Good Friends of Services zusammengetan, um außerhalb der WTO Liberalisierungsfortschritte bei Dienstleistungen zu erzielen und zu dem Zweck ein multilaterales Trade in Services Agreement (TISA) auszuhandeln. Im März 2013 erteilte der Rat der EU ein Mandat, mit dem die Europäische Kommission ermächtigt wurde, die Verhandlungen für das TISA im Namen der EU mit den Regierungen aus Australien, Chile, Costa Rica, Hong Kong, Israel, Island, Japan, Liechtenstein, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Neuseeland, Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Schweiz, Südkorea, Taiwan, Türkei und USA zu führen. Das ursprüngliche Verhandlungsangebot der Kommission (TiSA offer) beinhaltete eine Liste mit konkreten Bestimmungen für den Marktzugang von Nicht-EU-Bürgern u. a. zu folgenden Dienstleistungssektoren: Communication Services: Postal and Courier Services, Telecommunication Services; Educational Services: Primary, Secondary, Higher, Adult Education; Environmental Services: Waste Water, Solid/Hazardous Waste, Protection of Ambient Air and Climate, Protection of Biodiversity and Landscape u. a.; Health Services and Social Services: Hospital, Ambulance, Residential Health; Energy Services: Mining, Transportation of Fuels, Energy Distribution u. a. Vgl. Europäische Kommission, Schedule of Specific Commitments & List of MFN Exemptions (http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2014/july/tradoc_152689.pdf, zuletzt aufgerufen am 21.08.2014). 233 Vgl. Michèle Knodt, Regieren im erweiterten Mehrebenensystem, a. a. O., 109.
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EU an der rechtspolitischen Ausgestaltung des WTO-Handelsregimes beteiligt. Bereits im Dezember 1994 hatte die EU zu diesem Zweck eine Verordnung erlassen, mit der die Gemeinschaft Verfahren festlegte, um die Ausübung von Rechten zu gewährleisten, die im Rahmen der Welthandelsorganisation vereinbart werden und darauf abzielen, „[…] a) gegen Handelshemmnisse vorzugehen, die sich auf den Gemeinschaftsmarkt auswirken, um die dadurch verursachte Schädigung zu beseitigen; und b) gegen Handelshemmnisse vorzugehen, die sich auf den Markt eines Drittlandes auswirken, um die dadurch hervorgerufenen handelsschädigenden Auswirkungen zu beseitigen.“²³⁴ Die EU-Verordnung legt ferner fest, dass Unternehmen und/oder ihre Interessenvertreter bei der Kommission die Einleitung eines Verfahrens wegen Verletzungen gegen internationale Handelspflichten einleiten können, wenn sie handelsschädigende Auswirkungen infolge von Handelshemmnissen erlitten haben, die sich auf den Markt eines Drittlandes auswirken, und wenn nach geltenden internationalen Handelsregeln ein Recht zum Vorgehen gegen das angebliche Handelshemmnis besteht²³⁵. In der Konsequenz gewinnen Unternehmen und Wirtschaftsverbände durch den Ausbau solcher Kommunikationswege einen direkteren Zugang zu handelspolitischen Entscheidungsprozessen in der EU. Als private Akteure können sie selbst einen beträchtlichen Teil dazu beitragen, dass die EU gegenüber anderen WTO-Mitgliedern Handelsfragen politisiert und sogar das Streitbeilegungsverfahren in der WTO in Anspruch nimmt. Insofern die Kommission für Unternehmen und Verbände als direkte Anlaufstelle fungiert und sich auf entsprechende Initiativen hin beauftragen lässt, gegen diskriminierende Handelspraktiken in Drittstaaten vorzugehen, wird sie zum Scharnier für Regulierungsaktivitäten privater Akteure auf supra- und internationaler Ebene. „Die Kommission forciert diese Kommunikationswege mit enormem Aufwand, so etwa mit dem Aufbau einer Marktzugangsdatenbank. Sie hat sich damit sowohl als Ansprechpartner, Anbieter von Hilfestellung und Agent auf WTO-Ebene als auch als Informationspartner in Sachen Markthemmnisse für die europäische Wirtschaft etabliert. Sie hat es zudem geschafft, durch die Etablierung verrechtlichter und transparenter Prozeduren […] ihre Kommunikation mit der Wirtschaft auf ein legitimeres Fundament zu stellen.“²³⁶
234 Verordnung (EG) Nr. 3286/94 des Rates vom 22. Dezember 1994, Art. 1 (https://www.jurion.de/ Gesetze/ EU/31994R3286/1, zuletzt aufgerufen am 16.08.2014). 235 Vgl. ebda. Art. 4. 236 Vgl. Michèle Knodt, Regieren im erweiterten Mehrebenensystem, a. a. O., 114.
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11.3.2 Heterarchie und Mehrebenenverflechtung 11.3.2.1 Die Europäisierung der Sicherheitsgovernance Obwohl Anstrengungen zur Errichtung einer gemeinschaftlichen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bis in die 1950er-Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen, haben substanzielle Schritte auf diesem Weg erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden. Angestoßen durch die Position der US-amerikanischen Regierung, gegenüber den europäischen Verbündeten nicht mehr so hohe Investitionen in die Aufrechterhaltung ihrer Verteidigungsfähigkeiten leisten zu wollen, haben Frankreich, Deutschland und auch Großbritannien angefangen, innerhalb der NATO einen europäischen Pfeiler einzurichten, um auf europäische Sicherheitsprobleme ohne direkte Hinzuziehung der USA reagieren zu können. Die Einrichtung immer neuer sicherheitspolitischer Institutionen, angefangen mit der GASP über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitische Identität (ESVI) bzw. die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) bis hin zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist einerseits Ausdruck dieser Bemühungen und unterstreicht andererseits eine wachsende Komplexität in den Modi europäischer Sicherheitsgovernance. Mit Blick auf eine zunehmende Heterarchie liegt der interessanteste Aspekt dieser Entwicklung in der Ausdifferenzierung des policyorientierten Entscheidungsprozesses, in dem Regierungen zwar ein beträchtliches Maß an Kontrolle über die Ergebnisse behalten, in denen aber eine Reihe von Instanzen ihr Gewicht in die inhaltliche Ausrichtung etwaiger Entscheidungen einbringen²³⁷. Trotz der Verlautbarung, dass die EU in die Lage versetzt werden soll, Entscheidungen zum Einsatz militärischer Operationen autonom treffen zu können, wenn die NATO nicht involviert ist, haben die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten die Beziehungen zwischen EU und NATO stetig formalisiert. Nicht zuletzt bleibt die EU in all den Fällen auf Gerätschaften der NATO angewiesen, in denen Kampfhandlungen mit Streitkräften und einsatzfähigem militärischen Gerät notwendig werden. Ein Grund dafür liegt in der fehlenden Bereitschaft der EU-Mitglieder, ihre Ankündigungen auch in die Tat umzusetzen und ein eigenes stehendes Heer auszuheben, auf das die EU zurückgreifen könnte. Gleichermaßen herrscht Zurückhaltung dabei, die EU als erste Anlaufstelle für die Lösung sicherheitspolitischer Probleme auszuloben und damit die Prioritäten zahlreicher Mitgliedstaaten zugunsten der NATO auf die Probe zu stellen. Gleichwohl hat aber auch die eher halbherzige Stärkung eines europäischen Pfeilers in der NATO dazu geführt, dass seit dem Ende des Ost-West-Konflikts mehrere neue Machtzentren im Sicherheitsgefüge zwischen NATO und EU entstanden sind: Der Europäische Rat, der institutionelle Apparat einer GSVP und ein wie auch immer gearteter militärischer Arm der EU werden in Zukunft daran arbeiten, ein eigenes Pro237 Vgl. Mark Webber, Stuart Croft, Jolyon Howorth et al., The Governance of European Security, Review of International Studies, vol. 30 (2004), 3–26, 16.
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fil zu gewinnen und eine eigene Rolle im sicherheitspolitischen Gefüge der EU zu spielen²³⁸. Besonders die institutionelle Entwicklung der GSVP hat bereits dazu geführt, dass sich Loyalitätskonflikte zwischen den sich verzahnenden nationalen und supranationalen Ebenen der Entscheidungsfindung ergeben. Zum einen trägt die Einrichtung verschiedener Entscheidungsgremien auf der Ebene der Ständigen Vertreter in der EU dazu bei, dass sich aufgrund der mit einer Sozialisierung auf supranationaler Ebene verbundenen Konkordanz zwischen dem Ausschuss der Ständigen Vertreter, dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee beim Hohen Repräsentanten der EU, der GASP und dem Militärstab der EU ein gemeinsames diplomatisches Ethos und transeuropäische Perspektiven gegenüber der gemeinschaftlichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik herausbilden²³⁹. Es steht zu erwarten, dass die Stärkung gemeinschaftlicher Rollenvorstellungen unter Diplomaten auf europäischer Ebene mit einer Schwächung des Einflusses der Außenministerien auf nationaler Ebene einhergeht. Zum anderen wird der Einfluss der EU-Kommission zumal im Bereich des zivilen Krisenmanagements größer werden, mit entsprechenden Konsequenzen für die Implementation der Entscheidungen im Rahmen der GSVP und das Management des dazugehörigen Budgets. In Verbindung damit steht außerdem die Aufwertung des Kommissionspräsidenten und die Besetzung neuer Ämter, wie z. B. das des ständigen Präsidenten des Europäischen Rates, womit sich die institutionelle Komplexität der GSVP noch weiter erhöht und der sicherheitspolitische governanceProzess konsolidiert²⁴⁰. Für die Bereitstellung von sicherheitsrelevanten Leistungen im europäischen Kontext ist außerhalb des institutionellen Gefüges im engeren Sinn freilich noch eine Vielzahl weiterer Akteure relevant geworden, die während des Ost-West-Konflikts angesichts klarer Hierarchien und schlanker Entscheidungswege zu vernachlässigen waren. Rüstungskonzerne sind nicht mehr nur passive Auftragsempfänger von Regierungen sondern machen um ihrer eigenen Profitmaximierung willen von sich aus auf militärtechnische Entwicklungen in Bereichen aufmerksam, in denen die öffentliche Auftragsvergabe und Investitionspolitik militärische Forschung und Entwicklung anstoßen soll. Die Zahl der Think Tanks, Experten und Berater hat sich vervielfacht, parallel dazu ist auch der Einfluss der von diesen bereitgestellten Studien, Analysen und Berichte gewachsen. In dem Maß, wie offizielle Entscheidungsträger auf nationaler und supranationaler Ebene gewahr werden, dass sie es mit vielschichtigen Problemlagen zu tun haben, steigt der Wert von sachlichen Informationen aus vermeintlich seriösen Quellen. Nicht erst der Kampf gegen den Terrorismus hat dazu geführt, dass proaktives Risikomanagement eine wichtige Dimension europäischer Sicherheitspolitik darstellt, dazu gehört Aufklärung im Sinne geheimdienstlicher, 238 Vgl. ebda. 239 Vgl. ebda 17. 240 Vgl. ebda.
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innenpolitischer, polizeilicher und finanzwirtschaftlicher Aktivitäten. Informationen über Mitgliedschaften, Bewegungsprofile und Kontenbewegungen krimineller Vereinigungen lassen Geheimdienste, Verwaltungsbehörden und Banken zu wichtigen Akteuren einer Sicherheitspolitik im weiteren Sinn werden. Schließlich berühren Fragen der Konfliktnachsorge und des Wiederaufbaus von Kriegsschauplätzen die Kompetenzbereiche von Investoren, Baufirmen, Anbietern rechtlicher und medizinischer Dienstleistungen²⁴¹. Auch und gerade die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit hat sich in einem beträchtlichen Ausmaß vergesellschaftet.
