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German Pages 444 [446] Year 2009
Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800
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Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 9
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt
Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dieser Band wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020623-4 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Vorwort Das Übersetzen antiker Literatur rückte in Deutschland um 1800 in den Fokus einer intensiven Diskussion. Nach Klopstocks Erneuerung der deutschen Dichtersprache, Herders Entdeckung der historischen Dimension der Nationalsprachen und Voss’ epochaler Homerübersetzung stellte sich im Kontext der Romantik die Frage neu, wie fremd oder wie vertraut die antike Literatur in deutscher Sprache dargestellt werden konnte und sollte. Schleiermacher und Humboldt entschieden sich ähnlich wie Voss für die Abkehr vom rhetorischen Modell des Übersetzens und für die Betonung der kulturellen Fremdheit und sprachlichen Individualität der Texte, während in der Folgezeit unterschiedliche Verfahren der stilistischen Assimilierung entwickelt wurden. Die Diskussion nach dem Ende der Goethezeit, die hier erstmals untersucht wird, kreiste dabei um Fragen der Bühnenwirksamkeit, der Bildung des Lese- und Theaterpublikums und des kulturellen Selbstverständnisses. Um 1900 schrieb Wilamowitz der deutschen Literatur einen der Antike ebenbürtigen Formenschatz zu, in den antike Texte problemlos zu transponieren seien. Dagegen opponierten Dichter wie George und Borchardt, aber auch der Philologe Schadewaldt setzte sein Konzept des ‚dokumentarischen Übersetzens‘ explizit davon ab. Der vorliegende Band unternimmt es, diese Theoriediskussion nachzuzeichnen und bis in die Gegenwart weiterzuverfolgen. Genese und Grundkonzept des Forschungsprojekts „Übersetzung der Antike“, dessen erste Phase mit diesem und dem ergänzenden Band Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 abgeschlossen wird, haben wir im Vorwort zu dem 2008 in der gleichen Reihe erschienenen Tagungsband Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert dargestellt. Die Arbeit an dem Projekt, die 2005 begann, wurde während des gesamten Zeitraumes von einem regelmäßig stattfindenden Forschungskolloquium begleitet, an dem neben den Projektleitern und den Verfasserinnen auch Dr. Roland Baumgarten, Martin Harbsmeier M.A. und Dr. Thomas Poiss durchgängig beteiligt waren. Die drei Letztgenannten haben auch auf mannigfache Weise bei der Erstellung der Endfassung mitgeholfen, wofür Ihnen herzlich gedankt sei. Wolfgang Rösler Ulrich Schmitzer
Inhalt Einleitung ............................................................................................................................. 1 Josefine Kitzbichler Von 1800 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ..................................................... ..................................................... 13 Übersetzungstheoretischer Paradigmenwechsel um 1800 .......................................... Voraussetzungen ............................................................................................................ Klassizismus .............................................................................................................. Hermeneutik ............................................................................................................. Philologie ..................................................................................................................
15 15 18 24 27
Begründung moderner Übersetzungstheorie ................................................................ Aspekte der Übersetzungstheorie nach 1800 ............................................................ Frühromantik ................................................................................................................ Friedrich Schlegel ..................................................................................................... August Wilhelm Schlegel ........................................................................................ Exkurs: Novalis und Goethe ................................................................................... Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Sich annähernde Nachbildungen ...................... Friedrich Schleiermacher: Nachahmen des Verstehens ........................................... Wilhelm von Humboldt: Erweiterung der eigenen Sprache ..................................
29 29 36 38 41 43 46 53 64
Ende der Übersetzungstheorie? ...................................................................................... 73 Übersetzen nach dem Ende der Goethezeit .............................................................. 73 Deutsch und poetisch übersetzen ............................................................................... 80 Gegensätzliche Methoden oder mittlerer Weg? ....................................................... 88 Übersetzungsgeschichte statt Übersetzungstheorie ................................................. 95 Friedrich Wilhelm Riemer ...................................................................................... 95 Robert Prutz ........................................................................................................... 100 Restitution des metrischen Prinzips um die Jahrhundertmitte ............................ 106 Johannes Minckwitz ............................................................................................... 106 Otto Friedrich Gruppe .......................................................................................... 108
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Inhaltsverzeichnis
Katja Lubitz Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1927 ................................................... ................................................... 113 Übersetzungsreflexionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ................................... 115 Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen .......................................................... Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen ............. Anthologien antiker Dichtung in Übersetzung ...................................................... Eduard Mörike ........................................................................................................ Emanuel Geibel und der Münchner Dichterkreis .............................................. Rudolf Hunziker und Emil Ermatinger ............................................................... Übersetzung und performative Wirkung ................................................................ Adolf Wilbrandt .................................................................................................... Wilhelm Jordan ......................................................................................................
117 117 130 131 136 143 148 148 153
Übersetzungstheorie und Schulpolitik ........................................................................ 161 Übersetzen als Aufgabe des Philologen? ...................................................................... Moriz Haupt ........................................................................................................... Übersetzungsreflexionen in der Klassischen Philologie .................................... Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ................................................................
181 182 185 196
Übersetzen als schöpferischer Prozess .......................................................................... Kritik an Wilamowitz’ Übersetzungstheorie und -praxis ...................................... Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis Deutsch ...... Der George-Kreis und Kurt Hildebrandt: Hellas und Wilamowitz ................ Alternativen zu Wilamowitz’ Übersetzungskonzept ............................................. Norbert von Hellingrath: Pindar-Übertragungen von Hölderlin ..................... Rudolf Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ ..................
209 209 209 215 221 221 229
Nina Mindt Von 1927 bis zur Gegenwart ................................................................ .............................................................................. .............................................. 237 Übersetzungstheorie seit 1927: Überblick .................................................................. 239 Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft ........................................................ Wolfgang Schadewaldts Vortrag Das Problem des Übersetzens (1927) ................ Exkurs: Übersetzung im ‚Dritten Reich‘ .................................................................. Wolfgang Schildknecht, Rudolf Bayr und Richard Newald .................................. Rudolf Alexander Schröder ....................................................................................... Bruno Snell und Otto Regenbogen .......................................................................... Horst Rüdiger .............................................................................................................
241 245 248 249 259 265 269
Inhaltsverzeichnis
Dokumentarische und transponierende Übersetzung ............................................... Emil Staiger ................................................................................................................. Wolfgang Schadewaldt ............................................................................................... Die Entwicklung des dokumentarischen Übersetzens ...................................... Schadewaldts Sprach- und Literaturauffassung .................................................. Schadewaldts Antike-Auffassung ......................................................................... Das transponierende Übersetzen ......................................................................... Das dokumentarische Übersetzen ........................................................................ Die Vergegenwärtigung antiker Literatur durch den Philologen ..................... Das dokumentarische Übersetzen und das Theater .......................................... Der sprachbereichernde Effekt des Übersetzens ................................................ Die Praktizierbarkeit des dokumentarischen Übersetzens ...............................
IX 273 274 277 277 279 282 284 286 291 293 294 296
Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945 .................................... 299 Übersetzungstheorie in der DDR ................................................................................. Rudolf Schottlaender ................................................................................................. Dietrich Ebener ........................................................................................................... Volker Ebersbach ........................................................................................................ Übersetzen und Theater ............................................................................................
317 322 325 329 331
Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren .................................................... Texttypenspezifische Übersetzung ........................................................................... Die Übersetzung lateinischer Literatur unter dem Einfluss von Wolfgang Schadewaldt ....................................................................................... Die Übersetzung griechischer Literatur: Homer im 21. Jahrhundert .................
335 336 343 350
Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 355 Literatur ....................................................................................................................... 355 Übersetzungen ............................................................................................................ 407 Personenregister .............................................................................................................. 419 Sachregister ...................................................................................................................... 429
Einleitung Die vorliegende Arbeit behandelt die Übersetzungstheorie, die seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Zusammenhang des Übersetzens aus dem Griechischen und Lateinischen im deutschen Sprachraum hervorgebracht wurde. Gerade von der Übersetzung antiker Autoren gingen in dieser Zeit immer wieder wesentliche Impulse für die Diskussion des Übersetzungsproblems aus, wie die vielfach rezipierten Beiträge Friedrich Schleiermachers, Wilhelm von Humboldts, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs oder Wolfgang Schadewaldts zeigen. Ziel ist es, diese prominenten Theorieentwürfe historisch-deskriptiv darzustellen, die Linien, die zwischen ihnen verlaufen, zu verfolgen, die Diskussionszusammenhänge, in denen sie standen, sichtbar zu machen und sie so in literatur-, philologie- und sozialgeschichtliche Kontexte einzubetten. Von einem kontinuierlichen Prozess der Theoriebildung kann dabei allerdings kaum gesprochen werden. Zu deutlich ist vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung oftmals der singuläre Charakter einzelner Beiträge, zu unzuverlässig die Anbindung an vorangegangene Diskussionen, zu unscharf die Terminologie. Dass die literaturgeschichtliche Übersetzungsforschung sich bislang meist nur einzelnen Phasen (z. B. der Romantik), Autoren (z. B. Schleiermacher) oder Aspekten (z. B. dem sprachbewegenden und sprachschöpferischen Vermögen von Übersetzungen) gewidmet hat, mag mit diesem Befund zusammenhängen. I Die außergewöhnliche Heterogenität der relevanten Quellentexte ist also ein Problem, das stets mitzuberücksichtigen ist.1 Eigenständige theoretische Abhandlungen zur Übersetzungsproblematik sind – besonders im 19. Jahrhundert – eher eine Ausnahme; deshalb sind vor allem auch solche Quellen heranzuziehen, in denen übersetzungstheoretische Fragestellungen im Kontext eines übergeordneten Zusammenhangs verhandelt werden oder in denen Übersetzer selbst Stellung zu ihren Prinzipien _____________ 1
Im Zusammenhang einer Aufarbeitung der Geschichtstheorie zwischen 1800 und 1850 hat der Historiker Stefan Jordan auf die Schwierigkeiten eines Quellenkorpus hingewiesen, das aus einer Vielzahl unterschiedlicher Textsorten besteht; s. Jordan (1999), 17. Tatsächlich war es in Jordans Arbeit möglich, durch das systematische Ausschließen von primär narrativ-historiographisch ausgerichteten Texten die Materialgrundlage letztlich auf solche Quellen einzugrenzen, die einen eigenständigen geschichtstheoretischen Anspruch haben und in akademischem Kontext stehen. Auf eine Darstellung der Übersetzungstheorie lässt sich dieses von Jordan überzeugend vorgeführte Verfahren jedoch nicht übertragen.
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Einleitung
und Entscheidungen nehmen. Die vorliegende Darstellung stützt sich vor allem auf folgende Textsorten: Eigenständige theoretische Arbeiten Als bekanntestes Beispiel aus dem 19. Jahrhundert ist Friedrich Schleiermachers Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813)2 zu nennen. Für das 20. Jahrhundert liegt eine vergleichsweise größere Zahl solcher im engeren Sinn übersetzungstheoretischen Schriften vor, etwa von Horst Rüdiger, Wolfgang Schadewaldt oder Manfred Fuhrmann. Als neuer Typus, der auf die Einheit von Theorie und Praxis zielt, tritt außerdem der ‚Werkstattbericht‘ hinzu, der anhand einer konkreten Übersetzung konzeptionelle und theoretische Fragen behandelt. Beispiele für diesen Typus liefern Carl Bremer (1969), Dietrich Ebener (1973) oder Volker Ebersbach (1979). Zu Übersetzungen gehörige Paratexte Einen sehr wichtigen Quellentypus stellen Vor- und Nachworte, im Einzelfall auch separat erscheinende Abhandlungen zu Übersetzungen dar, in denen die Übersetzer Rechenschaft über ihre Prämissen und Prinzipien ablegen. Die Liste der Beispiele reicht von K. W. F. Solgers Vorrede zur Sophokles-Übersetzung (1808), Wilhelm von Humboldts Einleitung zu seiner Übersetzung des Aischyleischen Agamemnon (1816) und Johann Wolfgang Goethes Noten zum Divan (1819) über Ludwig Seegers Epistel an einen Freund als Vorwort (1845), Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Aufsatz Was ist übersetzen? (zuerst 1891 als Vorwort zur Übersetzung des Euripideischen Hippolytos) bis zu den Übersetzungsnachworten von Rudolf Alexander Schröder (1952, zu Homer), Michael von Albrecht (1994, zu Ovid, Metamorphosen) und Raoul Schrott (2008, zu Homer, Ilias). Übersetzungsreflexionen in literaturgeschichtlichen Arbeiten Historisches Interesse an Übersetzungen, die als Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte aufgefasst werden, entsteht zuerst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei in unterschiedlichem Maß auch eine theoretische Fundierung greifbar wird. Von Otto Friedrich Gruppe liegt beispielsweise eine Geschichte der „Übersetzerkunst“ (1859) vor, die eine Erneuerung des Prinzips der „metrischen Übersetzung“ auf eine historische Grundlage stellen will; auch die Geschichte und Kritik der deutschen Uebersetzungen antiker Dichter von Wilhelm Hertzberg (1864) ist hier zu nennen. Besonders häufig wird Übersetzungsgeschichte als Teil der Rezeptionsgeschichte eines antiken Autors geschrieben, etwa bei Robert Prutz (1840, zu Sophokles-Übersetzungen), Horst Rüdiger (1934, zu Sappho-Übersetzungen), Wolfgang Schildknecht (1935, zu Sophokles-Übersetzungen), Horst Gronemeyer (1963, zu Vergil-Übersetzungen), Hans Frey (1964, zu Sophokles-Übersetzungen) oder Günter Häntzschel (1983, zu Homer-Übersetzungen). Literaturgeschichtliches Interesse an einzelnen Übersetzern ist dagegen leitend in den Arbeiten Norbert von Hellingraths über Hölderlin _____________ 2
Für die bibliographischen Nachweise vgl. das Literaturverzeichnis.
Einleitung
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(1910) oder Günter Häntzschels über Johann Heinrich Voss3 (1977). Die Übersetzungstheorie selbst wird erst im 20. Jahrhundert zum Gegenstand literaturgeschichtlicher Forschung, so bei Andreas Huyssen (1969) oder Friedmar Apel (1982). Übersetzungsrezensionen Dazu zählen Einzel- und Sammelrezensionen zu neu erschienenen Übersetzungen, die gerade für das 18. und das frühe 19. Jahrhundert von Bedeutung sind, etwa August Wilhelm Schlegels 1796 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung publizierte Voss-Rezension oder die Besprechung der Sophokles-Übersetzungen von Hölderlin, Solger, Ast und Fähse durch Heinrich Voss (den Sohn) 1804 in der Jenaischen Litteratur-Zeitung. Gelegentlich werden (insbesondere im 19. Jahrhundert) Neuerscheinungen auch zum Anlass für umfassendere Abhandlungen genommen, wie beispielsweise in der schon erwähnten Darstellung der Geschichte deutscher Sophokles-Übersetzungen durch Robert Prutz (1840, anlässlich der Übersetzungen von Thudichum, Donner, Ruge und Marbach), oder in Karl Heinrich Pudors Aufsatz Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa (1814, anlässlich der HerodotÜbersetzung Friedrich Langes). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen u. a. Otto Regenbogen und Bruno Snell im Rahmen von Rezensionen zu grundsätzlichen Fragen der Übersetzungsproblematik Stellung. Übersetzungsreflexionen innerhalb von unterschiedlichen methodischen und theoretischen Schriften Hierzu zählen poetologische, ästhetische und philosophische ebenso wie propädeutische und fachdidaktische Schriften. Allerdings werden in den Ästhetiken und Poetiken des frühen 19. Jahrhunderts ebenso wie in den universitären Fachenzyklopädien der Zeit Übersetzungen kaum berücksichtigt, wie sich etwa in Friedrich Asts Kunstlehre (1805), in Karl Solgers Ästhetik-Vorlesungen (gedruckt postum 1829) oder in Friedrich August Wolfs Encyclopädie der Philologie (gedruckt postum 1831) zeigt; alle drei waren selbst als Übersetzer hervorgetreten. In späteren propädeutischen Schriften wird das Übersetzungsproblem häufiger berücksichtigt, etwa in August Boeckhs4 Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (gedruckt postum 1877) oder in der Einleitung in die Altertumswissenschaft von Alfred Gercke und Eduard Norden (1910). Daneben gewinnt vor allem die fachdidaktische Perspektive immer mehr an Bedeutung, wie von Tycho Mommsens Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58) über Paul Cauers Die Kunst des Übersetzens (1894) bis hin zu den Arbeiten Rainer Nickels in der jüngsten Vergangenheit zu sehen ist. _____________ 3 4
Es ist sowohl die Schreibweise „Voß“ als auch „Voss“ belegt; für den vorliegenden Band verwenden wir die zuletzt genannte Variante. Die ursprüngliche Schreibweise lautete „Böckh“. In der Literatur hat sich indessen die (auch von den noch lebenden Nachkommen verwendete) Schreibweise „Boeckh“ – wohl aus der latinisierten Form „Boeckhius“ – durchgesetzt, die wir im Folgenden beibehalten; vgl. Hackel (2006), 7.
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Einleitung
Varia Auffällig ist die Neigung, sich zur Übersetzungsproblematik in pointierten Kurzformen wie Aphorismen zu äußern.5 Daneben sind mannigfache andere Textsorten heranzuziehen, beispielsweise biographische und autobiographische Dokumente (Goethes Gedenkrede Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813, die Korrespondenz zwischen Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Borchardt, die Autobiographie Rudolph Schottlaenders Trotz allem ein Deutscher, 1986), Interviews (Durs Grünbeins Gespräch mit Thomas Irmer 2001) oder fiktionale Texte (die Studierstubenszene in Goethes Faust). Selbstverständlich sind die genannten Textsorten nicht durch scharfe Grenzen getrennt. Vielmehr gibt es fließende Übergänge und alternative Möglichkeiten der Zuordnung. Rudolf Borchardts Gespräch über Formen (1905) lässt sich als Paratext zur Lysis-Übersetzung, als fiktionaler Text und im weiteren Sinne auch als Übersetzungskritik (v. a. zu Wieland und Wilamowitz) bezeichnen. Auch ‚Umwidmungen‘ kommen vor: Nicht selten werden Vorworte von Übersetzungen innerhalb von Werkoder Sammelausgaben nachgedruckt, wodurch sie den Status eigenständiger Texte erhalten (so die schon angeführte Vorrede Was ist übersetzen? von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ). Angesichts dieser Textsortenvielfalt ist es besonders wichtig, die jeweiligen Kontexte zu beachten. So sind Übersetzervorreden ebenso wie autobiographische Dokumente in der Regel auch als Legitimationstexte zu verstehen, von Aphorismen ist keine Systematik zu erwarten, die Kriterien einer Rezension hängen vom Publikationsort ab etc. Dies ist einerseits problematisch, weil es unmittelbare Vergleichbarkeit verhindert. Andererseits ist es gerade ein wesentliches Merkmal der Übersetzungsdiskussion, dass sie zu jeder Zeit auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlichen Institutionen und mit ungleichen Voraussetzungen und Zielsetzungen geführt wurde. II Aus der Heterogenität des Materials ergeben sich auch unterschiedliche Theoriestufen in den einzelnen Beiträgen. Dies ist allerdings nur dann problematisch, wenn man einen zu engen Begriff von Theorie zugrunde legt: Weder ist Theorie, wenn es um _____________ 5
Hans Joachim Störig lässt bezeichnender Weise die Einleitung zu seinem Band Das Problem des Übersetzens mit einer Sammlung von Aphorismen beginnen; s. Störig (1973), VII–IX. – An dieser Stelle ist auf einige Differenzen zwischen den drei Auflagen der Störig’schen Anthologie hinzuweisen: Die in der Erstauflage abgedruckte deutsche Übersetzung des Hieronymus-Briefes von Walter Hasenclever (Störig [1963], 1–13) wurde ab der zweiten Auflage durch die Übertragung von Wolfgang Buchwald ersetzt (Störig [1969], 1–13). An die Stelle der umfangreichen Abhandlung Was ist übersetzen? (1925) von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Störig [1963], 139–169) tritt ab der zweiten Auflage der 1924 entstandene kürzere Aufsatz Die Kunst der Übersetzung vom selben Autor (Störig [1969], 139–143). Die dritte Auflage wurde schließlich um ein Verzeichnis ausgewählter Literatur zur Übersetzungsproblematik erweitert (Störig [1973], 463–474).
Einleitung
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Übersetzung geht, ein geschlossenes System formallogischer, widerspruchsfreier Sätze bzw. Aussagen, noch ist sie das Gegenstück zur Praxis, das gegenüber dieser normsetzend wirkt.6 Die vorliegende Darstellung geht daher von einem weiter gefassten Theoriebegriff aus, um verschieden gelagerte Reflexionen berücksichtigen zu können. Bei einem solchen Begriff von Theorie entsteht Kohärenz nicht auf logisch-formaler Ebene, sie wird vielmehr diskursiv bzw. narrativ hergestellt. Das heißt auch, dass die Theorie selbst als prozesshaft und das Korpus theoretischer Texte grundsätzlich als offen anzusehen ist.7 Ein solches Verständnis verbietet es – anders, als beispielsweise Sdun (1976) und Stolze (1997) es tun – von Übersetzungstheorien (im Plural) zu sprechen. In der vorliegenden Darstellung kommt die Pluralität und Heterogenität der Ansätze durch die Verwendung von Begriffen wie ‚Übersetzungsstrategien‘, ‚Übersetzungsmethoden‘, ‚Übersetzungsprinzipien‘, ‚Übersetzungsverfahren‘, ‚Übersetzungskritik‘ und ‚Übersetzungsgeschichte‘ zum Ausdruck. Übersetzungstheoretische Reflexionen umfassen somit vielfältige Gegenstände und Fragestellungen: Was ist Übersetzen? Ist Übersetzen überhaupt möglich? Verhalten sich verschiedene Textgattungen unterschiedlich hinsichtlich Übersetzung und Übersetzbarkeit? Welche prinzipiellen sprachlichen Probleme stellen sich (z. B. Inkommensurabilität der Sprachen; sprachenspezifische Unterschiede in Wortbildung und Satzbau etc.)? Gibt es Kriterien – und wenn ja, welche – für die ‚gute Übersetzung‘? Eine wichtige Differenzierung für den Umgang mit dem übersetzungshistorischen Material ist die Unterscheidung von impliziter und expliziter Übersetzungstheorie.8 Die folgende Darstellung untersucht vor allem die explizite Theorie, die im Zusammenhang mit dem Übersetzen antiker Literatur entwickelt worden ist. Die implizite Theorie müsste aus den Übersetzungen selbst abgeleitet werden. Leitfragen, unter denen die expliziten übersetzungstheoretischen Stellungnahmen in der vorliegenden Untersuchung aufgearbeitet werden, lauten: Wer reflektiert das Übersetzungsproblem? Wie ist die Diskursstruktur beschaffen? In welchen Textsorten, mit welchen Darstellungsstrategien etc. wird das Übersetzungsproblem reflektiert? An welche Disziplinen oder Diskurse ist die Übersetzungstheorie angebunden (z. B. Hermeneutik, Sprachphilosophie etc.)? Welche historischen Strömungen und Tendenzen lassen sich ausfindig machen? Diese Liste ließe sich noch erweitern.
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In diesem Sinne äußert sich Rüdiger Singer zum Theoriestatus von Herders Vorrede Wäre Shakespeare unübersetzbar?: „Sie stellt aber auch eine der wichtigsten theoretischen Schriften Herders zur Theorie der Übersetzung dar: wenn man nämlich Theorie nicht als Systematik begreift, die von der Praxis gesondert oder ihr gar übergeordnet ist, sondern als eine Betrachtungs-Weise, die die eigene Praxis begleitet, mal von ihr angestoßen oder modifiziert, mal auch sie anstoßend oder modifizierend“; Singer (2007), 394. Zum Theoriebegriff allgemein vgl. u. a. Zima (2004), 20; zur Dynamik der Übersetzungstheorie vgl. Apel/Kopetzky (2003), 33. Vgl. Koller (2004), 35.
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Einleitung
III Dass sich spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert in Deutschland eine Übersetzungsmethode etablierte, die sich von der in anderen europäischen Ländern favorisierten Praxis des sogenannten einbürgernden oder zielsprachenorientierten Übersetzens grundlegend unterscheidet, steht außer Frage. Während jene Praxis des einbürgernden Übersetzens z. B. in England oder Frankreich sowohl aus normativ-ästhetischen als auch aus sprachspezifischen Gründen (etwa wegen der festgelegten Wortstellung) stets vorherrschend blieb, setzte sich in Deutschland – angeregt vor allem durch Klopstocks und Voss’ erfolgreiche Bemühungen um den ‚deutschen‘ Hexameter, die sprachphilosophischen Reflexionen der Frühromantiker und die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen Wilhelm von Humboldts – allmählich die Auffassung durch, dass die deutsche Sprache aufgrund ihrer Flexibilität, d. h. ihrer Variationsmöglichkeiten hinsichtlich der Wortzusammensetzung, der Anordnung der syntaktischen Glieder und der Silbenmessung, geradezu prädestiniert sei, die semantischen, grammatischen und metrischen Strukturen des jeweiligen Ausgangstextes auch in der Übersetzung sichtbar zu machen. Während das Übersetzen aus den alten Sprachen in Ländern mit einer primär einbürgenden Übersetzungstradition naturgemäß keinen Sonderfall darstellt, da sich die Übersetzung hier in erster Linie an zielsprachlichen Normen orientiert und somit die sprachlich-stilistischen Eigenheiten des Ausgangstextes stark nivelliert werden, machte der von den deutschen Übersetzern der Goethezeit eingeschlagene Weg eine sorgfältige Differenzierung der verschiedenen Ausgangssprachen geradezu unumgänglich. So wurde das auf einer rationalistischen Sprachauffassung beruhende Übersetzungsmodell der Aufklärung, das das Übersetzen ganz unproblematisch als Einkleiden des Inhalts in eine neue sprachliche Hülle definierte,9 gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch solche Übersetzungskonzepte abgelöst, die an die historisch-dynamische Sprachauffassung des Neuhumanismus und der Frühromantik anknüpften. Die Erkenntnis des engen Zusammenhangs von Sprache und Denken sowie von Inhalt und Form (Humboldt, Schleiermacher), das Bewusstwerden der Geschichtlichkeit sprachlicher Äußerungen, die Erfahrung sprachlicher Differenz sowie der jeweils neu zu vermessenden Distanz zwischen verschiedenen Zeit-, Sprach- und Kulturräumen, insbesondere zwischen Antike und Moderne (Schlegel, Novalis), schließlich auch die wachsende Bereitschaft, sich auf das Fremde, Andersartige einzulassen, waren notwendige Voraussetzungen dafür, dass die Antike als übersetzte Kultur überhaupt einen eigenen Stellenwert erlangen konnte. Auch im Hinblick auf die Übersetzungspraxis ging im ausgehenden 18. Jahrhundert ein maßgeblicher Impuls von der Übertragung eines antiken Werkes aus. Johann Heinrich Voss unternahm es in seinen Homer-Übersetzungen (Odyssee 1781, Ilias und überarbeitete Fassung der Odyssee 1793) erstmals, sowohl die sprachlichen Charakteristika des griechischen Epos als auch dessen hexametrische Form in _____________ 9
S. Vensky, Das Bild eines geschickten Übersetzers (1734), 63: „Personen, die nützliche Schriften in andere Sprachen einkleiden, werden also Uebersetzer genennet.“
Einleitung
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deutscher Sprache so genau wie möglich nachzubilden, und wies mit dem Normativitätsanspruch antiker Literatur der klassizistischen Übersetzung die Richtung. In den untersuchten übersetzungstheoretischen Texten selbst wird häufig die Sonderrolle erörtert, die den alten Sprachen auf verschiedenen Ebenen – u. a. unter sprachtheoretischen, kulturellen oder politisch-historischen Gesichtpunkten – zugeschrieben wird: − Die Frühromantiker vertreten die Auffassung, dass im Übersetzen antiker Literatur – aufgrund der großen zeitlichen, räumlichen und kulturellen Distanz – der Aspekt der Historizität und Fremdheit besonders deutlich erfahrbar werde (Novalis, Schlegel, Schleiermacher). − Die Vertreter der klassizistischen Übersetzungstradition berufen sich auf die Ursprünglichkeit des Griechischen, das seine große Gattungs- und Formenvielfalt nahezu ohne Fremdeinflüsse ganz aus sich entwickelt habe und daher unter den übrigen Sprachen als Musterbeispiel der Selbstvervollkommnung einer Nation gelten könne (Humboldt). − Im Zuge der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich verstärkenden nationalen Tendenzen wird oftmals – in Abgrenzung zu den stärker am Lateinischen orientierten Franzosen (und Italienern) – das Motiv einer Sprach- oder gar Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen wieder aufgegriffen und neu gedeutet (Wilamowitz und sein Kontrahent Borchardt, R. A. Schröder).10 − Kulturhistorische Darstellungen heben häufig auch die starke Einwirkung der „classischen Literaturen“ auf die Entwicklung der modernen Gesellschaften hervor (z. B. Hertzberg 1864). − In den eher fachdidaktisch orientierten Schriften wird nach wie vor die besondere Eignung des Übersetzens aus den alten Sprachen als Stilübung,, Denkschulung und Mittel zur Sprachsensibilisierung hervorgehoben (Mommsen, Keller, Cauer). − Bisweilen kommt es zu einer Funktionalisierung des Übersetzens antiker Texte aus kulturpolitischen Motiven heraus. Das Übersetzen antiker Literatur wird als geeignet angesehen, den modernen Rezipienten bestimmte moralische Werte zu vermitteln und ihnen die Zusammenhänge der eigenen (europäischen) mit der antiken Kultur zu verdeutlichen (Wilamowitz). − In dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Interesse an der „anderen“, „archaischen“ Antike, wie es sich beispielsweise in der begeisterten Aufnahme der von Norbert von Hellingrath wiederentdeckten Pindar-Übertragungen Friedrich _____________ 10
S. Wilamowitz-Moellendorff, Griechen und Germanen (1923), 107: „Wir aber sind [scil. im Ggs. zu Franzosen, Engländern, Italienern und Schweden] imstande gewesen, den Hellenen in die Seele zu sehen, weil wir Germanen waren. Denn diese tiefe innere Verwandtschaft ist auch an den Tag gekommen und wird noch deutlicher werden.“ Rudolf Borchardt spricht in einer autobiographischen Notiz von der notwendigen ‚Rückgewinnung‘ ‚unserer griechischen Kulturvoraussetzung‘; Borchardt, Der Dichter über sich selbst (1929), 201. Bei R. A. Schröder heißt es: „Die Verwandtschaft beider Sprachen geht so weit, daß den, der mit dem Altertum seiner eigenen auch nur ein wenig vertraut ist, bisweilen das Gefühl anwandeln mag, als habe in glücklichen Momenten seine Arbeit eigentlich nur der Übertragung von Worten und Begriffen aus einem jüngeren in einen gealterten Sprachzustand zu gelten.“ Schröder, Nachwort des Übersetzers [zu Homer, Ilias] (1943), 619.
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Einleitung
Hölderlins oder in der von Heidegger inspirierten Wortontologie Wolfgang Schadewaldts in Bezug auf die griechischen Lyriker und Tragiker manifestiert, wird dem Übersetzen griechischer Literatur ebenfalls eine Sonderrolle zugewiesen. Nicht immer aber wird das Übersetzen antiker Literatur als etwas Besonderes betont; bisweilen spielt das Spezifische der alten Sprachen höchstens implizit eine Rolle (Tycho Mommsen). Gerade seit den 1960er Jahren mehren sich solche Stimmen, die sich gegen eine Sonderbehandlung antiker Literatur aussprechen (C. Bremer, V. Ebersbach, M. Fuhrmann). Bei dem Großteil der in der vorliegenden Untersuchung dargestellten Positionen ist die den antiken Texten zugewiesene Sonderrolle aber von Bedeutung. In vielen übersetzungstheoretischen Abhandlungen wird nicht nur zwischen alten und modernen Sprachen, sondern auch zwischen dem Übersetzen aus dem Griechischen und dem Übersetzen aus dem Lateinischen unterschieden. Dem Griechischen wird dabei in den meisten Fällen eine Vorrangstellung zugesprochen. Die häufigsten Argumente in diesem Zusammenhang betreffen die größere sprachliche und kulturelle Nähe des Griechischen zum Deutschen und die zugleich vorgenommene Abgrenzung von der stärker auf das Lateinische ausgerichteten Übersetzungstradition der romanischen Länder, ferner die bereits erwähnte Annahme einer größeren Ursprünglichkeit des Griechischen, während die lateinische Literatur als von der griechischen abhängig und damit bereits als klassizistisch abgewertet wird. Außerdem erscheint bisweilen gerade die griechische Dichtung aufgrund ihrer großen Gattungs-, Stil- und Formenvielfalt sowie aufgrund ihres erhöhten Rekonstruktionsbedarfes in Bezug auf die performativen Elemente (Musik, Rhythmus, Tanz, Klang, Instrumentierung etc.) als besonders reizvoll. Aber Übersetzungen bzw. Übersetzungskonzepte können nicht nur in Beziehung zu bestimmten Antike-Konzepten stehen, sondern auch über das national-kulturelle Selbstverständnis des Übersetzers Aufschluss geben. So zeigt sich das klassizistische Konzept einer idealen und vorbildhaften Antike in dem übersetzerischen Bestreben, durch Nachbildung der sprachlichen und metrischen Formen des Originals die als defizitär empfundene deutsche Sprache zu bereichern und zu bilden (Voss, Humboldt), und das gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Bewusstsein für die Historizität der Antike fand Ausdruck in frühromantischen Übersetzungskonzeptionen, die gerade das Fremde und Differente des Originals sichtbar machen wollten (Schleiermacher). Ein Jahrhundert später hielt man den sprachlich-formalen Nachbau antiker Dichtung nicht mehr für erforderlich, sondern berief sich auf den hohen Stand der eigenen Kultur und auf diejenigen Normen, die durch die deutschen „Klassiker“ Goethe und Schiller vorgegeben seien (Wilamowitz). Ein neues, sich von dem goethezeitlichen Bild einer idealen Antike konsequent distanzierendes archaisierendes Antikekonzept entwickelten schließlich die Vertreter der klassischen Moderne, wie beispielsweise Rudolf Borchardt mit seinem Programm der „schöpferischen Restauration“ oder Norbert von Hellingrath, dessen Wiederentdeckung der Hölderlin’schen Pindar-Übertragungen besonders im George-Kreis große Aufmerksamkeit erregte. Archaisierende Antikekonzepte werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt auch in Übersetzungen im Zusammenhang mit Theateraufführungen sichtbar.
Einleitung
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IV Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts findet die übersetzungstheoretische Diskussion interdisziplinär und international statt. Nachdem sich die Übersetzungswissenschaft, die vor allem zu Beginn stark linguistisch orientiert und auf praktische Übersetzungskompetenz ausgerichtet war, Ende der 1960er Jahre als Disziplin konstituiert hatte, bildete sich zu Beginn der 1990er Jahre zudem eine vorwiegend historisch-deskriptiv ausgerichtete Übersetzungsforschung heraus, die literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Fragen einbezieht. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert wurde schließlich der translational turn der Kulturwissenschaft propagiert.11 So stehen hinter dem Begriff der Übersetzung verschiedene Konzepte und Diskurse. Die gegenwärtige Übersetzungsdiskussion ist also durch eine große Heterogenität gekennzeichnet, die die methodischen Ansätze wie die Begrifflichkeiten selbst betrifft. Die Bezeichnung ‚Übersetzung‘ wird nicht nur im engeren Sinn gebraucht, also für Vorgänge, die zwischen zwei Sprachen stattfinden (interlinguales Übersetzen), sondern auch für den innersprachlichen Wechsel zweier verschiedener Sprachstufen (intralinguales Übersetzen) und sogar für transmediale Übergänge zwischen zwei Zeichensystemen.12 Im übertragenen Sinne oder als tertium comparationis wird der Begriff ‚Übersetzung‘ überdies für viele weitere Phänomene (z. B. für Verstehen) verwendet. Gegenstand der vorliegenden Darstellung sind nur Schriften, die sich mit dem Übersetzen zwischen natürlichen Sprachen befassen, und hier wiederum nur deutschsprachige Beiträge, die ausdrücklich die besonderen Anforderungen und Bedingungen des Übersetzens antiker Autoren reflektieren oder doch im Zusammenhang des Übersetzens aus dem Griechischen oder Lateinischen ins Deutsche entstanden sind. Daraus erklärt sich auch, weshalb die Probleme des Übersetzens von Prosa hier kaum Berücksichtigung finden: Dem neuhumanistischen Kanon entsprechend, galt im 19. Jahrhundert das Interesse des gebildeten Lesepublikums – und damit auch der Übersetzer – vorrangig dem Epos, der Tragödie und der Lyrik, während etwa Philosophie, Historiographie oder Rhetorik in den Hintergrund traten. Hinzu kommt, dass seit dem 18. Jahrhundert das hohe Ansehen antiker Formensprache eine Debatte um deren Nachahmbarkeit auslöste. Auch im Zusammenhang des Übersetzens stand die Frage, ob und wie griechische Verse in die deutsche Sprache übertragen werden können, im Mittelpunkt, was die Übersetzungsdiskussion bis ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich bestimmte. Aber auch die Theoriediskussion außerhalb des deutschen Sprachraums bleibt hier unberücksichtigt, was insofern sachlich begründbar ist, weil sich nur in wenigen Einzelfällen nennenswerte Interferenzen mit der deutschen Diskussion feststellen lie_____________ 11 12
Bachmann-Medick (2006), 238–283, macht den Übersetzungsbegriff zu einem zentralen Paradigma kultureller Analysen. Zur Unterscheidung in interlinguales, intralinguales (auch rewording) und intersemiotisches Übersetzen (auch transmutation) s. Jakobson (1974), 154–161.
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ßen.13 Aber auch die umfangreiche theoretische Literatur ohne Antikebezug wird in der Darstellung nicht weiter aufbereitet. Die Übersetzungstheorie der Frühromantik wird immerhin kursorisch dargestellt, weil sie für Solger, Schleiermacher und die gesamte weitere Diskussion von enormer Bedeutung war. Nietzsches aphoristische Äußerungen14, Walter Benjamins Baudelaire-Vorwort15 oder die Überlegungen zur Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig16 werden dagegen übergangen, weil sie keine nennenswerten Spuren in der Diskussion über das Übersetzen antiker Autoren hinterlassen haben. Das gleiche gilt für im 20. Jahrhundert erneut vorgetragene sprachphilosophisch-hermeneutische Perspektiven auf das Übersetzungsproblem (Heidegger, Gadamer).17 Offenbar wurde nach Schleiermacher und Humboldt gerade im Zusammenhang des Übersetzens antiker Schriften die Kopplung von Übersetzungstheorie und allgemeiner Geistesgeschichte weitgehend aufgegeben. Diese Einschränkungen schlagen sich auch in der Auswahl der herangezogenen Forschungsliteratur nieder. So sind die Fragestellungen der übersetzungs- und kulturwissenschaftlichen Forschung nur bedingt nutzbar. Die literaturgeschichtliche Übersetzungsforschung (translation studies) betrachtet Übersetzungen als Teil des Sprach-, Literatur- und Kultursystems (u. a. in der polysystem theory 18) und bezieht dabei auch Übersetzungen antiker Autoren mit ein.19 Allerdings wird der Blick dabei weniger auf theoretische Fragen, sondern vielmehr auf die Übersetzungen selbst gerichtet, und zwar meist auf Übersetzungen aus neuen Sprachen. Zu Übersetzungen antiker Literatur liegen bislang nur Einzelstudien vor.20
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Als eines der seltenen Beispiele für die Auseinandersetzung mit englischer Theorie in Deutschland ist Löbel (1793) zu nennen. Die spezifische Entwicklung der Übersetzungstheorie in Deutschland stellt – aus französischer Sicht – Berman (1984) dar. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), § 28, 42 f., und ders., Die fröhliche Wissenschaft (1882), § 83, 114 f. Beide Texte sind auch abgedruckt in Störig (1973), 136–138. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1923). Buber/Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung (1936); Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift (1954). Eine ausführliche Aufarbeitung der übersetzungstheoretischen Ansätze Franz Rosenzweigs bietet Askani (1997). Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935); ders., Hölderlins Hymne „Der Ister“ (1942); ders., Parmenides (1942/43); ders., Heraklit (1943/44); ders., Der Spruch des Anaximander (1946); ders., Was heißt Denken? (1954); ders., Der Satz vom Grund (1957); Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 387–393; ders., Wie schreibt Sprache das Denken vor? (1970), v. a. 205 f.; ders., Lesen ist wie Übersetzen (1989). V. a. Even-Zohar (1990); Touri (1980) und (1995). Z. B. Apel (1982) und die im Göttinger Sonderforschungsbereich 309 („Die literarische Übersetzung“) entstandenen Arbeiten, darunter Poltermann (1990). Z. B. Gronemeyer (1963) zu R. A. Schröders Vergil-Übersetzungen, Frey (1964) zu Übersetzungen des Sophokleischen König Ödipus oder Häntzschel (1977) zu Voss’ Homer-Übersetzung.
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V Keine literaturhistorische Darstellung kommt ohne chronologische Gliederungen aus, ohne das Bestimmen von größeren oder kleineren Zäsuren, die verschiedene Zeitabschnitte voneinander trennen. In der Geschichte der Übersetzungstheorie sind einige Einschnitte unmittelbar augenfällig. Die Epochenschwelle um 1800 beispielsweise ist auch hier von grundlegender Bedeutung. Nicht immer lassen sich freilich die Daten übergeordneter literaturgeschichtlicher oder politischer Verläufe ohne weiteres auf Übersetzungsgeschichte und die damit zusammenhängende Theoriebildung übertragen; für das Jahr 1945 etwa ist hier kaum ein Kontinuitätsbruch zu erkennen. Sehr oft hat man es überdies mit allmählichen Veränderungen, mit der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Tendenzen und Ansätze, mit Rückgriffen auf ältere Vorstellungen oder mit pendelartigen Gegenbewegungen zu tun. So ist es kaum möglich, das Ende ‚klassizistischer‘ Übersetzungsprinzipien zeitlich eindeutig festzulegen: Einerseits konnten diejenigen, die verstärkt seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eine ‚poetische, deutsche‘ Übersetzung forderten, sich bereits auf ältere Gegenpositionen zu Voss berufen, andererseits ist seit den vierziger Jahren eine ‚neoklassizistische‘ Rückbesinnung auf das durch Voss etablierte metrische Prinzip festzustellen. Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sind ohnehin durch eine große Pluralität der Methoden und Theorieansätze bestimmt, die durch eine linear chronologische Gliederung nur bedingt dargestellt werden kann. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet das Jahr 1794: Auch die zeitgenössischen Leser begriffen das Erscheinen der Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voss21, die das metrische, ‚sprachmimetische‘ Prinzip der klassizistischen Übersetzungssprache nachhaltig prägte, als Zäsur. In den nächsten zwei Jahrzehnten erreicht die Übersetzungsdiskussion, auch im Zusammenhang der hermeneutischen Wende und des Aufschwungs der (Klassischen) Philologie als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin, eine nie gekannte Dichte und Qualität. Im Anschluss an frühromantische Theoriebildung erscheint 1808 Solgers Vorrede zur Sophokles-Übersetzung, 1813 Schleiermachers Akademierede, 1816 Humboldts Vorrede zum Agamemnon. In allen drei Fällen war eigene Übersetzungsarbeit vorangegangen. Zur programmatischen Absage an klassizistische Übersetzersprache kommt es nach dem Ende des ‚Kunstzeitalters‘ im deutschen Vormärz. Der unmittelbare Bezug zur Gegenwart führt dabei oft auch zur politischen Deutung antiker Autoren. Um die Jahrhundertmitte wird die Übersetzungsdiskussion an Diskurse des Realismus angebunden (Porträt- und Photographie-Metapher bei Seeger, Wilbrandt u. a.). Daneben sind weiterhin verschiedene Spielarten ‚neoklassizistischer‘ Übersetzung zu beobachten (z. B. im Münchner Dichterkreis, bei Johannes Minckwitz), wobei die Grenzen zwischen dem Prinzip der einbürgernden und der metrischen Übersetzung oft verwischt werden. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bleibt ohne deutliche Zäsuren und ist allgemein durch geringe Theoriefreudigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Kon_____________ 21
Eine ältere Fassung der Odüßee war schon 1781 erschienen.
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zepte gekennzeichnet. Oft stehen Übersetzungen dabei im Dienst des Schulkanons der humanistischen Gymnasien. Am Ende des Jahrhunderts versteht Wilamowitz Übersetzen als einen Prozess, der eine enge Seelenverwandtschaft, ja sogar ‚Seelenwanderung‘ zwischen antikem Autor und Übersetzer voraussetzt, und begründet den formalen Eklektizismus seiner Tragödienübersetzungen durch eine Analogisierung griechischer Sprachformen mit verschiedenen etablierten Mustern der deutschen Literaturgeschichte. In scharfer Auseinandersetzung mit Wilamowitz wird um 1900 Form als ein zu bewahrendes Element der Dichtung neu bewertet. 1905 erscheint Borchardts Gespräch über Formen, 1910 Kurt Hildebrandts Hellas und Wilamowitz. Von großer Wirkung ist die Erstausgabe von Hölderlins Pindar-Übertragungen, die Norbert von Hellingrath 1910 unternahm. 1927 erscheint Schadewaldts erster Beitrag zur Übersetzungstheorie (Das Problem des Übersetzens), der noch in Kontinuität zur unmittelbar vorangegangenen Diskussion steht und – wie andere Beiträge dieser Jahre – das Übersetzen als Tätigkeit zwischen Kunst und Wissenschaft betrachtet. Die großen kunsttheoretischen Fragen der Zeit (Form und Stil, Irrationalität des Dichterischen) stehen im Vordergrund. Zudem werden die Theorieansätze in einzelnen Punkten auf historische Positionen (vor allem Schleiermacher, aber auch Wilamowitz) bezogen. Die Ideologie des Nationalsozialismus hinterlässt in der Übersetzungsreflexion wenig Spuren. Seit den sechziger Jahren verläuft die Übersetzungsdiskussion parallel zur Entwicklung der Geisteswissenschaften. Allerdings wird die pragmatische Übersetzungswissenschaft nur selten für Reflexionen beim Übersetzen antiker Autoren genutzt (z. B. bei Nickel, 1974), hermeneutisches Problembewusstsein sucht man vergebens. Die starke Präsenz des antiken Dramas auf deutschsprachigen Bühnen nach 1945 führt dazu, dass Fragen der Übersetzung am häufigsten anhand griechischer Tragödien erörtert werden. Dabei bildet die Entgegensetzung von dokumentarischem und transponierendem Übersetzen, wie sie in der Kontroverse zwischen Schadewaldt und Staiger formuliert worden ist, ein wichtiges Motiv. Ob Schadewaldts Grundsätze des dokumentarischen Übersetzens auch auf lateinische Texte anwendbar sind, wird bis in die Gegenwart hinein intensiv diskutiert (Kytzler, Fuhrmann, Fink, von Albrecht, Holzberg). In jüngster Zeit ist auch das antike Epos wieder Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen geworden. Die Homer-Übersetzer Kurt Steinmann und Raoul Schrott greifen dabei in der Darlegung ihrer Prinzipien auf Motive der um 1800 einsetzenden Theoriedebatte zurück und kommen zu höchst kontroversen Ergebnissen: Die Debatte kann neu beginnen. Die vorliegende Darstellung und Dokumentation könnte dafür als Grundlage dienen. Josefine Kitzbichler Katja Lubitz Nina Mindt
Von 1800 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Josefine Kitzbichler
Übersetzungstheoretischer Paradigmenwechsel um 1800 Voraussetzungen Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muß auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verlassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchsloser Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muß.1
Als Wilhelm von Humboldt 1816 eine Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon veröffentlichte, legte er in einer Vorrede Rechenschaft über die zugrunde gelegten Prinzipien ab. „Einfache Treue“ gegenüber dem Original lautete darin lapidar die erste Bedingung für eine gute Übersetzung. Dies scheint heute selbstverständlich, ist doch die Anbindung an die Vorlage das wesentliche Merkmal, das Übersetzungen von „Originalliteratur“ unterscheidet. Aber Humboldt hätte das Treuepostulat nicht so herausgehoben, er hätte nicht auf den „wahren Charakter“ des Originals hinweisen müssen, er hätte sich nicht auf den „Geist der Nation“ berufen müssen, wenn die Treue der Übersetzung gegenüber dem Original tatsächlich selbstverständlich gewesen wäre. Und Humboldt fährt fort: Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, daß die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt […].2
„Treue“ im Verständnis Humboldts heißt auch, die Fremdheit, die dem griechischen, zweieinhalb tausend Jahre alten Ausgangstext eignet, in der Übersetzung mit darzustellen. Eine Übersetzung setzt also, nach Humboldts Auffassung, gründliches Studium voraus. Sie muss in erster Linie dem Original, seinem wahren, d. h. sprachlichen und nationalen Charakter treu sein, wodurch sie notwendigerweise innerhalb der Literatur des Übersetzers fremd erscheint. Nur so kann sie schließlich der eigenen Nation und Sprache förderlich sein. Mit dieser Begriffsbestimmung steht Humboldt für den übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel, der sich in die Epochenschwelle um 1800 einordnet und zugleich seine eigene Geschichte hat. Die praktischen Konsequenzen lauteten für Humboldt (und für andere zeitgenössische Übersetzer): Die Übersetzung muss dem Text des Originals folgen, ohne Erläuterungen unverständlicher Stellen hinzuzufügen, ohne anstößige oder als unnötig emp_____________ 1 2
Humboldt, [Vorrede] (1816), XIX. Zu Wilhelm von Humboldt s. u. S. 64 ff. Humboldt, [Vorrede] (1816), XIX.
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fundene Stellen auszulassen, ohne als fehlerhaft betrachtete Stellen zu verbessern. Sie muss jedem Vers des Originals genau einen deutschen Vers gegenüberstellen. Sie muss das Versmaß des Originals imitieren und, so weit es immer möglich ist, auch Wortfolge, Wortbau und Syntax bewahren. An diese Erneuerung der Übersetzungssprache knüpfte sich eine intensive theoretische Diskussion, die in großem poetologischem, sprach- und geschichtstheoretischem Zusammenhang geführt wurde und die von immenser Wirkung bis hinein in die Gegenwart ist. Natürlich hatte man auch im 18. Jahrhundert der Frage des Übersetzens Aufmerksamkeit geschenkt.3 Nach Maßgabe der Aufklärung und ihres rationalistischen Sprachkonzepts galten Wörter als einfache Zeichen für die Gedanken. Hinter den verschiedenen Zeichen der einzelnen Sprachen standen universell gültige Bedeutungen. Alle Zeichen konnten verlustfrei durch gleichbedeutende Zeichen anderer Sprachen ersetzt werden. Weder für Johann Christoph Gottsched noch für die Zürcher Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer noch für Lessing stellte sich Übersetzung daher als ein Problem dar. Übersetzungstheorie bestand vor allem aus Handlungsanweisungen. Übersetzungen antiker Autoren sollten – wie Literatur überhaupt – den Leser unterrichten und unterhalten; dazu mussten sie den rhetorischen Anforderungen von claritas, proprietas und decorum gerecht werden. Das Übersetzen antiker Verse entweder in Prosa oder in „deutsche“ Verse (Blankvers, Alexandriner, gereimte Strophen) war üblich und entsprach der Lehrmeinung.4 Ebenso üblich war es, das Original zu „verbessern“, dunkle Stellen verständlich zu machen und Erläuterungen in den Übersetzungstext selbst zu integrieren. So zielte Christian Garves Cicero-Übersetzung (1787) darauf, die Ideen desselben [scil. Ciceros] so vorzutragen, daß sie auf den Deutschen Leser eine gleiche Wirkung thun, als die lateinisch ausgedrückten der Urschrift auf den Römer gethan ha-
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Zur Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert vgl. Huber (1968); Apel (1982), 36–89; Kelletat (1984); Apel/Kopetzki (2003), 73–83; Senger (1971). Zur Rezeption der Übersetzungstheorie des 18. Jahrhunderts und zum Rückgriff besonders auf die rhetorische Begrifflichkeit im 20. Jahrhundert (Fuhrmann) s. u. S. 339–342. Für Gottsched beispielsweise war die Prosaübersetzung Programm: „Die Verse machen das Wesen der Poesie nicht aus, viel weniger die Reime […]. Denn wer wollte es leugnen, dass nicht die prosaische Übersetzung, welche die Frau Dacier vom Homer gemacht noch ein Heldengedicht geblieben wäre.“ Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), 6 f. Zu Anne Dacier s. u. S. 19. Noch 1814 plädierte Goethe für Prosaübersetzungen: „[D]as eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrig bleibt, wenn er in Prose übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein blendendes Äußere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und, wenn er gegenwärtig ist, verdeckt.“ Goethe, Dichtung und Wahrheit, 11. Teil (1814), Bd. 9, 493. In Übersetzungen griechischer Tragödien und Komödien hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts der Blankvers weitgehend durchgesetzt. Die Aischylos-Übersetzung des Grafen Stolberg etwa (1802) verwendete ihn für die Dialoge und fasste die Chöre in freie Rhythmen; Wielands Übersetzung der Acharner (1794) war überhaupt die erste Vers-Übersetzung des Aristophanes seit beinahe zweihundert Jahren (seit der Übersetzung der Wolken von Isaak Fröreisen aus dem Jahr 1613, die in Knittelversen gehalten war); sie ersetzte die griechischen Trimeter ebenfalls durch deutsche Blankverse.
Voraussetzungen
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ben. Ich will kein Gemählde, sondern ich will einen Unterricht in nützlichen Wahrheiten geben.5
Garve betrachtete die Übersetzung also dezidiert nicht als Abbild („Gemählde“) eines antiken Texts, sondern als nahezu eigenständige moralphilosophische Schrift und musste folglich daran interessiert sein, vermeintliche Dunkelheiten des lateinischen Textes in der Übersetzung zu beseitigen und Gedankenfolgen, die er für unrichtig hielt, zu korrigieren. Dennoch zeichnet sich auch bei einigen Autoren der Aufklärung schon ein aufkommendes Problembewusstsein ab. Während beispielsweise Johann Christoph Gottsched6 und Georg Venzky7 dem Verständnis vom Übersetzen als einer bloßen Substitution der sprachlichen Zeichen unbedenklich folgten, tauchten in Johann Jakob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) Ansätze zu einer Historisierung von Sprache und Dichtung auf, die auch den Übersetzungsbegriff berührten. Dies geschah zunächst vor allem in Auseinandersetzung mit englischer Literatur; Bodmers Übersetzung von John Miltons Paradise Lost spielte dabei eine herausragende Rolle. Diejenigen übersetzungstheoretischen Entwürfe aber, die nach 1800 tatsächlich das rationalistische Sprach- und Übersetzungsverständnis abzulösen vermochten, waren wesentlich von der Erfahrung des Übersetzens antiker, insbesondere griechischer Autoren inspiriert. Gemeinsam ist in jedem Fall die Distanz zum französischen Klassizismus, die in der Rezeption Miltons und Shakespeares bei den Zürchern oder bei Lessing inbegriffen war und die dann (während der Befreiungskriege!) bei Friedrich Schleiermacher8, Wilhelm von Humboldt und anderen zur feststehenden Bedingung wurde. Der übersetzungstheoretische Paradigmenwechsel vollzog sich auch in Abgrenzung gegen die französische Tradition der belles infidèles.9 Seit Winckelmann hatte der deutsche Klassizismus10 antike Formensprache nicht nur in der bildenden Kunst zum Muster erhoben und zugleich den Fokus von Rom nach Griechenland verschoben. Die begeisterte Aufnahme Homers, Sophokles’ und anderer Autoren brachte in kurzer Zeit eine große Zahl neuer Übersetzungen hervor. Auch die Philologie nahm einen enormen Aufschwung und lieferte neben Texten und _____________ 5
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Garve, Vorrede (1787), XIII. Zugleich mit der Übersetzung erschienen Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten (3 Teile). Garve (1742–1798) war philosophischer Schriftsteller und Freund Moses Mendelssohns. Die Vorrede zur Cicero-Übersetzung zeigt, dass ihm die historische Betrachtungsweise keineswegs fremd war. Bei Autoren, die „etwas Eigenthümliches haben“, also bei Rednern und Dichtern, müsse der Übersetzer den Leser auch „in jene Zeiten und Oerter“ des Originals zu versetzen wissen, was für Schriftsteller, die „gar nichts eigenes haben“, nicht gilt. Zur letztgenannten Gruppe zählte er auch philosophische Schriftsteller (wie eben Cicero). Allerdings bleiben diese historisierenden Tendenzen den rhetorischen Kategorien untergeordnet. Vgl. Garve, Vorrede (1787), X. Gottsched äußerte sich im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751) nur am Rande zum Übersetzen. Vgl. Georg Venzky, Das Bild eines geschickten Übersetzers (1734). Venzky gehörte dem Kreis um Gottsched an. Zu Schleiermacher s. u. S. 54 ff. Zu Begriff und Geschichte der belles infidèles vgl. Graeber (2007). Unter „Klassizismus“ wird im Folgenden, wenn es nicht ausdrücklich anders vermerkt ist, nicht der französische, sondern immer der deutsche Klassizismus in der Nachfolge Winckelmanns verstanden.
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Übersetzungstheoretischer Paradigmenwechsel um 1800
Kommentaren eine Fülle historischer und literaturgeschichtlicher Kenntnisse. Sie fußte auf klassizistischen Vorgaben, hatte aber bald auch Anteil an der hermeneutisch-historischen Wende, die nach 1800 den historischen Wissenschaften ein neues methodisches Fundament gab. Wenn erste Ansätze einer Erneuerung der Übersetzungssprache und des Übersetzungsbegriffs also schon vor Winckelmann sichtbar sind und wenn daher die Behauptung eines Paradigmenwechsels und mehr noch seine zeitliche Bestimmung nicht ohne Schwierigkeiten ist: die Bedingungen, unter denen Übersetzungstheorie neu formuliert werden konnte, lagen wesentlich in der nach klassizistischen Vorgaben neu geprägten Sprachform für Übersetzungen, in dem aufkeimenden historischen Bewusstsein, der hermeneutisch-historischen Methodenbildung und nicht zuletzt im Kenntniszuwachs, den die philologische Forschung damals brachte. 1793 erschien in vier Bänden der Voss’sche deutsche Homer.11 1808 begründete Karl Wilhelm Ferdinand Solger in seiner deutschen Sophokles-Ausgabe erstmals, dass Übersetzung als Form sprachlicher Rekonstruktion eine genuine Methode der Philologie ist.12 1813 hielt Friedrich Schleiermacher seine folgenreiche Akademierede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens.13 1816 erschien Wilhelm von Humboldts Übersetzung des Aischyleischen Agamemnon mit einem klassizistischen Voraussetzungen und sprachphilosophischen Ansätzen gleichermaßen verpflichteten Vorwort.14 Mit diesen Daten ist der zeitliche Rahmen gesteckt, in dem sich der theorische Paradigmenwechsel vollzog. Seine Bedingungen – Klassizismus, historische Hermeneutik, Philologie – sind im Folgenden näher zu erläutern. Klassizismus Die Verspätung der deutschen, d. h. der Weimarer Klassik im europäischen Vergleich hatte nicht nur die Gleichzeitigkeit von Klassik und Romantik, von idealer und historischer Betrachtung der Antike zur Folge, sondern auch den singulären Weg deutscher Übersetzungsgeschichte und -theorie. Das Konzept größtmöglicher Formtreue, wie es von Humboldt und anderen vertreten wurde, fand in anderen europäischen Literaturen damals weder Analogien noch Nachahmer.15 Konstitutiv für dieses Konzept waren zunächst drei Momente: die Ersetzung des römischen Paradigmas durch das griechische, der hohe Stellenwert, den man generell im Klassizismus künstlerischer Form beimaß, und das eigentümliche Spannungsverhältnis von Normativität und Historizität im Hinblick auf die Antike.
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Eine erste Fassung der Odyssee war bereits 1781 im Selbstverlag erschienen. Übersetzungsgeschichtlich bedeutsamer ist die Ausgabe von 1793. Zu Solger s. u. S. 46 ff. S. u. S. 53 ff. S. u. S. 64 ff. Eine fundierte Untersuchung zu den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Übersetzungsliteraturen und -theorien im europäischen Maßstab steht bislang aus; vgl. einstweilen Berman (1984) und van Hoof (1991).
Voraussetzungen
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Seit Winckelmann hatte Griechenland gegenüber Rom in Deutschland den Vorzug erhalten, was eine Neubestimmung des Kanons antiker Literatur nach sich zog und zugleich eine Absage an die französische Literatur und Kunst bedeutete. Homer und die griechischen Tragiker rückten an die erste Stelle. Die neuen „Klassiker“ waren aber für die große Mehrzahl der Sprachunkundigen nur über lateinische oder französische Übersetzungen oder gar über kompendiarisch verfügbare Auszüge und Nacherzählungen zugänglich.16 Es ergab sich die Notwendigkeit, diese Texte in Übersetzungen, die den Bedürfnissen gerecht wurden, völlig neu zu erschließen. Diese Verschiebungen im Kanon werden deutlich, wenn man beispielsweise die Geschichte der Ovid-Übersetzungen neben der der Übersetzungen griechischer Tragiker betrachtet: Dem deutlichen Rückgang deutscher Ovid-Ausgaben seit Ausgang des 18. Jahrhunderts steht ein sprunghafter Anstieg der Tragödien-, insbesondere der Sophokles-Übersetzungen gegenüber. Ähnliches lässt sich auch für andere Autoren feststellen.17 Mit dem Übersetzen gingen neue formale Herausforderungen und Erfahrungen einher. Schon durch Friedrich Gottlieb Klopstocks Christus-Epos Messias (4 Bde., 1751–1773), das der deutschen Literatur den Hexameter gewann, und durch Klopstocks antikische Odenstrophen war eine Diskussion um die Adaption antiker Versmaße für deutsche Literatur angestoßen worden.18 Zwar wurde der Aspekt der Form seit Winckelmann vorrangig über die bildenden Künste, besonders die Plastik vermittelt, aber auch im Medium der Sprache erfuhr Form neue Beachtung. Der Hexameter, den Klopstock geschaffen hatte, lehnte sich vergleichsweise lose an die antiken Vorgaben an. Er ersetzte beispielsweise den Spondeus meist durch einen deutschen Trochäus, was, nach Auffassung Klopstocks, der Eigenart der deutschen Sprache geschuldet war. „Unser Hexameter ist also nicht sowohl eine griechisch-deutsche Versart, sondern viel_____________ 16
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Goethe beispielsweise wurde zu Anfang der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts durch französische und englische Schriften auf Homer aufmerksam; vgl. Dichtung und Wahrheit, 12. Buch (1814), Bd. 9, 538. Schillers Euripides-Übersetzungen (siehe Literaturverzeichnis) entstanden im Wesentlichen auf der Grundlage lateinischer und französischer Übersetzungen; August Wilhelm Schlegel spottete deshalb: „Nur wenig Englisch weiß ich zwar, / Und Shakspeare ist mir gar nicht klar: / Doch hilft der treue Eschenburg / Wohl bei dem Macbeth mir hindurch. / Ohn’ alles Griechisch hab’ ich ja / Verdeutscht die Iphigenia; / Lateinisch wußt’ ich auch nicht viel, / Und zwängt’ in Stanzen den Virgil.“ – Besonders verbreitet waren die oft sehr frei verfahrenden französischen Übersetzungen der Madame Anne Dacier (Homer, Aristophanes, Anakreon, Sappho u. a.) oder die von dem Jesuitenpater Pierre Brumoy herausgegebene Sammlung Le théatre des Grecs (zuerst in 3 Bänden 1730 in Paris erschienen, später erweitert und vielfach nachgedruckt). So verzeichnet der Katalog der Berliner Staatsbibliothek für die Zeit von 1750 bis 1800 zehn Übersetzungen von Vergils Aeneis (darunter allerdings auch Teilübersetzungen), für die Zeit von 1800 bis 1850 sind es, wenn man Neuauflagen älterer Übersetzungen nicht zählt, nur drei. Ähnlich steht es bei Ovids Metamorphosen: zwölf Übersetzungen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts steht eine einzige (die von Voss, 1824) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber. Für Sophokles ergibt sich ein umgekehrter Befund: neun Übersetzer haben zwischen 1750 und 1800 deutsche Versionen vorgelegt, zwischen 1800 und 1850 waren es 25. Bei Homer freilich war die Übersetzung durch Voss so erfolgreich, dass nach 1800 kein Anstieg in der Übersetzungsstatistik zu verzeichnen ist. Vgl. Klopstock, Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen (1755) und Vom deutschen Hexameter (1779). Zur Aneignung antiker Versmaße im 18. Jahrhundert vgl. u. a. Kelletat (1949) und Hellmuth/Schröder (1976). S. außerdem unten S. 32–34.
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mehr eine deutsche“19, lautete Klopstocks Auffassung. Von Klopstocks Verskunst ausgehend und in Auseinandersetzung mit dem zu übersetzenden griechischen Text formte sich eine besondere klassizistische deutsche Übersetzersprache. Auslösendes Ereignis war ein Wettstreit dreier Freunde um die richtige Art, Homer zu übersetzen. Mitte der 1770er Jahre – Klopstocks Aufenthalt in Göttingen und sein begeisterter Empfang durch die Dichter des Göttinger „Hainbunds“ im Jahr 1774 lag noch nicht lange zurück – begannen die Ilias- und Odyssee-Übersetzungen dreier Hainbündler in der literarischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen. Gottfried August Bürger20 hatte schon 1771 erste Proben aus einer in Jamben übersetzten deutschen Ilias veröffentlicht, die zunächst weitgehend unbeachtet geblieben waren. Nun, im Jahr 1776, erschienen im neu gegründeten Deutschen Museum und in Wielands Teutschem Merkur weitere Stücke der Übersetzung und fanden allgemein Beifall: Aus Weimar wurde Bürger sogar eine finanzielle Unterstützung seines Vorhabens zugesagt.21 Bald aber erreichte Bürger die Nachricht, dass auch Friedrich Graf zu Stolberg22 eine IliasÜbersetzung in Arbeit habe: „Er ist mit deinen Jamben nicht zufrieden, und glaubt, daß du Homeren herabwürdigst“23, schrieb Heinrich Christian Boie, der Herausgeber des Deutschen Museum, an Bürger und benannte damit die Frage, um die der Wettstreit sich letztlich drehte: Welches Versmaß sollte der deutsche Homer haben? Stolbergs Ilias war in Hexametern geschrieben, die dem Vorbild Klopstocks folgten. Ein Auszug daraus erschien noch Ende desselben Jahres wiederum im Deutschen Museum, die Buchausgabe folgte 1778. Die Behandlung des Versmaßes und eine gewisse Flüchtig_____________ 19
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Vom deutschen Hexameter (1779), 57. – Zum Problem der Spondeen schrieb Klopstock: „Wir haben Daktylen, wie die Griechen, und ob wir gleich wenige Spondeen haben; so verliert doch unser Hexameter dadurch, daß wir statt der Spondeen meistentheils Trochäen brauchen, so wenig, daß er vielmehr fließender, durch die Trochäen, wird; weil in unsern Sylben überhaupt mehr Buchstaben sind, als bei den Griechen. Es ist wahr, die Griechen unterscheiden die Länge und Kürze ihrer Sylben nach einer viel feinern Regel, als wir. Wenn wir unsre Sprache nach ihrer Regel reden wollten, so hätten wir fast lauter lange Sylben. Dieses ist der Natur des Gehörs zuwider, welches eine ungefähr gleiche Abwechselung von langen und kurzen Sylben verlangt. Die Aussprache hat sich daher nach den Forderungen des Ohrs gerichtet.“ – Klopstock, Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen (1755), 5. Gottfried August Bürger (1747–1794) war durch Christian Adolf Klotz in Halle zuerst zu Altertumsstudien angeregt worden. 1768 ging er zum Jurastudium nach Göttingen und fand ebenda Zugang zu den literarischen Kreisen des Hainbunds. Bekannt wurde er vor allem durch seine Balladen und Gedichte. Vgl. Goethe, Disseitige Erklärung auf Bürgers Anfrage wegen Uebersetzung des Homers (1776). Hinter dem Angebot standen neben Goethe selbst auch der Herzog Ernst August, Wieland, Knebel, Bertuch u. a. Auszüge aus Bürgers jambischer Ilias-Übersetzung erschienen in der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften (1771), im Deutschen Museum (1776) und im Teutschen Merkur (1776). Bürgers Hexameter-Übersetzung erschien im Journal von und für Deutschland (1784). Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819) kam 1772 zum Studium nach Göttingen. Neben Oden, Balladen und Liedern verfasste er auch antikisierende Chordramen. Beachtliche Verbreitung fand seine Aischylos-Übersetzung (1783). Nach dem Übertritt zum Katholizismus (1800) kam es zu heftigen Kontroversen mit Voss. Boie an Bürger, 25.10.1776, in: Strodtmann (1874), 348.
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keit der Übersetzung – die Stolberg durchaus bewusst war24 – rief die Kritiker auf den Plan. In den Streit, der entstand, mischte sich auch Johann Heinrich Voss25, der jüngste der drei, der zu dieser Zeit schon den Plan einer eigenen Homer-Übersetzung verfolgte.26 (Bürger dagegen gab angesichts der Konkurrenz seine Arbeit vorerst auf27). Voss allerdings hatte sich nicht die Ilias, sondern die Odyssee, die unter den Freunden als das schwieriger zu übersetzende Werk galt, vorgenommen. Auszüge aus der Übersetzung wurden schon 1777 und 1778 an verschiedenen Stellen veröffentlicht, und mit großer Energie bereitete er in den folgenden Jahren die Buchausgabe vor. Sie erschien 1781 (im Selbstverlag) und enthielt, abweichend von der bisherigen, auch von Bürger und Stolberg befolgten Praxis, nicht nur den übersetzten Text des Epos, sondern auch einen Fußnotenapparat, der es Voss ermöglichte, Erklärungen schwer verständlicher Stellen aus dem Übersetzungstext auszulagern – der gewachsene Sinn für die Integrität des Originals ist auch darin sichtbar. Voss’ „Odüßee“, so seine Schreibweise, wurde allgemein gut aufgenommen, und als auch Stolberg seine Übersetzungspläne aufgab, entschloss sich Voss, eine Übersetzung der Ilias folgen zu lassen. Inzwischen aber hatte ihn seine Beschäftigung mit Vergils Georgica (1789 erschienen) zu neuen Einsichten in das antike Metrum und seine deutsche Darstellung geführt, zu einer „Theorie des deutschen Hexameters, die in wesentlichen Dingen von der Klopstockischen abweicht“28, wie er nicht ohne Sorge über die Reaktion Klopstocks schrieb. Anwendung der Zäsurregeln auch in der Übersetzung gehörte ebenso zu dieser Theorie, wie die Beachtung der Silbenlänge im Deutschen, zumal bei den Spondeen, auf deren Bildung Voss viel Sorgfalt verwendete. Nach diesen Grundsätzen arbeitete Voss die Odyssee um und übersetzte die Ilias, so dass 1793 erstmals der ganze Homer in einer deutschen Ausgabe vorlag: Diese Übersetzung wurde zu einem entscheidenden Ereignis in der deutschen Übersetzungsgeschichte. _____________ 24
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„Im Ernste fühl ich daß viel Nachlässigkeiten in meiner Uebersetzung sind, aber ich habe warlich nicht die Gabe zu feilen, Foibus Apollon gab mir keine Feile, das ist warlich mein Fall“, schrieb Stolberg deshalb an Klopstock; in: Tgahrt (1989), 310. Johann Heinrich Voss (1751–1826), aus armen Verhältnissen stammend, kam mit finanzieller Unterstützung Boies 1772 zum Studium (u. a. bei Heyne) nach Göttingen, wo er sich den Hainbund-Autoren anschloss. Später war er als Rektor der Lateinschulen in Otterndorf und Eutin tätig; die letzten zwei Lebensjahrzehnte verbrachte er in Heidelberg. Mit seiner Homer-Übersetzung hat Voss ein epochales Werk der deutschen Übersetzungsgeschichte geschaffen (vgl. Häntzschel [1977]). Seine zahlreichen anderen Übersetzungen (Vergil, Horaz, Theokrit, Aristophanes u. a.) fanden schon bei den Zeitgenossen (wohl nicht immer zu recht) weniger Anerkennung und konnten sich nicht durchsetzen. In seiner Heidelberger Zeit überwarf er sich mit dem früheren Freund Stolberg (Pamphlet Wie ward Fritz Stolberg zum Unfreien?, 1819) und verstrickte sich in heftige Auseinandersetzungen mit den Romantikern (vor allem mit Creuzer und Görres). Vor allem in den drei sog. Verhören, die 1779 und 1780 im Deutschen Museum erschienen. Später unternahm Bürger noch den Versuch einer Hexameter-Übersetzung der Ilias, die jedoch fragmentarisch blieb. Lediglich Proben daraus erschienen im Journal von und für Deutschland; vgl. Wolf, Ist Homer auch übersetzbar? (1784). An Boie, Juli 1785, in: Voss, Briefe (1832), Bd. 3,1, 157. Weiter schreibt Voss: „Wider vermuthen sah ich mich genöthigt, bis zu der Untersuchung unsrer Silbenzeit zurückzugehn. Eine mühsame, und wie mir ahndet, undankbare Arbeit!“
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Die Leser reagierten anfangs mit Befremden; „es ist Methode in seiner Undeutschheit“, schrieb August Wilhelm Schlegel in der Allgemeinen Literatur-Zeitung: Er hat sich überall an die griechische Ordnung anschmiegen wollen, nicht so nah wie möglich, (dies wäre sehr zu loben) sondern so nah, wie es in unsrer Sprache unmöglich ist.29
In einer Spottschrift war die Rede von der „Vossischen Sprachumwälzung“30. Voss ließ sich dadurch allerdings von seiner Auffassung nicht abbringen, im Gegenteil. Mit jeder Neuauflage verfeinerte und präzisierte er seine Methode. Welche Übersetzung sich schließlich durchsetzte, ist bekannt. Anlässlich der zweiten Auflage (1802) notierte Karl Solger: Der ganz neue Homer von Voß scheint mir wirklich der beste. […] Die Verse sind durch und durch schön und nie so polternd wie einige in den ältern Ausgaben, die allzuschön seyn wollten. Sie bleiben die unerreichbaren Urbilder des deutschen Hexameters. Wer sie ohne tiefes und langes Studium nachzubilden wagt, der läuft Gefahr eine Parthenaeis herauszubringen. […] Jetzt erst können wir sagen, daß wir einen vollkommenen deutschen Homer haben.31
Mit der dritten Auflage (1806 bei Cotta gedruckt) hielt die Übersetzung endgültig Einzug in den Kanon und wurde die gültige deutsche Übersetzung Homers und für die Folgezeit das Muster klassizistischer Übersetzungskunst. Ein Vergleich der Fassungen zeigt, dass dabei von dem metrischen Prinzip eine „Hebelwirkung“32 auf Voss’ gesamte Übersetzungsstrategie ausging, wie Günter Häntzschel schrieb: Mit strengerem Einhalten der Metrik erfahren die Wortfolge, die Wortfügung und der Bau der einzelnen Wörter eine durchgreifende Veränderung, denn folgerichtig entscheidet sich Voß nun bei Divergenzen zwischen beiden Sprachen, soweit es ihm möglich ist und er es verantworten kann, nicht mehr für die deutsche, sondern für die fremde.33
Dass die Sprache des Voss’schen Homer nachhaltige Spuren nicht nur in späteren Übersetzungen, sondern in deutscher Sprache und Literatur überhaupt hinterlassen hat, ist bekannt; Goethes Hermann und Dorothea und Iphigenie sind die berühmtesten Beispiele dafür.34 _____________ 29 30
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A. W. Schlegel, Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 506. – Schlegel revidierte seine Auffassung später, vgl. unten S. 43. Der Scholiast zum teutschen Homer, oder Journal für die Kritik und Erklärung des Vossischen Homers. (Invenies etiam disjecti membra poetae), anonym erschienen mit der Jahresangabe „Im sechsten Jahr der Vossischen Sprachumwälzung“. Autor war Paul Emil Thieriot (1780–1831), ein Violinist und Philologe, enger Freund Jean Pauls. Notiz vom April 1803; Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1826), Bd. 1, 97. Solger spielt an auf Parthenäis oder Die Alpenreise (Hamburg/Mainz [1803]), ein idyllisches Epos des deutsch-dänischen Dichters Jens Baggesen, dessen Hexameter nach dem Vorbild Voss’ gestaltet waren. Baggesen hatte Voss 1789 persönlich kennengelernt; vgl. Aebi (2002). Häntzschel (1977), 63. Häntzschel (1977), 63. Vgl. Häntzschel (1977), 224–261. Mit Voss’ Hexametern setzte Goethe sich im Zusammenhang des Reineke Fuchs auseinander: „Ich hätte das [scil. den Bau der Hexameter] gar gern auch gelernt, allein es wollte mir nicht glücken. Herder und Wieland waren in diesem Punkte Latidunarier, und man durfte der Vossischen Bemühungen, wie sie nach und nach strenger und für den Augenblick ungelenk
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Die Übersetzungsarbeit führt Voss schließlich auch zu grundsätzlichen Überlegungen über den deutschen Versbau, die er zuerst 1802 in einer Schrift mit dem Titel Zeitmessung der deutschen Sprache 35 niederlegte. Dass diese Schrift ein Irrtum des Klassizismus sei und nur darauf gezielt habe, der deutschen Sprache das ihr fremde Prinzip der Silbenlänge aufzuzwingen (wie die germanistische Forschung lange behauptete)36, ist ein Fehlurteil. Fern von Orthodoxie und ausgestattet mit einer überaus feinen Wahrnehmung für sprachliche Nuancen, ging es Voss vielmehr darum, anhand zahlloser Beispiele das Zusammenspiel von „Ton“, „Länge“ und „Begriff “ (also Bedeutungsgehalt) einer Silbe und ihre Wirkung im Vers zu untersuchen, und während er mit den zwei erstgenannten Kategorien tatsächlich Elemente antiker Prosodie adaptierte, fand indirekt über die Kategorie des „Begriffs“ auch das akzentuierende Prinzip Eingang, da der deutsche Akzent an die sinntragende Silbe – und damit an Voss’ „Begriff “ – gebunden ist. Man wird seiner Zeitmessung eher gerecht, wenn man sie als Versuch auffasst, das deutsche Prinzip des Akzents um „musikalische“ Elemente von Tonhöhe und Rhythmus zu ergänzen und damit eine Synthese zwischen antikem und modernem Vers zu erreichen. Und Voss stand mit diesem Versuch keineswegs allein. Einige vorangegangene und zahlreiche folgende deutsche Prosodien und Verslehren zeigen, dass er einem dichten Diskussionszusammenhang angehörte, der von der Forschung immer noch wenig berücksichtigt wird.37 Die „Vossische Manier“, wie diese Art des Übersetzens bald genannt wurde,38 war aus dem Geist Winckelmanns und dem Bestreben zur Nachahmung der Alten entstanden. Der Wettstreit zwischen Bürger, Stolberg und Voss zeigt in fast dramatischer Verdichtung, wie dabei der antike Vers zum bedeutenden, ja eigentlichen Streitobjekt wurde. Der Erfolg des Voss’schen Homer konnte als Beleg für die These von der Ver_____________
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erschienen, kaum Erwähnung tun. Das Publikum selbst schätzte längere Zeit die Vossischen früheren Arbeiten, als geläufiger, über die späteren; ich aber hatte zu Voß, dessen Ernst man nicht verkennen konnte, immer ein stilles Vertrauen und wäre, in jüngeren Tagen oder andern Verhältnissen, wohl einmal nach Eutin gereist, um das Geheimnis zu erfahren; denn er, aus einer zu ehrenden Pietät für Klopstock, wollte, solange der würdige, allgefeierte Dichter lebte, ihm nicht geradezu ins Gesicht sagen: daß man in der deutschen Rhythmik eine striktere Observanz einführen müsse, wenn sie irgend gegründet werden solle. Was er inzwischen äußerte, waren für mich sibyllinische Blätter.“ Goethe, Campagne in Frankreich (1822), 360. Abraham Voss besorgte 1831 (nach dem Tod seines Vaters) eine zweite „mit Zusäzen und einem Anhange vermehrte Ausgabe“. Vgl. beispielsweise die Deutsche Versgeschichte des Altgermanisten Andreas Heusler (3 Bde., Berlin 1925/29), wo es heißt: „Voß setzt den langlebigen Irrtum auf den Thron: das bloße ‚Accentuiren‘ sei eine kindliche Roheit gewesen; nun gelte es, der deutschen Kunst das Längemessen beizubringen. Jede Silbe hat ihr Zeitmaß. Danach addiert man die Silben eines Taktes; zusammen müssen sie die richtige Summe geben. […] Diese trügliche Meßkunst betäubte Vossens zweifellos feinen Rhythmensinn. Das Schlimmste war der Irrtum: Länge ist Länge, d. h. den Strich der Formel geben wir mit einer ‚langen‘ Silbe wieder, auch wo er in der Senkung steht.“ Heusler (1829), Bd. 3, 85. Vgl. auch unten S. 257 f. Vgl. unten S. 32 f. Etwa bei Schneider (1803), 525 f.: „diejenige Manier des Uebersetzens […], welche man nun im Gegensatze der Wielandischen, die Vossische zu nennen anfängt“. Die Entgegensetzung von Wieland und Voss lässt sich durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als fester Topos verfolgen.
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wandtschaft zwischen deutscher und griechischer Sprache genommen werden, und dass die Deutschen die neuen Griechen seien, war eine Lieblingsvorstellung des deutschen Klassizismus, der nicht zuletzt daraus seine Bildungsaufgabe bezog.39 Die Nachahmung der Alten also hatte bei Voss zu einer „sprachmimetisch“ verfahrenden Art des Übersetzens geführt, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Nachahmer und Epigonen fand. Im Unterschied zur bildkünstlerischen Nachahmung aber stellte sich beim Übersetzen nicht Maß, Symmetrie und Harmonie ein. Im Gegenteil: Schwerfälligkeit, Gezwungenheit, Unnatürlichkeit, Verstöße gegen die Normen der deutschen Sprache lauteten die gängigsten Vorwürfe gegen Voss’ Homer. Bey aller Aehnlichkeit seines Versbaues mit dem Homerischen im Einzelnen, die besonders in Absicht auf die Glieder der rhythmischen Periode bewundernswürdig groß ist, verbreitet dies einen Zug von Unähnlichkeit über das Ganze. Man vermißt den natürlichen, ungezwungenen Gang, die kunstlose Leichtigkeit der Ionischen Muse40,
hieß es bei August Wilhelm Schlegel. So führte das Nachahmungspostulat beim Übersetzen auch zur oft störenden Erfahrung historischer und sprachlicher Differenz. Das „Dilemma, das ‚klassische Altertum‘ schon historisch sehen zu müssen und es doch nachahmen zu sollen“41, wie es Hans Robert Jauß als Besonderheit des deutschen Klassizismus beschrieb, wurde gerade für das Übersetzen zu einer wesentlichen Kondition. Diese Ambivalenz ist charakteristisch für die produktivste und folgenreichste Phase deutscher Übersetzungsgeschichte zwischen dem ausgehenden 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Hermeneutik Die Erfahrung von Differenz und Geschichtlichkeit, die mit dem Übersetzen unmittelbar einherging, stand also dem klassizistischen, normativen Antike-Ideal gegenüber. Der deutsche Homer wirkte befremdlich; er trug die „Farbe der Fremdheit“, von der Humboldt gesprochen hatte. Die Ausrichtung des Übersetzens auf das Original ließ erkennen, dass Sprachen und poetische Formen nicht restlos ineinander abbildbar waren. Zwar hatte es früher schon (bei Bodmer und Breitinger) Ansätze zu einer historischen Dynamisierung von Sprache und Übersetzung gegeben. Erst Herder aber er_____________ 39 40
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Siehe dazu unten S. 34 f. A. W. Schlegel, Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 515. In Heinrich von Kleists Zeitschrift Phöbus erschien 1808 unter dem Titel Der Alte und sein Übersetzer ein satirischer Versdialog, der Voss’ Übersetzung ebenfalls wegen fehlender Natürlichkeit schmähte. Der „Alte“, also Homer selbst, wirft dort seinem Übersetzer vor: „Ein Werk von deutschem Schweiß und Fleiß, / Doch, daß Ichs bin, macht mir nicht weiß. / Mein Haar hieng schlicht mir um den Kopf, / Du drehtest mir ein’n steifen Zopf, / Nicht schön und hoch genug war ich dir, / Du gabest Schminkʼ und Stelzen mir / […] Ach auf der metrischen Tortur / Krümmt sich die herrliche Natur, / Sehʼ ich den holden Leib verrenken / An allen Gliedern und Gelenken!“ Wetzel, Der Alte und sein Übersetzer (1808), 23 f. Jauß, Diskussion (1985), 129.
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kannte die Verschiedenheit und Dynamik der Sprachen als etwas, das ihnen wesentlich war: So wenig als es zween Menschen ganz von einerlei Gestalt und Gesichtszügen, so wenig kann es zwo Sprachen, auch nur der Aussprache nach, im Munde zweener Menschen geben, die doch nur eine Sprache wären. […] Aber Worte selbst, Sinn, Seele der Sprache – welch ein unendliches Feld von Verschiedenheiten!42
Dies und die Erkenntnis, dass das Denken nur innerhalb von Sprache geschieht, war die Voraussetzung dazu, eine Theorie des Übersetzens formulieren zu können, die jenseits von Normpoetik, dafür aber im Zusammenhang von Geschichts- und Sprachphilosophie stand. Herder, der selbst in vielen Dingen noch auf dem Boden der Aufklärung stand, wurde zum Wegbereiter für eine neue Diskussion des Übersetzungsproblems. Wenn auch eine eigentliche Übersetzungstheorie bei ihm nicht greifbar ist, so ist doch ohne ihn der Übersetzungsbegriff der Frühromantiker, Solgers (der sich auf Herders Fragmente über die neuere deutsche Literatur ausdrücklich beruft43) und Schleiermachers, aber auch Humboldts oder Goethes schwer denkbar. Wie stark nach Herder Übersetzungsdiskussion und Sprach- und Geschichtsdiskussion miteinander verschmolzen, ist bereits daran zu erkennen, dass beide Diskurse dieselben Protagonisten hatten. Schleiermacher, der mit seiner epochalen Platon-Übersetzung und der daraus erwachsenen Theoriebildung zur Referenzfigur späterer Übersetzungstheorie schlechthin wurde, lieferte zugleich in Vorlesungen und Vorträgen die erste umfassende Verstehenslehre – eine maßgebliche Voraussetzung für die hermeneutische Begründung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert.44 Dabei dürfte die Interdependenz zwischen beiden Seiten deutlich stärker und vor allem weniger einseitig gewesen sein, als oft angenommen wird. Wie sich allgemeines Sprachdenken und konkrete Übersetzungsarbeit wechselseitig durchdringen, ist besonders in Humboldts deutschem Agamemnon zu sehen; auch die spannungsvolle Gleichzeitigkeit historischer und idealer Antike-Auffassung ist bei ihm am stärksten ausgeprägt. Für die Anbindung des Übersetzens an frühromantische Philologie-Konzepte kann Solger stehen. Er begriff die Aufgabe der Philologie als ein nachvollziehendes Erkennen, wodurch die Übersetzung, und zwar die detailgenau nachformende Übersetzung, zu einer genuinen philologischen Methode wurde: Hier verschränken sich Übersetzungstheorie und disziplinäre Methodendiskussion. Die von August Boeckh geprägte Formel vom „Erkennen des Erkannten“ meint genau dieses Nachvollziehen durch die Philologie, und auch Boeckh trat als Übersetzer hervor. In seinen Methodik-Vorlesungen (1877 postum gedruckt) besprach er das Übersetzen im Hermeneutik-Abschnitt, ohne allerdings den Optimismus Solgers zu teilen.45 Andere Namen ließen sich anfügen.46 _____________ 42 43 44 45
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770), 206. Zu Herders Übersetzungsbegriff vgl. Singer (2007). Vgl. Solger, Vorrede (1808), V. S. u. S. 53–63. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 158–162. Zu Boeckh s. u. S. 55–57 und 91–94.
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Neben den Impuls, der durch die formale Vorbildlichkeit der alten Schriftsteller gegeben war, treten hier also weitere Motive. Zur ästhetischen Vorbildlichkeit des Originals kommt seine historische Besonderheit, der die Übersetzung gerecht werden muss. Dies wird unmittelbar deutlich, wo eine Kommentarebene zum Text hinzutritt, in der geschichtliche und sprachliche Erläuterungen gegeben werden können, ohne die Integrität des Textes durch Einschübe zu verletzen. Beispiele wie Wieland47 oder Voss zeigen, dass sich ein historisches Textverständnis auf diese Weise in den Übersetzungen niederschlug, noch bevor ein historisches Übersetzungsverständnis theoretisch reflektiert wurde. Aber auch die Sprache selbst sollte die Historizität markieren. Schleiermacher ging darin sicher am weitesten: Er ging davon aus, dass ein Schriftsteller gleichermaßen durch die Individualität seiner Sprache bestimmt wird, wie er seinerseits die gegebene Sprache individuell ausprägt, und wollte diese überaus dynamische und flüchtige Wechselbeziehung in der Übersetzung abgebildet sehen. Da hier aber noch die Individualitäten von Zielsprache und Übersetzer hinzutreten, potenzieren sich die Anforderungen an eine Übersetzung. Die Problematik war Schleiermacher bewusst: „Erscheint nicht das Uebersetzen, so betrachtet, als ein thörichtes Unternehmen?“48 fragte er deshalb rhetorisch, ohne allerdings die Möglichkeit des Übersetzens in Frage zu stellen. Übersetzen wurde für ihn zu einer sprachlichen Objektivation des Verstehens, und da romantische Hermeneutik das Verstehen einer Rede als deren Nachkonstruktion begriff,49 galt Übersetzen geradezu als exemplarischer Fall der Verstehenslehre. Aus dieser Auffassung erklären sich auch die bisweilen (etwa bei Solger) zu beobachtenden esoterischen Tendenzen: Man betrachtete Übersetzen zunächst als Methode der Forschung und des Studiums und erst in zweiter Instanz als Vermittlung von Texten an das (sprachunkundige) Lesepublikum. Beide Motive, die Intention auf die ideale und die auf die historische Antike, traten zusammen auf, griffen ineinander, verstärkten (ungeachtet ihrer Gegensätzlichkeit) letztlich die Wertigkeit des Originals. Die von Voss ausgehende Übersetzungstradition und die romantisch-klassizistische Übersetzungstheorie waren eine deutsche Besonderheit, die im übrigen Europa lange als mehr oder weniger verschroben galt. Erst im 20. Jahrhundert wurde beides in nennenswertem Maß auch außerhalb des deutschen Sprachraums zur Kenntnis genommen.50
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Nur einer sei noch genannt: Friedrich August Wolf, Boeckhs Lehrer, war mit seiner Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert (1807) einer der Gründerväter der Disziplin; in die Diskussion um den deutschen Homer mischte er sich 1784 mit dem Aufsatz Ist Homer auch übersetzbar? ein, später legte er selbst zwei Aristophanes-Übersetzungen vor (Wolken 1811, Acharner 1812). Vgl. dazu Baumbach (2008), besonders 88 ff. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 73. Vgl. dazu unten S. 39, 49 f. u. 61. Vorbehalte gegen Voss zeigte beispielsweise noch Matthew Arnold (1904). Seit Ortega y Gasset (1937) und Berman (1984) wurde die Übersetzungstradition der deutschen Frühromantik in Westeuropa verstärkt rezipiert.