11.3.2.2 Deliberation als effektive und legitime Form des Regierens Eine der Kardinalfragen in Prozessen des globalen Regierens betrifft die Qualität kollektiver Entscheidungen, gemessen an der demokratischen Legitimation ihres Zustandekommens. Viele supra- und transnationale Entscheidungsverfahren, die von den beteiligten Akteuren zwar grundsätzlich als effizient und effektiv beurteilt werden, stoßen nicht gleichermaßen auf Akzeptanz bei denen, die mit ihren Ergebnissen konfrontiert werden, ohne bei den Verhandlungen involviert gewesen zu sein. Die Unzufriedenheit hat sogar globale Ausmaße erreicht, wenn man die Anti-Globalisierungsbewegung selbst als transnationale Widerstandsbewegung betrachtet. Tatsächlich hat sich diese Spannung seit Anfang des neuen Jahrtausends noch in dem Maße verschärft, in dem viele der erreichten Problemlösungen von den Beteiligten in einem rein technischen Sinn als wirkungsvoll angesehen worden sind. Darüber ist der Umstand immer mehr in den Hintergrund getreten, dass zahlreiche Probleme von öffentlichem Interesse ethische Gesichtspunkte berühren, die mit technokratischen Lösungsansätzen immer nur unzureichend berücksichtigt werden können²⁴². In der Konsequenz bedeutet dies für viele Praktiken des globalen Regierens, dass sie Mechanismen herausbilden müssen, die zwangsläufig sehr exklusiv bleiben, was den Zugang zur Entscheidungsfindung betrifft, die aber dennoch ihre demokratische Legitimierung erhöhen, wenn sie auf Dauer gestellt werden sollen. Die WTO steht in diesem Zusammenhang exemplarisch für viele Zentren des globalen Regierens, um die sich Netze supra- und/oder transnationaler Entscheidungsprozesse herum gebildet haben; einerseits finden sich im Kontext der WTO typische strukturelle Probleme des globalen Regierens – zu nennen wären dysfunktionale Entscheidungsprozesse und fehlende Kriterien für die Bestimmung legitimer Rollen und Funktionen sowie Unklarheiten über die Adressaten, denen gegenüber die WTO verantwortlich ist; andererseits zeigt auch und gerade das System der WTO bereits Ansätze, die dortigen Problemlösungsversuche im Sinne deliberativer Verfahren zu öffnen und so die existierenden Machtasymmetrien zu verringern sowie die Definiti241 Vgl. ebda., 16. 242 Vgl. Richard Higgott & Eva Erman, Deliberative Global Governance and the Question of Legitimacy: What can we learn from the WTO?, Review of International Studies, vol. 36 (2010), 449–470, 452.
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onsmacht zur Bestimmung ‚guten‘ ökonomischen Regierens auf eine breitere Basis zu stellen. Im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen und zumal seit den Reformversuchen ab 2005 hat die WTO sogar einen beträchtlichen Grad an demokratischer Mitbestimmung erreicht, zusätzlich bietet auch ihre institutionelle Struktur diverse Möglichkeiten für einen weiteren Ausbau deliberativer Elemente²⁴³. Zuerst ein Wort zu den strukturell bedingten Legitimitätsproblemen der WTO. Es ist unstrittig, dass die Entscheidungsprozesse innerhalb des WTO-Systems traditionell von den eher intransparenten Aushandlungsprozessen der stärkeren Mitglieder geprägt worden sind – und bleiben. Die berüchtigten Green Room-Verhandlungen haben in der Vergangenheit häufig dazu geführt, dass die nicht beteiligten Regierungen aus ärmeren Ländern der Südhalbkugel die WTO als ein Klassensystem mit ungleichen Rechten wahrgenommen haben²⁴⁴. In enger Verbindung damit steht die Überlagerung der formalen Geichheit aller Mitglieder, rein rechtlich durch das Abstimmungsprinzip des one-member-one-vote geschützt, durch die faktische Ungleichheit zwischen (westlichen) Industriestaaten und (südlichen) Entwicklungsländern. Trotz der offiziell geltenden Konsensregel, die allen Teilnehmern bei legislativen Entscheidungen eigentlich gleiches Gewicht beimessen würde, sind zumal die Regierungen der USA und EU-Mitgliedstaaten in der privilegierten Position, schwächere Länder vom Agenda Setting auszuschließen und/oder deren Abstimmungsverhalten durch Beeinflussung hinter den Kulissen für die eigene Position zu gewinnen²⁴⁵. Nicht zu unterschätzen sind weiterhin die begrenzten finanziellen und epistemischen Ressourcen, die den Regierungen aus ärmeren Mitgliedstaaten ebenfalls eine Teilnahme ‚auf Augenhöhe‘ mit den Industriestaaten erschweren. Die Verhandlungen in der WTO sind stark geprägt von einer Fachsprache mit neoliberalem Tenor. Marktprinzipien wie z. B. ‚Wettbewerb‘, ‚Privatisierung‘, ‚Direktinvestitionen‘ und ‚Effizienz‘ dienen als grundsätzliche Zielorientierungen jedweder Beschlüsse. Bessere Chancen auf eine erfolgreiche Teilnahme an Verhandlungen sind für Regierungen aus Entwicklungsländern immer an die Bedingung geknüpft, ihre eigenen Interessen auf der Basis solcher abstrakten paradigmatischen Annahmen der neoliberalen Wirtschaftstheorie wahrzunehmen und zu artikulieren. Und genau darin liegt ein weiterer großer Vorteil für die Vertreter der Industriestaaten, die nicht zuletzt aufgrund ihrer
243 Vgl. ebda., 465. 244 Vgl. dazu Kent Jones, Green Room Politics and the WTO’s Crisis of Representation, Progress in Development Studies, vol. 9 (2009), 349–357. 245 Richard H. Steinberg, In the Shadow of Law or Power? Consensus-Based Bargaining and Outcomes in the GATT/WTO, International Organization, vol. 56 (2002), 339–374, 341, unterscheidet zwischen ‚bargaining in the shadow of law‘ und ‚bargaining in the shadow of power‘. Letzteres drückt sich darin aus, dass die Regierungen der wirtschaftlich stärkeren Staaten sog. side payments und/ oder coercion vornehmen, um gegenüber schwächeren Mitgliedstaaten einen formalen Konsens zu den eigenen Gunsten herzustellen. D. h. die Regierungen der ärmeren Länder werden z. B. durch Angebote eines größeren Marktzugangs für bestimmte Produkte oder durch angedrohte Marktschließungen auf die Linie der stärkeren Staaten gebracht.
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weitreichenden Vernetzung mit Banken- und Industrieverbänden ungleich größere Ressourcen in dieser Hinsicht zum Einsatz bringen können. Trotz all dieser ernst zu nehmenden Einschränkungen für eine größere Verfahrensgerechtigkeit im WTO-System, gibt es Verbesserungen, die berücksichtigt werden müssen: Regierungen der Entwicklungsländer haben seit dem WTO-Ministertreffen 2000 in Seattle Anstrengungen unternommen, die Inhalte der Verhandlungen zu beeinflussen und ihr Gewicht zu erhöhen. Sichtbarster Ausdruck dessen ist die Bildung unterschiedlich großer Koalitionen von 20, 33, 90 oder 110 Regierungen, um konkreten Vorhaben der Industriestaaten Gegengewichte in den Weg zu stellen²⁴⁶. Institutionell verankerte Machtasymmetrien lassen sich auch dadurch nicht aus der Welt schaffen, aber die Rolle vieler Regierungen aus Entwicklungsländern als potenzielle Vetospieler wurde eindeutig gestärkt. Zudem sind Länder wie z. B. China, Indien und Brasilien von den Generaldirektoren der WTO seitdem vermehrt zu Green Room-Verhandlungen eingeladen worden, was die traditionell geäußerte Kritik der Entwicklungsländer, sie würden vollständig von den Regierungen der USA und EU dominiert, etwas relativiert. Auf Initiative der Entwicklungsländer bzw. unter einem erhöhten Druck entsprechender Koalitionen öffentlicher und privater Akteure mit Loyalitäten für den Süden ist seit 2008 auch zu beobachten, dass die orthodoxe Orientierung der Verhandlungen an neoliberalen Marktprinzipien durchaus zugunsten pragmatischer und kontextsensibler Diskussionen aufgeweicht worden ist. Das heißt nicht, dass die Liberalisierung des Welthandels seitdem infrage steht. Im Gegenteil bleibt die Förderung des Freihandels auch und gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen weiterhin oberstes Gebot. Aber dass in der WTO Entwicklungen zu beobachten sind, die der Hegemonie durch die industrialisierten Staaten Grenzen setzen, und dass Regierungen aus den Entwicklungsländern in Verbindung mit Akteuren der transnationalen Gesellschaft stärker als zuvor in der Lage sind, die Diskussionen über Handelsfragen auch inhaltlich zu beeinflussen, spricht für eine Verbesserung des ‚outputs‘ dieser Verhandlungen und damit auch der Legitimationsbasis des Welthandelssystems. Nicht zuletzt steigt durch die Einmischung nicht-staatlicher Akteure auch der Druck auf die WTO, ihre Entscheidungsverfahren im Sinne größerer Transparenz und Verantwortlichkeit zu modifizieren²⁴⁷.
11.3.3 Kontrollfragen – – –
Was sind und wie bilden sich supra-/transnationale Institutionen? Was sind heterarchische Prozesse? Was sind Mehrebenenverflechtungen?
246 Vgl. Richard Higgott & Eva Erman, Deliberative Global Governance, a. a. O. 467. 247 Vgl. ebda., 470.
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– – –
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Wie und warum verrechtlichen sich supra-/transnationale Entscheidungsprozesse? Wie und warum kommt es zu einer Informalisierung von Interaktionen? Wie und warum verschiebt sich Input- zu Output-Legitimation?