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Philologie Ein Weiteres kommt schließlich hinzu. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die Philologie an den Universitäten nur als ancilla theologiae präsent. Latein dominierte, für eine Beschäftigung mit griechischen Autoren war dagegen weder hinreichend Sprach- und Literaturkenntnis vorhanden, noch waren auch nur die erforderlichen Hilfsmittel – Textausgaben, Lexika – verfügbar. Es wird leicht unterschätzt, welche Tragweite diese Defizite hatten. Goethes Bekanntschaft mit griechischer Literatur beruhte zu Teilen auf französischen Übersetzungen; Hölderlin übersetzte Sophokles im Wesentlichen auf der Grundlage der 1555 in Frankfurt gedruckten „Juntina“ (bzw. „Giuntina“, einer Ausgabe aus einer Niederlassung der Florentiner Buchdruckerwerkstatt Giunta). Noch im Jahr 1832 beklagte Johann Gustav Droysen, der griechische Metrik im Seminar August Boeckhs studiert hatte, dass „unsere Kenntniß der dramatischen Metrik noch in den ersten Anfängen“ stecke und „selbst über die äußerlichsten Bestimmungen […] noch mannigfacher Streit“51 herrsche. So wurde die methodische und die institutionelle Etablierung der philologischen Wissenschaft zu einer Bedingung, ohne die in dieser Weise weder Übersetzungen noch Theoriedebatten möglich gewesen wären, und nicht selten entstanden Übersetzungen in direkter Verbindung mit philologischer Forschung, wofür Humboldts deutscher Agamemnon das markanteste Beispiel ist. Humboldts erste Aischylos-Lektüre geschah im täglichen Umgang mit Friedrich August Wolf in Halle, später trat er mit dem Leipziger Gottfried Hermann in Austausch, und vor allem in metrischen Belangen wurde Hermann zu seinem wichtigsten Berater.52 Die formale Nachahmung der Alten und das historische Verständnis ihrer Schriften: beide Zielsetzungen trugen dazu bei, dass das Übersetzen einen neuen Stellenwert in Literatur, Bildung und Wissenschaft erhielt und überhaupt erst als Problem begriffen und reflektiert wurde. Die Inkommensurabilität der Sprachen und die Untrennbarkeit von Gedanke und Sprachform vorausgesetzt: wie kann Übersetzen dann überhaupt möglich sein? Was heißt „Treue“? Welchen Aspekten des Originals muss übersetzerische Treue gelten? Wie kann die Fremdheit des Originals in der Zielsprache dargestellt werden? Wie ist, gerade bei Übersetzungen antiker Autoren, das Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache beschaffen? Was bedeuten Übersetzungen der Alten für die gegenwärtige Literatur und für die Bildung der Nation? Dies waren, nachdem die rationalistische Sprachauffassung und die Normpoetik der Aufklärung überwunden waren, die Leitfragen. Der von Klopstock vorbereiteten und von Voss eingeleiteten „Sprachumwälzung“ folgte nun eine fast drei Jahrzehnte währende, gleichermaßen durch das Reflexionsniveau und durch die breite Beteiligung bemerkenswerte Theoriediskussion. Den Anlass dazu gaben Übersetzungen englischer Autoren, vor allem Shakespeares, aber auch Miltons und Sternes; dazu kamen Calderon und Cervantes, Dante und Tasso und in wachsendem Maß auch orientalische Autoren wie Hafis oder _____________ 51 52
Droysen, Vorrede (1832), XI. S. u. S. 65 f.
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Kalidasa. In besonderer Weise aber knüpfte sich, der herausgehobenen Stellung des klassischen Altertums entsprechend, die Debatte immer wieder an das Übersetzen antiker Schriftsteller.
Begründung moderner Übersetzungstheorie Aspekte der Übersetzungstheorie nach 1800 Voss hatte mit seiner Homer-Übersetzung die deutsche Übersetzersprache tiefgreifend erneuert, ohne indessen das Problem des Übersetzens auch theoretisch neu zu reflektieren. Dies blieb Ende der 1790er Jahre den Frühromantikern vorbehalten, deren universeller theoretischer Anspruch die Übersetzungstheorie zugleich in übergreifende Zusammenhänge stellte. Friedrich Schlegel kann dabei als zentrale Figur gelten; wie für die Hermeneutik, so war er auch für die Reflexion des Übersetzungsproblems der bedeutendste Anreger, ohne je selbst einen zusammenhängenden Entwurf vorgelegt zu haben. Sein Bruder August Wilhelm Schlegel erkannte die epochale Bedeutung von Voss (lange bevor dieser seine erbitterten Angriffe gegen die Romantiker begann) und formulierte wichtige poetologische Grundlagen für das romantische Verständnis von Vers und Silbenmaß; er übersetzte aus dem Griechischen, vor allem aber aus dem Englischen und den modernen romanischen Sprachen. Berühmt ist Novalis’ BlüthenstaubFragment zum Übersetzen, auch und gerade weil es wegen seiner aphoristischen Verkürzung und seines spekulativen Charakters letztlich dunkel bleibt. Die umfassenderen theoretischen Entwürfe, die nach 1800 entstanden, knüpfen auf die eine oder andere Weise an romantisches Gedankengut an. Zugleich fußen sie ausnahmslos auf großen Übersetzungsprojekten und konkreter Erfahrung mit dem Übersetzen antiker, genauer: griechischer Schriftsteller. Karl Wilhelm Ferdinand Solger erläuterte seinen Übersetzungsbegriff 1808 in der Vorrede seiner deutschen Sophokles-Ausgabe. Friedrich Schleiermacher hielt 1813 seine wirkungsmächtige Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens; zu dieser Zeit lagen bereits vier Bände seiner Platon-Übersetzung vor. Wilhelm von Humboldt (als einziger ohne romantischen Hintergrund) hatte sich seit 1792 mit Plänen zu einer Aischylos-Übersetzung getragen; nach diversen Umarbeitungen erschien 1816 der Agamemnon, zusammen mit einem Vorwort, in dem Humboldt auch das Übersetzungsproblem erörtert. Dazu zeigen unterschiedlichste weitere Übersetzungen – und gelegentlich auch deren Besprechungen –, dass die Erneuerung der Übersetzersprache und ihre theoretische Begründung nicht auf diese solitären Leistungen beschränkt blieb. So hatte Johann Wilhelm Süvern schon 1802 unter ausdrücklicher Berufung auf Voss’ Silbenlehre und auf Gottfried Hermanns Metrikforschungen die „Probe einer metrischen Nachbil-
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dung“ (dies die Bezeichnung im Titel) der Trachinierinnen des Sophokles53 veröffentlicht. Bezeichnend für Süvern ist das Zusammenspiel vorromantischer Elemente und hermeneutisch-philologischer Prinzipien. Er beschreibt das Übersetzen als „Verpflanzen“ – eine Metapher, die auf Vorstellungen aus dem 18. Jahrhundert zurückgeht, nach denen Klima und Boden bestimmend für die Kultur wirken, und die bei Schleiermacher wieder begegnet –, und bindet es an die hermeneutischen Kategorien der Kritik und Interpretation an. Seine Auffassung vom Wiedererwecken und Neuhervorbringen erinnert an Hamann oder an August Wilhelm Schlegel.54 Ohne Erläuterungen des Übersetzers erschien 1811/12 die Herodot-Übersetzung von Friedrich Lange55, die sich am Deutsch der Luther-Bibel orientiert und damit lange vor Rudolf Borchardt56 eine archaisierende Sprache wählt. Der Schulmann Karl Heinrich Pudor nahm sie zum Anlass, um in der von Friedrich de la Motte-Fouqué herausgegebenen Berliner Zeitschrift Die Musen eine systematische Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsproblem, insbesondere auch mit den Bedingungen der Übersetzung von Prosa zu fordern.57 Mit den Besonderheiten der Prosaübersetzung befasste sich auch Friedrich von Raumer in der Vorrede seiner Übersetzung griechischer Redner (1811).58 Die Namen und Druckorte machen deutlich, dass Berlin, zumal nach Gründung der Universität, damals auch für die Übersetzungstheorie als geistiges Zentrum wichtig war. Als dann der bayerische Philologe Friedrich Thiersch 1820 eine Übersetzung Pindars vorlegte und für dessen komplizierte Verse metrische Prinzipien anwendete, bedurfte dieses Verfahren offenbar keiner Legitimierung mehr.59 _____________ 53
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Johann Wilhelm Süvern (1775–1829) hatte in Jena bei Schiller und Fichte und in Halle bei F. A. Wolf studiert. Bekannt geworden ist er als Staatsrat im preußischen Innenministerium und Mitarbeiter Wilhelm von Humboldts während der preußischen Bildungsreformen. Seine metrische Übersetzung von Sophokles’ Trachinierinnen erschien 1802, mit der Ankündigung, gegebenenfalls weitere Tragödien folgen zu lassen. Dass es dazu nicht kam, dürfte nicht zuletzt auch an den anderen neuen Sophokles-Übersetzungen (vor allem von Ast 1804 und Solger 1808) gelegen haben, durch die Süverns Arbeit überholt war. So blieb seine Übersetzung unbeachtet; das Exemplar der Berliner Staatsbibliothek war im Juli 2007 noch nicht einmal aufgeschnitten. Übersetzen, schreibt Süvern im Vorbericht (1802), ist „Nachbilden und Nachdichten, neues Schaffen eines Kunstwerkes durch den ihm einwohnenden Geist“ (VI f.) und bedarf, neben dem hermeneutischen Apparat, der „magische[n] Kunst, welche die Todten zu erwecken, die Geister der Verstorbenen zu rufen, und in neue Körper zu zaubern versteht“ (VII f.). Die Identität des Übersetzers war nicht zweifelsfrei zu klären. Strasburger (1961), 203, berichtet, dass Lange als „Königl. preußischer Consistorialrat und Schulrat in Koblenz wirkte“. Ob dieser wiederum identisch ist mit Friedrich Heinrich Wilhelm Lange (1779–1854), der zwischen 1833 und 1850 Provinzialschulrat in Berlin war, kann nur vermutet werden. Zu Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ s. u. S. 229–235. Pudor, Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen (1814). Karl Heinrich Pudor (1777–1839) war Lehrer im westpreußischen Marienwerder. Jörn Albrecht hat darauf hingewiesen, dass Pudor als erster eine eigene „Übersetzungswissenschaft“ gefordert habe; vgl. Albrecht (2004), 3. Pudors Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 83–93. Friedrich von Raumer (1781–1873), Jurist und Historiker, Professor für Staatswissenschaften in Breslau (seit 1811) und Berlin (seit 1819). Friedrich Wilhelm Thiersch (1784–1860), Schüler Gottfried Hermanns in Leipzig und Friedrich August Wolfs in Halle, war zunächst als Gymnasiallehrer, seit 1826 als Universitätsprofessor in Mün-
Aspekte der Übersetzungstheorie nach 1800
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Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen; Impulse zur Theoriebildung gingen, so wird auch hier sichtbar, immer wieder vom Übersetzen griechischer Literatur aus. Bei allen individuellen Besonderheiten der einzelnen Übersetzer lassen sich fünf Aspekte benennen, die in der spannungsreichen Konstellation klassizistischer und romantischer Beweggründe für das Nachdenken über das Übersetzungsproblem nach 1800 charakteristisch sind: 1) Es ist anhand des Wettstreites um den deutschen Homer bereits gezeigt worden, dass die Forderung nach übersetzerischer Treue gegenüber der Sprachform im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Ausgangspunkt und Nukleus des übersetzerischen Paradigmenwechsels wirkte. Häufig ist „Treue“ die zentrale Vokabel, die zur Begründung übersetzerischer Strategien herangezogen wird und in der Regel keiner weiteren Argumente oder Erläuterungen bedarf. Die „erste Forderung“, so lautete Humboldts Feststellung, sei „einfache Treue“60. Das Problem, dass Treue in einem Punkt Untreue in anderen nach sich zieht, bleibt dabei letztlich untergeordnet. Der Entscheidungszwang oder, in Schadewaldts Formulierung, die „Kunst des richtigen Opferns“61 ist schon deshalb wenig problematisch, weil die Aufwertung der Sprach- und Versform und die Aufwertung des Übersetzens einander bedingten. Aber auch auf die moralisch-ethische Semantik von „Treue“ wird nur selten rekurriert (Ausnahme ist Friedrich Wilhelm Riemers Aufsatz Einiges zur Geschichte des Uebersetzens von 1832). Dass schließlich die Allgemeinheit des Begriffs seine Trivialisierung beförderte, wofür die ebenso verbreitete wie nichts sagende Formel „So treu wie möglich, so frei wie nötig“ stehen kann, mindert nicht seine übersetzungsgeschichtliche Bedeutung. 2) Eine wesentliche Voraussetzung des Treuepostulats liegt in der Erkenntnis des Zusammenhangs von Sprache und Denken, Form und Gehalt. Der Abschied vom semiotischen Modell, das Sprache als bloßes Zeichensystem darstellt, ist wesentlicher Bestandteil der hermeneutischen Entwürfe von Friedrich Schlegel bis August Boeckh.62 Die meteorologischen Metaphern, die Schleiermacher und Humboldt dafür finden, weisen auf das Ereignishafte, Augenblickliche und Einmalige: Für Schleiermacher schlängeln sich die „Blitze der Gedanken“ an der Leitung der Sprache entlang,63 für Humboldt _____________
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chen tätig. Seine zweisprachige Pindarausgabe erschien 1820 bei Gerhard Fleischer in Leipzig, der schon Humboldts Agamemnon verlegt hatte. Ohne weitergehende Begründung konstatiert Thiersch in der Vorrede lediglich: „Dabey aber sollte die Urschrift ganz, in metrischer Hinsicht, Länge um Länge, Kürze um Kürze, und in sprachlicher jedes Wort und jeder Ausdruck nach seinem vollen und eigenthümlichen Sinne wiedergegeben werden.“ Thiersch, Vorrede (1820), 25. Humboldt, [Vorrede] (1816), XIX. Schadewaldt, Griechisches Theater (1983), 560. Vgl. u. S. 287. Die Frage, wo der eigentliche „Umschlagspunkt“ von der Aufklärungshermeneutik zur romantischen Hermeneutik liegt, welchen Anteil Friedrich Schlegel und welchen Schleiermacher daran hatte, ist nach wie vor strittig; vgl. dazu Patsch (1966), der die Bedeutung Schlegels für Schleiermacher zuerst erkannte; außerdem Schnur (1994), Scholz (2001) und Kurz (2004). Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 72: „Man versteht die Rede auch als Handlung des Redenden nur, wenn man zugleich fühlt, wo und wie die Gewalt der
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Begründung moderner Übersetzungstheorie
zieht sich das Denken in ein Wort zusammen, „wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen“64. Wer aber, wie es bei Schleiermacher heißt, „überzeugt, ist, daß wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdruck ganz dasselbe sind“65, für den erschließt sich überhaupt erst die Problematik und die Bedeutung von Übersetzungen. Wenn es nicht möglich ist, dasselbe in verschiedenen Sprachen zu sagen, dann wird Übersetzen im herkömmlichen Sinn unmöglich, und Humboldts Agamemnon-Vorrede zeigt, dass dies durchaus als Aporie wahrgenommen wurde. Zugleich erfährt das Übersetzen aber eine völlig neue Bedeutung, weil es – wie die Kritik oder auch der einfache Akt des Lesens66 – das Original nachvollzieht und rekonstruiert und damit eine Methode, ja ein Paradigma des romantischen Begriffs vom Verstehen darstellt. 3) Die Einsicht in die Individualität und, so der übliche Sprachgebrauch, „Eigentümlichkeit“ des Originals und, damit zusammenhängend, die Erfahrung seiner Fremdheit bildet die andere wichtige Bedingung. Die Fremdheit und das Fremde sind Schlüsselbegriffe für das Übersetzen nach 1800. Dennoch ist es irreführend, wenn (wie immer wieder zu hören ist) vom „verfremdenden“ Übersetzen gesprochen wird. Erklärtes Ziel war die Darstellung eines sprachlich, poetisch und kulturell fremden Textes mit den Mitteln der eigenen Sprache, nicht das Kenntlichmachen des allzu Vertrauten durch hinzugefügte Verfremdungseffekte. „Als Fremdling tritt er ein, nicht als ein Einheimischer, nicht daß man seine Form bey uns nachahmen, aber doch, daß man ihn in seiner Art achten und begreifen solle“67, heißt es in Thierschs Vorrede zur Pindar-Übersetzung. 4) Die Frage, ob und wie antike Versformen nachgeahmt werden sollen wurde um und nach 1800 zum Prüfstein des Übersetzungsproblems überhaupt. Während auf der einen Seite Vers und Rhythmus als Teil poetischer Sprache aufgewertet und nicht mehr bloß als „äußerlicher Zierrat, sondern innig in das Wesen der Poesie verwebt“68 (A. W. Schlegel) verstanden wurden, führte auf der anderen Seite gerade die Beschäftigung mit antiker Verskunst zu einer gesteigerten Differenzerfahrung. Keine Frage ist so unermüdlich und so kontrovers diskutiert worden, wie die, ob griechische Verse, deren grundlegendes Bauprinzip die Länge oder Kürze von Silben ist, durch deutsche, akzentuierende Verse überhaupt wiedergegeben werden können; zahllose deutsche, griechi_____________ 64
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Sprache ihn ergriffen hat, wo an ihrer Leitung die Blitze der Gedanken sich hingeschlängelt haben, wo und wie in ihren Formen die umherschweifende Fantasie ist festgehalten worden.“ Humboldt, [Vorrede] (1816), XV f.: „Ein Wort ist so wenig ein Zeichen eines Begriffs, daß ja der Begriff, ohne dasselbe, nicht entstehen, geschweige denn festgehalten werden kann; das unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen. Nun ist es ein individuelles Wesen, von bestimmtem Charakter und bestimmter Gestalt, von einer auf das Gemüth wirkenden Kraft, und nicht ohne Vermögen sich fortzupflanzen.“ Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 85. Zur hermeneutischen Aufwertung des Lesens und des Lesers vgl. Kurz (2004), vor allem 41–43; zum Begriff der Kritik bei Schlegel vgl. u. a. Rasch (1971). Thiersch, Zueignung (1820), 17. A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795/96), 107.
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sche und sogar griechisch-deutsche Vers- und Silbenlehren69 zeugen ebenso davon, wie die zum Teil sehr ausführlichen Hinweise zur Behandlung der Metrik in vielen Übersetzungsvorreden (beispielsweise bei Solger, Humboldt, Ast, Süvern), die nicht nur als handwerkliche Appendix, sondern als integraler Bestandteil der Theoriebildung zu betrachten sind. In der Begründung wird dabei zum einen auf klassizistische Motive rekurriert. Die Musterhaftigkeit antiker Autoren betrifft auch und gerade die Verskunst, deren möglichst genaue Nachbildung als wichtiges Mittel zur Hebung der deutschen Sprache und ihrer Bildung am antiken Muster dient. Zum andern (vor allem bei den Romantikern) wird auf die ursprüngliche Bedeutung musikalischer Elemente wie Klang, Silbenmaß und Rhythmus für poetische Sprache verwiesen. Auf dem Weg der Nachahmung sollte für die deutsche Sprache wieder erworben werden, was für die Griechen selbstverständlicher Bestandteil mündlicher Dichtungs- und Musiktradition gewesen und durch die moderne Buchkultur verschüttet worden sei. Dass sich beide Argumentationslinien keineswegs ausschließen, sondern immer wieder einander durchdringen, zeigt das Beispiel Voss, in dessen Zeitmessung der deutschen Sprache es heißt: In Griechenland und Rom brauchte kein Jünger Homers oder der Alcäen über Silbenmessung und Verskunst sich auszulassen. Vor lebhaften, frohherzigen Hörern, deren zartes Ohr durch Übung gestimmt worden war, sangen sie ihre, als Göttergeschenk, willkommene Begeisterung im vielfachen Zauberschwunge der Harmonie; und hinterher fanden sich Grübler, die den tiefliegenden Ursachen des empfangenen Eindrucks, glücklich oder nicht, nachforschten. Bei uns dumpfen Buchstäblern ist das ganz anders.70
Unumstritten waren die Übersetzungen „im Versmaß der Urschrift“ allerdings nie. „[D]as Höchste versagt die prosaische Natur unsrer Sprache“71, meinte Johann Wilhelm Süvern (1802). Friedrich Thiersch hielt die Nachahmung antiker Versmaße in Übersetzungen für gerechtfertigt, nicht aber in eigenständiger deutscher Dichtung (1820). Spott gegen das metrische Prinzip war von Beginn an verbreitet und wurde mit stereotyper Regelmäßigkeit am Beispiel des Spondeus erläutert, den Voss gegen das Wesen der deutschen Sprache eingeführt habe. „Der Dichter wählt das Lebendigste, die Schule dagegen hat andere Gründe, sie nimmt z. E. das Poetischte [sic], wie sie es nennt, und sagt Sang statt Gesang, Spatz statt Sperling, Leu statt Löwe, und wo Voß _____________ 69
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Um nur einige zu nennen: Von andauernder Wirkung waren Karl Philipp Moritz’ Versuch einer deutschen Prosodie (1786), Klopstocks Vom deutschen Hexameter (1779) und Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen (1755) und vor allem Voss’ Zeitmessung der deutschen Sprache (1802). A. W. Schlegel äußerte sich aus romantischer Sicht in Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795/96) zum Problem. August Boeckh führt in der Encyklopädie und Methodologie (1886) als Fachliteratur u. a. folgende Arbeiten an: Besseldt, Beiträge zur Prosodie und Metrik der deutschen und griechischen Sprache (1813); Apel, Metrik (1814); Döring, Lehre von der deutschen Prosodie (1826); Lange, Entwurf einer Fundamentalmetrik (1820), Rückert, Antike und deutsche Metrik zum Schulgebrauch (1847). Siehe auch die Anthologie von Hellmuth/Schröder (1976). Zur Fortführung der Diskussion im 19. Jahrhundert s. u. S. 106–111. Trotz der Arbeiten von Kelletat (1949), Kabell (1960) oder Hölscher (1994) ist die Aufarbeitung der Interferenzen antiker und deutscher Verskunst zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch ein Forschungsdesiderat. Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache (1802), 4 f. Süvern, Vorbericht (1802), XVIII.
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einen Spondeus braucht, da heißt es Bergleu“,72 schreibt Arnold Ruge im Zusammenhang seiner Ödipus-Übersetzung (1830). 5) Eine weniger kontroverse, dafür immer neu mit politischer und kulturpolitischer Bedeutung aufgeladene Konstante in der Übersetzungsdiskussion war die Annahme einer besonderen Affinität zwischen deutscher und griechischer Sprache. Dabei klingt die querelle des anciens et des modernes noch nach, wie in Klopstocks Grammatischen Gesprächen (1794) deutlich wird.73 In einem Wettstreit der Sprachen, der als Übersetzerwettstreit angelegt ist, sollte sich für Klopstock die Ambivalenz zwischen Mustergültigkeit der Alten und deutschem Kulturpatriotismus entscheiden. Die besondere Tauglichkeit des Deutschen als Übersetzersprache, verglichen mit anderen modernen Sprachen, ermöglichte es, den identifikatorischen Bezug des deutschen Klassizismus auf Griechenland (dessen Gegenstück die Anbindung Frankreichs an Rom bildet) auch sprachlich zu begründen, wofür vor allem die vergleichsweise freie Wortstellung und die Fähigkeit zur Kompositabildung zum Beweis angeführt wurden. Zwar zog August Wilhelm Schlegel in seiner satirischen Fortsetzung des Klopstock’schen Dialogs (Die Sprachen, 1798) die Überlegenheit der deutschen Sprache und ihre besondere Affinität zum Griechischen in Zweifel. Sonst aber haben nahezu alle, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und darüber hinaus) zur Übersetzungsproblematik schrieben, sich diese Auffassung in der einen oder anderen Form zu eigen gemacht: von Friedrich August Wolf, der aus Anlass von Bürgers Übersetzungsproben aus Homer die „Biegsamkeit und Geschmeidigkeit“74 des Deutschen hervorhob, bis hin zu Otto Friedrich Gruppe, der das Übersetzen als „natürliche[n] Beruf “75 der Deutschen bezeichnete. Dass damit immer auch politische Aussagen verbunden waren, wird etwa bei Schleiermacher deutlich, der vor dem Hintergrund der Freiheitskriege die Vision einer Zusammenführung aller Literaturen in Deutschland, dem „Herzen von Europa“76, entwirft, oder bei dem schon erwähnten Karl Heinrich Pudor, der 1814 in seinem Aufsatz Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa auf Friedrich Ludwig Jahns Schrift Deutsches Volksthum, ein wichtiges Dokument für _____________ 72 73 74
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Ruge, Vorrede (1830), X f. Vgl. dazu Elit (2002). F. A. Wolf, Ist Homer auch übersetzbar? (1784), 625: „Dass dieser Uebersetzer den ganzen Reichthum unserer Sprache kennt, ihre Biegsamkeit und Geschmeidigkeit, die sie unter den Händen des Dichters annimmt, der über sie Herr ist, und ihre unsern Nachbarn beneidenswürdige Fähigkeit, selbst den mit Gedanken oft überlasteten Ausdruck und die künstlichste Zusammensetzung des Griechen nachzubilden, kennt und in seiner Gewalt hat, hätte er uns nicht erst zu verstehen geben dürfen.“ Wolf bezieht sich auf Bürgers Probe einer Homer-Übersetzung in Hexametern, s. o. S. 21 Anm. 27. Gruppe, Deutsche Übersetzerkunst (1866), VI: „Die Deutschen sind zufolge ihres Charakters, ihrer ganzen Weltstellung, ja schon der Lage ihres Landes ganz besonders berufen zum Werk des Uebersetzens, und sie haben darüber ihre Eigenheit nicht verloren. Ihnen ward vor allen die Aufgabe, die Vermittler zu sein zwischen den Zeitaltern, unter den Völkern; im Herzen Europas, und mit ihm der bewohnten Erde, ist es für sie ein natürlicher Beruf, alles rund umher an sich zu ziehen und hier in dem Museum einer allgemeinen Weltlitteratur niederzulegen. Die Sprache machte dies möglich und kam entgegen, wie keine andere.“ Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 92.
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die Entstehung der deutschen Nationalbewegung, verweist,77 oder aber bei Friedrich Thiersch, der seine Pindar-Übersetzung 1820 Turnvater Jahn widmet und in der Zueignung die „Bildsamkeit, die Fülle und de[n] Wohllaut der deutschen Sprache“ und ihre besondere Fähigkeit „zu treuer Nachbildung des griechischen Gesanges“78 hervorhebt.
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Vgl. Pudor, Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen (1814), 114 (Anm.). Jahns Deutsches Volksthum war 1810 in Lübeck erschienen. Thiersch, Zueignung (1820), 26.
Frühromantik Wenige Jahre nachdem Voss mit seiner Übersetzungssprache und Versnachbildung Neuland beschritten hatte, traten die Frühromantiker als radikale Neuerer der Theorie des Übersetzens auf. „Wir wissen eigentlich noch gar nicht was eine Uebersetzung sey“79, schrieb Friedrich Schlegel 1797 in seinen Notizen zur „Philosophie der Philologie“ und machte in dieser Frage auch den eigenen innovatorischen, ja epochalen Anspruch deutlich. Die bedeutendsten theoretischen Impulse gingen in der Folge von ihm selbst und von Novalis aus, aber auch August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck oder Clemens Brentano beteiligten sich an der Diskussion.80 Die theoretischen Entwürfe Karl Wilhelm Ferdinand Solgers und Friedrich Schleiermachers stehen in unmittelbarer Abhängigkeit insbesondere von Friedrich Schlegel. Aber auch Humboldt ist romantischer Hermeneutik verpflichtet. Goethe, dessen Typologisierung unterschiedlicher Übersetzungsarten in der Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813) noch auf dem Boden des rationalistischen 18. Jahrhunderts stand, schloss mit seinen Überlegungen in den Noten zum Divan (1819) an den romantischen Diskurs an. Der bis heute andauernde Erfolg frühromantischer Übersetzungstheorie ist auch deswegen bemerkenswert, weil keiner der genannten Autoren eine ausgearbeitete, auch nur annähernd systematische Darstellung vorgelegt hat. Überdies ist die Reflexion über das Verhältnis zwischen Antike und Moderne (dem „Klassischen“ und dem „Romantischen“) zwar elementarer Bestandteil romantischen Denkens; das Übersetzen antiker Schriftsteller ist dennoch nie eigens reflektiert worden, was damit zusammenhängt, dass die Romantiker vor allem Shakespeare81, romanische Autoren82 sowie orientalische Literatur83 übersetzten. Antike Autoren spielten daneben eine vergleichsweise marginale Rolle.84 _____________ 79 80
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F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 54. Romantische Übersetzungstheorie gehört, ihrer Bedeutung entsprechend, zu den bevorzugten Feldern der Übersetzungsforschung. Die Positionen der Brüder Schlegel, Novalis’ und z. T. auch Tiecks und Wackenroders sind bei Huyssen (1969), Apel (1982) und Berman (1984) dargestellt. Hinzu kommen Einzelstudien wie die von Zybura (1994) oder Gebhardt (1970). Der „Schlegel-Tieck’sche Shakespeare“ erschien zuerst 1797/1810 (Shakespeare’s dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, 9 Bde.), erweiterte und überarbeitete Ausgaben folgten 1825/1833 und 1843/1844. August Wilhelm Schlegel übersetzte Dante (1795 in Schillers Horen gedruckt), Calderon (u. d. T. Spanisches Theater, 2 Bde. 1803/1809) und brachte die Anthologie Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Lyrik (1804) heraus. Ludwig Tieck übersetzte Cervantes (3 Bde., 1799/1801). Von Johann Diederich Gries liegen Übersetzungen des Torquato Tasso (1800/1803), des Ariost (4 Bde., 1804–1808) und des Calderon (6 Bde., 1815/1824) vor. Etwa Friedrich Schlegel, Ueber Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde, nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte (Heidelberg 1808). August Wilhelm Schlegel übersetzte verschiedene griechische und lateinische Autoren, vor allem Lyrik und kleine Auszüge, z. B. aus Homer, den Tragikern oder Vergil; vgl. Sämtliche Schriften (1846), Bd. 3.
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Die Wirksamkeit romantischer Übersetzungstheorie entfaltete sich aus einer Vielzahl verstreuter, mehr oder weniger fragmentarischer und unsystematischer Texte sowie aus den mannigfaltigen gesprächsweisen Netzwerken, die für uns gelegentlich noch in intertextuellen Bezügen sichtbar werden. So verglich beispielsweise Solger in der Vorrede zur Sophokles-Übersetzung die Schwierigkeiten beim Lesen griechischer Verse mit denen beim Spielen einer Bach-Sonate, ein Vergleich, den Friedrich Schlegel zuvor in fast identischer Formulierung im dritten Athenaeums-Band verwendet hatte.85 Auffällig sind auch biographische Koinzidenzen. Im Sommer 1797 verließ Friedrich Schlegel Jena, hielt sich zunächst in Weißenfels bei Novalis auf und reiste von da weiter nach Berlin, wo er eine gemeinsame Wohnung mit Friedrich Schleiermacher bezog. Schlegels schon zitierte Notizen zur „Philosophie der Philologie“ entstanden während dieser Reise; Novalis’ Blüthenstaub-Fragment über die grammatischen, verändernden und mythischen Übersetzungen erschien im Folgejahr im Athenaeum; und aus dem anfangs von Schlegel und Schleiermacher gemeinsam betriebenen Projekt einer PlatonÜbersetzung, das beide in dieser Zeit diskutierten, erwuchs letztlich auch Schleiermachers Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. Ihr unsystematischer, fragmentarischer, in Schlegels Formulierung „progressiver“ Charakter macht romantische Übersetzungstheorie zugleich außerordentlich produktiv und schwer fassbar.86 Überdies steht die Übersetzungstheorie im großen Zusammenhang der universellen Theoriebildung der Romantiker. Das Nachdenken über historische Differenz und Subjektivität erfasst alle Bereiche. Unter dem Stichwort der „progressiven Universalpoesie“ werden Dichtung, Philosophie, Geschichte und Wissenschaft in Zusammenhang gebracht und radikal dynamisiert. Der reflektierte Umgang mit historischer Dynamik musste sich auch im Übersetzungsverständnis niederschlagen. Dabei blieben die Begriffe allerdings häufig unscharf und oszillierend, wie sich gerade auch an dem vielfach erörterten Wechselverhältnis von Antike und Moderne, vom „Klassischen“ und „Progressiven“ zeigt. Beides wird einerseits als wesentlich verschieden und unvereinbar gegensätzlich gedacht, andererseits aber auch prospektiv verschmolzen. Übersetzen wird unter diesen Maßgaben zu einem Präzedenz- und Modellfall. Der Übersetzungsbegriff erfährt eine Erweiterung über den eigentlichen sprachlichen Vorgang hinaus und eine Übertragung auf vielfältige andere Zusammenhänge: Mit ihm verbindet sich die Absage an Abbild- und Nachahmungsästhetik und das Bewusstsein von steter Veränderung und Historizität; zugleich weist er auf die Möglichkeit künftiger Zusammenführung der getrennten Sprachen und Literaturen, auf die Überwindung moderner Dissoziation und, oft auch politisch motiviert, auf die „Utopie einer _____________ 85
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Friedrich Schlegel, Idyllen aus dem Griechischen (1800), 216: „Wenn dieß [scil. das griechische Versmaß] dem ungeübten Leser schwer zu lesen fällt, so hat er sich eben so wenig zu verwundern oder zu beklagen, als ein Anfänger in der Musik, wenn er eine Bachsche Sonate nicht sogleich fertig spielen kann.“ (Die Übersetzungen in diesem Athenaeum-Beitrag stammen von August Wilhelm Schlegel, die Anmerkungen von Friedrich Schlegel.) Solger, Vorrede (1808), LVIII: „Niemand, außer den größten Virtuosen, vermißt sich, eine bachsche Sonate beim ersten Anblick vom Blatt weg zu spielen; eine nicht unähnliche Bewandniß hat es mit den metrischen Meisterstücken der Griechen.“ Apel nannte diesen Effekt treffend die „frühromantische Nebelkerze“; vgl. Apel (2008), 24.
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deutschen Weltliteratur“87. Damit wird Übersetzung geradezu als Synonym romantischer Dichtung verstanden, der Übersetzer ist der eigentliche Dichter, weil er, wie Novalis formulierte, der „Dichter des Dichters“88 ist. An August Wilhelm Schlegel schrieb Novalis: „Am Ende ist alle Poësie Übersetzung.“89 In Brentanos Roman Godwi heißt es: „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“.90 Friedrich Schlegel Einen Fundus von Hinweisen auf frühromantische Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsproblem bieten Notizen Friedrich Schlegels91 aus dem Jahr 1797. Schlegel verfolgte damals das Vorhaben einer romantischen Neukonzipierung der philologischen Wissenschaften. Dieser Plan wurde nicht ausgeführt, die Notizhefte aber sind seit ihrer ersten Veröffentlichung (1928) unter dem Titel Philosophie der Philologie bzw. Zur Philologie bekannt. Sie bilden, bei allen Interpretationsschwierigkeiten, die sich angesichts der elliptischen und anakoluthischen Notizenform ergeben, unter anderem auch eine Keimzelle frühromantischer Übersetzungstheorie. Grundlegend ist dabei, dass Schlegel Übersetzung und Übersetzungstheorie unmittelbar in seinem Konzept philologischer Wissenschaft verankert. Den Gegenstand der Philologie bildet, so Schlegel, das „Klassische“; die Philologie selbst aber steht im Bereich des Modernen, „Progressiven“. Zwischen dem „Klassischen“ und dem „Progressiven“ stellt Schlegel eine prinzipielle Differenz fest: Daher wird es zur Aufgabe der Philologie, das Überlieferte kritisch, produktiv und „progressiv“ zu vergegenwärtigen und durch fortgesetzte Reflexion in historische Bewegung zu versetzen. Für Übersetzungen ergibt sich daraus ein tiefgreifender Funktionswandel. Wenn sie der fortgesetzten Dynamik von Überlieferung und Literaturgeschichte gerecht _____________ 87 88
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So der Untertitel der Monographie von Huyssen (1969). „Der wahre Übersetzer dieser Art [scil. der verändernden Übersetzung] muß in der That der Künstler selbst seyn, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.“ Novalis, 68. „Blüthenstaub“-Fragment (1798), 439. Novalis an A. W. Schlegel, 30.11.1797, in: Novalis, Schriften (1981), Bd. 4, 237. Brentano, Godwi (1802), 262. Dieser Satz steht in Brentanos Roman Godwi am Ende einer längeren Unterhaltung über das Romantische, in der auch Tassos Befreites Jerusalem und das Übersetzen dieses Epos eine Rolle spielen. Friedrich Schlegel (1772–1829), Kritiker, Ästhetiker, Dichter, zählte zu den theoretischen Köpfen der deutschen Frühromantik. Er studierte in Göttingen und Leipzig Jura, Philologie und Philosophie und lebte danach wechselnd in Dresden, Jena und in Berlin, wo er u. a. mit Friedrich Schleiermacher Freundschaft schloss. 1798/1800 gab er gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm das Athenaeum, die programmatische Zeitschrift der Frühromantiker, heraus. 1802 ging er nach Paris. Nach seiner Konversion zum Katholizismus 1808 trat er in den österreichischen Staatsdienst ein und lebte danach meist in Wien. Durch die Schrift Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) gilt er auch als Wegbereiter der Indologie und vergleichenden Sprachwissenschaft. Zu Schlegels Übersetzungsbegriff vgl. vor allem Apel (1982), 89–98 und Apel (2008); zu Schlegels Bedeutung für romantische Philosophie allgemein Millán-Zaibert (2007).
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werden wollen, die Schlegel voraussetzt, dann können sie keine abgeschlossenen Faksimiles sein und keine definitive Gültigkeit beanspruchen. Die herkömmliche AbbildFunktion von Übersetzungen wird obsolet. Einem neuen Begriff nähert Schlegel sich in den Notizen zunächst durch allmählichen Ausschluss dessen, was er nicht als Übersetzung verstehen will. So darf ein wahrer Übersetzer weder unter Auslassung kritischer und hermeneutischer Reflexion gleichsam „mystisch“ verfahren und „Alles gradezu“92 übersetzen, noch soll er „nach einem mimischen Maximum“93 streben, wofür Schlegel die Arbeiten Voss’ als Beispiel anführt. Schließlich darf eine Übersetzung auch keine „Nachbildung“ sein: „Eine Uebersetzung ist durchaus keine Nachbildung. Ueber das Wörtchen Nach bei Uebersetzungen.“94 Diese Formulierung kann irreleiten, denn das Nachbilden eines früher Gebildeten ist ja gerade Kern von Schlegels Kritik-Begriff. In seinem 1804 gedruckten Aufsatz Vom Wesen der Kritik fasst er Kritik als das „Mittelglied der Historie und der Philosophie“ und bestimmt ihre Aufgabe als charakterisierendes Nachkonstruieren: Denn nichts Leichtes ist es, die Entstehung auch nur eines Gedankensystems und die Bildungsgeschichte auch nur eines Geistes richtig zu fassen, und wohl der Mühe wert, wenn es ein origineller Geist war. Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können. […] Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, wenn es in bestimmten Worten ausgedrückt wird, Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik.95
Aber nicht diese für die romantische Hermeneutik so wichtige Vorstellung ist für das Verständnis des Satzes in den Notizen von 1797 heranzuziehen. Der Nachsatz („Ueber das Wörtchen Nach bei Uebersetzungen“) legt vielmehr nahe, dass Schlegel hier an die gängige Praxis bei Titelangaben – etwa „nach dem Lateinischen“ – dachte, die für eine unreflektiert bearbeitende, im Sinne Schlegels unkritische Art des Übersetzens stand.96 Zugleich scheint sich in diesem Nachsatz anzudeuten, dass Schlegel die sowohl zeitlich als auch sprachlich wirksame Aufeinanderfolge von Original und Übersetzung noch erörtern wollte.
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F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 49: „Mystisch ist die φλ [Philologie] welche Kritik, Hermeneutik, allenfalls auch Litter.[atur] Archäol.[ogie] und selbst Gram.[matik] ÜBERSPRINGT und ohne das Alles gradezu übersetzt z. B. wie die Araber.“ F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 55: „Voß strebt nach einem mimischen Maximum, als ob sein Zweck nur epideiktisch wäre.“ F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 63. F. Schlegel, Vom Wesen der Kritik (1804), 400. Vgl. auch das Nachwort von Rasch (1971). Zwei kurz zuvor erschienene Titel als Beispiele: Buhlschaften und Liebesintriguen der Römer unter der Regierung des Kaisers Nero, nach dem Lateinischen des Petron bearbeitet [von Wilhelm Heinse], Salzburg 1794; Philoctet. Ein Schauspiel mit Gesang nach dem Griechischen des Sophocles, Königsberg 1795.
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Dagegen versieht er die Formulierung, Übersetzungen seien „philologische Mimen“, mit dem Hinweis: „Sehr fruchtbarer Gedanke“97. An anderer Stelle erweitert er diesen Definitionsversuch: Eine gute Uebersetzung aus den Alten ist also ein φλ [philologischer] Mimus eines kritischen φλ [Philologen]. – Giebts denn wohl eine gute Uebersetzung, oder überall nur eine eigentliche Uebersetzung?98
Was Schlegel sich unter einem „Mimus“ vorstellte, ist nur annähernd rekonstruierbar. Friedmar Apel hat auf Schlegels wiederholte Anbindung an den Begriff der Improvisation hingewiesen und Mimus hier als eine performative, spielerische oder artistische Kategorie aufgefasst.99 Bedeutend ist aber auch, dass Schlegel hier das Wort kritisch hervorhebt und damit wohl vor allem eine hermeneutische Reflexion der Differenz – im Sinne des nachkonstruierenden Verstehens – einfordert. Performativ-improvisatorisches Handeln und kritisch-philologische Reflexivität müssen miteinander einhergehen, um in der Übersetzung, die als „unbestimmte, unendliche Aufgabe“100 betrachtet wird, eine fortwährende Entfaltung des im Text liegenden Sinns zu erreichen. Für eine Übersetzung, die diesen Forderungen entspricht, erübrigt sich die Frage nach Gut oder Schlecht, Richtig oder Falsch: Sie ist jeweils an ihrer Stelle und zu ihrer Zeit die eigentliche, romantische Übersetzung, eine Auffassung, die man bei Schleiermacher wiederzuerkennen glaubt, wenn dieser die Möglichkeit unterschiedlicher, nebeneinander existierender Übersetzungs-„Methoden“ letztlich ad absurdum führt, wie unten zu zeigen sein wird.101 Das utopische Moment eines solchen zugleich „mimischen“ und „kritischen“ Neuschaffens liegt in der Möglichkeit einer Wiederherstellung des Klassischen ohne Unterschlagung des Modernen und damit in der Möglichkeit einer Verschmelzung des Klassischen mit dem Modernen. Schlegel ist davon fasziniert; allerdings formuliert er diese Vorstellung in einem vorsichtigen Konjunktiv: Wer vollkommen ins Moderne übersetzen will, muß desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehen, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte. […] Wäre doch die Wiederschöpfung in die Alterthumslehre einzuführen!102
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F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 54: „Uebersetzungen sind φλ [philologische] Mimen. Sehr fruchtbarer Gedanke!!“ 98 F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 55. 99 Vgl. Apel (2008), 22: „Tatsächlich gebraucht auch Schlegel im Zusammenhang mit der Übersetzung den Begriff der Improvisation und umgibt die Kategorie des Mimus mit einer Reihe weiterer Metaphern, die darauf hindeuten, dass Schlegel Übersetzen als eine Darbietungspraxis, als spielerische, theatralische oder gar artistische Performanz vorstellen wollte.“ 100 F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 60. Auch Solger spricht vom Übersetzen als einer „unendlichen Aufgabe“, s. u. S. 52. Bei Schleiermacher findet sich eine ähnliche Formulierung bezeichnender Weise im Zusammenhang der Hermeneutik: „Das Verstehen nach der letzten Maxime ist eine unendliche Aufgabe.“ Schleiermacher, Hermeneutik (1959), 31. 101 S. u. S. 60–62. 102 F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 65.
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August Wilhelm Schlegel Weniger spekulativ als sein Bruder, aber auch weniger radikal behandelte August Wilhelm Schlegel103 das Übersetzungsproblem. In stärkerem Maß knüpfte er an ältere Diskurse an. Insbesondere seine Auffassung von poetischer Sprache ist noch deutlich der Sprachauffassung der Empfindsamkeit und der Poetik des Erhabenen verpflichtet. Für ihn verweist die Sprache des Dichters, als Äußerung der Seele, auf das Unendliche, Unergründliche, das sich dem rationalen Zugriff entzieht. Verstand und Wissenschaft können lediglich die Teile und ihre Zusammensetzung und äußeren Formen erfassen, in der Dichtung aber gilt es, den „geistigen Hauch“, der über der Buchstäblichkeit liegt und der erst Lebendigkeit verleihen kann, „zu erhaschen“104. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat Schlegel dargelegt, was dies für das Übersetzen, vor allem im Blick auf poetische Formensprache und das Verhältnis der Sprachen zueinander, heißt, ohne indessen eine eigentliche Theorie zu entwerfen. Seine eingehende Besprechung des Voss’schen Homer, die er 1796 (drei Jahre nach Erscheinen der Übersetzung!) in der Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlichte, ist übersetzungsgeschichtlich, speziell für griechische Literatur, ein aufschlussreiches Dokument. Kurz zuvor hatte Schlegel in den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795/96) die ursprüngliche Einheit von Musik, Tanz und Wort in der Poesie, wie sie beispielsweise bei den Griechen noch wirksam war, als wesentliches Charakteristikum poetischer Form dargelegt und daraus die poetische Bedeutung äußerer Sprachformen begründet. Dies ist auch Ausgangspunkt seiner Voss-Rezension, in der die Frage der Homerischen Sprachform und ihrer deutschen Umsetzung durch Voss im Mittelpunkt steht: Wir müssen nun betrachten, in wiefern sie [scil. die Übersetzung] die poëtische Form, den Stil, den Ton, die Farbe der Darstellung der Homerischen Gesänge getroffen oder verfehlt hat, was eigentlich das Wichtigste ist, weil es sich über das Ganze erstreckt, und weil auch aller Inhalt eines Gedichts doch nur durch das Medium der Form erkannt wird.105
_____________ 103 August Wilhelm Schlegel (1767–1845), Übersetzer, Kritiker, Sprachwissenschaftler, studierte in Göttingen Theologie und Philologie. 1798 erhielt er in Jena eine außerordentliche Professur, 1801 ging er als Privatgelehrter nach Berlin. Ab 1804 Reisen (zusammen mit Madame de Staël) und wechselnde Aufenthalte. Seit 1809 im Dienst der schwedischen Krone, seit 1818 Professor für indische Philologie in Bonn. Zu August Wilhelm Schlegels Übersetzungen s. o. S. 36 (Anm.). Neben Schlegels Rezension des Voss’schen Homer in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1796, auszugsweise wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente [2009], 3–38]) sind auch andere Schriften Schlegels instruktiv: Etwas über William Shakspeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796), der satirisch an Klopstocks Grammatische Gespräche anknüpfende Dialog Die Sprachen (1798) oder die Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795). Vgl. auch Apel (1982), 117–120. 104 A. W. Schlegel, Etwas über William Shakspeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796), 39 f.: „Wenn es nun möglich wäre, ihn [scil. Shakespeare] treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen! Es gilt einen Versuch! Bildsamkeit ist der ausgezeichnetste Vorzug unsrer Sprache, und sie hat in dieser Art schon vieles geleistet, was andern Sprachen mißglückt oder weniger gelungen ist: man muß an nichts verzweifeln.“ 105 A. W. Schlegel, [Rez.] Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 483.
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Tastend und pleonastisch reihend versucht Schlegel zu umschreiben, was er unter poetischer Form versteht und wie deren Verhältnis zum Inhalt beschaffen ist, um dies in einer detaillierten Diskussion von Einzelstellen, gelegentlich unter Heranziehung des griechischen Textes, der früheren Odyssee-Fassung (1781) von Voss oder anderer Übersetzungen, am Text zu überprüfen. Dabei zeigt sich, dass gerade seine Rückgriffe auf ältere Sprach- und Dichtungsbegriffe Schwankungen und Widersprüche im Urteil zur Folge haben. So stellt er dem Treue-Postulat unter Berufung auf Wieland die Forderung nach „Wahrheit“ der Übersetzung zur Seite: Wieland hat sehr richtig bemerkt (im T. Merkur 1795. 12. St.), daß für eine Uebersetzung des Homer Treue, oder um den Begriff von buchstäblicher Genauigkeit zu entfernen, der sich so leicht an diesen Ausdruck hängt, Wahrheit das höchste, ja fast das einzige, Gesetz seyn muß.106
Bei Voss sieht er (ebenfalls mit Wieland) in vielen Fällen die Wahrheit der Buchstäblichkeit geopfert. Die Lizenzen, die die Voss’sche Sprache in Anspruch nimmt, weist er als Abweichungen von der Sprachnorm und „selbsterfundnes Rothwelsch“107 ausdrücklich zurück. Seine genaue Beschreibung der Vorgehensweise von Voss macht deutlich, wie befremdlich und verstörend dessen Übersetzung auf die Zeitgenossen gewirkt haben muss: Was aber das schlimmste Unheil in der ganzen Uebersetzung von einem Ende bis zum andern gestiftet, sind unstreitig Hn. Voßens Grundsätze über die deutsche Wortstellung. Grundsätze nennen wir es, und nicht einzelne Versehen oder in besondern Fällen genommene Freyheiten, weil sie mit Folge und Gleichförmigkeit durch sein Werk hingehen, so daß man sagen kann: es ist Methode in seiner Undeutschheit. Er hat sich überall an die griechische Ordnung anschmiegen wollen, nicht so nah wie möglich, (dies wäre sehr zu loben) sondern so nah, wie es in unsrer Sprache unmöglich ist.108
_____________ 106 A. W. Schlegel, [Rez.] Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 475. Schlegel spielt an auf Wielands Briefe über die Vossische Uebersetzung Homers (1795), Bd. 3, 425 f., wo es heißt: „Dieser [scil. der von Voss verfolgte Zweck] war augenscheinlich kein anderer, als uns den alten Ionischen Sänger so unverändert als nur immer möglich in unsrer Sprache hören zu lassen. Er hatte bey seiner Uebersetzung kein eigenes sich selbst gemachtes Ideal (wie Pope z. B.) vor Augen: das Ideal wornach er arbeitete, war Homer selbst. Es war ihm also nicht um Verschönerung, Modernisierung oder Einkleidung des uralten Sängers in irgend ein zierliches oder vornehmes Kostum unsres Zeitalters, oder um Modulierung seiner Gesangsweise nach irgend einer Sing-Mode desselben, sondern lediglich um eine ganz getreue Kopie und Darstellung von beydem zu thun, – so getreu nemlich, als die wesentliche Verschiedenheit zwischen beyden Sprachen es nur immer verstatten könnte. Es giebt Griechische und Römische alte Schriftsteller genug, die man ohne Nachtheil so teutsch reden lassen kann, wie sie sich in unsrer Sprache vermuthlich ausgedruckt haben würden, (oder auch, um gut zu schreiben, hätten schreiben müssen) wenn sie zu unsrer Zeit geschrieben hätten […]. Aber mit Homer ist dies ganz anders. […] Wer ihn zu lesen wünscht, möchte, wenn’s möglich wäre, keinen Zug, keinen, auch nicht den zartesten Pinselstrich von seinem Gemählde verlieren, oder – er weiß nicht was er will.“ 107 A. W. Schlegel, [Rez.] Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 496. Die Vokabel „Rothwelsch“ taucht in ähnlichem Zusammenhang später bei Ludwig Seeger wieder auf, s. u. S. 83. 108 A. W. Schlegel, [Rez.] Homers Werke, von Johann Heinrich Voß (1796), 505.
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Als Schlegel die Voss-Rezension später (1801) in die Sammlung der Charakteristiken und Kritiken aufnahm, fügte er eine lange Anmerkung an, in der er sein Urteil revidierte. Er erkannte nun den literaturgeschichtlichen Stellenwert des Voss’schen Homer und würdigte Voss als „zweite[n] Erfinder“ des deutschen Hexameters: Es ist mir jetzt vollkommen klar, was ich damals nicht zugeben wollte, daß wir uns bei einer Uebersetzung des Homer nicht mit einer geringeren Vollkommenheit des Versbaues begnügen dürfen, als die seinige hat. Unsre Nachfolge der alten Metrik schreitet, wie sie mit einer völlig losen Observanz anfieng […] immer zu größerem Rigorismus fort, und möchte erst bei einer der klassischen gleich oder ganz nahe kommenden Gesetzmäßigkeit einen bleibenden Ruhepunkt finden.109
Noch später ließ er in einer Neuauflage (1827) die Revision der Revision folgen. Persönliche Gründe – Voss’ Angriffe gegen ihn in der Antisymbolik (1. Bd., 1824) – spielten dabei, wie Schlegel selbst ausführte, eine Rolle. Andererseits griff er aber auch den alten Vorwurf gegen Voss wieder auf, dass dessen Sprache künstlich erscheine und „überall den linden Hauch der hellenischen Muse“110 vermissen lasse, was eine partielle Rückkehr zu den Positionen von 1796 bedeutete und zugleich mit den Vorbehalten gegen Voss und die mimetischen Grundsätze korrelierte, die seit den 1820er Jahren auch sonst wieder verstärkt zu vernehmen waren.111 Exkurs: Novalis und Goethe Weder für Goethe noch für Novalis ist eine nennenswerte Auseinandersetzung mit den speziellen Fragen der Übersetzung antiker Autoren fassbar. Allerdings zählen Novalis’ Blüthenstaub-Fragment (im Athenaeum, 1798) und Goethes Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813) sowie der Abschnitt Übersetzungen in den Noten zum Divan (1819) zu den meistbesprochenen und meistzitierten Beiträgen zur Problematik des Übersetzens. Beide, Goethe und Novalis, unternahmen – scheinbar – einfache Typologisierungen unterschiedlicher Übersetzungsarten, die in der späteren Diskussion eine deutliche Spur hinterlassen haben, nicht zuletzt weil sie dem Bedürfnis nach fasslichen Begriffsdefinitionen entgegenkamen. Ein Vergleich zwischen beiden bietet sich aber auch deswegen an, weil zwischen Novalis’ Blüthenstaub-Fragment und Goethes Divan-Noten deutliche Interferenzen bestehen.112 Novalis unterscheidet „grammatische“ und „verändernde Übersetzungen“ und schließlich, als die höchste Form, „mythische Übersetzungen“. Die grammatischen Übersetzungen sind, nach Novalis’ Formulierung, solche „im gewöhnlichen Sinn“113; _____________ 109 110 111 112
A. W. Schlegel, Anmerkung zum zweiten Abdruck (1801), 184. A. W. Schlegel, Anmerkung zum dritten Abdruck (1827), 187. Vgl. dazu unten S. 83 f. u. 89 f. Zu Novalis vgl. u. a. Hausdörfer (1989); zu Goethe vgl. Miller (1991), Fuhrmann (2000), Nicoletti (2002) und die Materialsammlung von Radò (1982). Zu Goethes Weltliteratur-Begriff siehe außerdem unten S. 95–97. 113 Novalis, 68. „Blüthenstaub“-Fragment (1798), 439.
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ihnen gilt sein geringstes Interesse. Als Beispiel für die verändernden Übersetzungen, die das Fremde dem Eigenen anverwandeln, führt er neben Bürgers jambischer Ilias und Alexander Popes gereimtem Homer114 auch die sonst geschmähten französischen Arbeiten an. Das Prinzip der belles infidèles deutet er dabei allerdings in seinem eigenen kunst- und geschichtsphilosophischen Interesse um. Wo zuvor normpoetische Reglements ausschlaggebend waren, macht Novalis nun die geschichtlich notwendige Neuhervorbringung von Kunst geltend. In ähnlicher Weise ist seine Feststellung zu verstehen, dass „der deutsche Shakespeare jetzt besser, als der Englische“115 sei. Hier greift er auf den Optimismus des 17. und 18. Jahrhunderts zurück, poetische Vorlagen in Übersetzungen und eigener Dichtung übertreffen zu können, wendet diese Vorstellung aber romantisch und versteht sie als Ausdruck der Historizität und „Progressivität“ von Literatur. Die mythische Übersetzung schließlich hat weder mit herkömmlichen Übersetzungsbegriffen etwas gemeinsam, noch hat sie Konsequenzen für den konkreten sprachlichen Transfer. Sie lässt sich statt dessen als Inbegriff von Novalis’ mystischer Kunstauffassung, als utopische Verschmelzung von Poesie und Reflexion verstehen.116 Auch Goethe rekurrierte auf ältere Ansichten. In seiner Gedenkrede zum Tod Wielands würdigte er dessen Verdienste als Übersetzer, zumal des als wesensverwandt betrachteten Lukian, und sprach in diesem Zusammenhang von zwei entgegengesetzten „Übersetzungsmaximen“, von denen die eine „verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben“117. Indem Goethe den Maximen die Kategorien „Wort“ und „Sinn“ zuordnete, knüpfte er an die von Hieronymus formulierte Methoden-Dichotomie an.118 Allerdings darf diese Aussage Goethes nicht nur unter übersetzungstheoretischen Aspekten betrachtet werden; in erster Linie diente sie der Charakterisierung Wielands: „Unser Freund, der auch hier die Mittelstraße suchte, war beyde zu verbinden bemüht, doch zog er, als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.“119 Übersetzungstheoretisch interessant ist die Rede _____________ 114 Alexander Pope hatte Homer in fünfhebige gereimte Jamben übersetzt (Iliad, 6 Bde., 1715–1720, und Odyssey, 2 Bde., 1725 f.). 115 Novalis an A. W. Schlegel, 30.11.1797, in: Schriften (1981), 4. Bd., 237. 116 Dies mag Friedrich Schlegel im Sinn gehabt haben, als er in den Notizen zur Philosophie der Philologie seiner Hoffnung auf „Wiederschöpfung“ einen Hinweis auf Novalis hinzufügte: „Wäre doch die Wiederschöpfung in die Alterthumslehre einzuführen! Hardenb. [Hardenberg] könnte wohl den Gedanken haben, daß alle verlohrne Klassiker noch einmahl werden wiederhergestellt werden. Das ist nicht so ganz ohne.“ F. Schlegel, Zur Philologie (1797), 65. Vgl. auch oben S. 40. 117 Goethe, Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), 438. 118 Hieronymus epist. 57,5 (ad Pammachium): „libera voce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu.“ („Offen bekenne ich, dass ich bei der Übersetzung griechischer Autoren – außer bei den Heiligen Schriften, wo sogar die Reihenfolge der Worte ein Mysterium ist – nicht das Wort nach dem Wort, sondern den Sinn nach dem Sinn ausdrücke.“) Zum Problem dualer Übersetzungstypologien vgl. Kitzbichler (2007). 119 Goethe, Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), 438.
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vor allem deswegen, weil sie durch Goethes Autorität und durch die Nähe zu den zwei Übersetzungsmethoden Schleiermachers von immenser Wirkung auf spätere Theoriebildungen war.120 Zu erneuter Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsproblem wurde Goethe durch seine Beschäftigung mit orientalischer Literatur im West-östlichen Divan geführt. Die gesteigerte Erfahrung der Fremdheit äußerte sich nun in einer neuen Typologie, die nicht nur durch ihre Dreiteilung mit der von Novalis vergleichbar ist.121 An den Anfang stellt Goethe hier die „schlicht-prosaische“ Übersetzung,122 die vorrangig der Bekanntmachung eines Inhalts gilt (Luther). Es folgt die „parodistische“ Übersetzung,123 die mit eigenen spachlichen Mitteln „fremden Sinn“ aneignen soll (französische Übersetzungen, Wieland). Die dritte, nicht näher bezeichnete Form schließlich soll die Übersetzung dem Original „identisch“ machen, wie der „nie genug zu schätzende Voß“124 es getan habe. In der Abfolge der drei Typen lässt sich eine Zuordnung zu aufeinander folgenden literaturgeschichtlichen Epochen feststellen: Sie markieren eine Bewegung vom inhalts- hin zum formorientierten Übersetzen, wobei in der Formulierung „schlicht-prosaische Übersetzung“ auch die alte Debatte um die Optionen Prosa oder Vers noch anklingt.125 Die Vorstellung von der zeitlichen Abfolge wird dabei überlagert durch eine Vorstellung zirkulärer Gleichzeitigkeit: Die drei Arten des Übersetzens haben auch nebeneinander ihre Berechtigung, indem sie den sich beständig wiederholenden Kreislauf zwischen Aneignung des Fremden und Integration in die eigene Form- und Gedankenwelt einerseits und Rückgriff auf die originale Gestalt andererseits repräsentieren. Die „identifizierende“ Übersetzung tendiert, so Goethe, stets zur Interlinearität und damit zur Ausgangsform; sie schließt die Kreisbewegung zwischen dem Fremden und dem Eigenen: Eine Uebersetzung die sich mit dem Original zu identificieren strebt nähert sich zuletzt der Interlinear-Version und erleichtert höchlich das Verständniß des Originals, hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.126
Beide, Goethe und Novalis, setzten also an die Stelle herkömmlicher antithetischer Modelle hierarchisch aufsteigende Typologien, wobei für Novalis die höchste Form, die mythische Übersetzung, innerhalb eines nicht umkehrbaren Geschichtsverlaufs in eine utopische Zukunft verlegt wird, während sich für Goethe die drei Arten des Übersetzens in zirkulärer Bewegung stets wiederholen. _____________ 120 Zu Schleiermacher s. u. S. 60, zur Rezeption der Maximen Goethes s. S. 88–94. 121 Dreigliedrige Übersetzungstheorien wurden, verglichen mit den dichotomischen Modellen, seltener vorgeschlagen. Vgl. beispielsweise die Typologisierung Tycho Mommsens, S. 163 f. 122 Noten zum Divan (1819), 280. 123 Noten zum Divan (1819), 280. 124 Noten zum Divan (1819), 281. 125 S. o. S. 16 (Anm.). 126 Noten zum Divan (1819), 283.
Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Sich annähernde Nachbildungen Karl Wilhelm Ferdinand Solgers127 Beschäftigung mit Übersetzungen lässt sich bis ins Jahr 1800 zurückverfolgen, als er anlässlich einer Lektüre der Sophokles-Übersetzung von Christian Graf zu Stolberg (Leipzig 1787) die neuere Übersetzungskunst in Deutschland würdigte: Jetzt können wir Deutschen uns rühmen, unter allen Nationen die besten Übersetzungen zu haben. Es fragt sich nur, ob dies wirklich ein großer Vorzug der eigenen Cultur ist. – Auf jeden Fall beurkundet es unsere Vielseitigkeit.128
Zwei Jahre darauf notierte er aus Anlass der Neuauflage des Voss’schen Homer (Königsberg 1802): „Jetzt erst können wir sagen, daß wir einen vollkommenen deutschen Homer haben.“129 Im Jahr 1804 legte er – anonym – seine erste Übersetzung des Sophokleischen König Oidipus vor. Heinrich Voss, der Sohn des Homer-Übersetzers, den Solger während eines Studiensemesters in Jena kennengelernt hatte, bot sich schon während der Entstehung des Oidipus als Berater an;130 nach dem Erscheinen des Buchs trat er in einer Sammelrezension in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung, die die zeitgleich publizierten Sophokles-Übersetzungen Hölderlins, Friedrich Asts, Gottfried Fähses und eben Solgers besprach, als Fürsprecher des letzteren auf, ohne allerdings dessen Inkognito aufzudecken.131 Im Jahr 1808 erschien schließlich, nun mit Namensnennung, Solgers Übersetzung des Gesamtwerks von Sophokles. Auch König Oidipus war dafür noch einmal völlig neu _____________ 127 Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819), Philosoph im Umkreis der deutschen Frühromantik, hatte 1799–1803 Jura in Halle und Jena studiert und nebenher in Halle Vorlesungen bei Friedrich August Wolf, in Jena bei Schelling gehört. Anschließend begann er sein juristisches Referendariat in Berlin, das er 1806 abbrach, um sich ausschließlich philologischen und philosophischen Studien zu widmen. 1809 wurde er an die Universität in Frankfurt a. O. berufen. 1811 erhielt er eine Professur für Philosophie und Mythologie in Berlin. Solger starb 1819 an Diphtherie. Zu seinen Lebzeiten erschienen neben der Sophokles-Übersetzung (1804/08) nur zwei ästhetische Schriften: Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst (1815) und Philosophische Gespräche (1817). Die SophoklesÜbersetzung ist auch in der dtv-Bibliothek (1977) und im Düsseldorfer Albatros-Verlag (Aischylos. Sophokles. Euripides. Die großen Tragödien, 2006) zugänglich, die Vorrede dazu ist auszugsweise wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 39–57. 128 Tagebuchnotiz, in: Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 12. 129 Notiz vom April 1803, in: Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 97. 130 H. Voss an Solger, 24.3.1804: „Ich habe mit großem Vergnügen gehört, daß Du den Oedipus Tyrannos übersetzest. Theile mir davon doch etwas mit.“ In: Karoline Solger (1882), 103. 131 Heinrich Voss’ Rezension ist vor allem wegen der scharfen Zurückweisung Hölderlins bekannt geworden, dessen „regellose Kühnheiten“ Voss, wie er schrieb, „an dem Geschmacke des Hn. H.[ölderlin] bald irre“ werden ließen; H. Voss, Alte Literatur (1804), 163. Vgl. zu Voss’ Rezension auch Koschlig (1951) und Baudach (1995). Die anderen besprochenen Übersetzungen waren: Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von Friedrich Hölderlin, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1804; Sophokles Trauerspiele. Übersetzt von Gottfried Fähse, 2 Bde., Leipzig 1804/1809 und Sophocles Trauerspiele. Uebers. von Friedrich Ast, Leipzig 1804.
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bearbeitet worden; Heinrich Voss hatte diesmal tatsächlich per Korrespondenz intensiv an der Entstehung Anteil genommen.132 Aufgrund dieser Übersetzung wurde Solger Ende 1808 in Jena promoviert.133 Von Beginn an sah sich Solger einem frühromantisch geprägten Übersetzungsbegriff verpflichtet, was mit den klassizistischen Prinzipien des Hauses Voss und der Nähe des jüngeren Voss zu Goethe offenbar in keiner Weise kollidierte. Im Zusammenhang seiner ersten König-Oidipus-Übersetzung machte er bereits deutlich, dass eine Übersetzung nicht als Abbild an die Stelle des Originals treten kann: „Daß aber, um die Griechen kennen zu lernen, die griechische Sprache nothwendig verstanden werden müsse, scheint ganz unzweifelhaft zu seyn“134, weshalb er auch die Übersetzungen Schillers als „Mißgeburten“ zurückwies.135 Statt dessen klingt bereits der seit Friedrich Schlegel für romantische Hermeneutik wichtige Gedanke des Wiedererzeugens durch (formales) Nachbilden an: „In das Gesetz, welches unsere neueren großen Übersetzer durch ihr Beispiel geheiligt haben, daß die Form streng nachgebildet werden müsse, stimme ich vollkommen ein“136. In einem Brief führte er aus, dass er seine Übersetzungsarbeit dabei stets auch als Prüfstein für den Stand der deutschen Sprache und Literatur und als Mittel zu ihrer Bildung und Bereicherung verstehen wollte und bezog sich auf die These von der Verwandtschaft des Griechischen und Deutschen: Man soll an unsern Übersetzungen nur sehen, inwiefern deutscher Geist und deutsche Sprache sich jene fremde Kunstwelt anzueignen vermag, inwiefern wir durch beides mit den Griechen verwandt sind, was noch geschehen kann, um unsere Sprache für jede Art des poetischen Ausdrucks zu bilden und zu bereichern; und endlich, dreist gesagt, soll man den frohen Anblick haben, wie eine künstlerische Seele, nachdem sie ein fremdes großes Kunstwerk empfangen und sich angeeignet hat, dieses wiedererzeugt und in ihrer eigenthümlichen Sprache, sie lalle nun so vollkommen oder unvollkommen wie sie wolle, wieder ausdrückt.137
_____________ 132 Vgl. Baillot (2007). Erhalten sind nur die Briefe von Voss an Solger; vgl. Karoline Solger (1882) und Baillot (2002), wo bislang unveröffentlichtes Material abgedruckt ist. Die Manuskripte mit Voss’ Korrekturvorschlägen und Randglossen sind leider nicht erhalten. 133 Unklar ist, ob die Übersetzung selbst, die fast einhundert Seiten umfassende Vorrede oder beides zusammen als Dissertation anerkannt wurde. Laut Vermerk im Protokollbuch der Philosophischen Fakultät der Universität Jena ging am 14.11.1808 der Promotionsantrag von Solger, dem „geschmackvollen Übersetzer des Sophokles“, wie Dekan Eichstädt vermerkte, ein. Am 26.11.1808 wurde der Eingang der Promotionsgebühren quittiert. Vgl. das Protokollbuch der Phil. Fakultät (M 740), Bl. 151 und 155 im Universitätsarchiv Jena. Leider ist die Dekanatsakte des Wintersemesters 1808/09 nicht erhalten, so dass sich über die eingereichte Schrift nichts sagen lässt. – Für freundliche Unterstützung danke ich Herrn Dr. Th. Pester (Universitätsarchiv Jena). 134 Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 133. 135 Solger bezieht sich auf Schillers 1789 in der Thalia erschienene Euripides-Übersetzungen (Iphigenie in Aulis und Teile aus den Phönizierinnen). 136 Solger, Vorrede (1804), VII. 137 An seinen Bruder Friedrich, 1804, in: Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 133 f. Die Vorstellung vom unvollkommenen „Lallen“ (bzw. „Stammeln“) der Menschen, denen die Sprache Gottes unzugänglich ist, spielte in Sprachphilosophie und Poetik des 18. Jahrhunderts verschiedentlich eine Rolle; später greift auch Schadewaldt darauf zurück, s. u. S. 284 (Anm.).
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Was sich 1804 – im selben Jahr, in dem Wilhelm von Humboldt die AgamemnonÜbersetzung nach metrischen Grundsätzen umarbeitete und in dem der erste Band von Schleiermachers deutschem Platon erschien138 – bereits ankündigte, führte Solger in der zweibändigen Gesamtausgabe systematisch aus: eine Übersetzung, die „das ganze Leben jener Zeitalter selbst zu seiner eigenen unmittelbaren und lebendigen Anschauung zu bringen“139 sucht und insofern als „rein wissenschaftliche“140 Arbeit gedacht ist. Eine solche Übersetzung soll nach Möglichkeit auch die Fragmente einbeziehen; vor allem aber muss sie, wie Solger unter Verweis auf eine Stelle bei Herder erläuterte, den Gegenstand als ganzen auch „historisch und philosophisch“141 darstellen. Herder hatte in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1767) die Notwendigkeit allumfassender historischer und literarischer Erklärungen bei einer Übersetzung des Homer betont: Wenn uns jemand den Vater der Dichtkunst, Homer, übersetzte: ein ewiges Werk für die deutsche Literatur, ein sehr nützliches Werk für Genies, ein schätzbares Werk für die Muse des Altertums und unsre Sprache, ja, so wie Homer lange Zeit die Quelle aller göttlichen und menschlichen Weisheit gewesen, so wie er der Mittelpunkt der griechischen und römischen Literatur wurde, auch das größte Original für die unsere – alles dies kann eine Homerische Übersetzung werden, wenn sie sich über Versuche erhebt, gleichsam das ganze Leben eines Gelehrten wird und uns Homer zeigt, wie er ist und was er für uns sein kann. […] Thomas Blackwells ‚Untersuchung über das Leben und die Schriften Homers‘ […], eine Untersuchung, die sich den hohen Satz aufgibt: ‚Welch ein Zusammenfluß von natürlichen Ursachen konnte den einzigen Homer hervorbringen?‘, die diesen Satz aus den Geheimnissen der griechischen Literatur und Geschichte mit wahrem kritischem Geist erklärt und zum Homer ein Schlüssel ist – diese Abhandlung sollte statt Einleitung sein; eine Einleitung, die fast nie so notwendig ist, als wenn wir uns dem ältesten, dem göttlichsten, dem unübersetzbaren Homer nähern.142
Um Herders Forderung – die von der Emphase des 18. Jahrhunderts bei der neuen Aneignung Homers zeugt – nun für Sophokles einzulösen, schickte Solger seiner Übersetzung eine ausführliche Einleitung voraus, in der er seine Auffassung von griechischer Tragödie überhaupt und von Sophokles im Speziellen darlegte, Interpretationen der einzelnen Stücke vornahm und schließlich eine gründliche Einführung in Sophokleische Sprache und Verskunst beifügte. Damit ist Solgers Sophokles-Vorrede als erstes großes Zeugnis seiner spekulativen Ästhetik und Arbeit am Begriff des Tragischen anzusehen und gehört in den Zusam_____________ 138 Zu Schleiermacher und Humboldt s. u. – Solger wusste schon 1803 vom Projekt der Platon-Übersetzung, die zu dieser Zeit allerdings noch mit dem Namen Friedrich Schlegels, nicht mit Schleiermacher verbunden war, wie eine Tagebuchnotiz belegt: „Schade, daß Fr. Schlegel die Übersetzung des Plato nicht fortsetzt. Ich habe den größten Theil des Phaidros in dieser Übersetzung, und finde ihn köstlich.“ Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 98. 139 Solger, Vorrede (1808), VII. 140 Solger, Vorrede (1808), VIII. 141 Solger, Vorrede (1808), XI. 142 Herder, Über die neuere deutsche Literatur (1767), 143 f. Auf diese Forderung nach historischer Einleitung und Erklärung bezogen sich auch später, unter Verweis auf Solger, verschiedene Autoren, etwa Prutz (1840), Sp. 495.
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menhang der philosophischen Dialoge, die er 1815 unter dem Titel Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst veröffentlichte, und der Ästhetischen Vorlesungen, die 1829 postum gedruckt wurden. In einer gekürzten Fassung wurde sie demgemäß auch in die von Tieck und Raumer herausgegebenen Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel Solgers aufgenommen.143 Zugleich trug sie bei zur Kanonisierung der griechischen Tragödie als, wie Solger schrieb, „Gipfel aller poetischen Kunst der Griechen“144, die sich wiederum bei Sophokles „in ihrer höchsten Vollkommenheit“145 finde. Am höchsten schätzte Solger die beiden Oidipus-Tragödien; der allgemeine Vorzug der Antigone im deutschen Sprachraum etablierte sich erst in den folgenden Jahrzehnten.146 Neben den ästhetischen Ausführungen erscheint die Darlegung des Übersetzungsbegriffs in Solgers Vorrede sicher von untergeordnetem Interesse. Ein wichtiger Beitrag zur Übersetzungstheorie im Radius der Jenaer und Berliner Frühromantik ist sie dennoch. Noch bevor die Entwürfe Schleiermachers und Humboldts erschienen, wird hier erstmals – wenigstens zum ersten Mal öffentlich an exponierter Stelle – die Übersetzungsdiskussion systematisch an hermeneutische und philologische Diskurse angebunden. Eine Übersetzung, so der Leitgedanke, ist nicht als Ersatz des Originals für diejenigen ohne ausreichende Sprachkenntnis zu denken, sondern in erster Linie als grundlegende Aufgabe der Philologie, deren Wesen Solger (in Nähe zu Friedrich Schlegel und Friedrich August Wolf, auf dessen eben erschienene Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert er anspielt) „eben so sehr in die geistige Wiedergebärung eines Ganzen, als in die Sammlung des Einzelnen zu setzen“147 fordert. „Wiedergebärung“, „Wiederbelebung“, „Anschauung“ und „Darstellung eines vollständigen Lebens in seiner wirklichen Erscheinung“148: so fasst Solger die Aufgabe der Philologie, und das Übersetzen ist eine ihrer Darstellungsformen: Diese Wiederbelebung muß auf alle mögliche Arten und unter allen möglichen Formen versucht werden, zuvörderst in historischen Entwickelungen, dann aber auch in sich annähernden Nachbildungen, wozu dann auch solche Kopieen der Kunstwerke selbst gehören werden, in welchen Allgemeines und Einzelnes in der innigsten Einheit und so streng wie möglich wieder dargestellt werden.149
_____________ 143 Vgl. Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 2, 445–492. Zu Solgers Ästhetik vgl. u. a. Decher (1994) und Schulte (2001). 144 Solger, Vorrede (1808), XII. 145 Solger, Vorrede (1808), XXII. 146 Vgl. dazu u. a. Flashar (2009), 58 f. und Pöggeler (1964). 147 Solger, Vorrede (1808), IX. 148 Solger, Vorrede (1808), VII f. 149 Solger, Vorrede (1808), VIII. – Einen Reflex dieser Auffassung über das Verhältnis von philologischer Einzelerläuterung und übersetzerischer Gesamtansicht glaubt man später in der Tacitus-Übersetzung von Georg Ludwig Walch zu erkennen. Walch (1785–1838), der Lehrer am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster war und später eine Professur in Greifswald erhielt, schrieb im Vorwort seiner Übersetzung des Agricola: „Eine Übersetzung kann keinen Kommentar ersetzen. Ganz recht […]. Doch ist eben so gewiß: Kein Kommentar, auch der beste nicht, ersetzt eine Übersetzung […]. Der
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Damit verweist er auf die Praxis der Kunstgeschichte, die weithin auf Kopien (Gipsnachbildungen, Stichen) beruhte, und zugleich erneut auf den Gedanken des hermeneutischen Nachbildens und Nachkonstruierens. Dass solche Wiederbelebungen nicht der „Herbeiführung eines neuen Kunstalters nach ehemaligen Mustern“150 gelten, fügt Solger noch hinzu, und gelangt zu einer Begriffsbestimmung, nach der eine Übersetzung „ein altes Kunstwerk, so wie es im Alterthum selbst in allen seinen Beziehungen zu seiner Zeit da war, uns durch unser eigenthümliches Organ wieder zur lebendigen Anschauung bringen“151 soll. Damit schließt er aber das Übersetzen dezidiert aus dem Bereich der Kunst, als einer „Schöpfung aus Nichts“ und „Darstellung aus der innersten Eigenthümlichkeit des Gemüths heraus“152, aus. Niemand hat die Loslösung der Übersetzung von Kunst und Dichtung so entschieden betrieben, wie Solger, weshalb er auch einen Vorschlag, Sophokles’ Antigone für eine Aufführung auf der Weimarer Bühne (1809) zu bearbeiten, ablehnte. In einem Brief berichtete er damals: Göthe kann doch durch so etwas blos seiner Curiosität ein Vergnügen machen wollen. […] Arnim, der sich jetzt wieder hier aufhält, schlug mir bei der Gelegenheit vor, ich sollte einmal ein Stück des Sophokles fürs Theater bearbeiten. Schwerlich könnte ich mich dazu verstehen. Ich bin einmal so in dem Originale zu Hause, daß ich nicht wagen würde, etwas zu oder abzuthun.153
Die Tragödien in ihrer Eigentümlichkeit zu kopieren und nachzubilden, war Zweck des Übersetzens; die Praxis, insbesondere in moralischen und erotischen Dingen Zugeständnisse an den modernen Leser und seine Vorstellungen zu machen, hielt er deshalb für unzulässig: Eigenthümlichkeiten durften also meines Erachtens nicht verwischt werden, wenn das Werk einmal ein Werk des Alterthums bleiben sollte, auch da nicht, wo die gewöhnliche Denkweise oder wohl gar Ziererei mancher heutiger Leser einen Anstoß nehmen könnte.154
Über die eigentliche Ausführung der Übersetzung spricht Solger indessen nur im Zusammenhang der metrischen Form, deren Nachbildung nach seiner Auffassung und, _____________
150 151 152 153
154
Kommentar mithin hat das Einzelne, den Stoff, der Übersetzer das Ganze, die Form zur Aufgabe. […] Beide zusammen bilden die vollständige Erklärung, die unvollständig bleiben darf für Gelehrte, wo die Auffassung der Form vorausgesetzt wird, für werdende Gelehrte aber, wie beim mündlichen Erklären, zumal auf Universitäten, ein unentbehrliches Ergänzungsstück aller Erklärung ist.“ Walch, Vorrede (1828), XXII. Solger, Vorrede (1808), VIII. Solger, Vorrede (1808), IX. Solger, Vorrede (1808), IX. An Abeken, 13.4.1809, in: Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 162. Am 30.1.1809 brachte Goethe in Weimar eine Bearbeitung der Antigone durch Friedrich Rochlitz (1796–1842) zur Aufführung. Goethe hatte zuvor an Solger als Übersetzer gedacht, „doch als dessen Übersetzung der Antigone erschien (1808), wurde Rochlitz mit der Bearbeitung für die Bühne gerade fertig“, Flashar (2009), 52. Flashars Urteil bestätigt die Ansicht Solgers, nach der die Aufführung vor allem die „Curiosität“ bedienen sollte: „Betrachtet man das ganze Unternehmen, so fällt eine Unentschiedenheit zwischen historisierend-antiquarischen Bemühungen und modernisierenden Bearbeitungstendenzen im Sinne herrschender Geschmackskonventionen auf.“ Flashar (2009), 52. Solger, Vorrede (1808), LV.
Karl Wilhelm Ferdinand Solger
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wie er eigens betont, „nach der jetzt allgemein gewordenen Uebereinstimmung aller gründlichen Kenner“155 unerlässlich ist. Er würdigt Voss’ Zeitmessung der deutschen Sprache (1802) als „einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Gelehrsamkeit und Literatur“156, geht aber, im Unterschied zu Voss, von prinzipieller und letztlich unüberbrückbarer Verschiedenheit zwischen deutschen und griechischen Versen aus, und zwar aus doppeltem Grund. Erstens: Da griechische Verse gesungen wurden, war dort, anders als im Deutschen, die „metrische und musikalische Komposition der poetischen Rede völlig Eins und dasselbe“157. Der Dichter war stets auch der Komponist, das poetische Wort ohne musikalische Gestaltung wäre den Griechen „unnatürlich“158 erschienen. Mit dem Verlust der Musik sei daher ein wesentliches Moment griechischer Dichtung „in eine fast undurchdringliche Dunkelheit geschwunden“159. Zweitens: Zwar gibt es auch in der deutschen Sprache lange und kurze Silben, aber das Prinzip der Silbenlänge, das Solger (wie August Wilhelm Schlegel160) als „musikalisches“ Prinzip versteht, sieht er im Deutschen stets dem „rhetorischen“ Prinzip des Akzents untergeordnet. In griechischer Dichtung konnte die von Solger vorausgesetzte Dichotomie zwischen Rede und Musik durch den Bezug auf einen gemeinsamen Stoff zur Verschmelzung gelangen, eine Möglichkeit, die moderne Dichtung verloren habe: Die rhetorische Deklamation und die metrische oder musikalische sind also zwei ganz verschiedene Dinge, und wir, die wir der Musik in ihrer wirklich bedeutungsvollen, geistigen Einheit mit der Rede schon ziemlich entfremdet zu sein scheinen, erstaunen zuweilen, bei den Alten ein rhetorisch sehr bedeutendes Wort in der unscheinbarsten Senkung der Musik, ein sehr unbedeutendes aber in der Hebung derselben zu finden.161
Der Verlust der Musik kann auch durch eine metrische Übersetzung nicht ausgeglichen werden, weil der Übersetzer sich immer „sklavisch am logischen Werthe der Wörter halten“162 muss. Wenn Solger dennoch die metrische Nachbildung als gültigen Grundsatz betrachtet, dann zielt er damit nicht in erster Linie auf die Bildung und Anhebung der deutschen poetischen Sprache (wie Humboldt), obwohl ihm die Dynamik von Übersetzersprache („daß bei jeder Nachbildung eines alten Werkes auch wieder manches Neue gewagt werden muß, weil eben wieder ein neues Urbild da ist“163) wohl bewusst ist. Übersetzung bleibt auch hier für ihn stets philologische Kopie: Nachah_____________ 155 Solger, Vorrede (1808), LVII. 156 Solger, Vorrede (1808), XCI. Ebd., XCIII, führt er in einer Anmerkung (*) an: „Wer sich von der ganzen Mannichfaltigkeit der deutschen Prosodie in allen ihren Abstufungen recht vollkommen unterrichten will, der studire die kleine Schrift von Voß: Zeitmessung der deutschen Sprache. Auf derselben beruht großentheils das hier gesagte. Man wird aber bemerken, daß dort die Theorie der deutschen Verskunst gelehrt, hier aber diese mit der griechischen verglichen wird.“ 157 Solger, Vorrede (1808), LIX. 158 Solger, Vorrede (1808), LVIII. 159 Solger, Vorrede (1808), LIX. 160 Vgl. A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795). 161 Solger, Vorrede (1808), LXXXIX f. 162 Solger, Vorrede (1808), XCI. 163 Solger, Vorrede (1808), LVII.
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mende deutsche Verse hält er für „etwas ganz Fremdartiges, was aber geschickt ist, bei uns die Stelle derselben [scil. der griechischen Verse] zu vertreten.“164 Die metrische Übersetzung ist also ein „gelehrtes Mittel“ und „stellvertretende[s] Hülfsmittel“165. In diesem Sinn betrachtet er seine eigene Übersetzung als „nichts Neues, nichts Ganzes und Bleibendes“, als „Versuch zur Lösung einer unendlichen Aufgabe“ und als einen Beitrag unter anderen, so dass „jede nicht ganz thöricht unternommene Bestrebung immer hierin oder darin eine Art von Werth behalten“166 kann. 1809, nachdem ihm das Herbe, dem „maßvollen“ Sophokles nicht Angemessene in seiner Übersetzung vorgehalten worden war, zog Solger in einem Brief Resümee: Es giebt zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Völkern verschiedene Arten von Bildung und Rhythmus; den griechischen glaube ich etwas zu verstehen. Vielleicht wäre es mir auch wohl gelungen, dem Sophokles ein zierlicher drappirtes Gewand zu geben, nach heutiger Kunst, oder es wäre mir auch nicht gelungen: denn ich bin zu aufrichtig dazu. Wenn ich erst den Äschylus übersetzen sollte, so würden sich die Leute die Ohren zuhalten. […] In der Hauptsache bleibe ich noch mit mir einig; darum habe ich eben in der Vorrede gesagt, daß es kein heutiges Kunstwerk, auch nach dem höchsten Begriffe von einem solchen, seyn soll, sondern ein wissenschaftliches Werk, und wer es nur recht wissenschaftlich ansieht, der wird sich nicht wundern, wenn er sich erst durch das Fremde durcharbeiten muß, ehe er den Kern recht treffen kann.167
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Solger, Vorrede (1808), LXXXV. Solger, Vorrede (1808), XCII. Solger, Vorrede (1808), X. Zum Übersetzen als „unendlicher Aufgabe“ vgl. auch oben S. 40. An Abeken, 4.12.1808, in: Solger, Nachgelassene Schriften (1826), Bd. 1, 160 f.
Friedrich Schleiermacher: Nachahmen des Verstehens Am 24. Juni 1813 hielt der Theologe Friedrich Schleiermacher168 vor der Philosophischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften eine Rede, die drei Jahre später unter dem Titel Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens in den Akademieabhandlungen gedruckt wurde. In Berlin wurden in dieser Zeit Sammlungen zur Finanzierung des antinapoleonischen Aufstands gehalten und Verteidigungsanlagen gebaut; nach dem Sieg bei Bautzen hatte Napoleon Anfang des Monats zwar einen Waffenstillstand ausgerufen, aber Ereignisse wie der französische Überfall auf die Lützowsche Freischar wenige Tage vor Schleiermachers Rede waren beunruhigend genug.169 Man rechnete mit Belagerung Berlins. Schleiermachers Frau und Kinder hatten (wie viele andere) nach Ausbruch der Kriegshandlungen die Stadt Richtung Osten verlassen. Vorlesungen fielen aus.170 Ab Ende Juni übernahm Schleiermacher widerstrebend für einige Monate die Redaktion des Preußischen Correspondenten, eines jener Blätter, die aus dieser Situation heraus entstanden waren. Für sich persönlich empfand er die Zeit als aufreibend und unbefriedigend. Ende des Jahres bekannte er in einem Brief, „daß dieses thatenreiche Jahr eines der leersten meines Lebens“171 gewesen sei. Unter solchen Verhältnissen schrieb Schleiermacher, nach eigener Auskunft innerhalb von vier Tagen, den Übersetzungs-Vortrag nieder; in einem Brief nannte er ihn „ziemlich triviales Zeug“172. Dass Schleiermacher diese Arbeit derart bagatellisierte, ist vielleicht der politischen Situation geschuldet, vielleicht aber auch der Tatsache, dass seine Ausflüge über die Grenzen der Theologie bisweilen skeptisch beobachtet wur_____________ 168 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), Theologe und Philosoph, studierte u. a. an der Universität Halle. 1796 trat er eine Stelle als Prediger an der Berliner Charité an; in dieser Zeit schloss er Freundschaft mit Friedrich Schlegel. 1804 erhielt Schleiermacher ein Extraordinariat in Halle. Nach Schließung der Hallenser Universität ging er nach Berlin, wo er zunächst als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche tätig war, seit 1809 zusätzlich in verschiedenen Funktionen für das Ministerium des Innern (im Zusammenhang der Bildungsreformen) und seit 1811 auch als Professor an der neugegründeten Universität. Schleiermachers epochale Platon-Übersetzung erschien zwischen 1804 und 1828 in sechs Bänden. Sie steht im Kontext seiner Arbeiten zur Hermeneutik, darunter die Akademierede Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch (1829) und die postum gedruckten Hermeneutik-Vorlesungen (zuerst 1838 unter dem Titel Hermeneutik und Kritik). Zu Schleiermacher allgemein vgl. die Biographie von Nowak (2001), zu seiner Hermeneutik und ihrem Verhältnis zur älteren Tradition und zu Schlegel vgl. Patsch (1966), Birus (1982), Schnur (1994), Scholz (2001), Kurz (2004). Schleiermachers Akademierede ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 59–81. 169 Am 17. Juni 1813 war das Lützowsche Freikorps während eines Waffenstillstands bei Kitzen südwestlich von Leipzig von rheinbündischen Württembergern und Franzosen angegriffen und fast zerschlagen worden; Theodor Körner wurde dabei schwer verwundet. – Vgl. zu dieser Zeit Nowak (2001), 340–356. 170 Nowak (2001), 319. 171 An G. A. Reimer, 14.11.1813, zit. nach Nowak (2001), 355. 172 An seine Frau, 21.6.1813, in: Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11 (2002), XXXIII.
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den.173 Jedenfalls zählt Schleiermachers Akademierede heute – neben Goethes Wieland-Gedenkrede und Noten zum Divan 174 – zu den am stärksten rezipierten und am häufigsten zitierten Dokumenten deutscher Übersetzungstheorie. Der angedeutete Entstehungshintergrund macht augenfällig, dass Schleiermachers Rede auch als zeitgeschichtliches Dokument und, wie sich zeigen wird, im historischen Kontext gelesen werden muss. Schleiermachers Entwurf gründet wesentlich auf Herder und den Romantikern. Anklänge an Formulierungen Goethes oder Boeckhs lassen den übergreifenden Zusammenhang der Diskussion erkennen. Anders, als durch seinen Titel suggeriert wird, zielt er nicht auf das Nebeneinander optionaler Methoden, sondern zeigt die Individualität des Originals und seine Fremdheit als ein hermeneutisches und sprachliches Problem auf. Die sonst meist mit Ambivalenz betrachtete Beobachtung einer besonderen Neigung der Deutschen zum Übersetzen (bei August Wilhelm Schlegel oder Solger beispielsweise) deutet er vor dem Hintergrund der antinapoleonischen Kriege im Sinn einer zugleich nationalen und europäisch bedeutsamen Vision der Kulturnation Deutschlands im Herzen Europas. Während Solgers und Humboldts Vorreden unmittelbar an konkrete Übersetzungen (Sophokles resp. Aischylos) angebunden waren, standen Schleiermachers Ausführungen als Rede zunächst für sich. Tatsächlich ist auffällig, dass Schleiermachers eigene Übersetzungsarbeit, seine konkrete Erfahrung mit dem Text Platons, unerwähnt bleibt. Dennoch bildete die Platon-Übersetzung (bei der sich beispielsweise das Problem der Versform überhaupt nicht stellte) und die damit einhergehenden hermeneutischen Konzeptionen eine wichtige Voraussetzung seiner Übersetzungstheorie. Die Idee zur Übersetzung kam bezeichnender Weise nicht von Schleiermacher, sondern von Friedrich Schlegel, wobei Platon im Wesentlichen als Folie frühromantischer Identitätsphilosophie diente.175 Beide waren einander, bald nach Schlegels Eintreffen in Berlin im Jahr 1797, in den literarischen Kreisen der Stadt begegnet und, wie der Schleiermacher-Biograph Kurt Nowak schreibt, sofort vom „Blitz einer intellektuellen Empathie“176 getroffen worden. Für anderthalb Jahre teilten sie Schleiermachers Wohnung vor dem Oranienburger Tor. Eines der zahlreichen Projekte aus der Zeit dieser Wohngemeinschaft (in die übrigens auch die Gründung des Athenaeum durch die Brüder Schlegel fällt) war die Übersetzung des gesamten Platon. In einem Brief berichtete Schleiermacher 1799: Schlegel schrieb mir […] von einem großen Coup den er noch vorhätte mit mir und das ist denn nichts geringeres als den Plato übersetzen. Ach! es ist eine göttliche Idee […].177
_____________ 173 Vgl. dazu Nowak (2001), 282 f.: „Manchen Zeitgenossen war Schleiermachers Doppelseitigkeit [scil. zwischen Theologie und Philosophie] nicht recht geheuer.“ 174 S. o. S. 43–45. 175 Vgl. dazu Arndt (1996) und Bubner (1995). 176 Nowak (2001), 83. Zum Geist jener intellektuellen und geselligen Kreise Berlins vgl. die anschauliche Darstellung in Nowaks Schleiermacher-Biographie; ebd. 79–97. 177 An Henriette Herz, 29.4.1799, in: Schleiermacher, Briefwechsel 1799–1800 (1992), 101.
Friedrich Schleiermacher
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Tatsächlich war das Vorhaben von Schlegel als bahnbrechende Wiederentdeckung und Restitution des von den verschiedenen neoplatonischen Lehren seit der Antike weitgehend verschütteten Autors gedacht. Dass es schließlich nach Schlegels Weggang aus Berlin an Schleiermacher allein überging, hing mit persönlichen und sachlichen Unstimmigkeiten (zum Beispiel in Fragen zur Echtheit einzelner Dialoge) zwischen beiden zusammen. Zwischen 1804 und 1809 erschienen fünf Bände, ein sechster Band folgte nach längerer Pause 1828: der gesamte Platon (einschließlich einiger heute als unecht geltender Dialoge) mit Ausnahme von Timaios, Kritias, Nomoi und den Briefen. Welches Verdienst der Übersetzung auch für die Platon-Philologie zukam, lässt sich daran ermessen, dass die von Immanuel Bekker besorgte Platon-Edition (1816/18)178 die Widmung Friderico Schleiermachero – Platonis Restitutori trug. Vermutlich ist dies das einzige Beispiel einer solchen Anerkennung übersetzerischer Leistung von Seiten der Textphilologie. Tatsächlich war Schleiermachers Anliegen nicht nur, Platon als Dichterphilosophen und damit als Exempel und Bezugsgröße romantischer Poetik darzustellen; ebenso wichtig war ihm die Klärung strittiger Fragen der Entstehungschronologie und der Echtheit, um den Text hermeneutisch nachvollziehen und letztlich die Einheit der Lehre Platons in sich erweisen zu können. Insofern wurde, wie A. Arndt schrieb, Platon für Schleiermacher zu einem hermeneutischen Modellfall: Die Übersetzung als systematische und genetische Nachkonstruktion eines Ganzen – dies ist das Programm einer „hermeneutischen Wende“ um 1800, welche die aufklärerische Stellenhermeneutik in das umfassende Programm einer Erklärung des Ganzen aus seinen Teilen einstellte.179
Den Desideratcharakter der Übersetzung und ihre hermeneutisch-philologische Leistung hob auch August Boeckh, der spätere Kollege Schleiermachers an der Berliner Universität, der zu dieser Zeit in Heidelberg lehrte, in einer Rezension zum zweiten Band hervor, die 1808 in den Heidelberger Jahrbüchern erschien.180 Die Besprechung ist zugleich ein frühes Zeugnis für Boeckhs eigene hermeneutische Methodenbildung und zeigt, verglichen mit dem, was er später in der Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften darlegte, eine wesentlich optimistischere Auffassung vom Übersetzen.181 Geradezu mit romantischem Enthusiasmus hebt er hier Schleiermachers besondere Affinität zu Platon hervor. Er rühmt den Übersetzer, dem man nicht mit Unrecht ähnlichen Geist beigemessen hat, der in eigenen Schriften ähnliche dialektische Kunst, von Besonnenheit sanft gezügelte Phantasie, ferner ähnliche Beredsamkeit und Gewalt über Stoff und Darstellung, vielseitige Gewandtheit und feine Bildung des Sinnes beweiset: so dass man von ihm behaupten kann, was als die vollgültige
_____________
178 Platonis Dialogi, graece et latine, 3 Tle./8 Bde., Berlin 1816–1818. 179 Arndt (1996), XII. Bei Arndt sind die Folgen des Schleiermacher’schen Platon in Philosophie und Philologie und seine wechselhafte Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart instruktiv dargestellt. 180 August Boeckh (1785–1867) hatte in Halle studiert und dort auch Vorlesungen bei Schleiermacher gehört. 1811 wurde er aus Heidelberg an die neu gegründete Berliner Universität berufen, wo er mehr als ein halbes Jahrhundert lang wirkte. – Die Heidelberger Jahrbücher der Literatur (hg. von Friedrich Creuzer) waren eine wichtige Zeitschrift der Heidelberger Romantik. 181 Zu Boeckhs Encyklopädie s. u. S. 91–94.
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Begründung moderner Übersetzungstheorie Probe des Verstehens anzusehen ist, er würde ähnliche Gebilde haben schaffen können […] noch Niemand hat den Platon so vollständig selbst verstanden und Andere verstehen gelehrt.182
Die mindestens partielle Übereinstimmung von verstehendem Subjekt und zu verstehendem Objekt gehörte zu den fundamentalen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zeitgenössischer Hermeneutiken. Schleiermacher hat diesen Punkt in seiner Akademierede übersprungen, um statt dessen den Aspekt der Fremdheit zu stärken. Das gleiche gilt für Humboldts Agamemnon-Vorwort. Auch sonst stehen neben unübersehbaren, bis in die Formulierung reichenden Gemeinsamkeiten zwischen Boeckhs knappen und Schleiermachers ausgeführten Überlegungen einige bezeichnende Differenzen im Detail. Über die Untrennbarkeit von Inhalt und Form, von „Stoff “ und „Gehalt“ besteht, so Boeckh, allgemein Konsens; das autorspezifische „Individuelle der Sprache“ ist daher unbedingt in der Übersetzung darzustellen: [N]ur darüber streiten sie, ob auch dasjenige, was an der Sprache und Individualität rein nationell ist, zu uns übergetragen oder so umgewendet werden solle, wie etwa, sagen sie, der Mann selbst, wäre er jetzt unter uns aufgetreten, gesprochen haben würde.183
Boeckh weist jeden Versuch, „des Schriftstellers Geist vom Geiste der Nation, wie mit Einem Hiebe zu trennen“, als absurd zurück. Die doppelte Ausrichtung des Übersetzens auf das „Individuelle“ und das „Nationelle“ erinnert an Schleiermachers Auffassung vom zwiefachen Verhältnis des Sprechers zur Sprache, die unten zu erläutern sein wird. Allerdings greift Boeckh zugleich auf die einkleidungsrhetorische Metapher von Körper und Hülle zurück, auch wenn er beides als miteinander verwachsen und untrennbar (wie Fleisch und Haut184) darstellt. Schleiermachers Übersetzung hat, so Boeckh, Platons Gewand nicht angetastet: Darum freundlichen Gruss dem Platon, der mit Hellenischem Gewande noch ehrwürdig angethan, unter uns tritt.185
Die Frage, wie Platon in hellenischem Gewand und doch in deutscher Sprache auftreten kann, wird von Boeckh nicht erörtert, was indessen mit der Bedeutung des irrationalen, fast mystischen Überspringens korrespondiert, das für Boeckhs Hermeneutik als initiales Moment eine wichtige Rolle spielt. In der Encyklopädie und Methodologie schrieb er später: _____________ 182 Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 3. 183 Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 17. Ebd. auch das folgende Zitat. 184 „Als ob die inneren Formen der Menschheit, die unwandelbaren Typen leichter umgetauscht, als dem Herakles die Keule entwunden, und der hohe Bund von Gedanken und Wort so ungestraft gebrochen, oder nicht vielmehr, während du dem Schriftsteller die äussere Gestalt auszögest, die feine innere Haut, wodurch die Idee mit jener verwachsen ist, sammt der Idee zerfleischt würde: denn überaus zart ist die Hülle der genialen Darstellung, wo der Geist, um mit Schiller zu reden, wie entblösset erscheint, das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend lässt.“ Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 17. 185 Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 18.
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Dies Gefühl ist es, vermöge dessen mit einem Schlage wiedererkannt wird, was ein Anderer erkannt hat, und ohne dasselbe wäre in der That keine Mittheilungsfähigkeit vorhanden.186
Die Kongenialität des Übersetzers ist damit aus Boeckhs Sicht der eigentliche Garant für die Möglichkeit des Übersetzens. Schleiermachers Kongenialität als Übersetzer Platons wird in der Rezension ausführlich gewürdigt. In Schleiermachers Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens ist von Kongenialität nicht die Rede, was wiederum mit seiner Hermeneutik in dieser Zeit korrespondiert.187 Die unglaubliche Serie an absichtlichen und unabsichtlichen Fehldeutungen, die Schleiermachers übersetzungstheoretischer Entwurf im 19. und 20. Jahrhundert erfahren hat,188 lässt es geraten erscheinen, den Gang seiner Argumentation im Einzelnen nachzuzeichnen.
_____________ 186 Vgl. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie (1886), 86. 187 Erst in seinen späteren Hermeneutikentwürfen gewinnen Psychologie des Autors und divinatorische Elemente im Verstehen mehr Raum, was in der Rezeption Schleiermachers seit Dilthey überschätzt wurde und für Missverständnisse sorgte. Vgl. dazu Nowak (2001), 203: „In späteren Stufen seiner Hermeneutik verwendete Schleiermacher den Koppelbegriff ‚technisch-psychologische Interpretation‘. Schleiermacher vollzog mit solchen Pointierungen eine allmähliche Abkehr von der Theorie der Identität von Sprache und Denken. In der Rezeptionsgeschichte der ‚Hermeneutik‘ erwuchs aus dem Terminus ‚psychologische Interpretation‘ das Mißverständnis, als sei es in der Auslegungskunst damit getan, den ‚Keimentschluß‘ und das innere ‚Lebensmoment‘ des Autors kongenial zu erfassen, um von dort zum vollständigen Verstehen des Textes zu gelangen.“ 188 Um nur zwei Beispiele anzuführen: Karl Schäfer ging 1839 davon aus, dass Schleiermacher beide der von ihm dargestellten Methoden für falsch gehalten und einen dritten Weg propagiert habe, vgl. unten S. 86 f. Ernst Eckstein (1845–1900), ein vielgelesener Romanautor, Reiseschriftsteller und Humorist der Gründerzeit, adaptierte 1876 in einem Aufsatz zu Übersetzungen englischer Lyrik die Methoden Schleiermachers unbedenklich an eine trivialisierte nachklassische und nachromantische Dichtungsauffassung: „Schleiermacher unterscheidet in seiner Abhandlung ‚Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens‘ zwei wesentlich divergirende Hauptwege. Der Uebersetzer kann nämlich einmal beabsichtigen, dem Leser bis in’s kleinste begreiflich zu machen, was der Originalautor unter dem Banne seiner nationalen und sprachlichen Eigenthümlichkeiten hervorbringen mußte; oder aber er bestrebt sich, an der Hand des fremden Originals ein Parallelwerk zu liefern, wie es der Autor hervorgebracht haben würde, wenn er in der Sprache des Uebersetzers geschrieben hätte. Für Werke, denen kein dichterisches Interesse innewohnt, ist die erste Methode offenbar die naturgemäße. Bei poetischen Schöpfungen, zumal in gebundener Rede, erscheint sie indeß mehr als bedenklich, denn was hier die Uebertragung an Treue gewinnt, das verliert sie an Stimmung und Colorit. Eine Schädigung aber, die sich auf das eigentliche künstlerische Element erstreckt, ist offenbar unerträglicher, als eine gelinde Verfälschung der rein accidentiellen Aeußerlichkeiten. […] Eine poetische Schöpfung läßt sich eben nur nachdichten, und wer nicht selbst einen Funken des göttlichen Feuers in der Brust trägt, der wird niemals dem Leser überzeugende Kunde von der Flamme auf dem fremden Altar übermitteln. Eine Nachdichtung ist freilich nicht das absolute Alterego [sic] des Originals, aber sie verhält sich doch allermindestens zu ihm, wie der Gipsabguß zu der Statue, während die sogenannte ‚wörtliche‘ Uebersetzung das Kunstwerk in Stücke schlägt, die Trümmer über die Grenze schmuggelt, und dann ein Monstrum zusammenleimt, dessen Verrenkungen uns mit Ekel erfüllen.“ Eckstein, Aphorismen über die Kunst der poetischen Uebertragung (1876), 92.
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Ausgangspunkt Schleiermachers ist eine entschiedene Eingrenzung seines Gegenstandes. Unter den „mannigfaltigsten Gestalten“189 sprachlichen Transfers, der zwischen lebenden und „erstorbenen“ (67) Sprachen, Mundarten und Soziolekten, ja zwischen verschiedenen Äußerungen ein und desselben Menschen stattfinden kann, betrachtet er nur Übertragungen aus einer fremden in die eigene Sprache. Hier wiederum schließt er das „Dolmetschen“ aus, das er – abweichend vom üblichen Sprachgebrauch – nicht an die Mündlichkeit bindet, sondern dem „Gebiete des Geschäftslebens“ (68) zuordnet. Es dient in erster Linie der Informationsübermittlung und ist daher ein mehr oder weniger „mechanisches Geschäft“ (70) der Zeichenersetzung. Das „eigentliche Uebersetzen“ (71) dagegen, dem Schleiermachers Abhandlung gilt, ist „vornämlich in dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst“ (68) gefordert: bei Texten, die wesentlich individuell geprägt sind, in denen nicht der Gegenstand beherrschend ist, sondern der Gegenstand erst in der Rede entsteht, kurz, für die die Einheit von Denken und Sprechen textkonstitutiv ist. Dass Gedanke und Sprache untrennbar verknüpft sind, ist zu dieser Zeit keine neue Erkenntnis mehr. Wichtig ist aber, dass Schleiermacher seine Eingrenzung des Gegenstandes dadurch begründet. Im 18. Jahrhundert gab es Unterscheidungen verschiedener Übersetzungsarten, die den Methoden Schleiermachers auf den ersten Blick nicht unähnlich sind, die aber rhetorischen Begründungen gefolgt waren.190 Dabei sind allerdings Dolmetschen und Übersetzen für Schleiermacher nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern gehen graduell ineinander über, denn im Grunde betrifft die Einheit von Sprache und Denken alle Bereiche; nur die Konsequenzen sind von unterschiedlichem Gewicht. Und auch das uneindeutige Verhältnis der Sprachen untereinander, ihrer Wörter und ihrer grammatischen Bauweise, wirkt übergreifend. Schleiermacher nennt es die „Irrationalität“ der Sprachen: Indem diese Irrationalität, daß ich mich so ausdrücke, durch alle Elemente zweier Sprachen hindurchgeht, muß sie freilich auch jenes Gebiet des bürgerlichen Verkehrs treffen. Allein es ist offenbar, daß sie hier weit weniger drückt, und so gut als keinen Einfluß hat. (70)
Was das eigentliche Übersetzen aber vor allem vom Dolmetschen unterscheidet, ist das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprache. Im Bereich des Dolmetschens ist die Sprache bloßes Instrument zur Bezeichnung eines Sachverhalts, im Bereich des Übersetzens dagegen besteht zwischen Sprache und Sprecher ein wechselseitiges – Schleiermacher sagt „zwiefaches“ – Verhältnis: Jeder Mensch ist auf der einen Seite in der Gewalt der Sprache, die er redet; er und sein ganzes Denken ist ein Erzeugniß derselben. […] Auf der andern Seite aber bildet jeder freidenkende, geistig selbstthätige Mensch auch seinerseits die Sprache. (71)
_____________
189 Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 67. Im Folgenden werden Stellen aus Schleiermachers Rede jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. 190 Beispielsweise Christian Garves Unterscheidung in Schriftsteller, die „etwas Eigenthümliches haben“, und solche, die „gar nichts eigenes haben“, vgl. oben S. 16 f. (mit Anm.). Das „Eigenthümliche“ ist dabei nicht Individualität im Sinn Schleiermachers, sondern hängt mit dem Schmuck der Rede zusammen; deshalb gehören Philosophen für Garve in die Gruppe, die nichts „Eigenthümliches“ hat; Garve, Vorrede (1787), X f.
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Eine Rede kann nur verstanden werden, wenn auch dieses Verhältnis verstanden wird, und nur übersetzt werden, wenn dieses Verhältnis mit dargestellt wird. Schleiermacher, der Boeckhs Idee einer schlagartigen Offenbarung nicht recht teilen mochte, räumt an dieser Stelle ein, dass Übersetzen damit zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe wird: Wenn seine [scil. des Übersetzers] Leser verstehen sollen, so müssen sie den Geist der Sprache auffassen, die dem Schriftsteller einheimisch war, sie müssen dessen eigenthümliche Denkweise und Sinnesart anschauen können; und um dies beides zu bewirken, kann er [der Übersetzer] ihnen nichts darbieten als ihre eigene Sprache, die mit jener nirgends recht übereinstimmt, und als sich selbst, wie er seinen Schriftsteller bald mehr, bald minder hell erkannt hat, und bald mehr, bald minder ihn bewundert und billigt. Erscheint nicht das Uebersetzen, so betrachtet, als ein thörichtes Unternehmen? (72 f.)
In der Tat ist hier die Problematik des Übersetzens, wie sie sich jenseits rationalistischer Sprachauffassungen stellte, in aller Schärfe formuliert. Wenn das Denken unlösbar an die jeweilige Sprache gebunden ist und die einzelnen Sprachen sich „irrational“ zueinander verhalten, dann scheint Übersetzen unmöglich, zumindest im herkömmlichen Verständnis als Ersetzung des Originals durch sein Abbild. Damit grenzt Schleiermacher auch zwei Spielarten – oder genauer: zwei Vorstufen – von seinem eigentlichen Begriff der Übersetzung ab: die Paraphrase, die ähnlich mechanisch vorgeht wie das Dolmetschen und vor allem in der Wissenschaft Anwendung findet, und die Nachbildung, die im Gebiet der „schönen Kunst“ (74) üblich ist und, in moderner Terminologie, auf Wirkungsäquivalenz zielt. Wichtig ist, dass Schleiermacher Paraphrase und Nachbildung auch als konkret historisch verankerte Formen der Übersetzung konzipiert. Solange die Voraussetzungen für Übersetzungen im strengen Schleiermacher’schen Sinn noch nicht erfüllt sind, haben beide Formen ihre Berechtigung: In einem solchen Zeitraume mögen also erst freie Nachbildungen die Lust am Fremden wecken und schärfen, und Paraphrasen ein allgemeineres Verstehen vorbereiten, um so künftigen Uebersetzungen Bahn zu machen. (76)
Eine Fußnote, die Schleiermacher für den Druck der Rede an dieser Stelle einfügte, macht den konkret-historischen Charakter von Paraphrase und Nachbildung noch deutlicher. Schleiermacher wies hier Goethes Plädoyer für Prosaübersetzungen von Dichtkunst191 – die in seiner Sicht „immer mehr oder weniger Paraphrasen seyn müssen“ – entschieden zurück. Solche Prosaübersetzungen mögen in Goethes Jugendzeit nützlich gewesen sein: Das aber kann ich nicht glauben, daß auch jetzt der Vossische Homer und der Schlegelsche Shakespeare nur sollten zur Unterhaltung der Gelehrten unter sich dienen; und eben so wenig, daß auch jetzt noch eine prosaische Uebersetzung des Homer zu wahrer Geschmacksund Kunstbildung sollte förderlich seyn können […]. (76)
Übersetzung im engeren, eigentlichen Sinn beginnt für Schleiermacher überhaupt erst jenseits des Dolmetschens und jenseits von Paraphrase und Nachbildung. Dies ist sicher die systematisch strengste Definition von Übersetzung aus dieser Zeit; auch mit _____________ 191 S. o. S. 16 (Anm.).
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dem, was heute für gewöhnlich unter „literarischer Übersetzung“ verstanden wird, deckt sie sich nicht ohne weiteres. Wichtigste Aufgabe der Übersetzung ist für Schleiermacher – anders als etwa bei Solger – die durchaus pragmatische Dienstleistung für sprachunkundige Leser. Der „eigentliche Zweck alles Uebersetzens“ ist demnach, denjenigen, denen das Original verschlossen ist, „möglichst unverfälschte[n] Genuß fremder Werke“ (90) zu verschaffen. Dabei bedient er sich einer Metaphorik von Bewegung im Raum. Der Autor des Originals und der nicht sprachkundige Leser werden als voneinander entfernte Personen vorgestellt. Der Übersetzer soll „diese beiden ganz getrennten Personen, seinen Schriftsteller und seinen Leser, wirklich einander zuführen“ (74). Dieser Metaphorik folgt Schleiermacher auch in seiner allbekannten Methodendefinition, nach der sich dem Übersetzer zwei Möglichkeiten bieten: Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. (74)
Natürlich greift Schleiermacher damit auf antithetische Übersetzungstypologien zurück, wie sie seit Ciceros Entgegensetzung vom Übersetzen ut interpres und ut orator und seit Hieronymus’ Unterscheidung zwischen Übersetzen verbum de verbo vom Übersetzen sensum de sensu 192 verbreitet waren. Besonders fällt die Nähe der Formulierung zu Goethes in der Gedenkrede auf Wieland vorgetragenen „Maximen“ auf. Es ist denkbar, dass Schleiermacher den Text Goethes aus dem (nicht autorisierten) Druck in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände tatsächlich kannte;193 für Schleiermachers theoretischen Entwurf besagt dies freilich wenig. Seine Erläuterung der beiden Methoden geht keine semiotischen Wege und beruft sich nicht auf Kategorien wie Form und Gehalt, Wort und Sinn, sondern folgt seinem hermeneutischen Ansatz. Betrachtet werden die Relationen zwischen Autor, Übersetzer, Leser und den beteiligten Sprachen: Die erste Uebersetzung wird vollkommen seyn in ihrer Art, wenn man sagen kann, hätte der Autor eben so gut deutsch gelernt, wie der Uebersetzer römisch, so würde er sein ursprünglich römisch abgefaßtes Werk nicht anders übersetzt haben, als der Uebersetzer wirklich gethan. Die andere aber, indem sie den Verfasser nicht zeigt, wie er selbst würde übersetzt, sondern wie er ursprünglich als Deutscher deutsch würde geschrieben haben, hat wohl
_____________
192 Zu Hieronymus s. o. S. 44. Cic., opt. gen., 5, 14: „[N]ec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis, in quibus non verbum de verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi. Non enim ea me adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere.“ („Ich habe aber nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner übersetzt, mit denselben Gedanken und mit ihren Formen, gewissermaßen in ihrer Gestaltung, aber mit Worten, die zu unserem Sprachgebrauch passen. Dabei habe ich es nicht für notwendig gehalten, Wort für Wort wiederzugeben, sondern ich habe die ganze Art der Worte und ihr Wesen gewahrt. Ich glaubte nämlich nicht, dass ich sie dem Leser vorzählen, sondern dass ich sie ihm gewissermaßen zuwiegen muss.“) 193 Zu Goethes Maximen s. o. S. 44 und unten S. 88 f. Wielands Totenfeier, auf der die Rede vorgetragen worden war, hatte wenige Monate zuvor am 18. Februar des Jahres stattgefunden. Nicht auszuschließen ist auch, dass ein Exemplar des für Freunde herausgebrachten Manuskriptdrucks von Goethes Rede in Schleiermachers Hände gelangte.
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schwerlich einen andern Maaßstab der Vollendung, als wenn man versichern könnte, wenn die deutschen Leser insgesammt sich in Kenner und Zeitgenossen des Verfassers verwandeln ließen, so würde ihnen das Werk selbst ganz dasselbe geworden seyn, was ihnen jetzt, da der Verfasser sich in einen Deutschen verwandelt hat, die Uebersetzung ist. (75)
Beide Methoden schließen einander nach Schleiermachers Auffassung aus; ein Zwischending kann es nicht geben. In der Tat folgen alle Befürworter des Mittelwegs194 stilistisch-rhetorischen (anstatt hermeneutischen) Grundsätzen. Schleiermacher erläutert zunächst die erste Methode, deren Ziel es ist, den „Eindruck“ (74) darzustellen, den der Leser des originalen Textes empfangen hat, eine Formulierung, die öfters bei wirkungsästhetischen Ansätzen der Übersetzungstheorie begegnet.195 An dieser Stelle ist „Eindruck“ aber ein Synonym für „Verstehen der Ursprache“, das die Übersetzung „gleichsam nachahmen will“ (76). Dass dabei nicht ein „schülerhaftes“, in Einzelheiten befangenes Verstehen gemeint ist, bedarf keiner Begründung. Aber auch der äußerste Gegensatz dazu, also ein ganz und gar müheloses Verstehen, ist für diese Art des Übersetzens ungeeignet. Nicht ohne Ironie legt Schleiermacher dar, dass für „solche wunderbare Männer“, die sich ohne Unterschied in beiden Sprachen bewegen können, der „Werth des Uebersetzens Null wird“ (77). Tatsächlich ist dies für Schleiermacher eine bloß fiktive Möglichkeit, denn selbst bei tadelloser Sprachbeherrschung verhalten sich die Sprachen zueinander inkommensurabel. Das Verstehen, das in der Übersetzung dargestellt werden soll, liegt zwischen diesen Extremen: [D]er Uebersetzer muß also sich zum Ziel stecken, seinem Leser ein solches Bild und einen solchen Genuß zu verschaffen, wie das Lesen des Werkes in der Ursprache dem so gebildeten Manne gewährt, den wir im besseren Sinne des Worts den Liebhaber und Kenner zu nennen pflegen, dem die fremde Sprache geläufig ist, aber doch immer fremde bleibt […]. (78)
Diese Stellung zwischen Schülerhaftigkeit und absoluter Meisterschaft knüpft Schleiermacher an den jeweils herrschenden Stand allgemeiner Bildung. So wie die Sprache („ein geschichtliches Ding“, 78) erst herangebildet werden muss, so müssen auch die Fähigkeiten der Übersetzer und die Bereitschaft des Publikums allmählich wachsen. Die „Bewegung des Lesers zum Autor“ erscheint hier als fortdauernde Bildung der Nation und der Sprache. Sie kann nur gelingen, wenn in der Übersetzung die Fremdheit des Autors sichtbar bleibt. Schleiermacher fordert dafür eine Sprache, „die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sey“ (81): Unschwer lässt sich seine eigene Platon-Übersetzung hinter dieser Beschreibung erkennen. _____________ 194 Vgl. dazu unten S. 88–94. 195 Beispielsweise bei Johann Gustav Droysen: „Wenn eine treue Uebersetzung den Zweck haben muß, möglichst vollständig den Eindruck des Originals wiederzugeben, so fragt es sich gleich, ob hiemit der Eindruck, den wir, oder in ihrer Zeit die Athenäer von dem Original empfingen, gemeint ist.“ Vorrede (1835), VIII.
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Eine Erläuterung der zweiten Methode, die den Autor zum Leser bewegen soll, erübrigt sich nun nahezu von selbst, denn für Schleiermacher gibt es letztlich nicht unterschiedliche Methoden, sondern, in der Formulierung Friedrich Schlegels, „überall nur eine eigentliche Uebersetzung“196. Zwar wird die zweite, den Autor zum Leser bewegende Art der Übersetzung, wie Schleiermacher einräumt, von vielen vorgezogen. Da aber die Sprache sich nicht vom Gedanken trennen lässt, „wie man leicht ein Gespann löset“ (85), ist auch die Frage müßig, wie ein Autor in anderer Sprache geschrieben hätte: Wer überzeugt ist, daß wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdruck ganz dasselbe sind, und auf dieser Ueberzeugung beruht doch die ganze Kunst alles Verstehens der Rede, und also auch alles Uebersetzens, kann der einen Menschen von seiner angebornen Sprache trennen wollen, und meinen, es könne ein Mensch, oder auch nur eine Gedankenreihe eines Menschen, eine und dieselbe werden in zwei Sprachen? […] kann er sich anmaaßen, die Rede bis in ihr Innerstes aufzulösen, den Antheil der Sprache daran auszuscheiden, und durch einen neuen, gleichsam chemischen Prozeß, sich das Innerste derselben verbinden zu lassen mit dem Wesen und der Kraft einer andern Sprache? (85)
Auch die Beispiele solcher Autoren, die selbst fremdsprachig geschrieben haben (etwa Latein anstatt einer Volkssprache), ändern für Schleiermacher nichts an diesem Sachverhalt. Sie verweisen allenfalls auf einen niedrigen Stand der jeweiligen Muttersprache und auf deren unzulängliche Ausbildung; das Latein Leibniz’ oder das Französisch Friedrichs des Großen waren deshalb letzlich nur Behelfssprachen: Denn so wahr das auch bleibt in mancher Hinsicht, daß erst durch das Verständniß mehrerer Sprachen der Mensch in gewissem Sinne gebildet wird, und ein Weltbürger: so müssen wir doch gestehen, so wie wir die Weltbürgerschaft nicht für die ächte halten, die in wichtigen Momenten die Vaterlandsliebe unterdrückt, so ist auch in Bezug auf die Sprachen eine solche allgemeine Liebe nicht die rechte und wahrhaft bildende, welche für den lebendigen und höheren Gebrauch irgend eine Sprache, gleichviel ob alte oder neue, der vaterländischen gleich stellen will. (87)
In dem Verweis auf „Weltbürgerschaft“, „Vaterlandsliebe“ und auf das Verhältnis zwischen beidem klingt bereits an, was Schleiermacher in der Konklusion seiner Rede ausführt: die Vision vom Übersetzen als einer europäischen Aufgabe der Deutschen. In den anderen Nationen, so Schleiermacher, galt in der Literaturgeschichte meistens die zweite, einbürgernde Methode als die bessere. Allein die Deutschen konnten eine Übersetzersprache hervorbringen, die das Fremde des Originals erkennen lässt. Ihre besondere Empfänglichkeit für alles Fremde – die oftmals als zweifelhafter Vorzug erschienen war197 – befähigte sie dazu und machte das Übersetzen zu ihrem „eigenthümliche[n] Beruf “ (92). Dies war der Bildung der eigenen Nation und Sprache förderlich. Die Aufgabe, die sich für Schleiermacher vor allem daraus ergibt, reicht jedoch weiter und führt zur Vision einer Vereinigung der Kulturen und Literaturen in deutscher Sprache: _____________ 196 Vgl. o. S. 40. 197 In diesem Sinn hatte sich z. B. Solger geäußert, s. o. S. 46.
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Und damit scheint zusammenzutreffen, daß wegen seiner Achtung für das Fremde und seiner vermittelnden Natur unser Volk bestimmt seyn mag, alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu Einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde, damit nun durch Hülfe unserer Sprache, was die verschiedensten Zeiten schönes gebracht haben, jeder so rein und vollkommen genießen könne, als es dem Fremdling nur möglich ist. Dies scheint in der That der wahre geschichtliche Zweck des Uebersetzens im Großen, wie es bei uns nun einheimisch ist. (92)
Verschiedentlich haben spätere Übersetzer sich auf diese Vision berufen. Otto Friedrich Gruppe etwa wollte im „Herzen Europas“ konservatorisch das „Museum einer allgemeinen Weltlitteratur“198 errichten; August Boeckh sprach lakonisch von Deutschland als „Europa’s Brennpunkt für Literatur wie für Raubkriege“199. Bei Schleiermacher aber sprach sich hier, in einer Zeit, die für die Deutschen wenig hoffnungsvoll war, eine eigentümliche Verbindung aus patriotischem Engagement, literarischer Utopie und hermeneutischer Methodenbildung aus. Er äußerte die Hoffnung auf eine zukünftige „sprachgerechtere Geselligkeit“ (93) und schloss mit dem Doppelverweis auf die gegenwärtige Situation und die Bedeutung seines Gegenstandes, der Übersetzung: „Und möchte nur jene Zeit kommen, ehe wir den ganzen Kreis der Uebersetzermühen würdig durchlaufen haben!“ (93) Insofern ist sein Entwurf eines Übersetzens, das das „Gefühl des Fremden“ behält, nicht zuletzt auch historisch zu verstehen.
_____________ 198 „Die Deutschen sind zufolge ihres Charakters, ihrer ganzen Weltstellung, ja schon der Lage ihres Landes ganz besonders berufen zum Werk des Uebersetzens, und sie haben darüber ihre Eigenheit nicht verloren. Ihnen ward vor allen die Aufgabe, die Vermittler zu sein zwischen den Zeitaltern, unter den Völkern; im Herzen Europas, und mit ihm der bewohnten Erde, ist es für sie ein natürlicher Beruf, alles rund umher an sich zu ziehen und hier in dem Museum einer allgemeinen Weltlitteratur niederzulegen.“ Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (1866), VI; vgl. unten S. 108. 199 „Wir haben die Fähigkeit uns Fremdes anzueignen, aber freilich auch die Sucht, wozu wir, ohne selbst Mangel an Originalität zu haben, deshalb verurtheilt sind, weil Deutschland Europa’s Brennpunkt für Literatur wie für Raubkriege ist.“ Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 160.
Wilhelm von Humboldt: Erweiterung der eigenen Sprache Wilhelm von Humboldt200 nimmt insofern im hier dargestellten Zusammenhang eine Sonderstellung ein, als er, trotz seiner Freundschaft zu August Wilhelm Schlegel als Student in Göttingen und ungeachtet mancher Überschneidungen in der Sache, von den frühromantischen Entwürfen zur Übersetzungstheorie fern blieb. Seine Prägung durch Kant, seine Nähe zu Goethe und vor allem zu Schiller zeigen, dass er Aufklärung und Klassik verpflichtet war. Einer der vielseitigsten und originellsten Denker seiner Zeit, kehrte er stets zum humanistischen Bildungsgedanken zurück. Auch seine Beschäftigung mit dem griechischen Altertum hatte im humanistischen Antikeideal ein wesentliches Motiv, was ihn von Solger und Schleiermacher grundlegend unterscheidet. Mit Humboldts Übersetzungen verhielt es sich wie mit seinen übrigen Arbeiten: Vieles blieb fragmentarisch, nur weniges erschien zu seinen Lebzeiten im Druck. Das Übersetzen (wie überhaupt das Schreiben) betrachtete er oft zunächst als Mittel des Studiums und der Selbstverständigung. Sein übersetzerisches Interesse galt dabei vor allem zwei Autoren, Pindar und Aischylos. Seit 1792 veröffentlichte er in Zeitschriften und Privatdrucken mehrere Oden Pindars.201 Die Übersetzung des Aischyleischen Agamemnon erschien 1816 in Leipzig; sie fand als Reclam-Heftchen (Universal-Bibliothek 508) in mehreren Auflagen zwischen 1874 und 1942 beträchtliche Verbreitung.202 Während aber Humboldts Schriften zur Sprache eine nachhaltige, bis in die Gegenwart reichende Wirkung entfalteten, war der Erfolg der Übersetzungen stets gemischt. Tycho Mommsen – Theodor Mommsens Bruder, ein Jugendfreund Theodor Storms – war einer der wenigen, die den „bewunderungswürdigen Agamemnon“203 vorbehaltlos lobten. Horst Rüdiger dagegen erklärte Humboldts Übersetzungen für „gescheitert“204, und Rudolf Bayr zeigte sich „beim Abwägen von Theorie und dichterischer _____________ 200 Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Privatgelehrter und Staatsmann, hatte in Göttingen u. a. bei August Ludwig Schlözer und Christian Gottlob Heyne studiert und lebte seit 1791 als Privatmann. In dieser Zeit schloss er Freundschaft mit Friedrich August Wolf und Friedrich Schiller. Nach längerem Aufenthalt in Paris ging Humboldt 1802 als preußischer Gesandter nach Rom, 1809/10 war er als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht maßgeblich an der Gründung der Berliner Universität beteiligt, anschließend wirkte er als Diplomat im preußischen Dienst. Seit 1820 lebte er im Schloss Tegel bei Berlin. Zu Humboldts Leben und Denken vgl. u. a. die Überblicksdarstellung von Borsche (1990), zu Humboldt als Übersetzer siehe Rüdiger (1937), Garbe (1958), Apel (1982), Berman (1984), Poltermann (1991), Hummel (1995), Frey (1997). Humboldts Agamemnon-Vorrede ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 95–113. 201 Pindars zweite Olympische Ode, Berlin 1792 („Ein Abdruck für Freunde“); Pindars vierte pythische Ode, in: Neue deutsche Monatsschrift (1795), Bd. 3, 173–208; Neunte pythische Ode, in: Die Horen (1797), 2, 61–74. 202 Vgl. unten S. 122. Außerdem erschien 1927 in der Berliner Reihe „Weltgeist-Bücher“ ein Abdruck, der auch das Vorwort enthielt. 203 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857), 16. Zu Mommsen s. u. S. 162–166. 204 Rüdiger, Zur Problematik des Übersetzens (1938), 187. Zu Rüdiger s. u. S. 269–271.
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Leistung [scil. der Übersetzung selbst] zuweilen unschlüssig, wer wen verdorben hat“205. Ähnliche Urteile ließen sich anfügen. Dabei war gerade die Aischylos-Übersetzung als Teil eines großen Übersetzungsprojektes, im Sinne des „Verpflanzens ganzer Litteraturen“206, gedacht – diese utopische Vorstellung hatte Humboldt mit Schleiermacher gemein. In einem Brief an Friedrich August Wolf sprach er bereits im Herbst 1792 über seine Aischylos-Lektüre und erwähnte in diesem Zusammenhang die „Idee, einen deutschen Brumoy zu liefern“, also eine Sammlung deutscher Übersetzungen griechischer Dramatiker nach dem Vorbild von Pierre Brumoys einflussreichem französischem Werk Le théâtre des Grecs (zuerst 1730): „Es wäre in der That vortreflich.“207 Die erste Fassung des Agamemnon, bei der Humboldt sich noch am Blankvers der Goethe’schen Iphigenie orientierte, entstand 1796/97 in Jena. Ein Brief an Schiller aus dieser Zeit, in dem Humboldt sich über die Homer-Übersetzung Voss’ und August Wilhelm Schlegels Kritik daran äußerte, zeigt aber, dass er sich schon damals gegenüber dem metrischen Prinzip von Voss keineswegs völlig verschloss.208 1802 übernahm er die „sonnige, aber unbedeutende Provinzstelle“209 des preußischen Gesandten am Päpstlichen Stuhl in Rom. Hier arbeitete er in den folgenden Jahren die Blankverse zu einer metrisch getreuen Übersetzung völlig um. Schon 1793 hatte ihn die Beschäftigung mit Pindar zum Studium griechischer Prosodie veranlasst; er erwog damals sogar eine Veröffentlichung der Resultate seiner PindarAnalysen,210 bei denen Wolf sein Gesprächspartner und Ratgeber war. Später lernte er die Arbeiten von Wolfs Widerpart Gottfried Hermann zu Pindar und zur griechischen Metrik kennen211 und trat 1808 (hinter Wolfs Rücken) mit Hermann selbst in Korrespondenz. Hermann war damals mit der Vorbereitung einer Aischylos-Edition beschäftigt,212 und so entstand sogar der Plan einer gemeinsam besorgten, zweisprachigen Ausgabe. Auch diese Bündelung von textphilologischer und übersetzerischer Arbeit ist als ein Beitrag zum Übersetzen „im Großen“213 zu verstehen. Zwar scheiterte dieses Vorhaben an Bedenken des Verlegers. Eine weitere Überarbeitung erfolgte 1811/12, _____________ 205 206 207 208
209 210 211
212 213
Bayr, Fragen künstlerischen Übersetzens (1947), 74. Zu Bayr s. u. S. 251–254. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 83. Humboldt an F. A. Wolf, September 1792, in: Humboldt, Briefe an Friedrich August Wolf (1990), 22. „Ob Homer dieser Kunst, als einer solchen sich bewußt war, ist freilich etwas anderes, und kann schwerlich angenommen werden, aber daß seine Produkte auch im Versbau […] eine solche Kunst verrathen, scheint mir offenbar. Auch kann ich nicht finden, daß Voß hierin die Foderungen übertreibt, obgleich die Frage ganz eine andre ist, ob er der Erfüllung derselben nicht manchmal etwas Wichtigeres aufopfert.“ Brief an Schiller, 1.10.1796, in: Schiller, Briefwechsel (1972), 335. Zu Schlegels Voss-Kritik vgl. oben S. 41–43. Borsche (1990), 26. Vgl. Hummel (1995), 262. Vor allem Hermanns Schrift De metris poetarum Graecorum et Romanorum (1796) und den Kommentar in der Pindarausgabe Carminum Pindaricorum fragmenta et Godofredi Hermanni commentatio de metris Pindari (1798). Die Ausgabe erschien allerdings erst 1852, nach Hermanns Tod. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 92.
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nun im Austausch mit Hermann, der textkritische Nachbemerkungen beifügte und 1816 die Drucklegung in Leipzig überwachte.214 So glücklich die Zeit der „sonnigen Provinzstelle“ in Italien für Humboldt insgesamt war, so mühselig gestaltete sich doch manchmal das Übersetzen. Die strengen Regeln insbesondere in der Versgestaltung, die Humboldt sich gesetzt hatte, bewirkten, dass ihm immer wieder Zweifel an der gesamten Arbeit kamen. 1805 schrieb er an Johann Gottfried Schweighäuser: Wäre die Arbeit nicht einmal begonnen gewesen, so würde ich sie nie unternommen haben. Es ist nichts so mühselig, als einem fremden Produkt so Schritt für Schritt folgen zu müssen, und dabei sich nie des Gedankens erwehren zu können, dass man eine Uebersetzung macht, also eine Arbeit, der kein Flecken verziehen werden sollte, die den Mangel der Sorgfalt und des feilenden Fleisses auf keine Weise durch wesentlichere Vorzüge gut machen kann.215
Der unendlich hohe Anspruch, den Humboldt an Übersetzungen – wenigstens an diese Übersetzung – stellte, wird hier deutlich. Als die Übersetzung 1816 erschien, wurde sie durch eine Vorrede eingeleitet, die als bedeutender Beitrag zur Übersetzungstheorie und als ein frühes Zeugnis von Humboldts Sprachphilosophie (die er erst in den 1820er Jahren weiter ausformen sollte) vielleicht bekannter ist als die Übersetzung selbst. In dieser Vorrede forderte Humboldt vom Übersetzer als erste und wichtigste Regel „einfache Treue“216. Ganz pragmatisch verstand man damals unter treuen Übersetzungen das Gegenteil der belles infidèles: also solche Übersetzungen, in denen nicht die Regularität und Unauffälligkeit innerhalb der Zielsprache, sondern die Bewahrung der im Original vorliegenden Sprachform leitendes Prinzip ist. Vor diesem Hintergrund bereitet die Formulierung Humboldts keine Schwierigkeiten. Dennoch irritiert sie, zum einen wegen ihrer Vagheit, zum anderen aber, weil sie ein einfaches Abbildverhältnis zwischen dem Original und der Übersetzung impliziert, das mit Humboldts Sprachbegriff eigentlich unvereinbar ist.217 Betrachtet man die Stellung dieser Forderung innerhalb der Argumentation der Vorrede, dann erscheint sie als Fazit und zugleich als Versuch, den gordischen Knoten zu zerschlagen. In einem ersten Teil bespricht Humboldt Aischylos’ Agamemnon als ein vollkommenes Kunstwerk.218 Der zweite Teil skizziert die Grundlagen seines Sprachbegriffs,219 seine Überzeugung, dass zwischen den Sprachen und Sprachformen keine wirkliche Deckungsgleichheit möglich ist. Aus dem ersten Teil ergibt sich für Hum_____________ 214 Zeitgleich mit Humboldts Übersetzung und im selben Verlag erschien Hermanns Schrift Elementa doctrinae metricae. 215 Brief an Schweighäuser, 5.10.1805, in: Humboldt, Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser (1934), 31. 216 Humboldt, Vorrede (1816), XIX. Im Folgenden werden Stellen aus Humboldts Vorrede jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. 217 Darauf weist auch Apel (1982), 146, hin: „Es leuchtet allerdings nicht ganz ein, warum Humboldt an dem Begriff der Treue überhaupt festhält, denn Treue dürfte es ja nach seiner Ansicht über die Verschiedenheit der Sprachen im strengen Sinn gar nicht geben.“ 218 Zu Humboldts Auffassung des klassischen Altertums vgl. u. a. Glazinski (1992) und Saure (2008). 219 Zu Humboldts Sprachbegriff vgl. u. a. Pleines (1967), Borsche (1981), Stubbs (2002).
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boldt die Notwendigkeit, aus dem zweiten die Unmöglichkeit des Übersetzens. Mit „einfacher Treue“ versucht er schließlich, diesen Widerspruch zu lösen, wie im Folgenden zu zeigen ist. Unter allen Werken der Griechischen Bühne kommt keines dem Agamemnon an tragischer Erhabenheit gleich. (III)
Mit diesem Satz eröffnet Humboldt die Vorrede zur Übersetzung; eine eingehende Würdigung des Agamemnon schließt sich an. Beide Autoren, denen Humboldts übersetzerisches Bemühen galt, gehörten dem Übergang von der archaischen zur klassischen Zeit an, und es ist kein Zufall, dass Humboldt nicht den „klassischen“ Sophokles (wie Solger) oder den „modernen“ Euripides (wie Schiller) gewählt hatte, sondern Aischylos, und hier wiederum den Agamemnon. In seiner Schrift Ueber das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondre (1793) hatte Humboldt dargelegt, dass die Besonderheit des griechischen Charakters in der Unverfälschtheit und Ursprünglichkeit der Griechen liege, die von Beginn an mit ausgeprägter Empfänglichkeit für Schönheit und Bildung verbunden gewesen sei. Der Charakter der Griechen sei demnach als ursprüngliches Modell des Charakters der Menschheit, als „Grundlage des menschlichen Charakters“ überhaupt zu betrachten, weshalb sein Studium „in jeder Lage und jedem Zeitalter allgemein heilsam auf die menschliche Bildung wirken“220 müsse. Darin spricht sich bereits eine gleichsam historische Begründung der Idealität der Griechen aus, die Humboldt während der Zeit in Italien in der Skizze Ueber den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben (1807) wieder aufgriff. Das historisch einmalige Zusammenfallen von Ursprünglichkeit und verfeinerter Bildung, wie es bei den Griechen zu finden ist, so notierte Humboldt hier, macht „Gleichgewicht und Ebenmass“221 zur vorherrschenden Eigenschaft. Deshalb liegen im griechischen Nationalcharakter Mannigfaltigkeit und Gesetzlichkeit, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Sinnliches und Geistiges in einem gleichmäßigen Verhältnis beisammen. Dies begründete für Humboldt, warum die Griechen „nicht bloss ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal“222 und Muster aller menschlichen Bildung waren. Humboldts in der Übersetzungsvorrede formulierte Interpretation des Agamemnon als einer ursprünglichen und in der Ursprünglichkeit vollendeten Sprachform, als eines Kunstwerks, in dem der überlieferte Stoff sich in der Sprache der Dichtung „von selbst“ gestaltet, fügt sich hier ein: Die früheste geschichtliche Ueberlieferung gestaltete sich in dem glücklichen Griechischen Geiste von selbst zum Stoffe der Kunst, ein Vorzug, der wohl hauptsächlich der in ihrem ersten Ursprung dichterischen Sprache zuzuschreiben ist, da die Form immer die Materie besiegt, die nur, wo jene mangelhaft ist, sich in ihrer rohen Unbeholfenheit hervordrängt; die Ereignisse in Argos, in Theben, in Ilion scheinen sich an einander zu reihen, wie der gelungenste Flug der Einbildungskraft sie auf der Bühne zu ordnen vermöchte. Das Ge-
_____________ 220 Humboldt, Ueber das Studium des Alterthums (1793), 275. 221 Humboldt, Ueber den Charakter der Griechen (1807), 610. 222 Humboldt, Ueber den Charakter der Griechen (1807), 609.
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Erhabenheit, kraftvolle Einfachheit, Schönheit, aber auch Dunkelheit, Erschütterung und Schrecken sind Schlüsselbegriffe dieser Interpretation. Die Tragödie ist für Humboldt „das reine Symbol des menschlichen Schicksals, des gerechten Waltens der Gottheit, des ewig vergeltenden Verhängnisses“ (III). Das Archaische wird damit zu einem wesentlichen Teil des Idealen. Dass Goethe sich davon, bei aller Wertschätzung der Aischyleischen Tragödie und Achtung vor Humboldts Arbeit, auch befremdet zeigte, ist bekannt. Als Humboldt ihm die Übersetzung zusandte, bekannte er: Denn wenn man sich auch mit allem Löblichen und Guten was uns die älteste und neuste Zeit reicht freundlich theilnehmend beschäftigt; so tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie Ungeheuer, überraschend vor uns auf, und wir müssen alle unsere Sinne zusammennehmen um ihr einigermaßen würdig entgegenzustehen.223
Schon früher hatte Humboldt das Übersetzen als nahezu unausführbare Aufgabe bezeichnet. An August Wilhelm Schlegel schrieb er 1796: Alles Übersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe. Denn jeder Übersetzer muß an einer der beiden Klippen scheitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der Sprache seiner Nation zu genau an sein Original, oder auf Kosten seines Originals zu sehr an die Eigentümlichkeit seiner Nation zu halten. Das Mittel hierzwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich.224
Angesichts der Erhabenheit und Schönheit des Agamemnon kommt er nun erst recht zum Eingeständnis der Unübersetzbarkeit: Ein solches Gedicht ist, seiner eigenthümlichen Natur nach, und in einem noch viel anderen Sinne, als es sich überhaupt von allen Werken großer Originalität sagen läßt, unübersetzbar. (XV)
Um dies zu erläutern, führt er seine Ansicht über die Inkommensurabilität von Worten und Sprachen aus. Worte konnten für Humboldt einerseits mitunter den Charakter von Zeichen haben, nämlich dann, wenn sie auf einen konkreten Sachverhalt verweisen. Auf der anderen Seite waren sie für Humboldt Symbole von unausschöpfbarer Bedeutung, die sich immer neu aus der Situation des Sprechens und aus der Fähigkeit der Sprecher, einander zu verstehen, ergeben musste: Sprache beruhte auf Tätigkeit _____________ 223 Goethe an Humboldt, 1.9.1816, in: Briefe, WA IV, 27 (1903), 156. Goethe sagt in diesem Brief auch, dass für ihn Agamemnon immer „eines der betrachtungswürdigsten“ Stücke gewesen sei; das Überraschende, von dem Goethe spricht, scheint also in der Besonderheit der Humboldt’schen Übersetzung gelegen zu haben, zu der Goethe sich im gleichen Brief recht unbestimmt äußert: „Das rhythmische Verdienst kann ich nicht beurtheilen; aber ich glaube es zu fühlen. Unser tüchtiger, talent- und geistvoller, aber im Widerspruch verwildernder Wolf, der einige Tage bey mir war, sprach das Beste von Ihrer sorgfältigen Arbeit.“ Ebd. 158. Agamemnon lag zu dieser Zeit bereits in mehreren Übersetzungen vor, u. a. von Daniel Jenisch, einem Berliner Spätaufklärer und namhaftem Kant-Exegeten, aus dem Jahr 1786, und von Carl Philipp Conz, dem Tübinger Professor, der als Jugendfreund Schillers und Lehrer Hölderlins, Schellings und Hegels bekannt ist, aus dem Jahr 1815. Zur Bedeutung des Agamemnon für Goethes und auch für Schillers Werk vgl. Poltermann (1991), 164 f. 224 Humboldt an August Wilhelm Schlegel, 23.7.1796, zit. nach Koller (2004), 159 f.
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und Bewegung, sie war, in Humboldts berühmter Terminologie, energeia, nicht ergon. Zwischen Wahrnehmung und Sprache erkannte er ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, so dass der Sprache die Bedeutung einer welterschließenden Kraft zukam. Die Sicht des Einzelnen auf die Welt ist daher wesentlich sprachlich bestimmt, ebenso die der Sprachgemeinschaft. Jedes Sprechen enthält Weltsichten und schafft sie zugleich. Damit wurde Sprache für Humboldt auch zum wichtigsten Gegenstand der Bildung, für den einzelnen Sprecher ebenso wie für eine ganze Nation. Das ausgedehnte empirische Studium, das Humboldt seit seiner ersten Reise in das spanische Baskenland (1799) betrieb, und die immense Sammlung von Material über Sprachen der verschiedenen Kontinente, die er in den folgenden zwei Jahrzehnten zusammentrug, dienten im Kern immer demselben Ziel: dem Studium von Nationalcharakteren. 1804 schrieb er an Friedrich August Wolf: Im Grunde ist alles was ich treibe, auch der Pindar, Sprachstudium. Ich glaube die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, um das Höchste und Tiefste, und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren.225
Auch wenn die für Humboldts Sprachdenken bedeutendsten Schriften226 erst nach dem Abschied aus dem Staatsdienst in seinem letzten Lebensjahrzehnt – lange nach der Aischylos-Übersetzung – entstanden sind, so sind doch in der Übersetzervorrede die Grundzüge bereits erkennbar. Worte, schreibt Humboldt hier, sind weder bloße „Zeichen eines Begriffs“ (XV), noch „die Dinge selbst“ (XVII). Vielmehr sind sie in erster Linie Lautformen, in denen Humboldt ein „individuelles Wesen“, ja ein „Vermögen sich fortzupflanzen“ (XVI) erkennt. Die Materialität der sprachlichen Äußerung, ihre konkrete – auch lautliche – Form ist daher eine wesentliche und nicht von der Bedeutung ablösbare Eigenschaft. Zwischen den Sprachformen auf der einen und den Dingen bzw. Begriffen auf der anderen Seite besteht ein Zusammenhang, den Humboldt „wirklich“ (im Sinne von wirkend) und „mystisch“ nennt (XVII) und der sich mühelos und gleichsam natürlich ergibt: [D]as unbestimmte Wirken der Denkkraft zieht sich in ein Wort zusammen, wie leichte Gewölke am heitren Himmel entstehen. (XV f.)
Zwischen dem einzelnen Sprecher und der Sprache besteht dabei ein Wechselverhältnis, das Schleiermachers „zwiefachem Verhältniß“ des Redenden zur Sprache vergleich_____________ 225 Humboldt an Friedrich August Wolf, 16.6.1804, in: Humboldt, Briefe an Friedrich August Wolf (1990), 250. 226 Insbesondere die Akademiereden Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820) und Über den Dualis (1827), die Abhandlung Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827/9) und das große Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts (3 Bde., 1836–39). Das umfangreiche Nachlassmaterial, das die konkreten sprachwissenschaftlichen Studien Humboldts dokumentiert, wird derzeit an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in einer Edition der Schriften zur Sprachwissenschaft (Paderborn, 1994 ff.) erstmals aufgearbeitet. Zu Humboldts großem, Fragment gebliebenem Sprachprojekt vgl. auch Jecht (2003).
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bar ist.227 Bedingung ist dabei immer die Interaktion zwischen den Einzelnen oder, in Humboldts Worten, die „Gewißheit verstanden zu werden“ (XVI). Als Konsequenz ergibt sich, wie gesagt, für Humboldt zunächst, dass Übersetzen unmöglich ist. Überhaupt lautete seit der hermeneutischen Wende um 1800 die letzte, entscheidende Frage der Übersetzungstheorie nicht, wie übersetzt werden soll, sondern ob übersetzt werden kann, ob Übersetzen möglich ist. Dass Übersetzen dennoch „eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur“ (XVII) ist, begründet Humboldt nun einerseits mit dem pragmatischen Erfordernis, Sprachunkundigen die Kenntnis fremder Literaturen zu ermöglichen. Andererseits aber begreift er Übersetzungen als ein wichtiges Mittel „zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache“ (XVII). Wenn eine Sprache nur existiert, indem sie fortwährend im Gebrauch gebildet wird, dann kann, so Humboldt, auch der Sinn der Sprachformen – der „Symbole“ – immer neu und besser entstehen: Diesen Symbolen kann ein höherer, tieferer, zarterer Sinn untergelegt werden, was nur dadurch geschieht, daß man sie in solchem denkt, ausspricht, empfängt und wiedergiebt, und so wird die Sprache, ohne eigentlich merkbare Veränderung, zu einem höheren Sinne gesteigert, zu einem mannigfaltiger sich darstellenden ausgedehnt. (XVII)
Mithin können Übersetzungen einer Nation aneignen, was diese „nicht, oder was sie doch anders besitzt“ (XIX) – vorausgesetzt, der Übersetzer bemüht sich um jene „einfache Treue“, von der oben die Rede war. Humboldts Begriff von übersetzerischer „Treue“ behält also in der Tat eine gewisse Widersprüchlichkeit. Er changiert zwischen der nicht völlig aufgegebenen Vorstellung von der Abbildlichkeit der Übersetzung einerseits und dem Bildungsgedanken, d. h. dem Ziel, die Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache zu erweitern, auf der anderen Seite. Deshalb muss die Treue sich auf den „wahren Charakter des Originals“ (XIX) richten und es vermeiden, der Übersetzung „fremden Schmuck zu leihen“ (XX), deshalb darf die Übersetzung nicht klar und „augenblicklich faßlich“ (XXI) sein, wo das Original dunkel und schwer zugänglich ist: Übersetzung „kann und soll kein Commentar seyn“ (XX). Die eigentliche Voraussetzung ist aber die, dass „jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchsloser Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muß“ (XIX). Man erkennt darin das hermeneutische Subjekt, das, wie bei Schleiermacher, als ein „Liebhaber und Kenner“228 zu denken ist, der die Sachkenntnis des Gelehrten mit unmittelbarer Neigung verbindet. Angesichts dieser Bemühung um eine Bestimmung dessen, was übersetzerische Treue bedeutet, ist es vielleicht bezeichnend, dass Humboldt die Forderung nach „fremd“ bleibender Übersetzung mit einem konzessiven „freilich“ formuliert: Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, daß die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt […]. (XIX)
_____________ 227 S. o. S. 58. 228 S. o. S. 61. Hummel (1995), 249, spricht in diesem Zusammenhang davon, dass in dieser Zeit „la curiosité dilettante des non-philologues ne doit pas être dissociée du développement de l’Alterumswissenschaft“.
Wilhelm von Humboldt
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Allerdings sah er dabei eine „Gränze“, eine „Scheidelinie“, die nicht überschritten werden durfte: Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, daß er seinem Original nicht gewachsen ist. Das Gefühl des uneingenommenen Lesers verfehlt hier nicht leicht die wahre Scheidelinie. (XIX)
Dass zur übersetzerischen Treue auch die Nachbildung der originalen Versform gehört, versteht sich in Anbetracht der enormen Hochschätzung, die Humboldt der äußeren, sinnlichen Wortform, der Materialität von Sprache, dem Klang entgegenbrachte, nahezu von selbst: Man hat bei Beurtheilung der Sprachen und Nationen viel zu wenig auf die gewissermassen todten Elemente, auf den äusseren Vortrag geachtet; man denkt immer Alles im Geistigen zu finden. Es ist hier nicht der Ort dies auszuführen; aber mir hat es immer geschienen, dass vorzüglich der Umstand, wie sich in der Sprache Buchstaben zu Silben, und Silben zu Worten verbinden, und wie diese Worte sich wieder in der Rede nach Weile und Ton zu einander verhalten, das intellektuelle, ja sogar nicht wenig das moralische und politische Schicksal der Nationen bestimmt oder bezeichnet. (XXIII)
Noch in dem Aufsatz Latium und Hellas (entstanden 1806/07 in Italien) hatte Humboldt allerdings die Differenz und Unvereinbarkeit des griechischen und des deutschen Versbaus betont.229 In der Agamemnon-Vorrede setzt er dagegen die Möglichkeiten der deutschen Sprache deutlich höher an: Die Deutsche Sprache scheint unter den neueren allein den Vorzug zu besitzen, diesen Rhythmus nachbilden zu können, und wer Gefühl für ihre Würde mit Sinn für Rhythmus verbindet, wird streben, ihr diesen Vorzug immer mehr zuzueignen […] eine Sprache muß, gleich einem Instrument, vollkommen ausgespielt werden […]. (XXIII f.)
Die Nachahmung griechischer Silbenmaße wird damit zum eigentlichen Feld Humboldt’scher Übersetzungsarbeit. Ein Zuviel kann es hier für ihn nicht geben: „[I]ch glaube, daß hierin kein Uebersetzer zu weit gehen kann“ (XXII); seit den Arbeiten von Klopstock und vor allem von Voss hatte sich die Bildsamkeit der deutschen Sprache und vor allem die „mächtig[e] und wohlthätig[e] Einwirkung auf die Nationalbildung“ (XVIII) für Humboldt erwiesen. Mit Voss sieht er nun in der deutschen Sprache die Möglichkeit gegeben, die Silbenlänge auch unabhängig von der Betonung wahrzunehmen und Verse auf dem Prinzip der Silbenlänge aufzubauen. Deshalb muss der Übersetzer „Selbstverläugnung und Strenge“ (XXIV) gegen sich üben und gegebenenfalls Gefälligkeit und Natürlichkeit zugunsten „einer höheren Schönheit des Rhythmus“ (XXIV) opfern. Humboldts Treue-Postulat bezeichnet zweifellos die wichtigste Grundanforderung an Übersetzungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Es steht für das Prinzip des „sprachmimetischen“, die Sprach- und Versformen nachahmenden Übersetzens. „Treue“ blieb im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ein zentraler, aber auch ein _____________ 229 „Jene [scil. die griechischen Verse] sind wirkliche Musik, diese [die deutschen Verse] oft nur eine Künstlichkeit […].“ Humboldt, Latium und Hellas (1806/07), 149.
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interpretierbarer und sehr verschieden umgesetzter Begriff, der oft, als Treue gegen den „wahren Charakter“, gerade gegen Humboldts Intention auf die Sprachform verwendet wurde.230 Tatsächlich hat Humboldt die inneren Widersprüche zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit des Übersetzens, treuer Abbildlichkeit gegenüber der Ausgangssprache und Bildsamkeit der Zielsprache nie ganz zu lösen vermocht. So bleibt sein übersetzerisches Programm im Kern das Programm humanistischer Bildung der Nation: In der Übersetzung eignet sich die deutsche Literatur griechische Formen und griechischen Geist an. So wie Humboldt 1807 das „Gefühl für das Alterthum“ als „Prüfstein der modernen Nationen“231 bezeichnet hatte, sind Übersetzungen, weil sich darin die deutsche Sprache an der griechischen misst, ein Prüfstein für den jeweiligen Stand der Sprachbildung: Denn Uebersetzungen sind doch mehr Arbeiten, welche den Zustand der Sprache in einem gegebenen Zeitpunkt, wie an einem bleibenden Maßstab, prüfen, bestimmen, und auf ihn einwirken sollen, und die immer von neuem wiederholt werden müssen, als dauernde Werke. Auch lernt der Theil der Nation, der die Alten nicht selbst lesen kann, sie besser durch mehrere Uebersetzungen, als durch eine, kennen. Es sind ebensoviel Bilder desselben Geistes; denn jeder giebt den wieder, den er auffaßte, und darzustellen vermochte; der wahre ruht allein in der Urschrift. (XXIV)
_____________ 230 Vgl. dazu beispielsweise unten S. 84 f. u. 88. 231 Humboldt, Ueber den Charakter der Griechen (1807), 610.
Ende der Übersetzungstheorie? Übersetzen nach dem Ende der Goethezeit Seit Stefan George und sein Kreis in Auseinandersetzung mit Ulrich von WilamowitzMoellendorff ihre Abneigung gegen die Übersetzungen der bildungsbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorbrachten,232 gilt es als ausgemacht, dass auch die Diskussion des Übersetzungsproblems nach Schleiermacher und Humboldt lange durch Bedeutungslosigkeit, ja durch Trivialität gekennzeichnet war und wieder hinter die sprachphilosophischen Erkenntnisse der Epochenschwelle um 1800 zurückfiel. So schreibt Friedmar Apel: Als hätte es Herder, Goethe, Schlegel, Schleiermacher und Humboldt nie gegeben, kehrt Wilamowitz im Kontext der Übersetzung zu einer Sprachauffassung zurück, die vorphilologischen Zeiten anzugehören schien […].233
In Wilamowitz’ Übersetzungen selbst sah Apel (mit Borchardt) nur „Stillosigkeit, Bürgerlichkeit und Banalität“234. Dabei überspringt Apel in seiner Darstellung die Jahrzehnte zwischen Humboldts Agamemnon-Vorrede (1816) und Wilamowitz’ Aufsatz Was ist übersetzen? (1891) – mit Ausnahme einer knappen Besprechung von August Boeckhs Encyklopädie-Vorlesung (postum 1877 gedruckt) – ohne Kommentar. Überhaupt hat die Übersetzungsforschung der Zeit, die zwischen Herder, Goethe, Schlegel, Schleiermacher und Humboldt einerseits und Wilamowitz auf der anderen Seite liegt, bislang sehr wenig Beachtung geschenkt.235 Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Geringschätzung der Übersetzungsdiskussion nach dem Ende der Goethezeit nicht unberechtigt ist, wenn man den umfassenden theoretischen Anspruch und die Radikalität Humboldts oder Schleiermachers _____________ 232 233 234 235
S. u. S. 209–220. Apel/Kopetzki (2003), 93 f. Apel/Kopetzki (2003), 94. Zu nennen ist im Wesentlichen die schmale Arbeit von Giroday (1978) über die Übersetzungen des Münchner Dichterkreises. Eine Darstellung der Shakespeare-Übersetzungen aus dem betreffenden Zeitraum gibt Horstmann (1995). – Wenn Apel eine „Störigsche Lücke“ (nämlich das Fehlen von Dokumenten für die Zeit zwischen Luthers Sendbrief vom Dolmetschen und Novalis’ BlüthenstaubFragment in der übersetzungstheoretischen Anthologie von Störig, vgl. Apel [1982], 37) konstatiert, so könnte man analog von einer „Apelschen Lücke“ für die Zeit zwischen Humboldt und Wilamowitz sprechen. Störigs Sammelband enthält für diese Zeit drei Zeugnisse, die indessen alle an der Peripherie der Übersetzungsdiskussion anzusiedeln sind: Jakob Grimms Akademierede Über das pedantische in der deutschen sprache (1847), Auszüge aus Arthur Schopenhauers Parerga und Paralipomena (1851) und schließlich mehrere Nietzsche-Passagen (aus Die fröhliche Wissenschaft [1882] und Jenseits von Gut und Böse [1886]).
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zum Maß nimmt. Andererseits wird sich aber auch erweisen, dass die Debatte zu keiner Zeit völlig abriss, sondern vielmehr unter veränderten Bedingungen eine vielstimmige, vielgestaltige Fortsetzung fand. Da die Übersetzungstheorie zuvor aus der Koinzidenz von Klassik und Romantik in Deutschland erwachsen war und durch diese Konstellation im europäischen Vergleich auch ihre Einzigartigkeit und Wirksamkeit entfaltet hatte, machte sich das Ende des „Kunstzeitalters“ im Übersetzungsdiskurs besonders stark bemerkbar. Das Bewusstsein eigener Epigonalität manifestierte sich als spannungsvolles und oft widerspruchsreiches Verhältnis von Traditionsbindung und Versuchen der Emanzipation und Neuerung. Dies gilt sowohl für Übersetzer, die der klassizistisch-romantischen Tradition verpflichtet blieben, als auch für diejenigen, die die Prinzipien sprachmimetischer und metrischer Übersetzung durch andere zu ersetzen suchten. Der Aristophanes-Übersetzer Ludwig Seeger236 zählte beispielsweise zu den entschiedenen Gegnern der Voss’schen Übersetzungsart und verwarf dennoch den Kanon deutscher AntikeÜbersetzungen nicht völlig: Aber dürfen wir es wagen, die großen, gefeierten Namen eines Voß, Wolf, Solger, Thiersch, Droysen u. s. w. zu verunglimpfen? haben sie nicht durch ihre allbekannten Uebertragungen sich ein unsterbliches Verdienst um das Verständniß der Alten erworben? – Sicher! Wer könnte das läugnen?237
Ähnliche Aussagen, die die große Tradition teils affirmativ, teils ironisch zitieren, lassen sich in den folgenden Jahrzehnten bis hin zu Wilamowitz immer wieder beobachten. Sie verweisen auf das verbreitete Bewusstsein, zu den Spätgeborenen zu zählen. Dass schließlich Wilamowitz selbst, der doch in seinem Bekenntnis zu „Sprache und Stil unserer großen Dichter“238 die Gültigkeit des deutschen klassischen Kanons beschwor und sich ausdrücklich auf Hermann und Dorothea berief, Voss, dem Schöpfer der _____________ 236 Zu Seeger s. u. S. 80–86. 237 Seeger, Epistel an einen Freund (1845), 6. Zu Voss s. o. S. 21 f., zu Solger S. 46–52, zu Thiersch S. 30. Der Philologe Friedrich August Wolf (1759–1824) veröffentlichte zwei Aristophanes-Übersetzungen (Wolken 1811 und Acharner 1812). Der Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) übersetzte als junger Mann Aischylos (2 Bde., 1832) und Aristophanes (3 Bde., 1835/38). 238 Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 13. – Die Forderung, eine „klassische“ deutsche Sprache für Übersetzungen antiker Autoren anzuwenden, taucht bereits 1830 in einem Artikel von Wilhelm von Bäumlein (1797–1865, seit 1827 Professor an der Lateinschule in Biberach) auf, freilich ohne namentliche oder literaturgeschichtliche Konkretisierung: „Der Begriff der Klassicität aber, soweit er sich nur auf die Form bezieht, bestimmt sich nothwendig nach dem meisterhaften Gebrauche derjenigen Sprache, in welche übersetzt wird, u. es ist mithin eine wesentliche, nicht zu erlassende Forderung an den Übersetzer klassischer Werke, daß auch seine Sprache klassisch u. meisterhaft sey. – Sind nun diese Grundsätze richtig, was muß man von so manchen Deutschen Übersetzungen klassischer Werke halten, die alle Vorzüge haben mögen, nur den Einen unentbehrlichen einer klassischen Deutschen Sprache nicht! die wol mit einer pharisäischen Pünktlichkeit Sylbe für Sylbe uns vorzählen, aber das viel Größere, die Nachbildung des dem Originale zukommenden Grades einer klassischvollendeten Sprache versäumen u. so ganz unfähig sind, den großen Eindruck hervorzubringen, den die klassische Darstellung des Originals hervorruft!“ Bäumlein, Beitrag zur Theorie der Übersetzungskunst (1830), 261.
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klassizistischen Übersetzersprache, „Trivialität und Bombast“239 vorwarf, ist nicht ohne Ironie und zeigt, dass die Ansichten darüber, was „klassisch“ sei, einer eigenen Dynamik unterworfen waren. Das Empfinden von Abhängigkeit und Unterlegenheit gegenüber den Vorgängern, spätestens seit Karl Immermanns Epigonen-Roman (Düsseldorf 1836) Bestandteil der Selbstwahrnehmung der Zeit, gilt also mit allen Konsequenzen und Implikationen auch für die Übersetzer antiker Autoren. Daraus ist indessen noch keine pauschale Herabsetzung ihrer Leistungen abzuleiten, zumal die entsprechenden Entwicklungen, wie Sengle schrieb, schon früher begonnen hatten: Der Stilpluralismus, der Historismus und damit die Epigonenproblematik reicht in die gepriesene Goethezeit […] hinein, woraus nur zu schließen ist, daß äußerste Vorsicht gegenüber den traditionellen Abwertungen angemessen erscheint.240
Um so wichtiger ist es, die veränderten Bedingungen für das Übersetzen in den Blick zu nehmen. Denn die Tatsache, dass eine neue Literaturperiode begonnen habe, war, wie der schon zitierte Ludwig Seeger zur Begründung seiner von der Tradition abweichenden Übersetzungsmethode schrieb, „ein Geheimniß, das sich die Knaben auf der Gasse zuflüstern“241. Die Wandlungen und Umwälzungen, die das Übersetzungswesen dieser neuen Epoche kennzeichnen, sind bereits an den Buchhandelsstatistiken ablesbar, die für die Zeit ein enormes Wachstum verzeichnen.242 Schon im 18. Jahrhundert hatte es Klagen gegen die „Übersetzungsfabriken“ gegeben, die Übersetzungen fremdsprachiger Autoren ausschließlich aus buchhändlerischem Interesse verfertigten.243 Aber erst in den 1820er Jahren konnte die Metapher der Übersetzungsfabrik im Zuge der Industrialisierung ihre volle, moderne Bedeutung entfalten. Und seit Wilhelm Hauff 1827 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände das fabrikmäßige, d. h. effizient und arbeitsteilig organisierte Übersetzen in einer Satire detailreich persifliert hatte,244 erlebte sie eine neue Konjunktur. Der liberale Schriftsteller Karl Gutzkow _____________ 239 Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 9. 240 Sengle (1971), Bd. 1, 94. Zum Epigonalitätsproblem s. Sengle (1971), Bd. 1, 93–98 und Büchler– Hauschild (1992). 241 Seeger, Epistel an einen Freund (1845), 10 f. 242 Vgl. Bachleitner (1989). 243 Belege finden sich beispielsweise bei J. J. Hottinger, Einiges über die neuesten Übersetzerfabriken der Griechen und Römer in Deutschland (1782), J. G. Schlosser, Vorerinnerung (1783), 140, oder F. A. Wolf, Ist Homer auch übersetzbar (1784), 622. Bemerkenswert ist, dass einzig Friedrich Schlegel keine Einwände gegen literarische Fabrikanten hatte: „Man glaubt Autoren oft durch Vergleichungen mit dem Fabrikwesen zu schmähen. Aber soll der wahre Autor nicht auch Fabrikant seyn? soll er nicht sein ganzes Leben dem Geschäft widmen, litterarische Materie in Formen zu bilden, die auf eine große Art zweckmäßig und nützlich sind? Wie sehr wäre manchem Pfuscher nur ein geringer Theil von dem Fleiß und der Sorgfalt zu wünschen, die wir an den gemeinsten Werkzeugen kaum noch achten!“ Athenaeum, Bd. 1, 1. u. 2. St. (1798), 287. 244 Hauff, Die Bücher und die Lesewelt (1827), 62 f. Wilhelm Hauff (1802–1827) war 1827 Leiter des belletristischen Teils von Cottas Morgenblatt. Anlass für das Feuilleton gaben Übersetzungen englischer Romane (vor allem von Scott). In einem erst aus dem Nachlass veröffentlichten, der gleichen Zeit angehörenden Artikel geht Hauff auch auf entsprechende Tendenzen beim Übersetzen antiker Autoren ein: „In neuester Zeit hat auch das klassische Altertum das Schicksal eines W. Scott und
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beispielsweise erhob 1839 im Telegraph für Deutschland – unter Nennung zahlreicher Verlegernamen – vehemente Anklage gegen die „Übersetzungsfabriken“ und „die Buchhändler, die vom Spekulationsteufel besessen“245 und auf Profit durch massenhaften Vertrieb übersetzter Literatur anstatt auf literarischen Wert fixiert seien. Ungewöhnlich ist in diesem Zusammenhang die Rezension einer italienischen Goethe-Übersetzung aus dem Jahr 1832. Deren Verfasser Theodor Mundt, der wie Gutzkow zu den „Jungdeutschen“ zählte, gab darin der Ambivalenz Ausdruck, die aus Sicht des Literaten mit der Industrialisierung verbunden war. Enthusiastisch preist er die „allgemein erwachte Uebersetzungs-Lust“ als ein literarisches Pendant zur Dampfmaschine: Wie die Dampflok, so vermag auch die Literatur-Übersetzung den Verkehr der Nationen zu befördern, um schließlich die einzelnen „Patriotismen“ zu überwinden und eine „allgemeine Europäische Welt-Nationalität“ herzustellen. Allerdings, so Mundt weiter, darf das Übersetzen deshalb nicht industriell-serienmäßig betrieben werden: Um das obige Gleichniß von den Uebersetzern, als den literarischen Dampf-Wagen der Zeit, aber nicht zu weit auszudehnen, schweigen wir hier billig von jener vor Eil dampfenden fabrikmäßigen Uebersetzungs-Industrie, die heutzutage zugleich als ein böses Merkmal an einer an sich löblichen Sache sich herausstellt.246
Während aber um 1800 der Vorwurf des Fabrikmäßigen noch speziell den Übersetzungen antiker Schriftsteller gegolten hatte, knüpfte sich die Vorstellung industrieller _____________ Cooper erfahren, in wohlfeilen Taschenbuchausgaben übersetzt zu erscheinen. Es läßt sich manches für, manches dagegen sagen; das Studium der Ursprachen selbst wird freilich dadurch wenig befördert werden, und die Lexika werden im Preise fallen. Gutes kann man davon erwarten 1, wenn solche Unternehmungen Männer leiten, die sich der gelehrten Welt als ausgezeichnete Sprachforscher bewiesen haben 2, wenn darauf gesehen wird, daß der Stil solcher Übertragungen leicht, anziehend und dem Nichtgelehrten schnell verständlich sei, denn leider schreiben unsere Schulgelehrten gewöhnlich ihr Teutsch nach römischem Geschmack.“ Hauff, Die teutschen Übersetzungsfabriken (1827), 263. 245 Gutzkow, Die Deutschen Uebersetzungsfabriken (1839), 49. 246 Mundt, Deutsche Literatur im Auslande (1832), 505. Da Mundts Text kaum bekannt ist, soll noch der dem Zitat vorangehende Abschnitt zitiert werden: „Was die unserer Zeit vorzugsweise angehörige Erfindung und Ausbildung der Dampf-Maschinen für den äußeren Welt-Verkehr geworden ist, bedeutet, könnte man sagen, mutandis mutatis, die heut bei allen Nationen so allgemein erwachte Uebersetzungs-Lust für den Literatur-Verkehr, für die geistigen Annäherungen der Völker. Dieser Vergleich dürfte weniger paradox seyn, als er vielleicht scheint; denn beide gleichzeitig das Tages-Interesse belebende Phänomene der heutigen Kultur-Entwickelung gehen nach ihren verschiedenen Seiten hin doch offenbar aus demselben Grund-Gedanken der Zeit hervor, nämlich ein Ueberwinden und Aneinanderrücken aller sich getrennt gegenüberstehenden Räume der civilisirten Welt durch möglichst geringen Zeit-Aufwand, durch eine möglichst geringe Kraft-Verschwendung an die materiellen Mittel des Lebens zu bewerkstelligen. Woran die Philosophen seit Jahrtausenden schwerfällig konstruirt haben, nämlich Raum und Zeit, das überwindet heutzutage immer mehr und mehr der Dampf, der es durch eine erfinderische Ironie des Zeitgeistes bald zu einer welthistorischen Bedeutung bringen kann. Eine allgemeine Europäische Welt-Nationalität scheint sich bilden zu wollen; der einzelne und abgeschlossene Landes- und Nationen-Patriotismus ist verbraucht und bereits zu eng geworden für ein an großen Anschauungen gereiftes Geschlecht, und so will die Kultur Europa’s sich zu einem kosmopolitischen Individuum herausbilden, denn die Kultur ist überhaupt immer mehr Kosmopolit als Patriot […]“. Vgl. dazu auch unten S. 96.
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Produktion nun im Wesentlichen an das Übersetzen aus neuen Literaturen, vorzugsweise von englischen Romanen. Und nicht allein im Buchhandel rückten Übersetzungen aus den alten Sprachen nun deutlich in den Hintergrund. Auch in der Diskussion des Übersetzungsproblems verloren sie ihre herausgehobene Stellung. Ungeachtet der Tatsache, dass inzwischen das humanistische Gymnasium Früchte trug und große Teile der gebildeten Mittel- und Oberschicht tatsächlich über Latein- und Griechischkenntnisse verfügten, verlor die Antike ihre unangefochtene Geltung durch Aufwertung der neuen Sprachen und der modernen Literatur, die sowohl in Schule und Universität als auch im literarischen Leben vollzogen wurde.247 Diese Veränderungen literarischer und kultureller Hierarchien zeigen sich beispielsweise an der Hinwendung zu Autoren, die bis dahin außerhalb der Aufmerksamkeit gestanden hatten,248 oder an Tendenzen zur Adaption antiker Texte an die Erwartungen des bürgerlichen Publikums, wobei antike Literatur ihren Eigenwert verlor und unterschiedslos neben moderne Autoren rückte.249 Mitunter, zumal in der politisierten Atmosphäre des Vormärz, wurden Übersetzer antiker Autoren geradewegs unter Generalverdacht gestellt, weltfremd, ja reaktionär zu sein, wie etwa in Ludwig Seegers Epistel an einen Freund 250 deutlich wird. Ludwig Börne führte in dem kleinen, virtuosen Essay Über Sprache und Stil aus dem Jahr 1826 in einer satirisch zugespitzten Anekdote – die ausführlicher zitiert werden soll, weil sie verhältnismäßig unbekannt ist – vor Augen, wie Horaz und Horazübersetzung zwischen studentischem Kommers, Polizeizensur und Barrikade gleich mehrfach funktionalisierbar war. Börne schreibt: Also, wie gesagt, mein Artikel wurde gestrichen. Es war zehn Uhr abends, und es fehlte mir eine halbe Spalte. Was tue ich? Im Polizeizimmer lag unter den Sachen eines Jenaer Studenten, der am nämlichen Tage, weil er seine Wirtshauszeche nicht bezahlen konnte, arretiert worden war, ein kleiner Horaz. Ich setzte mich hin und übersetzte daraus die Ode Nunc est bibendum und bringe das nasse Manuskript zum Zensieren ins Nebenzimmer, wo der Polizeidirektor saß. Dieser las es und sprach: „Charmant! Ich muß Ihnen das Kompliment machen, daß Sie die Ode recht gut übersetzt. Horaz – ja, das war ein Mann! […]“ „Horaz ein wackerer Mann? der? Nun, dann seid mir willkommen, ihr Memmen und Schelme! Nicht als ich Sylla [sic] morden, als ich Cäsar rauben, als ich Oktavius stehlen sah, gab ich die römische Freiheit verloren – erst dann weinte ich um sie, als ich Horaz gelesen. Er, ein Römer, ihr Götter! und seine Kinderaugen haben die Freiheit gesehen – er war der erste, der sich am Feuer des göttlichen Genius seine Suppe kochte. Was lehrt er? Ein Knecht mit Anmut sein. Was singt er? Wein, Mädchen und Geduld. […]“ Ich sagte noch mehrere solche teils fürchterliche, teils heidnische Dinge. Der Polizeidirektor entsetzte sich, trat weit, weit von mir zurück und sah mich flehentlich an. Ich ging. Auf der Treppe dachte ich, er ist doch kein ganzer Türke – er fürchtet die Ansteckung! Aber das Lob, das offizielle Lob, dass ich Nunc est bibendum gut verdeutscht, hatte ich weg. Das munterte mich auf, ich übte mich
_____________ 247 Zu den Auseinandersetzungen um die Berechtigung des altsprachlichen Unterrichts s. u. S. 161 ff. 248 Etwa Aristophanes, s. u. S. 80. 249 Z. B. in den Übersetzungen des Münchner Dichterkreises (vgl. S. 136 ff.). Auch Mörikes Grenzverwischung zwischen eigenen Gedichten und Übersetzungen (vgl. S. 135) hängt damit zusammen. 250 S. u. S. 80–86.
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Ende der Übersetzungstheorie? weiter, und so habe ich nach und nach fast den ganzen Horaz übersetzt. Da liegen sie nun, die armen Oden und Satiren, und ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Sollte ein unglückseliger Zeitungsschreiber Gebrauch davon machen wollen, die Zahnlücken der Zeit damit auszufüllen, so stehen sie ihm zu Gebote. Briefe werden postfrei erbeten. 251
Die Horaz-Übersetzung taugt hier nur noch dazu, die vom Zensor hinterlassenen Lücken, die „Zahnlücken der Zeit“, zu füllen. Die Dekanonisierung antiker Literatur, die in dieser Anekdote in der speziellen Börne’schen Prägung zum Ausdruck kommt, vollzog sich auf verschiedene Art und Weise und in variierender Geschwindigkeit in den einzelnen Bereichen der Kultur und des öffentlichen Lebens. Dies bedeutet allerdings nicht, dass andere Muster nun das der Antike völlig ersetzten. Vielmehr ist vom Nebeneinander und von Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, einander bisweilen tatsächlich oder scheinbar widersprechender Diskurse auszugehen, und gerade im Bereich von Schule und Universität behielt antike Literatur weiterhin einen hohen Stellenwert. Auch die Beschäftigung mit dem Übersetzungsproblem zeigt sich entsprechend aufgespalten und vielgestaltig. War im Zuge romantischer Theoriebildung Übersetzung in den übergreifenden Zusammenhang von Poetologie, Philologie, Hermeneutik etc. gestellt worden, so wird sie jetzt in unterschiedlichen, voneinander oft getrennten Diskursen erörtert. So gehen Börne oder Ludwig Seeger von einem stark politisch motivierten, operativen Literaturverständnis aus, während etwa Karl Schäfer252 aus der Perspektive des Schulmannes argumentiert und für den Typus der Schulübersetzung steht. Daneben existieren gleichermaßen unpolitische und unpädagogische „poetische Übersetzungen“253, wie die des jungen Emanuel Geibel, in denen sprachlich und formal die Grenze zwischen eigenem Werk und Übersetzung bis zur Unkenntlichkeit verwischt wird. Später, insbesondere bei Adolf Wilbrandt, tritt das Übersetzen „mit Rücksicht auf die Bühne“ als eigener Typus hinzu.254 Die unterschiedlichen Kontexte und Funktionen der Übersetzungen bestimmen dabei unmittelbar auch die theoretischen Überlegungen. Auch das Auseinanderdriften der verschiedenen Diskurse hat sicherlich beigetragen zur Abwertung der theoretischen Versuche, die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden. Schließlich ist noch ein weiterer Grund für den Eindruck eines Niedergangs der Übersetzungstheorie anzuführen. Im Unterschied zum 18. Jahrhundert und zur Goethezeit war die „neue Literaturperiode“, die Seeger geltend machte, durch eine grundlegende Skepsis gegen Theorie überhaupt geprägt. Friedrich Sengle konstatierte für die Biedermeierzeit ein „Primat der Praxis“: Auf theoretischem Gebiet ist der Abbruch der „Blütezeit“ unverkennbar; denn die neuen Gedanken erscheinen meist sporadisch, aphoristisch und oft in Widerspruch zu den überlieferten Ideen, die in ihrer Geschlossenheit eine gewisse Kraft bewahren. Aber unter diesem Flicken und Stammeln steht meistens die Überzeugung, daß die neue Zeit auch ohne ein
_____________ 251 252 253 254
Börne, Bemerkungen über Sprache und Stil (1826), 596 f. Vgl. S. 86 f. Curtius, Erinnerungen an Emanuel Geibel (1915), 30. Zu Geibel s. u. S. 136–143. Zu Wilbrandt und dem Übersetzen für die Bühne s. u. S. 148–153.
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ebenbürtiges System der Ästhetik ihren Eigenwert besitzt und daß die Kunst nicht einfach der Zersetzung, sondern nur einer Wandlung in ihren Inhalten und Formen entgegengeht.255
Dies stellt für eine historische Darstellung der Übersetzungstheorie kein geringes Problem dar. Die Beiträge, die nun entstanden, erscheinen oft eklektisch und in sich widersprüchlich. Ihnen fehlt die argumentative Geschlossenheit und die Einbindung in übergreifende Theorien. Will man den Eigenwert, von dem Sengle sprach, erkennen, dann darf man sie nicht an den großen Entwürfen der vorangegangenen Epoche messen. Im Wesentlichen lassen sich nach 1830 drei verschiedene Antworten auf die veränderten Bedingungen des Übersetzens feststellen: Die Konzeption der „deutschen“ bzw. „poetischen“ Übersetzung steht für eine offensive Emanzipation vom Prinzip der sprachmimetischen und hermeneutischen Übersetzung. Weniger innovativ, aber sehr gebräuchlich waren Versuche, einen mittleren Weg zwischen den Extremen der sprachmimetischen Übersetzung einerseits und der eindeutschenden Übersetzung andererseits zu finden. Und schließlich ist um die Mitte des Jahrhunderts eine historische Rückbesinnung zu beobachten, die sich zum Teil in Versuchen zur aktiven Restitution der metrischen Übersetzung, zum Teil in Arbeiten zur Geschichte des Übersetzens äußerte.
_____________ 255 Sengle (1971), Bd. 1, 84 (Hervorhebung von Sengle).
Deutsch und poetisch übersetzen „Wir müssen, das ist jetzt die Aufgabe, vor allen Dingen deutsch und poetisch übersetzen“,256 forderte Ludwig Seeger 1845 in der Epistel an einen Freund als Vorwort, die er seiner Aristophanes-Übersetzung voranstellte. Damit formulierte er den programmatischen Leitsatz für ein Übersetzungskonzept, das wesentlich durch das politisch-operative Literaturverständnis des deutschen Vormärz geprägt war. Seegers Epistel stellt den umfassendsten und konsequentesten Versuch dar, vor diesem Hintergrund die Bedeutung von Übersetzungen, und zwar speziell von Übersetzungen antiker Schriftsteller, neu zu bestimmen. Seeger257 war Schwabe und hatte seine Ausbildung am Tübinger Stift und an der dortigen Universität absolviert; als Sechsundzwanzigjähriger ging er in der Hoffnung auf liberalere Verhältnisse in die Schweiz, wo er bald zu namhaften Vormärz-Autoren wie Georg Herwegh, Arnold Ruge oder dem Mitstreiter Büchners August Becker in Verbindung trat. Klassische Bildung, schwäbisch-spätromantische literarische Erfahrungen (Seeger hatte als Student an Ludwig Uhlands sog. „Stilistikum“ teilgenommen, einem Vorläufer germanistischer Seminare) und die Nähe zu demokratischen und liberalen Strömungen verbinden sich bei ihm. Es ist kein Zufall, dass gerade das Übersetzen des Aristophanes für ihn zum Anlass wurde, das Übersetzungsproblem zu erörtern, war doch Aristophanes in den 1830er und 1840er Jahren von linkshegelianischen und demokratischen Schriftstellern zu einem neuen literarischen Muster erhoben worden: Aristophanes statt Sophokles! Man muß den Vorbildwechsel ernst nehmen, wenn man den revolutionären und restaurativen Kämpen der Zeit gerecht werden will.258
Dass Ludwig Seeger zwar jahrelang das Projekt einer Sophokles-Übersetzung verfolgte, aber außer der an entlegener Stelle veröffentlichten Elektra 259 nichts daraus zum Druck brachte, ist vor diesem Hintergrund vielleicht auch kein Zufall. _____________ 256 Seeger, Epistel an einen Freund (1845), 7. Im Folgenden werden Stellen aus Seegers Epistel jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. Seegers Epistel ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 163–177. 257 Ludwig Seeger (1810–1864), Philologe, Lyriker, Übersetzer, Journalist, war zwischen 1836 und 1848 Lehrer und Universitätsdozent in Bern; während dieser Zeit schrieb er u. a. Beiträge für Georg Herweghs 21 Bogen aus der Schweiz (1843) und für Anthologien Arnold Ruges. 1848 kehrte er nach Deutschland zurück; seine liberale Gesinnung verhinderte eine Anstellung im höheren Lehrdienst, weshalb er als Journalist (u. a. als Redakteur der Ulmer Schnellpost) arbeitete. Bekannt waren seine Übersetzungen der Chansons von Pierre-Jean de Béranger (1839/41) und der Aristophanischen Komödien (1845/48); außerdem übersetzte er griechische Lyrik, die Sophokleische Elektra, Shakespeare und Victor Hugo. Zu Seeger vgl. Fischer (1891), Fischer (1899) und Gaiser (1911). 258 Sengle (1971), Bd. 1, 90. Vgl. dazu auch Denkler (1970). 259 Die Übersetzung der Elektra erschien 1842 innerhalb der von Karl Borberg in Zürich und Stuttgart herausgegebenen mehrbändigen Anthologie Hellas und Rom. Ziel Seegers war auch bei dieser Übersetzung, wie der Herausgeber schrieb, „einen ganz deutschen Sophokles zu geben“; Seeger, Sophokles. Elektra (1842), 567.
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Obwohl also eine Aristophanes-Übersetzung damals als zeitgemäß gelten konnte, hielt Seeger eine Apologie seiner Arbeit gegenüber dem – unbekannten, vielleicht fiktiven – Adressaten der Vorrede offenbar für notwendig: Du scheinst nicht zufrieden mit mir zu sein, daß ich wieder zu übersetzen anfange. Meinen Versuch mit den Beranger’schen Liedern ließest Du gelten: „das war doch noch Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein.“ Aber nun gar die Alten? „Wann wird, rufst du aus, wann wird einmal die Zeit kommen, wo wir die Krücken von uns werfen, und auf eigenen Füßen stehen?“ (1)260
Dieser apologetische Zug, der sich in Übersetzungen antiker Autoren in dieser Zeit häufiger findet, ist Folge der allgemein verbreiteten Vorbehalte gegen das überkommene antike Muster, genauer: gegen den Gebrauch, den Schulen und Universitäten davon machten. Seegers Antwort auf den Vorwurf der Irrelevanz antiker Literatur, der „Unfreiheit“ der Modernen gegenüber den Alten, ist charakteristisch für die Art, wie die Auseinandersetzung mit humanistischen Traditionen damals erfolgte: Zu einer umfassenden Bildung gehört nicht nur Philosophie und Poesie der Neuzeit; was wir wissen und haben, ist kein aus den Wolken gefallenes Geschenk des modernen Genius, unsere Bildung ist das Produkt aller Jahrhunderte, aller geschichtlichen Völker, ihr Hauptelement ist und bleibt aber das Klassische, das Hellenische. (2)
Seeger stellt also die Bedeutung des „Hellenischen“ für die moderne Bildung nicht per se in Frage, sondern adaptiert den humanistischen Kanon gewissermaßen an die neuen Bedürfnisse und Ansichten. Wenn er sich dabei entschieden dagegen verwahrt, nur zur „Unterhaltung“ oder zur „Bedienung ästhetisch-romantischer Genußsucht“ (3) gelesen zu werden, dann spricht sich darin die Skepsis des Vormärzautors gegen Formalästhetik und autonome Kunst aus. (Daher auch seine Ablehnung des klassizistischen Virtuosentums von August Graf Platen und seine Vorbehalte gegenüber der Potsdamer AntigoneAufführung von 1841261.) Ebensowenig darf aber die Literatur der Alten den „Phrontisterien der Gelehrten“ (4), wie er in Anspielung auf die Aristophanischen Wolken schreibt, also den Philologen überlassen werden. Die Verdächtigung der Philologie, eine lebensferne, die Dichtung tötende Wissenschaft zu sein, gehört zu den festen Konstanten in Übersetzervorreden seit den 1820er Jahren.262 Auch die Philologen selbst – wie eben Seeger – stimmten in diese Philologenschelte mit ein.