12 Sozialkonstruktivismus Bereits in den Arbeiten von Stanley Hoffmann, Raymond Aron, Martin Wight und Hedley Bull spielten Ideen, Wahrnehmungen und intersubjektiv geteilte Vorstellungen eine konstitutive Rolle in den internationalen Beziehungen²⁴⁸. Zu einer theoretischen Perspektive gleichen Namens wurden konstruktivistische Überlegungen, als sich immer mehr Wissenschaftler vom rationalistischen amerikanischen mainstream distanzierten. Die konsequentesten Verfechter einer ‚reflektiven‘ Wissenschaft der IB waren Nicholas Onuf und Friedrich Kratochwil²⁴⁹ mit ihrem Versuch, die szientistische Ausrichtung der IB in ihren Wurzeln zu zerstören und die physikalistischen Prämissen der Disziplin durch solche einer sprachphilosophisch informierten Sozialtheorie zu ersetzen. Die in der amerikanischen Disziplin einflussreich gewordene Version des Sozialkonstruktivismus von Wendt fällt in wesentlichen Punkten hinter die Arbeiten dieser Autoren zurück. Da Wendts Anliegen dezidiert darin bestand, mit den etablierten IB-Theorien in einen konstruktiven Dialog über die vermeintlichen Gegebenheiten der internationalen Politik zu treten, strebte er danach, eine Mittelposition bzw. via media zwischen den sogenannten ‚radikalen‘ konstruktivistischen Theorien und den rationalistischen Theorien im szientistischen amerikanischen mainstream einzunehmen. Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, dass und warum seine modifizierte Theorie, und nicht die anspruchsvolleren Versionen u. a. von Onuf und Kratochwil, so einflussreich geworden ist. Das zentrale Thema im Wendt’schen Sozialkonstruktivismus liegt in der gegenseitigen Konstitution von Agenten und (intersubjektiven) Strukturen. Staaten haben keine stabilen Interessen und Identitäten. Die internationalen Beziehungen bilden keine gegebene anarchische Umwelt für Staaten. Interessen und Identitäten der Staaten bilden sich in Interaktionen, gleichzeitig erzeugen interagierende Staaten geteiltes Wissen um ihre Welt, das sie selbst auch wieder verändern. Die mithilfe der Theorie unternommene Beschreibung richtet sich auf typische Interaktionsmuster zwischen Staaten: Konflikt, Kooperation oder harmonische Koexistenz. Der heuristische Anspruch der Theorie liegt darin zu erklären, warum Staaten dauerhafte Verhaltensmuster an den Tag legen, oder warum Staaten ihr Verhalten ändern. Im einen Fall spielen Institutionen, im anderen Fall spielen Veränderungen der kognitiven Struktur eine entscheidende Rolle. Seine Absicht, einen Konstruktivismus zu kreieren, der für die Sichtweisen im amerikanischen mainstream anschlussfähig sein sollte, hat Wendt heftige Kritik ein248 Vgl. Raymond Aron, Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt (Frankfurt: Fischer, 1963); vgl. Martin Wight, The Balance of Power, in: Herbert Butterfield & Martin Wight (Hg.), Diplomatic Investigations: Essays in the Theory of International Politics (London: Allen & Unwin, 1966), 149–175; und vgl. Hedley Bull, The Anarchical Society, a. a. O.. 249 Vgl. Nicholas G. Onuf, World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations (Columbia: University of South Carolina Press, 1989); vgl. Friedrich V. Kratochwil, Rules, Norms, and Decisions: On the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs (Cambridge: Cambridge University Press, 1989).
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Sozialkonstruktivismus
gebracht. Anstelle einer allgemeinen Sozialtheorie der internationalen Politik habe Wendt lediglich eine sehr spezielle Sozialtheorie eines sehr speziellen Phänomens entwickelt. Sein Sozialkonstruktivismus sei eine modernistische Theorie desselben Staatensystems, mit dem sich auch die Rationalisten im amerikanischen mainstream beschäftigen – mit all den konzeptuellen Schwächen betreffend ontologische und epistemologische Prämissen²⁵⁰. Hinsichtlich der ontologischen Prämissen haben sich Kritiker an Wendts Annahme gestört, der Staat sei ein einheitlicher Akteur mit dem Status einer handlungsfähigen Person²⁵¹. In erkenntnistheoretischer Hinsicht hat sich die Kritik am versuchten, aber gescheiterten, Brückenschlag zwischen szientistischen und hermeneutischen Prämissen konzentriert, insbesondere an der Synthese von kausalen und konstitutiven Faktoren bei der Verursachung sozialen Handelns²⁵².
12.1 Prämissen 12.1.1 Die Akteure sind Staaten Die entscheidenden Akteure im internationalen System sind Staaten, die miteinander auf der Basis von Weltbildern, Erwartungen und Wertvorstellungen interagieren. Staaten interagieren gewissermaßen automatisch. Staaten treffen keine Entscheidung, ob und inwiefern sie mit anderen Staaten interagieren. Staaten sind nicht per se rational und haben auch keine fest gefügten Identitäten und Interessen. Die Identitäten und Interessen der Staaten ergeben sich vielmehr aus ihren Interaktionen und gegenseitigen Wahrnehmungen.
12.1.2 Identitäten und Interessen resultieren aus dem Interaktionsprozess Interagierende Staaten senden durch ihre Handlungen Signale aus, während sie selbst die Signale interpretieren, die andere Staaten durch ihre jeweiligen Handlungen außenden. Signale werden von interagierenden Staaten als feindlich, indifferent, oder freundlich interpretiert. Abhängig von der gegenseitigen Wahrnehmung definieren Staaten ihr ‚Selbst‘. Entweder definieren sie sich als ‚Feinde‘, als indifferente ‚Rivalen‘, oder als ‚Freunde‘. Je nach Rollen- und Selbstverständnis entwickeln Staaten schließlich Interessen an Selbstverteidigung, Kooperation oder harmonischer Koexistenz.
250 Vgl. David Campbell, International Engagements: The Politics of North American International Relations Theory, Political Theory, vol. 29 (2001), 432–448, 441. 251 Vgl. Colin Wight, State Agency: Social Action without Human Activity, Review of International Studies, vol. 30 (2004), 269–280, besonders 273–279. 252 Vgl. Steve Smith, Wendt’s World, Review of International Studies, vol. 26 (2000), 151–163, 158–160.
Prämissen
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12.1.3 Interaktionen münden in Institutionen Je nachdem, wie Staaten sich wahrnehmen, welche Selbst- und Rollenverständnisse sie entwickeln und welche Interessen sie formulieren, verteidigen sie sich gegen Feinde, kooperieren mit Rivalen, oder stehen in harmonischen Beziehungen mit Freunden. Wiederholte Interaktionen auf der Basis solcher Selbst- und Rollenverständnisse stabilisieren Identitäten und Interessen, erzeugen gegenseitige Verhaltenserwartungen (Normen) und fördern reziproke Verhaltensweisen. Staaten bilden somit soziale Institutionen der Selbsthilfe, der Kooperation, oder der harmonischen Koexistenz aus.
12.1.4 Die Struktur des Systems besteht aus intersubjektiv geteiltem Wissen Die Institutionalisierung von typischen Verhaltensweisen geht einher mit einer Verfestigung der von Staaten geteilten Vorstellungen darüber wer sie sind, welche Rolle/n sie spielen und welche Verhaltensweisen gegenüber anderen Staaten angemessen sind. Geteilte und nicht mehr hinterfragte Wirklichkeitsvorstellungen verdichten sich zu einer sozialen Struktur. Der strukturelle Einfluss geteilter Vorstellungen und Erwartungen manifestiert sich darin, dass Staaten immer wieder die gleichen Interessen definieren und die gleichen Handlungsweisen an den Tag legen. Als Struktur reproduzieren geteilte Vorstellungen die eingeübte Interaktionslogik – allerdings nur solange, bis Staaten die geteilten Vorstellungen hinterfragen und neue entwickeln.
12.1.5 Das internationale System unterliegt einem Transformationsprozess Die sozialen Institutionen und Strukturen des internationalen Systems verändern sich, wenn sich Interaktionsmuster aufgrund eines Wandels der vorherrschenden Identitäten und Interessen zwischen Staaten ändern. Staaten ändern ihre Identitäten und Interessen unter dem Einfluss neuer Verhaltenserwartungen und/oder aufgrund evolutionär bedingter Lernprozesse und/oder in der Folge einer kritischen Hinterfragung ihres ‚Selbst‘. Das internationale System bleibt, wie es ist, solange Staaten die bestehende/n Interaktionslogik/en plus die darauf gegründeten Institutionen und Strukturen nicht hinterfragen. Das System ist immer das, wozu Staaten es machen.
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Sozialkonstruktivismus
12.2 Analytik und Aussagenlogik 12.2.1 Analytik Staaten Interaktionen Signale Interpretation/Wahrnehmung Alter/Ego Identität – Feind – Rivale – Freund Situationsdefinition Selbst-/Rollenverständnis Interessen Handlungen – Verteidigung – Kooperation – Harmonie
Routinen/Gewohnheiten Soziale Institutionen – Selbsthilfe – Egoistische Kooperation – Organisierte Kooperation Institutionalisierung Normen/Regeln Internalisierung Sozialisierung Soziale Struktur – Intersubjektive Vorstellungen Strukturwandel – Neue Verhaltenserwartungen – Lernen i.S. kognitiver Evolution – Hinterfragung des ‚Selbst‘ Macht als Kontrolle von Identität
12.2.2 Aussagenlogik Die Hauptakteure der (internationalen) Politik sind Staaten. Staaten interagieren miteinander und senden über ihre Aktionen und Reaktionen Signale aus, die von anderen Staaten interpretiert werden. Staaten entwickeln dabei Vorstellungen davon, wer ihre Interaktionspartner sind und was sie wollen. Die Wahrnehmung der Interaktionspartner bewirkt, dass Staaten auch sich bzw. ihr ‚Selbst‘ in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Staaten gewinnen aus der Interaktion mit anderen Staaten eine Vorstellung von der konkreten Situation, wer sie sind und was sie wollen²⁵³. Staaten entwickeln ihre Identität (ihr Selbst) in der Begegnung mit und durch die Wahrnehmung von anderen Staaten. Staaten können andere Staaten als Feinde, als Rivalen bzw. Konkurrenten, oder als Freunde wahrnehmen. Je nach Wahrnehmung eines anderen Staates (alter) verstehen sie sich selbst (ego) in der jeweiligen Interaktion als feindlich gesinnt, als wettbewerbsorientiert, oder als freundlich. Abhängig davon, wie sie sich gegenüber anderen Staaten verstehen und welche Rolle sie sich in der Interaktion mit diesen Staaten zuschreiben, entwickeln Staaten Interessen hinsichtlich defensiver, kooperativer, oder harmonischer Verhaltensweisen. Der weitere Interakti-
253 Vgl. Alexander Wendt, Social Theory, a. a. O., 329–330.
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onsverlauf auf der Basis bestimmter Identitäten und Interessen führt zur Herausbildung von Institutionen, bestehend aus Routinen und Gewohnheiten, die wiederum Verhaltenserwartungen (Normen) und Regeln hervorbringen²⁵⁴. Staaten institutionalisieren in ihren Interaktionen Verhaltensweisen wie z. B. Selbsthilfe/Verteidigung, wenn und insofern sie die Normen und Regeln dieser Institution internalisieren und ihr gegenseitiges Verhalten von diesen Normen und Regeln leiten lassen. Je stärker Staaten diese Normen und Regeln internalisieren, desto konsequenter orientieren sich Staaten an diesen Normen und Regeln, und desto größer wird der strukturelle Einfluss von Wirklichkeitsvorstellungen und Verhaltenserwartungen auf Interaktionspartner. Die von Staaten während eines Interaktionsverlaufes erzeugten Wahrnehmungen, Wirklichkeitsvorstellungen, Normen und Rollenverständnisse wirken auf Staaten zurück, indem sie Sozialisierungswirkungen entfachen und bestimmte Handlungsoptionen als angemessen, andere als unangemessen erscheinen lassen. Geteiltes Wissen um die Situation und die für diese Situation angemessenen Verhaltensweisen verdichten sich allmählich zu einem intersubjektiv geteilten Wissen von der Wirklichkeit. Dieses Wissen kann Staaten darin bestärken, eingeübte Verhaltensmuster aufrechtzuerhalten und andere gar nicht erst zu entwickeln. Intersubjektiv geteiltes Wissen – und nicht eine materiell gegebene Wirklichkeit – wirkt wie eine soziale Struktur, indem es dazu beiträgt, dass Staaten nicht nur bestimmte Verhaltensweisen reproduzieren, sondern auch ihre Wahrnehmungen und Rollenverständnisse beibehalten²⁵⁵. Ein intersubjektiv geteiltes Bild der Wirklichkeit, das selbst aus Interaktion heraus entstanden ist, kann somit den Ausschlag dafür geben, dass sich an der eingeübten Interaktionslogik nichts ändert. Geteilte Vorstellungen beschreiben außerdem Wege (legen ‚Pfade‘), über die sich alle neuen Ideen und Vorstellungen entwickeln²⁵⁶. Alle neuen Vorstellungen und Erwartungen sind damit rückgebunden an bzw. ergeben sich aus früheren intersubjektive/n Strukturen. Trotz einer ihr innewohnenden Trägheit, kann die soziale Welt der internationalen Beziehungen durch eine Veränderung der Interaktionsmuster, der Identitäten, der Interessen, der sozialen Institutionen und Strukturen verändert werden. Die Transformation des internationalen Systems geschieht über einen Strukturwandel, der sich – idealtypisch gesprochen – in drei verschiedenen Modi vollziehen kann: 1) in einem Wandel der normativen Sicht-
254 Vgl. ebda, 96: „Institutions are made of norms and rules, which are ideational phenomena […].“ 255 Alexander Wendt, ebda. 139–190, differenziert zwischen einer interaktionsspezifischen MikroStruktur, bestehend aus geteiltem Wissen zwischen einer überschaubaren Gruppe von interagierenden Staaten, und einer systemischen Makro-Struktur, einem geteilten Wissen auf der Seite vieler/ aller Staaten um fundamentale Parameter der internationalen Beziehungen. Die Makro-Struktur ist eine Art ‚Kultur‘ und (supervenes) ‚kommt‘ zur Mikro-Struktur ‚hinzu‘. Ob und inwiefern beide Strukturbegriffe miteinander zusammenhängen, wird in Wendts Social Theory, a. a. O., m. E. nirgendwo so recht klar. 256 Vgl. ebda., 340.