_____________ 260 Seeger spielt an auf Bérangers Lieder in den Versmaßen des Originals verdeutscht von L. S. Rubens [d. i. Ludwig Seeger] (3 Bde., Bern 1839–1841). Die politisch-satirischen Chansons von Béranger erfreuten sich damals in Deutschland großer Beliebtheit. 261 Vgl. Seeger, Epistel an einen Freund (1845), 16: „Daß kein Schauspieler diese Verse deklamiren kann, hat man in Berlin erfahren.“ Zur Potsdamer Antigone-Aufführung und den sich anschließenden Aufführungen in Berlin 1841 s. u. S. 91 f. 262 Um nur ein Beispiel anzuführen: Arnold Ruge stellte seiner Oedipus-Übersetzung (1830) folgendes Widmungsgedicht voran: „Nicht zu der Schulen eingeschränktem Trost, / Nicht für den Klügler, der um todte Rhythmen / Und längst verklungne Weisen sich erbos’t; / Dem Leben ein Lebendiges zu widmen, / Des Alten Lied im wohlbekannten Ton: / Das ist mein Dichten; und sein höchster Lohn, / Daß du und wer geweiht wie du die Chöre / Mit freiem Ohr und mitbegeistert höre.“
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Weder der Wert der Antike selbst noch die Ehrwürdigkeit der klassizistischen Übersetzertradition von „Voß, Wolf, Solger, Thiersch, Droysen u. s. w.“263 wird also gänzlich verworfen. Vielmehr sieht Seeger die Aufgabe des Übersetzers in einer Demokratisierung von Bildung, in der Herstellung von Zugänglichkeit und Gegenwartsbezug. Gegen philologische „Geheimnißkrämerei“ (6) entwirft er ein Übersetzungsprogramm, das den Laien (dem „Volk“) die Möglichkeit zum eigenen Urteil über die Klassiker und zur selbstbestimmten Bildung verschaffen soll. Dabei wird die Antike ausdrücklich nicht über, sondern neben die gleichberechtigte Moderne gerückt; nicht sprachliche und historische Distanz, sondern Nähe soll die Übersetzung vermitteln: Urteilen, kritisch prüfen soll Jeder können, diese, trotz allem Aufwand von Gelehrsamkeit, der seit der Reformation an sie verschwendet worden ist, uns noch heute so fern stehenden Heroen der antiken Poesie sollen uns näher gerückt werden, wir wollen, anstatt sie anzustaunen, uns mit ihnen befreunden, der unbedingte, abgöttische Respekt vor den Alten soll zur kritisch temperirten Bewunderung werden. (3 f.)
Die Leser sollen in die Lage versetzt werden, selbstständig prüfen zu können: ob Shakespeare größer als Sophokles oder Aristophanes, ob wir immer und immer wieder zu den Alten zurückkehren müssen, oder ob wir nicht endlich einmal eine Bilanz ziehen, der antiken Kunst und Poesie ihre Stelle in der Bildungs-Geschichte der Menschheit ein für allemal anweisen, und uns damit für immer vor blinder Nachbeterei wie vor oberflächlicher Geringschätzung sicher stellen sollen? (4)
Man sollte Seegers Konzept der Annäherung, das vordergründig der von Schleiermacher ad absurdum geführten „Bewegung des Autors zum Leser“ ähnelt, nicht an den Vorlagen romantischer Hermeneutik messen. Die Rückkehr zur Annahme, dass der Gehalt von Literatur formunabhängig vermittelt werden kann, die Rückkehr also in eine (wie Sengle es nannte) „vorklassische und vorromantische Naivität“264 geschieht hier bewusst: Sie ist Bildungsprogramm, nicht Sprachphilosophie. Eben deshalb greift Ludwig Seeger (wie andere Übersetzer in dieser Zeit) auf die „naiven“ Vorbilder des 18. Jahrhunderts zurück: er beruft sich auf Johann Georg Schlossers Übersetzung der Aristophanischen Frösche aus dem Jahr 1783265, oder verweist im Zusammenhang der, wie er sagt, „Einführung oder vielmehr Wiedereinführung“ (16) des fünfhebigen Jambus auf die Komödien- und Tragödienübersetzungen Wielands und Stolbergs.266 Wenn Seeger ausführlich aus Schlossers Vorerinnerung zur Übersetzung der Frösche zitiert, dann dient dies aber nicht nur dem Rückgriff auf ein vorromantisches Übersetzungsverständnis: Seeger legitimiert damit auch eine politische Inanspruchnahme der griechischen Komödie,267 die – neben der postulierten Gleichstellung von Moderne _____________
263 264 265 266
S. o. S. 74. Sengle (1971), Bd. 1, 89. Schlosser legte 1806 auch eine Übersetzung der Lysistrate vor. Siehe Literaturverzeichnis. Wieland hatte neben den Acharnern, Rittern, Wolken und Vögeln des Aristophanes auch Euripides und Sophokles übersetzt. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg übersetzte Aischylos, sein Bruder Christian Graf zu Stolberg Sophokles. – Stolberg wurde damals im Streit um Blankvers oder Trimeter auch sonst als Referenzgröße angeführt, etwa bei Kautz, Die alten Sprachen und die ästhetische Uebersetzungskunst (1847), 10. 267 Zur politischen Aristophanes-Rezeption im 19. Jahrhundert vgl. Holtermann (2004).
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und Antike – als zweite wichtige Modifizierung klassisch-humanistischer Vorstellungen zu betrachten ist. So wie Schlosser 1783 „in der Zeit der dumpfen Stille vor dem Gewitter der Revolution“ (19) das Recht des Dichters auf Personalsatire gegen die Mächtigen verteidigt hatte, beruft sich nun Seeger auf die unmittelbare politische Bedeutung, die Theater für die Athener gehabt habe und die auch für die Gegenwart notwendig sei: Der hellenische Geist hat seine Mission in Deutschland noch nicht erfüllt, Dichter, die so durch und durch politisch sind, wie die griechischen, ein Aeschylos, der nicht blos Perser schreibt, sondern auch gegen die Perser (bei Marathon und Salamis) ficht, ein Aristophanes, der wie dieser von ihm hochverehrte Heros sich aufs thätigste an den inneren und äußeren Geschicken seines Vaterlandes oft mit eigner Lebensgefahr betheiligt, solche Männer des begeisterten Worts und der begeisterten That müssen unsern Bücher- und Stubenmenschen vorgeführt, ihre Werke müssen dem deutschen Volk in seiner Sprache ans Herz gelegt werden, damit es wenigstens – noch erröthe. (18 f.)
Die Forderung, dass eine Übersetzung die gleiche Wirkung auf deutsche Leser haben soll, die schon das Original auf das griechische Publikum hatte (modern gesprochen: das Postulat der Wirkungsäquivalenz) wird von Seeger dabei nicht erhoben. Vielmehr zielt er, völlig unabhängig von Fragen nach der ursprünglichen Wirkung der Komödien, auf eine unmittelbar den modernen Leser ansprechende Wirkungsästhetik. Es geht weniger darum, die Wirkung (im Sprachgebrauch der Zeit: den Eindruck), den das Original einst ausgeübt hatte, in irgendeiner Weise zu reproduzieren, sondern darum, das Potential unmittelbarer und direkter Wirkung, das Seeger in den Komödien sah, zu wecken. In genau diesem Sinn hatte wenige Jahre zuvor Arnold Ruge in der Vorrede seiner Sophokles-Übersetzung formuliert: „Dichter wollen Eindruck machen, die Schule Regeln“268. Die damals von Ruge bis hin zu Adolf Wilbrandt weit verbreitete Entgegensetzung der „lebendigen“ Dichtung gegen die „tote“ Buchstabengelehrsamkeit269 greift auch Seeger in diesem Zusammenhang auf, wenn er sich etwa gegen die „leblose Mechanik“ (11) der Voss’schen Tradition abgrenzt. Die Übersetzungsstrategie, die diesen Prämissen entspricht, entwickelt Seeger aus der Abgrenzung gegen das Prinzip der Sprachmimetik und besonders gegen Voss,270 dessen klassizistische Übersetzersprache er als „Uebersetzerrothwelsch“ bezeichnet, „wo die goldnen Aepfel statt in silbernen Schalen auf ‚fünfgezottelter Ziegenpelz-Einpolsterung‘“(4) lägen:271 _____________ 268 Ruge, Vorrede (1830), XI. 269 Vgl. das Widmungsgedicht Ruges (s. o. S. 81, Anm.) und Wilbrandts Formel „Denn nur was wirkt ist lebendig, und nur was lebendig ist, ist treu“; Wilbrandt, Vorwort (1866), XVI. Zu Wilbrandt s. u. S. 148–153. 270 Vor allem ist an die 1821 erschienene Aristophanes-Übersetzung von Voss zu denken. 271 Seegers Zitat aus der Aristophanes-Übersetzung von Voss ist allerdings nicht ganz korrekt. Richtig heißt es: „Ja selbst der hofnungsvolle hier, mein junger Fent / Nie wacht er, so lang die Nacht auch währt, nein, sondern – farzt, / In fünf gezottelter Ziegenbälg’ Einpolsterung.“ Die Wolken V. 8–10 (Aristofanes von Johann Heinrich Voss [1821], Bd. 1, 197). Vielleicht hat Seeger das Zitat aus August Wilhelm Schlegels Kritischen Schriften (1828), Bd. 1, 156, übernommen, da auch Schlegel „Ziegenpelz“ statt „Ziegenbälg’“ schreibt.
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Ende der Übersetzungstheorie? Drei und vierfach zusammengesetzte Beiwörter und Partizipien, unzählige Zeitwörter mit der Vorsilbe ent, z. B. entzittern, oft noch mit hinweg verbunden; mit um z. B. von Mühlsteinen umprallt, die Troer umschlug schwerlastender Kummer; gewaltsame Verkürzungen, wie: gestrengt für angestrengt; absolute Genitive, wie: die herrliche, langes Gewandes; die Schreibung des e, wo der Usus es längst gestrichen: gefüllete; das active Particip in den härtesten, unverständlichsten Verknüpfungen, unerlaubte Inversionen, falsche Stellung der Negation, trennbare und untrennbare Partikeln am Verb willkührlich verbunden oder abseits gestellt: ganz den Tag hinflog ich, und: stets nachtobte des Krieges Wuth. (7 f.)
All dies sieht Seeger als Verstoß gegen die deutsche, vom Griechischen grundlegend verschiedene Sprache und als Verständnishürde, die die angestrebte Lektüre „ohne allzugroßen Aufwand von Zeit und Mühe“ (6) unmöglich macht. Auch eine Nachbildung des griechischen Metrums hält Seeger aufgrund der prinzipiellen Verschiedenheit des Griechischen und Deutschen für unmöglich. Er übersetzt daher die Trimeter der Dialoge in fünfhebige Jamben und die Chöre in teils freie, teils an die griechischen Metren angelehnte Rhythmen. Eine feste Regel für die Behandlung des Verses lehnt er ab: „Hier entscheidet nur das Ohr, der poetische Takt, keine Willkühr, keine maaßlose metrische Tändelei!“ (17)272 Der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gültige Grundkonsens, dass eine Übersetzung (wenn sie nicht freie poetische Bearbeitung sein wollte), sich durch Treue auf ihre Vorlage beziehen muss, hatte indessen trotz der Kritik an Voss weiter Bestand. Die Frage war nur, was jeweils unter Treue verstanden werden sollte. Viele Zeitgenossen wollten Treue und Wirkung durch einen Mittelweg zwischen den entgegengesetzten Methoden miteinander vereinbaren. Seeger wies diese Argumentationen zurück und schlug statt dessen eine dialektische Synthese vor: Nun liegt es nahe, zu sagen: der goldne Mittelweg wird auch hier die Bahn sein, die wir in Zukunft einschlagen müssen. Ich kann aber in allen Dingen, wie Du weißt, vom Justemilieu kein Heil erwarten: zwischen zwei wahrhaften Gegensätzen ist in alle Ewigkeit keine Vermittlung möglich. Die wahre Vermittlung ist die Auflösung der Gegensätze in ein drittes Höheres, es ist nicht das starre Gesetz und nicht die lose Freiheit, die uns selig macht, es ist auch nicht die gesetzliche Freiheit oder die freie Gesetzlichkeit, wie man diese Vermittlungstermen gewöhnlich braucht, um sich und Andere damit zu täuschen, es ist die Freiheit, die ihr Maaß in sich selbst trägt, die Gesetzlichkeit, die im Objekte liegt, und mit der das Subjekt zusammen wächst, die innere, erkannte Naturnothwendigkeit, die das Wesen jedes Kunstwerkes, jeder Produktion, auch der Reproduktion ist. (11)
Diese höhere Form von Treue darf nicht auf zufällige Einzelheiten oder formale Äußerlichkeiten gerichtet sein. Seeger knüpft hier an die entsprechenden Diskurse über den _____________ 272 Spätestens seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl derer, die sich in vergleichbarer Weise von Voss und der metrischen Übersetzung abgrenzten. Arnold Ruge etwa lehnte in seiner Ödipus-Übersetzung deutsche Trimeter ebenfalls ab, setzte auf „innere Musik“ anstelle von festen Regeln und betonte: „Hauptgrund bleibt aber immer die Empfänglichkeit und Forderung des deutschen Ohrs“; Ruge, Vorrede (1830), XVI. Der Gymnasiallehrer Kautz hielt den Nachbau des Versmaßes für eine Klippe, an der jede Übersetzung scheitern müsse, und wollte „gleichsam auf die Lorely [sic, gemeint ist das Versmaß] aufmerksam […] machen, die den begeisterten Uebersetzer so leicht von der rechten Bahn verlockt“; Kautz, Die alten Sprachen und die ästhetische Uebersetzungskunst (1847), 11.
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Realismus literarischer Darstellung an und vergleicht die Übersetzung mit einem Porträt: Eine Uebersetzung […] ist ein Portrait, und ein Portrait ist nur dann ein Kunstwerk, wenn es das Original nicht in Denners Manier mit allen Flecken und Sommersprossen, Mälern und Warzen abschreibt, sondern die geistig bedeutenden Züge zu einem ausdrucksvollen Ganzen vereint, und das Wesentliche vom Unwesentlichen und Zufälligen sondert. Construktionen und Sprachwendungen in einem dichterischen Kunstwerk fremder Sprache sind gegen das Poetische des Inhalts und Gehalts das Zufällige für den Uebersetzer. Er hat sie der Muttersprache unterzuordnen, wenn er nicht statt eines geistig treu reproducierten Kunstwerks ein Nachbild liefern will, dessen Aehnlichkeit eine widerwärtige ist, eben wie man von gewissen Portraits sagt: sie seien zum Erschrecken ähnlich. (9 f.)273
Die Übersetzung darf also nicht, wie der Porträtmaler Balthasar Denner (1685–1749) es tat, zugunsten äußerer Nebensächlichkeiten versäumen, das „Wesen“, den „Geist“ der Vorlage darzustellen. Adolf Wilbrandt verwendete später im gleichen Sinn den Vergleich der Photographie, die Einzelheiten objektiv ablichtet, dabei aber das Wesentliche verfehlt.274 Ludwig Seegers Epistel stellt das umfassendste und konsequenteste Zeugnis für die Abwendung von Voss und dem sprachmimetischen Prinzip in der Zeit des deutschen Vormärz dar. Alle wesentlichen Bestandteile der damals versuchten Neubestimmung des Übersetzungsbegriffs werden hier diskutiert: An die Stelle der Bewahrung antiker Formensprache treten die Normen der deutschen Sprache und Poetik und werden als Maß des Gelingens angesehen; die Übersetzung soll ohne philologische Spezialkenntnisse für den allgemein gebildeten Leser unmittelbar und mit Genuss verständlich sein; sie steht im Zeichen von literarischen und politischen Gegenwartsinteressen. Die Kontinuitäten, die von Seegers dezidiert wirkungsästhetischer Übersetzungskonzeption in die zweite Jahrhunderthälfte führen, sind am deutlichsten in Adolf Wilbrandts Tragödien-Übersetzungen (1866) greifbar, wobei dort an die Stelle der politischen Wirkungsabsichten eine weitgehend unpolitische Adaption antiker Tragödie an den bürgerlichen Theaterbetrieb tritt.275 _____________ 273 Mit diesem Vergleich bezieht Seeger sich nach eigener Auskunft auf eine ähnliche Äußerung des Schriftstellers, Kritikers und Übersetzers Adolf Stahr, die nicht nachgewiesen werden konnte. 274 Adolf Wilbrandt, Vorwort (1866), XII: „Es ist, wie wenn wir ein auch mangelhaftes photographisches Bildnis eines bekannten und geliebten Menschen oder einer uns innig vertrauten Gegend anschauen: sofort ist unsere Phantasie geschäftig, das Fehlende zu ergänzen, wir erwärmen uns – während ein fremder, kühler Beschauer nur die sichtbare Mangelhaftigkeit empfindet und gleichgültig hinwegsieht. Oder noch schlimmer, wenn er die Mangelhaftigkeit der Photographie nicht empfindet; wenn er sich nach diesem angeblich genauen Abbild – denn die Sonne hat es ja doch mit scrupulöser Gesetzlichkeit hervorgebracht – einen falschen, groben, abstoßenden Begriff vom Original macht. Und wenn nun das Original nicht wohl zu photographiren ist? wenn ein Lichtbild es allemal ungünstig auffassen würde? Wäre alsdann nicht die pietätvolle Hand eines Zeichners vorzuziehen, der, seine Wirkungen berechnend, an diesem oder jenem Punkt mit scheinbarer Willkür verfährt, um den eigentlichen Geist der Erscheinung um so reiner wirken zu lassen?“ – Zum Problem der Photographie für den literarischen Realismus vgl. die Dokumentensammlung von Plumpe (1985). 275 Vgl. unten S. 148 ff.
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Dennoch ist Seegers Vorwort (im Unterschied zur Übersetzung selbst) wenig rezipiert worden, auch der Nachdruck, der zu Seegers 100. Geburtstag im Jahr 1910 durch den Stuttgarter Germanisten Hermann Fischer und den Tübinger Gräzisten Wilhelm Schmid herausgebracht wurde, hat daran nichts geändert.276 Häufiger fällt, wenn es um die Abwendung vom sprachmimetischen Übersetzen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts geht, der Name des fränkischen Gymnasiallehrers Karl Schäfer.277 So stellte August Boeckh Schäfer geradezu als Antipoden Schleiermachers dar: Hierüber [scil. über die richtige Übersetzungsmethode] stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Einige behaupten, man müsse den nationalen Stil des Werkes möglichst beibehalten; andere verlangen, das Nationale solle möglichst abgestreift werden. Die erstere Ansicht vertritt Schleiermacher […], die andere Carl Schäfer […].278
In der Tat stellt Schäfers Aufsatz Ueber die Aufgabe des Uebersezens, der 1839 im Schulprogramm des Erlanger Gymnasium Fridericianum gedruckt wurde, eine vehemente Abrechnung mit Schleiermachers Akademierede dar. Während aber Seeger aus dem selbstgewählten Schweizer Exil mit politischen Intentionen schrieb und übersetzte, ging Schäfer von einem biedermeierlichen und unpolitischen Grundverständnis aus. Zudem zeigt sich bei ihm bereits ein deutliches Interesse an der Geschichte der literarischen Übersetzung.279 Dass Schäfers Aufsatz (ungeachtet seines wissenschaftlichen Anspruchs) als wenig substanziell erscheint, liegt hauptsächlich an seiner fundamentalen Missdeutung Schleiermachers, dessen Platon-Übersetzung er „Unnatürlichkeit“ und „Nachäffung“ vorwirft.280 Wo nämlich Schleiermacher diejenige Methode, die den Autor zum Leser bewegt, also „eindeutschend“ verfährt, am Ende als hermeneutische Unmöglichkeit zurückweist, um die gegensätzliche, den Leser zum Autor bewegende Methode als die einzig denkbare darzustellen,281 kommt Schäfer in seiner Paraphrasierung Schleiermachers zu dem Schluss, dass dieser letztlich für keine der beiden Methoden, sondern für einen dritten Weg plädiert habe: Da nun in dem erstern Falle der Begriff der Uebersezung sich von selbst aufhebe, weil der Leser ihrer nicht bedürfe, und da der andere Fall unmöglich sei, so bleibe nur noch das
_____________ 276 Im Rahmen einer neuen Ausgabe der Übersetzung durch den Stuttgarter Cotta-Verlag, siehe Literaturverzeichnis. Der Neuausgabe sind außerdem Vorreden von Hermann Fischer über Ludwig Seeger und von Wilhelm Schmid über die Geschichte der Aristophanes-Rezeption und -Übersetzung beigegeben. Der sehr umfangreiche Kommentar Seegers aus dem Erstdruck der Übersetzung wurde dagegen fortgelassen. 277 Johann Albrecht Karl Schäfer, Sohn des Ansbacher Gymnasialprofessors Johann Adam Schäfer (1755–1840), war zwischen 1822 und 1862 Gymnasialprofessor am Fridericianum in Erlangen. (Für freundliche Auskunft danke ich Herrn Martin Wachter, Verwalter des Archivs am Fridericianum, Erlangen.) Schäfers Aufsatz zum Übersetzen ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 127–143. 278 Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 158. 279 Zum aufkommenden Interesse an Übersetzungsgeschichte vgl. unten S. 95–105. 280 Schäfer, Ueber die Aufgabe des Uebersezens (1839), 7/9 und passim. Im Folgenden werden Stellen aus Schäfers Aufsatz jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. 281 S. o. S. 60 ff.
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Dritte übrig, nämlich der Standpunkt des Uebersezers, dessen Aufgabe nach ihm ist, „das nämliche Bild, den nämlichen Eindrukk, welchen er selbst durch die Kenntniss der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen, den Lesern mitzutheilen und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen. (5)
Mit diesem Versuch, die Schleiermacher’sche Argumentation nachzuzeichnen, reiht Schäfer sich ein in eine an Fehlinterpretationen reiche Rezeptionsgeschichte. Die dritte Methode nun – die in Wahrheit freilich mit Schleiermachers erster, den Leser zum Autor bewegender Methode identisch ist –, karikiert Schäfer als „monströse Zusammensezung“, als „buntschekkiges, unnatürliches Produkt, welches von vorne herein auf den Charakter des Aesthetischen und Schönen verzichtet“ (11): Ein Uebersezen, welches sich solcher Mittel bedient, ist nicht mehr Nachahmung, es trägt das Gepräge der Nachäffung. Denn während jene von Seite des Nachahmers einen eigenen Standpunkt und Charakter voraussezt, den er nach seinem Urbilde zu formen strebt, feiert diese den Triumph der Unfähigkeit, welche dem Urbilde sich gleich dünkt, wenn sie sich mit Lappen unwesentlicher Einzelheiten behängt, und Geberden, Gang und Haltung glükklich sich angeeignet, denn ganz und gar passt auf solche Manier das Schiller’sche Wort: Wie er räuspert und wie er spukkt, das habt ihr ihm glükklich abgegukkt! (9)
Schäfer selbst greift dagegen auf Ciceros Bekenntnis zurück, nicht wie ein interpres, sondern wie ein orator übersetzt zu haben,282 und formuliert ein biedermeierliches Programm, das drei Forderungen umfasst: Eine Übersetzung muss sich demnach erstens durch sprachliche Unauffälligkeit und Korrektheit auszeichnen; sie muss zweitens über „Anmuth und Schönheit“ (19) verfügen; und schließlich muss sie drittens als eigenständiges Kunstwerk erscheinen können, „etwas an sich“ und „nicht blos ein Surrogat“ (19) sein. Im ersten und dritten Punkt besteht Einigkeit mit Seeger; die Forderung zeitloser Schönheit aber spielte für Seeger keine Rolle. Wie uneinheitlich die Situation in der Zeit des Vormärz war, wie stark sich die unterschiedlichen Richtungen der Übersetzungsdiskussion immer wieder kreuzten und die verschiedenen Lager überschnitten, wird evident an dem Leitspruch „Aus dem Schönen in das Schöne!“283, den Schäfer bei Johann Gustav Droysen entlehnte, um damit seine gegen Schleiermacher gerichtete Argumentation zu stützen. Während Droysen für Schäfer also ein Gewährsmann des nicht-mimetischen Übersetzens war, wurde er von Seeger, wie oben gezeigt, in einem Atemzug mit Voss, Wolf, Solger und Thiersch genannt.
_____________ 282 S. o. S. 60. 283 Schäfer, Ueber die Aufgabe des Uebersezens (1839), 19: „Darum ist und bleibt die höchste Aufgabe alles Uebersezens: Aus dem Schönen ins Schöne!“ – Droysen, Vorrede (1832), IX: „Die erste Anforderung ist, daß aus dem Schönen in das Schöne übertragen werde“.
Gegensätzliche Methoden oder mittlerer Weg? Die einander widersprechenden Urteile Seegers und Schäfers über die Übersetzungen Johann Gustav Droysens machen deutlich, dass das Nachdenken über das Übersetzungsproblem im 19. Jahrhundert, im Anschluss an Goethe und Schleiermacher, meist einem bipolaren Grundmuster verpflichtet war, dass dies aber nicht unbedingt zu methodischer und theoretischer Klarheit führen musste.284 Droysen selbst hatte sich in seiner Aischylos-Übersetzung zu einem Weg zwischen den Extremen, die er bedrohlich wie Scylla und Charybdis darstellte, bekannt: Es wäre gleich fehlerhaft, alles Fremdartige zu verwischen, wie der eigenen Sprache das Joch eines fremden Idioms aufzubürden; zwischen den beiden Klippen der Karrikatur und der Farblosigkeit kann die größte Treue allein hindurchleiten.285
Damit gehört Droysen in die lange Reihe von Übersetzern, die im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) den Topos vom mittleren Weg – in der trivialsten Form: „So treu wie möglich, so frei wie nötig“ – aufgegriffen und variiert haben. Schon 1811 hatte beispielsweise der Historiker Friedrich von Raumer es sich in seiner deutschen Ausgabe griechischer Redner zum Ziel gesetzt, „so verständlich und doch zugleich so treu als möglich“286 zu übersetzen. Ludwig Neuffer, der schwäbische Pfarrer und Dichter, Freund Hölderlins seit der gemeinsamen Zeit im Tübinger Stift, legte 1820 eine Sallust-Übersetzung vor, in deren Vorrede er die über 20jährige Entstehungsgeschichte als einen Weg von der „fast wörtlich“ verfahrenden Nachformung über eine Übertragung „mit alleiniger Rücksicht auf schöne Darstellung“ bis hin zur Druckfassung „nach anderen Grundsätzen“ schilderte: „denn da ich beyde Extreme versucht hatte, entschloß ich mich jetzt einen Mittelweg einzuschlagen, der, wie mir klar geworden, auch in diesem Falle der beste ist“287. Es ließen sich zahllose weitere Beispiele hinzufügen, wobei die Unterschiede sowohl zwischen den Übersetzungen selbst als auch zwischen den dahinter stehenden Prinzipien zum Teil beträchtlich sind. Als Gewährsmann wurde häufig Goethe zitiert, dessen Formulierung indessen, wie oben gezeigt, in erster Linie auf eine Charakteristik Wielands zielte: Es giebt zwey Uebersetzungsmaximen. Die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seinen Styl, seine Eigenheiten finden sollen. Die Vorzüge von beyden sind durch musterhafte Beyspiele allen gebildeten Menschen genugsam bekannt. Unser Freund, der auch hier die Mittelstraße suchte, war beyde zu verbinden
_____________ 284 Zum Problem dualer Übersetzungstypologien vgl. Kitzbichler (2007). 285 Droysen, Vorrede (1832), VII. Von „Klippen“ hatte bereits Humboldt in einem Brief an August Wilhelm Schlegel (23.7.1796) gesprochen, s. o. S. 68. 286 Raumer, Vorrede (1811), VI. 287 Neuffer, Vorrede (1820), XXIX f.
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bemüht, doch zog, er als Mann von Gefühl und Geschmack, in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.288
Schleiermachers Definition der „zwei Methoden“289 wurde zwar ebenfalls öfters zitiert, seine Schlüsse – Unmöglichkeit eines Mittelwegs, Unmöglichkeit des „Einbürgerns“ – fanden indes weniger Resonanz. Insofern ist Ludwig Seeger mit seiner dezidierten Ablehnung des mittleren Weges290 eine Ausnahme. Sicherlich kann das verbreitete Plädoyer für einen übersetzerischen Mittelweg als Ausdruck einer gewissen theorieskeptischen Unentschlossenheit verstanden werden. Es korrespondiert mit einem epigonalen Zwiespalt, der sich am besten anhand der verbreiteten Ambivalenz gegenüber Voss und seiner klassizistischen Übersetzersprache zeigen lässt. Johann Gustav Droysen beispielsweise hob einerseits die „in der That sehr verdienstliche [scil. Aristophanes-]Gesammtübersetzung des ehrwürdigen Voß“291 hervor und spottete andererseits gegen den „essigsauren Voss“292. Selbst Ludwig Seeger akzepierte, wenngleich mit ironischem Beigeschmack, die Übersetzertradition der „Voß, Wolf, Solger, Thiersch, Droysen“293. Am deutlichsten zeigt sich die Zwiespältigkeit gegenüber Voss in den historisch angelegten Arbeiten von Robert Prutz und Otto Friedrich Gruppe.294 Insbesondere Prutz rühmte die literaturgeschichtlichen Verdienste von Voss, der unserer Sprache einen Reichthum, der strengsten Nachbildung antiker Maße einen Wohlklang, endlich den Uebersetzungen selbst eine Treue verlieh, von welchem Allen bis dahin kaum eine Ahnung und jedenfalls nur sehr zweideutige Spuren gewesen waren.295
Zugleich wies er aber die „unerträgliche Steifheit und Schwerfälligkeit“ und die „kolossen- und molossenhaften Wortbildungen“296 der Voss’schen Übersetzungen als überholt zurück. Tatsächlich betrachteten viele gerade den deutschen Spondeus – und erst den Molossos! – als Inbegriff der Abwegigkeit des metrischen Prinzips.297 Auch die schon _____________ 288 Goethe, Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), 438. Zu Goethe vgl. oben S. 44 f. 289 S. o. S. 60. 290 S. o. S. 84. Seeger betrachtete die methodische Zweiteilung als Resultat der Goethezeit: „Im Verlauf unserer letzten Literaturperiode […] hat die deutsche Uebersetzungskunst, nach und neben einander, eine zweifache Richtung genommen, die modernisirende, freie, laxe, bequeme, französisch deutsche, und die buchstäblich treue, pedantisch strenge, undeutsche, oder um an geschichtliche Namen anzuknüpfen, die Wieland’sche und die Voß’sche.“ Seeger, Epistel an einen Freund (1845), 10 f. 291 Droysen, Vorrede (1835), XVIII. 292 An Welcker, 1.9.1834, in: Briefwechsel (1929), Bd. 1, 67. 293 S. o. S. 74. 294 Zu Prutz s. u. S. 100–105, zu Gruppe s. S. 108–111. 295 Prutz, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur (1840), 492. 296 Prutz, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur (1840), 493. 297 Arnold Ruge beispielsweise schrieb in der Vorrede seiner Sophokles-Übersetzung: „Der Dichter wählt das Lebendigste, die Schule dagegen hat andere Gründe, sie nimmt z. E. das Poetischte [sic], wie sie es nennt, und sagt Sang statt Gesang, Spatz statt Sperling, Leu statt Löwe, und wo Voß einen Spondeus braucht, da heißt es Bergleu“; Ruge, Vorrede (1830), X f. Der Arnsberger Gymnasiallehrer Kautz tadelte den „Vossische[n] Vers mit seinen schwerfälligen Spondeen“; Kautz, Die alten Sprachen und die ästhetische Uebersetzungskunst (1847), 10. Weitere Belege ließen sich hinzufügen.
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zu Voss’ Lebzeiten lautgewordene Kritik, dass Voss’ spätere Übersetzungen nur noch formale Imitate seines deutschen Homer seien, fand weithin Zustimmung.298 In all dem zeigt sich ein Widerspruch, der für das zweite Jahrhundertdrittel typisch ist: Voss’ literaturgeschichtliche Leistung war ebensowenig in Zweifel zu ziehen wie die Forderung nach übersetzerischer Treue, hinter die man im historischen 19. Jahrhundert nicht zurückgehen konnte. Die mimetische Übersetzersprache von Voss, Solger, Schleiermacher, Humboldt und anderen aber wirkte nun steif, hochtrabend und verstaubt. Erst im 20. Jahrhundert gelang es wieder, hier produktiv anzuknüpfen.299 Die zahlreichen Plädoyers für einen mittleren Weg zwischen den angenommenen Extremen der Steifheit einerseits und dem Ungenauen, Fehlerhaften andererseits sind als Reaktion auf diesen Widerspruch zu verstehen. Es ist bezeichnend, dass gerade solche Übersetzer, die im Umfeld der Schule arbeiteten und von Berufs wegen den philologischen Anspruch mit der Aufgabe der Vermittlung verbanden, diesen Mittelweg versuchten. So begrüßte 1827 ein Rezensent in der Allgemeinen Schulzeitung das Erscheinen der Übersetzungsreihen des Stuttgarter Metzler-Verlags (Griechische und römische Prosaiker in neuen Uebersetzungen, Griechische und römische Dichter in neuen metrischen Uebersetzungen),300 weil dort eben jenes Programm des mittleren Weges, d. h. der Abgrenzung gegen die Voss’sche Tradition ohne Aufgabe des Treueprinzips, leitend sei: Der Plan der Herausgeber ist nicht, dem philologischen Publicum künstliche Nachbildungen, mit denen wir leider in den letzten Jahren, wo solches zur Mode geworden, überschwemmt worden sind, vorzulegen, sondern „der gesammten gebildeten Lesewelt die Schätze des Alterthums zugänglich zu machen,“ weshalb sie auch nur solche Uebersetzungen liefern, die mit der „nie vernachlässigten Treue, Verständlichkeit und gefälligen, rein teutschen“ Ausdruck im Ganzen wie im Einzelnen vereinigen […].301
Und weiter unten: _____________ 298 Vgl. z. B. Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (1866), 91 f.: „So sind denn auf Vossens Amboß und unter seinem gewichtigen Hammer Dichter der verschiedensten Zeit und Art einander ganz ähnlich geworden, gleich Zwillingen: die Technik des Uebersetzens steht ein für allemal fest, Voß, man kann es nicht ohne Betrübniß sagen, der einst so sinnige, so feinfühlende Uebersetzer ist ein mechanischer Arbeiter geworden, aus Werken des Geistes wurden Producte der Fabrik. […] Voß hat in seiner Laufbahn eine aufsteigende und eine absteigende Bewegung gemacht, jene liegt im Grunde nur zwischen 81 und 93 und bezieht sich vorzugsweise auf Homer.“ Kautz, Die alten Sprachen und die ästhetische Uebersetzungskunst (1847), 11, bezieht sich in seiner Kritik nicht auf Homer, sondern auf Voss’ Theokrit- und Horaz-Übersetzung: „Es wäre keine uninteressante Aufgabe, den ästhetischen Bildungsgang unseres Voß zu verfolgen, wie von der reizenden Nachbildung des Theocrischen [sic] Adonisfestes (Thocr. 15 [sic]) an, bis zu dem ‚ausgedörrter Kalaber stattliches Hornvieh‘ (Hor. Od. I.3.) der Dichter sich in den Uebersetzer und der Uebersetzer sich in den Philologen verlor“. 299 Vgl. beispielsweise unten S. 209 ff. und 277 ff. 300 Vgl. zu den Übersetzungsreihen S. 117–120. 301 Anonym, [Rez.] Ueber die zu Stuttgart bei J. B. Metzler erscheinende Sammlung (1827), 674. – Die Allgemeine Schulzeitung (Untertitel: Ein Archiv für die Wissenschaft des gesammten Schul-, Erziehungs- und Unterrichtswesens der Universitäten, Gymnasien, Volksschulen und aller höheren und niederen Lehranstalten) erschien seit 1824 in Darmstadt.
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Für ähnliche Leser [scil. Freunde klassischer Bildung] ist auch diese Sammlung bestimmt, dieselben Grundsätze der Treue, der Verständlichkeit und des rein teutschen Ausdrucks sind auch hier den Uebersetzern zur ersten und höchsten Pflicht gemacht; denn die Uebersetzungen sollen lesbar in dem eben bemerkten Sinne des Wortes sein; dass sie metrisch sind, bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung.302
Gerade in der Frage der Versform zeigt sich allerdings, dass der mittlere Weg oft zu eklektizistischen Mischformen führte. Droysens Übersetzungen etwa sind einem gemäßigten metrischen Prinzip verpflichtet und nutzen zugleich immer wieder den Endreim als poetisches Mittel. Franz Fritze übertrug in seiner (von der Potsdamer Antigone-Aufführung angeregten303) Sophokles-Übersetzung die Dialoge in jambische Fünfheber, in den Chören aber bildete er das Metrum des Originals nach.304 Dass die Balance der Extreme keineswegs nur in mehr oder weniger marginalen oder theoriefernen Beiträgen zum Ziel erklärt wurde, zeigt sich bei August Boeckh. 1808 hatte Boeckh sich in einer Besprechung der Schleiermacher’schen Platon-Übersetzung für eine Übersetzungsmethode ausgesprochen, die frühromantischer Hermeneutik verpflichtet war und das Fremde und Besondere sichtbar machen wollte.305 1841 wurde er, nicht ganz aus eigenem Antrieb, selbst zum Übersetzer. Einer Anregung des preußischen Königs folgend, bereitete Ludwig Tieck damals eine Aufführung der Sophokleischen Antigone im Potsdamer Neuen Palais vor und gewann Boeckh zunächst als philologischen Fachberater.306 Eigentlich wollte man die neu erschienene und überaus erfolgreiche, auch von Boeckh gelobte Übersetzung Johann Jakob Christian Donners307 zugrundelegen; schließlich aber entschied sich Boeckh – im engen Gespräch mit Felix Mendelssohn Bartholdy, der die Chöre vertonte –, eine eigene Übersetzung anzufertigen. Sie wurde nicht rechtzeitig für die Potsdamer Aufführung fertig (weshalb _____________ 302 Anonym, [Rez.] Ueber die zu Stuttgart bei J. B. Metzler erscheinende Sammlung (1827), 678. 303 Vgl. unten. 304 Fritze begründete sein Verfahren im Vorwort (1843) zur Elektra. Ausdruck eines vergleichbaren Eklektizismus ist es, wenn bei Aufführungen griechischer Tragödien unterschiedliche Übersetzungen gekoppelt wurden, wie bei der Antigone-Aufführung 1875 in Wien, wo die Dialoge in Adolf Wilbrandts freien fünfhebigen Jamben, die Chöre in der metrischen Übersetzung Donners gegeben wurden; vgl. Flashar (2009), 96. Formaler Eklektizismus fand später seinen Höhepunkt in den Übersetzungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, s. u. S. 196 ff. 305 S. o. S. 55 f. 306 Zur Potsdamer Antigone-Aufführung vgl. Boeckh, Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem Königl. Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci (1842), außerdem Flashar (2009), 64–74 und Boetius (2005). Zu Boeckh und Mendelssohn vgl. Flashar (1989a). – Man wollte in Potsdam der antiken Aufführungspraxis nach den neuesten Erkenntnissen der Forschung gerecht werden, so weit es irgend möglich war, freilich unter den beengten Bedingungen des Theaters im Neuen Palais, mit preußischen Hofschauspielern und von Mendelssohn komponierten Männerchören. Die erste Aufführung fand am 28.10.1841 vor geladenem Publikum (Hof, Gelehrte, Künstler) statt. Sie war zugleich die erste Aufführung einer griechischen Tragödie auf einer deutschen Bühne, die ohne nennenswerte Eingriffe in den Text realisiert wurde. Das Echo war enorm. Es folgten weitere, auch der Öffentlichkeit zugängliche Aufführungen in Berlin (jedesmal vor ausverkauftem Haus) und Nachspiele auf anderen deutschen Bühnen sowie konzertante Aufführungen der Mendelssohn’schen Chöre. 307 Siehe Literaturverzeichnis.
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man doch auf den Text Donners zurückgriff ), erschien aber 1842 im Klavierauszug und 1843 parallel in einer einsprachigen und einer zweisprachigen Ausgabe.308 Hier bekennt sich Boeckh zu einer Übersetzungsmethode, die nicht um jeden Preis Verständlichkeit erzielen will. Schwer verständliche Stellen des griechischen Textes sollten auch in der Übersetzung dunkel belassen werden, denn wo diese [scil. die Übersetzung] etwa dunkel scheinen dürfte, ist der Griechische Text um nichts klarer, und der Uebersetzung ist mit Absicht nur derselbe Grad der Verständlichkeit gegeben, welchen die Urschrift keineswegs bloß für uns hat, sondern für die Landsleute und Zeitgenossen des Dichters hatte.309
Zugleich formuliert er an dieser Stelle aber einen eher unspezifisch erscheinenden Kompromiss: Denn diesen [scil. den Grundtext] so genau als möglich wiederzugeben, ohne der Sprache Gewalt anzuthun, war mein erstes Bestreben […].310
Wie weit Boeckh sich inzwischen von Schleiermacher und den theoretischen Entwürfen des Jahrhundertanfangs entfernt hatte, wird auch daran sichtbar, dass er an die je einzig beste übersetzerische Lösung glaubte: „Nur eines kann das Beste seyn […]“.311 Solger, Schleiermacher und Humboldt hatten dagegen gerade aus ihrem hermeneutischen Ansatz heraus die Hoffnung auf eine Übersetzungsliteratur „im großen Stil“ abgeleitet: Ein umfassendes Bild eines Textes kann nur entstehen, wenn möglichst viele Übersetzer immer neue Übersetzungen vorlegen, Übersetzen bleibt eine „unendliche Aufgabe“.312 Auch in seiner philologischen Grundlagenvorlesung (Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften), die Boeckh seit 1809 regelmäßig hielt,313 äußerte er sich zum Problem der Übersetzung. Die Buchausgabe der Vorlesung, die von Boeckhs Schüler Ernst Bratuscheck 1877 vorgelegt wurde, beruht auf Manuskripten Boeckhs und auf Hörernachschriften unterschiedlicher Entstehungszeiten. Der dem Übersetzen gewidmete Abschnitt ist aber offenkundig späten Datums und gehört in die Zeit um die Jahrhundertmitte: Boeckh nimmt darin Bezug auf Karl Schäfers Aufsatz von 1839, auf seine eigene Übersetzung von 1841 und erwähnt auch noch Gruppes Deutsche Uebersetzerkunst von 1859. Boeckh behandelt hier das Übersetzen als Teil der Hermeneutik. Allerdings zeigt sich die Tendenz, Verstehen und sprachliche Darstellung voneinander zu trennen: _____________ 308 Siehe Literaturverzeichnis. Die im Berliner Verlag Veit erschienene zweisprachige Ausgabe enthielt außerdem eine Vorrede sowie zwei (schon zuvor entstandene und gedruckte) Abhandlungen Boeckhs über Sophokles. Der Übersetzungstext ist identisch. 309 Boeckh, Vorrede (1843), V f. 310 Boeckh, Vorrede (1843), VI. 311 Boeckh, Vorrede (1843), IV. Damit begründet Boeckh, dass er gelegentlich Stellen von Donner oder aus anderen Übersetzungen übernahm. 312 S. o. S. 40. 313 Zu Boeckhs Encyklopädie vgl. Hackel (2006). Der das Übersetzen betreffende Teil aus Boeckhs Encyklopädie ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 199–204.
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Die gesammte Hermeneutik hat nur das Verständniss der Denkmäler zum Zweck; für die Förderung des gemeinsamen Studiums ist es aber von Wichtigkeit, dass dies Verständniss in der geeigneten Weise dargelegt werde.314
Für Boeckhs Übersetzungsbegriff hat dies tiefgreifende Konsequenzen. Von Schleiermacher und der romantischen Hermeneutik abweichend, steht hier die Frage nach der Wirkung im Mittelpunkt. Der Idealfall ist für Boeckh, dass die Übersetzung, die dazu durch „anderweitige Erklärung“ (Einleitung und Kommentar) zu ergänzen ist, „das Original vertrete“ und „denselben Eindruck“ (158) mache, kurz, dass sie die Forderung der Wirkungsäquivalenz erfüllt. Um dies zu erreichen, stehen, so Boeckh, zwei mögliche Methoden zur Auswahl: Einige behaupten, man müsse den nationalen Stil des Werkes möglichst beibehalten; andere verlangen, das Nationale solle möglichst abgestreift werden. (158)
Stellvertretend für beide Methoden nennt Boeckh die Namen Schleiermacher und Karl Schäfer. Während aber Schleiermachers Diskussion der zwei Methoden grundsätzlichen Charakter hatte, geht es bei Boeckh nur um ein Mehr oder Minder, um ein Abwägen der auf beiden Seiten zutage liegenden „Vorzüge und Mängel“ (158). Boeckh tendiert zur erstgenannten Art, die den nationalen Stil beibehalten soll, obwohl er auch hier Nachteile erkennt: Bei der entgegengesetzten [scil. den nationalen Stil bewahrenden] Methode wird man dagegen der eigenen Sprache Gewalt anthun um den nationalen Charakter der fremden nachzubilden, und da sich die Sprachen doch auch grammatisch nicht decken […], ist eine treue Wiedergabe des Originals dennoch unmöglich. Trotzdem ist diese Methode des Uebersetzens vorzuziehen, weil sie von dem, was der Uebersetzer verstanden hat, mehr zum Ausdruck bringt. […] Freilich wird die möglichste Treue im Einzelnen wieder leicht den Eindruck des Ganzen beeinträchtigen. (158 f.)
Diesen Nachteil erläutert er am Beispiel des Voss’schen Homer und Aristophanes: Auch für Boeckh sind also die Vorbehalte gegen Voss’ Übersetzersprache („steife Künstelei“, „stelzbeinig und rauh“, 159) das schwerwiegendste Argument gegen ein Übersetzen, das den Leser zum Schriftsteller bewegt. So bleibt Boeckh unter dem Strich gegen die Möglichkeiten und den Nutzen von Übersetzungen skeptisch, auch wenn er die Notwendigkeit sieht, „die klassischen Werke des Alterthums einem grösseren Publikum“ (161) zugänglich zu machen, und schätzt vor allem den philologischen Anteil beim Übersetzen als gering ein: Es ist in der That ein ganz behagliches Spielwerk ums Uebersetzen; man braucht dabei wenig zu sammeln, mehr an der Feder zu kauen und auf einen guten Einfall zu warten; man bedarf keiner grossen Combinationen wie bei der Kritik und historischen Forschung. (160)
Ungeachtet seiner eigenen Arbeiten – schon lange vor der Antigone hatte er Pindar übersetzt, allerdings nicht ins Deutsche, sondern, philologischen Gepflogenheiten _____________ 314 Boeckh, Encyklopädie (1886), 158. Im Folgenden werden Stellen aus Boeckhs Encyklopädie jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. – F. A. Wolf war in seiner Enzyklopädie-Vorlesung (Encyclopädie der Philologie [1831]) übrigens überhaupt nicht auf das Übersetzungsproblem eingegangen.
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folgend, ins Lateinische315 – gehört Übersetzen für ihn daher nicht zu den Aufgaben der Philologie. Ausdrücklich warnt er seine Studenten davor, sich dem Übersetzen zu widmen: Die Uebersetzung ist eigentlich nicht die Kehrseite des Originals, sondern des Bildes, welches der Uebersetzer vom Original gewonnen hat, und auf dieser Kehrseite treten viele feine Züge überhaupt nie hervor, welche die Arbeit des Philologen in jenes Bild eingewirkt hat; folglich lässt sich aus einer Uebersetzung die zu Grunde liegende philologische Forschung nur sehr mangelhaft erkennen. Ausserdem gehört zum Uebersetzen, dass man die eigene Sprache künstlerisch beherrscht, was nicht Sache der philologischen Wissenschaft ist. Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein. Da somit das Uebersetzen von der eigentlichen philologischen Arbeit abzieht, würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen. (161)
_____________ 315 Pindar. Interpretatio Latina cum commentario perpetuo fragmenta et indices, Leipzig 1821. Boeckh selbst sieht in solchen lateinischen Übersetzungen vor allem eine Hilfe für das Erlernen der Sprache: „Ueberhaupt wird man beim Studium durch eigenes Uebersetzen die Probe machen, ob man Sinn und Structur im Groben verstehe und darauf hin dann weiter ins Einzelne eindringen. Bei dieser vorbereitenden Orientirung können gute gedruckte Uebersetzungen verglichen werden. Bei griechischen Schriftstellern wird dieser Zweck auch durch beigefügte lateinische Uebersetzungen erfüllt.“ Encyklopädie (1886), 162.
Übersetzungsgeschichte statt Übersetzungstheorie Angesichts der Tatsache, dass Übersetzungen bis heute vergleichsweise wenig Beachtung in der Literaturgeschichtsschreibung finden, kann es erstaunen, dass sie im Umfeld der sich gerade erst etablierenden Neugermanistik seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts überhaupt in das Blickfeld rückten. Sicherlich war gerade die Situation, dass Gegenstand und Methode der neuen Disziplin noch nicht festgeschrieben waren,316 für eine Beschäftigung mit Themen außerhalb des sich bald verfestigenden Kernbereichs günstig. Während Boeckh und andere Vertreter der Klassischen Philologie sich gegen die Möglichkeiten und den Nutzen des Übersetzens skeptisch zeigten,317 begriffen Friedrich Wilhelm Riemer, Robert Prutz und Otto Friedrich Gruppe (der hier mit zu nennen ist, auch wenn er erst unten im Abschnitt „Restitution des metrischen Prinzips“ besprochen wird) Übersetzungen erstmals als bedeutenden Bestandteil der deutschen Literatur. Mehr noch: es zeigt sich bei Riemer, Prutz und Gruppe ein gemeinsames und für das historische Interesse elementares Motiv: das Bewusstsein einer nicht nur für die Nationalliteratur folgenreichen, sondern auch im europäischen Maßstab einzigartigen deutschen Übersetzungsgeschichte. Friedrich Wilhelm Riemer Dies wird zuerst in Friedrich Wilhelm Riemers318 Aufsatz Einiges zur Geschichte des Uebersetzens deutlich, der freilich einer Literaturgeschichtsschreibung in modernem Sinn ungeachtet seines Titels nicht zuzurechnen ist. Riemers Beitrag erschien 1832 in der von Goethe herausgegebenen Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum, die, zunächst als Organ gegen den „alterthümelnden, catholisch-christelnden Kunstgeschmack“319 der Spätromantik vorgesehen, seit Ende der zwanziger Jahre zu dem Ort geworden war, an dem Goethe seine Vorstellung von „Weltliteratur“ darlegen und verwirklichen wollte.320 _____________ 316 Vgl. dazu u. a. Weimar (1989). 317 Vgl. dazu auch unten S. 181 ff. 318 Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845) war Schüler und privater Assistent von Friedrich August Wolf in Halle. Auf Wolfs Empfehlung wurde er zunächst Hauslehrer im Hause Wilhelm von Humboldts und durch Humboldts Vermittlung 1803 Erzieher für Goethes Sohn August in Weimar. Ebenda war er später auch als Gymnasialprofessor und Oberbibliothekar tätig. Riemer ist vor allem als dienstfertiger Mitarbeiter Goethes und Berater in altertumskundlichen und philologischen Fragen bekannt. Riemers Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 115–126. 319 Meyer, Neu-deutsche religios-patriotische Kunst (1817), 116. 320 Zu Goethes Weltliteratur-Begriff und zu Ueber Kunst und Alterthum vgl. u. a. Strich (1946); Birus (1995); Bohnenkamp (1999); Koch (2002). Zu Goethes Verhältnis zur Antike in seinem Spätwerk vgl. Osterkamp (2007).
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Goethes Weltliteratur-Begriff, in dessen Zusammenhang Riemers Aufsatz zu lesen ist, zielte nicht einfach auf einen übernationalen literarischen Kanon oder die Summe der einzelnen Nationalliteraturen, sondern auf einen umfassenden, allgemeinen Austausch (Goethe spricht vom „Wechseltausch“321) zwischen den „Litteratoren und Litteraturen“322 der verschiedenen Nationen, der durch fortwährende wechselseitige Spiegelung des Eigenen und des Fremden eine Erweiterung der individuellen und nationalen Perspektive bewirken konnte. Damit wird der antike Kanon des Klassizismus ebenso auf die Probe gestellt wie ausschließlich nationalliterarische Perspektiven der Romantik. Die damals allenthalben einsetzenden kommunikations- und verkehrstechnischen Innovationen sind dabei als Hintergrund mitzudenken. Goethe schrieb: Zu einer Zeit wo die Eilboten aller Art aus allen Weltgegenden her immerfort sich kreuzen, ist einem jeden Strebsamen höchst nöthig seine Stellung gegen die eigne Nation und gegen die übrigen kennen zu lernen. Deßhalb findet ein denkender Literator alle Ursache jede Kleinkrämerey aufzugeben und sich in der großen Welt des Handelns umzusehen.323
Den Übersetzungen, die (ebenso wie beispielsweise Rezensionen, Kunst-Reproduktionen, aber auch persönliche Gespräche) als Vermittlungsmedien dienen, kam innerhalb der zu bildenden Weltliteratur eine herausragende Stellung zu; das Hauptaugenmerk war allerdings nicht auf antike, sondern auf moderne Schriftsteller gerichtet. In einem Brief an Thomas Carlyle bat Goethe um Einschätzung einer englischen Übersetzung seines Tasso durch den Muttersprachler und machte in diesem Zusammenhang deutlich, worin er die besondere Bedeutung von Übersetzungen sah: Sie werden mich höchlich verbinden, wenn Sie mich hierüber [scil. über die englische TassoÜbersetzung] aufklären und erleuchten; denn eben diese Bezüge vom Originale zur Übersetzung sind es ja, welche die Verhältnisse von Nation zu Nation am allerdeutlichsten aussprechen und die man zu Förderung der vor- und obwaltenden allgemeinen Weltliteratur vorzüglich zu kennen und zu beurtheilen hat.324
Die Dialektik von Fremdem und Eigenem, die zirkulär gedachte „Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten“325 hatte Goethe schon zuvor in den Noten zum Divan als Wesensmerkmal der Übersetzung betont; nun führte _____________
321 In seiner Rezension zu Carlyles Anthologie German Romance heißt es: „Zu einer solchen Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bey. Wer die deutsche Sprache versteht und studirt, befindet sich auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waaren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert. Und so ist jeder Uebersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemeinen geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Uebersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr.“ Goethe, Ueber Kunst und Alterthum VI,2 (1828), FA I, 22, 434. 322 Goethe, Tagebücher, WA III, 10 (1899), 189. 323 Goethe, Ueber Kunst und Alterthum V,3 (1826), FA I, 22, 280. – Zu denken wäre etwa an die Erfindung der Schnellpresse, die für Presse und Buchmarkt tiefgreifende Änderungen zur Folge hatte, an die Entwicklung der Telegraphie oder auch an die Erfindung der Lokomotive und die seit den 1830er Jahren entstehenden ersten Eisenbahnstrecken. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Theodor Mundts Vergleich von Übersetzungen mit Dampfmaschinen, s. o. S. 76. 324 An Carlyle, 1.1.1828, in: Goethe, Briefe, WA IV, 43 (1908), 222. 325 Goethe, Noten zum Divan (1819), 258. Vgl. dazu oben S. 45.
Übersetzungsgeschichte statt Übersetzungstheorie
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er diesen Gedanken weiter aus und bezog ihn auf den gegenwärtigen literarischen Weltverkehr. Das dritte Heft des sechsten Bandes von Ueber Kunst und Alterthum sollte nach Goethes Plänen noch einmal ganz dem Thema der Weltliteratur gewidmet werden. Nach seinem Tod musste es in veränderter Form erscheinen. Insbesondere fehlte der von Goethe vorbereitete, aber nicht mehr ausgeführte große Aufsatz über sein Weltliteratur-Konzept. Er hätte auch für Riemers Beitrag als Fundament und Kontext dienen können. Aber auch so ist der Zusammenhang zwischen Riemers Ausführungen und Goethes Weltliteratur-Begriff deutlich. Wiederholt hatte Goethe, die Auffassung von der Übersetzernation Deutschland aufgreifend, der deutschen Literatur eine besondere Rolle innerhalb der Weltliteratur zugesprochen. So schrieb er 1827, als er erstmals den Begriff der „Weltliteratur“ in Ueber Kunst und Alterthum öffentlich besprach, dass er überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist. Alle Nationen schauen sich nach uns um, sie loben, sie tadlen, nehmen auf und verwerfen, ahmen nach und entstellen, verstehen oder mißverstehen uns, eröffnen oder verschließen ihre Herzen: dieß alles müssen wir gleichmüthig aufnehmen, indem uns das Ganze von großem Werth ist.326
An anderer Stelle erläuterte Goethe die besondere Eignung der deutschen Sprache zum Übersetzen und zur Vermittlung des Fremden: Die deutsche Sprache ist hiezu besonders geeignet; sie schließt sich an die Idiome sämmtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht daß man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges vorwerfe […].327
Hier knüpft Riemer an. Ziel seines Beitrags ist es, in einem skizzenhaften Aufriss Hinweise für eine historische Darstellung zu geben, die die Ausnahmestellung der deutschen Übersetzungsliteratur im europäischen Vergleich begründen sollte: Wir Deutschen rühmen uns nicht nur einer größren Anzahl von Uebersetzungen aus fast allen Sprachen, sondern auch der ganz besondern Vorzüglichkeit mehrerer derselben, in Vergleich mit andern Nationen. Eine solche Erscheinung – ihren Bestand vorläufig zugegeben – erregt das Nachdenken über die obwaltenden Ursachen derselben.328
Übersetzungsgeschichte, so wird hier zum ersten Mal deutlich, erwuchs unmittelbar aus dem Bewusstsein der Besonderheit der deutschen Übersetzungsliteratur im europäischen Vergleich; sie sollte deren Verdienste aufweisen und zugleich ein Programm für alle künftigen Übersetzungen entwickeln. Dabei sieht Riemer den Grund für die „Vorzüglichkeit“ deutscher Übersetzungsliteratur – abweichend von der communis opinio 329 – nicht so sehr in bestimmten Eigenschaften der deutschen Sprache oder in einer Affinität oder gar Verwandtschaft des _____________ 326 Goethe, Ueber Kunst und Alterthum VI,1 (1827), FA I, 22, 356. 327 Goethe, Ueber Kunst und Alterthum V,2 (1824), FA I, 22, 124 f. 328 Riemer, Einiges zur Geschichte des Uebersetzens (1832), 574. Im Folgenden werden Stellen aus Riemers Aufsatz jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. 329 Vgl. dazu oben S. 34 f.
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Ende der Übersetzungstheorie?
Deutschen mit dem Griechischen. Ausschlaggebend seien stattdessen „Character und Temperament der Nation“ (575), das heißt eine bestimmte, historisch herzuleitende Mentalität. Damit knüpft er an die ethische Komponente der Semantik von „Treue“ an. Die wichtigste Bedingung des Übersetzens sieht er in einer bestimmten sittlichen Disposition, die „moralisch-ästhetische Eigenschaften“ (575) wie „Gerechtigkeit und Treue, Anerkennung und Zuneigung, Achtung und Liebe“ (576) umfasst. Übersetzungsgeschichte hat, so Riemer, stets diese Kopplung ästhetischer und moralischer Aspekte zu betrachten und kann daher auch den jeweiligen Stand von „Sittlichkeit“ und „Humanität“ aufzeigen: Eine kritische Geschichte des Uebersetzens unter allen litterarisch auftretenden Völkern, mit vergleichender Beurtheilung der Probestücke, würde uns die Eintrittsepoche jenes [scil. des moralisch-ästhetischen] nothwendigen Princips bemerkbarer machen, und sie mit einer für die Entwickelung der Menschheit zu höherer Sittlichkeit und eigentlichster Humanität so denkwürdigen Begebenheit in überraschende Verbindung bringen. (576 f.)
Dass er hier mit der „denkwürdigen Begebenheit“ gleich am Anfang seiner Darstellung auf die Reformation verweist, wird erst an deren Ende explizit gemacht. Zuvor skizziert Riemer im historischen Überblick die Übersetzungsliteraturen der verschiedenen Nationen. Er beginnt bei den „Orientalen der frühsten Zeit“ (578), über die allerdings zu wenig bekannt sei, um verlässliche Aussagen machen zu können. Der Anfangspunkt der Übersetzungsgeschichte müsse daher bei den „Hebräern“ liegen, das heißt beim Alten Testament und seinen Übersetzungen. Die Araber des Mittelalters hätten keine eigentlichen Übersetzungen, sondern Bearbeitungen angefertigt. Die frühen Griechen, so Riemer lapidar, „übersetzten nicht“ (581). Er greift damit die schon zu dieser Zeit anachronistisch gewordene Vorstellung des Klassizismus auf, dass die griechische Kultur sich voraussetzungslos, nur aus eigenem Vermögen entwickelt habe: Was und von Wem hätten sie auch übersetzen können und mögen, bey der geistigen Absonderung in der die Völker des Alterthums lebten, und bey der so laut ausgesprochenen Vorliebe der Griechen für das Eigene […]. (581)
Die Römer hätten zwar aus einer Situation andauernder kultureller Rivalität heraus viele griechische Autoren ins Lateinische übertragen, aber nur im Sinn von „Imitation und Accomodation“ (585); die lateinische Sprache sei prädestiniert zur Abstraktion von Inhalten und zum „Reduciren auf Begriffe“ (586), was sie zugleich für eigentliches Übersetzen untauglich mache.330 Diese Eigenschaft sei auf die modernen Tochtersprachen des Lateinischen (Riemer nennt das Italienische, Portugiesische, Spanische und Französische), aber auch auf das Englische übergegangen, deren Übersetzungen daher stets „ohne Maaß“ (588), das heißt Versmaß und Sprachform, seien. _____________ 330 Daher wendet sich Riemer auch gegen die damals noch übliche Praxis, lateinische Übersetzungen griechischer Schriftsteller anzufertigen. Boeckh beispielsweise hatte, ungeachtet seiner grundsätzlichen Skepsis gegen das Übersetzen, eine lateinische Übersetzung Pindars vorgelegt (Pindar. Interpretatio Latina cum commentario perpetuo fragmenta et indices, Leipzig 1821), vgl. oben S. 93. Daneben bezieht sich Riemer auch auf lateinische Übersetzungen aus dem Sanskrit, die damals in der Folge des wachsenden Interesses an orientalischen Literaturen entstanden (z. B. Bhagavad-Gita, hg. u. ins Lat. übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Bonn 1823).
Übersetzungsgeschichte statt Übersetzungstheorie
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Auch für die frühen deutschen Übersetzungen ist Riemers Befund negativ. Da die kulturellen und „sittlichen“ Bedingungen für Riemer schwerer wiegen als die Beschaffenheit der Sprache, konnte die spezifische deutsche Übersetzungsgeschichte erst von der Reformation, die als Schlüsselereignis und Wendepunkt aufgefasst wird, ihren Ausgang nehmen: Wie also vormals die getreuste Verbreitung göttlicher Offenbarungen in alle Sprachen und Mundarten sich von der denkwürdigen Epoche der Ausgießung des heiligen Geistes herdatirt [scil. von Pfingsten]; so darf man ohne blasphemische Anmaßung behaupten: von der Reformation und der in ihrem Gefolge werkthätig auftretenden Philologie und Philosophie nahm auch die gründliche Erkenntniß eines herrlich in Kunst und Wissen sich offenbarenden Menschen-Geistes den ersten Ausgang, um nächst frohgläubiger Anerkennung seiner mannigfaltigen Werke auch treufleißige Nacheiferung in immer weiter und weiter wirkender Folge zu entwickeln. (593)
Unter Bezug auf die Entstehung und Verbreitung des Alten Testaments („nach dem Vorgange der Hebräer“, 592) und die Schrifttreue des Protestantismus bindet Riemer seinen Übersetzungsbegriff also an Religion, Philosophie und Philologie an und konstruiert im Weiteren eine übersetzungsgeschichtliche Traditionslinie, die von Luther über Martin Opitz331 zu den Prosa-Übersetzern des 18. Jahrhunderts (darunter Garve, Hottinger und Wieland332) und zur Nachbildung antiker Silbenmaße durch Klopstock333, Ramler334 und vor allem Voss335 führt und in einer Übertragung des metrischen Prinzips auf Übersetzungen moderner Autoren durch Wieland, Gries336 und Schlegel337 und vor allem durch Goethe selbst (besonders durch seine Ottave rime, etwa in der Zueignung zum Faust) kulminiert. Die Ausgangsthese von der Vorzüglichkeit der deutschen Übersetzungen erfährt damit eine programmatische Interpretation im Sinne der Goethe’schen Weltliteratur, auf die Riemer abschließend durch ein Zitat Goethes verweist: Und so dürfte sich bald die von Goethe gestellte Prophezeihung (K. und A. Band V. Heft 2. S. 59) wahr machen: „Der Ausheimische werde in kurzer Zeit bey uns Deutschen zu Markte gehen müssen, um die Waaren die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände,
_____________ 331 Martin Opitz (1597–1639) legte 1636 eine Übersetzung der Sophokleischen Antigone (in Alexandrinern und gereimten Liedstrophen) vor. Sein Buch von der deutschen Poeterey (1624) war von nachhaltiger Wirkung auf die Entwicklung der deutschen Literatursprache. 332 Von dem schon mehrfach genannten Christian Garve liegen Übersetzungen von Aristoteles (Ethik, 1798; Politik, 1799) und Cicero (Abhandlungen über die menschlichen Pflichten, 1787) vor, außerdem von moralphilosophischen und ästhetischen Schriften englischer Autoren; vgl. auch oben S. 16 f. Der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Hottinger (1750–1819) hatte u. a. Übersetzungen der Schriften Theophrasts (Charaktere, 1810) und Ciceros (Bücher von der Divination, 1789, und Von den Pflichten, 1800) übersetzt. 333 Zu Klopstock vgl. oben S. 19 f. 334 Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) übersetzte Horaz, Martial, Anakreon und anderes und verfasste eigene Oden nach dem Vorbild des Horaz. 335 Zu Voss s. o. S. 21 ff. 336 Johann Diederich Gries (1775–1842) übersetzte Torquato Tasso (1800/1803), Ariost (4 Bde., 1804– 1808) und Calderon (6 Bde., 1815/1824). 337 Zu den Brüdern Schlegel vgl. oben S. 38 ff.
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Ende der Übersetzungstheorie? durch unsere Vermittelung zu empfangen.“ – Dann wäre in unserer Sprache die einzige mit der mindesten Einbuße des Individuellen mögliche Pasilalie und Pasigraphie aufgefunden. (608)338
Übersetzungstheoretisch ist Riemers Aufsatz sicherlich nur von begrenzter Aussagekraft; auch literaturhistorisch ist er in manchem anfechtbar, nicht zuletzt weil eine verlässliche empirische Fundierung durch umfassende Aufarbeitung der Übersetzungsliteratur (die Riemer weder leisten konnte noch wollte) fehlt. Dennoch zeigt er exemplarisch, wie – akkurat am Ende der Goethezeit – historisches Interesse aus der Erkenntnis der Spezifik deutscher Übersetzungsliteratur entsteht. Robert Prutz Die geschichtliche Perspektive, die Riemers Aufsatz bereits erkennen lässt, wurde acht Jahre später in Robert Prutz’339 umfangreicher Studie Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles 340 zum methodischen Prinzip. Prutz verstand seine Arbeit als wegweisenden Beitrag zu einer neuen, empirisch fundierten und methodisch abgesicherten germanistischen Literaturgeschichtsschreibung. Wie Riemer, so ging auch er vom Befund einer exzeptionell reichen deutschen Übersetzungsliteratur aus; er spricht vom „wahrhaft ungeheuren Vorrath von Uebersetzungen, Nachahmungen, Bearbeitungen des Alterthums“341. Die Ansicht, dass die deutsche Sprache für das Übersetzen besonders geeignet sei, griff er auf, verankerte sie allerdings durch einen Verweis auf Opitz historisch: Denn nur durch diesen Schritt [scil. die Erneuerung der deutschen Literatursprache durch Opitz] ward es überhaupt möglich, daß späterhin in weiterer Verfolgung dieser Bahn unsere Sprache die Gelenkigkeit und den Reichthum erlangte, alle Dichtungen des Alterthums in ihrer eigensten Form nachzubilden, – während Franzosen, Engländer und alle anderen Neueren sich schon aus sprachlichem Unvermögen immerdar nur mit Paraphrasen und Nachahmungen werden begnügen müssen. (477)
_____________ 338 Unter Pasilalie verstand man seit Leibniz künstliche Sprachen zur übergreifenden Verständigung, unter Pasigraphie entsprechend eine international lesbare Schriftsprache. 339 Robert Prutz (1816–1872), Philologe und Schriftsteller, hatte in Berlin, Breslau und Halle Klassische Philologie studiert. Eine akademische Laufbahn wurde zunächst durch sein politisches Engagement im Vormärz verhindert. Auf Fürsprache Alexander von Humboldts erhielt er 1849 ein Extraordinariat für Literaturgeschichte, das er wegen andauernder Differenzen mit Behörden und Universität jedoch 1858 wieder aufgeben musste. Danach lebte er als produktiver Schriftsteller und vielseitiger Privatgelehrter in seiner Geburtsstadt Stettin. Zu Prutz vgl. u. a. Berbig (1990) und Ansel (2003), zu seiner Bedeutung für die Geschichte der Germanistik vgl. ebenfalls Ansel (2003) und Weimar (1989). Ein Auszug aus Prutzʼ Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 145–161. 340 Der sperrige Titel erklärt sich daher, dass Prutz eine Besprechung neuer Sophokles-Übersetzungen zum Anlass für eine großangelegte historische Studie nahm. 341 Prutz, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur (1840), 449. Im Folgenden werden Stellen aus Prutz’ Arbeit jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen.
Übersetzungsgeschichte statt Übersetzungstheorie
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Selbst in seinem Kanon übersetzungsgeschichtlich bedeutender Autoren – Opitz, Klopstock, Wieland, Voss, Goethe – und in der Bedeutung, die er der Reformation zuschrieb, fallen Übereinstimmungen zu Riemer auf. Dennoch bestehen tiefgreifende und prinzipielle Differenzen zwischen beiden. Prutz hatte 1838 in Halle sein Studium der Klassischen Philologie mit einer Dissertation zu Fragen der Quellenkritik342 abgeschlossen. Kurz darauf trat er in Kontakt zu den Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst, dem bedeutendsten Organ des Junghegelianismus,343 und zu deren Herausgebern Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer. In der Folge wendete er sich von der Philologie ab und begann mit Studien zur Ästhetik, Philosophie und vor allem zur neueren Literaturgeschichte. Die Germanistik war damals weder methodisch noch institutionell fest etabliert; im Zuge ihrer Emanzipation von der Altphilologie trat um 1840 neben die älteren philologischtextwissenschaftlichen Richtungen eine literatur- bzw. kulturgeschichtlich orientierte Forschung. Prutz gehörte jener jungen Wissenschaftlergeneration an, die, maßgeblich von junghegelianischen Ansichten geprägt, Geschichtsforschung theoretisch und methodisch auf ein neues Fundament stellen wollte und die dabei erstmals auch die neuere Literatur zum Gegenstand machte. Der Übersetzungsaufsatz zählte zu seinen ersten größeren Arbeiten auf diesem Feld. Später folgten Bücher über den Göttinger Dichterbund, über die Geschichte des Journalismus und die des Theaters.344 Das breite Spektrum der Gegenstände zeigt, dass die Grenzen der Disziplin zu dieser Zeit noch unscharf und durchlässig waren. Den Anlass zu Prutz’ Arbeit bot eine Sammelbesprechung mehrerer jüngerer Sophokles-Übersetzungen (Thudichum 1827/1838, Ruge 1830, Donner 1839, Marbach 1839 und eine 1840 anonym von einem „Vereine Gelehrter“ veröffentlichte Übersetzung345). Der Herausgeber der Jahrbücher, Ruge, hatte 1830 selbst eine SophoklesÜbersetzung veröffentlicht346 und war stets an Übersetzungsrezensionen interessiert.347 Prutz’ Arbeit geht jedoch über eine Rezension weit hinaus: Sie will Hegel’sche Dialektik auf die Geschichte der deutschen Sophokles-Übersetzung und auf Übersetzun_____________ 342 De fontibus, quos in conscribendis rebus inde a Tiberio usque ad mortem Neronis gestis auctores veteres secuti videantur, Halle 1838. Prutz’ Doktorvater war Gottfried Bernhardy (1800–1875); vgl. Ansel (2003), 53. 343 Gegründet 1838 von Arnold Ruge in Abgrenzung gegen die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. 1841 versuchten die Herausgeber, durch Umbenennung (Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst) den andauernden Konflikten mit der Zensur zu entgehen. 1843 wurden die Jahrbücher nach Verbot durch die Bundesversammlung endgültig eingestellt. Zum Autorenkreis zählten u. a. Daniel Friedrich Strauß, Friedrich Theodor Vischer, Gustav Schwab und Ludwig Feuerbach. 344 Der Göttinger Dichterbund, Leipzig 1841 (Nachdruck: Bern 1970); Geschichte des deutschen Journalismus, Hannover 1875 (Nachdruck: Göttingen 1971); Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart, Leipzig 1847; Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters, Berlin 1847. 345 Siehe Literaturverzeichnis. 346 Oedipus in Kolonos. Von Arnold Ruge, Jena 1830. Die Übersetzung war während einer mehrjährigen Festungshaft Ruges (wegen burschenschaftlicher Aktivitäten) entstanden. 347 So hatte er 1838 Johann Gustav Droysen um eine Besprechung der Euripides-Übersetzung von Johannes Minckwitz für die erste Ausgabe der Jahrbücher gebeten, vgl. den Brief Droysens an Ruge vom 3.4.1838, in: Droysen, Briefwechsel (1929), Bd. 1, 136. Die Rezension kam allerdings nicht zustande.
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gen antiker Schriftsteller überhaupt anwenden und betrachtet Übersetzungen dabei einerseits als einen integralen Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte, andererseits als Indikator für das Verhältnis zwischen Antike und Moderne. Prutz’ explizites Ziel ist es, aus der geschichtlichen Untersuchung einen gültigen Übersetzungsbegriff zu gewinnen, der künftigen Übersetzern als Richtlinie dienen soll. Er verwirft die philosophische Spekulation der Romantiker und namentlich Schleiermachers „luftige Theorie“, die „keine Vereinigung der widersprechenden Ansichten herbeiführen“ könne (450), und setzt historische Empirie an ihre Stelle. Denn die Ursache gegenwärtiger „Verwirrung“ auf diesem Gebiet liegt, so Prutz, eben darin, daß man es bisher verschmäht hat, der geschichtlichen Entwicklung dieser Uebersetzungslitteratur diejenige Aufmerksamkeit zu widmen, welche, indem sie aus der Geschichte den Begriff herauskehrt, zugleich das Princip und den nothwendigen Gang zukünftiger Uebersetzungen, insoweit diese nicht als unerheblich und willkürlich außerhalb der allgemeinen Entwicklung stehen bleiben wollen, vor unser Bewußtsein führen würde. (450)
Diesem ausdrücklich auf Gegenwartsbezug und Anwendbarkeit zielenden Programm liegt ein teleologisches Geschichtsverständnis zugrunde: Auch wenn die moderne Bildung aus dem „edlen Stamm des classischen Alterthums“ erwächst und vom „unversiegbaren Quell der Antike“ (450) gespeist wird, muss jede Beschäftigung mit Antike – die im übrigen keine weitere Differenzierung erfährt, sondern als in sich homogener Block erscheint – doch im Zeichen von Gegenwartsinteressen geschehen. Der Fortschritt der Literaturgeschichte ist für Prutz letztlich wichtiger als das noch keineswegs völlig aufgegebene klassizistische Ideal. In jedem Fall muss ein „Ariadnefaden lebendigen Bewußtseins“ durch das „wüste Labyrinth leblos massenhaften Wissens“ (451) hindurchführen. Diesem im Vormärz verbreiteten Topos von den lebendigen Gegenwartsinteressen, die dem toten Altertum gegenüber stehen,348 gibt Prutz hier zugleich eine wissenschaftsprogrammatische Bedeutung, indem er Übersetzungsgeschichte als eine notwendig gemeinsame Aufgabe der Philologie (die bisweilen „über die Einzelheiten das Allgemeine zu vergessen“ drohe, 451) und der neueren Literaturgeschichte darstellt. In seiner weit ausgreifenden Darstellung deutscher Übersetzungsgeschichte, die seiner Konzeption entsprechend auch als Geschichte des Verhältnisses zwischen den Alten und den Modernen angelegt ist, nimmt Prutz für sich die Position des neueren Literaturhistorikers in Anspruch. Die Entwicklung der deutschen Übersetzungsliteratur vollzog sich nach Prutz’ Auffassung als Dialektik von Form und Inhalt (bzw. wie Prutz meist formuliert: Stoff ). Bis weit in die Neuzeit hinein waren Übersetzungen demnach allein dem Inhalt verpflichtet. Spätantike und Mittelalter verschmolzen die antiken Stoffe vollständig mit den Formen ihrer eigenen Literatur und mit dem christlichen Weltbild. Es ging „nicht um das Woher und Wie, sondern immer nur um das Was des Stoffes“ (460 f.). Auch als in der Zeit des Humanismus und der Reformation die erstarkenden Altertumsstudien einen beträchtlichen „Zuwachs an Stoff “ (463) brachten, änderte sich an dieser Situation im Wesentlichen noch nichts: _____________ 348 Beispielsweise bei Seeger, vgl. oben S. 83.
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[D]er Stoff allein war es, um den man sich kümmerte: von einem Anerkenntniß der antiken Form hatte unsere Litteratur keine Ahnung, weil eben damals sie selbst die Form verloren hatte. (463)
Die Adaptionen und Bearbeitungen griechischer Stoffe durch Hans Sachs und durch Wolfhart Spangenberg (aus denen Prutz zum Teil ausführlich zitiert), dienen als Beleg.349 So waren es denn nicht die deutschen, sondern die neulateinischen Dichter, die zuerst aus der „Reproduction der antiken Formen“ auch im Deutschen ein „Gefühl […] für die Schönheit der Form“ (473) erlangten. Und erst in der Antigone-Übertragung von Martin Opitz und in den Übersetzungen, die im Umkreis der Sprachgesellschaften entstanden,350 konnte der „alte achtsilbige Schlendrian“ (476) der Knittelverse überwunden werden; hier wurden die Grundlagen jener deutschen Verskunst gelegt, in der Prutz die Voraussetzung aller formgetreuen Übersetzungen sieht. Den durch die Sprachgesellschaften beförderten Sprachpurismus, die formale Orientierung an den Mustern französischer Dichtung und generell die normative Rigorosität deutet Prutz als einseitige Dominanz der Form in Erwiderung auf die frühere Dominanz des Stoffes: Auch zeigt die wüste und planlose Auswahl des zu Uebersetzenden, wie sehr der Stoff schon gleichgiltig und unerheblich geworden war; nur daß überhaupt übersetzt wurde, daß überhaupt die deutsche Form diesen Zuwachs und diese Pflege erfuhr, darauf kam es an […]. (482)
Beides, die Doktrin des Stoffs und die der Form, waren dabei „nothwendige Stadien der eignen Entwicklung“ (451). Die Synthesis, auf die Prutz’ historische Konstruktion zuläuft, wurde im Bereich der Originaldichtung zuerst in Klopstocks Messias 351, bei Übersetzungen – nach einer Phase des intensiven „Widerstreit[s] von Uebertragungen, Umschreibungen und Nachbildungen“ im Lauf des 18. Jahrhunderts – durch Voss’ deutschen Homer erreicht (wobei Prutz nicht zwischen dessen verschiedenen Fassungen unterscheidet): [D]ie Form, die nicht mehr bloß Außenseite, bloß Schale ist in unorganischer Abstraction, gewinnt Leben und Bedeutung als die eigenthümliche und nothwendigste Offenbarung des innen schaffenden Geistes; auch das Kleinste, – aber es giebt jetzt kein Kleinstes mehr! – Form, Rhythmus, Darstellung, es ist Alles durchdrungen und belebt von dem allerfüllenden
_____________ 349 Gemeint sind Die unglückhafftig Königin Jocasta (1550) von Hans Sachs und Ajax Lorarius. Ein Heydnische Tragoedia von dem griechischen Poeten Sophocle erstlich erdichtet und nachmals durch Josephum Scaliger in Lateinisch Sprach vertieret […], übers. v. Wolfhart Spangenberg, Straßburg 1608. Ein Neudruck des Spangenberg’schen Ajax ist gegenwärtig im Verlag Olms angekündigt (Nachdruck der Ausgabe Griechische Dramen. In deutschen Bearbeitungen von Wolfhart Spangenberg und M. Fröreisen, hg. v. O. Dähnhardt, 2 Bde., Tübingen 1896/97). 350 Zu Martin Opitz s. o. S. 99. Sprachgesellschaften entstanden im 17. Jahrhundert an verschiedenen Orten Deutschlands; ihr Ziel war es, die deutsche Sprache von fremden Elementen, vor allem Fremdwörtern zu reinigen und die Entwicklung einer (normativen) deutschen Literatursprache voranzutreiben. Prutz geht besonders auf die Übersetzungstätigkeit des Weimarer „Palmenordens“ („Fruchtbringende Gesellschaft“) ein. 351 „Sein [scil. Klopstocks] Messias war das erste Gedicht, das durch die gewaltige Fülle seines Inhalts auch die Form des Hexameters genießbar und vielwillkommen machte; in seinen Oden und Hymnen erwarb er fast alle, auch die künstlichsten Metren der Alten für unsere Sprache.“ Prutz, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur (1840), 487. Zu Klopstock s. o. S. 19 f.
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Ende der Übersetzungstheorie? schöpferischen Geist, den wir in Allem ahnen, in Allem suchen, in Allem zum Verständniß und zur Darstellung zu bringen haben. (493)
Damit ist die Geschichte der Übersetzungsliteratur bei Prutz zu ihrem Ziel, der Synthesis von Form und Inhalt, gelangt. Die nachfolgenden Übersetzer – Prutz geht insbesondere noch auf die Brüder Schlegel und auf Solger ein – mussten die einmal gefundene Formel gewissermaßen nur noch nach bestem Vermögen umsetzen. Damit wird aber auch die Problematik seiner Darstellung deutlich: Prutz wollte in seinem Aufsatz in programmatischer Weise seine Auffassung von Literaturgeschichtsschreibung demonstrieren, indem er die Erträge empirischer Forschung auf den Hegel verpflichteten Interpretationsrahmen, d. h. die historische Dialektik von Inhalt und Form, bezog. Damit gelangte er allerdings an einen historischen Endpunkt, an dem die Entwicklung des Übersetzens zum Stillstand gelangt und sich die Frage, „wie denn nun ferner zu übersetzen sei“, letzlich erübrigt: Auf diesem Standpunkt [scil. der Verschmelzung von Form und Inhalt] kann die Frage, wie denn nun ferner zu übersetzen sei, ob in strengster Nachahmung der Antike, ob halb, ob ganz modernisirend, nicht wohl mehr aufgeworfen werden. (494)
Weiter schreibt er: „Die Geschichte geht nie und nirgend rückwärts […]“ (494) – allerdings kann sie auch nicht mehr vorwärts gehen, denn Prutz zieht die Konsequenz, dass die strenge und metrische Übersetzung, wie sie zuerst von Voss ausgebildet wurde, die „geschichtlich nothwendige“ (502) Art des Übersetzens ist, die es nur zu befolgen und zu verfeinern gilt: [D]ie von Voß angeschlagene Weise, immer wieder und immer neu versucht, wird uns endlich doch zu dem wünschenswerthen und möglichen Ziele führen. (502)
Dass auch diese Art des Übersetzens ihre Grenzen hat, erläutert er am Beispiel des Trimeters, der nach wie vor eine der deutschen Sprache fremde, unzugängliche Form sei und letztlich „nur auf historischem Wege der Forschung“ (494) verstanden und dargestellt werden könne. Die Fremdheit dieser Form kann für den Leser durch Erläuterungen und Einleitungen des Übersetzers abgemildert werden.352 Damit nimmt Prutz aber die zuvor beschworene Durchdringung von Form und Inhalt seit Voss wieder zurück und kommt zu dem Schluss, dass die „letzte und höchste Weise, in der das Alterthum in unsere Litteratur übergehen wird“ (504), nicht die formtreue Übersetzung, sondern die dichterische Verschmelzung ist: [M]uß doch der Gelehrte selbst, will er nicht Götzendienst treiben in diesem Heiligthum, wieder hinaustreten unter die Profanen – in unser Volk, unsre Zeit, unser Bewußtsein, und alle historische Kenntniß, alle Vertiefung ins Alterthum soll auch für ihn nur ein Durchgang, eine Bildung für das Leben der Gegenwart gewesen sein. Ihre wahre Bethätigung erlangt all diese Kenntniß des Fremden erst in der Verschmelzung mit dem, was unser ist, – und so wird für jene Profanen das Alterthum nicht in Uebersetzungen, nicht in Trimetern und Chorgesängen wach, sondern da erst, wo ein Dichter, ein Künstler die antike Welt zu freier Production nach unserm und für unser Bewußtsein mit selbständig schöpferischer Kraft verarbeitet: – die Iphigenie von Göthe. (495 f.)
_____________ 352 Dabei bezieht sich Prutz übrigens auch auf Solger, vgl. oben S. 48. Die Notwendigkeit von literaturgeschichtlichen Erläuterungen in Übersetzungen betont auch Boeckh, s. o. S. 93.
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Prutz’ Urteil über die zugrundegelegten neuen Sophokles-Übersetzungen fällt entsprechend aus: Die von einem „Vereine Gelehrter“ vorgelegte Prosafassung ist für ihn unannehmbar. Arnold Ruges Übersetzung bezeichnet er als „Anachronismus“ (502), weil sie dem antiken Stoff die moderne Form lediglich aufheftet. Die freie Übersetzung Marbachs strebt zwar nach einer dichterischen Verschmelzung der griechischen und deutschen Literatur, kann aber das durch Goethe gesetzte Maß dabei nirgends erreichen. So sind schließlich die beiden metrischen, im Vergleich zu älteren Versionen aber weniger schwerfälligen und besser lesbaren Übersetzungen von Georg Thudichum und Johann Jakob Donner diejenigen, die als „vielverheißendes Unterpfand“ (503) künftiger Übersetzungsliteratur die Richtung weisen sollen.
Restitution des metrischen Prinzips um die Jahrhundertmitte Prutz hatte in der Verschmelzung von Form und Inhalt bei Voss das Telos seiner Darstellung gefunden und konnte in der Konsequenz seine Ankündigung, eine Orientierung für das weitere Fortschreiten der Übersetzungsliteratur zu geben, letztlich nicht einlösen. Das Epigonenbewusstsein, das sich in Prutz’ Darstellung einer zum Stillstand gekommenen Übersetzungsgeschichte aussprach, führte in den vierziger und fünfziger Jahren bei anderen zu einer expliziten und dennoch oft von Ambivalenz bestimmten Rückwendung zu Form- und Stilidealen der Vergangenheit, und zwar sowohl in den Übersetzungen selbst als auch in der historisch-kritischen Darstellung. Die Frage der Nachbildung antiker Verse in deutscher Sprache blieb dabei zentral. Johannes Minckwitz Bezeichnend hierfür ist die Traditionslinie, in die sich der Philologe und Übersetzer Johannes Minckwitz353 in seinem Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854) stellte. Danach begann deutsche Verskunst überhaupt erst im 18. Jahrhundert mit der Orientierung an den Alten, das heißt bei Klopstock. Sämtliche früheren Versuche seien, so Minckwitz, „in die Luft gebaut“354 gewesen. Im Weiteren werden Schiller, Goethe und Voss angeführt. Erst August Graf von Platen aber habe das von Klopstock Begonnene „zu einem sicheren und festen Abschlusz, in der Hauptsache wenigstens“355, gebracht. Platens auf zeitlose Schönheit gerichtetes Formbewusstsein trat jetzt als Muster neben, ja vor die Weimarer Klassik und die Voss’sche Übersetzersprache. Im Anschluss daran glaubt Minckwitz in der Literatur der Gegenwart eine erneute Ausrichtung auf die Form zu erkennen: Er verweist dazu auf Emanuel Geibel, der als Bewunderer Platens und Mittelpunkt des Münchner Dichterkreises zweifellos für den nachrevolutionären Rückgriff auf Muster der deutschen Klassik steht,356 und auf Otto Roquette, der mit _____________ 353 Johannes Minckwitz (1812–1885) hatte in Leipzig Philologie studiert, sich aber bald mit Gottfried Hermann und Moritz Haupt, die in der Philologischen Fakultät tonangebend waren, überworfen. Eine Habilitation gelang ihm erst nach Hermanns Tod und Haupts Weggang aus Leipzig. 1861 erhielt er ebenda eine außerordentliche Professur. Minckwitz trat als Übersetzer griechischer Tragödien und Komödien hervor (zuerst Sophokles, 1835–1844) und erlangte damit große Anerkennung, u. a. von August Boeckh. 1845 erhielt er auf Fürsprache Alexander von Humboldts für seine Übersetzungen ein lebenslanges Stipendium des preußischen Königs (300 Taler jährlich) zugesprochen. Vgl. auch unten S. 118 f. 354 Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854), X. 355 Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854), XI. Minckwitz war Platens Nachlass-Verwalter und verstand sich als Anwalt der Platen’schen Dichtung; vgl. u. a. Graf von Platen als Mensch und Dichter. Literaturbriefe (Leipzig 1838) und August von Platen. Poetischer und literarischer Nachlass, gesammelt u. hg. von J. Minckwitz (Leipzig 1853). 356 Geibel (1815–1884) war seit 1852 am bayerischen Hof, s. u. S. 136 ff.
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seinem Erfolgsbuch Waldmeisters Brautfahrt (1851) der Gattung des Versepos eine Renaissance verschaffte,357 erstaunlicherweise aber auch auf Ferdinand Freiligrath, der sich zu dieser Zeit bereits einen Namen mit wirkungsvollen sozialpolitischen Gedichten gemacht hatte, aber dabei eher für Formvielfalt als für Formstrenge steht,358 und schließlich auf Karl Simrock, der als Sammler altnordischer sowie alt- und mittelhochdeutscher Literatur (die Minckwitz als regellos ablehnte!) bekannter ist als durch seine epigonal-romantische Lyrik.359 Der Traditionszusammenhang, den Minckwitz mit diesen Namen herzustellen versuchte, ist für die Situation um die Jahrhundertmitte in zweifacher Hinsicht instruktiv: Er lässt zum einen in der willkürlich erscheinenden Zusammenstellung zeitgenössischer Namen erkennen, dass – zumindest bei Minckwitz selbst – letztlich Indifferenz und schwaches Urteilsvermögen in Fragen der poetischen Form herrschten. Zum anderen verdeutlicht er, dass antikes Versmaß zu dieser Zeit als selbstverständlicher Teil der deutschen Literatur betrachtet wurde. Die Hexameter in Voss’ Homer gehörten nun gewissermaßen dem Kanon der deutschen Originalliteratur an, während man sich umgekehrt bei der Gestaltung von Übersetzungen auf Klopstock oder Platen berief. Dass es grundsätzlich möglich ist, antike Verse in deutscher Sprache nachzubilden, stand außer Frage. (Ob es auch wünschenswert ist, blieb nach der Zäsur von 1848 genauso strittig wie vorher.) Minckwitz befolgte in seinen eigenen Übersetzungen strenge formale Maßstäbe, aber er verstand dies weniger als Nachbildung antiker Formen im klassizistischen Sinn, sondern trat dezidiert als Verwalter des Platen’schen Vermächtnisses auf, dessen „Erneuerung der deutschen Kunst“360 unter dem Aspekt der Form er fortführen wollte. Antikes Versmaß ist hier zwar noch Muster, aber kein überlegenes Muster mehr: [W]ir sehen unsere Sprache auf einen Punkt fortgeschritten, wo sie, soweit es in ihrer Natur liegt, Quantität und Accent vereinigt hat, wie es in der griechischen und römischen Verskunst der Fall ist.361 Es fiel uns aber nicht ein, aus dem Smaragd einen Rubin verfertigen zu wollen, oder die deutsche Sprache zur griechischen um jeden Preis umzuschaffen.362
Auf den eigenen Übersetzungen und seinen Arbeiten zur deutschen Prosodie aufbauend,363 fasste Minckwitz später seine Auffassung in dem Aufsatz Prosa, Poesie, Rhythmus und Übersetzungskunst (1879) zusammen.364 _____________ 357 Otto Roquette (1824–1896). Waldmeisters Brautfahrt erlebte bis zum Ersten Weltkrieg 80 Auflagen. 358 Freiligrath (1810–1876) war zu dieser Zeit Mitarbeiter der Neuen Rheinischen Zeitung und Mitglied des Bundes der Kommunisten. Er trat auch als Übersetzer englischer und französischer Autoren hervor. 359 Karl Simrock (1802–1876) war seit 1850 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Bonn. 360 Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854), V. 361 Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854), XII. 362 Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (1854), XI. 363 Außer dem zitierten Lehrbuch der deutschen Verskunst sind zu nennen: Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache (21858), Katechismus der deutschen Poetik (21877). 364 S. u. S. 119.
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Otto Friedrich Gruppe Minckwitz steht in erster Linie durch den Erfolg seiner zahlreichen Übersetzungen für die Erneuerung des Formprinzips um 1850; den (mit rund 400 Seiten) umfangreichsten und bedeutendsten Versuch zur kritischen Begründung der metrischen Übersetzung lieferte im Jahr 1859 Otto Friedrich Gruppe365 mit seiner Monographie Deutsche Uebersetzerkunst; eine erweiterte Neuauflage erschien 1866. Gruppe nahm in verschiedener Hinsicht in Wissenschaft und Literatur seiner Zeit eine Außenseiterposition ein: In seinen philosophischen Schriften366 bezog er Position gegen Hegel und dessen Schüler, die damals die philosophischen Lehrstühle dominierten; in den philologischen Schriften367 geriet er durch die unverhohlen ästhetischliterarische Perspektive in Widerspruch zur Universitätsphilologie, weshalb er sich auch selbst „nicht eigentlich einen Philologen“368 nennen wollte. Die Deutsche Uebersetzerkunst verstand er, wie der Untertitel (Ein Supplement zu jeder deutschen Litteraturgeschichte) zeigt, als Beitrag zur germanistischen Literaturgeschichtsschreibung. Zur Begründung erläuterte er in einer Vorrede die enge Verflechtung von Literatur- und Übersetzungsgeschichte. Wie zuvor Riemer und Prutz, so betonte auch er – unter Rückgriff auf Formulierungen Goethes und Schleiermachers – den hohen Stellenwert von Übersetzungen für die deutsche Literatur im europäischen Horizont: Die Deutschen sind zufolge ihres Charakters, ihrer ganzen Weltstellung, ja schon der Lage ihres Landes ganz besonders berufen zum Werk des Uebersetzens, und sie haben darüber ihre Eigenheit nicht verloren. Ihnen ward vor allen die Aufgabe, die Vermittler zu sein zwischen den Zeitaltern, unter den Völkern; im Herzen Europas, und mit ihm der bewohnten Erde, ist es für sie ein natürlicher Beruf, alles rund umher an sich zu ziehen und hier in dem Museum einer allgemeinen Weltlitteratur niederzulegen. Die Sprache machte dies möglich und kam entgegen wie keine andere.369
Dennoch ist Gruppes Buch nur mit Einschränkungen als historische Darstellung anzusehen. Eher lässt es sich als Sammlung von kritischen Besprechungen einzelner Übersetzer und Übersetzungen beschreiben, die jeweils durch umfangreiche Textbeispiele ergänzt werden und teils chronologisch, teils nach Autoren und Gattungen angeordnet _____________ 365 Otto Friedrich Gruppe (1804–1876), Philosoph, Philologe, Dichter, hatte in Berlin studiert und war anschließend als Redakteur und Herausgeber (u. a. Deutscher Musen-Almanach, 1851–1855), als Mitarbeiter im preußischen Ministerium für geistliche Angelegenheiten und als außerordentlicher Professor für Philosophie an der Berliner Universität (seit 1844) tätig. Von 1863 bis zu seinem Tod war er Erster ständiger Sekretär der Akademie der Künste in Berlin. Neben philosophischen und philologischen Schriften verfasste er Gedichte und Schauspiele. Vgl. Bernays (2004). 366 Darunter Antäus. Ein Briefwechsel über speculative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache (Berlin 1831). 367 Darunter Ariadne. Die tragische Kunst der Griechen in ihrer Entwickelung und ihrem Zusammenhange mit der Volkspoesie (Berlin 1834) und vor allem Die römische Elegie. Kritische Untersuchungen mit eingeflochtenen Übersetzungen (Leipzig 1838). 368 Gruppe, Die römische Elegie (1838), IV. 369 Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (21866), VI. Vgl. oben S. 62 f. und 96 f.
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sind. Eine Einleitung skizziert, ausgehend von den besonderen Möglichkeiten deutscher Versgestaltung, die Vorgeschichte metrischen Übersetzens bis hin zu Gottsched; die programmatische These aber, die auch die Auswahl der von Gruppe berücksichtigten Übersetzungen bestimmt, wird erst rückblickend in einem der Nachträge expliziert, die Gruppe der zweiten Auflage beigab.370 Hier erläutert er die „Grenze zwischen dem was wir unter Uebersetzerkunst verstehen und verschiedenen andern Arten“ (387), und legt dar, dass die Nachbildung des originalen Versmaßes die wichtigste Bedingung eines als Kunst verstandenen Übersetzens sein muss. Eine Veränderung der Form, so Gruppe in dem genannten Nachtrag, berührt zwangsläufig auch den Inhalt, weil jede Abweichung von der Vorlage immer weitere Abweichungen nach sich zieht: [E]s verschwindet sogleich der Maaßstab für die Treue, der Erneuerer ist zu Abweichungen nicht nur genöthigt, sondern sogar verpflichtet: wir haben nicht mehr Uebersetzung, sondern je nach den Umständen entweder Bearbeitung oder völlige Umdichtung. (387)
Übersetzungen, die frei verfahren und das Versmaß der Vorlage nicht nachbilden, lehnt Gruppe folglich ab – selbst wenn sie dem bewunderten Vorbild der Goethe’schen Iphigenie folgen: Ich bezweifle, es sei das Rechte zu verlangen, daß die Antigone des Sophokles sich ausdrücke wie Goethes Iphigenie […]. (390)
Aus diesem Grund bleiben Übersetzungen von Prosaautoren in seiner Darstellung ebenso unberücksichtigt wie Übersetzungen metrischer Texte in ungebundene Rede oder in von der Vorlage abweichende Versmaße: Weder Wieland noch Schleiermacher, weder Hölderlin noch Seeger werden somit in der Deutschen Uebersetzerkunst besprochen, ein selektives Vorgehen, das den programmatischen Charakter des Buches deutlich macht.371 Ziel der übersetzerischen und metrischen Treue ist für Gruppe weder die Annäherung an das Ideal (wie bei Humboldt) noch die Darstellung eines fremden Kunstwerks (wie bei Solger), sondern das Bewahren des zeitlos Dichterischen der Vorlage und zugleich das Schaffen eines eigenständigen deutschen Kunstwerks. Deswegen sind „Ton“, „Stil“ und „Charakter“ neben dem Versmaß die wichtigsten Kriterien. Ein „tadelnswerthes Uebersetzerdeutsch“ (388) muss vermieden werden. Die Differenz zwischen dem Original und der Übersetzung wird dabei durch das Kunstvermögen des Übersetzers gewissermaßen zum Verschwinden gebracht: Die Kunst beginnt erst da, wo eine Schwierigkeit mit Leichtigkeit und Freiheit überwunden wird […]. Nur wo die Rücksicht auf den Genius der deutschen Sprache sich mit dem
_____________ 370 Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (21866), 387–392. Im Folgenden werden Stellen aus Gruppes Buch jeweils durch in Klammern gesetzte Seitenangaben hinter dem Zitat nachgewiesen. 371 Schleiermacher wird in einem Nebensatz im Zusammenhang von Voss’ Vergil-Übersetzung erwähnt: „Nun aber suchte er [scil. Voss] aus allen Kräften sich dem römischen Geist und Charakter anzuschließen und da wurde nun Virgil für ihn der eigentliche Wendepunkt, nicht nur entscheidend für seine spätere Art, sondern auch verhängnißvoll; er konnte das hier Angelernte nicht wieder loswerden, ähnlich wie es später auch Schleiermacher mit seiner Uebersetzung des Platon und Rückert mit dem Hariri erging, so daß jener von da ab nur noch platonisch, dieser nur noch haririsch schreiben konnte, der Inhalt sei nun auch welcher er wolle.“ Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (21866), 88.
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Ende der Übersetzungstheorie? Charakter und den Formen der alten Poesie vereinigt und ins Gleichgewicht setzt, nur da ist von Kunst des Uebersetzens zu sprechen. (390 f.)
Von diesen im Anhang zur zweiten Auflage dargelegten Prämissen ausgehend, setzt Gruppes Darstellung (alle älteren Übersetzungen übergehend) im 18. Jahrhundert bei Gottsched, den Schweizern und Klopstock ein. Den eigentlichen „Wendepunkt der neuen Uebersetzerkunst“ (77) markiert für ihn die Voss’sche Homerausgabe von 1793, die er im Vergleich mit der ersten Fassung der Odyssee von 1781 ausführlich bespricht. Neben den Fortschritten im deutschen Hexameter hebt er eigens Voss’ poetisch-stilistisches Vermögen hervor: „Vossens Uebersetzung hat Stil, was sich von keiner frühern rühmen ließ“, um zu ergänzen: „aber freilich ist dieser Stil nicht ganz der homerische.“ (83) Die ambivalente Haltung gegen Voss, die er mit Prutz und vielen anderen damals teilte, ist hier auf den Punkt gebracht. Was in der Übersetzung der Odyssee als „warmer und traulicher Ton“ (67) passend erschien, war in der Ilias problematisch und wurde bei allen weiteren Übersetzungen (insbesondere in Voss’ Hesiod, Ovid und Horaz) gänzlich unannehmbar. Wenn durch die metrischen Prinzipien „Stil“ und „Ton“ des Originals verloren gehen, dann wird, so Gruppe, „Treue zur Untreue“ (86). Mit ähnlichen Argumenten lehnt er unter anderen auch Thierschs Pindar-Übersetzung (199 f.)372 oder den Sophokles von Solger (201, 388 und passim)373 ab, die beide nicht einmal gesonderte Besprechung erfahren. Humboldts Aischylos- und Pindar-Übersetzungen werden als Pionierleistungen gewürdigt, auch wenn in ihnen der „Schwung“ und der „eigentliche Guß“ (205) fehlen. So ist es erst die 1839 erschienene Sophokles-Übersetzung Johann Jakob Donners, die Gruppe ohne Abstriche als „Epoche machend“ (210) begrüßt: In der That hat Donner den Deutschen zuerst einen Sophokles gegeben, in welcher [sic] sich die dichterische Composition überblicken und genießen läßt, ohne in jeder Zeile gestört und an gelehrte Arbeit erinnert zu werden. Eben so wenig aber ist hier Modernisirung und die Treue geht so weit, als dem Urheber das Verständniß offen stand. Das Steife und Trockene ist verschwunden und die Sprache des Gefühls kann neben der oft so scharfgefugten, epigrammatisch schlagenden des Gedankens sich geltend machen. (210 f.)
Man kann Gruppes Programm als einen unsystematischen, maßvollen Ästhetizismus verstehen, der die Probleme der Differenz, der Historizität oder der Dialektik von Form und Inhalt zugunsten einer empathischen Lektüre übergeht.374 Dazu gehört, dass Textproben aus Übersetzungen häufig für sich sprechen sollen, dass Übersetzungskritik und -theorie von Goethe bis Prutz aber nahezu keine Rolle spielt. Obwohl das Kryptozitat in der Vorrede („im Herzen Europas“) vermuten lässt, dass Gruppe die Akademierede Schleiermachers kannte, bleibt sie in seiner Darstellung unberücksichtigt. In einem kleinen Kapitel mit dem Titel „Philologische Uebersetzer“ wird deutlich, dass _____________ 372 Zu Thierschs Pindar s. o. S. 30 ff. 373 „[…] im Ganzen muß man sich doch wohl ohne Umschweif sagen, daß der abstracte und metaphysische Solger nicht der Mann war, um einen Dichter zu übersetzen“; Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (21866), 201. Zu Solger s. o. S. 46 ff. 374 Hummel (2004), 24, spricht in diesem Zusammenhang vom „démarche historiographique et empathique en quelque sorte“.
Restitution des metrischen Prinzips um die Jahrhundertmitte
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sein Verständnis von Dichtung und damit auch von Übersetzung prinzipiell antihermeneutisch, antikritisch, antiphilologisch war: Man glaubt einen Dichter übersetzen zu können, auch ohne daß man selbst von einem Dichter etwas an sich habe. Man glaubt das Verständniß der alten Sprache sei die Hauptsache, die Handhabung der eigenen finde sich leicht hinzu. Allein jenes zeigt nur die Aufgabe und trägt nichts bei zur Lösung, alles liegt in dem zweiten Punkt, und leicht könnte sein, daß, was man gewöhnlich von dem Philologen verlangt, hier mehr hindernd als förderlich eintrete. Man übersetzt den Sinn der Worte, aber nicht den Dichter, das Einzelne, nicht das Ganze; über die wörtliche Treue verliert man den Geist, den Hauch. (125)
So bleibt Gruppes Arbeit am Ende vor allem in den Einzelkritiken aufschlussreich, weil seine individuellen Vorlieben Einblick in den Kenntnisstand und die Wertungskriterien der Zeit geben. Wenn er sich in die große Zahl derjenigen einreiht, die Donners Sophokles als Ereignis und neues Muster begrüßten,375 dann wird augenfällig, dass Übersetzer antiker Schriftsteller zur Jahrhundertmitte vor allem im Spannungsfeld von bürgerlichem Literaturbetrieb und historisch-philologischer Wahrnehmung standen. Donners Kompromiss zwischen mimetisch-versgetreuem Übersetzen in der Tradition klassizistischer Übersetzersprache auf der einen und literatursprachlichen Gewohnheiten des Lesepublikums auf der anderen Seite erfüllte offenbar wie bei kaum einem anderen Übersetzer die Erwartungen des bildungsbürgerlichen Lesepublikums an Schriftsteller der Antike. Bezeichnend ist, dass Gruppe den Erfolg Donners wiederholt (212, 391) mit der Antigone-Aufführung im Potsdamer Neuen Palais 1841376 in Verbindung bringt: An beiden Stellen spricht sich ein Bedürfnis aus, antike Tragödie ohne Schleiermachers „Spuren der Mühe“377 oder Humboldts „gewisse Farbe der Fremdheit“378 ohne weiteres zu „genießen“ und dabei trotzdem Zustimmung der Philologen zu haben. Die Arbeiten von Robert Prutz und von Otto Friedrich Gruppe gehören insofern zusammen, als beide den seit den dreißiger Jahren aufkommenden poetisch eindeutschenden Übersetzungen379 ein (neues) Formbewusstsein entgegensetzten, das auf die inzwischen klassisch gewordene deutsche Übersetzungsliteratur zurückgriff und zugleich im bürgerlichen Literaturbetrieb der Jahrhundertmitte verankert war. _____________ 375 Johann Jakob Christian Donner (1799–1875) war Lehrer an verschiedenen schwäbischen Seminaren (Urach, Tübingen, Ellwangen) und seit 1843 in Stuttgart. Nach dem enormen Erfolg des Sophokles trat er 1852 vorzeitig in den Ruhestand und war danach ausschließlich als Übersetzer tätig. Er übersetzte außerdem Juvenal, Persius, Euripides, Aischylos, Homer, Pindar, Aristophanes, Terenz und Plautus, hat aber m. W. seine Arbeit nie öffentlich reflektiert oder Rechenschaft über seine Grundsätze abgelegt. Schon Prutz hatte bedauert, dass Donner die Sophokles-Übersetzung „ganz nackt, ohne Vorwort und Einleitung in die Welt“ geschickt hatte, in: Gruppe, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur (1840), 503. 376 S. o. S. 91. 377 Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 72. 378 Humboldt, Vorrede (1816), XIX. 379 Gruppe, Deutsche Uebersetzerkunst (21866), 388: „Der Gedanke [scil. die Form einzudeutschen] trat besonders lebhaft zu Anfang der dreißiger Jahre hervor, eben im Gegensatz zu der Steifheit der Solgerschen Uebersetzung.“ Gruppe nannte Carl Wünsch (Philoctet, 1830) als Beispiel.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1927 Katja Lubitz
Übersetzungsreflexionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmende Divergenz und Uneinheitlichkeit übersetzungsbezogener Äußerungen – sowohl hinsichtlich ihres theoretischen Anspruchs als auch hinsichtlich ihres jeweiligen Entstehungskontextes, des Adressatenbezugs sowie der verschiedenen Publikationsorte – lässt es geraten erscheinen, die unterschiedlichen Diskussionsebenen des Untersuchungszeitraums durch jeweils gesonderte Betrachtung ähnlich motivierter und qualitativ vergleichbarer Übersetzungsreflexionen sichtbar zu machen. Im Rahmen der in den 1830er Jahren aufkommenden populären Übersetzungsreihen, die teilweise auch umfangreiche Sammlungen antiker Werke umfassen, sind es vor allem die Übersetzer selbst – oftmals philologisch gebildete Vertreter bürgerlicher Berufe –, die ihren Lesern in mehr oder weniger ausführlichen Vor- oder Nachworten die zugrunde gelegten Übersetzungsprinzipien erläutern. Ein Vergleich entsprechender Stellungnahmen kann sowohl programmatische Tendenzen innerhalb einer Übersetzungsreihe als auch Unterschiede und Schwerpunktverschiebungen zwischen verschiedenen Reihen deutlich machen. Dass Übersetzungsentscheidungen oftmals mit Rücksicht auf die Bildungsvoraussetzungen und den Geschmack des bürgerlichen Publikums getroffen werden, lässt sich auch den Übersetzungsreflexionen prominenter Dichter und Literaten der zweiten Jahrhunderthälfte entnehmen. So verhandeln Eduard Mörike und Emanuel Geibel im Zusammenhang mit ihren seinerzeit äußerst populären Lyrik-Anthologien Fragen der Übertragung antiker Dichtung; der Dramatiker und Burgtheaterdirektor Adolf Wilbrandt sucht nach neuen Wegen für eine auf die Verhältnisse der modernen Bühne zugeschnittene Form der Tragödienübersetzung; der Schriftsteller Wilhelm Jordan bemüht sich um eine Homer-Übertragung, die ihre Wirksamkeit insbesondere im öffentlichen Vortrag entfalten soll. Ein weiteres Verhandlungsfeld übersetzungstheoretischer Fragen ist der Bereich des altsprachlichen Unterrichts. Hier bemühten sich die Vertreter der humanistischen Gymnasien, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer immer lauter werdenden Kritik von Seiten der Realschulbefürworter ausgesetzt sahen, im Rahmen von Gymnasialprogrammen, Lehrbüchern und Zeitschriftenaufsätzen unter Berufung auf literaturhistorische, sprachwissenschaftliche und übersetzungstheoretische Erkenntnisse, den bildenden Wert des selbständigen Übersetzens aus den alten Sprachen zu erweisen. Große Differenzen zeigen sich in den Stellungnahmen der Vertreter der altertumswissenschaftlichen Fächer an den Universitäten. Während das Übersetzen von namhaften Philologen wie Gottfried Hermann oder Moriz Haupt als unwissenschaftlich verpönt wird, setzen sich andere über diese Vorbehalte hinweg, indem sie ihren Ausgaben
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Übersetzungsreflexionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
antiker Werke Übersetzungen als legitimes Mittel der philologischen Erklärung beifügen. Eine tiefergehende theoretische Auseinandersetzung mit der Übersetzungsproblematik findet hier jedoch bemerkenswerterweise nicht statt. So ist es denn vor allem die berühmte Einleitung, die Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1891 seiner Übertragung des Euripideischen Hippolytos voranstellte, die – in Verbindung mit seinen erfolgreichen, ganz auf verständliche Vermittlung hin angelegten Übersetzungen griechischer Tragödien – in der Folgezeit die größte Wirksamkeit entfaltete. Aus der kritischen Auseinandersetzung mit Wilamowitz’ Übersetzungstheorie und -praxis entwickelten schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Autoren wie Rudolf Borchardt oder die George-Anhänger Kurt Hildebrandt und Norbert von Hellingrath eigene Konzepte für eine auf Distanz zum Original bedachte, literarischen Eigenwert beanspruchende Übersetzung antiker Werke. Als systematischster und nachhaltigster Beitrag ist in diesem Zusammenhang Rudolf Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ anzusehen.
Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen Hatte das deutsche Lesepublikum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch eine intellektuelle Minderheit dargestellt, so bildeten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts – begünstigt durch den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg des Bürgertums und durch die zunehmende Demokratisierung des Zugangs zu den Bildungseinrichtungen – innerhalb weniger Jahrzehnte vollkommen neue Leserschichten heraus. Insbesondere den Frauen kam hier eine wichtige Rolle zu. Die Verlage konnten der stetig steigenden Nachfrage dieses enorm gewachsenen Leserkreises nach neuem Lesestoff vor allem deshalb nachkommen, weil technische Innovationen mittlerweile eine kostengünstige Massenproduktion von Büchern erlaubten. So wurden zahlreiche preiswerte LiteraturReihen auf den Markt gebracht, deren qualitatives Spektrum sich von anspruchslosen Groschenheften und fabrikmäßigen Schnellübersetzungen der neuesten „ausländischen“ Romane über unkommentierte Nachdrucke der beliebtesten deutschen „Klassiker“ bis hin zu ambitionierten Verlagsprogrammen erstreckte, die einem möglichst breiten, nicht mehr ausschließlich humanistisch gebildeten Publikum die Werke antiker Autoren in Form von Neuübersetzungen und populärwissenschaftlichen Einführungstexten zugänglich machen sollten.1 Da vielen Lesern die sprachlichen Voraussetzungen für die Lektüre der griechischen oder lateinischen Originaltexte fehlten, avancierte die Übersetzung allmählich zu einer als gleichberechtigt betrachteten Stellvertreterin des Originals. Eine der ersten Reihen, die sich dezidiert auf Übersetzungen antiker Literatur spezialisierte, erschien von 1827 an im Stuttgarter Metzler-Verlag. Unter den Titeln Griechische bzw. Römische Prosaiker in neuen Uebersetzungen und Griechische bzw. Römische Dichter in neuen metrischen Uebersetzungen brachten der Stuttgarter Schriftsteller und Pfarrer Gustav Schwab – bekannt auch als Verfasser der Schönsten Sagen des klassischen Altertums –, der Tübinger Gräzist Gottlieb Lukas Friedrich Tafel und der Stuttgarter Gymnasialprofessor Christian Nathanal Osiander Übersetzungen der Werke von 90 antiken Autoren in insgesamt 749 Oktavbändchen heraus. Dabei wurden „neben Aeschylos und Aristoteles, Caesar und Cicero, Homer und Livius, Platon und Terenz auch entlegene Namen wie Ammian und Cebes, Kallistratus und Parthenius, Polyaen _____________ 1
Einen historischen Überblick über die marktstrategischen und produktionstechnischen Voraussetzungen der literarischen Massenproduktion am Beispiel Württembergs, insbesondere Stuttgarts, gibt Wittmann (1982), v. a. 357–364.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
und Silius“2 in das Programm aufgenommen.3 Zum Übersetzerkreis gehörten neben den Herausgebern der Reihe und Klassischen Philologen wie Wilhelm Sigmund Teuffel, Johannes Minckwitz oder der spätere Initiator der Realenzyklopädie August Pauly auch zahlreiche Vertreter anderer Fachrichtungen, die großenteils ebenfalls aus Württemberg stammten, so der Pfarrer Gustav Ludwig, der Literaturhistoriker und spätere Weimarer Bibliothekar Adolf Schöll und die Gymnasiallehrer Wilhelm Adolf Boguslaw Hertzberg4 und Karl Friedrich Schnitzer. Für den Chronisten des MetzlerVerlages Reinhard Wittmann stellt die Sammlung angesichts der seinerzeitigen, „heute kaum mehr nachvollziehbare[n] Bedeutung“ der klassischen Bildung für das Sozialprestige einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgeschichte des deutschen Bürgertums zwischen 1830 und 1880 dar.5 Auch Otto Borst bezeichnet in seiner Geschichte der Stadt Stuttgart die „monumentale Bibliothek griechischer und römischer Prosaiker und Dichter in Übersetzungen unter Assistenz von Pfarrern und Gymnasiallehrern, von Forstmeistern und Apothekern aus dem ganzen Lande“ als ein „im deutschen Sprachraum bis heute unübertroffenes Unternehmen“6. Während die meisten Übersetzungen der Metzler-Reihe mit ausführlichen Einleitungen, oft sogar mit detaillierten stilistischen und metrischen Analysen des Originalwerkes sowie mit umfangreichen Anmerkungsapparaten ausgestattet sind, finden sich übersetzungstheoretische Reflexionen nur in wenigen Übersetzervorreden. Als programmatisch lässt sich jedoch allgemein der Zusatz „in neuen metrischen Übersetzungen“ verstehen, der dem Reihentitel bei den Dichterübersetzungen beigegeben ist. Die Bezeichnung „metrisch“ kann in diesem Fall der von Donner u. a. geprägten Wendung „in den Versmaßen der Urschrift“ gleichgesetzt werden. Neben der genauen Nachbildung der antiken Metren legen die meisten Übersetzer der Reihe, sofern sie sich zu ihrer Übersetzungsstrategie äußern, auch Wert auf eine möglichst wortgetreue Übertragung des Originals.7 Als typischer Repräsentant der Metzler’schen Linie und zugleich als einer der wenigen Vertreter der Reihe, die zu ihren Übersetzungsprinzipien auch dezidiert Stellung beziehen, ist Johannes Minckwitz8 zu nennen. In vier aufeinander bezogenen Übersetzervorreden9 erläutert er eingehend seine vier Grundanforderungen an eine _____________ 2 3
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Wittmann (1982), 397 f. Zur Metzler-Reihe s. auch Fallbacher (1992), 22 f. Ab 1827 erschienen 355 Bändchen der griechischen und 242 Bändchen der römischen Prosaiker, ab 1830 75 Bändchen griechischer und 77 Bändchen römischer Dichter; vgl. Wittmann (1982), 397. Eine ausführliche Besprechung der zuerst erschienenen Prosa-Reihe findet sich in der Allgemeinen Schulzeitung vom 25.8.1827; vgl. anonym, [Rez.] Ueber die zu Stuttgart bei J. B. Metzler erscheinende Sammlung (1827). Zu Hertzberg s. auch u. S. 158 Anm. 243. Vgl. Wittmann (1982), 398. Borst (1973), 211. Vgl. u. a. Ludwig, Einleitung und Vorrede (1837), 24: „Ich kann nur eine solche Uebersetzungsmethode als die richtigste anerkennen, welche sich bestrebt, eine wörtlich treue, dem Original so eng als möglich sich anschließende Uebertragung in unsere so biegsame und für alle Wendungen empfängliche Muttersprache zu liefern.“ Zu Minckwitz s. auch o. S. 106 f. Vgl. Minckwitz’ Vorreden zu den „Bändchen“ 4 bis 7 seiner Sophokles-Übertragungen (1843–1844), die als zusammenhängende Abhandlung anzusehen sind, allerdings neben der Darlegung der zu-
Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen
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gute Übersetzung. Sie lauten: 1. poetischer Schwung, 2. Klarheit der Rede und Deutlichkeit, 3. Sinnrichtigkeit, 4. Korrektheit der Sprache und Richtigkeit des Rhythmus.10 Die Forderung nach poetischem Schwung bezieht sich vor allem auf das Erfassen des individuellen Tons des zu übersetzenden Autors, der Stilhöhe, der Sprachmelodie und des Rhythmus: Sophokles soll „in seiner eigenthümlichen Erscheinung wiedergegeben werden“11. Deutlichkeit und Verständlichkeit sollen durch größtmögliche Wörtlichkeit erreicht werden. Dazu müsse man „Gedanken für Gedanken, Satz für Satz, Wendung für Wendung, Bild für Bild“12 übertragen, soweit dies „mit dem Geschmack und dem Standpunkt der heutigen Welt“13 zu vereinbaren sei. Minckwitz warnt jedoch auch vor einem allzu wörtlichen Übersetzen, das wiederum sinnverfälschend wirken könne, z. B. bei der Wiedergabe von Sprichwörtern. Als Voraussetzung für eine sinnrichtige Wiedergabe führt Minckwitz die sichere Beherrschung von Ausgangs- und Zielsprache an.14 Die Übersetzung solle dem Sinn des Urtextes „auf das Genaueste“ entsprechen; sie dürfe nicht mehr und nicht weniger bieten und müsse hier den „richtigen Mittelweg“ einhalten.15 Aufgabe des Übersetzers sei es zudem, sich stets Rechenschaft über die gewählten Lesarten und Erklärungen abzulegen, da eine gute Übertragung stets auch „kritischen Werth“ haben müsse.16 Schließlich dürfe eine Übersetzung weder grammatikalische Regelwidrigkeiten oder aufgezwungene Gräzismen aufweisen noch dürfe der Rhythmus nur nach rein äußerlichen Gesichtspunkten nachgebildet werden. Vielmehr seien Zäsuren und andere metrische Elemente an die von Sprache zu Sprache unterschiedlichen rhythmischen Erfordernisse anzupassen.17 Als vorbildhaft werden hier die Verse Platens genannt, der die fremden Rhythmen „für den Deutschen mundgerecht“ gemacht habe.18 Als übersetzungstheoretische Autoritäten werden von den Übersetzern der Metzler-Reihe vor allem Friedrich Schleiermacher19, Wilhelm von Humboldt20 und Johann _____________
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grunde gelegten Übersetzungsprinzipien auch viel Polemik gegen andere Übersetzer (v. a. Droysen) und Rezensenten (Adolf Schöll) enthalten. Minckwitz’ Ausführungen sind nicht in allen Auflagen der Sophokles-Übertragungen zu finden; sie fehlen beispielsweise in der Ausgabe von 1853. Eine weitere Zusammenfassung seiner Übersetzungsprinzipien legte Minckwitz in dem Aufsatz Prosa, Poesie, Rhythmus und Übersetzungskunst (1879) vor. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Philoktetes] (1843), 389. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Philoktetes] (1843), 390. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Elektra] (1844), 522. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Elektra] (1844), 522. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Die Trachinerinnen] (1844), 643. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Die Trachinerinnen] (1844), 643 f. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Die Trachinerinnen] (1844), 645 f. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Oedipus auf Kolonos] (1844), 763 f. Vgl. Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles, Oedipus auf Kolonos] (1844), 768. Gustav Ludwig verweist in der Einleitung zu seiner Euripides-Übertragung auf die „treffliche, wie es scheint nicht genug gekannte Abhandlung […] über die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ seines Lehrers Schleiermacher; Ludwig, Einleitung und Vorrede (1837), 24 Anm. *. Minckwitz kritisiert die 1832 erschienene Aischylos-Übersetzung Johann Gustav Droysens, da dieser „die Ansichten seines Vorgängers Wilhelms von Humboldt, die er in der Vorrede zum Agamemnon
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
Heinrich Voss21 angeführt. Dass man sich jedoch mit diesen Prinzipien einer klassizistisch-mimetischen Übersetzungspraxis22 bereits gegen Ende der 1830er Jahre in der Defensive sah, lässt die folgende Äußerung des Euripides-Übersetzers Gustav Ludwig vermuten: Manches Vorurtheil gegen metrische Uebersetzungen in der antiken Form kommt daher, weil man sie nicht als Kunstwerk betrachtet, weil man nicht einsieht, daß hier die Form gleich wesentlich mit dem Inhalte ist. – Man will einen schnellen ästhetischen Genuß, anstatt musikalisch zu lesen, liest man nur mechanisch, und bedenkt nicht, daß ein solches Lesen auch dem Eingeweihten in der Ursprache nicht möglich ist.23
Zwar erlebten diverse Metzler-Übersetzungen bis zum Verkauf der Reihe im Jahr 1892 an den Ulmer Verleger Heinrich Kerler noch mehrere Neuauflagen, die Erweiterung des Programms durch neue Übertragungen war aber offenbar schon in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre an ein Ende gelangt.24 Im Jahr 1855, also etwa zeitgleich mit dem allmählichen Auslaufen der Metzler-Reihe, wurde, ebenfalls in Stuttgart, ein weiteres übersetzerisches Großprojekt in Angriff genommen: die von Carl Hoffmann begründete und später von der Langenscheidtschen Verlags-Buchhandlung aufgekaufte Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Muster-Übersetzungen. An dieser Reihe beteiligten sich „im Laufe von ca. 30 Jahren etwa 50 Philologen ersten Ranges bzw. Autoritäten des Faches“25, so dass die 1884 in Langenscheidt’sche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker umbenannte Reihe nach ihrem Abschluss nicht weniger als 110 Bände umfasste.26 Zur übersetzerischen Konzeption geben die Vorreden oder Einleitungstexte der Einzelbände, sofern überhaupt vorhanden, kaum Auskunft. Stattdessen geht jeder Übersetzung ein zweiseitiger Standardtext mit dem Titel „Einige Winke für die Benutzung der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker“ voran,27 der wiederum in einer Fußnote auf einen um 1885 _____________ 21
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dargelegt, mißachtete, aber auch weit hinter diesem zurückgeblieben ist.“ Minckwitz, Vorrede [zu Sophokles,König Oedipus] (1835), 6. Im Vorwort zu seiner Properz-Übersetzung gibt Wilhelm Adolf Boguslaw Hertzberg zu Protokoll, dass er „in Betreff der Metrik im Ganzen den von J. H. Voß aufgestellten Grundsätzen gefolgt“ sei; Hertzberg, Vorwort, (1838), 1. S. o. S. 24, 74 u. passim. Ludwig, Einleitung und Vorrede (1837), 26. Dies gilt zumindest im Hinblick auf die antiken Dichter. Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur [um 1885], 10. Zu den Übersetzern der Reihe gehörten u. a. Johann Jakob Christian Donner, Wilhelm Binder, Eduard Mörike, Friedrich Notter, Johannes Minckwitz und Eduard Eyth. Jeder Einzelband enthält auf den ersten beiden Seiten jeweils eine alphabetische (nach antiken Autoren geordnete) und eine systematische Übersichtstafel über alle in der Reihe erschienenen Werke. Die „systematische Inhaltsübersicht“ weist, ähnlich wie die Metzler-Reihe, eine Einteilung in vier Gruppen auf: Bde. 1–19 „Griechische Dichter“; Bde. 20–61 „Griechische Prosaiker“; Bde. 62–76 „Römische Dichter“; Bde. 77–110 „Römische Prosaiker“. Diese „Winke“ beziehen sich 1. auf die „Reihenfolge der Lektüre“, wobei die übersetzten Autoren in fünf Schwierigkeitsstufen eingeteilt sind, die möglichst nacheinander abgearbeitet werden sollten,
Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen
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von Erwin Rex verfassten Begleitband zu der Reihe verweist.28 Im ersten, durch zahlreiche unterstützende Zitate prominenter Persönlichkeiten angereicherten Kapitel dieser Schrift,29 überschrieben mit „Wert und Nutzen der Lektüre der Klassiker“30, gibt Rex Auskunft über die Konzeption der Reihe und betont vor allem die volksbildende Funktion von Übersetzungen, die weiten Bevölkerungsschichten erstmals den Erwerb klassischer Bildung, die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, das Verständnis für und die Verständigung über die historischen Wurzeln der eigenen Kultur ermöglichen würden: Die Kluft, welche bisher die klassisch Gebildeten von dem übrigen Teile des deutschen Volkes schied, ist nunmehr [scil. nach Abschluss der Langenscheidt’schen Klassiker-Bibliothek] im Dienste wahrer geistiger Freiheit und Gleichheit überbrückt.31
Die Langenscheidt-Reihe wandte sich demgemäß vor allem an „strebsame[n], sich selbst weiterbildende[n] Deutsche[n]“ und hat sich zum Ziel gesetzt, „die Urtexte ‚vor allem sinngetreu, dann in gutem Deutsch, und endlich möglichst wörtlich bzw. in den Versmaßen des Urtextes‘ wiederzugeben“32. Damit deutet sich bereits eine gewisse konzeptionelle Schwerpunktverlagerung gegenüber der älteren Metzler-Reihe an. Während diese die „metrischen“ Übersetzungen noch im Titel führte, findet sich die wörtlich-metrische Nachbildung des Originals in der Langenscheidt’schen Prioritätenliste erst an dritter Stelle wieder. Die stärkere Hinwendung zu einer ästhetisch ansprechenden, eher sinn- als form- und wortgetreuen Art des Übersetzens lässt sich auch an anderen Nuancen ablesen. Hatte Gustav Ludwig in der Einleitung zu seiner bei Metzler erschienenen Übertragung der Phönikierinnen noch ganz im Sinne seines Lehrers Schleiermacher Wert darauf gelegt, dass an einer Übersetzung immer auch „etwas Fremdes“ bleibe, da es „mit zum Kern der antiken Schönheit“ gehöre, „den wir nicht zerschlagen und modern umkleiden dürfen“33, so wird bei Rex die Forderung zum Ausdruck gebracht, Übersetzungen antiker Werke sollten „nichts für das moderne Gefühl allzu Fremdartiges oder gar Abstoßendes haben“. Der grundsätzlichen Möglichkeit des Übersetzens, insbesondere des Übersetzens antiker Werke ins Deutsche, steht man bei Langenscheidt sehr optimistisch gegenüber, denn die deutsche Sprache sei durch ihren „großen Reichtum“, ihre „Biegsamkeit“ sowie ihre „Fülle und _____________
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2. auf „Erklärende Noten“, die der Erleichterung der Lektüre und ihres Verständnisses dienen, und 3. auf die „Betonung“ antiker Namen und Termini, die im Übersetzungstext durch Betonungszeichen markiert sind. Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur. Mit besonderer Berücksichtigung der Langenscheidt’schen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen MusterÜbersetzungen [um 1885]. Hinter dem Pseudonym Erwin Rex verbirgt sich der Schriftsteller Paul Langenscheidt (1860–1925), Sohn des Verlagsgründers Gustav Langenscheidt, der unter diesem Namen auch zahlreiche deutsche Dramen, Schwänke und Romane verfasste. Zitiert werden sowohl ältere deutsche Schriftsteller wie Goethe, Schiller, Herder und Lessing als auch zeitgenössische Autoren und Übersetzer wie Hermann Bahr, Jakob Mähly und Fritz Bindseil. Vgl. Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur [um 1885], 3–13. Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur [um 1885], 12. Vgl. Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur [um 1885], 10. Die Quelle des Binnenzitats ist nicht angeführt. Ludwig, Einleitung und Vorrede (1837), 25.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
Vielseitigkeit“ in der Lage, „Inhalt und Form eines fremden Idioms mit einer Treue wiederzugeben, wie keine andere lebende Sprache der Welt“. Die Langenscheidt’sche Bibliothek will ihren Lesern daher nichts geringeres bieten, als einen so treuen „Ersatz für die Originale der Meisterwerke der Alten“ wie er „keiner anderen Nation gegenüber möglich wäre“.34 Weniger ambitioniert als die von Metzler und Langenscheidt aufgelegten Übersetzungsreihen antiker Klassiker erscheint die Aufnahme von Übersetzungen antiker Autoren in Reclams Universal-Bibliothek, die 1867 vom Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig begründet worden war.35 Die Übertragungen antiker Werke stellten nur einen Teilbereich des äußerst umfangreichen Verlagsprogramms dar,36 das neben deutschen Klassikern und zeitgenössischen Autoren auch zahlreiche Übersetzungen aus den verschiedensten modernen Sprachen37 umfasste. Bei den Übersetzungen der 45 antiken Autoren, die ein um 1880 gedrucktes Verzeichnis der bei Reclam erschienenen „Griechischen und Römischen Klassiker“ aufführt, handelt es sich vielfach um Neuauflagen älterer renommierter Übertragungen, wie z. B. die Voss’sche Ilias (ca. 1870).38 Bemerkenswert ist jedoch, dass auch die jüngeren Euripides-Übertragungen wie Iphigenie in Tauris (um 1875) und Medea (um 1880) von Paul Martin – beide mit dem Titelzusatz „moderner Form sich nähernd“ –, F. Tiros Hekabe (um 1880) und Konrad Wernickes Ion (1896) spätestens in den 1920er Jahren durch die älteren, am Versmaß der Urschrift festhaltenden Übertragungen J. J. C. Donners ersetzt wurden.39 Anders als die zumeist ausführlich eingeleiteten und kommentierten Übersetzungsbände der heutigen Reclam-Reihe beschränkten sich die frühen Ausgaben in der Regel auf die reine Wiedergabe des Übersetzungstextes, so dass sich über eine gezielte _____________ 34 35
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Die vorangehenden Zitate finden sich in Rex, Abriß der Geschichte der antiken Litteratur [um 1885], 10. Die am 9. November 1867 in Kraft getretene Regelung, die dem Werk deutscher Autoren eine 30-jährige Schutzfrist garantierte, führte zugleich „zum Gemeinfreiwerden der wichtigsten deutschen Klassiker wie Lessing, Schiller oder Goethe“ und ermöglichte es damit zahlreichen Verlagen, preiswerte Klassiker-Reihen auf den Markt zu bringen. Vgl. Max (2003), 9 f. Eine frühe Publikumsanzeige bezeichnet die Reihe als eine „Sammlung von Einzelausgaben allgemein beliebter Werke“, die in regelmäßiger Folge erscheinen sollen. In die Sammlung sollten auch Werke, „denen das Prädikat ‚classisch‘ nicht zukommt, die aber nichts destoweniger sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen“ aufgenommen werden. Damals wie heute verfolgte der Reclam-Verlag in seiner Programmgestaltung das Prinzip der Mischkalkulation, d. h. der „Mischung von gutgängigen und also lukrativen Titeln mit literaturhistorisch wichtigen, oft aber durchaus nur zäh verkäuflichen Titeln“; vgl. Max (2003), 10 ff. Zu den übersetzten Autoren gehörten u. a. Shakespeare, Racine, Corneille, Molière, Cervantes, Calderon, Goldoni, Goldsmith, Holberg, Lesage, Puschkin oder Longfellow; vgl. Max (2003), 11. Auch Friedrich Langes Herodot (1885), Schleiermachers Platon (ab 1877), Wielands Lukian (1878) und Humboldts Agamemnon-Übersetzung (1874) – immerhin mit Abdruck der übersetzungstheoretisch bedeutsamen Vorrede – wurden übernommen. Die Homer-Übersetzungen von Voss fanden sich noch bis 1979 im Programm des Reclam-Verlages, bevor sie durch Roland Hampes Neuübertragung abgelöst wurden. Iphigenie bei den Taurern (1926), Medea (1925), Hekabe (1930), Ion (1930).
Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen
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übersetzungstheoretische Konzeption oder über dahinterstehende allgemeine Motive der Reihe keine Aussagen treffen lassen. Eine weitere Literatur-Reihe, die neben klassischer und moderner, deutscher und europäischer Literatur auch Übersetzungen antiker Werke im Programm führte, stellte die „Deutsche Hand- und Hausbibliothek“ der Stuttgarter Collection Spemann dar, die in ca. 295 Bänden zwischen 1881 und 189140 erschien. Die in dieser Reihe publizierten Übersetzungen antiker Werke beschränken sich auf die prominentesten griechischen und römischen Autoren. Oftmals handelt es sich um Neuübersetzungen, u. a. von Jakob Mähly (Aischylos, Euripides, Plutarch), Viktor Pfannschmidt (Sophokles) oder G[eorg?] Heß (Platon), aber auch der Voss’sche Homer oder die Tacitus-Übersetzung von Wilhelm Bötticher (urspr. 1831–1834) wurden in überarbeiteter Form in die Sammlung aufgenommen. Einige Bände enthalten im Rahmen von Einleitungstexten auch Stellungnahmen der Übersetzer, aus denen sich der konzeptionelle Ansatz der Reihe erschließen lässt. So kann die von Viktor Pfannschmidt in der Einleitung zu seiner zweibändigen Übersetzung ausgewählter Sophokles-Tragödien formulierte übersetzerische Zielsetzung durchaus als programmatisch für die Gesamtreihe gelten: „Die vorzüglichsten dieser Meisterwerke sollen hier dem gebildeten deutschen Publikum in einer neuen Uebertragung dargeboten werden, die sich in wesentlichen Stücken von den bisher vorhandenen unterscheidet.“41 Deutlich wendet Pfannschmidt sich gegen die bisherige Praxis des Übersetzens „in den Versmaßen der Urschrift“, das auf „den unbefangenen Leser, der den griechischen Text nicht kennt oder nicht mehr kennt“, häufig den Eindruck von „Schwerfälligkeit und Steifheit“ mache und deshalb „einen reinen und freien Genuß“ verhindere. Das strenge Festhalten an diesem Prinzip führe letztendlich dazu, dass entweder der „Genius der deutschen Sprache“ oder die „poetische Schönheit“ Schaden nehme. Pfannschmidt empfiehlt daher, den jambischen Trimeter durch den fünfhebigen Jambus und die griechischen Chormetra durch Versmaße und Rhythmen zu ersetzen, „welche der deutschen Sprache angemessen und jedem Leser aus deutschen Poesien bekannt sind“.42 Als Schmuckelement des deutschen Verses dürfe auch der Reim verwendet werden.43 Auch Jakob Mähly verzichtet in seinen Aischylos-Übertragungen auf die Nachahmung der originalen Versmaße in den Chorgesängen, da entsprechende Versuche höchstens „für Philologen und geschulte Metriker“ interessant seien, für ein weiteres Publikum jedoch „keinen Sinn und keinen Wert“ hätten und nur „den unmittelbaren ästhetischen Eindruck“ erschwerten. Er entscheidet sich deshalb ebenfalls für „einfa-
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Der genaue Erscheinungsverlauf war nicht sicher zu ermitteln. Die Angabe stützt sich auf Vermerke im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin und im Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK). Pfannschmidt, Leben des Sophokles [1883], 14. Die vorangehenden Zitate finden sich in Pfannschmidt, Leben des Sophokles [1883], 14 f. Vgl. Pfannschmidt, Leben des Sophokles [1883], 16.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
chere, gemeinverständliche Metra“ und versucht vor allem im Prometheus, „durch Anwendung des Reims den Ausfall der Originalmaße einigermaßen zu ersetzen“.44 Selbst die in die Sammlung aufgenommenen versgetreuen Homer-, Vergil- und Ovid-Übertragungen von Johann Heinrich Voss werden in den Einleitungstexten der Herausgeber und Bearbeiter einer kritischen Prüfung unterzogen. So vertritt Hans Dütschke, der Bearbeiter von Voss’ Vergil-Übersetzung, die Auffassung, dass bereits der von Voss entwickelte „Stil – fast möchte man sagen, eine Manier“ zur Wiedergabe der homerischen Epen „dem Genius unsrer Sprache wenig entsprach“; für die Übertragung von Vergils Aeneis erscheint er ihm jedoch vollkommen ungeeignet: „Bei der sklavischen Nachahmung der römischen Sprache bis in die Feinheiten und Freiheiten Vergilianischer Syntax hinein verlor J. H. Voß fast ganz den Standpunkt eines Uebersetzers überhaupt“. Die Vergil-Übersetzung sei stellenweise „eine Verrenkung der Sprache“ und führe zu einer „Verdunkelung des Originals“.45 Zu einem ähnlichen Urteil gelangt kein geringerer als Friedrich Leo, dessen Bearbeitung der Voss’schen MetamorphosenÜbertragung 1883 in der Reihe erschien. Die Metamorphosen gehörten, so Leo, in die „zweite Periode von Voß’ Uebersetzungsarbeiten“, in der dieser „zwar noch nicht mit handwerksmäßiger Routine die alten Poeten ohne Ansehn der Person verdeutschte, aber doch schon vielfach dazu gelangte, vor der Anwendung seiner hochausgebildeten Technik andre ästhetische Forderungen und selbst die Beobachtung der poetischen Eigenart seines Originals zurücktreten zu lassen“.46 Im Hinblick auf das „Verständnis des Originals“ , den „Fluß der Verse“ und die „Kraft und Schönheit der Sprache“ verdiene Voss’ Metamorphosen-Übersetzung zwar „hohes und uneingeschränktes Lob“, ohne eine Neubearbeitung sei sie jedoch „für den heutigen Leser nicht genießbar“.47 Obwohl ein aus dem Jahr 1912 stammendes Verzeichnis aller 320 bisher erschienenen Bände der Cotta’schen Bibliothek der Weltliteratur, der 1882 begründeten KlassikerReihe des Stuttgarter Cotta-Verlages, lediglich fünf Übersetzungen antiker Autoren aufweist,48 enthalten immerhin zwei dieser Bände ausführlichere Stellungnahmen des Übersetzers bzw. Herausgebers zu den jeweils maßgebenden Auswahlkriterien und _____________ 44 45 46 47
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Die vorangehenden Zitate finden sich in Mähly, Einleitung [1883], 16. Die vorangehenden Zitate finden sich in Dütschke, Einleitung [1884], 22. Vgl. Leo, Einleitung [1883], 23. Vgl. Leo, Einleitung [1883], 23 f. In seiner Bearbeitung bemüht sich Leo vor allem darum, „Schrullen und Bizarrerien in Bildung und Gebrauch der Wörter“, „Härten und Undeutlichkeiten im Ausdruck“ sowie „undeutsche Satzwendungen“ aus der Übersetzung zu eliminieren, wenn nötig auch „auf Kosten der metrischen Korrektheit im Vossischen Sinne“. Größere Freiheiten gestattet er sich auch bei der „Anwendung ‚trochäischer‘ Versfüße, besonders an vierter Stelle“, gegen die Voss sich in seiner Zeitmessung der deutschen Sprache (1802) noch entschieden verwahrt hatte; vgl. Leo, Einleitung [1883], 24. Aischylos (in Auswahl) übersetzt von L. Graf zu Stolberg, Homer in der Voss-Übersetzung, Horaz’ Sämtliche Dichtungen übersetzt von E. Günther und Chr. M. Wieland, Sophokles’ Sämtliche Werke in der Übersetzung von Leo Türkheim und ein Wiederabdruck der Aristophanes-Übertragungen von Ludwig Seeger; vgl. Verlags-Katalog der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger (1912), Sp. 28.
Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen
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Übertragungsgrundsätzen.49 Da diese Kriterien jedoch in wesentlichen Punkten stark differieren, lässt sich vermuten, dass der Verlag selbst kein programmatisches Übersetzungskonzept verfolgte, sondern den Übersetzern weitgehend freie Hand ließ. So erklärt Leo Türkheim im Vorwort zu seiner Sophokles-Übersetzung das Verfahren, den griechischen Trimeter der tragischen Dialogpartien durch den deutschen Blankvers zu ersetzen, für überholt und fordert stattdessen die Nachbildung der antiken Versmaße nach dem Vorbild Goethes und Platens.50 Wilhelm Schmid dagegen erhebt in der Einleitung zur Neuauflage der Seeger’schen Aristophanes-Übertragung die Übersetzungsmethode Wielands zum Ideal, die sich eben durch das Verwenden des Blankverses auszeichnet und erst durch Seeger wieder zu ihrem Recht gekommen sei, nachdem dieser „den Bann Voßscher Buchstabenverehrung gebrochen“ habe.51 Abschließend sei auch noch auf die Übersetzungsreihe Klassiker des Altertums hingewiesen, die in zwei Reihen zunächst im München-Leipziger Müller-Verlag, später im Berliner Propyläen-Verlag erschien.52 Die „erste Reihe“ beschränkte sich vor allem auf Bearbeitungen älterer Übertragungen vorwiegend des 18. Jahrhunderts53 und liefert insgesamt nur wenige Hinweise auf übersetzungstheoretische Reflexionen. Lediglich im Vorwort Heinrich Conrads zum ersten Band der Reihe, Plutarchs Vermischten Schriften in der Übersetzung von Johann Friedrich Salomon Kaltwasser, findet sich eine kurze, zudem recht unpräzise Stellungnahme zum Verlagsprogramm: „Der Verlag hat sich die edle Aufgabe gestellt, das kostbare Vermächtnis des klassischen Altertums in einer des Inhalts würdigen Form darzubieten.“54 Die ausgewählte Plutarch-Übersetzung Kaltwassers nimmt für Conrad „unter allen vorhandenen den ersten Rang“ ein; sie versuche, nach der Selbstaussage des Übersetzers, „die beiden Hauptpflichten eines Übersetzers, dem Originale treu zu bleiben und der Muttersprache durch die Eigenhei_____________ 49
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Ein Werbetext des Cotta-Verlages von 1910 lässt verlauten, dass die bislang „unübertroffen[e]“ Stellung der Reihe „durch sorglosen Abdruck älterer Originalwerke und Übersetzungen“ nicht hätte „errungen und behauptet“ werden können, so dass man „bewährte Kenner der so verschiedenartigen Literaturerzeugnisse“ mit der „Revision der Texte“ und der „Ausarbeitung von Einleitungen“ beauftragt habe; vgl. Seeger, Aristophanes’ Werke (1910), Bd. 1, s. p. [273] f. Vgl. Türkheim, Vorrede [um 1889]. Vgl. Schmid, Aristophanesübersetzungen (1910), 17 f. u. 20 f. Der Einleitungsteil der Neuauflage enthält neben Schmids allgemeinem Überblick über die Geschichte der Aristophanesübersetzungen (13–22) eine von Hermann Fischer verfasste Seeger-Biographie (5–12) sowie einen Wiederabdruck von Seegers ursprünglichem Einleitungstext Epistel an einen Freund (23–38). Zu Seeger s. auch o. S. 80–85. Klassiker des Altertums / Erste Reihe, ausgew. u. hg. v. Heinrich Conrad, München/Leipzig: Müller, später: Berlin: Propyläen, Erscheinungsverlauf (lt. Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin): 1. 1911– 27. 1918[?]; Klassiker des Altertums / Zweite Reihe, ausgew. u. hg. v. Hanns Floerke, Berlin: Propyläen, früher: München/Leipzig: Müller, Erscheinungsverlauf (lt. hbz-Verbundkatalog [Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen]): 1. 1913–26. 1927. Der Wechsel des Verlagsortes markiert offenbar nicht den Erscheinungsbeginn der zweiten Reihe. U. a. 1911: Plutarch ( J. F. S. Kaltwasser), Herodot ( J. E. Goldhagen), Horaz (C. M. Wieland, bearb. v. H. Conrad); 1912: Sueton (Adolf Stahr), Thukydides ( Joh. Dav. Heilmann); 1918: Tacitus (K. F. Bahrdt), Platon (F. Schleiermacher). Conrad, Vorwort (1911), IX.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
ten der fremden keine Gewalt anzutun“, soweit als möglich nachzukommen.55 Als programmatisch dürfte auch der Wiederabdruck der Übersetzungsvorreden Christoph Martin Wielands („An den Leser“) und Ludwig Seegers („Epistel an einen Freund“) in den bearbeiteten Neuauflagen von Wielands Horaz-56 und Seegers Aristophanes-Übertragungen57 zu verstehen sein. Beide Übersetzer hatten sich gegen eine wort- und versgetreue Nachbildung des Originals ausgesprochen und stattdessen eine für den gebildeten deutschen Leser unmittelbar verständliche Übersetzung gefordert.58 Einen weitaus größeren Anteil sowohl an Neuübersetzungen als auch an übersetzungstheoretischen Reflexionen weist die zweite Reihe der Klassiker des Altertums auf.59 Insbesondere Ludwig Gurlitt60 und Hans Bogner61 stellten ihren Übertragungen längere Vorreden voran, in denen sie ihre vor allem auf Wirkungsäquivalenz ausgerichteten Strategien reflektieren. Gurlitt setzt sich in der Einleitung zu seiner PlautusÜbertragung u. a. kritisch mit der, wie er simplifizierend behauptet, gängigen Philologenmeinung auseinander, „‚das Altertum lasse sich überhaupt nicht übersetzen, d. h. in das Gewand einer modernen, ein grundverschiedenes Gepräge tragenden Sprache kleiden‘, Übersetzungen könnten nur ‚ein mattes und verzerrtes Bild eines Autors geben‘“.62 Auch wenn Gurlitt diese Meinung generell teilt, so hält er doch die Alternative, „daß wir alle alten Sprachen fließend lesen lernen, in denen Wertvolles gesagt worden ist“ nicht für realisierbar. Beim Übersetzen komme es vor allem darauf an, „welches Quantum Wert man noch herüberrettet“.63 Der optimale Übersetzer habe demnach „im gleichen Maße Dichter wie Philologe“ (118) zu sein und müsse, um die „unlösbare _____________ 55 56 57 58 59
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Vgl. Conrad, Vorwort (1911), XII. Vgl. Wieland, Horaz: Satiren und Episteln (1911). Vgl. Seeger, Aristophanes. Deutsch von L. S. (1913). Vgl. oben S. 44 u. 88 f. (Wieland) sowie S. 83–85 (Seeger). Als Neuübersetzungen erschienen u. a. Homer, Ilias und Odyssee (Thassilo von Scheffer, Ilias 1913, 2. Aufl. 1920; Odyssee 1918), die Oden und Epoden des Horaz (Paul Lewinsohn, 1913), Catull (Max Brod, m. teilw. Benutzung d. Übertr. v. Ramler, 1914), Tibull (Hermann Sternbach, 1920), Kranz des Meleagros (Ludwig Gurlitt, 1920), Plautus (Ludwig Gurlitt, 1920), Pindar (Adolf Mittler, um 1923), Petron (Ludwig Gurlitt, 1923), Vergil, Aeneis (Ludwig Hertel, [1925]), Martial (Hermann Sternbach, 1926), Aischylos (Hans Bogner, [1926]). Ludwig Gurlitt (1855–1931) war nach dem Studium der Klassischen Philologie in Göttingen und Berlin als Gymnasiallehrer in Hamburg und Berlin tätig. Er begründete von Berlin aus die Wandervogel-Bewegung und vertrat seit 1902 radikale Reformtendenzen, die schließlich seine vorzeitige Pensionierung herbeiführten. Im Rahmen der Reihe Klassiker des Altertums übersetzte Gurlitt den Kranz des Meleagros (1920) sowie die Werke des Plautus (1920) und Petrons (1923). Diverse pädagogische Schriften Gurlitts erschienen in der Reihe Bausteine zur neuen Schule, hg. v. Ludwig Gurlitt und Fritz Kühlmann, München (ab 1919). Hans Bogner (1895–1948), Klassischer Philologe, stand als Anhänger der Konservativen Revolution dem Liberalismus und Parlamentarismus der Weimarer Republik ablehnend gegenüber und sympathisierte mit dem Nationalsozialismus. Seit 1937 Mitglied der NSDAP, bekleidete er zunächst eine außerordentliche Professur in Freiburg (1936–1941), später ein Ordinariat an der NSKampfuniversität Straßburg (1941–1944). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war er als Lehrer der Alten Sprachen am Evangelischen Seminar Blaubeuren tätig. Gurlitt, Einleitung (1920), 117; das Binnenzitat ist Bindseil (1889) entnommen. Vgl. Gurlitt, Einleitung (1920), 117.
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Aufgabe zu umgehen, zugleich den Philologen und den Ästheten zufriedenzustellen“ (119), eigentlich zwei Übersetzungen liefern: eine, die Wort für Wort getreu übersetzt – diese kann nie lebendig wirken und würde am besten, wie das Lessing mit den Captivi tat, in Prosa gegeben, eine zweite, die den Geist des Dichters neu beleben will. Diese darf sich nicht ängstlich ans einzelne Wort anklammern, hat stets eben nur den Geist zu suchen und festzuhalten. Eine gute Übersetzung muß also eine Art von Neuschöpfung sein, muß darauf ausgehen, mit den Mitteln der neuen Sprache die gleichen Wirkungen zu erzielen wie die alte.64
Seine Vorbehalte gegenüber der Praxis des Übersetzens ‚im Versmaß der Urschrift‘ erläutert Gurlitt am Beispiel der Plautus-Übertragung von J. J. C. Donner. Diese bemühe sich zwar um eine genaue Nachbildung der antiken Metren, versuche aber andererseits „den Zweideutigkeiten auszuweichen und sie zu verschleiern“ (125), so dass vom Witz des Plautus wenig übrig bleibe. Ohnehin hält Gurlitt eine metrisch genaue Übertragung für „völlig wertlos“ (125), da die quantitierende Silbenmessung des Lateinischen nicht durch die akzentuierende Metrik der deutschen Sprache wiederzugeben sei: Nur geschulte Metriker werden imstande sein, den antiken Rhythmus herauszuhören und durch den Vortrag zu Bewußtsein zu bringen. Alle anderen, also die große Masse selbst der gebildeten Leser, sind unfähig, solche Verse zu lesen und rhythmisch richtig aufzufassen: sie werden sie als unrhythmisch, gekünstelt und holperig empfinden.65
Der Übersetzer solle sich daher „von aller Pedanterie freimachen“ und „nicht die Rhythmen mechanisch nachbilden, sondern versuchen, ähnliche Wirkung durch die Mittel unserer Dichtersprache zu erzielen“.66 Auch Hans Bogner bemüht sich in seiner Aischylos-Übertragung darum, die Wirkung der Aischyleischen Sprache „mit den Mitteln des Deutschen“67 wiederzugeben und bemängelt in diesem Zusammenhang die Tendenz seiner Vorgänger zur sprachlichen Nivellierung: Fast alle bisherigen Übersetzer haben ihr ästhetisches Werturteil mehr oder minder bewußt in ihr Werk hineingearbeitet, indem sie, was ihnen zu rauh, wild, kühn und dunkel erschien, glatt, zahm, konventionell und leichtverständlich wiedergaben.68
Aischylos jedoch habe „das Glatte, alle Wendungen, die leicht eingehen und sich ‚ohne Anstoß‘ lesen“ bewusst vermieden und die Dichtersprache „durch alte, selten gewordene Kostbarkeiten und neue Schöpfungen“ bereichert. Nach Ähnlichem solle daher auch der Übersetzer „in der älteren deutschen Literatur“ suchen. Als Muster für die Wiedergabe der griechischen Verse im Deutschen werden Goethes Pandora und der Helena-Akt im Faust II angeführt. Obwohl die große Verschiedenheit der beiden Spra_____________ 64 65 66 67 68
Gurlitt, Einleitung (1920), 119. Gurlitt, Einleitung (1920), 125. Vgl. Gurlitt, Einleitung (1920), 125. Bogner, Einleitung [1926], XXI. Bogner, Einleitung [1926], XXI.
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chen in metrischer Hinsicht eine unterschiedliche Behandlung erfordere, werde auf diese Weise doch „eine verwandte Wirkung“ hervorgebracht.69 Sowohl Bogner als auch Gurlitt würdigen in ihren Einleitungen ausdrücklich die in neuerer Zeit erbrachten Leistungen der Philologie auf dem Gebiet der Textherstellung und -erklärung.70 So weist Gurlitt auf Übersetzungsfehler in der Petron-Übersetzung seines Vorgängers Johann Jakob Heinse hin und führt sie in erster Linie auf dessen korrupten Text zurück: „Mögen die Ästheten noch so gering von den philologischen Bemühungen denken, ohne deren Vorarbeit bleibt ihre ‚Kongenialität‘ doch nur ein Gedankenspiel, das uns verführen soll, ihren Geist für den zu nehmen, den wir suchen, den des Petronius.“71 Bogner fügt seinen Übersetzungen, die sich „nicht vornehmlich“ an „die Kenner und Wissenden“ richten,72 Vorbemerkungen bei, für die er genutzt habe, was die Philologie zur Erläuterung des Dichters beigetragen hat. Besonders lobend verweist er dabei auf die Ausgaben, Interpretationen und Übersetzungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff.73 Die chronologische Betrachtung der wichtigsten Übersetzungsreihen unter dem Aspekt ihrer jeweiligen programmatischen Zielsetzungen und damit verbundenen übersetzungstheoretischen Ansätze spiegelt recht gut die allgemeinen Tendenzen der Übersetzungsdiskussion des hier untersuchten Zeitraums wieder. Die vers- und wortgetreue Übersetzung wird erst allmählich, spätestens in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts dezidiert durch einen auf Verständlichkeit und Wirkungsäquivalenz ausgerichteten Übertragungsstil abgelöst, der sich hauptsächlich an der Formensprache der deutschen Klassiker orientiert. Die von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher aufgeworfenen übersetzungstheoretischen Fragestellungen in Bezug auf den Zusammenhang von Sprache und Denken, auf das Sichtbarmachen des Fremden und der historischen Distanz in der sprachlichen Form sowie auf die Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Wege einer sprachmimetischen Übertragung74 werden nach 1840 kaum noch diskutiert. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit der Übersetzer immer stärker auf die Befindlichkeiten der Zielgruppe. Die Rücksichtnahme auf Bildungsvoraussetzungen und Erwartungshaltung des Publikums sowie das Bemühen um eine verständliche, lebendige und möglichst auch unterhaltsame Vermittlung der antiken Werke bestimmen nicht nur die Form der Übersetzung, sondern äußern sich auch in den umfangreichen Einleitungen zu Autor und Werk, den literatur- und kulturgeschichtlichen Abhandlungen, Anmerkungen und sonstigen Begleittexten, die den Übersetzungen zur Seite gestellt werden. Auf dem Wege eben sol_____________ 69 70
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Die vorangehenden Zitate finden sich in Bogner, Einleitung [1926], XXI f. Dies erklärt sich wohl auch aus der Tatsache, dass beide gerade solche antiken Werke übersetzen, deren Texte überlieferungsbedingt erhebliche Fehler und Lücken aufweisen (Petron, Plautus, Aischylos), die nur auf dem Wege philologischer Textkritik annähernd zu bereinigen sind. Gurlitt, Verdeutschung [1924], 38. Vgl. Bogner, Einleitung [1926], XXII. S. dazu u. S. 196–207. S. auch o. S. 24, 74 u. passim.
Griechische und römische Literatur in deutschen Übersetzungsreihen
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cher Begleittexte wurden interessierte Leser, wie gezeigt, bisweilen auch an die Übersetzungsproblematik herangeführt.
Anthologien antiker Dichtung in Übersetzung Nahezu unüberschaubar ist die Menge der im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstandenen Anthologien, ‚Blumen-‘ bzw. ‚Blüthenlesen‘ und sonstigen Sammlungen von Lyrik-Übersetzungen aus den alten wie auch den modernen europäischen und orientalischen Sprachen.75 Reizvoll erschien an dieser Form offenbar gerade die Möglichkeit einer subjektiven Auswahl der zu übersetzenden Texte und die unzähligen Kombinationsvarianten nach Sprachen, Autoren und Themen (Liebeslyrik, Trinksprüche, Soldatenlieder u. ä.). Das Übersetzen der ‚kleinen Form‘ eignete sich zudem als entspannende Beschäftigung in Mußestunden oder als Mittel zur Überbrückung schöpferischer Krisenzeiten.76 So entstanden viele Anthologien erst durch eine nachträgliche Zusammenstellung von Gelegenheitsübersetzungen, die nicht von vornherein zur Publikation vorgesehen waren. Die unterschiedlichen Motivationen und Entstehungsbedingungen spiegeln sich allerdings auch in der übersetzerischen Qualität der Sammlungen wider. Besonderes Merkmal vieler dieser Anthologien ist ihre Autonomie gegenüber den Originaltexten, da sie oftmals nur die Übersetzungen unter Angabe der jeweiligen Autornamen bieten, nicht jedoch den Originaltext oder philologische Anmerkungen. Gerade daraus mag sich allerdings ihre Beliebtheit beim bürgerlichen Lesepublikum erklären. Obwohl gerade das Übertragen antiker Lyrik einen wichtigen Ansatzpunkt für die Frage nach der Übersetzbarkeit komplexerer metrischer Formen bilden könnte, äußern sich nur wenige Übersetzer im Rahmen von Vorworten über die von ihnen angewandten Übersetzungsmethoden. Zu ihnen gehören allerdings so prominente Dichter wie Eduard Mörike und Emanuel Geibel, deren Stellungnahmen zu den von ihnen zusammengestellten Anthologien antiker Lyrik im Folgenden auf ihre übersetzungstheoretischen Inhalte untersucht werden sollen. Zum anderen wird eine Sammlung antiker Dichtung von Emil Ermatinger und Rudolf Hunziker vorgestellt, die gerade durch eine ihr beigefügte Abhandlung zur Lyrikübertragung hervorsticht.
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Vgl. Häntzschel (1997). Als Beispiele für Anthologien speziell antiker Lyrik seien unter vielen hier genannt: Jakob Mähly, Griechische Lyriker, Leipzig/Wien [1880]; Carl Bruch, Roma. Lyrische Dichtungen aus dem römischen Alterthum, Minden in Westf. 1884. Ein Kapitel „Hellas und Rom“ findet sich in dem von Johannes Scherr herausgegebenen Band Bildersaal der Weltliteratur, 3. Aufl., Stuttgart [1884/85], Bd. 1. Gegeben werden hier neben lyrischer Dichtung auch Ausschnitte aus Epen, Dramen und anderen Textformen. S. auch u. S. 134 Anm. 104, S. 140 Anm. 140 u. S. 142.
Anthologien antiker Dichtung in Übersetzung
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Eduard Mörike Einer recht eigenwilligen Übersetzungsmethode bediente sich der schwäbische Dichter Eduard Mörike77 in den drei von ihm publizierten Anthologien antiker Dichtung,78 auf die bereits der Titelzusatz seiner 1840 erschienenen Classischen Blumenlese hinweist: „Eine Auswahl von Hymnen, Oden, Liedern, Elegien, Idyllen, Gnomen und Epigrammen der Griechen und Römer; nach den besten Verdeutschungen, theilweise neu bearbeitet, mit Erklärungen für alle gebildeten Leser“. Mörike verzichtet hier explizit darauf, die von ihm ausgewählten Dichtungen in neuer, eigener Übersetzung vorzulegen und zieht sich mit der Begründung, „das schon vorhandene Gute und Vortreffliche“ nicht überbieten zu können,79 hinter die Leistungen früherer Übersetzer zurück, indem er den Versuch unternimmt, verschiedene bereits vorhandene Übersetzungen „in einander zu verarbeiten“80. Dieses Verfahren bezeichnet Ulrich Hötzer, der Herausgeber der historisch-kritischen Mörike-Ausgabe, als „Kontamination“: Mörike wählt aus vorhandenen Übersetzungen diejenigen Wörter und Wendungen aus, die ihm für den Stil seines Übertragens angemessen erscheinen. Oft kontaminiert er die aus mehreren Vorlagen ausgewählten Textstellen und mischt dabei auch eigene Formulierungen ein.81
Als Vorlagen werden Karl Wilhelm Ramlers Horaz-Übersetzungen von 1769–1777 oder Ernst Christoph Bindemanns Theokrit-Übertragung von 1793 genauso herangezogen wie Friedrich Jacobs Griechische Blumenlese von 1824 und Wilhelm _____________ 77
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Eduard Mörike (1804–1875), schwäbischer Theologe und Dichter, zog nach seinem Theologiestudium in Tübingen zunächst als wandernder Vikar durch Schwaben und übernahm 1834 die Pfarrei in Cleversulzbach bei Heilbronn. Nach Niederlegung seines Amtes zog er nach Stuttgart und gab am dortigen Katharinenstift bis 1866 Unterricht in deutscher Literatur. Seine letzten Lebensjahre brachte Mörike teils in Stuttgart und Nürtingen, teils in ländlicher Abgeschiedenheit zu. Seinem ersten Roman Maler Nolten (1832) folgten Lieder, Märchen und Novellen. 1840 erschien die Anthologie Classische Blumenlese, eine Auswahl griechischer und lateinischer Dichtungen in deutscher Übertragung; 1855 gab Mörike gemeinsam mit Friedrich Notter eine Übersetzung der Idyllen von Theokrit, Bion und Moschos heraus; 1864 publizierte er eine Revision und Ergänzung von Johann Friedrich Degens Anakreon-Übertragung. S. o. Anm. 77 u. Literaturverzeichnis. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 11. Vgl. auch Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 287: „Es liegt in der Natur der Sache, daß, auf einer bestimmten Stufe der Sprachentwicklung, die Übersetzung eines Dichters sich nicht in infinitum steigern, oder beliebig oft und stets in gleichem Grade gut variiren läßt, ja daß manche Stelle, wo nicht Alles, eigentlich nur Einmal gut gegeben werden kann.“ Die angeführten Seitenzahlen zu Mörikes Werken beziehen sich jeweils auf die historisch-kritische Gesamtausgabe, Werke und Briefe, Bd. 8, 1 (1976). Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 11. Hötzer (1993), 12. Hötzer liefert in Bd. 8, 3 (1981) der historisch-kritischen Gesamtausgabe detaillierte „Bearbeitungsanalysen und Hinweise zur Quellenbenutzung“, in denen die von Mörike aus den Textvorlagen übernommenen Formulierungen für jedes Gedicht sowie für die Anmerkungsteile im einzelnen aufgeschlüsselt werden. Im Übersetzungstext selbst (Bd. 8, 1) sind die von Mörike selbständig erbrachten Textpassagen durch eine größere Schrifttype hervorgehoben. Damit gewährt Hötzer dem Leser einen aufschlussreichen „Blick in Mörikes Werkstatt“ (Hötzer [1981], 11) und ermöglicht ihm Rückschlüsse auf dessen sprachliche und philologische Kompetenz.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
Ernst Webers Theognis von 1834. Damit weicht Mörike einerseits entschieden von der Humboldt’schen Auffassung ab, dass jede Übersetzung Ausdruck der sprachlichen Möglichkeiten ihrer Zeit sei und dass somit jedes Zeitalter seine eigenen Übersetzungen hervorbringen müsse.82 Andererseits ließe sich sein Verfahren auch als Konkretisierung von Humboldts Grundsatz deuten, demzufolge das Verständnis des Originals mit der Anzahl seiner Übersetzungen wachse, da jeder Übersetzer auch eine neue Sichtweise des Ausgangstextes beisteuere.83 Mörike nimmt dem Leser die mühsame Arbeit des Übersetzungsvergleichs ab, indem er selbst das für die ausgewählten Werke bisher Geleistete einer gründlichen Revision unterzieht, um es durch Isolierung und Rekombination des jeweils Gelungensten der Optimierung im Ganzen zuzuführen: [W]as ist vernünftiger, als das durch Meisterhand bereits Gewonnene bei einer neuen Bearbeitung ganz unbefangen zu nutzen und den Werth desselben durch weitere Ausbildung und Ergänzung nach besten Kräften zu erhöhen?84
In seinem Vorwort zu der gemeinsam mit Friedrich Notter herausgegebenen Sammlung von Übertragungen Theokrits, Bions und Moschos’, zu der er selbst elf TheokritIdyllen beisteuerte, verteidigt Mörike seine kontaminierende und kompilierende Arbeitsweise gegen diesbezügliche Kritik an der Classischen Blumenlese 85 und betont, dass seine Übersetzungsmethode vor allem den Leserinteressen entgegenkomme: „Um der Prätention der Neuheit willen das Gute und Vortreffliche mehr oder weniger ignorieren, es künstlich umgehen und offenbar Geringeres geben, hieße geradezu die gute Sache aufopfern und das Vertrauen des Publikums täuschen.“86 Wie der Titelzusatz „für alle gebildeten Leser“ bereits signalisiert, will Mörike mit seiner Classischen Blumenlese „auch einem nicht gelehrten Publicum die Erzeugnisse antiker Poesie so nahe als möglich […] bringen“87. Auch seine Theokrit-Übersetzung bezeichnet er als ein „für das allgemeine Publikum“88 bzw. „für den rein genießenden _____________ 82 83
84 85 86
87 88
Vgl. Humboldt, Vorrede (1816), XXIV; s. auch o. S. 72. Vgl. Humboldt, Vorrede (1816), XXIV: „Es sind ebensoviel Bilder desselben Geistes; denn jeder giebt den wieder, den er auffaßte, und darzustellen vermochte; der wahre ruht allein in der Urschrift.“ s. auch o. S. 72. Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 288. Vgl. Gersdorf (1841). Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 288. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Friedrich Notter, der für die Sammlung alle übrigen Theokrit-Idyllen, (deren Echtheit „mehr oder minder angezweifelt“ wurde), sämtliche Theokrit-Epigramme und das Berenike-Fragment sowie sämtliche Gedichte von Bion und Moschos übersetzt hatte, in einem eigenen Vorwort ausdrücklich betont, sich der kontaminierenden Übersetzungsmethode seines Freundes Mörike nicht angeschlossen zu haben: „Weit seltener als durch meinen verehrten Mitarbeiter ist durch mich Gebrauch von der Freiheit gemacht worden, diesen oder jenen mir gelungen scheinenden Vers aus einer frühern Übersetzung in die meine aufzunehmen, nicht weil ich das, was ich zu liefern im Stande bin, für besser gehalten hätte, als das, was die zum Theil hoch gefeierten Vorgänger geleistet, sondern weil ich der Ansicht war, Jeder müsse die eigene Kraft versuchen, soweit es ihm immer möglich sei, und die einzelne Persönlichkeit habe hierin wie ihre besondern Pflichten, so auch ihre besondern Rechte.“ Notter, Vorwort [zu Theokritos, Bion und Moschos] (1855), 251. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 11. Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 287.
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Leser“89 bestimmtes Unternehmen. Dass mit den Übersetzungen in erster Linie auch Frauen angesprochen werden sollten, deren Latein- oder Griechisch-Kenntnisse sich – im Vergleich zu den meisten Männern der bürgerlichen Zielgruppe – eher gering ausnahmen, bezeugt Mörikes Brief an Justinus Kerner von 1838, in dem es heißt, die Classische Blumenlese solle „eine Lektüre für alle gebildeten Stände, insonderheit auch für die Frauenwelt geben“90. Dementsprechend wichtig sind für Mörikes Übersetzungskonzept auch die wirkungsästhetischen Parameter der Verständlichkeit und der Lebendigkeit: Seine Übertragungen sollen vor allem „auf ein bequemes Verständniß“91 eingerichtet sein und „einen stetigen, lebendigen Hauch“92 nicht vermissen lassen. Zu diesem Zweck erlaubt sich Mörike hin und wieder „kleine Freiheiten gegen den Buchstaben“93 und hält es auch für statthaft, „eine Veränderung oder Vertauschung“94 vorzunehmen, um „eine dem Laien ungewohnte Wortstellung“95 zu umgehen. In die gleiche Richtung weist seine Definition einer ‚guten Übersetzung‘ im Theokrit-Vorwort: Zu einer guten Verdeutschung eines Dichters aber […] gehört, vornehmlich bei dem gegenwärtigen, für das allgemeine Publikum bestimmten Unternehmen, neben der Richtigkeit und Treue, ohne Zweifel eine dem deutschen Sprachgeist homogene, gefällige Form, wobei man lieber an der äußersten Strenge der Metrik etwas nachläßt, als daß man den natürlichen Vortrag preisgibt und dazu regelrechte, aber harte und gezwungene Verse liefert.96
Im Hinblick auf die Metrik vertritt Mörike grundsätzlich die Auffassung, dass die „antiken Verse, insonderheit die epischen und elegischen“ sich in Deutschland anhaltender Beliebtheit erfreuten und sich keineswegs „nur in dem Ohr des Philologen geltend“ machten. Doch ließen sich auf diesem Gebiet „keine umfassenden, durchweg consequenten Gesetze“ aufstellen, da die „Natur der [deutschen] Sprache“ deren strenger Befolgung entgegenstehe.97 Selbst Johann Heinrich Voss habe sich bisweilen „gegen den verpönten Trochäus nicht eben feindselig“ erwiesen,98 und Johann Friedrich Degen sei bei seiner Anakreon-Übertragung „in einem Theile der Lieder von dem griechischen Versmaß“ abgewichen99. Dass auch bei der Auswahl der in die Sammlungen aufgenommenen Gedichte die Rücksicht auf den Publikumsgeschmack im Vordergrund stand, lässt sich Mörikes Hinweis auf „die Frage nach dem Sittlichen“ als wichtigem Kriterium entnehmen. _____________ 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 289. Vgl. Eduard Mörike an Justinus Kerner, 4.5.1838, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 12 (1986), 190. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 11. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 12. Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 289. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 12. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 12. Mörike, Vorwort [zu Theokritos] (1855), 287. Die vorangehenden Zitate finden sich in Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 12 f. Vgl. auch Mörike, Vorwort [zu Anakreon] (1864), 340. Vgl. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 13. Vgl. Mörike, Vorwort [zu Anakreon] (1864), 340.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
Gleichzeitig erinnert er jedoch seine Leser daran, „daß wir, um uns des Schönen bei den Alten zu freuen, unsere sittlichen Begriffe nicht mit den ihrigen vermengen dürfen“.100 Mörikes eigene Leistung im Rahmen seiner kompilierenden Tätigkeit besteht neben der Bearbeitung des Übersetzungstextes auch in der Abfassung von Überschriften und Anmerkungen sowie in der Anordnung der Gedichte.101 Gegenüber dem MetzlerVerlag, dem Mörike seine Classische Blumenlese ursprünglich angeboten hatte, äußerte er sich etwas ausführlicher über seine Übertragungsgrundsätze und seinen Arbeitsaufwand – dies auch, um seine Honorarforderungen zu rechtfertigen, an denen die Verhandlungen mit Metzler jedoch letztlich scheitern sollten102: Soll der Plan auf eine würdige, Erfolg verheissende Weise ausgeführt, und wirklich eine Auswahl des Schönsten und Besten geliefert werden, so bedarf es nicht nur einer genauen Musterung und umsichtigen Schätzung sämmtlicher auf uns gekommenen Produkte […] jener alten Lyrik, mithin eines sorgfältigen Lesens derselben im Original, sondern auch einer abwägenden Vergleichung und allseitigen Beurtheilung der vorhandenen Übersetzungen und einer Reihe zwar kurzer, aber so berechneter Anmerkungen, daß der Text für jeden nicht ganz Ungebildeten lesbar und leicht verständlich wird, wozu noch die ebenfalls kurzen, aber doch das Wichtigste über die Person jedes einzelnen Dichters und den Charakter seiner Dichtungen enthaltenden Einleitungen kommen.103
Auch wenn Mörike andererseits gegenüber seinem Freund Wilhelm Hartlaub, den er für die Mitarbeit an seinem Übersetzungsunternehmen gewinnen möchte, seinen Arbeitsaufwand eher herunterzuspielen scheint, indem er von einem „angenehme[n] Zeitvertreib“ spricht, mit dem sich „zugleich ein Stück Geld“ verdienen lasse,104 so lässt er es in der Praxis dennoch keineswegs an philologischer Sorgfalt fehlen. Er bemüht sich nicht nur darum, alle ausgewählten Gedichte im Original zu lesen, sondern überprüft auch die unsicher überlieferten Stellen mit Hilfe kritischer Ausgaben und Kommentare und arbeitet mitunter neue Lesarten in seinen Übersetzungstext ein. Für seine Einleitungen und Anmerkungen bedient sich Mörike der gleichen Verfahrensweise. Auch hier werden bereits vorliegende Arbeiten einer gründlichen Auswertung unterzogen, und ihr Inhalt wird in einer auch für Laien verständlichen Form neu aufbereitet.105 Den größten Eigenanteil Mörikes sowohl im Hinblick auf die Übersetzungen wie auch auf den Anmerkungsteil weist die 1864 erschienene Sammlung Anakreon und die sogenannten anakreontischen Lieder auf. Hierbei handelt es sich laut Titelzusatz um
_____________
100 Vgl. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 13. 101 Vgl. Hötzer (1993), 29. 102 Die Classische Blumenlese erschien schließlich in dem Stuttgarter Verlag Schweizerbart, dessen Programm eher auf populärwissenschaftlich aufbereitete naturwissenschaftliche Themen ausgerichtet war. Ein vertraglich vorgesehener zweiter Band, zu dem Mörike auch schon umfangreiche Vorarbeit geleistet hatte, kam, vermutlich wegen zu geringer Absatzzahlen des ersten Bandes, nicht zum Druck; vgl. Hötzer (1993), 36 und 84–90. 103 Eduard Mörike an die J. B. Metzlersche Buchhandlung, 28.1.1838, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 12 (1986), 160 f. 104 Vgl. Eduard Mörike an Wilhelm Hartlaub, 13.2.1838, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 12 (1986), 68. Hier heißt es u. a.: „Die Arbeit ist gering. […] Es ist im Grund ein angenehmer Zeitvertreib. […] Es ist so leicht wie Krebs essen.“ 105 Vgl. Mörike, Vorrede [zu Classische Blumenlese] (1840), 13, und Anakreon (1864), 339 f.
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eine „Revision und Ergänzung der J. Fr. Degen’schen Uebersetzung mit Erklärungen“106. Da die an den Dichtungen des Anakreon orientierten „Anakreonteen“ bereits in mehreren Übertragungen vorlagen, die Gedichte des Anakreon selbst jedoch noch nahezu unbekannt waren, betont Mörike in seinem Vorwort, dass in seiner Sammlung „vor allem der ächte Anakreon so weit möglich in einer charakteristischen Auswahl seiner Überreste, die bis jetzt außerhalb der philologischen Welt noch wenig gekannt sind“107, repräsentiert werden solle. Dazu liefert er zahlreiche Neuübersetzungen der Fragmente und Epigramme, die Degen in seiner Übersetzung nicht berücksichtigt hatte. Auch die erläuternden Teile zeigen eine größere Selbständigkeit, wie sich anhand der von Hötzer dargebotenen „Hinweise zur Quellenbenutzung“ nachweisen lässt.108 Das Übersetzen antiker Dichtung, das für Mörike selbst offenbar nur einen untergeordneten Stellenwert besaß, hatte dennoch deutlichen Einfluss auf sein eigenes dichterisches Schaffen. Hötzer weist auf die oft fließenden Grenzen zwischen eigener Dichtung und Übersetzung in Mörikes Werk hin: Mörike schreibt Gedichte auf antike Autoren, in welche Zitate aus deren Werk eingeflochten sind (z. B. „Theokrit“). Ein anderes Mal beschäftigt er sich so lange mit einer Übersetzung, bis die Spuren der fremden Herkunft fast ganz verwischt sind und die Übersetzung zum eigenen Werk geworden ist, das Mörike dann auch als solches in die Sammlung seiner Gedichte aufnimmt („An den Schlaf “). Einmal stellt er gar den Eindruck der Übersetzung künstlich her: Der Aufforderung, zu der Anthologie „Blumen aus der Fremde“ eine Übersetzung beizusteuern, kommt er dadurch nach, daß er die Übertragung eines Gedichts fingiert („Jedem das Seine“). Andererseits nimmt er drei Übersetzungen aus der „Classischen Blumenlese“, versehen mit dem Untertitel „Nach Catull“, in die eigene Gedichtsammlung auf („Akme und Septimius“, „Zwiespalt“ und „Auf den Arrius“). Der Unterschied zwischen Nachbildung und Neubildung ist in allen diesen Fällen fast aufgehoben. Aus so kunstvollem Balancieren zwischen eigenem und Übernommenem entsteht dann ein für Mörikes Dichtung im ganzen Kennzeichnendes: die Kunst der Anspielung, das Spiel mit dem Zitat und letztlich die schöpferische Nachbildung literarischer Muster.109
In übersetzungstheoretischer Hinsicht liefern Mörikes Äußerungen, die größtenteils der Legitimierung seines kompilatorischen Verfahrens dienen, wenig Relevantes. Hervorzuheben ist dennoch sein Optimismus bezüglich der Unübertrefflichkeit einmal vorgelegter Übersetzungen oder zumindest einzelner bereits von anderen gefundener Formulierungen sowie das Einsetzen des übersetzerischen Gestus als dichterisches Gestaltungsmittel.
_____________ 106 Mörikes Text stützt sich hier in erster Linie auf die 1821 in Leipzig erschienene 4. Auflage von Johann Friedrich Degens Übersetzung der Anakreontischen Lieder, doch übernahm Mörike lt. Hötzer (1981), 15, bisweilen auch Formulierungen aus den früheren Auflagen (Ansbach 1782; Altenburg 1787; Ansbach 1821). 107 Mörike, Vorwort [zu Anakreon] (1864), 339. 108 Vgl. Hötzer (1981), 11, und Mörike, Werke und Briefe, Bd. 8, 1 (1976), 341–359, 376–387 und 458– 490. 109 Hötzer (1993), 11.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
Emanuel Geibel und der Münchner Dichterkreis Das Übersetzen älterer und neuerer Literatur aus verschiedenen europäischen und außereuropäischen Sprachen spielte eine wesentliche Rolle im Gesamtschaffen der Mitglieder des ‚Münchner Dichterkreises‘ um Emanuel Geibel und Paul Heyse.110 In ihrem Bestreben, dem deutschen Lesepublikum bedeutende Werke der Weltliteratur durch Übertragungen nahe zu bringen und es mit den wesentlichen Epochen und Stilformen der Literaturgeschichte vertraut zu machen,111 lassen sich gewisse Parallelen zu den populären, ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen Übersetzungsreihen und Klassiker-Bibliotheken erkennen.112 Doch verbanden die Münchner mit ihrer Übersetzungstätigkeit einen weitaus höheren künstlerischen Anspruch und fundiertere übersetzungstheoretische Grundsätze, die in diversen Übersetzungsvorworten, Memoiren und Briefwechseln niedergelegt sind.113 Der von Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur114 nimmt im Vermittlungskonzept der Münchner eine zentrale Stellung ein, wird dabei allerdings im Hinblick auf die angestrebte Wirkung neu bewertet: Sie soll nicht darin bestehen, daß eine Nation die Hervorbringungen der andern nachahmt, sondern daß sie sich mit deren Geiste durchdringt und zu eigenem Schaffen befeuert; ferner daß sie ihren Gesichtskreis ausdehnt und durch erweiterte Anschauung das Einseitige und Beschränkte, das ihr anklebt, ablegt.115
_____________ 110 Der bayerische König Maximilian II. hatte nach seiner Thronbesteigung 1848 zahlreiche Dichter und Gelehrte aus allen Teilen Deutschlands an seinen Hof und an die Münchner Universität berufen. Dem sogenannten Münchner Dichterkreis, der in wöchentlichen Symposien in der königlichen Residenz zusammenkam und dessen Blütezeit in die Jahre zwischen 1852 und 1872 fiel, gehörten neben Emanuel Geibel und Paul Heyse auch Friedrich Bodenstedt, Heinrich Leuthold, Adolf von Schack sowie der Münchner Hoftheater- und spätere Burgtheater-Intendant Franz von Dingelstedt an. Privat trafen sich die Dichter in der Künstlervereinigung ‚Krokodil‘ und traten damit in Konkurrenz zu der Berliner Vereinigung ‚Tunnel über der Spree‘; vgl. Werner, Gesellschaft der Krokodile (1998). Durch das Zurückgreifen auf einen klassizistisch-idealistischen Begriff der schönen Form wollten die Münchner sich bewusst von anderen zeitgenössischen Strömungen wie dem Jungen Deutschland und der Literatur des Realismus absetzen. Weiteres s. Werner, Münchner Dichterkreis (1998). Zur Übersetzertätigkeit des Münchner Dichterkreises vgl. Giroday (1978), Horstmann (1995), 147–169, und Horstmann (2008). 111 Paul Heyse vergleicht im Vorwort zu seiner Übersetzungssammlung Italienische Dichter seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (1889) die Funktion der Übersetzungen für die Literaturgeschichte mit derjenigen der Abbildungen für die Kunstwissenschaft. Beide dienten der Veranschaulichung der Originale und ermöglichten den historischen Vergleich; vgl. Heyse, Vorwort (1889), XIV. 112 Übersetzt wurden Werke aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen, Italienischen, Portugiesischen, Provenzalischen, Spanischen, Englischen, Russischen, Persischen, aus dem Sanskrit, aus dem Arabischen und aus dem Aserbeidschanischen; vgl. Giroday (1978), 43–66. 113 Eine Zusammenstellung von übersetzungstheoretischen Äußerungen der „Münchner“ unter Berücksichtigung ihrer gesamten übersetzerischen Produktion findet sich bei Giroday (1978), v. a. 23–42. 114 S. o. S. 95–100. 115 Schack, Weltliteratur (1890), 29.
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Der rezeptiv-nachahmende Umgang mit fremden Literaturen in der Zeit um 1800, der sich nach Ansicht der Münchner in bloßem „Nachkünsteln aller möglichen Versmaße“116 äußerte und als Überforderungsreaktion auf das „plötzliche, sich überstürzende Hereinbrechen so vieler fremdartigen Produkte aus allen Zeitaltern und Zonen“117 gedeutet wird, sollte nun abgelöst werden durch eine aktive, selbstbewusste Aneignung des Fremden auf dem Wege poetischer Neugestaltung in eigenen Formen.118 In diesem Zusammenhang wird auch die Metrik-Diskussion, die sich vor allem an den versgetreuen Homer-Übertragungen von Johann Heinrich Voss entzündet hatte und in der Folgezeit vor allem im Hinblick auf Übersetzungen antiker Literatur geführt worden war,119 in verstärktem Maße auf die Dichtung anderer Sprachen und Epochen einschließlich der zeitgenössischen europäischen Lyrik ausgeweitet.120 Vor allem mit dem Dichtungs- und Übersetzungskonzept August von Platens, der mit seinen Nachbildungen aus dem Diwan des Hafis eine versgetreue Übertragung aus dem Persischen vorgelegt und antike Metren auch auf eigene Dichtungen übertragen hatte, setzen sich die Münchner intensiv auseinander.121 Während man Platens „Streben nach klassischer Vollendung“ und den „Adel seiner Poesie in Form und Inhalt“ bewunderte,122 vertrat man doch gleichzeitig die Ansicht, dass er „in seinem Streben nach Korrektheit nur allzu oft gewalttätig, hart und undeutsch wird“123 und attestierte ihm „eine gewisse Gezwungenheit des Ausdrucks und eine in Künstlichkeit übergehende Kunst“124. Dem popularisierenden Übersetzungskonzept der Münchner stand somit Platens verfremdender Dichtungs- und Übersetzungsstil eher entgegen. Nicht eine philologisch geschulte Bildungselite, sondern ein breites bürgerliches Publikum ist die anvisierte Zielgruppe, auf die sie ihre Übersetzungsstrategie ausrichten.125 Verständlichkeit und ästhetischer Genuss des deutschen Textes stehen daher im Vordergrund und sollen _____________ 116 Schack, Weltliteratur (1890), 29. 117 Schack, Weltliteratur (1890), 29. 118 Vgl. Schack, Weltliteratur (1890), 22 f.: „Allein, daß man die antiken Versmaße nun auch für Originaldichtungen verwandte, ja daß Einige so weit gingen, die uns natürlichen Formen und den Reim verbannen zu wollen, das erregt Bedenken.“ 119 S. o. S. 32–34. 120 So diskutiert Adolf von Schack das Problem der Metrik-Übertragung u. a. im Zusammenhang mit seinen Übersetzungen aus den orientalischen Sprachen, Friedrich Bodenstedt anhand seiner Übertragungen russischer und persischer Dichter oder Paul Heyse in seinem vierbändigen Übersetzungswerk Italienische Dichter seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (1889). 121 Äußerungen Platens zu seiner Übersetzungstätigkeit finden sich in seinen Tagebüchern; s. Platen, Tagebücher (1896–1900), Bd. 1, 85 f., 98, 168, 173 ff. 122 Vgl. Curtius (1915), 12. 123 Emanuel Geibel an Paul Heyse, 16.2.1897, in: Geibel/Heyse, Briefwechsel (1922), 274. 124 Curtius (1915), 12. 125 In seinem Brief an Heyse vom 27. Januar 1851 rät Geibel zu einem ‚marktstrategischen‘ Erscheinungstermin des Spanischen Liederbuches an Weihnachten und spricht in diesem Zusammenhang von einer „großen Masse von Käufern, die alsdann die Buchläden besucht, um für Schwestern, Bräute, Mühmchen usw. irgend etwas heimzubringen“. Bemerkenswerterweise werden hier nur Frauen als Empfängerinnen des neuen Lesestoffs in Betracht gezogen; Geibel/Heyse, Briefwechsel (1922), 68.