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Sozialkonstruktivismus
weisen; 2) in kognitiv bedingtem Lernen; oder 3) in einer kritischen Hinterfragung der eigenen Identität und der Aufgabe des bisherigen Rollenverständnisses. Der Wandel der normativen Sichtweisen²⁵⁷ geschieht a) über die Festlegung einer allseits gewünschten Verhaltenserwartung (Norm); b) über Internalisierung der Norm; und c) über Sozialisation und damit beförderte Lerneffekte. Im 17. Jahrhundert veranlasste die Erfahrung mit den Religionskriegen die mächtigsten Fürsten des internationalen Systems dazu, die bisherige Organisationsform politischer Beziehungen zu überdenken. Konflikte zwischen Fürsten waren aufgrund konfessioneller Streitigkeiten immer zahlreicher und heftiger geworden, als sich Fürsten dem Schutz ‚ihrer‘ Religionsgemeinschaften auch und gerade im Gebiet anderer Fürsten verpflichtet sahen. Die Streitigkeiten gipfelten im Dreißigjährigen Krieg. Aufgrund der damit verbundenen Zerstörungen, reifte unter Fürsten die Einsicht, dass es sinnvoll, nützlich und deswegen wünschenswert sei, Souveränität nicht mehr als status-gebundene Prärogative des Fürsten, sondern als territorial definiertes Eigentumsrecht zu definieren, basierend auf der Verhaltenserwartung, dass alle Fürsten zum eigenen Vorteil darauf verzichteten, ‚ihre‘ Religionsgemeinschaften außerhalb des eigenen staatlichen Territoriums zu beschützen – vorausgesetzt, die Freiheit der Religionsausübung werde in den Territorien anderer Fürsten garantiert. Genau in dem Maß, wie die beteiligten Fürsten die neue Norm der Souveränität internalisierten und das Bezugsobjekt von Souveränität nicht mehr mit dem Status des Fürsten, sondern mit dem territorial verfassten Staat identifizierten, veranlasste der zunehmende Respekt gegenüber dem territorial verfassten Staat ein Abrücken von der Praxis religiös motivierter Intervention. Die davon ausgehende Sozialisierungswirkung zeigte sich in einer größeren Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf gegenseitigen Respekt gegenüber der neuen Norm der Souveränität zu verlassen und von Intervention, militärischer Abschreckung und/ oder Verteidigung abzurücken. Kognitiv bedingtes Lernen muss nicht normativ, sondern kann auch evolutionär bedingt sein²⁵⁸. Intersubjektives Wissen, bestehend aus gemeinsamen Wirklichkeitsvorstellungen zwischen Staaten, entsteht in einem Interaktionsprozess. Staaten senden – intendiert oder nicht intendiert – Signale aus. Über Zeit kann sich sowohl die Art der Signale, als auch die Art der Wahrnehmung dieser Signale ändern. Eine Neueinschätzung von interaktionsspezifischen Signalen kann unter Umständen zu einer Veränderung bisheriger Vorstellungen, Selbsteinschätzungen, Rollendefinitionen, Interessen und Verhaltensweisen führen. Abhängig davon, ob und inwiefern sich neue Selbsteinschätzungen und Rollenverständnisse im Interaktionsprozess manifestieren, kommt es zu einer neuen Wirklichkeitsvorstellung zwischen den Interaktionspartnern. Die Internalisierung neuer Wirklichkeitsvorstellungen, sei es z. B. ein
257 Vgl. Alexander Wendt, Anarchy is What States Make of It: The Social Construction of Power Politics, International Organization, vol. 46 (1992), 391–425, 412–415. 258 Vgl. ebda., 415–418.
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Bild von territorial definierter Souveränität unter vielen Staaten²⁵⁹, oder sei es einfach nur ein positiveres Bild vom Nachbarstaat auf der Seite eines oder zweier Staaten²⁶⁰, stabilisiert die neue Einschätzung des ‚Selbst‘ und des ‚Anderen‘. Neue Rollenverständnisse, die aus der gegenseitigen Wahrnehmung der Akteure erwachsen, die also gerade nicht aus dem Vorhandensein materieller Zwänge herrühren oder durch Belohnungen (Gewinne) bedingt sind, institutionalisieren sich und lösen bisherige Institutionen ab. Im Prozess können bis dato feindliche Akteure zu egoistischen Akteuren werden, die schließlich sogar Mittel und Wege finden, um zum gegenseitigen Vorteil zu kooperieren. Kognitiv bedingtes Lernen beschreibt einen Prozess, in dem Akteure Signale anders deuten, ihre Wahrnehmungen und Identitäten ändern und schließlich ihre Interessen neu ausrichten. In einem evolutionären Prozess rücken Staaten allmählich von verteidigungspolitischen Maßnahmen ab und verfolgen aufgrund neuer Wahrnehmungen anderer Staaten kooperative Maßnahmen, um durch gemeinsame Handlungen einen größeren Nutzen für sich zu erreichen. Der entscheidende Grund dieser Veränderung von Identitäten und Interessen liegt im Lernen bzw. in einem veränderten intersubjektiv geteilten Wissen der Akteure. Die kritische Hinterfragung der eigenen Identität bzw. die Aufgabe des bisherigen Selbst- und Rollenverständnisses geschieht willentlich und strategisch²⁶¹. Wenn Staaten Gründe dafür erkennen, ihre Rolle gegenüber anderen Staaten zu überdenken, wenn sie zudem davon ausgehen können, dass die Kosten einer solchen Rollenänderung nicht die möglichen Gewinne übersteigen, dann ist es wahrscheinlich, dass Staaten damit beginnen, sich und ihre bisherige Rolle kritisch zu hinterfragen. Dabei sind drei Phasen zu beobachten: a) ein allmähliches Abrücken eines Staates von bisherigen Selbst- und Rollenverständnissen; b) eine gezielte kritische Überprüfung aller Ideen und Überzeugungen, die den alten Wirklichkeitsvorstellungen zugrunde lagen; c) eine veränderte Selbst- und Außendarstellung als Beginn einer neuen Praxis. In der ersten Phase werden die fundamentalen Annahmen betreffend die eigene Identität in Zweifel gezogen. Staaten beginnen damit, sich in ihrer bisherigen Rolle zu hinterfragen, sei es aus ökonomischen Gründen, etwa weil die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Staaten sinkt, sei es aus ideologischen Gründen, etwa weil die offizielle Sichtweise des Staates und der Staatsaufgaben brüchig wird, oder sei es aus legitimatorischen Gründen, etwa weil der Rückhalt in der Bevölkerung und damit die Legitimität für die Regierungsposition abhanden gekommen ist. Alle diese Gründe können eine Regierung dazu veranlassen, ihre Rolle in den internationalen Beziehungen zu überdenken. Die Auflösung des bisherigen Rollenverständnisses mündet in eine zweite Phase der gezielten kritischen Überprüfung alter Vorstellungen von sich und anderen. Ideen und Weltbilder werden nicht mehr als selbstverständlich betrachtet, sondern hinterfragt. Diese kritische Überprüfung alter Vorstellungen mün259 Das wäre auf der systemischen Ebene bzw. der Ebene der ‚Kultur‘. 260 Das wäre auf der interaktionistischen Ebene bzw. der Ebene einer konkreten sozialen Beziehung. 261 Vgl. ebda., 418–422.
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det in eine Identifikation mit neuen Selbst- und Rollenverständnissen. Schließlich wird in einer dritten Phase die neue Identität zur Grundlage von außenpolitischen Handlungen gemacht. Das Ziel besteht zunächst darin, die Vorstellungen anderer Staaten zu verändern. Ohne ein Umdenken auf der Seite anderer Staaten bleiben deren Handlungen unbeeinflusst. Ein hilfreiches Mittel, um andere Staaten zu veranlassen, auch ihre Identität und Rolle zu überdenken, ist die Taktik des altercasting: Ein Staat präsentiert sich selbst in einer Weise, die es einem anderen Staat nahelegt, sich seinerseits eine neue Rolle zuzuschreiben. Im altercasting wird der andere Staat so behandelt, als ob er schon eine neue Identität entwickelt hätte. Der andere Staat wird durch eigene Handlungen dazu gebracht, sich selbst neu zu definieren. Macht manifestiert sich im Kontext interagierender Staaten als die Fähigkeit eines Staates, andere Staaten zu einer Änderung ihrer Situationseinschätzung und Wirklichkeitsvorstellung zu veranlassen, die der eigenen entspricht bzw. nahekommt. Umgekehrt drückt sich Macht in der Fähigkeit aus, eine von anderen Staaten akzeptierte neue Norm und/oder die von einem anderen Staat im Zuge des altercasting unternommenen Versuche der veränderten Selbstdarstellung zu ignorieren und das eigene Rollen- und Weltverständnis aufrechtzuerhalten²⁶².
12.3 Heuristik Im Fokus des Sozialkonstruktivismus stehen einerseits Veränderungen in den Interaktionsprozessen zwischen Staaten und andererseits Veränderungen der Struktur des internationalen Systems. Zentral für das konstruktivistische Verständnis der internationalen Beziehungen ist die Rolle von Wahrnehmungen, Ideen/Vorstellungen und Normen in Interaktionsprozessen. Die Grundannahmen der Theorie strukturieren auch hier den relevanten Wirklichkeitsausschnitt vor. Die Theorie hilft bei der Beschreibung, wie sich Staaten zueinander verhalten. Dies geschieht unter Rückgriff auf die Kategorien des Konflikts, des gewinnorientierten Wettbewerbs und der (freundschaftlichen) Kooperation. Die Theorie vermag zum einen mit Verweis auf die Rolle von interaktionsspezifischen Wahrnehmungen, Identitäten, Interessen und Institutionen zu erklären, warum Staaten sich über einen längeren Zeitraum an Normen und Regeln orientieren. Der Anspruch der Theorie liegt zum anderen darin, herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen Staaten ihre Verhaltensweisen und Interaktionsprozesse verändern. Ein wichtiges Thema der Theorie ist die gegenseitige Konstitution von Agenten und (intersubjektiven) Strukturen. Demzufolge wird interessant, wann und unter welchen Bedingungen die internationalen Beziehungen einen Strukturwandel erfahren und welche Auswirkungen ein solcher Strukturwandel auf Staaten und ihre Interaktionen hat. Die Erklärung für die kontinuierliche Zu-
262 Vgl. ebda., 331.
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rückhaltung vieler Staaten gegenüber einem Einsatz nuklearer Waffen ist ein Beispiel für die Heuristik der Theorie hinsichtlich des Phänomens der Institutionalisierung auf der Basis von norm- und regelgeleiteten Interaktionen. Die Erklärungen für die Abkehr von interventionistischen Praktiken im internationalen System während des 17. Jahrhunderts einerseits und die von Gorbatschow betriebene Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik während der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre andererseits sind anschauliche Beispiele für die Heuristik der Theorie angesichts von Veränderungen im zwischenstaatlichen Verhalten aufgrund strukturellen Wandels.