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durch ein allzu offensichtliches Bemühen um metrische oder wörtliche Treue nicht beeinträchtigt werden. Erklärtes Ziel der Münchner ist es, den fremden Autor, das fremde Werk in der Weise ‚einzubürgern‘ oder, wie Dingelstedt es ausdrückt, zu „nostrifizieren“126, dass die Übersetzung sich so lesen lasse wie ein deutsches Original.127 Dementsprechend skeptisch beurteilt man die Möglichkeit einer unmittelbaren Übernahme fremder Versmaße ins Deutsche. Schack vertritt die Auffassung, „daß man in Deutschland überhaupt lange Zeit hindurch verkannt hat, wie eine metrische Form, eine Strophenbildung, die bei einer Nation heimisch und ihr natürlich ist, keineswegs bei jeder andern die nämliche Wirkung hervorbringt“128. Entsprechende Vorbehalte äußert er konsequentermaßen auch im Hinblick auf die Verwendung des Hexameters in Übersetzungen antiker Werke oder deutschen Originalgedichten: Unserer Sprache muß doch immer ein gewisser Zwang angethan werden, um sie der antiken Silbenmessung zu unterwerfen; denn sie hat eigentlich nur Hebungen und Senkungen, keine unzweifelhaften Längen und Kürzen, wie die griechische und lateinische. So kommt uns denn schon bei dem deutschen Hexameter, – und um so mehr je regelrechter er gebaut ist – leicht das Gefühl des Gekünstelten und Fremdartigen.129
So verlangt denn auch Paul Heyse vom deutschen Hexameter die „vollkommene Übereinstimmung mit der Betonung des gewöhnlichen Lebens“130, während Emanuel Geibel immerhin glaubt, dass „ein gewisses Widerstreben von Wortakzent und Versakzent“131 zur rhythmischen Belebung des Verses beitragen könne. Bei allen Bemühungen um metrische Vielfalt und formale Vollendung setzten die Münchner sich doch recht klare Grenzen in Bezug auf die Übernahme fremder Versmaße. Statt auf ‚sklavische
_____________ 126 Vgl. Dingelstedt, Studien und Copien nach Shakespeare (1858), 5. Bei jüngeren Dichtern wie Rudolf Borchardt stieß diese Vereinnahmungspraxis freilich auf vehemente Ablehnung: „Es kam schließlich, geschichtlich gesprochen als die letzte Auflösung der späteren Romantik, die rosenrote Zeit, in der man alles konnte, wo alles leicht war und es zwar noch Schwierigkeiten gab, aber keinen mehr, der sie fühlte; wo jener Leichtsinn des gnadenlosen Bildungsphilistertums, der uns in seiner gutmütig barbarischen Unreife heut fast mythisch anduftet, als Emanuel Geibel Horaz und die Griechen übersetzt […], als Graf Schack die iberische Halbinsel aufarbeitet, als Bodenstedt die elisabethinischen Dramatiker und – exoriare aliquis summis ex ossibus ultor! – Shakespeares Sonnette, als Paul Heyse – mit billigem Abstande vom schlimmsten Niveau der Zeit – Leopardi, Parini und Foscolo, […] aber dieser Bankrott der Sprache und des Stiles ging Dante nichts mehr an; […].“ Borchardt, Dante und deutscher Dante (1908), 355 f. Zu Borchardt s. auch u. S. 209–215 u. 229–235. 127 Emanuel Geibel rät Heinrich Leuthold, die von ihm übersetzten Gedichte französischer Autoren „so durchzuarbeiten, daß sie sich, ohne der Treue dabei zu nahe zu treten, in Ausdruck, Satzbau, Wortstellung und Versfall vollkommen als deutsche Originale lesen lassen […]“; zit. nach Ernst (1891), 49. Auch Bodenstedts Übersetzung russischer Dichter soll wirken wie ein „formvollendetes Originalwerk“; vgl. Bodenstedt, Einleitung (1866), 22. S. auch Giroday (1978), 38. 128 Schack, Weltliteratur (1890), 23. 129 Schack, Weltliteratur (1890), 23. 130 Gemeint ist die Übereinstimmung des deutschen Versakzents mit den gewohnten Betonungen der gesprochenen Sprache. 131 Emanuel Geibel an Paul Heyse, 16.2.1879, in: Geibel/Heyse, Briefwechsel (1922), 274.
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Nachahmung‘132 setzt man auf Anpassung der fremden Form an die sprachlichen und metrischen Eigenheiten des Deutschen. Auch wenn das Übersetzen antiker Autoren im Schaffen der Münchner keine herausragende Stellung einnahm, so war doch die Beschäftigung mit Kultur und Literatur der Antike für die Mitglieder des Kreises, die sich fast ausnahmslos bereits seit ihrer Schulzeit für die alten Sprachen begeisterten und teilweise auch ein philologisches Studium absolviert hatten,133 von großer Bedeutung. Insbesondere die Möglichkeit, Italien und – nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges gegen die Türkei 1833 – auch Griechenland zu bereisen und die antiken Schauplätze durch eigene Anschauung auf sich wirken zu lassen, begünstigte die lebendige Auseinandersetzung mit der antiken Kultur und wirkte anregend auf die junge Dichtergeneration.134 Emanuel Geibel brachte aus Griechenland nicht nur eine Sammlung von Übersetzungen griechischer Lyrik, sondern auch eigene Distichen aus Griechenland mit,135 Friedrich Bodenstedt, Heinrich Leuthold, Adolf von Schack und vor allem Paul Heyse verarbeiteten ihre Reiseeindrücke aus Italien in Gedichten mit antiker Thematik sowie in zahlreichen Übertragungen italienischer Dichtung. Während Emanuel Geibel – trotz seiner philologischen Ausbildung136 – das klassische Altertum in erster Linie als Inspirationsquelle und „Gegenstand liebevoller Beschäftigung“ auffasste, so Ernst Curtius in seinen Erinnerungen an Emanuel Geibel, und an den „Resultaten neuerer Forschungen“ nur bedingt Anteil nahm,137 zeigte Adolf von Schack während seines Aufenthaltes in Athen außerordentliches Interesse für die _____________ 132 Vgl. Schack, Weltliteratur (1890), 24: „Statt sich an fremden Mustern zu inspirieren, ahmten manche Dichter und sogar sehr talentvolle, dieselben sklavisch nach.“ 133 Geibel und Heyse hatten Klassische Philologie studiert. S. auch u. S. 187 Anm. 376. 134 Vgl. Schack, Auf der Akropolis (1891), 131: „Schon bei meinem ersten Besuche von Athen, der in meine Jünglingsjahre fällt, wallfahrtete ich die heilige Straße entlang nach seiner [scil. des Aischylos] Geburtsstadt Eleusis, und es war mir ein erhebendes Gefühl, auf dem Boden zu wandeln, dem er als Knabe die Spuren seiner Füße eingedrückt.“ 135 Vgl. Geibel/Curtius, Klassische Studien (1840) und Geibel, Distichen aus Griechenland (1839–1840). 136 Emanuel Geibel (1815–1884) hatte zunächst Theologie, später Klassische Philologie in Bonn (u. a bei Welcker, Klausen und Brandis) und Berlin (bei Boeckh, Droysen und Lachmann) studiert. Die Bekanntschaft mit Otto Friedrich Gruppe (s. o. S. 108–111) führte zu einer ersten Übersetzertätigkeit Geibels, der für Gruppe einige Tibull-Übertragungen anfertigte; vgl. Geibel, Emanuel Geibels Jugendbriefe (1909), 93. 1852 wurde Geibel von Maximilian II. nach München berufen, wo er eine Honorarprofessur für deutsche Literatur und Ästhetik erhielt und zum eigentlichen Begründer des Münchner Dichterkreises wurde. Geibel machte sich vor allem als lyrischer Dichter einen Namen, der die verschiedensten Stilformen vom Volkslied über das Sonett bis zu den antiken Versmaßen souverän beherrschte. Darüber hinaus verfasste er Balladen und Dramen und übersetzte romanische und antike Lyrik. Nach einem Zerwürfnis mit Maximilians Nachfolger Ludwig II. kehrte Geibel 1868 in seine Heimatstadt Lübeck zurück. 137 Vgl. Curtius, Erinnerungen an Emanuel Geibel (1915), 32. Ebd., 11 f. schreibt Curtius: „Geibels Natur war nicht darauf angelegt, daß er die Altertümer des Landes zum Gegenstande eines eingehenden Studiums machte. Es war der Gesamteindruck des südlichen Landes, der auf sein Gemüt wirkte […]; vor allem aber wichtig war es ihm, daß das klassische Altertum ihm hier lebendiger als je vor die Seele trat, und daß er unter dem Himmel von Athen einen neuen Antrieb fühlte, sich in die attischen Dichter ganz hineinzuleben.“
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philologischen Untersuchungen Welckers, Droysens und Hartungs über die Tragiker und versuchte, sich „aus ihnen die Umrisse der untergegangenen Trilogien“ seines Lieblingsdichters Aischylos „vor die Seele zu führen“138. Athen war ihm „die Geistesheimat, zu der wir aus der Flachheit des heutigen Lebens zurückflüchten“139. Als Übersetzer antiker Lyrik betätigten sich im Münchner Dichterkreis vor allem Emanuel Geibel, Heinrich Leuthold140 und Adolf von Schack141; eine große Breitenwirkung konnte jedoch lediglich Geibels 1875 erschienenes Classisches Liederbuch erzielen. Auch wenn Geibel sich hier nicht explizit zu seinen Übersetzungsprinzipien äußert, lassen sich diese doch aus diversen Briefstellen, biographischen Notizen und nicht zuletzt aus dem Nachwort zu der bereits im Jahr 1840 zusammen mit Ernst Curtius142 unter dem Titel Klassische Studien herausgegebenen Sammlung von Übersetzungen griechischer Dichter erschließen. Diese während eines gemeinsamen Griechenlandaufenthaltes entstandene Anthologie143 enthält neben zwei Botenberich_____________ 138 Schack, Auf der Akropolis (1891), 137. 139 Vgl. Schack, Ein halbes Jahrhundert (1809), Bd. 1, 62. 140 Der Schweizer Heinrich Leuthold (1827–1879) hatte zunächst Jura in Bern, Basel und Zürich studiert und daneben philosophische und literaturwissenschaftliche Vorlesungen besucht. Zu seinen Lehrern gehörten u. a. L. Seeger, W. Wackernagel und J. Burckhardt. Ohne Studienabschluss ging Leuthold 1857 nach München, wo er in die literarische Gesellschaft der „Krokodile“ aufgenommen wurde. Nach der Publikation seiner Fünf Bücher französischer Lyrik in deutscher Nachdichtung (1862) war er vorwiegend als Journalist tätig. Die intensive Beschäftigung mit antiker Literatur half ihm über eine mehrjährige Produktivitätskrise hinweg. Neben dem Epos Penthesilea (1868/69) entstanden zahlreiche Lieder, ein rhapsodisches Fragment (Hannibal), Gedichte, Epigramme, Sprüche, Oden und Elegien. 1879 starb Leuthold in einer Schweizer Nervenklinik. Seine Übertragungen antiker Dichtung finden sich gesammelt in: Leuthold, Gesammelte Dichtungen in drei Bänden (1914), Bd. 2 ‚Übertragungen‘, 3–22. 141 Adolf Friedrich Graf von Schack (1815–1894) stammte aus begüterter Familie und widmete sich bereits in seiner Schulzeit den orientalischen Sprachen. Er studierte Jura in Bonn, Heidelberg und Berlin, war zeitweilig im preußischen, später im mecklenburgischen Staatsdienst tätig und unternahm zahlreiche Auslandsreisen. Er publizierte eine Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien, eine Arbeit über Das spanische Theater und Übersetzungen aus dem Griechischen, Französischen, Englischen, Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Arabischen und Persischen. 1856 ließ er sich in München nieder, wo er sich als Mäzen zeitgenössischer Maler betätigte. Seine bedeutende Kunstsammlung präsentierte er in der noch heute bestehenden Münchner Schack-Galerie. Seine Übersetzungen aus dem Griechischen beschränken sich auf drei in der Sammlung Mosaik enthaltene Gedichte. 142 Ernst Curtius (1814–1896) hatte altertumswissenschaftliche Studien in Bonn (bei Welcker und Brandis) und Göttingen (bei K. O. Müller) absolviert. 1837 folgte er der Familie Brandis als Hauslehrer nach Athen. Nach Promotion und Habilitation erhielt er 1844 eine außerordentliche Professur in Berlin und wurde zum Erzieher des späteren Kaisers Friedrich III. bestellt. Es folgten ordentliche Professuren in Göttingen (ab 1856) und Berlin (ab 1868). Curtius veranlasste und leitete 1875–1881 die Ausgrabung von Olympia. Als wichtigstes Werk gilt seine Griechische Geschichte, die in drei Bänden zwischen 1857 und 1867 erschien. 143 Curtius’ Lehrer Brandis war als Kabinettsrat und gelehrter Begleiter König Ottos nach Athen berufen worden, wo er u. a. der kunstinteressierten Königin Amalie Privatlektionen über die Geschichte der griechischen Poesie erteilte. Curtius, der bei Brandis angestellt war, und Geibel, der seit 1838 als Hauslehrer des russischen Gesandten in Athen tätig war, widmeten sich in ihrer Freizeit dem Studium antiker Dichtung und bemühten sich darum, „einzelnen Dichterstellen ihr innerstes, eigenthümlich-
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ten von Aischylos und Sophokles und zwei Parabasen aus Aristophanes-Komödien Gedichte und Fragmente frühgriechischer und hellenistischer Lyrik. Das als Motto vorangestellte Rückert-Epigramm deutet den Interessenkonflikt zwischen philologischem Anspruch und künstlerischem Ausdruckswillen an, den Geibel als ausgebildeter Philologe offenbar ähnlich empfand: Wer Philolog und Poet ist in Einer Person wie ich Armer, kann nichts besseres thun, als übersetzen wie ich; Was philologisch gefehlt ist, verzeiht ihr poetischer Freiheit, Und die poetische Schuld schenkt ihr der Philologie.
Das Abwägen künstlerischer und philologischer Interessen wird auch im Nachwort zu den Klassischen Studien deutlich. Als ausschlaggebend für die Textauswahl wird zunächst das ästhetische Kriterium angeführt, „in jedem der zu übersetzenden Stücke ein für sich abgeschlossenes und verständliches Ganzes zu geben“, da die Schönheit eines jeden Gedichtes „durchaus auf dem Gesammteindrucke“ beruhe. Dementsprechend habe man auch bei nur fragmentarisch erhaltenen Gedichten versucht, „das Verlorene in möglichst analoger Weise zu ergänzen“. Philologische Strenge ließ man dagegen bei der metrischen Behandlung des Übersetzungstextes walten. Hier bemühten sich die Übersetzer weitestgehend darum, „aufs genaueste dem jedesmaligen Maße des Originals“ zu folgen und versagten sich auch „gewisse kleine Freiheiten […], von denen wir bei eigener poetischer Produktion in unserer Muttersprache unbedenklich Gebrauch machen würden“.144 Dabei betonen sie besonders die Einhaltung bestimmter Grundsätze wie das Vermeiden von Trochäen im Hexameter, das Beachten der Zäsuren im anapästischen Tetrameter oder das Vermeiden des „Alexandriners“ bei der Nachbildung des jambischen Trimeters145 und berufen sich damit indirekt auf das strenge Regelwerk von Johann Heinrich Voss, der eben diese Grundsätze in seiner Zeitmessung der deutschen Sprache von 1802 aufgestellt hatte.146 Wo allerdings aufgrund der komplexen Versstruktur des Originals eine genaue metrische Nachbildung nicht möglich erschien, weil es der „Mangel unserer Sprache an entschiedener Quantität“ erschwert hätte, „die rhythmische Schönheit des verwickelten Versbaus herauszuhören“, ließ man „die griechische Form fallen“ und bemühte sich stattdessen darum, „den Sinn möglichst genau in einem einfachen dem Alterthume nicht fremden Maße“ wiederzugeben.147 Auch in Fällen, in denen eine wörtliche Übersetzung „unverständlich oder _____________
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stes Wesen abzulauschen, und sie dann in möglichst gediegener Form deutsch wiederzugeben“; Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 67. Auf diese Weise entstand ein Heft von Übersetzungen, die auch von Brandis zur Illustration seiner Lektionen am Königshof herangezogen wurden. Die daraus hervorgegangenen Klassischen Studien sind konsequenterweise der Königin Amalie von Griechenland gewidmet. Die vorangehenden Zitate finden sich in Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 68. Vgl. Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 68 f. S. o. S. 23. Die vorangehenden Zitate finden sich in Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 69. Karl Theodor Gaedertz weist in seiner Geibel-Biographie darauf hin, dass Curtius und Geibel sich in Athen auch an metrischen Übertragungen der Sophokleischen Elektra bzw. des Philoktet versucht hätten, wobei gewisse Meinungsverschiedenheiten zutage getreten seien: „Ersterer wollte sich mit Ausnahme der
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steif “ wirkte, entschied man sich, wie Curtius in seinen Erinnerungen an Emanuel Geibel mitteilt, für eine freiere Nachdichtung.148 Der Anmerkungsteil im Anhang der Klassischen Studien wurde bewusst auf den Kenntnisstand des Zielpublikums abgestimmt und richtet sich, wie die gesamte Übersetzung, in erster Linie an „Leser, die, ohne gerade das Studium des Alterthums zum Lebensberufe erwählt zu haben, doch den edlen Geist und die lebendige Frische desselben zu würdigen wissen, und welchen die Beschäftigung mit den klassischen Dichtern eine willkommene Erholung zu bieten vermag“149. Trotz seiner ausdrücklichen Leserorientierung wurde das Buch kein Publikumserfolg, so dass das am Ende des Nachworts in Aussicht gestellte „zweite Heft der klassischen Studien“150 nie erschienen ist. Erst dreißig Jahre später trägt Geibel sich wieder mit dem Gedanken, eine Sammlung antiker Gedichte in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, und kündigt Paul Heyse brieflich „ein Heft von allerlei verdeutschter Antike“ an. Der gesundheitlich indisponierte Geibel hebt dabei besonders die heilsame Wirkung des Übersetzens hervor: „es zieht mit Gewalt die Gedanken von den eigenen Schmerzen ab und gönnt uns, ohne den Stoff von uns zu fordern, doch den tröstlichen Schein des Selbstschaffens.“151 Die Herausforderung des Übersetzens als schöpferischer Tätigkeit besteht für Geibel vor allem darin, die unterschiedlichen Tonlagen der einzelnen Dichter möglichst genau zu treffen: Der etwas herbe und trockene Ton der ersten Gedichte entspricht dem Original; erst in Theognis und Sappho tritt eine reichere Fülle des eigentlich lyrischen Elements hervor; dagegen sind die Römer schon fast modern, und ich habe mich bemüht, in ihren Elegien und Oden keine Zeile stehen zu lassen, die ich nicht allenfalls auch in ein eigenes Gedicht gesetzt haben würde.152
Das angekündigte Heft erschien im Jahr 1875 unter dem Titel Classisches Liederbuch im Berliner Verlag von Wilhelm Hertz. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Neuauflage der Klassischen Studien, sondern um eine bis auf wenige Ausnahmen gänzlich neue und wesentlich umfangreichere Anthologie antiker Dichtung, die nun auch _____________
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Auflösungen dem antiken Metrum anschließen; Letzterer war zu der Ueberzeugung gekommen, daß dies für ein deutsches Ohr nicht allein nicht wohllautend, sondern sogar peinlich sei, und beschränkte sich für die genaue Nachbildung auf den Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst, indem er für die zusammengesetzteren Maße die entsprechende deutsche lyrische Form suchte; ja ihm schien, daß Schiller Recht hatte, wenn er beim Wiedergeben der Chöre geradezu den Reim anwandte.“ Gaedertz (1897), 154 f. Vgl. Curtius, Erinnerungen an Emanuel Geibel (1915), 13. Als Beispiel führt Curtius die Parabase aus Aristophanes’ Vögeln an, bei der man sich „lange mit dem Apparat der antiken Vogelsymbolik abgequält“ habe, bevor man ihn schließlich „mit jugendlicher Keckheit“ durch „Ausdrücke aus dem modernen Leben“ ersetzte. Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 70. Die Übersetzungen selbst waren allerdings zunächst ohne Publikationsabsicht entstanden; vgl. Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 68. Geibel/Curtius, [Nachwort] (1840), 71. Emanuel Geibel an Paul Heyse, 22.5.1874, in: Geibel/Heyse, Briefwechsel (1922), 244 f. S. auch ebd., 250 (Geibel an Heyse, 29.9.1874). Brief Emanuel Geibels vom 29.7.1875, dokumentiert bei Gaedertz, Franz Emanuel August Geibel [o. J.], 5 f.
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die römische Lyrik, insbesondere die des Horaz mit einbezog.153 Obwohl diese Sammlung auf Anhieb großen Erfolg hatte, lehnte Geibel den Vorschlag seines Verlegers ab, eine Gesamtübersetzung des Horaz anzuschließen, und beschränkte sich bewusst auf die von ihm nach rein künstlerisch-ästhetischen Aspekten getroffene Auswahl von Gedichten, die ihm als Lyriker eine besondere Identifikationsmöglichkeit boten: Ein wirklicher Lyriker wird niemals den anderen in Bausch und Bogen übersetzen; er kann vielmehr stets nur ausgewählte Stücke wiederzugeben suchen, denen er sich bis zu einem gewissen Grade congenial fühlt, und die er dem Verständnisse auch des ungelehrten Publikums nahe zu bringen hoffen darf. Alles Übrige muss er meines Erachtens solchen überlassen, die bei ihrer Arbeit noch andere, als rein ästhetische Zwecke verfolgen, in unserem Falle den Philologen vom Fach.154
Geibels Äußerungen zur Übersetzungsproblematik lassen ein klares Bewusstsein für die unterschiedlichen Voraussetzungen und Ziele philologischer und poetisch-künstlerischer Übertragungen erkennen. Der intuitive Zugang, die subjektive Auswahl und der ästhetische Anspruch des Lyrikers werden dem fachwissenschaftlichen Interesse, dem Vollständigkeitspostulat und dem Streben nach metrischer Korrektheit des Philologen gegenübergestellt, ohne dass damit der philologischen Richtung die Existenzberechtigung abgesprochen würde. Rudolf Hunziker und Emil Ermatinger Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts findet man in Übersetzungsanthologien antiker Lyrik auffällig häufig den Zusatz „in modernem Gewande“, der offenbar ganz programmatisch den in der ersten Jahrhunderthälfte so beliebten Zusatz „im Versmaß der Urschrift“ ablösen sollte.155 Das im Gefolge von Humboldt und Voss einst so vehement vertretene Postulat einer strengen Nachbildung von Metrum (und Wortlaut) des anti_____________ 153 Das Classische Liederbuch ist in drei ‚Bücher‘ mit den Titeln ‚Griechische Lyriker‘, ‚Römische Elegien und Verwandtes‘ und ‚32 Oden des Horaz‘ (bzw. ‚Fünfzig Oden des Horaz‘ in der 3. Aufl.) untergliedert. Die zweite (vermehrte) Auflage erschien bereits 1876, ihre endgültige Gestalt erhielt die Sammlung mit der dritten Auflage von 1879. 154 Emanuel Geibel an Wilhelm Hertz, 29.8.1877, dokumentiert bei Gaedertz, Franz Emanuel August Geibel [o. J.], 6. 155 Vgl. z. B. Liebesbüchlein: Ein Cyklus altrömischen Lebens in Modernem Gewande von Fritz Herz, Halle a. d. Saale [1891]; Horaz in modernem Gewande. Ein Übersetzungsversuch von Heinrich Meichelt, Pforzheim 1899; Die Iphigeniesage in antikem und modernem Gewande von F[riedrich] Thümen, Berlin 1895 (1. Aufl. erschien 1881 als Beilage zum Programm des Gymnasiums zu Stralsund); Ausgewählte Oden des Horaz in modernem Gewande, übers. von Edmund Bartsch, Sangerhausen 1907; Antike Märchen in modernem Gewande, Kaethe Roese-Strang, Jena 1921; Die schönsten Verwandlungen des Ovid in modernem Gewande von Wilhelm Ebel, Breslau 1933; Perlen griechischer und römischer Lyrik in modernem Gewande von Wilhelm Ebel, Breslau 1933. Das Verfahren des ‚Entkleidens‘ konnte sogar bis zu einem völligen Unkenntlichmachen des antiken Ursprungs gehen, wie der Titel der 1893 von Hermann Stegemann (Pseud. Hermann Sentier) herausgegebenen Horaz-Übersetzung nahelegt: Des Horatius schönste Lieder. Der Antike entrückt und verdeutscht zu Nutz und Frommen der Poesie.
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ken Originals, das – allerdings bereits mit Einschränkungen – auch für die Übersetzer der Jahrhundertmitte wie Eduard Mörike oder Emanuel Geibel noch eine gewisse Verbindlichkeit besessen hatte, wurde nun vollends für überholt erachtet. Die Ergebnisse der jüngeren Metrik-Forschung hatten die bereits vorhandene Skepsis gegenüber der grundsätzlichen Übertragbarkeit antiker Versmaße auf die deutsche Sprache nur noch bestärkt,156 während gleichzeitig die sprachlichen und formalen Qualitäten genuin deutscher Dichtung an Ansehen gewannen. Im Zusammenhang mit dem Übersetzen antiker Dichtung kehrte man zu der bereits in der Zeit der Aufklärung vertretenen Auffassung zurück, es gehe beim Übersetzen vor allem darum, den Inhalt, die geistige Essenz der antiken Vorlage aus ihrer metrischen Form herauszulösen und in ein neues, der deutschen Sprache adäquates Formengefüge einzupassen. Um diesen Vorgang zu illustrieren, bedienten sich sowohl die Aufklärer als auch die Übersetzer am Ende des 19. Jahrhunderts gerne der Metapher des Ent- und Um-Kleidens eines Inhaltes aus einem alten in ein neues Sprach- bzw. Formengewand. Auch Ulrich von WilamowitzMoellendorff machte sich, wie weiter unten gezeigt wird, diese Gewandmetapher in seiner 1891 als Vorwort zu seiner Hippolytos-Übertragung erstmals erschienenen Abhandlung was ist übersetzen? zu eigen und nahm sie in seine Übersetzungsdefinition auf.157 1898 erschien unter dem Titel Antike Lyrik in modernem Gewande eine schmale Anthologie von Fragmenten und Gedichten griechischer und römischer Lyriker, übersetzt von den beiden Schweizer Literaturhistorikern Emil Ermatinger158 und Rudolf Hunziker159. Bemerkenswert an dieser Sammlung ist weniger ihre übersetzerische oder literarische Qualität als vielmehr der im Verhältnis zu dem geringen Gesamtumfang des Bandes sehr ausführliche, von Hunziker verfasste Anhang unter der Überschrift Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen 160. Diesem 15-seitigen Anhang wiederum ist ein separater 12-seitiger Anmerkungsteil beigegeben, der aufgrund der hier aufgeführten Quellenangaben die wohl ausführlichste Dokumentation zur Beschäftigung mit der Theorie der Übersetzung antiker Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt. _____________ 156 Vgl. u. S. 185 f. u. 203 f. 157 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, was ist übersetzen? (1891), 7, bzw. ders., Was ist übersetzen? (1925), 8; s. auch u. S. 201. 158 Emil Ermatinger (1873–1953), Germanist und Literaturhistoriker, hatte auch Klassische Philologie in Zürich und Berlin studiert, unterrichtete anschließend an der Kantonsschule in Winterthur und wurde 1909 auf eine Professur für Germanistik an der Eidgenössischen TH Zürich berufen. Von 1912 bis 1943 war er, zunächst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor an der Universität Zürich tätig. Ermatinger publizierte zahlreiche Werke zu literaturhistorischen Themen und unternahm auch eigene dichterische Versuche. 159 Rudolf Hunziker (1870–1946), Philologe und Gymnasiallehrer, hatte in Zürich Klassische Philologie und Vergleichende Sprachwissenschaft studiert und war nach der Promotion (1894) als Lehrer am Gymnasium Winterthur tätig. Hunziker, der leidenschaftlicher Sammler von Briefen und Briefwechseln, Lebenszeugnissen und Handschriften war, gab seit 1911 gemeinsam mit dem Bibliothekar Hans Bloesch die Sämtlichen Werke Jeremias Gotthelfs in 24 Bänden heraus. 160 Hunzikers Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 299–311.
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„Zum Geleite“ ist der Sammlung ein mit Neugeburt überschriebenes Gedicht von Emil Ermatinger vorangestellt, das in poetischer Form die wesentlichen übersetzungstheoretischen Motive, die auch Rudolf Hunziker in seinem Anhang behandelt, vorwegnimmt. Vor dem Hintergrund einer imaginierten griechischen Landschaft mit halb zerfallenen „Marmorsäulen“, wird eine antike Begräbnisszene geschildert, die Feuerbestattung einer „Jungfrau […] hingerafft im Lenz der Jugendjahre“161. Während ihre körperlichen Überreste „in der engen Nacht des Aschenkruges“ (VIII) zurückbleiben, wird ihr Geist durch die Flammen in den Himmel erhoben: „Soll er zu sich selber sich verklären, Muß der Schöpfer seine Form zerschlagen; Steigt zum Bad er in krystallnen Sphären, Wirft das Kleid er ab, das er getragen! „Neuverjüngt, wird er in lautrer Fülle Suchend durch des Weltalls Weiten schweben, Wird sich schaffen eine neue Hülle, Neu in alter Schönheit fortzuleben!“162
Das Motiv der Erneuerung und Verjüngung, das Zerschlagen der alten Form, das Ablegen des alten Gewandes und das Schaffen einer neuen Hülle werden an verschiedenen Stellen in Hunzikers übersetzungstheoretischer Abhandlung wieder aufgegriffen. Insgesamt ist die Übersetzungsmetaphorik allerdings recht inkonsequent, wird doch dem Leser zunächst das Bild der Übersetzung als exotisches Gewächs vor Augen geführt, das in fremde Erde verpflanzt werden soll163: Fremdländische Pflanzen ergötzen wohl unser Auge, aber sie gedeihen nicht bei uns; jede wahrhaft große Dichtung ist unnachahmbar, weil wir den Erdgeruch nicht nachahmen können, der sie würzt, und der uns ahnen läßt, daß ein ganzes Volk an dem Werke des einzelnen Menschen mitgearbeitet hat.164
Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, besteht nach Hunzikers Auffassung darin, das fremde Gewächs durch ein heimisches zu ersetzen: „Soll Homer ein Deutscher werden, so muß er im deutschen Erdreich wurzeln, so gut wie Schiller.“165 Um antike Dichtung im deutschen Sprachraum heimisch zu machen und auf diese Weise der Aufgabe gerecht zu werden, „auch anderen, Nichtkennern, den hohen künstlerischen Genuß zu verschaffen, den die Originaldichtungen ihm selbst bereiteten“, müsse der Übersetzer erst „die alte Form zerschlagen, um eine neue herzustellen“. Einerseits soll der moderne Leser „durch nichts Fremdartiges in seiner Begeisterung gestört werden“, andererseits soll sich vor seinem geistigen Auge „eine neue Welt“ auftun. Diese an sich unmögliche Aufgabe sei dann zu lösen, wenn man versuche, sie „in rein künstlerischem Sinn“ aufzufassen. Mit einer entfernt an Novalis anklingenden Wendung bekräftigt Hunziker: „wenn uns nur darum zu thun ist, Poesie durch Poesie
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Ermatinger, Zum Geleite (1898), VII. Ermatinger, Zum Geleite (1898), VIII. S. auch o. S. 30. Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 55. Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 69.
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wiederzugeben, dann läßt sich manche Klippe meiden“. Da das Übersetzen jedoch kein Handwerk und somit auch nicht erlernbar sei, reiche klassisch-philologische Bildung allein nicht aus, um den künstlerischen Anforderungen einer Übertragung zu genügen. Vielmehr müsse der Übersetzer immer in dem Bewusstsein handeln, „daß er ein Kunstwerk vor sich habe, und daß er ein Kunstwerk schaffen will“.166 Inhalt und Form sind für Hunziker in gleicher Weise „Ausflüsse des Zeit- und Volkscharakters“ und „in jedem Kunstwerk zu unlöslicher Harmonie verflochten“; letztlich entscheide jedoch der Inhalt darüber, „ob eine Dichtung auch in fremdem Gewand unvergänglich wirkt“.167 Unter Berufung auf Wilamowitz’ Übersetzungsdefinition168 gibt Hunziker schließlich seine eigene Bestimmung einer poetischen Übersetzung: Gewiß; wenn der poetisch gewaltige Inhalt rein und elementar auf unsere Zeitgenossen wirken soll, wenn sie das Gefühl erhalten sollen, ein Originaldichtwerk und keine Übertragung vor sich zu haben, dann muß der Übersetzer die poetischen Gedanken, den poetischen Inhalt der alten Dichtungen im Geist der Gegenwart neu empfinden. So allein wird Poesie poetisch übersetzt, so allein läßt sich die poetische Treue wahren.169
Die Aufgabe und die Kunst des Übersetzers bestehe dabei vor allem im Auffinden moderner Äquivalente für antike Bilder, Wendungen und Anschauungen. Er soll „den antiken Inhalt mit modern-lyrischen Empfindungen durchsetzen“, um ihn wieder „in voller Lebenskraft“ wirken zu lassen. Doch dürften die antiken Anschauungen dabei nur „aufgefrischt, nicht aber weggewischt“ werden.170 Die künstlerische Zurückhaltung, die ein Dichter üben müsse, der sich „von oben her den Intentionen seines Originals“ anpassen wolle, wird von Hunziker als direkte Entsprechung zu dem Bemühen des Philologen gesehen, „sich von unten her der Kunstgrenze zu nähern“.171 Hunziker geht es also vor allem darum, das Fremde „möglichst heimisch“ zu machen. Wie bereits einige Jahrzehnte zuvor Dingelstedt und die Münchner fordert auch er: „[D]er Dichter soll sich bei uns einbürgern, ganz der unsrige werden. So ist Shakespeare ein Deutscher geworden, so sind das zweite und vierte Buch der Aeneis in unsere Litteratur übergegangen“.172 So soll denn jede Übersetzung auch aus sich heraus, d. h. ohne umfangreiche Anmerkungsteile, verständlich sein. Bisweilen darf sie sogar selbst _____________ 166 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 56 f. 167 Vgl. Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 57. 168 S. u. S. 201. 169 Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 58; s. auch o. S. 79 u. 84 f. 170 Dennoch gibt sich Hunziker recht großzügig in seinen Zugeständnissen an die übersetzerische Freiheit, wenn er sich beispielsweise erlaubt, in der Lamia-Ode des Horaz (c. I, 26) „an die Stelle des schönen jungen Freundes ein munteres Liebchen“ zu setzen, um die befremdliche Wirkung auf den modernen Leser zu mildern; vgl. Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 60. 171 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 60 f. 172 S. o. S. 138 f.
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kommentierende Funktionen übernehmen, indem sie knappe oder dunkle Anspielungen des Originals „etwas breiter“ ausführt oder „einen erklärenden Vers“ hinzufügt.173 In der Frage der Metrik vertritt Hunziker eine radikale Position: „Hat man die Sprache eines Dichtwerkes einmal aufgegeben, dann erfordert die natürliche Konsequenz, daß dasselbe auch seine metrische Tracht wechsle“ (64). Der Hexameter sei, anders als bei den Griechen, für die deutsche Lyrik unbrauchbar, weil er falsche Assoziationen hervorrufe. Aber auch für die Homer-Übersetzung erscheint er problematisch: „Die Gedanken sind die unsrigen geworden, die Form ist die fremde geblieben“ (65). Hunziker plädiert daher für einen „deutschen“ Homer in einem „deutschen“ Versmaß und schlägt dafür den fünfhebigen Jambus vor.174 Für die Nachbildungsversuche antiker Versmaße bei den deutschen Klassikern zeigt er, angesichts der zu ihrer Zeit gerade erst geweckten Antike-Begeisterung, durchaus Verständnis, führt sie aber letztlich darauf zurück, dass man „damals nicht mit vollem Bewußtsein die Form vom Inhalt zu trennen vermochte“ (66). Obwohl der Hexameter den deutschen Versen zu mehr Leichtigkeit und Versabilität verholfen habe, werde er noch immer „als etwas Fremdes, der deutschen Sprache nur Angelerntes“ (67) empfunden. Aus diesem Grunde seien auch seit der Goethezeit kaum noch originär deutsche Dichtungen in diesem Versmaß entstanden. Schiller dagegen habe mit seiner Vergil-Übertragung in stanzenartigen Strophen den richtigen, wenn auch noch nicht den besten Weg zum übersetzerischen Umgang mit den epischen Versmaßen aufgezeigt. Doch auch für die „komplizierteren“, d. h. lyrischen Versmaße empfiehlt Hunziker das Aufsuchen deutscher Entsprechungen: Unsere deutschen Dichter, vorab die Klassiker, haben in der Lyrik so viel Schönes geschaffen, daß es für einen Übersetzer nicht allzuschwer sein dürfte, für das Versmaß einer sapphischen Ode oder der Chorgesänge eines Aischylos ein deutsches Äquivalent zu finden […].175
Das Ziel des Übersetzens liegt für Hunziker nicht darin, etwas Ewiges zu schaffen, sondern vielmehr darin, „dem Ewigen ein vergängliches Kleid überzuwerfen“ (69). Die fortwährende Anpassung der Übertragungen an die veränderten Zeitumstände hält er geradezu für eine unabdingbare Voraussetzung, um das Fortleben der antiken Werke zu sichern: Jedes Volk, jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Horaz. Aber gerade dadurch ist er unvergänglich, daß jede Zeit ihn besitzen kann, daß er auf jedes Volk in seiner Weise wirkt.176
_____________ 173 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 62. 174 Vgl. Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 65; s. auch o. S. 20 f. (G. A. Bürgers jambische Homer-Übersetzung). 175 Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 69. 176 Hunziker, Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen (1898), 69.
Übersetzung und performative Wirkung Während sich Eduard Mörike und Emanuel Geibel in ihren Übersetzungen antiker Literatur vor allem auf kleinere lyrische Stücke beschränkten, wandten sich Zeitgenossen wie Adolf Wilbrandt und Wilhelm Jordan auch den großen Gattungen Drama und Epos zu, um sie unter Berücksichtigung veränderter Bildungsvoraussetzungen und Rezeptionsgewohnheiten des bürgerlichen Publikums neu zu übertragen. Dabei nahmen sie vor allem die performativen und wirkungsästhetischen Aspekte der antiken Ausgangstexte in den Blick und beriefen sich auf die vorliterarischen Ursprünge des Homerischen Epos und der attischen Tragödie, die ihr Publikum zu ihrer Zeit allein durch den von Musik begleiteten Rhapsoden-Vortrag bzw. die dramatische Darbietung durch Schauspieler und Chor auf der Theaterbühne, nicht jedoch durch die Verbreitung geschriebener Texte erreicht hatten. Die Sprache der Übersetzungen ‚im Versmaß des Urtextes‘ wurde zunehmend als unnatürlich, gekünstelt und ‚undeutsch‘ empfunden, da sie weder von der unterstellten ursprünglichen Volkstümlichkeit der Homerischen Epen einen Eindruck vermittelte noch den an der Umgangssprache orientierten Tonfall des Dramendialogs oder das musikalische Element der Chorgesänge in zufriedenstellender Weise wiederzugeben vermochte. In neuen, bewusst auf die Vortragssituation hin angelegten Übertragungen versuchte man daher, eigene dichterische und dramaturgische Erfahrungen einer publikumswirksamen Vermittlung antiker Literatur in deutscher Sprache dienstbar zu machen. So war der Tragödien-Übersetzer und spätere Burgtheaterdirektor Adolf Wilbrandt auch Autor erfolgreicher deutscher Bühnenstücke. Wilhelm Jordan, der neben Sophokles-Dramen auch beide Homerischen Epen übertrug, hatte selbst ein zweiteiliges Nibelungen-Epos in Stabreimen verfasst,177 das er nach Art eines ‚fahrenden Rhapsoden‘ auf zahlreichen Rezitationsreisen, die ihn bis nach Amerika führten, auswendig vortrug. Adolf Wilbrandt Der dem Münchner Dichterkreis nahestehende Dramatiker und Novellendichter Adolf Wilbrandt178 verfolgte mit seinen ganz auf die Bühne zugeschnittenen Übertragungen griechischer Dramen eine radikale Verlebendigungsstrategie.179 Aus gesundheitlichen Gründen längere Zeit an eigener produktiver Arbeit gehindert, wandte er sich während _____________ 177 Jordan, Wilhelm Jordan’s Nibelunge (1867–1874). 178 Adolf Wilbrandt (1837–1911) war nach juristischen und historischen Studien in Rostock, Berlin und München, die er 1859 mit der Promotion abschloss, als Journalist und freier Schriftsteller tätig. Seit 1871 lebte er in Wien, wo er von 1881 bis 1887 Direktor des Burgtheaters war. Anschließend kehrte er in seine Heimatstadt Rostock zurück, wo er sich ganz seiner literarischen Arbeit widmete. 179 S. auch u. S. 307.
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eines Genesungsaufenthaltes in Italien180 der intensiven Lektüre antiker Autoren zu und übersetzte die Sophokles-Tragödien König Ödipus, Elektra und Antigone sowie das Satyrspiel Kyklops des Euripides, die 1866 im Druck erschienen.181 Nachdem das Meininger Hoftheater bereits im Dezember desselben Jahres den König Ödipus und die Antigone mit großem Erfolg auf die Bühne gebracht hatte und man Wilbrandt um die Vervollständigung der Sophokleischen „Trilogie“182 gebeten hatte, veröffentlichte er 1867 vier weitere Tragödienübersetzungen: Oedipus in Kolonos und Philoktetes von Sophokles sowie Medea und Hippolyt von Euripides.183 Beide Publikationen tragen den programmatischen Titelzusatz „Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen“, der von Wilbrandt gleich zu Beginn seines Vorwortes zum ersten Band184 näher erläutert wird. Ausschlaggebend für die Übertragung der Sophokles-Dramen war demnach die Überzeugung, daß einige seiner Tragödien sich ohne allzu große Gewaltthaten für unsere heutige Bühne würden herrichten lassen. Nicht nur in der antikisierenden Weise, in der man Antigone und die beiden Oedipus, mit Mendelssohn’s und Lachner’s Musik, Wort für Wort, also mit dem Schein, das antike Theater wiederherzustellen, aufgeführt hatte: sondern unter den Bedingungen unsrer eigenen Bühne und mit ihren eigenen Mitteln.185
Wilbrandt spricht sich damit deutlich gegen die seinerzeit sehr beliebten klassizistischrekonstruierenden Tragödieninszenierungen aus, die sich an der berühmten Potsdamer Antigone-Aufführung des Jahres 1841 orientierten.186 In sprachästhetischer Hinsicht erscheint ihm die „Sophokleische Redeweise“ in Übertragungen, die lediglich nach „äußerer“, d. h. wörtlicher und metrischer Treue streben, oft „verschränkt und künstlich“.187 Zwar hält er die Nachbildung antiker Versmaße im Deutschen grundsätzlich für möglich, glaubt aber auch, dass deren vielfache Wiederholung bei den Zuhörern _____________ 180 Die Hinwendung zum Übersetzen als einem therapeutischen Mittel findet sich auch bei den Mitgliedern des Münchner Dichterkreises Emanuel Geibel und Heinrich Leuthold. 181 Wilbrandt, Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel (1866). 182 Gemeint waren damit die drei Ödipus-Dramen des Sophokles König Ödipus, Antigone und Ödipus auf Kolonos. Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Vier Tragödien] (1867), X. 183 Wilbrandt, Vier Tragödien des Sophokles und Euripides (1867); eine „Zweite Auflage“, die allerdings nur Wilbrandts Sophokles-Übertragungen (mit Ausnahme des Philoktetes) aus beiden Bänden enthält, erschien 1903 unter dem Titel Sophokles’ ausgewählte Tragödien. König Oedipus – Oedipus in Kolonos – Antigone – Elektra (1903). 184 S. auch Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 205–215. 185 Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), VII. S. auch ebd. XVI: „Ist Sophokles noch heute ein großer Dichter und ein dramatischer Meister, so muß er auch noch heute lesbar und bühnenmöglich sein; so muß er auch die Sprache unserer Poesie und die Coulissen unserer Bretterwelt vertragen können.“ 186 Unter der Regie Ludwig Tiecks war die Sophokles-Tragödie in einer auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Rekonstruktion der antiken Bühnensituation unter Verwendung der von August Boeckh bearbeiteten versgetreuen Donner-Übersetzung und mit Chor-Vertonungen von Felix Mendelssohn-Bartholdy im Theater des Neuen Palais aufgeführt worden; s. o. S. 91; s. auch Flashar (2009), 58, 64–72 und 365 Anm. 30–33. 187 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XIII.
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schnell zur Ermüdung führe.188 Der deutsche Trimeter sei kein „dramatisches, lebendiges und leichtes Maß“ (XXII) wie der griechische, sondern wirke „bei uns ernst und schwer“ (XXIII), da sich seine Einförmigkeit nicht so reich variieren lasse. Dies gelte in noch höherem Grade für die Chormaße: So lange ein bestimmtes, lebendiges Versmaß, wie etwa der Anapäst, eine Weile gleichmäßig wiederkehrt, oder mit ähnlich ausgeprägten und leichtvernehmlichen wechselt, so lange zwar sind wir fähig mit Genuß zu folgen; aber sobald die rein griechischen Kunstmittel, Quantität und Rechnung und die Empfindung des musikalischen Flusses, den der Dichter als sein eigener Componist mitgebar, – sobald diese in der Nachahmung alleinherrschend auftreten, will ich Den sehen, der die Form – zumal von der Bühne herunter – noch ästhetisch nachzuempfinden vermag.189
Wilbrandt betont, dass die Herstellung eines bühnenwirksamen Textes ganz andere Anforderungen an einen Übersetzer stellt, als dies bei Übertragungen der Fall ist, die sich hauptsächlich an ein Lesepublikum richten.190 Während der Leser einer Übersetzung sich durchaus noch „mit einiger Geduld und Neubegierde – in alle Formen des Auslandes hineinfinden“ könne, habe die Bühne ihre eigenen Gesetze, nach denen der Menge „das Unbekannte, Unnationale“ nicht aufgedrängt werden könne.191 Das Ziel einer modernen Bühnenadaption der antiken Tragödie liegt für Wilbrandt deshalb darin, die „Kluft der geschichtlichen Entfernung auszufüllen, das Fremde zu verdeutschen, das Abgestorbene durch Lebendiges zu ersetzen“192. Darüber hinaus spielen bei Wilbrandt auch bildungssoziologische Erwägungen eine wichtige Rolle. Er konstatiert den fortschreitenden Verlust eines humanistischen Bildungskanons, in dessen Folge ein Großteil des Publikums nicht mehr über ausreichende Kenntnisse verfüge, „um sich ungestört zu den athenischen Theaterbesuchern setzen und mitgenießen zu können“.193 Zudem werde vielen das Eindringen „in jene alte Poesie“ (X) durch die „abgestorbene Bühnengestalt“ (XI), den befremdenden Chor, die „andern Gesetzen folgenden Versmaße und Strophengebäude“ (XI) sowie die Eigenheiten des tragischen Dialogs erschwert. Gleichwohl bemerkt Wilbrandt ein von _____________ 188 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XXII. 189 Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XXIII. 190 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), VIII: „Denn die Bühne erträgt nicht, was der Leser erträgt.“ 191 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), VIII. 192 Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XIV. Die metaphorische Gegenüberstellung des „Abgestorbenen“ und des „Lebendigen“ lässt sich durch Wilbrandts gesamtes Vorwort verfolgen. Wilbrandt spricht hier u. a. von „abgestorbener Bühnengestalt“ (XI), von der „abgestorbenen Symbolik“ des Chores (XVIII) und bezeichnet die Sophokleischen Stichomythien als „unlebendige Spielerei“ (XIV); der attische Chor lasse sich „so wenig wie andere Todte erwecken“ (XVII) und werde auch durch die moderne Hülle Mendelssohnscher Musik „nicht lebendig“ (XVII); andererseits müsse beim Übersetzen an den „Genuß der Lebenden“ (XV) gedacht werden; Wilbrandt selbst hält es für seine Aufgabe, „den Gesängen so viel theatralische Lebendigkeit wie irgend möglich zu geben“ (XXIX); er will nicht „über die Gränze hinaus“ gehen, „wo die Treue die Wirkung tödtet“ (XXI) und bezeichnet an anderer Stelle „philologische Treue“ als „tödtlich“ (XXX). 193 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), IX f.
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Jahr zu Jahr ansteigendes Publikumsinteresse an der antiken Tragödie, an dem vor allem „die Frauenwelt“ (X) einen erheblichen Anteil habe. Wilbrandts Vorbehalte gegenüber einer historisierenden Aufführungspraxis antiker Tragödien resultieren nicht zuletzt auch aus dem Misstrauen gegenüber den wissenschaftlichen Rekonstruktionsversuchen antiker Musik, Metrik und Diktion. Selbst in dem „günstigsten Fall“, dass alle „den Sophokles in griechischer Sprache lesen“ könnten und „mit dem griechischen Theater hinlänglich bekannt“ wären194, würde noch immer Keiner unwidersprechlich zu sagen wissen, wie denn in der griechischen Orchestra gesungen, wie auf der griechischen Bühne gesprochen ward; in welcher Art Chor und Wechselgesang, Recitativ und Declamation, Tanz und Musik sich einzeln ergingen und zu dem Gesammtbild vereinten, das nun als aufgeschriebenes Räthsel uns aus stummen Lettern und philologischen Commentaren entgegenblickt.195
Aus den angeführten Gründen strebt Wilbrandt selbst eine Einrichtung der antiken Werke für die „Bedingungen unsrer eignen Bühne“ (VII) an. Dabei müsse die Wirkung der Übertragung „auf den heutigen Zuschauer und den heutigen Leser“ (VIII) und nicht auf ein „alt-athenisches Publikum“ (XX) berechnet sein: Es gilt, durch die Mittel unserer Sprache die gleichen Wirkungen hervorzurufen, die der Grieche durch die seinigen erzielte; dem Pathos seiner Helden die äußere und innere Lebendigkeit wiederzugeben, die ihm damals der durch den Dichter einstudirte Vortrag verlieh; die Wirksamkeit des Chors ebenso für unser Gefühl in den dramatischen Verlauf hineinzuflechten, wie sie für das Gefühl des griechischen Zuschauers damit verwebt war; und jenen Stichomythien durch freiere Bewegung die Natürlichkeit zurückzugeben, die sie in der alten Form nur für das alte Theater haben konnten.196
In der konkreten Umsetzung seines Verlebendigungskonzepts gestattet sich Wilbrandt erhebliche Eingriffe in die ursprüngliche Textgestalt der Originale, da ihm eine „wahrhafte Aneignung der Sophokleischen Tragödien nur durch bewußte Umarbeitung möglich erscheint“ (XIV). Nicht in der Bewahrung von Wortlaut und Versmaß, sondern in dem Bemühen, den antiken Stoff mit modernen Mitteln so zu bearbeiten, dass er auch das moderne Theaterpublikum unmittelbar ergreift, besteht für ihn die wirkliche Treue zum Original. Diese Überzeugung bringt er auf die prägnante Formulierung: „nur was wirkt, ist lebendig, und nur was lebendig ist, ist treu“ (XVI). So will er in seiner Übertragung zwar an Plan, Handlung und Charakterzeichnung des Originals festhalten, „in den Einzelnheiten der Formengebung“ sollen jedoch die „eignen Bedürfnisse“ zur Geltung kommen.197 Anstelle des griechischen Trimeters, den Wilbrandt als „spröden Fremdling“ (VIII) bezeichnet, macht er den fünfhebigen Jambus zum „Führer des Dialogs“ (VIII), der für ihn die moderne Entsprechung zum antiken Trimeter dar-
_____________ 194 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), IX. 195 Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), IX f. 196 Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XIV. Der Aspekt der Natürlichkeit wird später auch von Bruno Snell wieder aufgegriffen, s. u. S. 265 f.; s. auch o. S. 24, 71 u. 86 f. 197 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XV.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen
stellt198. Besonders radikal verfährt Wilbrandt mit dem Chor der antiken Tragödie, der seiner Ansicht nach durch den Verlust der ursprünglichen Musik auch seine ursprüngliche dramatische Funktion eingebüßt habe und nur noch „wie ein blasses Theorem“ (XVIII) zwischen den handelnden Menschen stehe. Er will den Chor „seiner abgestorbenen Symbolik“ entkleiden und ihm „eine schickliche Individualität“ verleihen, indem er Chorlieder kürzt oder gar ganz streicht oder aber den Text auf einzelne Sprecher oder Chorgruppen verteilt.199 Beim Publikum fanden Wilbrandts Übersetzungen offenbar Anklang, wie allein schon der Wunsch der Meininger nach Vervollständigung der „Ödipus-Trilogie“ zeigt.200 Dabei war es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet das Meininger Hoftheater, das die historisierende Aufführungspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie keine zweite Bühne in Deutschland kultivierte, sich auf Wilbrandts explizit antiklassizistisch-modernisierenden Tragödien-Übertragungen stützte.201 Wilbrandt selbst brachte – zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner beiden Übersetzungsbände – als Direktor des Wiener Burgtheaters vier der von ihm übersetzten antiken Dramen zur Aufführung.202 Den größten Erfolg hatte er dabei mit dem König Oedipus, der nach Wilbrandts eigener Aussage zum „Zug- und Kassenstück des Burgtheaters“203 wurde und bis 1899 insgesamt 30 Vorstellungen erlebte.204 Im Vorwort zu der 1903 erschienenen zweiten Auflage seiner Sophokles-Übertragungen äußert Wilbrandt sich höchst zufrieden über die Akzeptanz, die seine Übersetzungsmethode mittlerweile auch in Philologenkreisen erfahre. Als Zeugnis dafür führt er die Aufführung seiner – sehr freien – Bearbeitung der Aristophanes-Komödien Lysistrate und Ekklesiazusen unter dem Titel Frauenherrschaft 205 im Rahmen des Kölner Philologentags von 1895 an, die „den fröhlichen Beifall der Versammlung fand“206. Auch durch die Tragödienübersetzungen des „tiefgelehrte[n] Philolog[en]“ (V) Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff fühlt Wilbrandt sich mit seiner Übersetzungsstrategie insofern bestätigt, als auch Wilamowitz _____________ 198 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XXIII: „[E]r [scil. der Trimeter] klingt bei uns […] ernst und schwer, während er den Griechen ein bequemes flüssiges Maß war – während er ihnen eben das war, was uns der moderne fünffüßige Jambus ist.“ 199 Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XVIII. Vgl. auch ebd., XXVII: „Endlich habe ich einen Theil der Worte des Chors (V. 479–502), weil sie mir nur so zu voller Wirkung zu gelangen schienen, der Elektra in den Mund gelegt.“ 200 Vgl. Wilbrandts Vorwort zu Vier Tragödien des Sophokles und Euripides. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt. Nördlingen 1867, X. 201 Vgl. Flashar (2009), 93 ff. 202 Sophokles’ Elektra und das Euripideische Satyrspiel Der Kyklop (offenbar als Nachspiel zur Elektra) im Januar 1882; König Oedipus im Dezember 1886; Oedipus auf Kolonos im März 1887. 203 Wilbrandt, Sophokles’ ausgewählte Tragödien (1903), IV. 204 Vgl. Flashar (2009), 98. Zur Aufnahme der von Wilbrandt inszenierten antiken Dramen beim Wiener Publikum vgl. Wilbrandt, Erinnerungen (1905), 43 ff. 205 Wilbrandt, Frauenherrschaft. Lustspiel in vier Aufzügen, nach Aristophanes’ Ekklesiazusen und Lysistrate (1892). Der Rezensent Gustav Zieler bezeichnet das Stück als „eine bewundernswerte ‚Veranständigung‘ dieser unanständigsten aller aristophanischen Komödien“; vgl. Zieler (1901), Sp. 569. 206 Wilbrandt, Vorwort zur zweiten Auflage (1903), IV.
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den Chorgesängen […] freie, selbstgewählte Rhythmen gibt, und nur noch beim Äschylos den Trimeter als Dialogvers nachbildet, bei Euripides und Sophokles ihn, wie ich, durch unsern dramatischen Vers ersetzt. Es leitet ihn offenbar dasselbe Gefühl, das mich in meiner Jugend trieb: daß es vor allem gelte, die alten Meister wieder lebendig zu machen; und angeweht vom Hauch unsrer Tage sucht er deren Forderungen mit ganzer Kraft zu erfüllen: Natürlichkeit und Verständlichkeit.207
Bei allen Bemühungen um eine bühnenwirksame Umgestaltung des Originals geht es Wilbrandt keineswegs darum, die Existenzberechtigung philologischer, formbewahrender Übertragungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Vielmehr empfiehlt er sie sogar all jenen, die in erster Linie, „Eigenart und Aufbau eines Sophokleischen Dramas kennen“ lernen wollen, da hier „alle die antiken Versmaße“, der Chor in seiner ursprünglichen Gestalt und alle zeitgenössischen Anspielungen zu finden und „in beigefügten Commentaren“ erläutert seien.208 An anderer Stelle räumt Wilbrandt ein, dass es auch ihn selbst oftmals Überwindung gekostet habe, „den ehrwürdigen Text mit dem Messer anzugreifen, oder einen eigenen Ton, wo es unerläßlich war, hinzuzuthun.“209 Doch diene sein „Opfer der Selbstüberwindung“210 in erster Linie „der Sache“ und damit seinem übersetzerischen Ziel, eine bühnenwirksame Textfassung herzustellen und die griechische Tragödie damit auch solchen Publikumsschichten zugänglich zu machen, denen Verständnis und ästhetischer Genuss des antiken Dramas andernfalls verwehrt bliebe. Wilhelm Jordan Der Wunsch, einem breiten Publikum auf dem Wege der Übersetzung auch einen Eindruck von der performativen Dimension des griechischen Epos und der griechischen Tragödie zu vermitteln, bestimmt, ähnlich wie bei Wilbrandt, auch die Übersetzungsstrategie des Schriftstellers Wilhelm Jordan.211 Als Zielpublikum seiner _____________ 207 208 209 210 211
Wilbrandt, Vorwort zur zweiten Auflage (1903), V. Vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XIII. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XXI. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XXI. Wilhelm Jordan (1819–1904) hatte in Königsberg Theologie und Philosophie studiert. Nach seiner Promotion (1842) arbeitete er als freier Schriftsteller und Publizist in Leipzig. Aus politischen Gründen aus Sachsen vertrieben, ging er zunächst nach Bremen, dann als Korrespondent der Bremer Zeitung nach Paris. 1848 wurde er in das Paulskirchenparlament gewählt, wo er erst der linken, später der rechten Fraktion angehörte. Aus einer kurzzeitigen Tätigkeit als Ministerialrat in der Marineabteilung des Handelsministeriums (1848–1849) bezog er in der Folge eine Pension, die es ihm ermöglichte, sich bis an sein Lebensende seinen literarischen Interessen zu widmen. Jordan veröffentlichte mehrere Gedichtbände, verfasste Dramen und Romane und verarbeitete den Stoff der Nibelungensage zu einer neuen epischen Erzählung. In seiner Übersetzung erschienen Shakespeares Gedichte (1861), Die Tragödien des Sophokles (1862), Homers Odyssee (1875) und Homers Ilias (1892). Darüber hinaus verfasste er Schriften zur epischen Metrik. Jordans Einleitung zu seiner Übersetzung der Odyssee ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 217– 235.
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Sophokles- und Homer-Übertragungen nennt er neben Lesern „ohne Kenntniß des Griechischen“212 auch „Zuschauer der Gegenwart“213 bzw. eine „Zuhörerschaft, bestehend aus gebildeten Sprachgenossen die des Griechischen nicht, oder doch nicht genügend mächtig wären“214. Die spezifischen Interessen dieser Zielgruppe seien in der Vergangenheit vielfach deswegen übergangen worden, weil die meisten Übersetzer in ihrem Bemühen um Anerkennung in Philologenkreisen geschrieben hätten: „Was konnte da herauskommen? Was anders als Machwerke, allenfalls brauchbar als Eselsbrücken für den Schüler, im Uebrigen aber zum Verständniß eben das erfordernd, was zu ersetzen ihr Zweck war: die Kenntnis des Originals.“215 Demzufolge hält Jordan das Übersetzen auch nicht in erster Linie für eine Angelegenheit der Philologen als vielmehr für eine Aufgabe der Dichter, die nicht nur die fremde Sprache „vollständig erworben“, sondern sich auch „lange Jahre“ im künstlerisch-produktiven Umgang mit der Muttersprache geübt haben sollten.216 Jordan selbst, der sich mit seinem Nibelungenepos bei einem Teil des Publikums den Ruf als „erster Epiker Deutschlands“217 erworben hatte, von zeitgenössischen Autoren wie Fontane, Keller oder Storm allerdings nicht recht ernst genommen wurde,218 beruft sich im Vorwort zu seiner Ilias-Übersetzung mehrfach auf seinen „persönlichen Vortheil“ als ein „Poet […], welcher sich die epische Kunst selbst angeeignet hatte in ihrer einzig möglichen Schule, in der Ausübung des Rhapsodenberufes“219. Seine Übersetzung der Odyssee „will genossen sein mit den Ohren von den Lippen“220, und auch die Dramen des Sophokles betrachtet er „nicht ausschließlich vom philologischen Standpunkt und mit dem Mikroskop der grammatischen Forschung“, sondern, „unter gewissenhafter Mitbenutzung dieses gelehrten Apparates, vorzugsweise mit dem Auge des Dramaturgen, mit der Phantasie des Scenikers.“221 _____________ 212 213 214 215 216
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Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XIV ff. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XXVI f. Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), IX. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XV. Vgl. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XVII. Vgl. auch ebd., XVIII: „Dennoch haben sich Männer, welche sonst in ihrem Leben offenbar keinen Vers geschrieben hatten, blos weil sie griechisch verstanden, berufen geglaubt, den Sophokles ‚im Versmaaße des Urtextes‘ zu übersetzen.“ Vgl. u. Anm. 218. Theodor Storm zitiert in seinem Brief an Gottfried Keller vom 18.2.1879 offenbar den Wortlaut einer zeitgenössischen Literaturgeschichte. Vgl. den Brief Theodor Storms an Gottfried Keller vom 18.2.1879: „Vor Weihnachten hatten wir auf besondere Veranlassung W. Jordan hier; er rhapsodierte genau 1½ Stunden in unsrer Aula von Siegfrieds Abschied (zur Jagd) bis inkl. zu seinem Tode; und ich hörte das an. Aber Gott stehe mir in Gnaden bei! Was ist das für elendes Zeug! […] Und diesen Mann nennen Literaturgeschichten den ersten, einen gewaltigen Epiker!“, und Kellers Antwort vom 26.2.1879: „Den koketten Rhapsoden Jordan hab ich vor Jahren hier auch gehört, und zwar in den gleichen Kapiteln; gar wunderbar war es, das kränkliche Knäblein der Brunhild (welch modernes Romanmotiv!) zu Sigfried sagen zu hören: ‚Du bist lieber als Papa.‘“ Keller/Storm, Briefwechsel (1909), 52 f. und 57. Jordan, Vorwort zur ersten Auflage [von Homer, Ilias] (1882), XXII. Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XLI. Vgl. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XXI f.
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Doch auch eine allzu freie Übersetzungsweise im Stile von Schillers EuripidesÜbertragungen lehnt Jordan ab. Vor allem die Wiedergabe der Chöre in Reimstrophen hält er für problematisch, da die Verwendung des Reimes notwendigerweise Vorstellungen und Empfindungen hervorrufe, die der griechischen Tragödie fremd seien: Lauter Vorstellungen die im Bereich der Antike ganz unmöglich sind und ihrer edeln Einfalt die verweichelte Empfindelei einer zweitausend Jahre späteren Hypercultur verunstaltend beimengen. […] Arbeitet man sich einmal hinein in eine solche gedankenblasse Verweichelung der schönen aber marmorharten Gestalten der antiken Tragödie, dann kommt man zuletzt dahin, ihnen auch den Kopf abzuschlagen und einen neuen aus eigner Fabrik aufzusetzen.222
Jordan selbst favorisiert einen „Mittelweg“ zwischen wörtlicher und freier Übertragung.223 Wörtliche Übersetzungen erscheinen ihm schon deshalb unmöglich, weil keine Sprache „nur aus Worten“ bestehe und sich wie „ein Haufenwerk von losen Mosaiksteinchen“ in beliebiger Folge zusammensetzen lasse. Größeren Wert legt er darauf, dem Publikum den „Gedanke[n] des hellenischen Schriftstellers“ zugänglich zu machen. Dabei strebt er nicht Deckungsgleichheit, oder wie Goethe es gefordert hatte, ‚Identität‘ von Übersetzung und Original an,224 sondern lediglich größtmögliche Annäherung. Der Übersetzer soll sich „des nächstliegenden deutschen Ausdruckes“ und „der meist entsprechenden von den üblichen Redewendungen der Muttersprache“ bedienen.225 Die Übersetzung soll auf den modernen Leser bzw. Zuschauer „den nächstmöglichen Eindruck wie das Original“ machen. 226 Im Vorwort zu seiner Odyssee-Übertragung227 entwickelt Jordan, um seine Übersetzungsstrategie zu veranschaulichen, eine veritable „Theorie der poetischen Störungen“228. Dieser Theorie zufolge kann ein Dichter die von ihm angestrebte „Schönheitslinie“ – von Jordan als Diagonale in einem „Kräfteparallelogramm“ zwischen dem „Ideal des klaren Gedankens“ und dem „Ideal des reinen Wohllauts“ imaginiert – niemals in reiner Form erreichen. Wie die Planeten sich in ihrem Umlauf um die Sonne nicht auf einer vollendeten Ellipsenbahn bewegten, sondern „eine verwickelte Kurve“ beschrieben, so beschrieben auch die Verse eines Dichters „eine Wellenlinie auf der Schönheitslinie“229. Bei der Nachahmung poetischer Kunstwerke komme es nun darauf _____________ 222 Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XXXV f. Als Beispiele für solche antikeferne Ergänzungen führt Jordan Verse aus den Sophokles-Übersetzungen von Carl Theodor Gravenhorst (Griechisches Theater. Für deutsche Leser, Stuttgart/Augsburg 1856) und J. G. Müller (Philoktetes frei in der Form nach Sophokles v. J. G. M., Celle 1855) an. 223 Vgl. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XIX. 224 S. o. S. 45. 225 Die vorangehenden Zitate finden sich in Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XIV f. 226 Vgl. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XXVII. 227 Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875). 228 Vgl. Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XIV–XVIII. 229 Der Begriff der „Schönheitslinie“ geht auf den englischen Maler William Hogarth (1697–1764) zurück, der in seiner kunsttheoretischen Schrift The Analysis of Beauty (1753) im Sinne des Rokoko die Schlangen- bzw. Wellenlinie auf der Fläche oder im Raum als „Line of Beauty and Grace“ verabsolutierte. Für Jordan dagegen stellt die Wellenlinie gerade eine Abweichung von der
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an, „daß der Nachbildner die vom Original nicht eingehaltene, aber erstrebte Schönheitslinie aus den Abweichungen nach beiden Seiten […] abzuleiten […] vermag“. Das unmittelbare Nachschreiten auf der wellenförmigen Bahn des Urtextes, das dem Bemühen um eine wörtlich und metrisch genaue Nachbildung entspräche, habe dagegen eine Verdoppelung der „Störungswellen“ zur Folge. Da die Fähigkeit zur Rekonstruktion der idealen Schönheitslinie nur durch die langjährige Erfahrung eigenständigen literarischen Schaffens erworben werden könne, sei jeder Versuch einer Übertragung eines Dichters „in der Urform“ zum Scheitern verurteilt, „wenn ihn ein Nichtdichter unternimmt“.230 Eine der wichtigsten Aufgaben des Übersetzers in diesem Zusammenhang stellt für Jordan das Korrigieren der „Zufälligkeiten des Originals“ (XXI) nach der Schönheitslinie hin dar. Durch die Notwendigkeit, den metrischen Konventionen seiner Zeit zu genügen, habe sich auch der (Original-)Dichter häufig gezwungen gesehen, Kompromisslösungen zwischen Wohlklang und formaler Korrektheit zu finden und damit von der angestrebten Ideallinie abzuweichen. Um diesen kompromissbedingten Abweichungen oder „Zufälligkeiten“ (z. B. mehrfache Verswiederholungen, das Zerdehnen einzelner Worte oder das Verwenden unpassender Eigenschaftsworte als „Versfüllsel“) auf die Spur zu kommen, soll zunächst jedes Einzelphänomen auf seine jeweilige Funktion innerhalb des Gesamtwerkes analysiert werden, der Übersetzer soll sich Rechenschaft geben vom „rhapsodischen Kunstzweck desselben“ (XXV). Die erschlossenen funktionalen Aspekte werden schließlich als ausschlaggebend für die übersetzerische Wiedergabe angesehen und besitzen für Jordan eine höhere Priorität als die wörtliche und metrische Treue.231 Ein wesentlicher Aspekt in Jordans Übersetzungsreflexionen ist seine Überzeugung von der Überlegenheit der (modernen) deutschen Sprache. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die, so Jordan, den sprachhistorisch bedingten Schwund der Konjugations- und Deklinationsformen im Deutschen als „phonetischen Verfall“ beklagten, vertritt er selbst die Auffassung, dass der „unvermeidliche Klangverlust hundertfach vergütet“ worden sei durch die „unvergleichlich größere Gewandtheit im Satzbau“ und den „allermindestens zwanzigfach zahlreicheren Wortschatz, der im Lauf eines Jahrtausends aus den alten Stämmen erwachsen ist“.232 In der „symbolischen Angemessenheit des Lautgewichtes zum Gedankengewicht“ leiste die deutsche Sprache _____________ Schönheitslehre dar. Ob es sich hier um ein Missverständnis der Hogarth’schen Auffassung oder um ein bewusstes Spiel mit bekannten Begrifflichkeiten geht, lässt sich kaum ermitteln. 230 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XIV–XVI. 231 Entsprechend dieser Vorgehensweise sollen beispielsweise Homerische Formeln, die den Übergang vom Dialog zur erzählten Handlung markieren, durch „hergebrachte Wortverbindungen“ (XXVIII) des Deutschen ersetzt werden, die die gleiche oder eine ähnliche Funktion erfüllen. Zum Ausdruck der ursächlichen „Folge der Handlung Anderer auf die Worte des Redenden“ (XXIX) schlägt Jordan anstelle der wörtlichen Übersetzung „so sprach er und sie thaten …“ die sinngemäßen Formulierungen „seinem Rathe gemäß, seinem Befehle gehorsam“ oder „folgsam thaten sie …“ vor; vgl. Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XXIX. 232 Vgl. Jordan, Ueber deutschen Versbau (1891), 257.
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„so sehr das Allerhöchste, daß ihr in dieser Hinsicht von den lebenden keine andere auch nur nahe kommt“, und mit ihrer Fähigkeit, beliebige Komposita zu bilden, dürfe sich „nur noch die des Altgriechischen vergleichen“.233 Hinsichtlich der Metrik verweist Jordan sowohl für die Tragödie als auch für das homerische Epos auf den Verlust der ursprünglichen Musik, die einerseits die „widernatürlich geschraubte und gekünstelte Wortstellung“234 der Chorlieder, andererseits die „vollständige Discrepanz der Vers- und der Wortbetonung“235 in der epischen Dichtung zu verantworten habe. In beiden Fällen habe es sich ursprünglich nicht um nachträgliche Vertonungen vorgegebener Verse gehandelt, sondern umgekehrt seien die Verse „gedichtet als Wortunterlage für meistens gegebene […] Melodien und zum Theil auch für damit verbundene, gegebene Tanzbewegungen“236. Deshalb hält Jordan eine metrische Nachbildung von Chorpassagen nur im Falle der trochäischen und anapästischen Systeme für sinnvoll, deren Gesetzmäßigkeiten sich auch in der Übertragung nachvollziehen lassen, und die zugleich „der deutschen Sprache passen wie angeboren“.237 Der (gesprochene) deutsche Hexameter, der eigentlich „eine […] auf unrichtiger Voraussetzung beruhende Abstraction“ des homerischen sei, habe sich allerdings „in schönen Dichtungen das deutsche Bürgerrecht erworben“ und sei „für die möglichst deckende Nachbildung“ der homerischen Dichtungen immer noch am besten geeignet.238 Die deutsche Wiedergabe des homerischen Hexameters erfordert nach Jordan ein Rhythmengebilde welches auch gesprochen natürliches Deutsch bleibt und sich gleichwohl im Eindruck auf das Ohr demjenigen möglichst nähert, welchen die homerischen Verse machen, wenn man sie, ihrer Bestimmung entgegen, nicht singt, sondern in gewohnter Weise
_____________ 233 Vgl. Jordan, Ueber deutschen Versbau (1891), 260 f. S. dazu auch Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XV f. 234 Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XLIII. 235 Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XXXIII. 236 Vgl. Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XLII f. 237 Jordan, Vorrede [zu Sophokles, Tragödien] (1862), XLV. In Bezug auf den dramatischen Sprechvers glaubt Jordan, einem „geheime[n] Gesetz“ auf die Spur gekommen zu sein, „welches den dramatischen Vers in der Zeit von Sophokles bis Shakespeare um anderthalb Sylben verkürzt hat, und den Trimeter vertauscht mit dem zehn bis eilfsylbigen Jambus.“ Er führt diese Entwicklung auf die Veränderung der architektonisch-akustischen Bedingungen des Theaters zurück. So habe der weite, offene Raum des griechischen Amphitheaters naturgemäß eine stärkere Vokaldehnung, eine geringere Informationsdichte und mehr Wiederholungen erfordert, um auch die entfernt sitzenden Hörer zu erreichen, als der kleinere und abgeschlossene Zuschauerraum eines modernen Theaterbaus. Vgl. Jordan, Die Tragödien des Sophokles (1862), XXV f. In diesem Zusammenhang beruft sich Jordan auch auf eigene empirische Untersuchungen und Vergleiche, die ihn zu dem Resultat geführt hätten, „daß bei gleicher Leistung der Sylbenverbrauch der deutschen Sprache auf ihrer gegenwärtigen Stufe sich zum Sylbenverbrauch der altgriechischen annähernd verhält wie 8 zu 9.“ Da dieses Verhältnis demjenigen des fünfhebigen Jambus zum Trimeter (10½:12) recht nahekomme, folgert Jordan: „Jener ist somit für diesen in unsrer modernen dramatischen Sprache der nächst entsprechende Vers und der Trimeter muß durch ihn übersetzt werden. Das bedaure wer da will, ändern kann es niemand.“ Ebd., XXX f. 238 Vgl. Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XXXV.
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Publikumsorientierte Übersetzungsreflexionen recitirt und dabei der Haupteigenschaft aller vernünftigen Menschenrede, der nach Logik und Sprachgebrauch richtigen Betonung völlig entkleidet.239
Diese komplizierte Beschreibung bezeichnet offenbar nichts anderes als die Umsetzung in deutsche – akzentuierend und nicht quantitierend zu lesende – Hexameter-Verse, in denen die deutsche Wortbetonung mit dem Versakzent (Iktus) zusammenfällt. Den ewigen Streitpunkt zwischen den Anhängern und Gegnern einer deutschen quantitierenden Silbenmessung, das u. a. von August Wilhelm Schlegel und Johann Heinrich Voss ausgesprochene Verbot des Trochäus als Stellvertreter für den Spondeus des griechischen Hexameters,240 erklärt Jordan für obsolet: Da der Vers erst als sekundäres Gebilde aus der Musik in die Sprache hinübergenommen worden sei, lasse sich die griechische Metrik ebensowenig auf nur zwei Elemente – Längen und Kürzen – beschränken wie die Rhythmik der Musik auf den Gebrauch von Halben und Viertelnoten. Vielmehr habe sich die Artikulationsdauer der Silben an den Rhythmus der gegebenen Melodie angepasst. Jordan nimmt demzufolge an, dass Anapäst und Daktylus nicht aus zwei Kürzen vor bzw. nach einer Länge, sondern „aus zwei halben Kürzen vor, beziehentlich nach einer Länge“ bestehen, also im Grunde Varianten des Jambus bzw. des Trochäus sind. Diese Ansicht findet er bestätigt in der Tatsache, dass im tragischen oder komischen Trimeter oftmals „genau dieselben Silbenpaare, die im Hexameter und andern dactylischen Versen als Spondäen figuriren“, in trochäischen Versen als Trochäen erscheinen. Jordan konstatiert: „Mit dieser Herleitbarkeit des Dactylus aus dem Trochäus durch Auflösung der Senkung ist denn auch der principielle Einwand gegen letzteren beseitigt“.241 So mahnt er denn auch den von ihm apostrophierten Vorleser seiner Odyssee-Übertragung, er solle sein angeborenes Sprachgefühl „nicht trüben lassen durch die Metrik später griechischer Stubenhocker, die keine Vorstellung mehr hatten von der rhapsodischen Recitation des Epos und der oratorienartigen Ausführung der Tragödie“242. Die Übersetzungsreflexionen Wilbrandts und Jordans zeigen deutlich, wie sich das allgemeine Interesse an antiker Literatur im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker von der Form auf die Wirkung verlagert.243 Damit gewinnen die literarischen und _____________ 239 Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XXXVI f. 240 S. o. S. 19–21 u. 43. 241 Die vorangehenden Zitate finden sich in Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XXXIX. Auch Rudolf Alexander Schröder entwickelt in einem Brief an Rudolf Borchardt recht ausführlich die „Theorie eines quasi trochäischen Zeitmaßes“, die er, wie Jordan, mit Notenbeispielen unterlegt und in der er bezüglich des Spondeus zu einem ähnlichen Ergebnis wie dieser gelangt: „Demnach würde sich das epische Versmaß als ein bereichertes trochäisches darstellen. – Der Spondeus würde sich alsdann als ein aus zwei gleichwertigen punktierten Noten hergestellter Takt […] oder (und dies erscheint mir das Plausiblere) als ein aus einer halben & einer Viertelnote gebildeter Takt erscheinen […]“; vgl. R. A. Schröder an Rudolf Borchardt, 7.8.1908, in: Borchardt/Schröder, Briefwechsel 1901– 1918 (2001), 153–155, Zitat ebd., 154. 242 Jordan, Einleitung [zu Homer, Odyssee] (1875), XLI. 243 Eine zeitgenössische Kritik der vor allem auf Wirkungsäquivalenz bedachten Übersetzungsrichtung findet sich in dem Aufsatz Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungen antiker Dichter (1864) des Bremer Gymnasialdirektors und Übersetzers (s. o. S. 120 Anm. 21) Wilhelm Adolf Boguslaw Hertz-
Übersetzung und performative Wirkung
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dramaturgischen Kompetenzen des Übersetzers an Bedeutung, während hermeneutische oder sprachphilosophische Übersetzungsinteressen dem Ziel einer Publikumswirksamkeit untergeordnet oder ganz an die Philologie verwiesen werden.
_____________ berg (1813–1879). Die in eine Kritik von Jordans Sophokles-Übersetzung mündende Abhandlung (vgl. ebd., 386 ff.) liefert nach einem ausführlichen übersetzungshistorischen Überblick ein Plädoyer für die „möglichst treue Wiedergabe der ganzen dichterischen Individualität in einer anderen Sprache“ (ebd., 237).
Übersetzungstheorie und Schulpolitik Einen wesentlichen Impuls erhielt die Übersetzungsdiskussion nach 1848 im Zuge der Auseinandersetzungen um eine Reformierung des bestehenden Schul- und Bildungssystems Humboldt’scher Prägung, die, von Preußen ausgehend, auch auf die anderen deutschen Staaten übergriffen.244 Zwischen den konservativen Verfechtern des altsprachlich ausgerichteten humanistischen Gymnasiums und den Reformern, die mit der Aufwertung der naturwissenschaftlich-neusprachlich orientierten Bildungseinrichtungen die Anpassung an veränderte gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse forderten, war ein regelrechter „Schulkrieg“245 entbrannt. Der Streit entzündete sich vor allem an der Frage der Studienberechtigungen der verschiedenen Schultypen.246 Der uneingeschränkte Zugang zu den Universitäten und damit auch die Möglichkeit des Einstiegs in den höheren Staatsdienst war in Preußen bis 1870 allein den Absolventen der humanistischen Gymnasien vorbehalten; die vollständige Gleichstellung der Realgymnasien und Oberrealschulen wurde erst im Jahr 1900 erreicht.247 Im Zusammenhang mit der Berechtigungsfrage zogen die Vertreter der realistischen Richtung vor allem die altsprachliche Ausbildung als unabdingbare Zugangsvoraussetzung für das Universitätsstudium in Zweifel. Sie vertraten die Ansicht, dass die Beschäftigung mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrinhalten dem Erwerb logischen Denkvermögens und formaler Bildung mindestens ebenso förderlich sei wie das Studium lateinischer Grammatik und Formenlehre. Die Lehrpläne der höheren Schulen in Preußen von 1882 und 1892 trugen dieser sich allmählich durchsetzenden Auffassung _____________ 244 Eine detaillierte Darstellung der Reformbestrebungen zwischen 1840 und 1892 bietet Paulsen (1897), Bd. 2, 439–687. Im Mittelpunkt von Paulsens Untersuchungen steht Preußen; Exkurse zu entsprechenden Entwicklungen in Bayern und Württemberg finden sich ebd., 484 ff.; außerdem passim zu den Reformtendenzen in anderen deutschen Staaten. 245 Vgl. Vanča, Der Schulkrieg 1870–1901. Der Humanismus-Realismus-Streit im höheren Schulwesen Preußens am Ende des 19. Jahrhunderts – Eine Einführung (2006). S. auch Preuße (1986), 16–23; Fuhrmann (2001), 206–216, und Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer (2005), 63–82. 246 Die Unterrichts- und Prüfungsordnung der Real- und höheren Bürgerschulen in Preußen unterschied 1859 drei Typen von Realanstalten: Realschule I. Ordnung mit neun Jahreskursen und Latein; Realschule II. Ordnung mit sieben Klassen und fakultativem Latein; höhere Bürgerschule mit sechs Klassen ohne Lateinunterricht. 1882 wurde die Realschule I. Ordnung offiziell in „Realgymnasium“ umbenannt. Die lateinlose Realschule II. Ordnung wurde „mit der reformierten Provinzialgewerbeschule zur ‚Oberrealschule‘ verschmolzen und als dritte Vollanstalt neben Gymnasium und Realgymnasium gesetzt“; vgl. Vanča (2006), 59 f. 247 Seit 1870 waren die Abgänger der Realschulen I. Ordnung zum Lehramtsstudium an der philosophischen Fakultät berechtigt, den uneingeschränkten Zugang auch an die theologische, medizinische und juristische Fakultät erhielten die Absolventen von Realgymnasien und Oberrealschulen im Jahr 1900; vgl. Vanča (2006), 39 und 103.
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insofern Rechnung, als sie die Stundenanzahl des gymnasialen Latein- und Griechischunterrichts erheblich reduzierten, während die Realgymnasien durch eine Aufstockung der Lateinstunden eine Aufwertung erfuhren.248 Die von den Stundenkürzungen betroffenen Latein- und Griechischlehrer an den humanistischen Gymnasien sahen sich in der Defensive. Von ihrem Widerstand gegen die vielfach erhobene Forderung, die zeitaufwendige Originallektüre zumindest teilweise durch gedruckte Übersetzungen zu ersetzen, zeugen mehrere zwischen 1857 und 1901 erschienene Abhandlungen, in denen übersetzungstheoretische Fragen vor allem mit der Zielsetzung erörtert werden, das eigenständige Übersetzen antiker Originaltexte im Unterricht als unverzichtbares Mittel der sprachlichen und geistigen Bildung zu erweisen. Dabei erschöpfen sich einige der Abhandlungen nicht in schulpolitischer Programmatik, sondern stellen, wie sich zeigen wird, beachtliche Beiträge zur übersetzungstheoretischen Diskussion dar. Als einer der ersten verknüpfte der Gymnasiallehrer Tycho Mommsen 249 die Übersetzungsproblematik mit der schulpolitischen Debatte. Bereits 1846 hatte Mommsen eine metrische Pindar-Übersetzung vorgelegt, in deren Vorrede er seine Übersetzungsauffassung allerdings nur in knapper Form skizzierte.250 Weitaus fundierter legte er seine übersetzungstheoretischen Reflexionen in der Abhandlung Die Kunst des deutschen Uebersetzers dar, die er als Direktor der höheren Bürgerschule zu Oldenburg in zwei _____________ 248 Die Anzahl der (pro Woche insgesamt in allen Klassenstufen erteilten) Lateinstunden an den Gymnasien wird 1882 um neun, 1892 um nochmals 15 auf dann 62 Stunden reduziert, an den Realgymnasien 1882 um zehn auf 44 Stunden aufgestockt (1892 liegt hier die Stundenzahl nach einer zwischenzeitlichen Erhöhung wieder bei 43). Die ohnehin schon geringere Anzahl der Griechischstunden am Gymnasium wird 1882 um 2, 1892 um 4 auf dann 36 Stunden gesenkt. Die Einsparung der Lateinund Griechischstunden an den Gymnasien kam den neusprachlichen und naturwissenschaftlichen Fächern zugute; vgl. die entsprechenden Tabellen bei Vanča (2006), 111–113; Vanča bezieht seine Informationen aus Paulsen (1897), Bd. 2, 595 f. 249 Tycho Mommsen (1819–1900), der jüngere Bruder von Theodor Mommsen, hatte an der Universität Kiel (u. a. bei Otto Jahn und Johann Gustav Droysen) Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte studiert und 1843 mit einer Abhandlung De Pindari vita et partium studio promoviert. 1846 erschien seine metrische Pindar-Übersetzung, der er 18 Jahre später auch eine kritische Pindar-Ausgabe folgen ließ. Daneben beschäftigte sich Mommsen auch intensiv mit der englischen Literatur der Shakespeare-Zeit und unternahm u. a. eine Revision der Schlegel-Tieckschen Übersetzung des Macbeth und eine Bearbeitung des Coriolan (1853–55). In seiner Ausgabe von Romeo und Juliet (1859) übertrug er als einer der ersten die textkritischen Methoden der Klassischen Philologie explizit auf die Shakespeare-Kritik. Als Gymnasiallehrer wirkte er in Husum, Eisenach und Oldenburg. 1864 wurde er zum Direktor des städtischen Gymnasiums in Frankfurt a. M. berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung 1886 tätig war. 250 Als übersetzerische Vorbilder nennt er neben der Pindar-Übertragung Friedrich Thierschs (Leipzig 1820) auch Wilhelm von Humboldts metrische Übersetzungen aus dem Pindar (1791–1804) und Johannes Gurlitts Prosa-Übersetzungen (Pindars erster und zehnter Nemeischer Siegsgesang [1813] und Pindars Pythische Siegesgesänge [1816]), auch wenn beide die Form „nur in den allgemeinsten Zügen oder gar nicht“ wiedergeben wollten: „Denn das Uebersetzen ist wohl im glücklichsten Falle selbst eine Art Dichten, aber in vielen Fällen kommt man nur durch eine besonnene Wahl, durch das Aufgeben des Selbstgefundenen für das schon von Andern Getroffene zum Ziele.“ Vgl. Mommsen, Vorrede (1846), V.
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aufeinander folgenden Schulprogrammen der Jahre 1857 und 1858 publizierte und die 1886 in erweiterter Form wieder aufgelegt wurde.251 Mommsen behandelt das Thema Übersetzen zunächst allgemein und ohne besondere Hervorhebung der alten Sprachen. Unter anderem weist er auf den großen Einfluss fremdsprachlicher Literatur auf die neuere deutsche Dichtkunst hin. Neben den Psalmen, den Werken der Griechen und Römer sowie der Engländer, insbesondere Shakespeares, seien es in jüngerer Zeit vor allem die „naive Volkspoesie aller Zungen“252, das Italienische und auch die mittelhochdeutsche Dichtung gewesen, die die literarische Stilentwicklung in Deutschland mitgeprägt hätten. Der Einfluss fremden Geschmacks wird nach Mommsen sowohl „unmittelbar“ durch das Erlernen der fremden Sprache als auch „mittelbar“ in Form deutscher Nachbildungen wirksam.253 Mommsen unterscheidet in seiner Abhandlung drei Formen der Nachbildung,254 von denen allerdings nur zwei das Übersetzen im engeren Sinne betreffen: Wenn der fremde Inhalt zwar ziemlich getreu, aber entweder ohne die Form der Dichtung oder doch nicht in einer gleichen oder analogen wiedergegeben ist, so haben wir eine stillose Uebersetzung. Wenn ein deutscher Inhalt in fremder noch nicht eingebürgerter Form dargestellt ist, die Originaldichtung in fremdem Stil. Wenn endlich Form und Inhalt möglichst getreu und doch schön und verständlich übertragen werden: die strenge oder stilhafte Übersetzung. Diese Arten spielen bisweilen ineinander über, lassen sich aber im Ganzen wohl scheiden und jede hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Bedeutung für die Leser oder Dichter, namentlich aber ihre eigene Unvollkommenheit.255
Als stillose Übersetzung bezeichnet Mommsen zum einen die Prosa-Übertragung, die den Inhalt des Originaltextes auf Kosten der Form klarer und vollständiger darstelle, auch wenn damit das Grundproblem der fehlenden Deckungsgleichheit von Wörtern, Sätzen, Bildern, Gefühlen, Witzen oder Gedanken keineswegs zufriedenstellend gelöst werden könne256: Jedes Wort ist, wenn nicht im Begriffsinhalte, so doch in seiner lebendigen phraseologischen Erscheinung in jeder Sprache ein besonderes Wesen, und spricht man dafür das analogste Wort einer andern Sprache aus, so erweckt dies nicht alle dieselben und daneben einige neue Ideenassociationen.257
Außer den reinen Prosa-Übertragungen führt Mommsen auch die „alte Art stilloser Übertragungen“ an, „wo eine andere dem Zeitgeschmack des Uebersetzers gemäße poetische Form gewählt wurde, oder wo man nach nicht aus dem Original geschöpften _____________ 251 Mommsens Aufsatz ist auszugsweise wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 179–198 252 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 4. 253 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 8. 254 Zu dreigliedrigen Übersetzungsmodellen bei Novalis und Goethe s. o. S. 43–45. 255 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 10. 256 Trotz aller Mängel habe es in der Vergangenheit zahlreiche verdienstvolle und wirkungsmächtige Prosaübersetzungen gegeben, so z. B den Wieland-Eschenburgischen Shakespeare, Luthers Bibelübersetzung oder Gurlitts Pindar-Übertragung; vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 12. 257 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 10.
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Grundsätzen wegließ oder zusetzte“.258 Im Vergleich dieser beiden Arten spricht Mommsen der Prosaübersetzung die größeren Vorzüge zu: [E]s kann eine prosaische Übersetzung, so farblos sie ist, doch ein ungefähres Bild von einem Gedicht geben; aber die falschen Farben einer demselben nicht analogen Form können das Bild nur verwirren.259
Die noch relativ neue Kunst der stilhaften Übersetzung könne bislang nur wenige Erfolge aufweisen, obwohl sich ihr „eine Menge der edelsten Kräfte“ 260 wie z. B. Ramler, Voss, Herder, A. W. Schlegel oder Wilhelm von Humboldt gewidmet hätten. Mommsen hält die stilhafte Übersetzung dennoch für die beste Form der Nachbildung, da die metrische oder reimklingende Gestaltung das Wesen eines poetischen Werkes stärker bestimme als dessen Inhalt. Aus diesem Grunde will er auch Eingriffe in den Inhalt eher gestatten als Eingriffe in die Form. Als Wegbereiterin für die stilhafte Übersetzung fungiere oftmals die Originaldichtung in fremdem Stil, die an dieser Stelle ihren Platz im System Mommsens erhält.261 Die stilhafte Übersetzung werde vom Publikum eher akzeptiert, wenn sich bereits vorher Dichter den fremden Stil für eigene Schöpfungen zu eigen gemacht und „in der Lesewelt Sinn und Liebe für denselben geweckt“ (I, 18) hätten. So hätten beispielsweise Klopstocks Oden den Ramler’schen Horaz, seine Messiade den Voss’schen Homer vorbereitet. Die Hauptschwierigkeit des stilhaften Übersetzens besteht, nach Mommsen, in der „Eigenthümlichkeit der Originale selbst“ (I, 21). So erfordere das Verständnis von Werken mit großem zeitlichen oder räumlichen Abstand mehr Voraussetzungen als „alles, was innerhalb des Gebietes der neueren Weltanschauung“ (I, 21) liege. Des weiteren sei die Verschiedenheit der Dichtungsgattungen zu berücksichtigen. Hier stelle die Kunstlyrik die größten Anforderungen an den Übersetzer, da sich in ihr die Individualität des Dichters am stärksten widerspiegle.262 Schließlich wendet sich Mommsen den Eigenheiten der verschiedenen Ausgangssprachen zu. Er unterscheidet mehrere Sprachgruppen (germanische, romanische, klassische und orientalische Sprachen) im Hinblick auf ihre jeweiligen Übersetzungsschwierigkeiten und stellt die jeweils zugehörigen Einzelsprachen der Reihe nach _____________ 258 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 13. Als Beispiele nennt Mommsen hier Opitz’ Sophokles- und Seneca-Übersetzungen, Wielands Horaz, Stolbergs Aischylos, Bürgers Ilias in fünfhebigen Jamben, Schillers Aeneis und Popes Ilias. 259 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 14. 260 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 16; im den beiden folgenden Absätzen werden die Seitenzahlen der Abhandlung direkt beim Zitat nachgewiesen. 261 Bei der Originaldichtung im Stil der Fremde, die nicht dem Übersetzen im engeren Sinne zuzurechnen ist, modifiziert sich, laut Mommsen, die Schwierigkeit der Nachbildung je nach Entfernung der fremden Form von den ursprünglich deutschen. Aber gerade „die Nothwendigkeit, das Fremde gemäß den eigenen Sprachgesetzen organisch umzugestalten“, habe diese fremden Formen zu eigenen, zu originalen gemacht. So unterscheide sich der deutsche Alexandriner vom französischen, der deutsche Hexameter vom griechischen bzw. lateinischen. 262 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), I, 22 f.
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vor.263 Der Abschnitt zu den Sprachen des klassischen Altertums 264 verweist zunächst allgemein auf deren Besonderheiten im Vergleich zum Deutschen: Transparenz der grammatischen Verhältnisse, sinnliche Formendeutlichkeit und anschauliche syntaktische Strukturen hätten in den alten Sprachen die Ausbildung einer eigenen poetischrhythmischen Diktion aus dem eigenen Wortvorrat heraus begünstigt. Der deutsche Übersetzer könne diesen Eigenschaften auch unter Anwendung seines „reichen angestammten und erborgten Wortschatzes, seiner ererbten und eroberten Dichterfreiheiten“ nur mit Mühe nachringen, so dass jede Übersetzung aus dem Altertum letztendlich eine „Verwässerung“ darstelle. Zur Verdeutlichung arbeitet Mommsen die jeweiligen Vorzüge und Nachteile des Lateinischen bzw. des Griechischen im Hinblick auf die Übersetzbarkeit ins Deutsche heraus: So besitze das Deutsche gegenüber der lateinischen Sprache die Fähigkeit der Wortzusammensetzung, sei ihr aber in Bezug auf deren „anschaulichere Gedrängtheit und Kürze“ unterlegen.265 Dem Griechischen sei die deutsche Sprache durch ihren Vorrat an nuancierenden Partikeln und die Möglichkeit zur Komposita-Bildung mehr gewachsen, könne jedoch mit der Vielfalt der griechischen Dichtungsgattungen nicht konkurrieren. Mit Blick auf die Probleme der Metrik-Übertragung konstatiert Mommsen, dass das Deutsche gegenüber dem Griechischen und Lateinischen nicht nur in sprachlicher Hinsicht im Nachteil sei, sondern auch in phonetischer Beziehung und gegenüber dem antiken Vers. So habe man sich zur Abbildung der antiken Metrik im Deutschen des „seltsamen Experiments“ bedienen müssen, an die Stelle der mit „rhythmischen Hebungen“ zusammenfallenden Längen die Wortakzente zu setzen. Doch sei es letztlich gelungen, auf dem Wege der Nachahmung rhythmische Gebilde zu erschaffen, die nicht nur die einfacheren metrischen Formen „so analog wie möglich“ wiedergeben, sondern die im Deutschen „wieder neue Formen geworden sind, die sich ihre eigenen Wohllautsgesetze ausgebildet haben“ und sogar „bis zu einem hohen Grade populär geworden sind“, wie z. B. der deutsche Hexameter und Pentameter.266 Seinem sowohl historischen als auch problemorientierten Überblick über die Entwicklung der deutschen Literatursprache unter dem Einfluss von Nachbildungen fremdsprachiger Dichtung lässt Mommsen einige allgemeine Betrachtungen „über die Einwirkung der sprachlichen Bildung auf den jugendlichen Geist“ 267 folgen. Er vertritt hier die Ansicht, dass die Lektüre gedruckter Übersetzungen keinen Ersatz für das _____________ 263 Mommsen behandelt jeweils knapp: Dänisch, Holländisch und Schwedisch; etwas umfangreicher: Englisch, Französisch und Italienisch; schließlich summarisch die Sprachen des klassischen Altertums und die orientalischen Sprachen; vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1757/58), I, 25–42; II, 3–31. 264 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 24–28. 265 Die vorangehenden Zitate finden sich in Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 24. 266 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II 27. 267 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 37; im folgenden Absatz werden die Seitenzahlen der Abhandlung direkt beim Zitat nachgewiesen.
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Sprachenlernen an sich bieten könne,268 das neben dem rein praktischen Nutzen auch eine große Bedeutung für die Förderung der Denk- und Lernfähigkeit sowie für die Entwicklung der „Harmonie der Seelenkräfte“ (II, 34) habe. Dem aktiven Übersetzen wiederum komme, da es im Gegensatz zur Mathematik niemals die „Befriedigung einer vollkommen gelös’ten Geistesaufgabe“ gewähre, eine mäßigende Wirkung zu: Es bewahre vor „Selbstgenugsamkeit“ und hemme „jene fleischliche Sicherheit […], die alles wissen und verstehen zu können meint“.269 Vor allem aber fördere das Übersetzen auch das individuelle Ausdrucksvermögen, die „innere Rede“ (II, 37), als wichtigste Voraussetzung für eine optimale Ausbildung der geistigen Fähigkeiten: Arbeiten wir aber an jener inneren Rede, erweitern wir ihre Grenzen, übersetzen wir recht viele Geister in unsern Geist! Unsere Nation hat es gethan und sich dadurch zu ihrer genialen Geisteshöhe erhoben, seien wir nicht undeutscher als die besten Deutschen waren! Benutzen wir sorgfältig alle die andern schönen und nützlichen Wissenschaften und Künste, deren Anfänge uns in der Jugend geboten werden, aber vergessen wir nicht, daß die Sprachbildung der eine Grundpfeiler des ganzen Erziehungsgebäudes ist, welchem an Umfang und Kraft wohl nur der ächter Frömmigkeit gleichkommen dürfte.270
Am Ende der Abhandlung wendet Mommsen seine Ausführungen ins Politische, indem er sie in Beziehung zur zeitgenössischen Schulreformdebatte setzt. Er offenbart sich – nicht überraschend – als Vertreter des konservativen Lagers, der zwar eine gewisse Anpassung der Gymnasialbildung an die Anforderungen der Moderne für unumgänglich hält, eine grundsätzliche Gleichstellung von ‚gelehrter‘ und ‚realer‘ Schulbildung jedoch ausschließt, nicht zuletzt deshalb, weil nur das Gymnasium die für ein Universitätsstudium notwendige „auf tiefer sprachlicher Grundlage“ beruhende und „den ganzen Menschen erfassende liberale Bildung“ vermitteln könne.271 In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit in der Zeit, als sich der deutsche „Schulkrieg“ auf seinem Höhepunkt befand, ist nicht nur ein außergewöhnlicher Anstieg der übersetzungstheoretischen bzw. -didaktischen Schriften überhaupt zu verzeichnen, sondern auch deren nunmehr üblich gewordene Verwendung als Medium schulpolitischer Stellungnahmen. _____________ 268 S. dazu auch Mommsen, Sechszehn Thesen zur Frage über die Gymnasialreform (1874), 165 f. In seiner fünften These fordert Mommsen „daß dem Gebrauch unerlaubter oder doch allzubequemer Hilfsmittel bei der Präparation in aller Weise entgegengearbeitet werde“ durch ein „einheitliches Verbot des Vertriebs solcher wohlfeiler deutscher Uebersetzungen und polizeiliche Verfolgung derselben durch das ganze Deutsche Reich; – Aufkaufen und Vernichten der im Buchhandel vorhandenen Exemplare“. Er fügt hinzu: „Mir däucht, so wenig Jedermann Blausäure, Arsenik oder Strychnin ohne Weiteres verkaufen darf, oder doch nicht ohne daß der Käufer sich legitimirt, ebensowenig sollte das Hauptgift der classischen Jugendbildung ohne Restriction verabfolgt werden.“ 269 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 33. 270 Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 37. 271 Vgl. Mommsen, Die Kunst des deutschen Uebersetzers (1857/58), II, 40. In seinem Artikel Sechzehn Thesen zur Frage über die Gymnasialreform (1874), 168, bezeichnet Mommsen die Realschule erster Ordnung (das nachmalige „Realgymnasium“) als „puren Schwindel“, als „eine Mißgeburt, der jede innere Lebensfähigkeit abgeht“, „entstanden aus dem eitlen Wahn des Radicalismus“, „gegründet von dilettantischen Schwindlern“, „gestützt von der Masse der Halbgebildeten unserer Tage.“
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Der Karlsruher Gymnasiallehrer Julius Keller 272 war ebenso wie Tycho Mommsen vom Bildungswert des Übersetzens aus den Alten Sprachen überzeugt. In einer umfangreichen, sprachwissenschaftlich fundierten Beilage zum Schulprogramm des Karlsruher Gymnasiums von 1892 mit dem Titel Die Grenzen der Übersetzungskunst wendet er sich gegen die verbreitete, seines Erachtens aber irrtümliche Annahme eines „Axioms von der Möglichkeit einer deckenden Übersetzung“ (4),273 der die naive Vorstellung zugrunde liege, „alle Dinge und alle Vorstellungen von denselben, alle Begriffe und Gedanken seien für alle Menschen dieselben und die verschiedenen Sprachen seien nur verschieden klingende Bezeichnungsweisen des allgemein und ewig Gleichen“ (3). Auf dieses falsche Axiom führt Keller auch die zeitgenössische Forderung zurück, im Unterricht die fremdsprachigen Originaltexte durch gedruckte und vermeintlich „richtige“ und verbindliche Übersetzungen zu ersetzen. Um seine Kritik mit wissenschaftlichen Belegen absichern zu können, unternimmt Keller eine detaillierte Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzens und stützt sich dabei vor allem auf die neueren Erkenntnisse der Allgemeinen Sprachwissenschaft in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Denken.274 Insbesondere die wichtigen Vorarbeiten Humboldts auf diesem Gebiet finden seine Anerkennung. Dass sich gerade auch die Klassische Philologie mit sprachwissenschaftlichen Fragen auseinandersetze, hält Keller für äußerst wichtig: „[J]ede, auch die kleinste Förderung unserer Erkenntnis der alten Sprachen ist untrennbar von einem Fortschritt in der Erkenntnis des Geistes der Völker, die jene Sprachen gesprochen haben“ (4). Keller beklagt die Stundenkürzungen im altsprachlichen Unterricht und die anhaltende Diskussion um „verbesserte Methoden“ (41), mit denen der Lehrstoff auch in kürzerer Zeit bewältigt werden solle. Die Folge sei ein „dogmatischer Übersetzungsdrill, der mit allen Mitteln gefördert wird, und dem die Frage nach der Übersetzbarkeit überhaupt ganz fern liegt“ (7). Auch die im Unterricht verwendeten Vokabularien und Wörterbücher seien insoweit dogmatisch, als sie dem fremdspra_____________ 272 Julius Keller (1847–1911) war nach dem Studium der Klassischen Philologie und der Philosophie in Heidelberg, Leipzig und Berlin als Gymnasiallehrer in Baden-Baden, Konstanz, Wertheim und Karlsruhe tätig. Später bekleidete er Direktorenposten in Lörrach und Mannheim. In Verbindung mit seiner Lehrtätigkeit legte Keller auch sprachtheoretische Studien vor. Zu nennen sind die Abhandlungen Denken und Sprechen und Sprachunterricht (1899) und Die Grundlinien zu einer Psychologie des Wortes und des Satzes (1907). Kellers Abhandlung Die Grenzen der Übersetzungskunst ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 237–285. 273 Den Begriff der „deckenden“ Übersetzung verwendet auch Wilhelm Jordan in der Einleitung zu seiner Odyssee-Übertragung ( Jordan, Einleitung [1875], VI), auf die Keller an einer Stelle auch explizit verweist; vgl. Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 13. Vgl. dazu auch Schopenhauer, Ueber Sprache und Worte (1851), § 299, 626: „Nicht für jedes Wort einer Sprache findet sich in jeder andern das genaue Aequivalent. Also sind nicht sämmtliche Begriffe, welche durch die Worte der einen Sprache bezeichnet werden, genau die selben, welche die der andern ausdrücken; wenn gleich dieses meistens, bisweilen sogar auffallend genau […] der Fall ist; sondern oft sind es bloß ähnliche und verwandte, jedoch durch irgend eine Modifikation verschiedene Begriffe.[…] Bei der in der Logik üblichen Versinnlichung der Begriffe durch Kreise, könnte man diese Paenidentität durch sich ungefähr deckende, jedoch nicht ganz concentrische Kreise ausdrücken […].“ 274 S. dazu auch Keller, Denken und Sprechen und Sprachunterricht (1899).
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chigen Ausdruck mehr oder weniger umfangreiche Listen von deutschen Äquivalenten gegenüberstellten. Auf diese Weise könne beim Schüler der Eindruck entstehen, der Römer verwende denselben Begriff (z. B. fides) von Fall zu Fall in unterschiedlichen „Bedeutungen“, und es sei für ihn nur schwer nachvollziehbar, dass eben auch in fides trotz seiner leichten Übersetzbarkeit in allen Verbindungen eine spezifisch römische […] Begriffsprägung vorliegt, die kein anderes Volk so geschaffen hat, und dass in allen Wendungen, in denen das Wort erscheint, für den Römer der ganze Begriffsinhalt des Wortes in Erregungszustand versetzt wird, sobald er es im Zusammenhang ausspricht.275
In einem ausführlichen sprachwissenschaftlichen Exkurs geht Keller zunächst auf das Problem der genauen Abgrenzung von „Sprachen“, auf das Verhältnis von gesprochener Sprache und Schriftsprache sowie auf das Vorhandensein zeitlich, kulturell oder entwicklungsbedingter Sprachunterschiede ein, bevor er sich seinem eigentlichen Thema, den „Grenzen der Übersetzungskunst“, zuwendet. Aufgrund der Tatsache, dass Humboldt, obwohl er das Übersetzen als „unmögliche Aufgabe“ bezeichnet hatte,276 selbst übersetzte, und angesichts der regen zeitgenössischen Übersetzungstätigkeit gelangt Keller zu dem Schluss, dass es trotz aller Einschränkungen „ein gewisses begrenztes Mass des Übersetzbaren“ geben müsse, „was neben der allgemein verbreiteten irrigen Ansicht, die Worte seien Bezeichnungen der Gegenstände, jenen Glauben erzeugt und ihm Nahrung giebt“. Keller sucht daher im Rahmen der zahlreichen zuvor abgehandelten Unbeständigkeitsfaktoren sprachlicher Ausdrucksformen systematisch nach Konstanten, die sich „ohne Rest“ von Sprache zu Sprache übertragen lassen. Solche Konstanten erkennt er vor allem in den „logischen Grundformen des Urteils“: „Einheit, Vielheit, Allheit, Bejahung und Verneinung der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, das sind Denkelemente, die mit jeder wünschenswerten Bestimmtheit aus einer Sprache in die andere übertragen werden können“. Allerdings könne auch hier nur das logische Verhältnis an sich „deckend“, d. h. übereinstimmend, zum Ausdruck kommen, während die Kongruenz „im sprachlichen Kleid“ nicht zu erreichen sei.277 Des weiteren werden Zahlwörter, geometrische Grundbegriffe sowie weitere Formen des Urteils (kategorisch, hypothetisch, disjunktiv, assertorisch, problematisch, apodiktisch) und Kausalverhältnisse (Beweis, logische Definitionen) als Kandidaten für eine annähernd deckende Übersetzung genannt, insbesondere im Hinblick auf „rein sachlich gehaltene systematische Werke der Wissenschaft“ (24). Auch die Herausbildung einer sprachübergreifenden wissenschaftlichen Terminologie durch die Übernahme fremdsprachiger Fachbegriffe wirke sich günstig auf die Möglichkeit einer deckenden Übersetzung aus. Dabei wird insbesondere den alten Sprachen eine Schlüsselrolle zugesprochen: _____________ 275 Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 7. 276 S. o. S. 68. 277 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 23.
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Die Wissenschaft strebt nach allgemeinen Wahrheiten; und es liegt kein Grund vor, dass für Dinge der reinen Erkenntnis auf dem Boden allgemeiner Wissenschaft nach der zu erwartenden Ausbreitung der europäischen Kultur über die ganze Erde die dann noch vorhandenen Sprachen für das allgemeine Gleiche und Gemeinsame besondere Worte besitzen sollten. Hier bahnt sich eben etwas wie Weltsprache an, und die Quelle aus der hier alle Welt schöpft und schöpfen wird, sind die Sprachen der Griechen und Römer.278
Auch Kategorien im Aristotelischen Sinne (wo, wann, wie etc.), verschiedene Arten der begrifflichen und syntaktischen Bezüge, deiktische Elemente sowie die Möglichkeit der Begriffsdetermination seien ihrem Wesen nach in allen Sprachen vorhanden. In ihrer Art der sprachlich-formalen Realisierung dieser Elemente wichen die Sprachen jedoch „aufs denkbar Weiteste“ (25) von einander ab. Hinsichtlich der Möglichkeit deckenden Übersetzens kommt Keller zu folgendem Ergebnis: Man kann vielleicht allgemein sagen, das eigentlich rein Erkenntnismässige im weitesten Sinne des Wortes kann als solches am besten übertragen werden, und dieses wieder um so vollkommener, je mehr es sich bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnis nähert. Und innerhalb alles Erkenntnismässigen die verschiedenen logischen Beziehungen der Begriffe wirklich deckend. Denn die logischen Operationen sind allenthalben die gleichen, die Begriffe um so verschiedener, je weniger sie wissenschaftlich gefasst und definiert sind, und je weiter sie sich von der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren entfernen.279
Dabei müsse man allerdings bedenken, „dass jede Übersetzung, wenn sie gut ist, nicht fremden Geist in unsrer Sprache bringt, sondern dass sie fremden Geist in unsern Geist verwandelt,280 dass wir sonach den fremden Geist überhaupt nicht kennen lernen, sondern in den Banden des eigenen befangen bleiben“. Aus diesem Grunde wendet Keller sich auch der Untersuchung derjenigen Faktoren zu, die die Möglichkeiten des Übersetzens nachweislich beeinträchtigen. So werde der „Mangel streng deckender Begriffe“ für gewöhnlich durch eine gewisse Auswahl von Worten ausgeglichen, „deren Begriffe an der Peripherie des fremden partizipieren“. Die Schwerpunktverlagerung werde zumeist erst durch die vergleichende Sprachbetrachtung bewusst. Auch „Schranken der Form“ führten dazu, dass ursprüngliche Lautwirkungen in der Übersetzung verschwänden und durch andere ersetzt würden. Darüber hinaus werden Wortspiele, lautsymbolische Wirkungen und komplexere Urteilsformen wie Mehrfachnegationen oder modale Ausdrücke als unübersetzbar eingestuft.281 Tiefgreifende Unterschiede stellt Keller auch „in dem sprachlichen Ausdruck des Realen“ fest, so z. B. im Bereich der Verbalformen: „Auf keinem Gebiet hat man wohl eher empfunden, dass das Schema der lateinischen Grammatik, das man so gerne allen anderen Sprachen aufzwängen wollte, nicht passt, als auf dem Gebiete des ‚Zeit_____________ 278 Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 25. Hier versucht Keller offenbar einen Brückenschlag zu den Befürwortern der realen Bildung an den Gymnasien, denen die wichtige Rolle der alten Sprachen bei der Ausbildung einer weltweit einheitlichen und verbindlichen wissenschaftlichen Fachterminologie vor Augen geführt werden soll. 279 Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 27. 280 Dieses Motiv findet sich bereits bei Tycho Mommsen (s. o. S. 166) und wird später auch von Rudolf Hunziker aufgegriffen (vgl. Hunziker [1898], 76 Anm. 9). 281 Die vorangehenden Zitate finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 28.
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worts‘“.282 Übertragungsschwierigkeiten im Bereich der Wortverbindungen ließen sich gut an der „Hülflosigkeit“ des Französischen gegenüber den homerischen Komposita demonstrieren: „Wir selbst können ja der homerischen Sprache auf diesem Gebiet leidlich nachkommen, stehn aber unsrerseits wieder dem Sanskrit noch hülfloser gegenüber, als der Franzose Homer“. Im Bereich der Syntax stehe die griechische Periode dem Deutschen zumindest näher als die lateinische.283 In Bezug auf die verschiedenen Literaturgattungen wird, wie schon bei Mommsen, das Übersetzen von Dichtung als besonders schwierig eingeschätzt, da in ihr die „spezifische Empfindungsweise und Weltanschauung“ einer „grösseren sprachlichen Gemeinschaft“ (33) zum Ausdruck komme. In diesem Zusammenhang übt Keller auch Kritik an dem bisherigen Eifer der Deutschen, „in völliger Verkennung“ der Eigenheiten ihrer eigenen Sprache, „die poetischen Kunstformen aller Länder und Völker nachzuahmen und einzubürgern“.284 Der „selbstvergessene Aneignungstrieb des Fremden, der uns Deutschen im Übermass eigen ist“ habe zu der „Selbsttäuschung“ geführt, man könne den lateinischen oder griechischen Hexameter im Deutschen nachbilden.285 Aber es ist nun einmal nicht anders: Wir Deutsche haben mehr als jedes andere Volk die Litteraturen aller Völker und Zeiten in unsere Sprache übertragen und unsern Ruhm darin gesucht. Und die Freude über die Aneignung des Fremden und über die einzelnen scheinbar gelungenen Erfolge der Übertragung liess uns völlig die Unterschiede von Original und Übersetzung verkennen. Dem Übersetzer selbst und jedem Kenner des Urtextes ist die Übersetzung ein leicht durchsichtiger Schleier, durch den er die Formen des Originals bis in alle Einzelheiten deutlich erkennt und geniesst. Für jeden anderen ist die verschleiernde Wirkung der Übersetzung so stark, dass Formen und Linien des Originals nur verschwommen und verschoben und teilweise gar nicht zum Vorschein kommen.286
Die Übersetzbarkeit von Dichtung hänge nicht zuletzt auch vom „absoluten und relativen Zeitabstand“ zwischen zwei Sprachen ab. Da sich die modernen europäischen Kulturvölker in ihrer sprachlich-literarischen Entwicklung auf einer ähnlichen Stufe befänden, näherten sich die modernen Sprachen dem Zustand, „den die vulgäre falsche Auffassung allgemein vorauszusetzen pflegt, dass sie nur verschiedene Bezeichnungen für die gleichen Dinge, die gleichen Begriffe enthalten“. Dass der jeweilige sprachliche Entwicklungsstand (relativer Zeitabstand) beim Übersetzen stärker ins Gewicht falle _____________ 282 Als Beispiel wird u. a. angeführt, dass im Griechischen nicht die Zeit das Grundprinzip für die „hier fälschlich sogenannte Tempusbildung“ sei, sondern „die Bestimmung der Handlung nach Einmaligkeit, Wiederholung oder Dauer und Vollendung.“ 283 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 31 f. 284 Vgl. Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 34. 285 Vgl. Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 35. 286 Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 36. Ganz ähnlich hatte sich 1866 bereits Adolf Wilbrandt geäußert. Er kritisierte Übersetzungsversuche, die darauf zielten, die spezifischen Eigenheiten des antiken Bühnendialogs übersetzerisch nachzubilden und sprach in diesem Zusammenhang von „Formen, die für den Kundigen reiche Enthüllungen des griechischen Wesens, für den Unkundigen fast ebenso viele Verhüllungen sind“; vgl. Wilbrandt, Vorwort [zu Drei Tragödien] (1866), XI.
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als der absolute, zeige sich beispielsweise daran, dass man mit der Sprache Schillers und Goethes „dem Dialog des Sophokles oder Euripides gerechter werden“ könne „als dem Nibelungenlied“.287 Keller gelangt aufgrund seiner Betrachtungen zu dem Ergebnis, dass die Ansicht, man könne griechische Literatur auch in der Übersetzung genießen und ihre Bedeutung erfassen, bequem, aber falsch sei: Diese Ansicht vertreten heisst das Verhältnis von Geist und Sprache und das Wesen der Sprache vollständig verkennen. Eine fremde Sprache erlernen heisst seinen Geist um den Geist des fremden Volkes erweitern, in der Vergleichung beider Sprachen seine Urteilskraft und sein ganzes logisches Vermögen steigern und einen souveränen Standpunkt über der eigenen Sprache gewinnen, einen Standpunkt ausserhalb derselben, von dem aus allein wir unsere Sprache und unseren Geist objectiv sehen und beurteilen lernen. Die Übersetzung hochstehender fremdsprachiger Werke lesen ohne die Originale zu kennen heisst in der Regel nur schlechte deutsche Werke lesen, und alles andernfalls mögliche Interesse an den Originalwerken selbst abstumpfen.288
Das selbständige Übersetzen im fremdsprachlichen Unterricht habe gegenüber gedruckten Übersetzungen den Vorteil, dass das Denken des Schülers dabei „unwillkürlich das unzureichende deutsche Wort“ umkreise und es „zum richtigen oder annähernd richtigen Bilde“ ergänze. Es sei somit immer „ein Mittelding zwischen Übersetzung und Lektüre des Originals und dessen unmittelbarer Erfassung“. Das dogmatische Einfordern bestimmter eingeübter Wendungen in Prüfungen spiegle dagegen nicht das Verständnis des Urtextes, sondern lediglich das Auswendiglernen vorgegebener Ausdrücke wider. Eine solche Praxis könne letztendlich dazu führen, dass „die Meinung der Gebildeten sich allgemein bemächtigt, eine ‚gute‘ Übersetzung ersetze das Original“. Damit liefere das Gymnasium selbst seinen Gegnern das „Material zu seiner Bekämpfung“.289 Selbständiges Denken und geistige Freiheit sind jedoch nach Keller nur durch ein tiefes Eindringen in den „Geist der fremden Sprache“ zu erreichen. Für die schulische Übersetzungspraxis bedeute dies, „möglichst früh von wortgetreuem Übertragen abzugehen und dem Schüler eine verhältnismässig grosse Freiheit zu gestatten, sobald er den fremdsprachlichen Satz versteht“. Wenn der Schüler soweit sei, dass er einen fremden Gedanken verstehe, „dann mag er ihn umdenken, und jede Form, in der ein unabhängiger deutscher Schriftsteller diesen Gedanken ausdrücken könnte, mag ihm erlaubt sein“. Gerade in der „Neuschöpfung des Gedankens“ lerne der Schüler mehr Deutsch und mehr Latein als im wortgetreuen Übersetzen oder gar im „sklavischen Wiederholen“.290 Letztlich sei nicht „die Fertigkeit des Übersetzens das Ziel […], _____________ 287 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 37. 288 Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 39. 289 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 40. 290 Die vorangehenden Zitate finden sich in Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 41 f.
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sondern möglichst eindringendes und möglichst umfassendes Verständnis der fremden Sprache selbst“.291 Keller, der den Humboldt’schen Ansichten im Hinblick auf die Verschiedenheit der Sprachen und die enge Verbindung zwischen Sprache und Denken explizit zustimmt, gelangt bemerkenswerterweise hinsichtlich der praktischen Konsequenzen zu vollkommen anderen Schlussfolgerungen. Er fordert nicht die strenge Nachbildung der sprachlich-metrischen Strukturen im Deutschen, sondern vertritt vielmehr eine ähnliche Position wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in seiner ein Jahr zuvor erschienenen Abhandlung was ist übersetzen? 292, indem er sich für eine möglichst freie Umformulierung des erfassten Gedanken ausspricht und empfiehlt, sich beim Übersetzen vor allem an der Sprache „deutscher Schriftsteller“293 zu orientieren. Stärker praxisorientiert als die Abhandlung Kellers, aber nicht ohne theoretische Substanz ist die von Paul Cauer 294 verfasste, vorrangig an Lehrer der altsprachlichen Fächer gerichtete Monographie Die Kunst des Übersetzens. Ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht von 1894.295 Auch Cauer beklagt die zunehmende „Mechanisierung des Übersetzens und Erklärens“ an der Schule und die Ausbildung eines festen Schatzes „von Formeln und Kunstgriffen“ zu Prüfungszwecken.296 Unter Berufung auf Humboldt, Haupt und Keller lenkt er die Aufmerksamkeit seiner Adressaten gezielt auf die Schwierigkeiten des Übersetzens, die vor allem aus der engen Verbindung von Sprache und Denken resultierten. Diese Schwierigkeiten dürften nicht ignoriert werden, sollten jedoch auch nicht zur völligen Resignation führen.297 In ähnlicher Weise wie Keller versucht Cauer, die schwer zu vereinbarenden Positionen von Humboldt („unmögliche Aufgabe“) und Wilamowitz (Wirkungsäquivalenz) miteinander in Einklang zu bringen. Aus Wilamowitz’ Zielsetzung, „einen deutschen Text herzustellen, der auf heutige Leser oder Hörer einen ähnlichen Eindruck macht, möglichst annähernd gleiche Gedanken und Empfindungen in ihnen weckt, wie das _____________ 291 292 293 294
Vgl. Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 43. S. u. S. 196–207. Keller, Die Grenzen der Übersetzungskunst (1892), 42. Paul Cauer (1854–1921), Pseud. Ludwig Logander, studierte nach dem Abitur in Schulpforta Klassische Philologie in Leipzig (G. Curtius, Ritschl), Straßburg und Berlin. Eine vernichtende Rezension durch Wilamowitz versperrte ihm den Weg in eine Universitätskarriere; vgl. Wilamowitz, [Rez. zu] Cauer, P., Delectus inscriptionum Graecarum (1877). Als Gymnasiallehrer war er zunächst in Berlin, ab 1884 in Kiel tätig. 1890 habilitierte er sich und wurde 1896 Gymnasialdirektor in Flensburg, 1898 in Düsseldorf. Seit 1905 war er Provinzialschulrat und Honorarprofessor in Münster. 295 Die Monographie stellt gewissermaßen den ersten Teil einer an den drei Hauptgegenständen des altsprachlichen Unterrichts (Lektüre, Grammatik, Realien) orientierten ‚Trilogie‘ dar. Die Grammatik behandelt Cauer in dem Band Grammatica militans. Erfahrungen und Wünsche im Gebiete des lateinischen und griechischen Unterrichtes (1898), die Realien in Palaestra Vitae. Eine neue Aufgabe des Altklassischen Unterrichtes (1902). 296 Vgl. Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1894), 3. 297 Bemerkenswerterweise führt Cauer hier die Tragödien-Übersetzungen von Wilamowitz als „besonders erfreuliche Erscheinung“ und damit offenbar als Beispiel einer gelungenen Überwindung der resignativen Haltung an; vgl. Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1894), 5.
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Original sie in den Zeit- und Volksgenossen des Autors hervorrief “, erwachse dem Übersetzer eine „doppelte Aufgabe“ (6): Einmal muß die Sprache in die wir übersetzen wirkliches, lebendiges Deutsch sein, nicht ein künstliches Latein-Deutsch oder Griechisch-Deutsch; wie soll es sonst unserm Gemüt nahe kommen? Dann aber muß die Eigenart des alten Dichters oder Schriftstellers gewahrt werden; Homer muß in anderes Deutsch übersetzt werden als Vergil, Tacitus anders als Cicero.298
Gerade in der Unvereinbarkeit dieser einander entgegenwirkenden Tendenzen bestehe die von Humboldt angesprochene Unmöglichkeit des Übersetzens. Doch auch wenn eine „absolute, in Regeln faßbare Auseinandersetzung“ (6) zwischen den beiderseitigen Ansprüchen nie gelingen könne, dürfe der Versuch nicht aufgegeben werden. Wenn der Übersetzer die zu versöhnenden Gegensätze stets im Auge behalte, werde ihm schließlich „ein doppelter Gewinn“ (7) zuteil: die Aufnahme eines Stückes fremder Literatur in das eigene Geistesleben und zugleich die Bereicherung der eigenen Sprache. Der Hauptteil von Cauers Abhandlung umfasst, vom Einzelwort über Bilder und Vorstellungen bis zum Satzbau fortschreitend, Hinweise zur praktischen Umsetzung dieser theoretischen Forderungen im Unterricht. Cauers Hauptanliegen besteht darin, Lehrer wie Schüler für eine dem Stil des jeweiligen Ausgangstextes angemessene Übersetzung zu sensibilisieren. Dabei soll weder das Bemühen um Wörtlichkeit in Pedanterie ausarten noch darf das freiere Übersetzen die Aussageintention des Autors verdecken oder aber das Original kommentieren. Cauer stellt keine verbindlichen Übersetzungsregeln auf, sondern leugnet jede Gesetzmäßigkeit, indem er stets auch auf Ausnahmen hinweist und die angeführten Beispiele durch Gegenbeispiele konterkariert. Seine Abhandlung ist daher vor allem als Gegenentwurf zu einer durch Zeitdruck und unreflektierten Gebrauch von Schulwörterbüchern und -grammatiken mechanisierten Übersetzungspraxis sowie als Anleitung zur Schulung des Einfühlungsvermögens zu verstehen. Im Schlusswort zur dritten, erweiterten Auflage seiner Schrift von 1903 hebt Cauer den Wert des Übersetzens als geistiger Arbeit noch einmal deutlich hervor. Diesen Wert erkennt er nicht vorrangig in dem erzielten übersetzerischen Resultat, sondern vor allem „in der Betätigung der Kräfte, die dabei aufgeboten wird“. Im Vordergrund steht also der prozessuale Aspekt des Übersetzens, denn gerade das Suchen nach Verständnis und Ausdruck führe letztlich auch zu der Einsicht, „daß eine vollkommene Lösung der Aufgabe überall unmöglich ist“. Der daraus gleichwohl erwachsende Gewinn besteht für ihn in erster Linie darin, „daß man die Beziehung zwischen Sprechen und Denken vorsichtig würdigen lernt, und nicht meint man habe einen Begriff, wenn man ihn benennen kann“. Des weiteren werde „in stetem Verkehr mit den an ursprünglicher Stärke überlegenen Sprachen des Altertums“ der „Geist und die Form der eigenen Rede“ gestählt. Die Beschäftigung mit den alten Sprachen wirke dabei wie _____________ 298 Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1894), 6. Cauer verweist in einer Fußnote explizit auf eine entsprechende Äußerung in Schleiermachers Akademierede; vgl. Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813), 82 f.
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ein „Jungbrunnen“, aus dem die jeweils lebende Generation „immer gerade die Kräfte schöpfen könne“, derer sie bedürfe, „um gesund zu bleiben“.299 Die Auseinandersetzung mit der Antike begreift Cauer als wechselseitigen Verstehensprozess, bei dem man einerseits lerne, „die wirtschaftlichen und politischen Leistungen der Alten“ zu verstehen, indem man „analoge Verhältnisse und Vorgänge in der modernen Welt“ aufsuche. Andererseits lerne man auch „die eigne Zeit richtig schätzen“, indem man „durch Vergleichung mit Fremdem“ das Wesentliche ihrer Erscheinungen herausfinde.300 Er ist sich zudem bewusst, dass jede Generation sich unter jeweils neuen Bedingungen ihre ‚eigene‘ Antike konstruiert, und bezieht somit den transformatorischen Aspekt des Übersetzens dezidiert in seine Ausführungen mit ein: Jede Generation glaubt das Altertum zu verstehen und fühlt sich ihm verwandt; und jede versteht es doch anders als die vorige. So ist es den großen Schöpfungen der Vorzeit vergönnt, nicht nur unvergänglich zu dauern, sondern auch Gestalt und Antlitz zu wechseln, also ob sie noch fortwüchsen, uns aber, mit ihnen wie mit lebenden zu verkehren und an ihnen zu werden.301
Cauer, der sich, ganz im Gegensatz zu Mommsen und ungeachtet seiner Position als Gymnasiallehrer, in zahlreichen Publikationen für die Gleichberechtigung von altsprachlich-humanistischen und naturwissenschaftlich-neusprachlichen Gymnasien unter strikter curricularer Trennung einsetzte,302 geht in seiner Schrift Palaestra Vitae sogar so weit, der Klassischen Philologie unter allen Wissenschaften einen Sonderstatus zuzusprechen. Da sie besonders starke „Berührungen mit allen Zweigen des menschlichen Daseins“303 aufweise, sei sie gewissermaßen dazu prädestiniert, in exemplarischer Weise auch Realienwissen zu vermitteln und am ‚gelehrten‘ Gymnasium die Einführung in die entsprechenden Fachwissenschaften stellvertretend zu übernehmen.304 Doch betont er an anderer Stelle auch, dass sich die angestrebte erzieherische und bildende Wirkung nur auf dem Wege einer intensiven Auseinandersetzung mit den antiken Texten selbst voll entfalten könne. Gedruckte Übersetzungen reichten nicht aus, „wo durch Sprache Bildung gewonnen werden soll“305. _____________ 299 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1903), 136 f. 300 Die vorangehenden Zitate finden sich in Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1903), 137. 301 Cauer, Die Kunst des Übersetzens (1903), 137 (= Cauer, Die Kunst des Übersetzens [1894], 115 f.). S. auch ders., Unsere Erziehung durch Griechen und Römer (1890), 68 f. und ders., Palaestra Vitae (1902), 133. 302 Vgl. Cauer, Unsere Erziehung durch Griechen und Römer (1890); Siebzehn Jahre im Kampf um die Schulreform (1906); Wissenschaft und Schule in ihrem Verhältnis zum klassischen Altertum (1910). 303 Cauer, Palaestra Vitae (1902), 5. 304 Vgl. Cauer, Palaestra Vitae (1902), 6 f.: „Also nicht dadurch sollen wir unsere Schüler mit der Gesamtheit menschlicher Kräfte und Betätigungen bekannt machen, daß wir Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften bis zur Vollständigkeit vortragen, weiter Wirtschaftslehre, Kunstgeschichte, Politik unter die Lehrfächer des Gymnasiums aufnehmen, sondern indem wir innerhalb des philologischen Unterrichts die geographischen, wirtschaftlichen, politischen Elemente verfolgen und das Leben der beiden Völker, die vor anderen die Erzieher des Menschengeschlechtes gewesen sind, in ihrer Totalität zu erfassen suchen.“ 305 Cauer, Unsere Erziehung durch Griechen und Römer (1890), 61.
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Weniger systematisch als bei Mommsen, Keller und Cauer wird das Übersetzungsproblem von Georg Lejeune Dirichlet 306 erörtert. In seinem in den Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik publizierten Vortrag die kunst des übersetzens in die muttersprache von 1894 behandelt er in aphoristischer Weise ausgewählte Aspekte des Übersetzens und führt dazu Beispiele aus der eigenen Unterrichtspraxis an.307 Explizit verwiesen wird auf die einschlägigen übersetzungstheoretischen Arbeiten von Goethe, Humboldt, Tycho Mommsen, Wilamowitz, Keller und Cauer. Lejeune betrachtet das Übersetzen grundsätzlich als ein „vortreffliches mittel“, um sich im schriftlichen und mündlichen Gebrauch der Muttersprache zu vervollkommnen und zugleich ihre Eigenarten besser zu verstehen. Voraussetzung sei allerdings die „richtige methode“, da ansonsten der „sogenannte color latinus“ leicht auf den deutschen Stil abfärben könne.308 Mit Bezugnahme auf die neuen Lehrpläne der preußischen Gymnasien, die den Schwerpunkt des altsprachlichen Unterrichts auf das Übersetzen verlagerten, stellt er fest: je mehr nun durch die preuszischen gymnasiallehrpläne von 1882 und 1891 das übersetzen aus den alten sprachen ins deutsche in den vordergrund getreten ist, um so mehr zweischneidig ist das schwert geworden, und da gerade beim übersetzen aus den alten sprachen naturgemäsz die gefahr, aber auch der nutzen am grösten ist, so wird man diese aufgabe für eine der wichtigsten erklären müssen, die das gymnasium überhaupt zu leisten hat.309
Lejeune vertritt die Auffassung, dass für das Übersetzen in der Schule dieselben theoretischen Grundsätze bestimmend seien „wie für das übersetzen überhaupt, soweit man hier von allgemein anerkannten grundsätzen reden kann“.310 Die praktischdidaktische Seite lässt er dagegen unter Verweis auf entsprechende bereits vorliegende Abhandlungen außer Acht.311 Neben einer Verteidigung der Praxis des ‚stilhaften Übersetzens‘ im Sinne Tycho Mommsens312 und der Voss’schen Homer-Übertragung gegen Wilamowitz liefert Lejeune vor allem Ansätze zu einer zeitgemäßeren Übertragung antiker Prosaautoren. Für das Übersetzen ‚vorklassischer‘ Autoren wie Homer, Herodot, Ennius oder Cato empfiehlt er eine Vorgehensweise des Historisierens bzw. Archaisierens. Der Übersetzer soll den heutigen Lesern einen Eindruck vermitteln, wie ihn schriftsteller vergangener zeiten auf sie machen, also einen deutschen text herstellen, der auf heutige leser dieselbe wirkung übt, wie jene alten schriftsteller auf die Griechen
_____________ 306 Georg Lejeune Dirichlet (1858–1920) war nach dem Studium der Klassischen Philologie in Königsberg, Bonn und Leipzig seit 1885 als Oberlehrer, später als Direktor an Königsberger Gymnasien tätig. 307 Lejeunes Vortrag ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 288–297. 308 Die vorangehenden Zitate finden sich in Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 507. 309 Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 507. 310 Vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 507. 311 Explizit erwähnt wird die Abhandlung von Julius Rothfuchs, Vom Übersetzen in das Deutsche und manchem anderen. Ein Geständnis aus der didaktischen Praxis, Schulprogramm Gütersloh 1887. 312 S. o. S. 163 f.
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Übersetzungstheorie und Schulpolitik in der zweiten hälfte des fünften und im vierten jahrhundert, auf die Römer in den ersten jahrhunderten vor und nach Christi geburt; denn diese zeiten sind litterarisch und politisch den unseren am ehesten vergleichbar, und ihnen gehören auch, vornehmlich bei den Römern, die wesentlichsten und charakteristischen litteraturerzeugnisse an.313
Das „Archaistische“ der bewusst historisierenden Autoren wie Sallust oder Vergil lasse sich zwar nicht wiedergeben, das „Archaische“ dagegen sehr wohl; dabei werde der Übersetzer seinerseits zum „Archaisten“.314 Den Eindruck des Unzeitgemäßen bei älteren Übersetzungen klassischer Redner und Historiker führt Lejeune vor allem darauf zurück, dass die deutsche Sprache zu deren Entstehungszeit noch keine den Originalen entsprechende „terminologie des öffentlichen lebens“ ausgebildet hatte.315 Seit der Herausbildung eines „öffentlichen lebens“ in Deutschland habe man jedoch große Fortschritte „im verständnisse der alten“ gemacht. Durch die Verwendung der „im volke lebendigen ausdrücke des politischen und wirtschaftlichen lebens und gerichtswesens“ könne dieses Verständnis nun auch in der Übersetzung zum Ausdruck gebracht werden.316 Lejeune gibt dazu Beispiele mit deutschen Übersetzungsvorschlägen für Redewendungen klassischer Prosaautoren wie Demosthenes, Cicero, Platon und Livius.317 Der Prosa-Übersetzer solle ferner die „phraseologie des papiernen stils“318 meiden und sich stattdessen an die Ausdrucksweise der „lebendigen, wirklich gesprochenen _____________ 313 Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 513. 314 Vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 513. 315 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fungierten in den deutschen Staaten das Lateinische und ein stark mit Latinismen durchsetztes Deutsch als Gerichts- und Behördensprache. Nachdem in der Zeit der Aufklärung die Forderungen nach einer auch dem einfachen Bürger verständlichen und nachvollziehbaren Gesetzgebung und Gesetzessprache immer lauter geworden waren (vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze [1748]), setzte sich – zunächst mit der Kodifizierung des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794), später mit der Einrichtung der für die Pflege der Rechtssprache zuständigen „Fassungskommission“ des preußischen Staatsrates (1826) unter dem Vorsitz des Staatsrechtlers Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) – in den Bereichen der Jurisprudenz und Politik allmählich auch eine verbindliche deutsche Terminologie durch. Das nach der Reichsgründung von 1871 verabschiedete preußische Geschäftssprachengesetz von 1876 bestimmte schließlich: „Die Deutsche Sprache ist die ausschließliche Geschäftssprache aller Behörden, Beamten und politischen Körperschaften des Staats. Der schriftliche Verkehr mit denselben findet in Deutscher Sprache statt.“ Der 1885 von „Nationalbegeisterte[n] aus dem akademischen Bildungsbürgertum“ (Hattenhauer [1987], 81) gegründete „Allgemeine deutsche Sprachverein“ setzte sich unter großem Rückhalt vor allem von Seiten der deutschen Gymnasiallehrer für die Bereinigung der deutschen (Rechts-)Sprache von Fremdwörtern ein und konnte seine Interessen vor allem bei der Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 zur Geltung bringen; vgl. Hattenhauer (1987). 316 Die vorangehenden Zitate finden sich in Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 513. 317 Um die enge Verbindung zwischen antiker und moderner Rhetorik zu belegen, weist Lejeune auf die starken formalen und inhaltlichen Parallelen zwischen der Optimaten-Definition in Ciceros Rede Pro Sestio und der Definition des Begriffes „conservativ“ in einer Rede des Reichskanzlers Graf Caprivi von 1893 hin; vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 515. 318 Lejeune verwendet diese Formulierung möglicherweise in Anlehnung an die seinerzeit recht populäre Schrift von Otto Schröder, Vom papiernen Stil (1889), in der dieser für eine stärker am Mündlichen
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Sprache“ halten. Er solle keine „pedantisch-sklavische nachahmung des originals“ schaffen, sondern die Verschiedenheiten der alten und der eigenen Sprache berücksichtigen.319 Zu Humboldts Einschätzung des Übersetzens als „unmögliche Aufgabe“320, bei der entweder auf Kosten des Geschmacks und der Muttersprache eine zu genaue Nachahmung des Originals entstehe oder auf Kosten des Originals zu stark an den Eigenheiten der Muttersprache festgehalten werde, bemerkt Lejeune: bei diesem widerstreit der interessen sind wir es meiner ansicht nach dem deutschen geschmack und der deutschen sprache schuldig, ihr interesse mit aller entschiedenheit gegen das der fremden sprache zu vertreten, zumal sich oft durch ganz geringfügige änderungen ein ungezwungener deutscher ausdruck herstellen läszt.321
Vermieden werden müsse außerdem die Pedanterie älterer Übersetzungen, die gewisse Ausdrücke mit stereotypen Wendungen immer gleich übersetzten. Eine völlige Deckungsgleichheit zweier Begriffe, zumal wenn es sich um abstrakte Begriffe handle, könne niemals erzielt werden. Als weitere Form der Pedanterie sieht Lejeune auch das „vergebliche bemühen“ an, griechische Partikeln im Deutschen durch Worte zum Ausdruck zu bringen.322 Lejeune zieht aus seinen aphoristischen Übersetzungsreflexionen den Schluss, dass es, entgegen Moriz Haupts Ansicht, das Übersetzen sei der „Tod des Verständnisses“323, für die Übersetzungskunst auch innerhalb eng gesteckter Grenzen noch ausreichend Raum „für frisches leben und freie bewegung“ gebe.324 Nur kurz kann hier auf Carl Bardt 325 eingegangen werden. Seine Schrift Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa, die – bereits nach der Gleichstellung der drei Schulformen326 – im Jahr 1901 als Hilfsheft zum Kommentar der Ausgewählten Briefe aus Ciceronischer Zeit erschienen war,327 betont noch einmal den bildenden Wert des Übersetzens aus den alten Sprachen. Bardt versteht das Übersetzen als eine „nachbildende“ Kunst, vergleichbar etwa der des Schauspielers oder des ausführenden Musikers, die _____________ 319 320 321 322 323 324 325
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orientierte Schriftsprache eintritt. Noch 1911 verweist Otto Crusius in seinem Vortrag Wie studiert man klassische Philologie? auf diese Abhandlung; s. ebd., 27. Die vorangehenden Zitate finden sich in Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 515. S. o. S. 68. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 516. Vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 516 f. Vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 517 f.; s. auch u. S. 181. Vgl. Lejeune Dirichlet, die kunst des übersetzens in die muttersprache (1894), 517. Carl Bardt (1843–1915) hatte in Berlin u. a. bei Th. Mommsen, A. Boeckh, M. Haupt und J. G. Droysen studiert und 1867 mit der Mommsen gewidmeten Dissertation Quaestiones Tullianae promoviert. Von 1867 bis 1877 war er am Kgl. Wilhelms-Gymnasium in Berlin tätig und ging anschließend als Gymnasialdirektor zunächst nach Neuwied, später nach Elberfeld. 1887 wurde er als Direktor des Joachimsthalschen Gymnasiums nach Berlin berufen. Vgl. o. S. 161. Bardt, Ausgewählte Briefe aus ciceronischer Zeit, Leipzig 1896; Kommentar, I. Heft, Brief 1–61, Leipzig 1898; Kommentar, II. Heft, Brief 62–114, Leipzig 1900; Hilfsheft: Zur Technik des Übersetzens, Leipzig/Berlin 1901. Zahlreiche weitere Auflagen.
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zwar in ihrer höchsten Form nicht lehrbar sei, aber doch auf gewissen technischen Grundlagen beruhe, die sich auf dem Wege der Überlieferung weitervermitteln und durch Einüben perfektionieren ließen.328 Bardts Sprachauffassung weist deutliche Parallelen zu derjenigen Kellers und Cauers auf. Ebenso wie sie macht auch er sich hier weitgehend Humboldt’sche Erkenntnisse zu eigen. Für Bardt trägt das Bemühen um die Übersetzung entscheidend zu einem „immer eindringendere[n] Verständnis“ und zu „immer klarerer Erkenntnis der Besonderheit beider Sprachen“ bei. Zudem stärke es die Ausdrucksfähigkeit und wirke insofern bildend, als es das Verständnis dafür befördere, „daß trotz allem Bemühen vielerlei unübersetzt geblieben ist und bleiben mußte“.329 Sowohl in seiner Technik des Übersetzens, die sich vorrangig mit der Übertragung lateinischer Prosaliteratur ins Deutsche befasst, als auch in den Begleittexten zu seinen Übersetzungen der Sermonen des Horaz oder römischer Komödien vertritt Bardt die Grundauffassung, dass der Übersetzer stets den grammatischen Anforderungen und metrischen Gegebenheiten der Muttersprache den Vorrang vor der Nachbildung fremder Satzkonstruktionen oder Versmaße einzuräumen habe. So dürfe er nicht „eigensinnig an dem in der fremden Sprache gewählten Ausdrucksmittel haften bleiben“, sondern benötige Übung darin, „die verschiedenen Ausdrucksmittel unter einander zu vertauschen, und muß dem den Vorzug geben, das unsrer Sprache am bequemsten liegt“.330 Die Übersetzung soll nach Bardts Ansicht vor allem die Wirkung eines literarischen Werkes vermitteln,331 seine „Kunstform“ dagegen könne nur am Original selbst studiert werden.332 Die vorgestellten Positionen kommen sich in den formulierten Übersetzungszielen recht nahe. Durch das Übersetzen im altsprachlichen Unterricht sollen Lern- und Ausdrucksfähigkeit der Schüler gefördert, das mechanische Auswendiglernen vorgeprägter Wendungen dagegen unterbunden, die Schüler selbst schließlich zu einem tieferen Verständnis des Originals geführt werden. Darüber hinaus sollen sie sowohl für die _____________ 328 Vgl. Bardt, Zur Technik des Übersetzens (1904), 1. S. dazu den im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz von Ludwig Fulda‚ Die Kunst des Übersetzers (1904), 167. Fulda räumt dem Übersetzer eine Stellung zwischen dem produktiven und dem reproduktiven Künstler ein und vergleicht ihn ebenfalls mit einem Schauspieler: „Um solcher Hingabe fähig zu werden, bedarf der Übersetzer einer gewissen Verwandtschaft mit dem Schauspieler. […] Schlegel konnte den Shakespeare so vollendet nur nachdichten, indem er ihn spielte, wie ein Hamletdarsteller den Hamlet spielt.“ Da sich Fuldas Aufsatz nicht speziell mit dem Übersetzen aus den alten Sprachen auseinandersetzt, wird er hier nicht eingehender behandelt. 329 Die vorangehenden Zitate finden sich in Bardt, Zur Technik des Übersetzens (1904), 2 f. 330 Vgl. Bardt, Zur Technik des Übersetzens (1904), 44. S. auch ders., Vorwort [zu Römische Komödien, Bd. 1] (1903), V. 331 Vgl. Bardt, Nachwort [zu Horaz, Sermonen] (1890), 250: „So verzichtet denn diese Übersetzung auf den stolzen Versuch, sich ‚mit dem Original zu identifizieren‘, aber sie bemüht sich treu zu sein in der Wiedergabe des Gedankens und treu im Tone, sie wünscht, was Horaz in seiner Sprache seinen Zeitgenossen zu sagen hatte, Deutschen des 19. Jahrhunderts so zu sagen, daß es auf sie möglichst so wirkt, wie Horaz mit seinen Versen auf die Römer zur Zeit von Christi Geburt.“ 332 Vgl. Bardt, Vorwort [zu Römische Komödien, Bd. 1] (1903), V.
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Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen als auch für die charakteristischen Eigenschaften der eigenen Sprache sensibilisiert werden. Stilvorbilder liefern hier die Werke der bedeutendsten deutschen Autoren; vor allem Voss und Goethe finden Anerkennung für ihre richtungsweisenden Beiträge zur Herausbildung einer deutschen Literatursprache. Humboldts Auffassung, das Übersetzen sei im Grunde eine unmögliche Aufgabe, da es entweder die Anforderungen der Ausgangssprache oder die der Zielsprache vernachlässigen müsse, wird zwar von allen Autoren geteilt, jedoch ebenso die Überzeugung, dass man sich dennoch immer wieder von neuem um eine übersetzerische Annäherung an das Original bemühen müsse. Dabei wird die intensive Auseinandersetzung mit dem Original, das Ringen um den passenden Ausdruck als weitaus wichtiger eingeschätzt als das Endergebnis. Zu der im vorangehenden Kapitel behandelten Diskussion des Übersetzungsproblems im Zusammenhang mit eher publikumsorientierten Übersetzungen ergeben sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede. So wird einerseits die dort festgestellte Tendenz einer allmählichen Abwendung von der lange Zeit favorisierten vers- und wortgetreuen Nachbildung (1850er Jahre: Mommsen) hin zu einer freieren, zielsprachenorientierten und auf Wirkungsäquivalenz bedachten Übersetzung (1890er Jahre: Keller, Cauer, Lejeune Dirichlet, Bardt) bestätigt. Andererseits beruft man sich in der Auseinandersetzung um die Privilegien des humanistischen Gymnasiums in besonderem Maße – und sicher nicht ganz zufällig – auf die Autorität seines Begründers Wilhelm von Humboldt. Humboldts sprach- und übersetzungstheoretische Abhandlungen, insbesondere seine Erkenntnisse über die Verschiedenheit der Sprachen und die ‚Unmöglichkeit des Übersetzens‘, die in der publikumsbezogenen Übersetzungsdiskussion des späten 19. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle spielen, werden von den Vertretern der humanistischen Richtung dazu instrumentalisiert, den geistigen Anspruch und den bildenden Wert des Übersetzens aus den alten Sprachen herauszustellen. Von Humboldts Forderungen in übersetzungspraktischer Hinsicht nimmt man dagegen Abstand. Anstelle einer die Fremdheit des Originals abbildenden Übertragung bevorzugt man die einbürgernde Übersetzung, die sich – eher im Sinne von Wilamowitz – lesen lassen soll wie ein deutsches Original.
Übersetzen als Aufgabe des Philologen? Während der übersetzungstheoretische Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen von Literaten und Schulphilologen dominiert wurde, hielten sich die Universitätsvertreter eher zurück. Dies ist wohl nicht zuletzt auf die wissenschaftliche Autorität bedeutender Philologen wie Gottfried Hermann, August Boeckh und Moriz Haupt zurückzuführen, die Übersetzungen zwar als Instrumente der Vermittlung fremder Literaturen an ein sprachunkundiges Publikum akzeptierten,333 jedoch nicht bereit waren, ihnen einen philologischen Rang zuzubilligen. So riet beispielsweise Hermann seinem Schüler August Seidler von der Tätigkeit des Übersetzens ab mit der Begründung, dass, – „weil jene Sache äußerst schwierig ist und größtes Bemühen und Feilen erfordert, – demjenigen keine Zeit dafür bleibt, der beschlossen hat, sich als Philologe zu bewähren.“334 Auch August Boeckh äußerte sich in seiner Vorlesung zur Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften ablehnend: „Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein.“335 Diesen Standpunkt machte sich schließlich auch Hermanns Schüler Moriz Haupt zu eigen, dessen Diktum „Die Übersetzung ist der Tod des Verständnisses“336 berühmt wurde. Zwar traten namhafte Philologen durchaus als Übersetzer antiker Autoren in Erscheinung; systematische Untersuchungen, die das Übersetzen als Methode oder Gegenstand der Philologie behandelt hätten, stellten sie jedoch nicht an. In der Regel beschränkten sie sich auf allgemein gehaltene, kurze, oft kaum über einen Satz hinausgehende Äußerungen im Rahmen von Übersetzungsvorworten. Erst Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff nahm sich 1891 in einer einschlägigen Abhandlung der Übersetzungsproblematik an und widersprach, indem er das Übersetzen zu einer genuinen Aufgabe der Klassischen Philologie erklärte, dezidiert der Auffassung Moriz Haupts.
_____________ 333 Vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 145 f. und Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 161. 334 Vgl. Gottfried Hermann, Vorrede zu den actis Societatis Graecae (p. XIX); zit. nach Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 146: „Sed avocavi eum [scil. A. Seidlerum] ego ab isto studio, quia, quum ea res difficillima sit et plurimam operam ac limam requirat, non est ad eam otium ei, qui se philologum praestare constituit.“ 335 Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 161; s. auch o. S. 93 f. 336 Zit. nach Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 145.
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Moriz Haupt Die ablehnenden Äußerungen von Moriz Haupt337 in Bezug auf das Übersetzen wurden zumeist in Form von Zitaten oder Anekdoten durch seine Schüler überliefert.338 Die umfassendste Darstellung findet sich in dem von Christian Belger herausgegebenen Band Moriz Haupt als academischer Lehrer, in dem der Autor auf der Grundlage eigener Vorlesungsmitschriften und nachgelassener Collegienhefte, die Haupt zur Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen angefertigt hatte, „die Ziele und die Methode von Haupts academischer Lehrtätigkeit“339 systematisch rekonstruiert. In dem Abschnitt, der der philologischen Exegese gewidmet ist,340 rekapituliert Belger zunächst mehrere „Forderungen an den Erklärer“, die Haupt seinen Studenten zu vermitteln pflegte. Um einen Schriftsteller historisch zu verstehen, müsse der Erklärer grundsätzlich „[a]lles vermeiden, was unter dem Schein des Verständnisses das wahre Verständnis hindert“. Diese Grundsatzforderung sah Haupt als erfüllt an, wenn bei der Textauslegung folgende drei Gebote berücksichtigt wurden: Man soll nicht übersetzen. Man soll keine grammatischen Kunstausdrücke brauchen. Man soll einen Schriftsteller nicht logisch meistern, sondern ihn psychologisch verstehen.341
Haupt wendet sich mit diesen Forderungen offenbar vor allem gegen eine philologische Praxis, die – wie z. B. in der Prüfungssituation – auf ein möglichst schnelles Übersetzen und ein rasches Erfassen und Benennen grammatischer Formen oder rhetorischer Stilmittel gerichtet war. Im Gegensatz dazu will er seinen Studenten deut_____________ 337 Moriz Haupt (1808–1874) hatte Klassische Philologie bei Gottfried Hermann in Leipzig studiert. Nach Promotion (1831) und Habilitation (1837) in Leipzig wurde er 1841 ebendort auf ein Extraordinariat und 1843 auf die neu errichtete ordentliche Professur für deutsche Sprache und Literatur berufen. Wegen seines politischen Engagements während des Dresdner Maiaufstandes von 1848 wurde er, zusammen mit seinen Freunden Theodor Mommsen und Otto Jahn, des Hochverrats angeklagt und seines Amtes enthoben. Im April 1853 wurde er als Nachfolger Karl Lachmanns nach Berlin berufen, wo er 21 Jahre lang tätig war. Zu seinen Hauptinteressen und Forschungsgebieten zählte neben der lateinischen auch die mittelhochdeutsche Dichtung. Zu nennen sind vor allem seine Ausgaben von Catull, Tibull, Properz, Horaz und Vergil sowie der Germania des Tacitus. Im Bereich der deutschen Philologie trat er als Editor zahlreicher Werke der mittelhochdeutschen Literatur hervor. 338 Vgl. beispielsweise Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 7: „Moriz Haupt begann mein Doktorexamen damit, daß er mich, den er persönlich gar nicht kannte, eine lange Reihe von Versen des Lucretius lesen ließ. Dann sagte er, als ich anfangen wollte zu übersetzen: ‚es ist gut. Verstehen tun wir’s beide, und übersetzen können wir’s beide nicht‘. Er pflegte auch im Kolleg nicht zu übersetzen, es sei denn ins Lateinische, streute aber Bemerkungen ein, wie zu den Worten des zürnenden Achilleus über Briseis ἐπεί μ’ἀφέλεσθέ γε δόντες: ‚das übersetze mal einer, das Partizip, und das γε. Keine Sprache kann das‘.“ 339 Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), V. 340 Vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 143–162; Haupts Einwände gegen das Übersetzen werden auf den Seiten 144–150 erläutert. Aus diesem Abschnitt stammen auch die im Folgenden angeführten Zitate. 341 Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 144.
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lich machen, dass die kritische Auseinandersetzung des Philologen mit den Werken antiker Autoren sich nicht auf die Suche nach der vermeintlich am nächsten liegenden Übersetzung beschränken dürfe, sondern vor allem ein intensives Studium der Sprachentwicklung und der Bedeutungsgeschichte der Worte erfordere. In seinen Ausführungen über die philologische Interpretation hebt er mehrfach und stets in direktem Kontrast zu den Unzulänglichkeiten des Übersetzens die Vorzüge des nachempfindenden Verständnisses der Sprachentwicklung342, des Einlebens in die Gedanken und die Sprache der Alten343 oder des Eindringens in den Geist der Spracherscheinungen344 hervor. Belger überliefert dazu folgenden Ausspruch Haupts: Das Verständnis fremder, besonders alter Sprachen […] hat zwei Stufen: erstens, dass man übersetzen lernt, und soweit bringt man’s etwa auf Schulen, die zweite Stufe ist, und damit beginnt das philologische Studium, dass man einsieht, man kann nicht übersetzen, d. h. dass man sich nicht mit dem Ungefähren und dem Surrogate begnügt, welches in jeder Uebersetzung liegt, sondern dass man sich in die Gedanken und die Sprache der Alten einlebe.345
Bei der philologischen Exegese geht es Haupt also stets um das genaue Erfassen der jeweiligen historisch bedingten „sinnlichen Anschauung“346, die den Wörtern, Begriffen oder idiomatischen Wendungen eines bestimmten Werkes oder Autors zugrunde lag. So bezieht sich auch sein Übersetzungsverbot in erster Linie auf Fälle, in denen die präzise Darstellung sprachgeschichtlicher Phänomene im Vordergrund stehen sollte.347 Haupt selbst hatte in jungen Jahren einige Rezensionen zu Übertragungen aus dem Spanischen und Slawischen verfasst,348 in denen er Grundsätze für eine gelungene Übersetzung formulierte. Treue im Hinblick auf Wortfolge und Versmaß standen dabei für ihn an erster Stelle, auch wenn er sich stets bereit zeigte, gewisse Freiheiten und Abweichungen zu tolerieren: Daß die Uebersetzung möglichst treu ist, würde einleuchten, bemerkte es der Uebers. auch nicht ausdrücklich in der Vorrede; doch gesteht er, nicht überall das ursprüngliche Metrum genau befolgt zu haben, da die reiche Abwechselung und Vieltönigkeit slawischer Versmaße
_____________ 342 343 344 345 346 347
Vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 145. Vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 147. Vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 148. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 147. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 146. Wie ausführlich Haupt selbst die Wortexegese in seinen Anmerkungen zu den von ihm herausgegebenen Textausgaben betrieb, verdeutlichen die einschlägigen Beispiele bei Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 147–149. 348 Vgl. Haupt, [Rez. zu] Slavische Volkslieder, übersetzt von Joseph Wenzig (1830), und ders. [Rez. zu] Der Cid, ein Romanzenkranz. Im Versmaße der Urschrift aus dem Spanischen vollständig übersetzt von F. M. Duttenhofer (1834). Haupt wird hier nicht namentlich als Autor genannt; die Angaben zu seiner Verfasserschaft finden sich in der von Belger zusammengestellten „Uebersicht über Haupts Recensententhätigkeit mit Auszügen aus seinen Recensionen“; vgl. Belger, Moriz Haupt als academischer Lehrer (1879), 319–335, hier 320 u. 322.
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen? im Deutschen schwer zu erreichen seien. Hier dürfte denn fortgesetzte Uebung noch größere Genauigkeit erlangen lassen; […]349
Auch Johann Gottfried Herder habe in seiner Übersetzung des Cid „die strenge Treue außer Acht“ gelassen, doch sei bei ihm alles „im Ganzen und Vollen empfunden“ und „ein Hauch von Genius“ wehe durch sein Werk.350 Diesen Genius vermisst Haupt offenbar in der von ihm rezensierten Neuübersetzung desselben Werkes: Wäre nun strenge Genauigkeit mit diesem einträchtigen Tone des Ganzen unvereinbar, so würden wir kein Bedenken tragen, uns eine treue Uebersetzung zu verbitten und uns an Herder’s freie Nachbildung zu halten, die Treue der Worte dem wichtigern Erfodernisse des poetischen Eindrucks weit nachsetzend. Da aber die Fortschritte der Uebersetzungskunst und die grade zu diesem Zwecke ausgebildete Fügsamkeit unserer Sprache es unzweifelhaft lassen, daß durch die höchste Treue zugleich ein Eindruck hervorgebracht werden kann, welcher der individuellen Wirkung des Originals entspricht, und freilich weit mehr entspricht als eine Uebersetzung, die es mit dem Einzelnen nicht genau nimmt, um den Geist und Ton des Gesammten zu erfassen; […]351
Hier zeigt sich, dass Haupt die Möglichkeiten des Übersetzens anfangs durchaus positiv bewertete und dafür gerade der deutschen Sprache aufgrund ihrer „zu diesem Zwecke ausgebildeten Fügsamkeit“ eine besondere Eignung zusprach.352 Haupt selbst liefert am Ende seiner Rezension eine Übersetzungsprobe, die er der entsprechenden Passage der rezensierten Übertragung gegenüberstellt, um auf deren Schwachstellen aufmerksam zu machen. Eine von Haupt verfasste Übersetzung eines antiken Textes ist in zwei aufeinander folgenden Nummern der Berliner Philologischen Wochenschrift vom August 1886 abgedruckt.353 Es handelt sich um die ersten 16 Kapitel von Tacitus’ Germania. Dem Abdruck gehen einige einleitende Worte eines anonymen Verfassers – vermutlich Christian Belgers354 – voran, der darauf hinweist, dass die Germania stets auch Gegenstand der von Haupt abgehaltenen Vorlesungen zur deutschen Altertumswissenschaft gewesen sei. Haupt habe sich in diesem Rahmen „ein Vergnügen“ daraus gemacht, „den allzu gedrungenen Stil des Römers in einer deutschen Übersetzung möglichst getreu nachzubilden, während er in anderen Vorträgen eine eigentliche Übersetzung überhaupt nicht gab“.355 Auch hier wurde also die Übersetzung von Haupt nicht als Mittel _____________
349 Haupt, [Rez. zu] Slavische Volkslieder, übersetzt von Joseph Wenzig (1830), 1063. 350 Vgl. Haupt, [Rez. zu] Der Cid, ein Romanzenkranz. Im Versmaße der Urschrift aus dem Spanischen vollständig übersetzt von F. M. Duttenhofer (1834), 213. 351 Haupt, [Rez. zu] Der Cid, ein Romanzenkranz. Im Versmaße der Urschrift aus dem Spanischen vollständig übersetzt von F. M. Duttenhofer (1834), 213. 352 Zum Topos der besonderen Eignung des Deutschen als Übersetzersprache s. o. S. 34 f. 353 Anonym [Belger?], Die ersten 16 Kapitel von Tacitus’ Germania, übersetzt von Moriz Haupt (1886). 354 Belger, der Verfasser der Abhandlung Moriz Haupt als academischer Lehrer, war zusammen mit Oskar Seyffert Herausgeber der Philologischen Wochenschrift. Möglicherweise war er erst nach der Publikation der Monographie (1879), die die Tacitus-Übersetzung unerwähnt lässt, auf die entsprechenden Aufzeichnungen Haupts gestoßen und wollte sie auf diesem Wege nachtragen. Leider werden keine Informationen über die Entstehungszeit der Übersetzung gegeben. 355 Vgl. anonym [Belger?], Die ersten 16 Kapitel von Tacitus’ Germania, übersetzt von Moriz Haupt (1886), Sp. 1033.
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der Interpretation herangezogen, sondern lediglich dazu, den Hörern des Kollegs die stilistischen Eigenheiten des Autors sinnfällig zu machen. Übersetzungsreflexionen in der Klassischen Philologie Allerdings gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch akademisch etablierte Philologen, die sich Haupts Skepsis nicht zu eigen machten und als Übersetzer antiker Werke in Erscheinung traten. Einige von ihnen äußerten sich auch zu ihren Übersetzungszielen und -prinzipien. Dabei wird deutlich, dass sich auch hier – und erst recht nach dem Erscheinen der einflussreichen Abhandlung von Wilamowitz356 – das Streben nach Wirkungsäquivalenz und somit die Tendenz zu einer am Stil der deutschen Klassiker orientierten, einbürgernden Übersetzungspraxis allmählich durchsetzte. Der vor allem als Metriker bekannte Rudolf Westphal 357 publizierte zwischen 1867 und 1884 insgesamt vier Werke mit Übersetzungen antiker Dichtung358 und nahm in den jeweiligen Vorworten auch zu seiner Übersetzungsauffassung Stellung. Er versteht Übersetzen in erster Linie als Kunst, „deren eigentliches Interesse die poetische Schönheit ist“, und nicht als eine Sonderform des Kommentars, „der dem philologischen Verständnisse des Originals zu Hilfe kommen soll“.359 Wie zu erwarten, äußert Westphal sich insbesondere zu Fragen der Metrikübertragung und spricht sich dabei stets gegen eine Nachbildung antiker Versmaße im Deutschen aus. Seine wissenschaftliche Arbeit habe ihn zu der Erkenntnis geführt, „dass, wenn die moderne philologische Wissenschaft auch im Stande ist, die Eigenthümlichkeit der antiken Metra theoretisch vollständig zu begreifen, dennoch niemals unsere Sprache sich den Normen antiker Metrik fügen kann“360. Vor allem der Mangel der deutschen Sprache an kurzen Silben mache den Nachbau lyrischer Versmaße unmöglich, so dass eine versgenaue Übertragung die Wirkung des Originals niemals erreichen könne: „[L]assen wir einen alten Dichter in antiker rhythmischer Form unsere Sprache reden, so bleibt er uns immer etwas Fremdes und kann niemals auf unser Gefühl den bewältigenden Eindruck ma_____________ 356 S. u. S. 196–207. 357 Rudolf Westphal (1826–1892) hatte Theologie, Klassische Philologie und Vergleichende Sprachwissenschaft in Marburg studiert. Auf die Habilitation in Tübingen (1852) folgte 1857 ein Ruf auf eine außerordentliche Professur in Breslau. Seit 1862 lebte er als Privatgelehrter an verschiedenen Orten. Westphal gilt als der Begründer der vergleichenden Metrik. Zu seinen wichtigsten Werken gehören die gemeinsam mit August Rossbach herausgegebene Metrik der griechischen Dramatiker und Lyriker (2 Bde., 1854–1865), die Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik (1864) und Die Musik des griechischen Altertums (1883). 358 Catulls Gedichte in ihrem geschichtlichen Zusammenhange (1867); Die Acharner des Aristophanes (1868); Humoristische Lyrik des klassischen Alterthums (1868); Catulls Buch der Lieder (1884). 359 Vgl. Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XI. 360 Westphal, Vorwort [zu Catull, Gedichte] (1867), IV f.
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chen, wie auf seine Zeitgenossen“361. Westphal plädiert stattdessen für eine Übersetzung „in fliessender deutscher Zunge“ und „in deutschen Reimen“362. Als literarische Vorbilder nennt er „Goethe und unsere anderen grossen Dichter“363. Indem er sich an Sprache und Form ihrer Werke orientiert, will Westphal eine Übersetzung schaffen, die „wirklich den Eindruck deutscher Poesie macht“364. Großen Einfluss auf Westphals Einstellung in der Frage der Metrikübertragung hatte die Übersetzungstätigkeit des Münchner Dichterkreises, insbesondere Friedrich Bodenstedts.365 Dies lässt sich aus dem 1884 erschienenen Band Catulls Buch der Lieder ersehen. Widmung und Vorwort sind an Bodenstedt, „den unerreichbaren Meister deutscher Uebersetzungskunst“, gerichtet. Einen weiteren Bezug zur „norddeutschen Dichtercolonie zu München“366 stellt Westphal her, indem er in seinem Vorwort eine längere Passage aus der Vorrede zu der 1855 erschienenen Catull-Übersetzung Theodor Heyses zitiert, die dieser wiederum seinem Neffen Paul Heyse zugeeignet hatte. Trotz aller Vorbehalte gegen „die Fachphilologie der damaligen Zeit“ habe Theodor Heyse es für selbstverständlich gehalten, „daß die Gedichte Catulls in dem antiken Metrum verdeutscht werden müßten“ und er habe auf diesem Gebiet auch „bis dahin Unmögliches geleistet“.367 Die Tatsache, dass in jüngerer Zeit dennoch ein Umdenken in Bezug auf die Verdeutschung fremdsprachlicher Dichtung stattgefunden habe, ist nach Westphals Ansicht in erster Linie Bodenstedts Verdienst: Daß wir Deutsche die fremdländischen Poesien des fremdländischen VersificationsGewandes entkleiden, daß wir sie deutsch in deutschen Versen zu uns reden lassen dürfen, das hat in vollem Umfange zuerst durch Sie die Welt erfahren. Je größeren Kunstwerth eine fremdländische Dichtung hat, um so geeigneter ist sie für Uebertragung in deutsche Reime.368
Vor allem Catull erscheint Westphal für eine solche Übertragung geeignet. Ihm sei bislang ein zu geringer „Kunstwerth“ (VII) beigemessen worden, während Vergil von Schiller und seinen Zeitgenossen überschätzt worden sei: Wenn irgend ein Dichter des Alterthumes für Nachdichtung in deutschen Reimen sich eignet, dann will vor allen Valerius Catullus in dieser modernen Form und modernen Menschen nahe treten. Nur selten sind seine Gedichte so specifisch römisch, daß sie einer Umformung ihres antiken Gewandes in das moderne widerstreben.369
_____________ 361 Westphal, Vorwort [zu Catull, Gedichte] (1867), V. 362 Westphal, Vorwort [zu Catull, Gedichte] (1867), VI. S. auch Westphal, Vorwort [zu Aristophanes: Acharner] (1868), IX: „Das Deutsche muß so deutsch und fließend als möglich sein, wenn es die poetische Schönheit des griechischen Originales erkennen lassen will.“; ebd., XII: „[E]s muß sich der griechische Rhythmus mit dem deutschen Reime verbinden.“ 363 Westphal, Vorwort [zu Catull, Gedichte] (1867), VI. 364 Westphal, Vorwort [zu Catull, Gedichte] (1867), VI. 365 Zum Münchner Dichterkreis s. o. S. 136–143, und Horstmann (2008). 366 Westphal, [Vorrede zu Catulls Buch der Lieder] (1884), VI. 367 Vgl. Westphal, [Vorrede zu Catulls Buch der Lieder] (1884), VII. 368 Westphal, [Vorrede zu Catulls Buch der Lieder] (1884), VII. 369 Westphal, [Vorrede zu Catulls Buch der Lieder] (1884), VIII.
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Die performative Dimension der Alten Komödie erörtert Westphal im Vorwort zu seiner Übertragung der Aristophanischen Acharner von 1868. So bestehe die Aristophanische Komödie in einer „Verbindung des recitierenden Lustspiels mit der komischen Oper“370, also einerseits aus Dialogen oder Monologen im jambischen Trimeter, andererseits aus Chorliedern oder Monodien, die „unter Begleitung der Instrumentalmusik gesungen“ oder „unter gleichzeitiger Instrumentalbegleitung in einem melodramatischen Vortrage gesprochen wurden“. Bei der Übertragung jener musikalischen Partien sollten, nach Auffassung Westphals, die „eigenthümlichen Rhythmen“ des Originals auch im deutschen Vers weitestgehend beibehalten werden,371 allerdings dürften sie „des melodischen Schmuckes nicht entbehren, der nun einmal dem deutschen Liede durchaus nothwendig ist“.372 Westphal empfiehlt daher die Kombination des griechischen Rhythmus mit dem deutschen Reim nach dem Vorbild der Aristophanes-Übertragungen Johann Gustav Droysens. Auch Fragen der Dialektübertragung behandelt Westphal in seinem Vorwort zu den Acharnern. Er habe, so führt er aus, die im Original einander gegenüberstehenden „Hauptmundarten“ des Griechischen, das Attisch-Ionische und das Dorisch-Äolische, „selbstverständlich“ durch die beiden „Hauptdialekte“ des Deutschen, das Hochdeutsche und das Niederdeutsche, wiedergeben.373 Für die Gegenüberstellung des dorischen Megarers und des äolischen Böotiers, zweier Vertreter von Unterdialekten der zweiten Gruppe, habe er wiederum zwei verschiedene niederdeutsche Dialekte gewählt. Westphal betont hier ausdrücklich, seine Wahl in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der historischen deutschen Grammatik getroffen zu haben,374 und erläutert ausführlich die lautlichen und grammatischen Parallelen der einander zugeordneten Mundarten375. Jacob Bernays 376 publizierte 1872 eine Übersetzung der ersten drei Bücher der Aristotelischen Politik. Seine Intention legt er in einer Vorbemerkung dar: _____________ 370 Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), IX. 371 Inwieweit dies für die jeweiligen Versmaße zu leisten ist, erläutert er ausführlich in Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XII–XIV. 372 Die vorangehenden Zitate finden sich in Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XI f. 373 Vgl. Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XIV. 374 Vgl. Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XV. 375 Vgl. Westphal, Vorwort [zu Aristophanes, Acharner] (1868), XII ff. 376 Jacob Bernays (1824–1881) hatte bei F. G. Welcker und F. Ritschl in Bonn Klassische Philologie studiert und dort mit einer Arbeit über das Corpus Hippocraticum promoviert. Da ihm aufgrund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit eine akademische Karriere in Preußen versagt war, übernahm er 1853 eine Dozentur für Altertumskunde am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau (vgl. Glucker, Jacob Bernays. Un philologue juif [1996]). Seit 1866 war er als außerordentlicher Professor und Direktor der Universitätsbibliothek in Bonn tätig. Darüber hinaus war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Bernays’ wissenschaftliches Interesse galt vor allem der antiken Philosophie- und Religionsgeschichte. Mit seinem ehemaligen Bonner Schüler Paul Heyse verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Heyse widmete Bernays seine deutsche Bearbeitung der Gedichte Leopardis und berichtet in seinen Jugenderinnerungen, dass es ihm „[a]ngesichts der Weite seines [scil. Bernays’] philologischen Horizonts“
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen? Der folgende Versuch beabsichtigt, den ersten Haupttheil der von Aristoteles für seine politischen Lehrvorträge gemachten Aufzeichnungen in einer die Treue mit der Fasslichkeit verbindenden Uebertragung den politisch und geschichtlich gebildeten Deutschen vorzulegen.377
Bei aller Knappheit dieser Ausführung zeigt sich doch, dass Bernays hier der allgemeinen Tendenz zeitgenössischer Übersetzungspraxis folgt und sich, in Rücksichtnahme auf ein zwar politisch und geschichtlich gebildetes, aber nicht unbedingt philologisch geschultes Publikum, um „Fasslichkeit“ bzw. Verständlichkeit seiner Übertragung bemüht. Um diese Fasslichkeit zu erreichen, soll, wie er ausführt, der „Fortschritt der Gedankenentwicklung“ dadurch verdeutlicht werden, dass elliptische Formulierungen des Originals wie „die von Aristoteles unterdrückten Mittelglieder der Schlussbildung und überleitenden Wendungen“ vom Übersetzer mit ergänzenden Zusätzen versehen werden, die im Druck kursiviert erscheinen.378 Im Anhang der Ausgabe wird nochmals die Skizzenhaftigkeit der aristotelischen Schrift thematisiert, die, „um ein zusammenhängendes Lesen“379 zu ermöglichen, einer ergänzenden Ausführung der oftmals nur angedeuteten Gedankengänge bedurft habe. Durch diese Ergänzungen wird Bernays’ Übersetzung einerseits ebenfalls zum Medium philologischer Interpretation, dokumentiert aber andererseits durch die Kenntlichmachung der Einfügungen im Schriftbild auch den Zustand des Originals. Bernays ist sich jedoch auch über die Grenzen der übersetzerischen Eingriffsmöglichkeiten im Klaren. So sei das Beseitigen aller „Unebenheiten der schriftstellerischen Composition“ im Hinblick auf die Behandlung und Abfolge der erörterten Gegenstände nicht möglich, ohne den Charakter des Originals zu verfälschen: „Da die griechische Urschrift das Werk als noch im Guss befindlich erscheinen lässt, so durfte die deutsche Wiedergabe diesen Eindruck nicht abschwächen“.380 Als eine frühe Gegenposition zu Haupt kann Bernays’ Übersetzung der unter dem Namen Philons überlieferten Schrift Ueber die Unzerstörbarkeit des Weltalls von 1876 angesehen werden, die er in der Vorrede ausdrücklich als eine „zum Ersatz des Commentars dienliche deutsche Uebertragung“381 bezeichnet. _____________ 377 378
379 380 381
vermessen und hoffnungslos erschien, „auch meinerseits mich weiter zum klassischen Philologen auszubilden“; vgl. M. Fraenkel [1932], 7–9, und s. o. S. 139. Bernays, Vorwort [zu Aristoteles, Politik] (1872), I. Vgl. Bernays, Vorwort [zu Aristoteles, Politik] (1872), I. Zur Veranschaulichung vgl. z. B. Bernays, Aristoteles’ Politik (1872), 3 (I, 1): „Zunächst nun stellen alle diejenigen die Sache nicht richtig dar, welche mit Platon meinen, die Erfordernisse zu einem Staatsmanne im Verfassungstaat, König, Hausvater und Herrn seien dieselben; […]“ (vgl. Aristot. pol. 1252a 7–9); ebd., 5 (I, 2): „[…], wo hingegen die Fähigkeit zu bloss körperlicher Verrichtung der empfangenen Befehle [scil. vorhanden ist], da ist natürlicher Beruf, Sclave zu sein; deshalb, weil Herr und Sclave einander nicht entbehren können, besteht auch Gleichheit der Interessen zwischen ihnen“ (vgl. Aristot. pol. 1252a 32–34). Bernays, Anhang [zu Aristoteles, Politik] (1872), 212. Vgl. Bernays, Anhang [zu Aristoteles, Politik] (1872), 213. Bernays, [Vorwort zu Philon, Über die Unzerstörbarkeit des Weltalls] (1876), 210.
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Ähnlich knapp äußert sich Bernays im Zusammenhang mit seiner Neuübersetzung von Lukians Schrift Über das Lebensende des Peregrinus im Anhang zu seiner Abhandlung Lucian und die Kyniker von 1879. Sie soll vor allem der „Verificirung der in der vorstehenden Abhandlung enthaltenen Angaben“ dienen und richtet sich, wie die Aristoteles-Übersetzung, auch an eine Leserschaft, die den Nachvollzug der Argumentation anhand des Originaltextes selbst nicht mehr leisten kann. Wielands Übertragung erscheint Bernays für seine Zwecke ungeeignet, da sie großenteils frei paraphrasiere und sich zudem erlaube, „nicht nur ‚weitläufiger‘ sondern auch ‚kürzer‘ zu sein als Lucian und dessen ‚elegante Tautologien zu vermeiden‘“. Er entscheidet sich stattdessen für eine Neuübersetzung, „die möglichst engen Anschluss an die Urschrift mit dem Streben verbindet, den deutschen Leser nicht durch allzu fremdartige Wendungen abzustossen“.382 Auch Georg Kaibel 383 und Adolf Kiessling 384 wenden sich mit ihrer 1891 erschienenen Gemeinschaftsübersetzung der neu aufgefundenen Schrift des Aristoteles über das Staatswesen der Athener385 nicht nur an „philologische Leser“386, sondern auch an ein gebildetes Publikum ohne Griechischkenntnisse: Weit über die Kreise der gelehrten Fachgenossen hinaus reicht das Interesse, welches die Auffindung der aristotelischen Schrift von der Staatsverfassung der Athener in Anspruch nehmen darf. Darum haben wir uns entschlossen denjenigen Gebildeten, welche es sich versagen müssen die Darstellung des Aristoteles im griechischen Wortlaute zu geniessen, eine lesbare Verdeutschung zu bieten. Wo und wie weit dieselbe von den Lesungen des englischen Herausgebers, der mit unvergleichlichem Geschick den schwierigen Papyrus
_____________ 382 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Bernays, [Vorbemerkung zu Lukian, Über das Lebensende des Peregrinus] (1879), 66. 383 Georg Kaibel (1849–1901) hatte Klassische Philologie in Göttingen und Bonn (H. Usener, F. Bücheler) studiert und 1871 mit einer Arbeit über griechische Inschriftendichtung promoviert. 1872 legte er sein Staatsexamen ab und ging anschließend als Stipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts für zwei Jahre nach Rom. Von 1875 bis 1878 war er Lehrer am Askanischen Gymnasium in Berlin. Nach seiner Habilitation (1878) erhielt er 1897 eine außerordentliche Professur in Breslau und bekleidete anschließend Ordinariate in Rostock, Greifswald, Straßburg und seit 1897 in Göttingen. Zu den Zentralgebieten seiner Forschung gehörten die griechische Epigrammatik und Epigraphik. Darüber hinaus publizierte er Abhandlungen zu Sophokleischen Tragödien und zur griechischen Dichtung. 384 Adolf Kiessling (1837–1893) hatte in Bonn bei F. G. Welcker, F. Ritschl, H. Brunn, F. Buecheler und O. Jahn Klassische Philologie studiert und war nach seiner Promotion (1858) zunächst am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin tätig. Von 1863 bis 1869 war er ordentlicher Professor in Basel und wurde anschließend an die Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums, 1872 dann an die Universität Greifswald berufen. Seit 1889 lehrte Kiessling an der Universität Straßburg. Sein Forschungsinteresse galt vor allem der römischen Literatur, sein – später von R. Heinze bearbeiteter – HorazKommentar wurde bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mehrfach wiederaufgelegt. 385 Kaibel/Kiessling, Aristoteles Schrift vom Staatswesen der Athener (1891). Kaibel hatte die Schrift 1891 gemeinsam mit Wilamowitz herausgegeben und 1893 in einer eingehenden Studie sprachlich und stilistisch erläutert. 386 Kaibel/Kiessling, [Vorbemerkung] (1891), [ohne Pag.].
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen? entziffert hat, abweicht, werden philologische Leser bei der Nachprüfung leicht feststellen können: […]387
Wie bei Bernays, der in seiner Aristoteles-Übertragung vor allem „Fasslichkeit“ angestrebt hatte, gilt auch hier das Hauptaugenmerk der Übersetzer einer „lesbaren Verdeutschung“. Doch fehlen, anders als bei Bernays, genauere Ausführungen über Grundsätze und Probleme der Realisierung dieses Ziels. Otto Crusius 388 ließ 1893 eine Übersetzung der Mimiamben des Herondas 389 erscheinen, die ursprünglich „für den Gebrauch in akademischen Vorträgen“390 bestimmt war. Im Kapitel VI der Einleitung äußert Crusius sich zu Zielen, Schwierigkeiten und Grundsätzen seiner Übertragung. Diese verfolge einen doppelten Zweck: Sie will eine knappe Erklärung des ungewöhnlich schwierigen Dichters geben – deshalb sucht sie sich möglichst nahe an das Original zu halten –, vor allem aber will sie den fernerstehenden [sic] einen lebendigen künstlerischen Eindruck zu vermitteln suchen. Das führt auf Schritt und Tritt zu Compromissen; bei wirklichen Conflicten war meist der zweite Gesichtspunkt entscheidend.391
Auch wenn es Crusius vor allem auf die Vermittlung des „künstlerischen Eindrucks“ ankommt, so zeigt sich das Innovative seiner Übersetzungsauffassung – ähnlich wie bei Bernays – doch darin, dass er die Übersetzung durchaus als ein legitimes Mittel der Explikation versteht und einsetzt. Crusius betont ferner, dass einer „stilgetreue[n] Nachbildung“ (XL) der Mimiamben weniger die Derbheit des Stoffes392 oder der Sprache entgegenstehe als vielmehr die Schwierigkeit, die zahlreichen volkstümlichen Redensarten, Kunstausdrücke und Sprichwörter in angemessener Weise wiederzugeben. In der Regel habe er die Nachbildung der griechischen Redensart einem „uns geläufige[n] Ersatz“ (XLI) vorgezogen, soweit dies mit dem „deutschen Sprachgefühl“ (XLI) vereinbar war. Aber auch das Auffinden eines Versmaßes, das im Deutschen eine ähnliche Wirkung hervorrufen _____________ 387 Kaibel/Kiessling, [Vorbemerkung] (1891), [ohne Pag.]. 388 Otto Crusius (1859–1918) hatte in Leipzig Klassische Philologie (F. Ritschl, O. Ribbeck) und Germanistik (R. Hildebrandt) studiert und war anschließend als Gymnasiallehrer, u. a. an der Leipziger Thomasschule tätig. Nach seiner Habilitation (1883) bekleidete er Ordinariate in Tübingen, Heidelberg und München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten die griechische Fabel, antike Musik sowie die seinerzeit durch einen Papyrusfund wiederentdeckten Mimiamben des Herondas. 389 Crusius hatte sich bald nach der editio princeps des Herondas intensiv mit dem neuen Text beschäftigt. Er verfasste 1892 mit seinen Untersuchungen zu den Mimiamben des Herondas den ersten literarischen Kommentar und publizierte im gleichen Jahr die kritische Textausgabe in der Bibliotheca Teubneriana, die er in den insgesamt fünf Auflagen bis 1914 weiter vervollkommnete; vgl. Rudolf Herzogs Vorwort zur Neuauflage der Crusius-Übersetzung von 1926, in dem Crusius’ Verdienste um das Werk des Herondas eingehend gewürdigt werden. Darüber hinaus findet sich in Herzogs Einleitung auch ein Abschnitt zur Übersetzungsproblematik; Herzog, Einleitung (1926), 53–57. 390 Crusius, Einleitung (1893), XLIV Anm. 4. 391 Crusius, Einleitung (1893), XL. 392 Bei den Mimiamben handelt es sich um Miniaturdramen, in denen Szenen aus dem Alltag in skurriler, bisweilen obszöner Weise parodiert werden. Sie sind in ionischem Dialekt verfasst und verwenden das Metrum des Hinkjambus.