12.3.1 Institutionalisierung und die Logik der Angemessenheit 12.3.1.1 Die Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz nuklearer Waffen Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die USA im Kampf gegen Japan zwei Mal Atombomben ein. Der Einsatz dieser Waffen war mit Blick auf die Militärtechnik und die damit verbundene Zerstörungswirkung revolutionär. Strategisch betrachtet brachte der Einsatz dieser Atombomben jedoch keine Veränderung. Die Verwendung nuklearer Waffen stellte lediglich ein effektiveres Mittel dar, als der Einsatz konventioneller Bomben. Das damit verfolgte Ziel bestand weiterhin in der numerischen Dezimierung des Gegners²⁶³. Aus Sicht der USA hatte der Einsatz der beiden Atombomen auf Hiroshima bzw. Nagasaki die Art der Kriegführung nicht verändert. Zum einen wurde der Einsatz mit konventionellen Bomben auch danach fortgesetzt. Zum anderen wurden Überlegungen angestellt, gegen Ende August 1945 eine dritte Atombombe auf Japan abzuwerfen, sollte Japan bis dahin nicht kapituliert haben. Moralische Skrupel auf der Seite des amerikanischen Präsidenten (Truman) wurden überlagert von militärstrategischen und taktischen Einschätzungen hinsichtlich der Effektivität und Nützlichkeit atomarer Waffen. Während des Zweiten Weltkriegs, gegen Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelte sich kein übergreifender Konsens über den Status von Nuklearwaffen, der die bereits erwähnte militärstrategische Einschätzung hinsichtlich ihrer Nützlichkeit modifizieren oder ersetzen konnte. Ein entscheidender Schritt hin zu einer neuen Bewertung des Einsatzes von Atomwaffen war verbunden mit der Rüstungsentwicklung auf der Seite der Sowjetunion. Die Herstellung von thermonuklearen Sprengköpfen und anspruchsvollen Trägersystemen durch die Sowjetunion führte während der 1950er-Jahre zur Einsicht auf der Seite der USA, dass strategische Nuklearwaffen für die Kriegsführung keinen sinnvollen Zweck mehr hätten – die Zweckmäßigkeit taktischer Nuklearwaffen wurde jedoch vom politischen Establishment (noch) nicht bezweifelt.
263 Vgl. Richard Price & Nina Tannenwald, Norms and Deterrence: The Chemical and Nuclear Weapons Taboos, in: P. Katzenstein (Hg.), The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics (New York: Columbia University Press, 1996), 114–152, 135.
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Zeitgleich verbreitete sich in der amerikanischen Bevölkerung die Meinung, dass der atomare Erstschlag aufgrund der enormen Zerstörungswirkung aus moralischen Gründen abzulehnen sei. Auf internationaler Ebene fand der noch unter der Präsidentschaft von Truman forcierte ‚Baruch-Plan‘ Zustimmung, der aus den gleichen Gründen vorsah, die Entwicklung atomarer Waffen unter die Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen. Beide Entwicklungen förderten die Herausbildung entsprechender Erwartungen an eine Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz nuklearer Waffen. Manifest wurden diese Erwartungen zum ersten Mal im Frühjahr 1953 während des Korea-Kriegs, als sich die Entscheidungsträger im US-amerikanischen Establishment bei ihrer Diskussion über den Einsatz taktischer Nuklearwaffen mit dem sich entwickelnden nuklearen Tabu konfrontiert sahen. Der Einsatz von Nuklearwaffen hätte aufgrund der damit erreichten Zerstörung große Wirkung auf die Gegner gehabt und den Kriegsverlauf wie schon während des Zweiten Weltkriegs entscheidend beeinflussen können. Gegen einen Einsatz sprach zu dem Zeitpunkt jedoch die dezidiert ablehnende Haltung in der amerikanischen Bevölkerung. Verstärkt wurde diese Rücksicht auf moralische Bedenken durch die sich in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion entwickelnde Identität der USA. Als eine ‚moralisch gute‘ Macht, die sich selbst um eine Kontrolle nuklearer Waffen bemühte, und die auch traditionelle Grundsätze des Kriegsrechts, v. a. die Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie die Schonung von Nicht-Kombattanten achtete, hatte die USA aufgrund der Erwartungen aus dem In- und Ausland keinen Handlungsspielraum mehr für den Einsatz taktischer Nuklearwaffen, die seit den späten 1940er- Jahren ein zentrales Element der Militärstrategie gewesen waren²⁶⁴. Auf multilateraler Ebene war zu beobachten, dass die USA und ihre Verbündeten in der NATO von den ursprünglich angestellten Plänen eines frühzeitigen Ersteinsatzes nuklearer Waffen abrückten. Stattdessen einigten sie sich auf die strategische Position, Atomwaffen als Zweitschlagswaffen zu gebrauchen. Im Verhältnis zwischen der USA und der Sowjetunion konnte während der 1950er-Jahre nicht von einer gemeinsamen normativen Verpflichtung ausgegangen werden. Der Zwischenfall während der Kuba-Krise, d. h. die beiderseitige Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz nuklearer Waffen auf dem Höhepunkt der Krise, suggeriert jedoch, dass beide Seiten spätestens ab diesem Zeitpunkt implizit von dem Gebot ausgingen, sich des Einsatzes von Nuklearwaffen zu enthalten. Dafür spricht, dass sich die USA und die Sowjetunion in der Folge darum bemühten, die gegenseitige Abschreckung durch eine Reihe von Rüstungskontrollverträgen zu stabilisieren. Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang auch der Umstand, dass die Nuklearstaaten und die Nicht-Nuklearstaaten durch die im Nichtverbreitungsvertrag von 1968 festgeschriebenen Pflichten gemeinsame Wirklichkeitsvorstellungen und Erwartungen an eine Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz von Atomwaffen zum Ausdruck brachten und stabilisierten.
264 Vgl. ebda., 139.
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Die Norm hinsichtlich einer zunehmenden Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz von nuklearen Waffen lässt sich insgesamt darauf zurückführen, dass sich zwischen den Supermächten einerseits und zwischen Atommächten und Nicht-Nuklearstaaten andererseits starke Erwartungen hinsichtlich eines Nichteinsatzes nuklearer Waffen entwickelten, die sich im weiteren Interaktionsverlauf auf bilateraler und multilateraler Ebene institutionalisierten²⁶⁵. Der Sachverhalt, dass nach dem atomaren Ersteinsatz durch die USA anno 1945 kein Staat mehr auf Nuklearwaffen zurückgriff, dass die Staaten der Welt sich vielmehr in Zurückhaltung übten, hat mit der allmählichen Entstehung und Stabilisierung normativer Erwartungen und den davon ausgehenden Wirkungen auf die Staaten zu tun. Der Effekt dieser Entwicklung lag darin, dass Staaten wie vor allem die USA und die Sowjetunion die ihnen zur gegenseitigen Abschreckung zur Verfügung stehenden Mittel und Strategien zunehmend im Licht dieser Norm beurteilten. Natürlich hatten beide Staaten neben Nuklearwaffen noch andere Mittel zur Verteidigung. Deswegen waren sie nicht auf Nuklearwaffen angewiesen. Aus konstruktivistischer Perspektive ist jedoch wichtig, dass beide Supermächte sich um Alternativen gar nicht erst gekümmert hätten, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen aufgrund der angesprochenen Erwartungen nicht so kontrovers gewesen wäre. Kontrafaktisch könnte man argumentieren, dass die USA den Vietnam-Krieg nicht mithilfe konventioneller Waffen geführt hätte²⁶⁶, wenn sie diesen Krieg durch den Einsatz von Nuklearwaffen schneller und zu ihren Gunsten hätte entscheiden können. Starke Erwartungen hatten jedoch eine Enthaltung dieser Waffen nahegelegt und die USA zur Suche nach Alternativen gezwungen. Gleichermaßen ließe sich behaupten, die Sowjetunion hätte ihren Afghanistan-Feldzug schneller und für sich entscheiden können, wenn sie nicht ebenfalls mit starken Erwartungen hinsichtlich des Nichteinsatzes solcher Waffen konfrontiert worden wäre. Ganz ähnlich gelagert waren die Kriege zwischen Israel und Ägypten und zwischen Großbritannien und Argentinien um die Falklands²⁶⁷. Der Grund, warum alle diese Staaten auf einen Einsatz von Nuklearwaffen gegen Gegner verzichteten, die nicht mit gleichen Waffen zurückschlagen konnten, lag darin, dass es aufgrund entsprechender Erwartungen ‚normal‘ war, Kriege mit konventionellen Mitteln zu führen. In diesem Kontext und vor dem Hintergrund normativer Gesichtspunkte verhielten sich die genannten Staaten angemessen, auch wenn sie damit nicht erfolgreich waren.
265 Vgl. ebda., 143. 266 Die Verbreitung großer Mengen von Agent Orange, einem Pflanzenschutzmittel, über riesige Waldflächen, in denen Streitkräfte des Viet Kong vermutet wurden, ist in dem Zusammenhang allerdings ein Grenzfall. 267 Vgl. ebda., 150.
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12.3.2 Strukturwandel und Veränderungen der Interaktionsmuster 12.3.2.1 Der Strukturwandel im 17. Jahrhundert: ‚Souveränität‘ Struktureller Wandel vollzieht sich über eine Veränderung der Wirklichkeitsvorstellungen und Rollenverständnisse bei vielen oder sogar allen relevanten Akteuren der internationalen Beziehungen. Bei einer mikroskopischen Betrachtung interessiert, ob z. B. die Sowjetunion und die USA ihre konfliktiven, oder ob Deutschland und Frankreich ihre wettbewerbsorientierten Verhaltensmuster aufgeben. Die Erklärung dieses Sachverhalts konzentriert sich auf einen Wandel der Identität auf der Seite von situationsspezifisch interagierenden Akteuren. Bei einer makroskopischen Betrachtung der internationalen Beziehungen, d. h. bei einer Analyse der übergreifenden Prozesse im internationalen System, genügt es nicht, herauszufinden, ob und inwiefern zwei oder drei Interaktionspartner ihre Identitäten und damit ihre Interaktionsmuster verändern. Bei einer makroskopischen Betrachtung ist die entscheidende Frage, ob und inwiefern viele/alle entscheidenden Akteure der internationalen Beziehungen ihre Wirklichkeitsvorstellungen und ihre Identitäten allmählich so fundamental verändern, dass sie sich als Teilnehmer eines Systems mit grundsätzlich neuen Weltanschauungen, Selbstverständnissen, Interaktionsmustern, Normen und Rollenverständnissen, d. h. einer völlig neuen ‚Kultur‘ verstehen. Das heuristische Problem einer makroskopischen Analyse besteht darin, eine Erklärung dafür zu finden, wie und warum sich in den internationalen Beziehungen auf der systemischen Ebene kollektive Identitäten bilden/verändern. Historisch gesehen, war die anno 1648 beschlossene und in der darauf folgenden Praxis vollzogene Einrichtung moderner Staatlichkeit auf der Basis territorial verstandener Souveränität ein markanter Wendepunkt in der Geschichte des internationalen Systems. Bis dato herrschte eine Kultur der ‚Feindschaft‘, insofern das herrschende Selbstverständnis vieler/aller Akteure auf eine Sichtweise gebaut war, in der die jeweils anderen Akteure bedrohlich erschienen. Das heißt, nahezu alle wichtigen Akteure gingen wie selbstverständlich davon aus, dass ihnen von den anderen Akteuren kein Respekt entgegengebracht wurde. Die große Mehrzahl der Könige, Fürsten, Herzöge und Grafen verneinte sich untereinander, zumal aus konfessionellen Gründen, den Respekt qua Position und das dazugehörige Recht auf Wahrung ihrer Autonomie. Das bedeutete auch, dass diese Akteure von den jeweils anderen keine Selbstbeschränkung in der Anwendung von Gewalt erwarteten und sich selbst den Einsatz von Gewalt zum eigenen Schutz jederzeit vorbehielten. Alle unterstellten sich feindliche und aggressive Absichten, die ihrer Natur nach einen unbegrenzten Einsatz von Gewalt mit sich bringen mussten. Zwar wurde bereits im Augsburger Religionsfrieden von 1555 das Prinzip des cuius regio, eius religio festgeschrieben, aber in der Praxis der Akteure entfaltete es keinerlei Wirkung. Im Gegenteil mündete die tief verwurzelte und oft auch konfessionell bedingte Intoleranz der Amtsträger direkt in den Dreißigjährigen Krieg, der aufgrund fehlender Selbstbeschränkung unter den Akteuren ein nicht gekanntes Ausmaß an Zerstörung mit sich brachte. Genau dieses Ausmaß an
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Zerstörung führte freilich allen Beteiligten vor Augen, dass ihre Sichtweisen und Interaktionsmuster eine Gefahr für das System und damit in letzter Konsequenz selbstzerstörerisch gewesen waren. Der Friedensschluss von Osnabrück und Münster anno 1648, der sogenannte ‚Westfälische Frieden‘, ist deshalb so epochal, weil die Akteure sich auf ein neues Selbstverständnis einigten, was es denn heißt, souverän zu sein. Anstelle Souveränität als Qualität des Amtsinhabers zu verstehen und als Institut im Sinne absoluter Fürstenherrschaft zu interpretieren, überwog nun die Einsicht, dass es für das Schicksal aller Beteiligten besser wäre, Souveränität weniger in einem personalen als vielmehr in einem räumlichen und territorialen Sinn zu verstehen. Nicht mehr der Fürst, sondern sein Territorium war souverän; nicht mehr absolute Herrschaft, sondern ein Recht auf territorialen Besitz war garantiert. Kein Fürst konnte sich mehr auf eine ihm anhaftende Eigenschaft als Souverän berufen und seine Taten mit Hinweis auf seine absolute Herrschaft rechtfertigen. Weil Souveränität im Gegenteil als ein den Fürsten zustehendes Recht auf die Wahrung von territorialem Besitz bestimmt wurde, war klar, dass Souveränität von nun an davon abhing, ob und inwiefern die Akteure sich gegenseitig dieses Recht auch zuerkannten. Souveränität existierte nur insofern, als die Akteure sich mit gegenseitigem Respekt als Staatseigentümer behandelten und sich des Einsatzes von Gewalt gegen Land und Leute enthielten. Gerade deshalb, weil sich die Akteure immer mehr mit Respekt behandelten und auf Gewalt verzichteten, wurde Souveränität zu einer Institution, die neue Verhaltenserwartungen (Normen) entstehen ließ, die Entstehung neuer intersubjektiv geteilter Wirklichkeitsvorstellungen und Selbstverständnisse beförderte und so eine veränderte Praxis zwischen territorial definierten Staaten prägte. Der Strukturwandel im 17. Jahrhundert war gleichbedeutend mit einer Veränderung der Systemkultur, insofern sich auf der Seite aller relevanten Staaten allmählich eine Ablösung der tief verwurzelten Feindbilder und Bedrohungsvorstellungen vollzog. Die neue Norm der Souveränität entfaltete einen erheblichen Einfluss, bedingt durch die weithin geteilte Einsicht, dass die Konsequenzen der auf diese Norm gegründeten Interaktionsmuster im Vergleich zu den aus religiös motivierten Kriegen resultierenden Folgen wesentlich wünschenswerter wären. Die Veränderung des bis dato herrschenden Systems war aus Sicht der Akteure quasi zu einer Notwendigkeit geworden und lag im Interesse vieler/aller Akteure. Die Einsicht, dass die gewohnten Interaktionsmuster zu immer mehr Krieg und Zerstörung führten, die keinem mehr Gewinn brachten, und dass das Wohl eines jeden Akteurs vom Zutun der anderen Akteure abhing – wie auch umgekehrt –, ließ die Akteure die Entscheidung zugunsten einer neuen Interpretation von Souveränität treffen. Und genau deshalb, weil alle den Sinn und die Wünschbarkeit einer neuen auf territorialer Souveränität gegründeten Praxis verstanden bzw. akzeptierten, konstituierte diese Vorstellung von Souveränität, zunächst als allgemein anerkannte Norm, dann als institutionalisierte Interaktionsform eine neue Praxis der internationalen Beziehungen als zwischenstaatliche – im Gegensatz zu interdynastischen – Beziehungen. Die Akteure einigten
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sich nicht nur auf ein neues Verständnis von Souveränität, sie unterstellten sich gegenseitig das Interesse an der Stabilität ihres territorialen Besitzes und behandelten sich in der Folge mit immer mehr Respekt als Eigentümer von Territorialbesitz, was eine restriktive Anwendung von Gewalt nach sich zog. Die Akteure veränderten die hobbesianische Kultur des internationalen Systems in eine lockeianische, indem sie sich bei der Definition ihrer Identitäten und Interessen von der Norm der Souveränität leiten ließen.
12.3.2.2 Identitätswandel und neues Rollenverständnis der Sowjetunion Aus Sicht des modernistischen Sozialkonstruktivismus der Disziplin IB lässt sich die neue sowjetische Außenpolitik während der 1980er-Jahre weder mit Hinweis auf Zwänge des internationalen Systems, bedingt durch den Vorsprung an militärischen Verteidigungsfähigkeiten aufseiten der USA, noch durch innerstaatliche Zwänge, hervorgerufen durch die immer größer werdende Wirtschaftskrise und damit verbundene Verwundbarkeiten, überzeugend erklären. Der entscheidende Grund lag vielmehr in einer kognitiven Evolution und einer Änderung der Wirklichkeitsvorstellungen, die in der ‚neuen‘ sowjetischen Außenpolitik während der Ära Gorbatschow zum Ausdruck kamen²⁶⁸. Das von Mikhail Gorbatschow initiierte ‚neue Denken‘ brach zunächst mit der offiziellen Staatsideologie des Leninismus, d. h. genauer mit der darin enthaltenen Imperialismustheorie. Gemäß dieser Theorie streben die liberal-kapitalistischen Staaten aufgrund ihres Selbstverständnisses nach Expansion und erweisen sich gegenüber anderen Gesellschaftssystemen zwangsläufig als aggressiv. Zumal die westliche Ideologie des freien Marktes als Grundlage gesellschaftspolitischer Organisation setze eine ständige Ausweitung der westlichen Gesellschaftsform zwingend voraus. Die westlichen Allianzstrukturen hätten in diesem Zusammenhang vor allem den Zweck, die imperiale Expansion kapitalistischer Staaten zu befördern. In den 1980erJahren brach der Konsens über die Stichhaltigkeit dieser Theorie in der Sowjetunion zusammen, mitbedingt durch verschiedene andere Gründe. Zu nennen wären außerdem noch die Unfähigkeit der Sowjetunion, den ökonomischen, technologischen und militärischen Herausforderungen vonseiten des Westens erfolgreich zu begegnen, der rapide Verlust politischer Legitimität auf der Seite der sowjetischen Regierung und die Versicherung des Westens, dass er nicht die Absicht hätte, die Sowjetunion anzugreifen oder zu infiltrieren. Diese Faktoren trugen nicht nur dazu bei, dass es in der Sowjetunion zu einem Bewusstseinswandel unter den Eliten und zu einer Veränderung der Führungsstruktur kam, sie setzten auch eine gezielte Neuinterpretation der sozialen Identität und Rolle der Sowjetunion in Gang. Dahinter wiederum stand nicht 268 Vgl. Robert G. Herman, Identity, Norms, and National Security: The Soviet Foreign Policy Revolution and the End of the Cold War, in: P. Katzenstein (Hg.), The Culture of National Security, a. a. O., 271–316, 273.
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nur eine momentane Laune. Vielmehr manifestierte sich im neuen Denken das Ergebnis einer langen kognitiven Entwicklung, die in den sowjetischen Führungskreisen bislang nur noch nicht genug Einfluss hatte entfalten können. Aus Sicht der sozialkonstruktivistischen Theorie gingen die Anfänge des neuen Denkens zurück auf die Ära Chruschtschow und die von diesem eingeleitete Phase der Entstalinisierung. Bereits die selbst ernannten ‚Kinder des Zwanzigsten Parteitages der KPdSU‘ vertraten seit Februar 1956 eine reformorientierte Einstellung. In den 1970er-Jahren machten sich die liberal gesinnten mezhdunarodniki im sowjetischen Establishment für einen alternativen Kurs stark, der sich vom Stil der Hardliner um Breschnew dadurch unterschied, dass er nicht auf die Vorstellung von friedlicher Koexistenz als Ausfluss eines unvermeidbaren Klassenkampfes zwischen West und Ost gebaut war²⁶⁹. Einen wesentlichen Einfluss auf die liberale Einstellung reformerischer Kräfte in der Sowjetunion übten westliche Friedensforscher und liberale Analysten aus, indem sie Konzepte der internationalen Beziehungen entwickelten, die sie ihren sowjetischen Kollegen über den Austausch in transnationalen Netzwerken nahebrachten. So nahm zum Beispiel der Direktor des sowjetischen Instituts für die Vereinigten Staaten und Kanada (ISKAN), Georgi Arbatov, an der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheitsfragen unter Leitung von Olof Palme teil. Über den Kontakt mit dem Sozialdemokraten und Rüstungskontrollexperten Egon Bahr entwickelte sich Arbatov nicht nur zu einem persönlichen Verfechter der Idee gemeinsamer Sicherheit. Er wandelte das ISKAN in eine Quelle für Vorschläge um, die u. a. darauf abzielten, dem Westen asymmetrische Reduzierungen im Bereich der nuklearen und konventionellen Waffen zu unterbreiten und eine nicht-offensive Haltung einzunehmen²⁷⁰. Aus dieser Entwicklungsgeschichte liberaler Ideen und Vorstellungen heraus resultierten schließlich die geeigneten Fundamente, die es Gorbatschow ermöglichten, alte Vorstellungen betreffend die Sowjetunion als Staat und vor allem die Beziehungen der Sowjetunion gegenüber den westlichen Staaten einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Anstatt wie bisher davon auszugehen, dass der Konflikt zwischen Kommunismus und dem feindlichen Gesellschaftssystem des westlichen Kapitalismus natürlich, selbstverständlich und als solcher unabänderlich sei, wurde genau diese vermeintliche Selbstverständlichkeit hinterfragt. Es wurden diejenigen Verhaltensweisen und Praktiken problematisiert, die nach Meinung ‚liberaler‘ Genossen lange dazu beitrugen, dass sich falsche und überkommene Wirklichkeitsvorstellungen im sowjetischen Establishment immer weiter fortschrieben und so den Konflikt zwischen West und Ost als solchen überhaupt erst stabilisierten. Gorbatschow und seine Mannschaft bemühten sich in der Folge darum, die falsche Zwangsläufigkeit hinter den konflikthaften Interaktionsmustern zwischen Ost und West zu demaskieren. Nach Meinung Gorbatschows waren es auch und gerade die aggressiven sowje269 Vgl. ebda., 288–289. 270 Vgl. ebda., 293–295.
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tischen Praktiken, die immer wieder von neuem Öl ins Feuer des Ost-West-Konflikts gegossen hatten. Die versuchte Änderung der eigenen Identität ging einher mit einer Reihe konkreter außenpolitischer Schritte. Gorbatschow veranlasste den Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan und Osteuropa, propagierte und implementierte asymmetrische Reduzierungen des sowjetischen Arsenals an nuklearen und konventionellen Waffen und entwarf die Idee einer rein defensiv ausgerichteten Verteidigung. Darüber hinaus tat er sich hervor durch eine völlig neue Rhetorik, versinnbildlicht durch die oft gebrauchte Metapher des ‚gemeinsamen europäischen Hauses‘²⁷¹. In der neuen Rhetorik betonte Gorbatschow die gemeinsamen Bande zwischen der Sowjetunion und dem Westen, wies auf die Abhängigkeit der Sowjetunion von der Hilfe des Westens hin und versuchte damit, dem Westen eine moralische Verpflichtung gegenüber der Sowjetunion zuzuschreiben. All diese Schritte waren nicht nur dadurch motiviert, die Sowjetunion in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Die Intention Gorbatschows lag auch und vor allem darin, dem Westen die Gründe für das Misstrauen gegenüber der Sowjetunion zu nehmen und auf der Seite des Westens eine Veränderung der Identität und des Rollenverständnisses zu bewirken. Offensichtlich hing der Erfolg der Bemühungen Gorbatschows davon ab, dass die westlichen Staaten zumindest kompatible Vorstellungen entwickelten und sich entsprechend (reziprok) verhielten. Schließlich war zu beobachten, dass die westlichen Staaten die Vorstöße Gorbatschows zwar nicht überall und sofort ernst nahmen – die amerikanische Seite war voller Skepsis und wertete Gorbatschows Verhalten als Täuschungsmanöver, während Kreise im deutschen politischen System relativ bald von einer Euphorie erfasst waren –, aber allmählich durch eine Abkehr eingeübter Verhaltensmuster ‚belohnten‘ und damit eine neue Basis für die Institutionalisierung gegenseitiger Interaktionen im Sinne freundschaftlicher Beziehungen schufen. In dem Maß, wie Gorbatschow bzw. die sowjetische Regierung es durch die Praxis des altercasting vermochte, die Vorstellungen und Erwartungen auf der Seite westlicher Staaten zu ändern, genau in dem Maß besaß er gegenüber diesen Staaten auch politische Macht.
12.3.3 Kontrollfragen – – – – – –
Was sind und wie bilden sich Identitäten? Was sind und wie bilden sich Institutionen? Was sind und wie bilden sich soziale Strukturen? Warum verhalten sich Staaten über Zeit relativ gleichförmig? Wie und warum kommt es zu einer Veränderung von Interaktionen? Wie und warum kommt es zu strukturellem Wandel?
271 Vgl. ebda., 309.
13 Appendix 13.3.1 Ranglisten „Wer einmal dem Mechanismus der Reihung verfallen ist, entwickelt rasch Symptome, die an den aus der Psychoanalyse bekannten Zwangscharakter erinnern. Was immer unter den Blick kommt, muß sofort in eine Reihung gebracht werden. So wie manche Neurotiker gezwungen sind, in jedem Bad, das sie betreten, die Fliesen abzuzählen, ist der gegenwärtige Bildungsexperte gezwungen, die Antwort auf jede Frage, mit der er konfrontiert wird, in Form einer gereihten Liste zu geben. Was bedeutet Qualität im Unterricht? Testen und Reihen! Was ist eine gute Universität? Evaluieren und reihen! Worin erweist sich wissenschaftliche Dignität? Publikationsorgane reihen! Welche Forschungsprojekte sollen verfolgt werden? Gutachten einholen und reihen! Nie ist die Sache selbst Gegenstand einer Betrachtung oder Reflexion, immer nur der Platz, den sie auf einer ominösen Liste einnimmt.“²⁷²
13.3.1.1 Rangliste von Simon Hix (2004)²⁷³ 1. American Political Science Review 2. American Journal of Political Science 3. International Organization 4. Foreign Affairs 5. Journal of Politics 6. International Security 7. Journal of Conflict Resolution 8. World Politics 9. Journal of European Public Policy 10. International Studies Quarterly 13.3.1.2 Rangliste nach dem Journal Citations Report & Journal Performance Indicators (2008)²⁷⁴ 1. International Organization 2. International Security 3. European Journal of Int’l Relations 4. Foreign Affairs 5. Biosecurity/Bioterrorism 6. Journal of Common Market Studies 7. Journal of Conflict Resolution 8. World Politics 9. International Studies Quarterly 10. Marine Policy 272 Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung, a. a. O., 83. 273 Simon Hix, A Global Ranking of Political Science Departments, Political Studies Review, vol. 2 (2004), 293–313, 298 274 http://archive.sciencewatch.com/dr/sci/09/sep13-09_1/ (zuletzt aufgerufen am 31.08.2014).
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Appendix
13.3.1.3 Rangliste nach dem SJR – SCImago Journal & Country Rank (2014)²⁷⁵ 1. Journal of Peace Research 2. International Organization 3. World Politics 4. International Security 5. Journal of Conflict Resolution 6. European Union Politics 7. International Studies Quarterly 8. Perspectives on Politics 9. Conflict Management & Peace Science 10. Security Dialogue 13.3.1.4 Rangliste nach persönlichem Dafürhalten²⁷⁶ 1. Alternatives 2. Review of International Studies 3. Millennium 4. European Journal of Int’l Law 5. Int’l Journal of Political Economy 6. Global Society 7. Diplomatic History 8. Journal of Int’l Relations and Development 9. International Social Science Journal 10. New Political Economy Der Wert von Ranglisten für IB-Fachzeitschriften – wie für alle anderen Institutionen – wird oft darin gesehen, daß Unterscheidungen zwischen ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Zeitschriften und v. a. Orientierungen an den ‚besten‘ Zeitschriften möglich werden. Ob und inwiefern die veranschlagten Messkriterien auch nur ansatzweise plausibel sind, spielt dabei oft ebensowenig eine Rolle, wie ihre Operationalisierung durch ein selbsternanntes und meistenteils unsichtbares Gruppenrichtertum 275 http://www.scimagojr.com (zuletzt aufgerufen am 31.08.2014). 276 Meine eigene Rangliste der Top Ten-Zeitschriften aus dem Feld der IB resultiert aus einer quantitativen Erhebung qualitativ hochwertiger Beiträge pro einzelnes Heft und einem daraus abgeleiteten Quotienten. Die Qualitätsmessung der Beiträge orientierte sich v. a. an den Untersuchungskriterien: ‚Originalität des Themas/der Idee‘, ‚Relevanz des Problemaufrisses‘ sowie ‚Nachvollziehbarkeit der Argumentation‘. Die konkrete Anwendung dieser Kriterien basierte auf meiner persönlichen Urteilskraft. Weil sich die untersuchten Zeitschriften mitsamt ihren Beiträgen zum Teil an ganz unterschiedliche Adressaten und Leserkreise richten, wurden um der Objektivität willen auch ästhetische Kriterien wie die sexyness des Titels, das Layout, der Schriftgrad und die Handlichkeit der Zeitschrift berücksichtigt. Der Rangliste liegt insofern eine Verzerrung zugrunde, als ich nur deutsch- bzw. englischsprachige Zeitschriften untersucht und Zeitschriften in französischer, russischer, spanischer, chinesischer, japanischer, arabischer, hindi’scher und sonstiger Sprache pragmatisch ignoriert habe.
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im Zentrum der Disziplin. Als Steuerungsinstrumente einer Wissen(schaft)spolitik, die sich an zwangsläufig willkürlichen Kriterien wie dem sog. impact score orientiert, beeinträchtigen Ranglisten, wie die von IB-Fachzeitschriften, nicht nur jedes qualitative Urteil über die wissenschaftliche Seriosität einer Zeitschrift als solcher, sondern auch die sachliche Einschätzung der wissenschaftlichen Qualität einzelner Artikel. Werden solche Ranglisten nur oft genug erstellt, läßt sich beobachten, daß sich die Aufmerksamkeit der ‚akademischen Elite‘ wie von selbst auf die vermeintlich ‚besten‘ und etabliertesten Zeitschriften richtet. Vom Sog dieses Herdentriebs werden dann die Publikationstätigkeiten vieler jüngerer Forscher und v. a. auch das Einstellungsverhalten vieler Berufungskommissionen erfasst. Damit werden solche Ranglisten selbst zu Standards für angemessenes Verhalten und geben relativ klar vor, was von der Mehrheit abhängiger und disziplinierter Teilnehmer im mainstream zu lesen und zu schreiben ist, um die Chancen zu steigern, im akademischen System zu überleben.
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D Deliberation. Siehe Governance Denkschulen IB – Deutsche 16 – Englische 16, 55, 77, 95 – Italienische 16 Dilemma 22, 46, 98, 102, 105 Disziplin IB 5, 6, 8, 9, 13, 14, 15, 16, 19, 204 – Isolationismus 7 – mainstream V, 3, 6, 8, 14, 15, 16, 17, 18, 45, 55, 76, 77, 137, 175, 191, 192, 209 – Positivismus 16, 138 – Post-Positivismus 138 – Provinzialismus 7 – Rationalismus 14, 16, 191, 192 E Eliten 4, 120, 122, 123, 124, 129, 130, 141, 144, 145, 147, 149, 151, 152, 153, 204 Entscheidungsmechanismen 117, 118, 119, 120 Epistemologie 16, 55, 137, 138, 192 Erkenntnisinteresse 51, 173 – interpretatives 136 – kausales 3, 13, 24, 51 Europäische Union (EU) 42, 44 – ESVI 65, 185 – ESVP 44, 66, 67, 185 – EuGH 182 – GASP 66, 185, 186 – GSVP 185, 186 F Fähigkeit – capability 56, 59, 60, 67, 68, 69, 75, 89 G GATS. Siehe WTO GATT 102, 103, 104, 154, 181, 188 Gemeinschaft 50, 120, 123, 124, 125, 129, 135, 148, 150 – Problembewältigungs- 123 – Schicksals- 123 – Werte- 123 Geopolitische Situation 78 Gesetzmäßigkeiten 2, 10, 20, 23, 27, 29, 41, 55, 81, 136, 141
220
Personen- und Sachregister
Gewinne 58, 59, 60, 62, 97, 101, 123, 151, 171, 197 Gleichgewicht 9, 22, 23, 25, 27, 29, 33, 37, 44, 52, 61, 69, 153 – Kompensation 23 – Rüstung 23, 27, 28 Governance 9, 17, 112, 114, 115, 158, 173, 174, 175, 176, 180, 181, 185, 187, 189 – Deliberation 187 – Global Governance 190 – Heterarchie 176, 178, 185 – Konstitutionalisierung 178 – Monitoring 177 – Pragmatismus 176 – Prozeduralisierung 177, 178, 183 – soft law 177, 180 – Verrechtlichung 177, 178, 179, 180, 183 Grand Strategy. Siehe Außenpolitik Gruppen 47, 50, 53, 128, 141, 148, 149, 150, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 165, 167, 170 – Interessen- 122, 142, 148, 150, 157, 158, 159, 163, 166, 167, 170, 171 H Haas, Ernst B. 117, 124, 125, 130, 132, 136, 142 Handlungsspielraum 51, 98, 99, 100, 154, 200 Heterarchie. Siehe Governance Hoffmann, Stanley 12, 14, 20, 21, 52, 118, 135, 136, 141, 144, 145, 147, 152, 155, 191 I Idealismus 5, 12, 14, 19, 23, 51, 137 Identität 38, 149, 192, 194, 196, 197, 200, 202, 204, 206 – Feind 192, 194, 203 – Freund 192, 194 – kritische Hinterfragung 197 – nationale 143 – Rivale 192 Imperialismus 10, 23, 24, 29, 141, 144, 146, 147 Informalisierung 176, 178, 190 Information 3, 37, 98 Institutionalisierung 13, 193, 194, 199, 206 Institutionen 12, 47, 48, 50, 53, 62, 82, 94, 95, 97, 98, 100, 101, 102, 106, 107, 111, 112, 113, 116, 117, 123, 124, 125, 129, 131, 143, 144, 145, 146, 148, 150, 152, 155, 159, 161, 162, 164, 173, 178, 180, 181, 185, 189, 191, 193, 194, 195, 197, 198, 206
Integration 62, 117, 118, 120, 128, 131, 135, 136, 141, 142, 144, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 155, 157, 158, 164, 165, 166, 167 – Dynamik 127 – Erweiterung 18, 64, 120, 123 – Rückschritt 123 – spill-back 120, 123 – spill-over 127 – erzeugt 130 – funktional 128 – politisch 129 – stop and go 120 – Unterbrechung 123 – Vergemeinschaftung 120, 125, 126 – Vertiefung 120 Integrationstheorien 117 – Neofunktionalismus 117, 124, 126, 141 Interaktion 192 Interdependenz 95, 96, 98, 99, 101, 113, 115, 116, 120, 123, 146, 159 – asymmetrische 98, 100 – Empfindlichkeit 98, 99 – komplexe 99 – Verwundbarkeit 59, 72, 98, 99, 105, 106 Interessen 5, 10, 12, 18, 26, 27, 31, 32, 33, 37, 38, 40, 47, 48, 50, 52, 64, 68, 69, 95, 96, 98, 99, 101, 103, 104, 107, 118, 119, 120, 124, 129, 131, 142, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 167, 170, 171, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 198, 204 – ideelle 158 – materielle 158 – nationale/s 23, 24, 37, 52, 121, 142, 143, 144, 146, 148 – politische 159 Intergouvernementalismus 17, 141, 142, 147, 155, 157 Isolationismus 141, 144, 146, 147 K Keohane 95, 98, 99, 100, 105 Klugheit 22, 23, 25, 34, 36, 39 Kollektive Sicherheit 26, 28, 30 Kompetenzübertragung 126 Konflikt 21, 31, 36, 46, 53, 61, 65, 121, 153, 159, 160, 161, 162, 191, 205 Konstruktivismus 14
Personen- und Sachregister
Kooperation 19, 51, 53, 62, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 102, 103, 115, 129, 141, 144, 146, 147, 151, 152, 153, 155, 159, 160, 161, 163, 191, 192, 193, 194, 198 Koordination 106, 160, 161 Kosovo-Konflikt 84 Kosten 96, 97, 99, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 108, 110, 129, 197 – Transaktions- 101, 102, 108, 110 Krieg 12, 22, 26, 28, 33, 38, 39, 40, 45, 46, 47, 48, 50, 51, 62, 70, 101, 109, 167, 168, 169, 171, 191, 196, 201, 202, 203 Kuba-Krise 34, 35, 200 L Legalismus 19, 23, 40 Legitimation – Input- 177, 178, 180, 190 – Output- 177, 178, 180, 190 Legitimität 9, 89, 114, 169, 174, 177, 178, 179, 181, 197, 204 Liberalismus – ideeller 160 – kommerzieller 160 – republikanischer 160 Logik der Bilder 45, 46, 55 – drittes Bild 49, 55 – erstes Bild 46, 47, 48 – zweites Bild 47, 48 Loyalitäten 120, 122, 123, 129, 132, 141 M Macht 8, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 30, 31, 33, 36, 39, 44, 52, 56, 69, 71, 98, 99, 100, 101, 116, 159, 160, 161, 163, 171, 194, 198, 200, 206 – Abschreckung 23, 24, 28, 64, 106, 153, 196, 200, 201 – Einflusssphären 35 – Einflusssphären 35 – Machtdemonstration 23, 24 – Machterhalt 23, 31, 159 – Machterweiterung 23, 24, 29 – Machtkonstellation 22, 92 – Machtstreben 23, 24, 25, 27, 52 – Machtunterschiede 42, 71, 77, 78, 79, 88, 111 Mearsheimer, John 63, 214 Methodologie 12, 45, 136, 137 Moral 25, 48
221
Moravcsik, Andrew 142, 157, 160, 165 Morgenthau, Hans J. 19, 23, 24, 33, 35, 38, 39, 40, 52 Müller, Harald 16, 109, 110, 215 N Nation 53, 117, 131, 141, 142, 143, 144, 145, 149, 162, 170 Nationale Stärke 78, 80, 94 – state strength 78, 94 Nationalismus 131, 141, 143, 144, 151 NATO 41, 44, 61, 63, 64, 66, 70, 71, 85, 86, 87, 103, 106, 107, 108, 109, 111, 113, 115, 149, 152, 154, 185, 200 Naturalismus 2 Neorealismus 14, 55, 56, 61, 63, 68, 95, 102 Netzwerke 176, 179 Normen 25, 32, 34, 36, 37, 96, 97, 102, 103, 107, 108, 109, 110, 127, 193, 194, 195, 198, 202, 203 – Internalisierung 196 Nullsummenspiel 58, 59 Nye, Joseph N. 29, 99 O OECD 105, 175 Offe, Claus 174, 175 Ontologie 1, 3, 7, 9, 10, 15, 16, 17, 55, 138, 192 Onuf, Nicholas G. 191 Organisation 27, 30, 47, 51, 105, 107, 120, 151, 204 P Pluralismus 118, 119, 120, 130, 160 Politikbegriff – policy-Dimension 88, 174 – politics-Dimension 56, 75, 141, 142, 175, 176 – polity-Dimension 173, 174 Politische Kultur 78 Präferenzen 96, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 167, 170, 171 – ideelle 170 – Intensität – Machtquelle 163 – Macht 159, 160, 163 – materielle 170 – rent-seeking 158, 162 – -struktur 162 – -strukturen 157, 159
222
Personen- und Sachregister
Präferenzenbildung 162, 166 Pragmatismus 23, 25, 143, 146 Prinzipien 2, 18, 24, 26, 29, 30, 40, 100, 107, 109, 143, 144, 153, 168 Prozeduralisierung. Siehe Governance R Realismus 5, 12, 14, 17, 20, 23, 24, 26, 29, 37, 45, 51, 55, 73, 95, 102, 137 – klassischer 19 – neoklassischer 75 Recht – formales 18, 19, 24, 26, 32, 33, 36, 40, 169 – funktionales 120, 122 – globales 177 – machtpolitisches 25, 32, 40 – prozessuales 180, 184 – supranationales 125 – transnationales 177 Regeln 19, 27, 32, 34, 36, 40, 50, 96, 97, 98, 100, 102, 103, 104, 106, 107, 109, 110, 194, 195, 198 Regime 34, 38, 62, 98, 100, 103, 104, 108, 110, 116 – Bedarf 10, 103, 104, 106, 123, 135 – Entstehung 103 – Stabilität 103 – Wirkung 107, 110 Rose, Gideon 75, 215 S Schmitter, Philippe 130, 132 Selbsthilfe 58, 59, 73, 101, 193, 194, 195 Sicherheit 11, 22, 26, 27, 29, 30, 31, 32, 59, 60, 64, 68, 69, 71, 106, 108, 110, 143, 144, 146, 147, 154, 161, 169, 170, 205 – nationale 147 Sicherheitsdilemma 58, 59, 98 Signale 192, 194, 196 Situation – Dilemma- 98, 102 – interaktionsspezifisch 194 – nationale 146, 151, 153, 154 – Nationale 144 Souveränität 21, 29, 30, 57, 106, 108, 123, 151, 161, 196, 197, 202, 203
Sozialisation 58, 59, 196 Sozialisierung 194 Sozialkonstruktivismus 206 – altercasting 198, 206 Staaten – National- 128, 142, 143, 144, 146, 148 Struktur 13, 50, 55, 58, 59, 60, 61, 63, 64, 68, 69, 73, 101, 102, 191, 193, 194, 195, 198 – intersubjektiv 191 – intersubjektive 193 – kognitiv 191 Strukturwandel 194, 195, 198, 202, 203 System 4, 12, 15, 27, 28, 30, 31, 40, 47, 50, 51, 53, 56, 57, 58, 59, 60, 62, 64, 68, 69, 72, 73, 96, 98, 106, 121, 147, 159, 160, 161, 166, 192, 193, 199, 202, 203, 206 – bipolar 58, 149 – multipolar 58, 63 – Stabilität 23, 25, 47, 48, 58, 62, 68, 73, 103, 105, 129, 142, 153, 204 – unipolar 58, 68 Szientismus 13, 14, 135, 136 T Terrorismus 68, 70, 71, 72, 73, 168, 170, 186 Theorien 2 – Alltags- 2 – Begründungsprogramm 8 – einflussreiche 7 – erklärende 3 – Herrschaftstechniken 8 – Ideologie V, 176 – Konsequenzen 4 – Kritik 3, 8, 16, 18, 20, 55, 96, 141, 142, 157, 191, 192 – wahre 5 Traditionalismus 14, 135, 136 TRIPS. Siehe WTO U Unilateralismus 144, 147, 153 V Vergesellschaftung 99, 119, 123, 176, 178 Verhandlungen 97, 98, 100, 101, 103, 104, 157, 161, 165, 167, 169
Personen- und Sachregister
Vernunft 8, 20, 22, 48 Verrechtlichung. Siehe Governance; Siehe Recht Völkerrecht 37, 41, 169. Siehe Recht W Wahrnehmung 6, 52, 192, 194, 196 Waltz, Kenneth N. 12, 17, 45, 47, 48, 55, 56, 58, 59, 60, 65, 68, 69, 71, 118 Wendt, Alexander 14, 55, 138, 191, 192, 194, 195, 196
223
Wettbewerb 20, 46, 47, 58, 59, 60, 68, 101, 118, 119, 121, 126, 131, 142, 144, 160 Wight, Martin 191, 192 Wissenschaft der IB 15, 191 Wohlfahrt 119, 120, 121, 127, 131, 144, 146, 147, 154, 158, 161 WTO 41, 181, 182, 183, 184, 187, 188, 189 – GATS 181, 182, 183 – TRIPS 181, 182, 183