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könne wie der im Original verwendete Hinkjambus, bereitete dem Übersetzer Schwierigkeiten, da alle bisherigen deutschen Nachbildungsversuche dieses Versmaßes an einer gewissen „Einförmigkeit der Versausgänge“ (XLII) litten: Wenn eine Uebersetzung mit den Mitteln der heimischen Sprache ähnliche Wirkungen erzielen soll, wie das fremde Original, so ist eine Uebertragung des Herondas in diese deutschen Hinkjamben geradezu ein Fehler: die Wirkung ist eine ganz andere.393
Auch die von anderen Philologen394 vorgeschlagene „gereimte Kurzzeile im Stil von Hans Sachs (und Goethe)“ (XLII) erscheint Crusius eher ungeeignet, da sie über die Dichtungen „einen warmen Schimmer von Behäbigkeit und altväterischem Wesen“ (XLIII) gieße, der dem Original fremd sei. Als ein Werk, das in enger Stilverwandtschaft zu den Mimen des Herondas steht, benennt Crusius schließlich den Zerbrochenen Krug Heinrich von Kleists. Hier sei der „übliche dramatische Jambus“ (XLIV) freier und gröber gebaut als in der Penthesilea, so dass er auch unrhythmische Schlüsse zulasse. Eduard Norden 395, der Nachfolger Moriz Haupts auf dem Berliner Lehrstuhl für Latinistik, trat ebenfalls mit Übersetzungen antiker Werke hervor. 1902 erschien zunächst eine bibliophile Ausgabe des Apuleius-„Märchens“ Amor und Psyche 396. In einer „Anmerkung des Übersetzers“ nimmt Norden in knapper Form Stellung zu der besonderen Gestalt des lateinischen Ausgangstextes und dem gewählten übersetzerischen Verfahren: Apuleius, der lateinische Bearbeiter einer „uns verlorenen griechischen Vorlage“, habe deren ursprünglich naiven Ton und die einfache Sprache insofern „verfälscht“, als er, um dem derberen Geschmack seiner römischen Leser entgegenzukommen, das Märchen „einer erotisch-sinnlichen Bearbeitung unterzogen“ und es zudem „noch in die Sphäre burlesker Komik herabgezogen“ habe.397 Daher sei dem Übersetzer nichts anderes übrig geblieben, „als dem lateinischen Schriftsteller auf seinen verschlungenen Pfaden zu folgen und nur mit schonender Hand hie und da ein_____________ 393 Crusius, Einleitung (1893), XLII. 394 Genannt werden hier A[dolf ?] Bauer und Siegfried Mekler; vgl. Crusius, Einleitung (1893), XLII. 395 Eduard Norden (1868–1941) hatte in Bonn (H. Usener, F. Bücheler) und Berlin Klassische Philologie studiert und sich, nach Promotion und Assistententätigkeit in Bonn, 1892 in Straßburg habilitiert. 1893 wurde er auf eine außerordentliche, 1895 auf eine ordentliche Professur in Greifswald berufen. Es folgte 1899 die Berufung nach Breslau und 1906 nach Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 1935 tätig war. Aufgrund der NS-Rassengesetze wurde er später aus allen Gremien, u. a. dem Direktorium des Deutschen Archäologischen Instituts und der Berliner Akademie der Wissenschaften, ausgeschlossen. 1939 emigrierte Norden in die Schweiz. 396 Es handelt sich hier gewissermaßen um ein großformatiges, aufwendig gestaltetes Bilderbuch für Erwachsene. Die Texte und die zahlreichen, teilweise recht freizügigen Illustrationen sind durch Jugendstilornamente gerahmt. Hingewiesen sei noch auf eine Übersetzungsanthologie mit dem Titel Antike Dichtungen in deutschem Gewande, die Norden im Jahr 1908 aus dem Nachlass des 1907 verstorbenen Eisenacher Oberlehrers Günther Koch herausgab. Der Norden persönlich nicht bekannte Koch hatte ihn ursprünglich um Durchsicht und Begutachtung seines Manuskripts gebeten; Koch, Antike Dichtungen in deutschem Gewande (1908). 397 Die vorangehenden Zitate finden sich in Norden, Anmerkung des Übersetzers (1902), 61 f.
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zelne allzu grosse Ungezogenheiten zu unterdrücken oder doch zu mildern“398. Sprachlich-stilistische Vorbilder findet er in der rhythmisierten Prosa Goethes, Herders und einiger jüngerer Autoren: Eher wird man sich die rhythmische Sprache gefallen lassen, die der Uebersetzer im Sinn des lateinischen Textes besonders an gehobenen Partien zu erreichen versucht hat: hierfür ist ja auch unser Ohr organisiert, wie – um nur an das Bekannteste zu erinnern – Goethes Werther und Egmont, Herders Paramythien, sowie unsere neueste poetische Prosa beweisen.399
Von weitaus größerer Bedeutung ist jedoch die metrische Übertragung, die Norden seinem wissenschaftlichen Kommentar zum sechsten Buch von Vergils Aeneis beifügte. In seiner Vorrede zur ersten Auflage von 1903 bezeichnet er sie als „ein Stück des Kommentars“, da sie vor allem die „Grenzen des in den verschiedenen Sprachen Möglichen“ sichtbar mache.400 Hinsichtlich der Metrik schließt sich Norden der Aufassung Friedrich Schillers an, der im Zusammenhang mit seinen Übertragungen des zweiten und vierten Buches der Aeneis bekundet habe, der deutsche Hexameter sei nicht fähig, „diejenige Biegsamkeit, Harmonie und Mannigfaltigkeit zu erlangen, die Vergil seinem Übersetzer zur Pflicht mache“. Zudem, so Norden, habe der deutsche Hexameter „für unser Ohr homerisches Ethos“, das dem Vers Vergils vollkommen fremd sei. Da die Schiller’sche Alternative, eine Nachdichtung in freien Stanzen, ein hohes Maß an dichterischer Begabung erfordere, das Norden sich selbst offenbar nicht zutraut, die deutsche Sprache aber andererseits auch kein Versmaß besitze, das dem Hexameter Vergils „durchaus aequivalent“ sei, habe er sich letztlich dazu entschlossen, auf die Einheitlichkeit des Metrums zugunsten der „Vielheit der Stimmungen“ zu verzichten. Norden entscheidet sich für eine polymetrische Übertragung, in der die „erzählenden Teile“ – in Anlehnung an eine Übersetzungsprobe von Wilamowitz401 – im fünfhebigen Jambus, die eher dramatischen oder lyrischen Passagen durch Trochäen oder freie Anapäste wiedergegeben werden. „[D]urch das schwere Opfer der strengen metrischen Geschlossenheit“ habe er „Freiheit für die Reproduktion der Stimmungen“ gewonnen.402 _____________ 398 Norden, Anmerkung des Übersetzers (1902), 63. 399 Norden, Anmerkung des Übersetzers (1902), 63. 400 Norden, Vorrede [zu Vergil, Aeneis, Buch VI] (1903), VII f. Im Vorwort zur zweiten Auflage (1915) geht Norden nur noch mit einem einzigen Satz auf seine Übersetzung und die durch sie hervorgerufenen Reaktionen von Nutzern und Kritikern ein: „Die Übersetzung blieb – von der Glättung mehrerer Unebenheiten abgesehen – unverändert: sie hat wegen ihrer Polymetrie, die ich, da mir Schillers Vorbild unerreichbar erschien, an die Stelle der unnachbildbaren Vielgestaltigkeit des vergilischen Hexameters zu setzen wagte, bei manchen Kritikern den von mir vorhergesehenen Widerspruch gefunden, aber auch an Freunden hat es ihr nicht gefehlt, und sie hat, wie ich hörte, im Munde von Lehrern höherer Schulen manche jungen Gemüter diesem Dichter gewonnen, den ihnen auch außerhalb des Rahmens der Iliupersis nahezubringen doch immer noch der Mühe wert ist.“ Norden, Vorwort zur zweiten Auflage (1915), VI. 401 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, An den Quellen des Clitumnus (1885), 349. 402 Die vorangehenden Zitate finden sich in Norden, Vorrede (1903), VII–IX. Eine kurze Analyse von Nordens Übersetzungsstil findet sich in Gronemeyer (1963), 217–219.
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Hermann Diels 403 umreißt in der Einleitung zur zweiten Auflage seiner erstmals 1901 erschienenen griechisch-deutschen Heraklit-Ausgabe seine Übersetzungsauffassung folgendermaßen: Übersetzen ist Spiel oder, wenn man will, Spielerei. Einen griechischen Philosophen wie Heraklit oder Platon zu übertragen ist schon deshalb unmöglich, weil Form und Inhalt des Denkens nur im Original sich völlig decken und die Worte in ihrer Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit nur hier ganz verständlich sind. Den Proteus λόγος in irgend einer andern Sprache zu fassen ist ein faustisches Bemühen. Als Bekenntnis dagegen, wie man selbst Form und Inhalt des Philosophen verstanden hat, ist eine Übertragung besser als eine weitschweifige Erklärung.404
Damit greift Diels zum einen den bereits von Humboldt und Schleiermacher entwickelten Gedanken von der Verschiedenheit der Sprachen auf, demzufolge eine absolut deckungsgleiche Übersetzung, die als Ersatz an die Stelle des Originals treten könnte, unmöglich ist, da die in den verschiedenen Sprachen scheinbar synonym verwendeten Begriffe in Wirklichkeit mit den unterschiedlichsten Vorstellungen und Assoziationen verknüpft sind. Zum anderen positioniert er sich eindeutig gegen Haupt, indem er die Übersetzung als Mittel der Interpretation einer „weitschweifigen“ Kommentierung vorzieht.405 Wie Diels in einer Fußnote erläutert, sollte die Erstauflage der Heraklit-Ausgabe ursprünglich vor allem dazu dienen, „die Einrichtung der Vorsokratiker“406 zu erproben. Die 1903 von Diels erstmals publizierte Sammlung aller seinerzeit bekannten Fragmente der Vorsokratiker erfuhr in der Folgezeit – unter Mitarbeit seines Schülers Walter Kranz – umfangreiche Erweiterungen und zahlreiche Neuauflagen407 und dient bis heute als Grundlage aller Forschung über die Vorsokratiker. Alle Fragmente sind _____________ 403 Hermann Diels (1848–1922) hatte nach seinem Studium der Klassischen Philologie in Berlin und Bonn bei H. Usener mit einer Arbeit über Galen promoviert. Anschließend war er als Gymnasiallehrer u. a. am Johanneum in Hamburg tätig. 1881 wurde er in die Preußische Akademie berufen, 1882 zum außerordentlichen und 1886 zum ordentlichen Professor der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität. Er beschäftigte sich vor allem mit antiker Medizin und Philosophie, war Herausgeber des Corpus medicorum Graecorum und war maßgeblich an der Publikation der 26 Bände der Commentaria in Aristotelem Graeca beteiligt. Große Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine Ausgabe der Vorsokratiker-Fragmente (1903). 404 Diels, Einleitung [zu Herakleitos von Ephesos] (1909), XVI. Im Vorwort zu seiner griechisch-deutschen Ausgabe von Parmenides Lehrgedicht von 1897 wird die Frage des Übersetzens nicht weiter erörtert. 405 Die von Diels intendierte Funktion der Übersetzung als Kommentar und damit verbunden ihre Geltung als eigenständige wissenschaftliche Leistung zeigt sich noch deutlicher in der Tatsache, dass wiederum Diels’ Heraklit-Übersetzung auch ins Italienische übertragen wurde (Em. Teza, Parole di Eraclito, Padova 1903); vgl. Diels, Einleitung [zu Herakleitos von Ephesos] (1909), XVI Anm. 2. 406 Diels, Einleitung [zu Herakleitos von Ephesos] (1909), XVI Anm. 3. 407 Nach der Ergänzung umfangreicher Indizes und eines kritischen Apparats erschien das Werk seit der 2. Auflage (1906–1910) zweibändig, seit der 3. Auflage von 1912 dreibändig. Nach Diels’ Tod 1922 übernahm Walter Kranz allein die Herausgeberfunktion und legte mit der 5. Auflage (1934–1938) eine tiefgreifende Umarbeitung einschließlich einer neuen Übersetzung vor, die den mittlerweile erzielten Fortschritten in der Textauslegung Rechnung tragen sollte. Nach der 6. Auflage (1951– 1952) wurde die Ausgabe nicht mehr aktualisiert.
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mit einer deutschen Übersetzung versehen, die, so Diels, „statt eines Commentars […] rasch in das Verständnis der Texte, soweit es sich mir erschlossen hat“408, einführen soll. Das Verständnis werde vor allem durch die Eigentümlichkeiten der archaischen Rede erschwert, in der sich „die aus der Tiefe zum erstenmale aufsteigenden Gedanken nur mühsam durchringen“ und die weit abstehe von der „periodisch gerundeten und semasiologisch abgeschlossenen Eleganz der Attiker des vierten Jahrhunderts“.409 Grundsätze für den übersetzerischen Umgang mit diesen Schwierigkeiten formuliert Diels allerdings nicht. Auch die metrische Übersetzung, die Diels seiner erst postum von Johannes Mewaldt herausgegebenen Lukrez-Ausgabe beifügte, wurde von ihm, wie sich seiner lateinischen Vorrede entnehmen lässt, als Ersatz für einen Kommentar angesehen.410 Doch spricht auch einiges dafür, dass Diels darüber hinaus an einer „Vermittlung des Lukrezischen Lehrgedichts an ein größeres Publikum gerade auch außerhalb der Grenzen des eigenen Faches“ gelegen war.411 So entstand seine Übersetzung zu einer Zeit, die nicht nur durch den gerade beendeten Ersten Weltkrieg, sondern auch durch bahnbrechende naturwissenschaftliche Entdeckungen geprägt war: Diels, als VorsokratikerExperte bestens vertraut mit dem antiken Atomismus, konnte 1915 in den Sitzungen der Berliner Akademie die Entwicklung von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie gewissermaßen aus nächster Nähe verfolgen;412 Einstein wiederum interessierte sich für das Lehrgedicht des Lukrez, der sich bei der Entwicklung seiner Weltvorstellung – gänzlich unberührt von den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften – allein auf seine spekulative Begabung hatte verlassen müssen.413 Einstein war es dann auch, der der Diels’schen Übersetzung ein Geleitwort voranschickte, in dem es u. a. heißt: „Diels’ Verse lesen sich so natürlich, daß man vergißt, eine Übertragung vor sich zu haben.“414 Auch der Physiker und Nobelpreisträger Walther Nernst zeigt sich in seiner Besprechung der Übersetzung in der Deutschen Literaturzeitung von Diels Versen beeindruckt, die „nicht nur den naturwissenschaftlichen Inhalt des Originals getreu wiedergeben“, sondern auch eine Ahnung von Lukrez’ dichterischen Qualitäten vermittle.415 Er betont, dass man Diels gerade angesichts der „Sprödigkeit der altertüm_____________ 408 Diels, [Vorwort zu Fragmente der Vorsokratiker] (1903), VII f. 409 Vgl. Diels, [Vorwort zu Fragmente der Vorsokratiker] (1903), VIII. 410 Vgl. Diels, praefatio (1923), XXXIII: „[…] interpretationem brevissimam ego editioni adieci i. e. versionem germanicam, qua quomodo verba tradita intellegenda esse credam lecturis aperiam“. 411 Vgl. Rösler (1998), 278. 412 Vgl. Rösler (1998), 279 f. 413 Vgl. Rösler (1998), 287. 414 Einstein, Geleitwort (1924), VIb. Der Herausgeber und Diels-Schüler Mewaldt gibt in seinem Vorwort eine kurze Charakteristik der von Diels angestrebten Übersetzungsziele: „Außer dem Streben nach Klarheit, verbunden mit überraschender Wörtlichkeit, tritt der Versuch hervor, in der Wahl der Wörter den Lautharmonien des römischen Dichters hier und da durch Stabreim und Vokalanklänge nachzukommen. Beabsichtigt ist auch ein gewisses Archaisieren, anderswo wieder ein Modernisieren mit Maß: beides ist dem lukrezischen Geiste angemessen.“ Mewaldt, Vorwort des Herausgebers (1924), V. 415 Vgl. Nernst (1924), 1741.
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lich herben Sprache des Urtextes“ für seine Übersetzung dankbar sein müsse, „nicht zuletzt in naturwissenschaftlichen Kreisen“.416 In diesem „Brückenschlag zwischen Philologie und Naturwissenschaft“ erkennt rückblickend auch Wolfgang Rösler „eine bedeutende Leistung des Übersetzers Hermann Diels“.417 Für die Entwicklung der Übersetzung von einem philologischen Tabuthema hin zu einem allgemein anerkannten Medium philologischer Exegese markiert der dem Übersetzen gewidmete Abschnitt in der 1909 von Eduard Norden und Alfred Gercke herausgegebenen Einleitung in die Altertumswissenschaft gewissermaßen einen Endpunkt. In dem Kapitel Methodik 418 wird das Übersetzen als erster Schritt auf dem Weg zur formalen Interpretation dargestellt. Es soll zunächst das „Erfassen des Gedankeninhaltes“419 erleichtern: Die einfachste Annäherung an dieses Verständnis ist bei fremdsprachlichen Texten die Übertragung in unsere eigene Sprache, bei eigensprachlichen Texten die Umschreibung oder Paraphrase.420
Übersetzung und Paraphrase reichten jedoch letztlich „für ein wirkliches Verständnis, wie es der Philologe erstrebt“ nicht aus, da durch sie oftmals „die eigenartige Formulierung des Gedankens verwischt“ werde, der „Geist der fremden Sprache“ sich verflüchtige und „grobe Missverständnisse“ sich einschleichen könnten. Aus diesem Grund sei immer auch eine Interpretation des Werkes „mit Hilfe der Synonymik und beweisender Parallelen“ erforderlich. Doch wird hier explizit gegen Moriz Haupts Standpunkt, das Übersetzen sei der „Tod des Verständnisses“ eingewandt: „Nicht übersetzen zu können ist allerdings ein schimpflicherer Tod“.421 Mit der Aufnahme in das Methoden-Kapitel eines einflussreichen und weit verbreiteten Lehrwerks der Klassischen Philologie hat die Übersetzung in ihrer Funktion als – wenngleich nachrangiges – Mittel der Texterklärung ihren Platz im Kernbereich der Philologie als Wissenschaft gefunden. Einer grundlegenden theoretischen Unterfütterung schien das philologische Selbstbewusstsein jedoch lange Zeit nicht zu bedürfen, wie die oftmals frappierende Kürze entsprechender Ausführungen von Seiten der Übersetzer vermuten lässt. Eine Ausnahme bilden lediglich die Schriften Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs, die sich allerdings, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, durch ihre besondere Exzentrizität auszeichnen.
_____________ 416 Vgl. Nernst (1924), 1741. 417 Vgl. Rösler (1998), 288. 418 Gercke/Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1 (1910). Für das Methodik-Kapitel war Gercke zuständig. 419 Gercke/Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1 (1910), 58. 420 Gercke/Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1 (1910), 58. 421 Die Zitate des vorangehenden Absatzes finden sich in Gercke/Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1 (1910), 58.
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff „Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen.“422 Mit diesem programmatischen Satz widerspricht Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff423 in seiner Abhandlung Was ist übersetzen? 424 nicht nur dezidiert der von Gottfried Hermann, August Boeckh und Moriz Haupt vertretenen Auffassung, das Übersetzen gehöre nicht zur Philologie, sondern formuliert geradezu die Gegenthese. Waren auch, wie gesehen, bereits vor Wilamowitz etliche Philologen von den traditionellen Vorbehalten gegenüber dem Übersetzen abgerückt, so hatte doch bislang keiner eine Monopolstellung für die Philologie beansprucht. Kein Wunder also, dass Wilamowitz’ provokante Äußerung vor allem in Literatenkreisen heftigen Widerspruch hervor_____________ 422 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 1. Hier als Einleitungssatz. In früheren Fassungen der Abhandlung ist der Satz weniger prägnant formuliert. 423 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), bedeutendster Repräsentant der Klassischen Philologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, hatte nach dem Besuch von Schulpforta Klassische Philologie in Bonn und in Berlin studiert. Nach Promotion und Habilitation wurde er auf Ordinariate in Greifswald und Göttingen und 1897 an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. Zu seiner Lehrtätigkeit gehörten auch regelmäßig abgehaltene öffentliche Vorlesungen. Im gleichen Zusammenhang sind auch seine Übersetzungen griechischer Tragödien zu sehen, die zwischen 1899 und 1923 in vier Bänden publiziert wurden und in der Folgezeit zahlreiche Neuauflagen erlebten. Zwischen 1900 und 1910 wurden einige der Übersetzungen auch für Theaterinszenierungen (vor allem in Berlin und Wien) herangezogen. 424 Die Abhandlung erschien erstmals 1891 als Einleitung zu Wilamowitz’ zweisprachiger Ausgabe des Euripideischen Hippolytos und wurde später unter dem Titel Was ist übersetzen? in überarbeiteter Form in den Band Reden und Vorträge aufgenommen (wieder in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente [2009], 325–349). Der Text weist zwischen den verschiedenen Auflagen der Reden und Vorträge (1901, 1902, 1913, 1925/26) geringfügige Abweichungen auf. Zitiert wird hier nach der vierten umgearbeiteten Auflage von 1925/26. Die erste Fassung der Abhandlung von 1891 ist aufgrund ihres Vorwortcharakters – vor allem in den Passagen zur metrischen Gestaltung – stärker auf die griechisch-deutsche Hippolytos-Ausgabe zugeschnitten. Unterschiede zur erweiterten Fassung weist vor allem die Einleitungspassage auf. Wilamowitz wendet sich hier „an ein doppeltes publicum“, einerseits an Philologen, die „die deutsche Seite sehr nötig“ hätten, „da in ihr der hauptsächlichste teil der erklärung gegeben ist“, andererseits an „leute, die zwar ohne hilfe den Euripides nicht lesen können, aber mit dieser hilfe in den stand gesetzt werden, sich selbst zu überzeugen, wie hoch das original über der übersetzung steht“ (1). Er unternimmt einen kurzen Rückblick auf seinen ersten, 23 Jahre zurückliegenden „knabenhaften versuch“ einer Hippolytos-Übersetzung, von dem jedoch „kaum noch ein par versprengte dialogverse“ (1 f.) Aufnahme in die publizierte Übersetzung gefunden hätten. Deutlich äußert Wilamowitz ferner seine Kritik an der Einstellung vieler Philologen, die das Verwenden und Erstellen von Übersetzungen offenbar als etwas Ehrenrühriges betrachteten: „nicht dass ich den Euripides übersetzte, wird einen philologen, so er den namen verdient, verwundern, aber dass ich diese übersetzung fertig mache und drucken lasse und von unsern stillen freuden rede, wird er vielleicht tadeln. denn halb aus stolz, halb aus bescheidenheit pflegen die philologen solche übersetzungen kaum zu erwähnen, geschweige zu veröffentlichen. Das tun dann andere an ihrer statt, die es nicht verstehn“ (2). 1924 erschien außerdem in dem Jahrbuch des Propyläenverlages Der Spiegel ein kurzer Aufsatz mit dem Titel Die Kunst der Übersetzung, der im Wesentlichen die Argumente der früheren Abhandlung bündelt (jetzt in: Kleine Schriften, Bd. 4). Weitere Aussagen zur Übersetzungsproblematik finden sich auch in den Vorworten zu Wilamowitz’ Tragödienübersetzungen sowie in der Monographie Griechische Verskunst von 1921 (s. Literaturverzeichnis).
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rief.425 Sie wird jedoch begreiflicher, betrachtet man die Wilamowitz’sche Übersetzungskonzeption vor dem Hintergrund seines Selbstverständnisses als Philologe. In seiner Geschichte der Philologie von 1921 definiert Wilamowitz die Aufgabe der Philologie folgendermaßen: Sie solle die als Einheit begriffene „griechisch-römische Kultur in ihrem Wesen und allen Äußerungen ihres Lebens“ erfassen und „durch die Kraft der Wissenschaft wieder lebendig […] machen“426. Wilamowitz fasst Sprache, Metrik, Stil und Gattungen antiker Literatur jeweils als Ergebnisse eines historischen Prozesses auf427 und versteht die Philologie demgemäß als „geschichtliche Wissenschaft“428. Dem Philologen wird daher neben herausragender Sprachkompetenz auch die souveräne Beherrschung der Methoden historisch-kritischer Forschung abverlangt. Sein Ziel müsse es sein, unter Einbeziehung sämtlicher zur Verfügung stehender Quellen und Hilfsmittel zu einem möglichst umfassenden Verständnis eines antiken Werkes und seines Autors zu gelangen. Dieses auf dem Wege historisch-kritischer Forschung erworbene Verständnis solle er jedoch nicht für sich behalten, sondern auch der Allgemeinheit zugänglich machen. So heißt es in Wilamowitz’ Einleitung in die griechische Tragödie 429: Aber wenn wir uns das Können anzueignen versuchen, dürfen wir uns nicht damit begnügen, es als Kunst zu üben, sondern müssen uns dessen was wir wissen und können selbst bewußt werden und es für andere zur Darstellung bringen. Wir müssen selber verstehen und anderen erklären.430
Das In-Worte-Fassen des eigenen Verständnisses, zunächst für sich selbst, schließlich auch für andere, wird von Wilamowitz als Übersetzungsprozess dargestellt: Der Philologe der sich pflichtmäßig mit aller Kraft daranmacht, das vollkommene Verständnis eines Gedichtes zu erreichen, wird unwillkürlich dazu getrieben, sein Verständ-
_____________ 425 S. u. S. 209–220. 426 Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie (1921), 1. S. auch Wilamowitz-Moellendorff, Philologie und Schulreform (1892), 105 f. 427 Vgl. u. a Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 5, und ders., Euripides Herakles (1895), Bd. 1, 236 u. 255. 428 Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles (1895), Bd. 1, 254 f. u. 257 f.; s. auch ebd., 241, wo es heißt, Winckelmann habe der Archäologie „den Blick für die Wechselbeziehung von Poesie und bildender Kunst mitgegeben und sie von vornherein zu einer geschichtlichen Wissenschaft gebildet, was die Betrachtung der Poesie erst werden sollte, oder vielmehr noch immer erst werden soll“. 429 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles (1895), Bd. 1, Einleitung in die griechische Tragödie. Das Werk war erstmals 1889 erschienen und vereinte ursprünglich eine allgemeine Einleitung in die attische Tragödie mit einer Einführung, kritischem Text und Kommentar zum Euripideischen Herakles. In die zweibändige Neubearbeitung von 1895 wurde auch eine Übersetzung aufgenommen, während die allgemeinen Einleitungskapitel I–IV der Erstauflage zunächst ausgegliedert wurden. Es folgten weitere Ausgaben in unterschiedlicher Kombination der einzelnen Teile; vgl. die Bemerkungen zur vorliegenden Auflage, in: Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles (1895) (unveränd. reprograf. Nachdr. der Ausg. Darmstadt 1959), Bd. 1, Darmstadt 1969, XVII. 430 Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles (1895), Bd. 1, 254.
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen? nis auszusprechen, und wenn er zu sagen versucht, was der alte Dichter gesagt hat, so versucht er das in seiner eigenen Sprache, er übersetzt.431
Der Übersetzungsprozess umfasst demnach zwei Aspekte: zum einen den hermeneutischen Akt, das Verstehen des antiken Werkes unter strikter Anwendung historisch-philologischer Methoden, zum anderen die Fixierung und Vermittlung des Verstandenen in der eigenen Sprache, also das Übersetzen im eigentlichen Sinne. Betrachtet sei hier zunächst der Aspekt des Verstehens: Dazu muss bemerkt werden, dass sich Wilamowitz – im Gegensatz zu Schleiermacher oder Wilhelm von Humboldt – an keiner Stelle seines umfangreichen Œuvres eingehend mit hermeneutischen oder sprachphilosophischen Fragestellungen auseinandersetzt. So konstatiert denn auch Manfred Landfester in seinem Aufsatz Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts: „U. v. Wilamowitz war im Gegensatz zu Usener eine völlig untheoretische und unphilosophische Natur. Er war ein ausgesprochener Praktiker ohne eine ausgebildete theoretische Ebene und ohne feste Begrifflichkeit.“432 Dementsprechend finden sich Ausführungen zu Sprache und Verstehen bei Wilamowitz lediglich im Kontext der philologischen Praxis. Das Verstehen eines antiken Werkes oder eines antiken Autors sieht er dabei nicht als ein unerreichbares oder bestenfalls annäherungsweise zu erreichendes Ziel an; seine diesbezügliche Haltung ist vielmehr von großem Optimismus getragen. So hält er es gar für möglich, allein durch „philologische Arbeit“433 bis in die Seele eines (antiken) Dichters vordringen zu können, sofern ihm genügend verwertbare Informationen über die Entstehungsbedingungen eines literarischen Werkes zur Verfügung stehen: Erst wenn die Wissenschaft sich von Wissen alles Erreichbare verschafft hat, das vollkommenste Sachverständnis auf das Objekt gerichtet, das sie erfassen will, wozu hier die Kenntnis der gestellten Aufgabe ebenso gehört wie die des konventionellen Stiles und, was Vorbedingung für alles ist, das volle grammatische Verständnis aller Worte, wird sie zu dem Individuellen, zu dem Dichter und seiner Seele gelangen. Daß Seele nur von Seele erkannt wird, also letzten Endes der Verstand nicht zureicht, haben wir immer gewußt.434
Die Antike interessiert Wilamowitz weder als klassizistisches Ideal435 noch in ihrer von den Romantikern postulierten historischen Differenz und Fremdheit. Vielmehr ver_____________ 431 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 1. S. auch Wilamowitz-Moellendorff, Vorwort [zu Griechische Tragödien, Bd. 2] (1900), 4: „Von ihrer [scil. W.’s Übersetzungsarbeit] philologischen Seite habe ich hier nicht zu reden, wohl aber von meinem Bestreben, die Ergebnisse meiner Wissenschaft in diesen Übersetzungen vor das breite Publikum zu bringen.“ 432 Landfester (1979), 163. Zu Wilamowitz’ „Theoriefeindlichkeit“ ebd., Anm. 24, wo u. a. festgestellt wird: „Die Philosophie bedeutete Wilamowitz – ganz im Gegensatz zu Boeckh – nichts für seine Arbeit. […] Die Philosophie, deren Aufgabe es sei, ‚die allgemeinen Gesetze oder Ideen, das bleibende Sein im Strudel des Werdens, aufzuzeigen‘, habe nicht am Anfang, sondern am Ende der philologischen Arbeit zu stehen, wenn ‚das Material zubereitet‘ sei (U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Reden und Vorträge, 3. Aufl. Berlin 1913, 131, 133).“ 433 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 1 u. 6. 434 Wilamowitz-Moellendorff, Pindaros (1922), 455. 435 Eduard Norden fasst in seinem Nachruf auf Wilamowitz dessen „kulturelles Glaubensbekenntnis“ folgendermaßen zusammen: „der deutsche Baum soll, durch das hellenische Pfropfreis veredelt, in eigener, erdgeborener Kraft und Herrlichkeit sich entfalten. Daher war er, der klassische Philologe,
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sucht er, auf dem Wege historischer Annäherung an das antike Original das Eigene im Fremden wiederzufinden, das Unbekannte durch das Bekannte zu erklären. Genaue Sprachkenntnis und detailliertes Wissen um die historischen Bedingungen ermöglichen es dem Philologen, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt des antiken Autors hineinzuversetzen, seine persönliche Motivation, seine Intention, seine individuelle Stimmung zu erspüren und schließlich in einem Akt einer Seelenverschmelzung („Metempsychose“436) zwischen Autor und Übersetzer die Antike wieder zum Leben zu erwecken. In der Vermittlung einer „lebendigen“437 Antike sieht Wilamowitz die Hauptaufgabe des Philologen, einer Antike also, deren Erscheinungsformen auf nachvollziehbaren historischen Voraussetzungen gründen, in der Menschen agieren, deren Handlungen sich ebenso wie ihre künstlerischen und literarischen Äußerungen auf kulturelle, politische, soziale und religiöse Bedingungen zurückführen lassen und die sich insofern von der Gegenwart nicht grundlegend unterscheidet: Je tiefer die Einzelforschung dringt, um so klarer erkennen wir, daß die antike Welt der modernen mit all ihrem Reichtum an Gegensätzen, an Weisheit und Torheit durchaus vergleichbar ist. Auf die klassische Kunst ist auch damals Barock, Rokoko und Klassizismus gefolgt; auch Impressionismus hat es gegeben.438
Wilamowitz sieht – in der Nachfolge Humboldts – eine gewisse „Seelenverwandtschaft“ zwischen Griechen und Deutschen bzw. Hellenen und Germanen als gegeben an439 und erkennt daher in der Vermittlung griechischer Dichtung nicht nur eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis der eigenen kulturellen und sittlichen Werte, sondern sogar „eines der Mittel, die Not tun, um auf diese Weise dem sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegen geht“440. Seine eigene Zeit sieht Wilamowitz also bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Dekadenz, das sich durch die Abwendung der Menschen vom „Ideal“ zugunsten von „Gold, Sinnengenuß, Ehren“ auszeichnet.441 Die Beschäftigung mit dem „Hellenentum“, vor allem mit griechischer Dichtung ist seiner Auffassung nach dazu geeignet, diesem Prozess entgegenzuwirken: _____________ 436 437 438
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durchaus kein Klassizist, vielmehr ein Gegner dieser nur nachahmenden Richtung“; vgl. Norden, Worte des Gedächtnisses an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1931), 6. Diesen Begriff verwendet Wilamowitz in seiner Abhandlung Was ist übersetzen?; s. u. S. 201. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie (1921), 1. Wilamowitz-Moellendorff, Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten (1921), 151; s. dazu auch Wilamowitz-Moellendorff, Griechen und Germanen (1923), 96: „denn wer Völkerschicksale begreifen will, muß sich an die Analogien halten, die im Laufe der Zeiten hie oder da sich bieten.“ Ebd., 97 heißt es, die „Analogie der Germanen“ helfe dabei, sich ein Bild von den Anfängen der griechischen Kultur zu machen. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Griechen und Germanen (1923), 107: „Wir aber sind [scil. im Ggs. zu Franzosen, Engländern, Italienern und Schweden] imstande gewesen, den Hellenen in die Seele zu sehen, weil wir Germanen waren. Denn diese tiefe innere Verwandtschaft ist auch an den Tag gekommen und wird noch deutlicher werden.“ Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 2. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 2.
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen? Davon abzukehren, keineswegs bloß ästhetisch und intellektuell, sondern sittlich, ist das Hellenentum, oder vielmehr seine Seele, die nicht mit dem Leibe des Volkes gestorben ist noch sterben wird, sehr wohl imstande. Dazu bedürfen wir seiner: ich weiß nicht vieles, was das ebensogut könnte.“442
Bei der Ausarbeitung seines eigentlichen Übersetzungskonzepts bleibt Wilamowitz indes ganz konventionell. Er bedient sich übersetzungstheoretischer Versatzstücke, die so oder ähnlich bereits in diversen Übersetzungsvorworten des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Parallelen zeigen sich vor allem zur Übersetzungskonzeption Adolf Wilbrandts.443 Wie für diesen ist auch für ihn Verständlichkeit erklärtes Übersetzungsziel: Meine Übersetzung will mindestens so verständlich sein wie den Athenern das Original war, womöglich noch leichter verständlich; sie will also einen Teil der Erklärung bereits liefern.444
Und er fügt hinzu: Ich wende mich gerade mit besonderem Zutrauen an die, welche sich den Wahn Griechisch gelernt zu haben nicht erst abzugewöhnen brauchen. Nicht den Nachbetern einer abgestandenen Kunstlehre noch den bildungssatten Décadents, sondern denen, die unverdorben und meinethalben ungebildet nach dem reinen Lebenswasser einer großen echten Kunst dürsten, will ich dienen, indem ich ihnen einige solche Werke vermittle, so gut ich kann.445
Konnte man zunächst, in Anbetracht des eingangs zitierten programmatischen Satzes, vermuten, dem Philologen Wilamowitz sei daran gelegen, den griechischen Text im Deutschen durch eine möglichst wort- und formgetreue Übertragung abzubilden, so weist schon sein in der Abhandlung Was ist übersetzen? geäußertes Urteil über Droysens Aischylos-Übersetzung in die entgegengesetzte Richtung: Droysen entferne sich um so weiter „vom Schlendrian, das heißt hier von der wörtlichen Treue und von den Versmaßen der Urschrift […], je sicherer er des Verständnisses ist, je mehr er wagen kann, des Dichters Gedanken, Empfindungen, Stimmungen frei aus sich zu geben, weil er sie ganz in sich aufgenommen hat.“446 Damit wendet sich Wilamowitz explizit gegen die romantisch-klassizistische Übersetzungskonzeption, d. h. gegen das seit Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in der Nachfolge der Voss’schen Homer-Übersetzungen lange Zeit präferierte Verfahren des sogenannten Übersetzens antiker Dichtung „in den Versmaßen des Urtextes“. Dieses Verfahren, das der vor allem von den Romantikern postulierten engen Zusammengehörigkeit von Inhalt und Form, Sprache und Denken Rechnung tragen und – soweit nur irgend möglich – das Fremde, d. h. die griechische
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Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 3. S. o. S. 148–153. Wilamowitz-Moellendorff, Vorwort [zu Griechische Tragödien, Bd. 2] (1900), 3. Wilamowitz-Moellendorff, Vorwort [zu Griechische Tragödien, Bd. 2] (1900), 5. Vgl. auch ebd., 4: „Von ihrer philologischen Seite habe ich hier nicht zu reden, wohl aber von meinem Bestreben, die Ergebnisse meiner Wissenschaft vor das breite Publikum zu bringen.“ S. auch ders., Was ist übersetzen? (1925), 2 u. 4. 446 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 6.
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Wort- und Satzstruktur sowie die formalen Eigenheiten des Originals im Deutschen abbilden sollte,447 wird von Wilamowitz als gescheitert betrachtet: Mit dem vergeblichen Bemühen, die Versmaße der Urschrift zu bewahren, wie es Voß und bessere Männer als Voß, Humboldt z. B., versucht haben, würde er [scil. der Übersetzer] sich nur selbst den rechten Weg verbauen: sind doch ihre Übersetzungen, übrigens auch Schleiermachers Platon, heute gänzlich tot.448
Für Wilamowitz deutet das Bemühen um eine wort- und formgetreue Nachbildung des Originals also paradoxerweise auf ein mangelhaftes Textverständnis des Übersetzers hin, das sich auf die Vernachlässigung der notwendigen philologisch-historischen Arbeit zurückführen lasse.449 Treue sei die „Tochter der Ignoranz“450, heißt es in einer Fußnote. Wer sich das Verständnis eines antiken Werkes erarbeitet habe, müsse auch in der Lage sein, das Verstandene mit eigenen Worten in der eigenen Sprache wiederzugeben: Das ist Übersetzen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist kein freies Dichten (ποιεῖν); das dürften wir nicht, gesetzt, wir könnten es. Aber der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden. Die neuen Verse sollen auf ihre Leser dieselbe Wirkung tun wie die alten zu ihrer Zeit auf ihr Volk und heute noch auf die, welche sich die nötige Mühe philologischer Arbeit gegeben haben.451
Erstrebt wird also nicht Wort-, sondern Wirkungsäquivalenz. Dabei nimmt der Übersetzer aufgrund seiner vorausgegangenen intensiven philologischen und historischen Beschäftigung mit dem Ausgangstext gewissermaßen die Rolle eines Mediums ein, das mit empfindlichen Sensoren jede Schwingung, jede sprachliche und stilistische Nuance im Aussagegehalt des Originals wahrnehmen und in (wirkungs)äquivalente deutsche Ausdrucksformen umwandeln kann: Und wenn wir den einen Ausdruck nicht wiedergeben können (in Wahrheit können wir ein einzelnes Wort fast nie übersetzen, weil abgesehen von technischen Wörtern niemals zwei Wörter zweier Sprachen sich in der Bedeutung decken), so kann man doch auch im Deutschen einen verhaltenen Vorwurf, der darum nur tiefer verwundet, zum Ausdruck bringen, kann also den Gedanken nicht nur, sondern auch das Ethos der Rede wiedergeben. Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.452
_____________ 447 S. o. S. 31 f. u. 61 f. 448 Wilamowitz-Moellendorff, Die Kunst der Übersetzung (1924), 157. 449 In seinen Abhandlungen zur Übersetzungsproblematik geht Wilamowitz mit seinen Vorgängern (u. a. Schleiermacher, Donner, Mörike, Geibel, Wilbrandt, Voss, Goethe, W. von Humboldt, F. A. Wolf ) mehrfach hart ins Gericht. Vgl. dazu vor allem Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 8 ff. 450 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 19 Anm. 1. 451 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 6. 452 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 8. S. auch ders., Die Kunst der Übersetzung (1924), 156: „Eigentlich muß man doch verlangen, daß er [scil. der Übersetzer] die fremde Sprache
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Wilamowitz greift hier die besonders in der Zeit der Aufklärung beliebte GewandMetapher auf.453 Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein statischer und für alle Menschen gleichermaßen rational erfassbarer Inhalt eines Textes ohne größere Verluste von seiner eher zufälligen spachlich-formalen Gestalt zu trennen sei, dass also beim Übersetzen das ursprüngliche Sprachgewand dieses Inhaltes einfach durch ein gleichwertiges neues ersetzt werden könne. Die Gewand-Metapher wird bei Wilamowitz ergänzt durch den – von ihm nicht erläuterten – Begriff der „Metempsychose“454. Gemeint ist damit offenbar eine Art der intuitiven Einfühlung, die letztlich über das rein Verstandesmäßige hinausgeht, aber dennoch auf vorangehender rationaler philologischer Arbeit beruht.455 Indem der „Geist“ bzw. die „Seele“ des Dichters gleichsam auf den Übersetzer übergeht, kann er seine Wirkung schließlich durch dessen eigene sprachlich-formale Ausdrucksmittel auch in einer anderen Sprache entfalten: So steht es überhaupt: wer ein Gedicht übersetzen will, muß es zunächst verstehen. Ist diese Bedingung erfüllt, so steht er vor der Aufgabe, etwas, das in bestimmter Sprache vorliegt,
_____________ bis in die feinste Nuance nachempfinde und dem Dichter so nahe gekommen sei, daß er die Schwingungen von dessen Seele mit der seinen aufnehmen kann.“ 453 Vgl. Senger (1971), 60 f.: „Um Originalwirkung (d. h. Wirkung wie ein zeitgenössisches Original!) zu erreichen, wendet man jenes Verfahren an, das Goethe im Divan das ‚parodistische‘ nannte. Parodistisch bedeutet dort aber nichts anderes als ‚travestierend‘ = modern verkleidend. Daß genau dieses Verfahren der Aufklärung im Sinne lag, beweist die reiche Metaphorik für das Übersetzen. Häufigste Metapher ist ‚einkleiden‘ (Beytr. III, 79; 91; II, 529); […].“ (Die zitierte Stellenangabe bezieht sich auf Gottsched, Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit [1732– 1744].) Auch Gottfried August Bürger ist die Gewand-Metapher geläufig: „Wenn man dem Lexikon und der Trivialübersetzung folget, so wird es schwerlich fehlen, daß man nicht meistens den ehrwürdigen Alten mit einem schmutzigen, unedeln und lächerlichen Gewande schände.“ Bürger, Gedanken über die Beschaffenheit einer deutschen Übersetzung des Homer, nebst einigen Probefragmenten (1771), 618; s. auch ebd., 624 f., und ders., Etwas über eine deutsche Übersetzung des Homers (1769), 597. S. auch o. S. 143 f. 454 Den Begriff der „Metempsychose“ verwendet im Zusammenhang mit dem Übersetzen auch Arthur Schopenhauer: „Daher kann man sehr selten eine bedeutende Phrase aus einer neuern Sprache wörtlich ins Lateinische übersetzen: sondern man muß den Gedanken von allen Worten, die ihn jetzt tragen, gänzlich entblößen, daß er nackt dasteht im Bewußtseyn, ohne alle Worte, wie ein Geist ohne Leib, dann aber muß man ihn wieder mit einem neuen ganz andern Leibe bekleiden, in den lateinischen Worten, die ihn in ganz andrer Form wiedergeben, so, daß z. B. was im Original durch Substantive, jetzt durch Verba ausgedrückt wird u.s.w. Die Verwaltung solcher Metempsychose befördert das wirkliche Denken.“ Schopenhauer, Ueber Sprache und Worte (1851), [§ 299], 630 Anm. 95. Das Zitat steht hier als „Variante aus Senilia 133“. Dass Wilamowitz die Schrift gekannt hat, ist recht wahrscheinlich. Johann Gottfried Herder, der sich mehrfach, u. a. in drei Gesprächen Über die Seelenwanderung, mit dem Begriff der Metempsychose in metaphysischem Sinne auseinandersetzte, verwendet ihn 1803 auch im Zusammenhang mit dem Fortleben des Horaz in Übersetzungen und Werken der von ihm beeinflussten Dichter: „Vielleicht hat sich kein Dichter lieblicher und öfter als er metempsychosieret.“ Herder, Briefe über das Lesen des Horaz an einen jungen Freund (1803), 762. 455 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Pindaros (1922), 455: „Daß Seele nur von Seele erkannt wird, also letzten Endes der Verstand nicht zureicht, haben wir immer gewußt.“ (S. a. o. S. 198). Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 2: „Wir können unsere Philologie dabei nicht entbehren, aber sie reicht nicht allein hin.“
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mit der Versmaß und Stil auch gegeben sind, in einer anderen bestimmten Sprache neu zu schaffen, mit der wieder Versmaß und Stil gegeben sind.456
Wie bereits ausgeführt, hält Wilamowitz das sogenannte Übersetzen „im Versmaß des Urtextes“ für eine Fehlentwicklung, die vor allem aus der noch mangelhaften Kenntnis der griechischen Sprache und Metrik am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erklären sei.457 In Kenntnis der Ergebnisse jüngerer Metrik-Forschung sei es jedoch nicht mehr akzeptabel, das quantitierende Versmaß des antiken Originals im Deutschen durch betonte und unbetonte Silben wiederzugeben, wie es seinerzeit Wilhelm von Humboldt, Friedrich August Wolf und andere gefordert hatten: Jedermann muß heute wissen, daß der ganze Weg falsch ist, sprachwidrig, weil die germanischen oder vielmehr alle heutigen europäischen Sprachen nicht lange und kurze, sondern betonte und unbetonte Silben haben.458
Mag Wilamowitz heute auch als der prominenteste Vertreter dieser Auffassung oder gar als ihr Begründer angesehen werden, so wird doch aus dem Vorangegangenen deutlich, dass er sich hier im Grunde lediglich einer bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Tendenz anschließt.459 Besonderes Gewicht hatte seine Einschätzung dennoch, galt er doch seinen Zeitgenossen gerade auf dem Gebiet der Metrik als unumstrittene Autorität.460 1921 führte Wilamowitz seine an diversen Stellen publizierten Forschungsergebnisse zur antiken Metrik in der Monographie Griechische Verskunst zusammen. Was die Problematik der Übertragung antiker metrischer Formen auf moderne Sprachen, insbesondere das Deutsche angeht, ist vor allem das erste Kapitel des ersten Teils mit dem Titel Griechischer und moderner Versbau relevant. Zunächst wird darin die negative Einschätzung von Wilamowitz nochmals expliziert und begründet. Auch wenn die Nachbildung antiker Maße die deutsche Verskunst um zahlreiche metrische Formen (Hexameter, Distichen, Oden) bereichert habe, sei sie insgesamt doch als Irrweg zu betrachten: Da die [scil. deutsche] Sprache über wirkliche Kürzen und Längen nicht verfügte und genötigt war, die betonten Silben als Längen zu brauchen, konnte höchstens erzielt werden, daß der Leser einen ähnlichen Eindruck erhielt wie von dem lateinischen Verse, je nachdem er diesen las. Vergil und Ovid wollen so gelesen sein, daß der Wortakzent befolgt wird, aber jede Silbe die Zeit ausfüllt, die ihrer Quantität zukommt: dann ist der Rhythmus bewahrt. […] Je nachdem nun der moderne Leser den Wortakzent befolgte oder die metrischen Füße skandierte, kam etwas heraus, das sich in der einen oder anderen Weise an dem lateinischen Verse versündigte.461
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Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 13. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Die Kunst der Übersetzung (1924), 154 f. Wilamowitz-Moellendorff, Die Kunst der Übersetzung (1924), 155. S. o. S. 183 f., 149 f. u. 185 f. Selbst Rudolf Borchardt, der Wilamowitz in Bezug auf dessen Tragödienauffassung und Übersetzungspraxis scharf kritisiert hatte, bezeichnete ihn als „größten Metriker des Jahrhunderts“; vgl. Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944), 74. 461 Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst (1921), 5 f.
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Wilamowitz führt im Weiteren aus, dass der qualitative Unterschied nicht nur zwischen quantitierenden griechischen und lateinischen Versen auf der einen und ihren akzentuierenden Nachbildungen in modernen Sprachen auf der anderen Seite bestehe, sondern dass vielmehr bereits der lateinische Versbau sich wesentlich vom griechischen unterscheide. Die Deutschen hätten sich jedoch, in dem Glauben, griechische Versmaße nachzuahmen, lediglich „an die römische Nachbildung, nicht an das Original gehalten“462. Auch seien die verschiedenen historischen Entwicklungsstadien der Versmaße in der griechischen Dichtung selbst bislang kaum beachtet worden.463 Anhand von Beispielen zeigt Wilamowitz die Besonderheiten der verschiedenen griechischen Versmaße im Hinblick auf Zäsuren, Auflösungen, gesuchtes Wortende, Versschluss etc. auf und erörtert dabei, inwiefern sich die parallelen Erscheinungsformen römischer Metra von den griechischen unterscheiden und aus welchen Gründen eine Übertragung in deutsche akzentuierende Verse problematisch bzw. unmöglich sei.464 Im Unterschied zu seinen Vorgängern im frühen 19. Jahrhundert, die wie Goethe und Schleiermacher dafür eintraten, die bedeutendsten Werke der Weltliteratur465 ins Deutsche zu übertragen, um sie auf diese Weise allen Interessierten sowie künftigen Generationen zugänglich zu machen, glaubt Wilamowitz nicht mehr daran, dass die deutsche Sprache für das Übersetzen besser geeignet sei als andere (europäische) Sprachen: „[…] und der Traum ist geträumt, das Deutsche zur Vermittlersprache für die sogenannte Weltliteratur zu machen, das heißt, goethisch zu reden, aller Welt Kupplerdienste zu leisten“466. Die Frage nach der Schwierigkeit des Übersetzens ist für Wilamowitz vor allem abhängig von der geistigen Nähe zu dem jeweiligen Kulturkreis, aus dem das zu übersetzende Werk stammt. So hält er das Übersetzen aus modernen Sprachen (Englisch, Italienisch) für leichter, da sich hier die Weise des Denkens, Empfindens und Aussprechens nicht besonders stark von derjenigen der Dichter desselben Volkes unterscheide. Das Übersetzen sei insofern eine fast formale Aufgabe.467 Wilamowitz konstatiert ferner, dass die romanischen Sprachen im Unterschied zum Deutschen „von den Verirrungen des Übersetzens in ausländischen Formen fast frei“ seien, da sie „eine alte Kultur und gefestigte Stile für ihre Poesie“ besäßen.468 Damit kehrt er die romantisch-klassizistische Position geradezu um, nach der die deutsche
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462 Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst (1921), 7. 463 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst (1921), 8: „Die Vollkommenheit hat der Hexameter durch die homerischen Dichter ja noch nicht erreicht, Hesiod baut auch geradezu schlechte; aber diese Unterschiede kannte noch niemand, als die Versuche der deutschen Nachbildung gemacht wurden.“ 464 Auf den Seiten 7–14 der Griechischen Verskunst werden nacheinander Hexameter, Pentameter, Tragödien- und Komödienverse, Trochäen und lyrische Maße abgehandelt. 465 Zum Begriff der „Weltliteratur“ s. o. S. 95–100. 466 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 11. 467 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 11 f. Wilamowitz vertritt hier die Ansicht, dass A. W. Schlegel mit seiner Shakespeare-Übersetzung den Deutschen „einen Dichter schenkte, der vielen viel deutscher erscheint als Goethe“, dass jedoch sein Versuch, Calderons Dichtersprache in Deutschland einzubürgern, misslungen sei, da dieser der deutschen Kultur „viel ferner als Euripides“ stehe. 468 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 12.
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Sprache vor allem aufgrund ihrer Flexibilität hinsichtlich der Wortstellung sowie der grammatischen und formalen Strukturen für die Nachbildung fremder Stile und fremder Metrik besonders geeignet sei. Stattdessen ist für Wilamowitz ein gefestigter Stil der Zielsprache Grundvoraussetzung für eine angemessene Übertragung stilistisch durchgeformter Literatur: Als Klopstock den verhängnisvollen Schritt tat, Vergil und Horaz werden zu wollen, besaß der Deutsche weder Kultur noch gebildete Sprache noch einen auch nur ungebildeten Stil. Das zu schaffen war die Aufgabe, und die Nachahmung war das notwendige Mittel, sie zu lösen. Sie ist gelöst. Eine Anzahl großer Männer schuf uns Sprache und Stil.469
Bemerkenswert ist hier, dass Wilamowitz der Nachahmung bei aller Kritik doch zubilligt, ein „notwendiges Mittel“ gewesen zu sein, um der deutschen Sprache zu einem „gefestigten Stil“ zu verhelfen.470 Unter den „großen Männern“, die für die Entwicklung und Bereicherung des Deutschen Entscheidendes geleistet hätten, nimmt Goethe für Wilamowitz den ersten Rang ein. Zwar trägt Goethe seiner Auffassung nach auch eine erhebliche Mitverantwortung für jene „Irrwege und den falschen Ruhm der deutschen Übersetzungen“471, aber bereits in der Einleitung zum Herakles wird Goethe das Verdienst zugeschrieben, „die Poesie aus dem Geiste der Wahrheit des Hellenentums“472 wiedergeboren zu haben: Jetzt erst wurden die Philologen inne, welche Schätze sie zu hüten, welches Evangelium sie zu verkünden berufen sind. Und für alle Zeiten steht es fest, daß die Philologie ihre Pflicht gegen die Hellenischen Dichter nur dann erfüllen kann, wenn sie dieselbe in goethischem Sinne auffaßt.473
Goethe habe immerhin „ernsthafter Griechisch getrieben als die meisten seines Kreises“ und an Theokrit und Pindar „mehr als nur genippt (die Goethephilologen unterschätzen das)“. So könne man auch seiner Iphigenie ansehen, „daß die Wucht der Trimeter der Sophokleischen Elektra unmittelbar auf sie gewirkt“ habe,474 und seine Helena habe den Troerinnen des Euripides nicht nur das Eingangsmotiv und manches in den Chorliedern entlehnt, sondern die Kunstform der antiken Tragödie war ihm damals so sehr in der tiefsten Bedeutsamkeit und in den äußerlichsten Stilkennzeichen lebendig geworden, wie es nur durch die Originale möglich ist.475
All dies sei Goethe „wesentlich durch die intuitive Kraft der Kongenialität“ möglich gewesen, während es selbst Schiller nicht gelungen sei, „mit irgendeiner andern hellenischen Poesie außer Homer ein innerliches Verhältnis zu gewinnen“.476 Wohlgemerkt _____________ 469 470 471 472 473 474
Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 12 f. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 10. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 9 f.; s. auch o. S. 203. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 235. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 235. Die vorangehenden Zitate finden sich in Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 235. 475 Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 235. 476 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 236.
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Übersetzen als Aufgabe des Philologen?
bezieht sich die positive Beurteilung Goethes nicht auf Übersetzungen im engeren Sinn, sondern auf dessen eigenständige Verarbeitung antiker Dramenstoffe. Goethe wird zugute gehalten, dass er – gewissermaßen als einziger seiner Generation – durch seine Intuition in der Lage war, „an der hellenischen Sage“ fortzudichten, „mit der Freiheit aber auch mit dem innerlichen Verständnis und der Kongenialität der attischen Tragiker“, und das intuitiv Erfasste und Verstandene in neue Ausdrucksformen zu gießen, die den griechischen Geist kongenial widerspiegelten, sich aber gleichzeitig den metrischen Voraussetzungen und Erfordernissen des Deutschen anpassten und nicht entgegenstellten.477 Die mit Klopstock einsetzende Herausbildung und Etablierung neuer deutscher Stilformen hat für Wilamowitz trotz aller vermeintlichen Um- und Irrwege ihren Höhepunkt, wenn nicht gar ihre Vollendung in der Dichtersprache der deutschen Klassiker gefunden. Das Deutsche wird gegenüber den alten Sprachen, auch gegenüber dem Griechischen, nicht länger als defizitär empfunden, sondern kann nun als ebenbürtig neben diesen bestehen. Damit ist für Wilamowitz das Hauptproblem früherer Übersetzungen beseitigt, das Fehlen einer eigenen „gebildeten Sprache“ und eines eigenen Stils, und er kann selbstbewusst fordern: „Ins Deutsche übersetzen heißt in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen.“478 Wilamowitz selbst hat fast ausschließlich griechische Tragödien übersetzt, nicht zuletzt wohl deshalb, weil er hierfür bereits entsprechende deutsche Stiläquivalente vorfand.479 Die äußerst erfolgreichen Übersetzungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrfach als Textgrundlage für Theaterinszenierungen dienten480 und bis in die 1940er Jahre hinein zahlreiche Neuauflagen erlebten, behalten zwar alle handlungsspezifischen Elemente des Originals bei – im Gegensatz zu Wilbrandt also auch die Chorpartien –, zeichnen sich aber ansonsten durch eine extrem freie Wiedergabe aus. Deutlich wird Wilamowitz’ Bemühen, idiomatische Wendungen des Originals in entsprechende deutsche Ausdrücke zu übertragen. Ebenso auffällig ist sein Bestreben, die Lebenswelt und soziale Stellung der agierenden Personen durch charakteristische Sprachmerkmale auch im Deutschen sinnfällig zu machen. So spricht der mykenische Wächter in Aischylos’ Agamemnon wie ein preußischer Soldat.481 Wolf_____________ 477 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Bd. 1 (1895), 240. 478 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 13. Wilamowitz führt in seinen beiden Übersetzungsaufsätzen jeweils eine Reihe von Beispielen deutscher Stilformen an, die als formale Äquivalente zur Übertragung bestimmter griechischer Stilformen geeignet wären; vgl. WilamowitzMoellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 26–30, und ders., Die Kunst der Übersetzung (1924), 156. S. auch Lubitz (2008), 128. 479 So eigneten sich, nach Wilamowitz’ Auffassung, Goethes Pandora sowie die Helena-Tragödie im Faust II als stilistische Vorbilder für die Übertragung attischer Chorlieder; bei der Wiedergabe der tragischen Dialogpartien könne man sich an den Goethe’schen Trimeter-Nachbildungen orientieren, die durch ihren „volltönenden Versschluß“ den Unterschied zum Blankvers deutlich machten; vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 27 und 29. 480 Vgl. Flashar (1985) und ders. (2009), 109–121. 481 Vgl. Wilamowitz, Griechische Tragödien (1900), Bd. 2, 52: „Hurrah, hurrah, / jetzt sag’ ich Agamemnons Gattin laut Bescheid.“ (Aisch., Ag. 25 f.: ἰοῦ ἰοῦ. | Ἀγαμέμνονος γυναικὶ σημαίνω τορῶς | […]).
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
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gang Schadewaldt482, selbst Schüler von Wilamowitz, hat diese Übersetzungen später als „ein seltsames Gemisch von Schiller, Geibel, protestantischem Kirchenlied, spätgoetheschen Rhythmen, Hebbelschem Dialog mit seltsamen Abstürzen in den Alltagsjargon“483 charakterisiert. Angesichts eines solchen Befundes stellt sich die Frage, welche Rolle für den Philologen Wilamowitz der schöpferische Aspekt des Übersetzens spielt. Wie schätzt er seine eigenen dichterischen Fähigkeiten ein, wenn er einerseits das Übersetzen antiker Literatur allein den Philologen überlassen will, andererseits aber die Qualität Goethe’scher Dichtersprache zum Maßstab des übersetzerischen Endproduktes nimmt? Wilamowitz gibt darauf keine klare Antwort. So heißt es einmal, Übersetzen sei „kein freies Dichten (ποιεῖν)“ mit dem Zusatz: „das dürften wir nicht, gesetzt, wir könnten es“.484 An anderer Stelle bezeichnet er sich als „Diener unsterblicher Geister, denen wir den sterblichen Mund leihen“, wenn auch „unsere Herren stärker sind als wir“. Von den Versuchen, das philologische Verständnis eines Werkes in Worte zu fassen „bis zur Vollendung einer Übersetzung, die sich sehen lassen darf “, sei es ein „weiter Weg“. Dabei müsse zu den „Inspirationen des Moments […] lange, besonnene Verstandesarbeit“ treten485: Das ist dann nicht mehr Philologie, nicht mehr unser Handwerk. Wir können unsere Philologie dabei nicht entbehren, aber sie reicht nicht allein hin. Aber ich meine, das darf uns nicht abhalten. Nur wenn wir Philologen sie machen, können Übersetzungen der hellenischen Poesie, die existenzberechtigt sind, entstehen.486
Letztlich jedoch verbleibt die übersetzungstheoretische Konzeption von Wilamowitz im Vagen und Ungefähren. Bezeichnend das Fazit des 76jährigen: Und wenn dann ein alter Philologe, der sich vielfach daran versucht hat, sagen soll, wie man es zu machen habe, so kann er zwar angeben, wie man es nicht machen soll, aber sonst wird er sich hüten, Rezepte zu geben. Schon den Text zu verstehen, reicht das Lernen nicht hin, so nötig es ist, und wenn Übersetzen auch so etwas wie Dichten ist, muß vollends die Muse helfen.487
_____________ 482 Zur Übersetzungstheorie Wolfgang Schadewaldts s. u. S. 245–247 u. 277–297. 483 Schadewaldt (1955), 556. Vgl. auch Hölscher (1965), 7 ff.: „Es gibt Partien, da schreiten wir, mit den beiden Prinzipien Geprägter Stil und Verständlichkeit, durch wechselnde Travestierungen von Faust II über Edda und Paul Gerhard zur wilhelminischen Amtssprache und zum schnoddrigen Jargon.“ 484 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 6. 485 Die vorangehenden Zitate finden sich in Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 2. 486 Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1925), 2. 487 Wilamowitz-Moellendorff, Die Kunst der Übersetzung (1924), 157. Zum Problem irrationaler, nicht objektivierbarer Größen in Übersetzungsreflexionen vgl. Mindt (2008); zu Wilamowitz ebd., 182 f.
Übersetzen als schöpferischer Prozess Kritik an Wilamowitz’ Übersetzungstheorie und -praxis Während sich die Tragödienübertragungen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs beim bürgerlichen Publikum großer Beliebtheit erfreuten488 und von der Kritik überwiegend wohlwollend aufgenommen wurden489, stießen sie bei vielen jungen Literaten der Jahrhundertwende auf vehemente Ablehnung. Rudolf Borchardt und Mitglieder des George-Kreises wie Kurt Hildebrandt, Friedrich Gundolf oder Karl Gustav Vollmöller sahen sich veranlasst, eine Übersetzungspraxis, wie Wilamowitz sie repräsentierte, in zum Teil umfangreichen Abhandlungen einer Kritik zu unterziehen und eigene Gegenpositionen zu entwickeln. Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis Deutsch Die Kritik an Wilamowitz’ Übersetzungsstil, insbesondere an dessen im Jahr 1900 erschienener Übertragung der Aischyleischen Orestie, bildete den Ausgangspunkt für das 1901 entstandene und 1905 erstmals publizierte Gespräch über Formen 490 von Rudolf Borchardt491. In diesem fiktiven Dialog, den Borchardt seiner Übertragung von _____________ 488 Dies lässt sich an dem großen Erfolg der Theateraufführungen antiker Tragödien unter Verwendung der Wilamowitz-Übertragungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ebenso ablesen (vgl. Flashar 1985) wie an den hohen Auflagezahlen der Druckfassungen dieser Übersetzungen zwischen 1885 und 1949. 489 Positiv äußern sich u. a. Georg Günther, [Rez. zu] Wilamowitz-Moellendorff, Aischylos Agamemnon (1885), in: Wochenschrift für Klassische Philologie 12 (1886), Sp. 356–362 und R. Thomas, [Rez. zu] Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien, Bd. 2, Orestie (1900), in: Blätter für das Gymnasial-Schulwesen 38 (1902), 294; eher ablehnend [Nikolaus] Wecklein, [Rez. zu] WilamowitzMoellendorff, Aischylos Agamemnon (1885), in: Berliner Philologische Wochenschrift 18 (1. Mai 1886), Sp. 549–553; eher abwägend u. a. H. J. Müller, [Rez. zu] Wilamowitz-Moellendorff, Aischylos Agamemnon (1885), in: Deutsche Literaturzeitung 7 (19. Juni 1886), Sp. 879–882; O. Weissenfels, [Rez. zu] Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien, Bd. 1, Sophokles Oedipus, Euripides Hippolytos, Der Mütter Bittgang, Herakles (1899), in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen N. F. 53 (1899), 456–465. 490 Zur Entstehungsgeschichte des Textes vgl. die Anmerkungen in dem Band Prosa 1 der Gesammelten Werke in Einzelbänden in der von Gerhard Schuster im Jahr 2002 herausgegebenen textkritisch revidierten, chronologisch geordneten und erweiterten Neuedition der Ausgabe von 1957, 532–535. 491 Rudolf Borchardt (1877–1945) hatte von 1895 an Klassische Philologie, Archäologie und weitere geisteswissenschaftliche Fächer in Berlin, Bonn und Göttingen studiert. Zu seinen Lehrern zählten u. a. K. Burdach, W. Dilthey, H. Usener und F. Leo; vgl. auch Poiss (1997). 1902 gab er den Plan ei-
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Platons Lysis vorangestellt hat, erörtern die beiden Gesprächspartner, der Philologe, Dichter und Übersetzer Arnold und sein Freund Harry492 die Frage, inwieweit es möglich oder sogar wünschenswert sei, fremdsprachige, insbesondere antike Dichtung ins Deutsche zu übertragen. Zu Beginn zeigt Harry sich verwundert über Arnolds Bekenntnis, gerade an einer Übersetzung des Platonischen Lysis zu arbeiten, hatte dieser doch in einem früheren Gespräch den Bedarf an Übersetzungen mit Hinweis auf die Wilamowitz’schen Tragödien-Übertragungen grundsätzlich in Frage gestellt: Und dann war eben die Orestie das Thema. Ich kenne Sie nicht erst seit gestern, aber ich habe Sie nie so bitter und erregt sprechen hören. Die Wilamowitzschen Übersetzungen waren „stillos, von derjenigen Stillosigkeit, die ein Werk, wie faules Blut den Körper durchdringend, es als non-existent von Beachtung und Beurteilung ausschließe“. Sein Vers war „zugleich geziert und schlotterig, selbst wo der Korrektheit im trockensten Sinne genügt war, arm, leer und ungebildet, ohne eine leise Ahnung von innerer Form“.493
Die Kritik an Wilamowitz’ Übersetzungsstil betrifft vor allem dessen als unzureichend empfundenes Formenverständnis. Wilamowitz hatte ja eine strikte Trennung von Form – verstanden als verbale, syntaktische und metrische Hülle („Kleid“) – und Inhalt als der eigentlichen Essenz der dichterischen Aussageintention vorgenommen.494 Den Übersetzungsprozess charakterisierte er durch Metaphern wie „Travestie“ und „Metempsychose“, die das Herauslösen des Inhalts aus seiner ursprünglichen Form und sein Einfügen in eine neue versinnbildlichen sollten. Borchardt dagegen postuliert – in der Person Arnolds495 – die Untrennbarkeit bzw. Ununterscheidbarkeit von Form und _____________
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ner Universitätskarriere auf, um fortan – zumeist in Italien – ein Leben als freier Autor zu führen. Enge Freundschaften verbanden ihn mit Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Alexander Schröder; s. auch u. S. 230, 233–235 u. S. 259. Er publizierte Gedichte, Dramen, erzählende und autobiographische Prosa, historische Essays, Reden und Polemiken und übersetzte zudem zahlreiche Werke antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Dichter: Homerische Hymnen, Pindar, Platon, Horaz, Tacitus, provenzalische Trobadors, Dante und englische Dichter des 19. Jahrhunderts. Vielen dieser Arbeiten gab er umfangreiche kulturhistorische Abhandlungen bei. Nach kurzzeitiger Internierung durch die deutsche Wehrmacht und Verschleppung der Familie nach Innsbruck starb Borchardt im Januar 1945 in Trins (Tirol). Das Verhältnis der beiden Dialogpartner zu Borchardt selbst erläutert Schmidt (2006), 121 f.: „Das Gespräch über Formen und die Lysisübersetzung gehören zusammen, nicht allein, weil Borchardt sie im Zusammenhang und unter einem gemeinsamen Titel veröffentlicht hat, sondern auch, weil der ältere der beiden Gesprächsteilnehmer, Arnold, ein ‚Philolog und ein stolzer dazu‘ (S. 377), gerade den Lysis übersetzt hat und ihn, zusammen mit einer Einleitung in Briefform (S. 329), publizieren will. Arnold ist eine Maske Borchardts; und da das Gespräch zwischen ihm und Harry nicht kontrovers ist, hat der Jüngere, auch wenn er Züge von Heinz Pringsheim tragen mag und das Gespräch Unterhaltungen zwischen Borchardt und ihm atmosphärisch zu spiegeln scheint, an dieser Identität teil. Das Gespräch ist ein Selbstgespräch Borchardts, wie es nach Walter Pater überhaupt für den Dialog gilt, womit er den platonischen Dialog als Form meint.“ (Die bei Schmidt angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe des Bandes Prosa 1 von 1957. In der Neuedition von 2002 lauten die entsprechenden Seitenzahlen 16 bzw. 8.) Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 12. S. auch ebd., 15. Die Seitenangaben der zitierten Stellen beziehen sich hier und im Folgenden auf die Neuedition des Bandes Prosa I aus dem Jahr 2002. Das Gespräch über Formen findet sich dort auf den Seiten 7–52. S. o. S. 201 f. Vgl. o. Anm. 492.
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Inhalt und greift damit auf Dichtungs- und Übersetzungskonzepte der (Früh-) Romantik zurück496: Was der Pöbel Form nennt, ist Inhalt, was er Inhalt nennt, Resultat einer Formung, entstanden unter dem Hinzutreten des Elements einer Arbeit, eines Bewältigen- und Lenkenwollens, einer σπουδή. Zwischen der sinnlichen und der sittlichen Sphäre des Daseins steht, wer sich bemüht. Es ist aber heilig und recht, daß aus dem Kunstwerke das Sinnliche zuerst unsere Sinne anredet, Zeugungskraft uns nachzuzeugen zwingt, Liebe in einer heimlichen oder einer ungeheuren Form uns gewiß macht, daß wir lieben. Einen Vers, den ich liebe, wird mir so wenig einer nachlieben wie die Frau, die ich liebe.497
Das Erfassen oder „Erfühlen“ der inneren Form498 eines Kunstwerks, die dem künstlerischen Willen (σπουδή) zur adäquaten sinnlichen Gestaltung eines Gedanken, einer Idee entsprungen ist, wird bei Borchardt mit dem Gefühl der Liebe verglichen, das sich aus rational nicht fassbaren Gründen auf ein ganz bestimmtes, „so und nicht anders“ (27) beschaffenes Objekt richtet: „Wer Formen fühlt, ist ein Liebender und darf den großen Liebenden aller Zeiten an den Saum des Mantels rühren“ (29).499 In der gleichen Weise richte auch derjenige, der ein ausgeprägtes Gespür für Formen besitze, seine ganze Aufmerksamkeit auf das so und nicht anders beschaffene Kunstwerk oder Gedicht, bei dem eine Trennung von Form und Inhalt nicht möglich sei. Wer dagegen nicht über die entsprechende Formensensibilität verfüge, sei zwar in der Lage, die Geformtheit des Kunstwerkes äußerlich wahrzunehmen und zu beschreiben, könne ihre tiefere Bedeutung jedoch niemals ganz erfassen, geschweige denn in eine andere Sprache übertragen.500 Ausgezeichnete Kenntnisse der griechischen Sprache und Metrik allein – Borchardt bezeichnet Wilamowitz an anderer Stelle als den „größten Metriker _____________ 496 S. o. S. 30 f., 41 f. u. 56. 497 Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 27. 498 Die Ursprünge des Begriffs der „inneren Form“ lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Der Neuplatoniker Plotin bezeichnete mit τὸ ἔνδον εἶδος die Idee des Werkes im Künstler. Shaftesbury bezog im 18. Jahrhundert den Terminus „inward form“ sowohl auf die formgebende Kraft als auch auf die von ihr gewirkte geistig-leibliche Gestalt. Seit Herder wird innere Form mit der Seele des Kunstwerkes gleichgesetzt. Für Goethe ist sie die dem individuellen Gehalt des Kunstwerks angemessene Form, die erfühlt werden muss. In diesem Sinne verwendet offenbar auch Borchardt den Begriff; vgl. Schwinger (1972). 499 Vgl. dazu auch Botho Strauß’ Essay Distanz ertragen in der Neuauflage des Gesprächs über Formen von 1987. Über die Beziehungen zwischen dem Gespräch über Formen und der daran anschließenden Übersetzung von Platons Lysis schreibt Strauß: „Wie dort Sokrates mit dem schönen Lysis, dem neugierigen und geduldigen Knaben, das Wesen von Freundschaft und Liebe erkundigt, so erschließen hier die beiden Kunstfreunde – nach allerlei philologischen Streifzügen und Seitenhieben – zuletzt allein den Liebenden, den Enthusiasten als den wahren, den originalen Übersetzer. Es ist derjenige, der sich mit aller Sehnsucht nach seinem Gegenstand verzehrt und doch zugleich in der Lage ist ‚Distanz zu ertragen‘; der nicht versucht, das Alte uns modern, das Unverständliche daran uns verständlicher zu machen“; Strauß (1987), 105. 500 So seien, nach Auffassung Arnolds, die Lieder der Kassandra im Agamemnon, „vor deren finsterer Herrlichkeit wir beben“, in Wilamowitz’ Übersetzung „ein rubbish geworden, von dem niemand begreifen kann, mit welchem Anspruche er Jahrtausende überdauert hat“; Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 28.
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des Jahrhunderts“501 – reichten als Voraussetzung für eine geistige Durchdringung der künstlerischen Form einer Tragödie nicht aus.502 In umgekehrter Weise werde dies an Hölderlins Sophokles-Übertragungen deutlich, deren Lektüre trotz Hölderlins mangelhafter Beherrschung der griechischen Sprache und seines fehlenden Wissens über den antiken Versbau „ein großes Erlebnis“ sei.503 Borchardt spricht vor allem solchen Übersetzungen die Existenzberechtigung ab, die allein dem Zweck genügen sollen, Sprachunkundigen ein Surrogat für das Original zu liefern.504 Die gerade auf seiner jeweils individuellen Formgebung beruhende Einzigartigkeit eines Kunstwerkes sei durch eine Übersetzung nicht zu vermitteln, sondern könne allein durch die unmittelbare Anschauung des Originals erfasst werden: Mit einem einzigen Wort kann ich sagen, worauf es ankommt: Inkommensurabilität. Unermeßlichkeit und Unmeßbarkeit alles dessen, was Form hat. Ein Kunstwerk, das Form hat, ist inkommensurabel bis in jede äußerlichste Vereinzelung hinein. Übersetzungen wie die, von denen wir hier ausschließlich sprechen, sind es gar nicht und nirgend und unter keinem Gesichtspunkte. Man kann sich an einem Menschen nicht schwerer vergehen, als indem man ihn glauben macht, es gäbe leichte Wege zum Schweren, oder, das Schwere sei eigentlich leicht, oder: das Inkommensurable lasse sich eigentlich doch irgendwie unter eine Mensura bringen.505
In diesem Zusammenhang wendet Borchardt sich auch gegen den von Wilamowitz erhobenen Anspruch, mit seinen faktenreichen, populärwissenschaftlich aufbereiteten Einleitungen sowie mit seinen von zahlreichen Stilanleihen und alltagssprachlichen Wendungen durchsetzten Übertragungen der griechischen Tragödien dem von ihm angesprochenen „breite[n] Publikum“ ohne Griechischkenntnisse506 das Original nahebringen und ihm dessen Sinn „sogar klarer“ vermitteln zu können.507 Borchardt selbst kommt es vielmehr darauf an, die Inkommensurabilität des Kunstwerks auch in der Übersetzung erfahrbar zu machen und den Leser dazu zu erziehen, „Distanz zu ertragen“ 508, „mit Ahnung, nicht mit Verständnis“ zu beginnen509: _____________ 501 Borchardt, Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944), 74. 502 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 24. Dabei ist zu beachten, dass auch Wilamowitz’ Metempsychose-Konzept auf dem Prinzip der Einfühlung beruht. Ist es jedoch bei ihm vor allem die sprachlich-historische Fachkompetenz, die allein den Philologen dazu befähigt, sich in einen antiken Dichter hineinzuversetzen und auf diese Weise zu „verstehen“, so führen bei Borchardt nur die künstlerische Seelenverwandtschaft und sprachschöpferische Begabung zu einem vollkommenen Erfassen der inneren Form eines literarischen Werkes. 503 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 21 und 44. Zur Entstehungszeit und Zugänglichkeit von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen s. u. S. 222 Anm. 556. 504 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 15 u. 47. 505 Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 22. 506 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Vorwort [zu Griechische Tragödien, Bd. 2] (1900), 4.; s. auch o. S. 198 Anm. 431. 507 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 28 f. 508 Distanz ertragen lautet auch der Titel des oben (s. Anm. 499) erwähnten Essays von Botho Strauß. 509 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 24.
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Das unvollkommenste Verständnis eines antiken Kunstwerkes in seinen eigenen Formen ist fast immer mindestens ebensoviel, meist aber unendlich viel mehr wert, als das scheinbar vollkommene, das solche Übersetzungen wie die Wilamowitzschen hergeben.510
Als wichtiges Kriterium für eine „wirkliche Übersetzung“ (46), eine Übersetzung „mit dem Recht auf Wirkung, das dem Kunstwerk zukommt“ (47), sieht Borchardt den experimentellen Charakter des Übersetzens an, der Voraussetzung eines jeden künstlerischen Schaffensprozesses sei. Zu den übersetzerischen Experimenten zählt Borchardt die Homer-Übersetzung des Livius Andronicus511, die Arbeit der Neoteriker512, das Attis-Gedicht des Catull513, „die Smyrna des Cäcilius514, vieles bei Properz515, wahrscheinlich das ganze verlorene Werk des Gallus516“, schließlich, als Höhepunkt der Entwicklung, Vergils Georgica und den „mit nichts mehr zu vergleichende[n] Vers der Äneis“517. In ähnlicher Weise hätten sich Bürger und Stolberg durch ihren experimentellen Umgang mit der deutschen Sprache, durch ihre Bemühungen um die „Erziehung einer idiomatischen Konvention zur Dichtersprache“ und durch ihren _____________ 510 Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 22. 511 Der ursprünglich aus Tarent stammende Freigelassene und Schriftsteller Livius Andronicus gilt als Begründer der römischen Literatur. Er übersetzte im 3. Jahrhundert v. Chr. die Homerische Odyssee in lateinische Saturnier (unter dem Titel Odusia) und übertrug dabei auch Elemente der griechischen Mythologie in die römische Vorstellungswelt. 512 Der römische Dichterkreis der Neoteriker (um 50 v. Chr.), dem unter anderem Catull und Gaius Helvius Cinna angehörten, grenzte sich bewusst von der römischen Dichtungstradition ab und orientierte sich vor allem an den literarischen Idealen der Alexandrinischen Schule, insbesondere des Kallimachos. Die Neoteriker setzten u. a. das griechische Prinzip der reinen Quantität auch in der römischen Metrik durch und gaben kleinen, eher privaten Themen wie Freundschaft, Liebe und Erotik den Vorzug, die sie in poetischen Kurzformen (Epyllion, Epigramm, Elegie) detailliert ausarbeiteten. 513 Der Neoteriker Catull (1. Jh. v. Chr.) behandelt in seinem Epyllion carm. 63 den Mythos von der Selbstentmannung des Attis, der schließlich in den Dienst der Kybele gezwungen wird. Die Dichtung ist in Galliamben verfasst. 514 Borchardt kontaminiert hier offenbar in ungenauer Erinnerung zwei Gedichte Catulls: In c. 35 rühmt dieser seinen neoterischen Dichterfreund Caecilius als den Verfasser eines Kybele-Epyllions; in carm. 95 wird Gaius Helvius Cinna (†44 v. Chr.) als Autor des (heute nur noch in wenigen Fragmenten erhaltenen) Kleinepos Zmyrna genannt. Auch Cinna gehörte als Freund Catulls zum Kreis der Neoteriker. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Ernst A. Schmidt. 515 Properz (1. Jh. v. Chr.), der mit Gallus, Tibull und Ovid zu den Hauptvertretern der römischen Liebeselegie gehört, orientierte sich an den Alexandrinischen Dichtern Kallimachos und Philetas von Kos, aber auch an den Dichtungen des Mimnermos. 516 Gaius Cornelius Gallus (ca. 69–26 v. Chr.) gilt als der eigentliche Begründer der römischen Elegie, die allerdings bereits durch Catull (carm. 68) antizipiert worden war. Seine Dichtung war richtungsweisend für Tibull und Properz. Seine Werke (Epyllien im Stile des Euphorion und vier Elegienbücher) sind so gut wie verloren; eine Ausnahme bildet das 1978 entdeckte Fragment von Quasr Ibrîm (s. dazu Capasso [2003]). Eine indirekte Vorstellung seines Stils vermitteln einige Passagen in Vergils 10. Ekloge. 517 Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 48. Vergil (70–19 v. Chr.) knüpfte mit seinen vier Büchern über den Landbau unter dem Titel Georgica an die Tradition des griechischen Lehrgedichtes an. Vorbilder für seine Aeneis, in der er den römischen Gründungsmythos literarisch fixierte, waren vor allem die Werke Homers, denen er das epische Versmaß und zahlreiche Motive entlehnte. Auch die Anzahl von 12 Büchern ist bewusst den jeweils 24 Büchern der Homerischen Dichtungen gegenübergestellt.
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„Kampf um den Stil und den Vers“ um Homer verdient gemacht.518 Auch wenn es sich dabei letztendlich um einen „ruhmlose[n] Kampf “ gehandelt habe, da ihre Ergebnisse noch skizzenhaft, teilweise noch unreif und stark von den Konventionen des 18. Jahrhunderts geprägt seien, so wiesen ihre Übersetzungen immerhin starke „Beziehungen zum Leben“ auf.519 Diese Beziehungen zum Leben, die sich für Borchardt vor allem in einer Art künstlerischer Seelenverwandtschaft zwischen Autor und Übersetzer offenbaren, werden im Gespräch über Formen mehrfach hervorgehoben: Wie im Verhältnis Wielands zu Horaz soll der Übersetzer die „innere Formung“ des Originals als „ein Vertrautes, nicht mehr Fremdes“ empfinden und gewohnt sein, „sein Gefühl für sie in eigene Kunstformen umzusetzen“. Zwischen dem Ton der Übersetzung und dem Ton des Originals sollen sich „Affinitäten“ erkennen lassen.520 Der Autor soll „durch die Maske“ des Übersetzers sprechen, gewissermaßen „Element seines Lebens“521 sein. „Neugierde“, „Teilnahme“, „Liebe“ und „kindisch strebende Nacheiferung“ seien die Grundvoraussetzungen für ein derart enges Verhältnis, bei dem sich die Weltbilder von Autor und Übersetzer im günstigsten Falle letztendlich gegenseitig durchdringen und einander assimilieren.522 Diese Bedingungen sieht Borchardt auch in Hofmannsthals zur Entstehungszeit des Gesprächs noch fragmentarischer Bearbeitung der Euripideischen Alkestis erfüllt,523 die er als „die einzige klassische Übersetzung eines antiken Werkes, die es im Deutschen gibt“ (50), bezeichnet. Grundsätzlich will Borchardt nur Übertragungen anerkennen, die ihrerseits als „genuine Kunstwerke“ (51) gelten können. Sie sollen sich vor allem auszeichnen durch ihre „Verbindung mit dem Leben, mit einer Realität der Zeit oder des Individuums“ und durch „den künstlerischen Antrieb, der neue Formen mit neuem Daseinsrecht schafft, wo er nur zu reproduzieren scheint“.524 _____________ 518 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 48. Wilamowitz hatte diese Versuche noch als „Irrwege“ bezeichnet (s. o. S. 205). 519 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 48 f. Borchardt zeigt sich hier, wie viele Vertreter seiner Dichtergeneration, von der Lebensphilosophie seines Lehrers Wilhelm Dilthey (1833–1911) beeinflusst, nach der Verstehen allein auf dem Wege des aktiven Nacherlebens eines fremden Daseins beruht, wie es sich in Schrift, Sprache, Gesten, Mimik oder Kunst ausdrückt; zum Niederschlag von Diltheys Lehre in Borchardts Gespräch über Formen vgl. Steiger (2003), 75 f. 520 Die vorangehenden Zitate finden sich in Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 46. 521 Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 45: „Horaz war für Wieland nicht, was er für Philologen ist, ein Gegenstand der Untersuchung oder der Meinung oder im besten Falle anteilloser Bewunderung, sondern, […], er war für ihn einfach Element seines Lebens, […].“ 522 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 45. 523 Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), s. auch u. S. 234 Anm. 632, hatte 1895 in Wien erste Teile seiner Bearbeitung der Euripideischen Alkestis in dem Druck Für Laibach. Zum besten der durch die Erdbebenkatastrophe im Frühjahr 1895 schwer betroffenen Einwohner von Laibach und Umgebung veröffentlicht. 1898 wurden drei Fragmente der Alkestis des Euripides, frei übertragen von Hugo von Hofmannsthal 1893 in der Wiener Rundschau, 3. Jg., Nr. 3, 15. Dez. 1898 abgedruckt, auf die sich Borchardt hier bezieht: I. Der Prolog, II. Der Tod der Königin, III. Das Auftreten des Herakles. Erst 1909, also vier Jahre nach Borchardts Gespräch über Formen, erschien erstmals eine vollständige Publikation der Dichtung in der von Borchardt, Hofmannsthal und R. A. Schröder begründeten Zeitschrift Hesperus. 524 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 50 f.
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Bemerkenswerterweise finden sich zahlreiche Motive und bisweilen sogar wörtliche Anleihen aus Borchardts Wilamowitz-kritischem Gespräch über Formen in Wolfgang Schadewaldts Berliner Habilitationsvortrag mit dem Titel Das Problem des Übersetzens von 1927 wieder, ohne dass hier explizit auf die Quelle verwiesen wird.525 Dieses Faktum gewinnt an Brisanz, sollte sich – was nicht ganz unwahrscheinlich ist – Schadewaldts Lehrer Wilamowitz seinerzeit unter den Zuhörern befunden haben. Der George-Kreis und Kurt Hildebrandt: Hellas und Wilamowitz Die Mitglieder des George-Kreises526 hatten sich – ausgehend von den Animositäten im Zusammenhang mit der Kontroverse über Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 527 – Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gewissermaßen zum Feindbild erkoren, wobei die Antipathie durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Wilamowitz hatte 1898 drei bissige Spottsonette auf Stefan George verfasst, die in seinem Bekanntenkreis zirkulierten und auf diesem Wege auch Anhängern Georges
_____________ 525 Bei Schadewaldt heißt es an einer Stelle lediglich: „Wirklich hat man vor nicht allzu langer Zeit (und zwar angesichts eines Gegenstandes wie Platon) gesagt, nur wo sie einer ‚dämonisch bildenden Phantasie‘ entstamme, habe die Übersetzung ein Recht, da zu sein“; Schadewaldt (1927), 523. Bei Borchardt lautet die entsprechende Passage: „Ja, die Grenzen zwischen Übersetzung und dämonisch bildender Phantasie vermischen sich unaufhörlich, und es ist gut, daß sie es tun; hier beweist die Übersetzung ihr Recht dazusein“; Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 50. Hinterfragt wird bei Schadewaldt an dieser Stelle auch das „Bedürfnis nach Übersetzungen“ (Sch. 523, vgl. Bor. 49 f.). Übernommen werden ferner der Begriff der „Inkommensurabilität“ (Sch. 523, vgl. Bor. 22), die Diskussion der Form-Inhalt-Relation (Sch. 530, vgl. Bor. 27 f.), der Verweis auf die „stetige Wirkung eines Bildungswillens“ (Sch. 533, vgl. Bor. 30) sowie die positive Bewertung der „Experimente der Neoteriker“, die dazu berufen gewesen seien, „die Epoche der augusteischen Dichtung vorzubereiten, die uns mit tiefem Rechte klassisch heißt“ (Sch. 534, vgl. Bor. 48). S. auch u. S. 246 f. 526 Stefan George (1868–1933) begründete 1892 zusammen mit Carl August Klein die Blätter für die Kunst, eine Zeitschrift für Dichtung mit begrenzter Auflage, die bis 1919 in 12 Folgen zu je fünf Heften in unregelmäßigen Abständen erschien. In bewusster Abgrenzung zu den gesellschaftskritischen Tendenzen des Naturalismus sollten die Leser vor allem für die ästhetische Dimension höherer Poesie sensibilisiert werden. Auch zeitgenössische Lyrik des Auslands wurde hier in deutschen Übertragungen publiziert. 1905 erschienen in zwei separaten Bänden mit dem Titel Zeitgenössische Dichter Georges zuvor verstreut in den Blättern für die Kunst abgedruckte Übertragungen der Gedichte von Mallarmé, Verlaine, Gabriele D’Annunzio, Charles Swinburne, Dante Gabriel Rossetti u. a. Ebenfalls separat publiziert wurden seine Umdichtungen von Gedichten aus Baudelaires Blumen des Bösen (1891 u. 1901), Auszüge aus Dantes Göttlicher Komödie (1909) und seine Übertragung von Shakespeares Sonetten (1909). Um 1910 wurde die anfangs eher lockere literarische Gemeinschaft der Mitarbeiter allmählich in den Kreis oder Bund umgewandelt, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft jüngerer Dichter und Gelehrter, die George als ihren „Meister“ verehrten. Dem Kreis gehörten u. a. Friedrich Gundolf, Kurt Hildebrand, Karl Gustav Vollmöller, Friedrich Wolters, Karl Wolfskehl und Norbert von Hellingrath (s. auch u. S. 221–229) an. Eine ausführliche Biographie Georges bietet Karlauf (2007). 527 Vgl. Gründer (1989).
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bekannt wurden.528 Die zahlreichen direkt und indirekt gegen Wilamowitz gerichteten Äußerungen der George-Anhänger betrafen vor allem sein entschiedenes Eintreten für die historisch-philologische Forschung, seine für relativistisch erachtete Antikeauffassung, seinen – bei aller zugestandenen philologischen Kompetenz – oftmals wenig subtil anmutenden Zugang zu antiker Literatur und Kultur, besonders aber seine Übersetzungspraxis: Aber unbedingt hielt er als sein Ideal das der ‚historisch-kritischen‘ Wissenschaft fest, das doch, relativistisch, das Ideal der Klassik, der pädagogischen Norm zersetzt. Nicht der schöpferische Mensch, sondern der kritische Gelehrte stand für ihn auf der Spitze der Pyramide, und im Bewußtsein auf dieser Spitze zu stehen, kritisierte er Kunst, Dichtung, Kultur – ohne tieferes Verständnis für Dichtung, Kunst, Philosophie, allein mit der Autorität des historisch-kritischen Forschers. Das in der Deutschen Bewegung und ebenso von uns verehrte Hellas galt ihm als Stoff, der Ausbeutung einer relativistischen Forschung preisgegeben. Seine populären Übersetzungen der größten Tragiker verfielen in triviales Zeitungsdeutsch.529
Kurt Hildebrandts 530 polemischer Aufsatz Hellas und Wilamowitz von 1910, der, ähnlich argumentierend wie einige Jahre zuvor Rudolf Borchardt, den Übersetzungen von Wilamowitz ihre ‚Verständlichkeit‘, die Anpassung an den Publikumsgeschmack und die Vermittlung eines trivialen Antikebildes anlastet, war mit ausschlaggebend für die Gründung der von den George-Kreis-Mitgliedern Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegebenen Jahrbücher für die geistige Bewegung.531 Hildebrandt verstand _____________ 528 Alle drei Sonette sind abgedruckt bei Goldsmith (1985), 587 f. Ebd. findet sich auch eine ausführliche Dokumentation der einzelnen ‚Etappen‘ der Auseinandersetzung. 529 Hildebrandt, Das Werk Stefan Georges (1960), 341. Vgl. dazu auch Schwindt (2001), 256 f.: „Die Professionalisierung, das Metiermäßige der philologischen Auseinandersetzung mit dem Altertum, das ‚Literaturbonzentum‘ befremdet den Ästheten [scil. George] zutiefst. George stört an Wilamowitz die Selbst- und Gegenstands-Gewißheit, der mangelnde Wille zur Hierarchisierung der Objekte, folgerichtig verhöhnt er den historistischen Wissenschaftsbegriff: ‚Ja nun, man kann nicht alles wissen: Was nützt es auch, alles zu wissen, wenn niemand da ist, dem man’s sagen kann […] Da sitzen sie nun zu Füssen von Wilamowitz und werden immer dümmer […]‘ (zu Julius Landmann, Ende Juli/ Anfang August 1918 Nauheim).“ 530 Kurt Hildebrandt (1881–1966) hatte 1906 sein medizinisches Doktorexamen abgelegt und war danach als Oberarzt, später als ärztlicher Direktor an neurologisch-psychiatrischen Kliniken in Berlin tätig. Da sich sein Interesse von der Medizin auf die Philosophie, vor allem die griechische, verlagerte, schloss er sich in Berlin dem „Pankower Kreis“, einer Studentengruppe um den George-Anhänger Friedrich Wolters, an. 1905 kam es zu einer ersten Begegnung mit George. Sein 1917 aufgenommenes Philosophiestudium schloss Hildebrandt 1922 mit der Dissertation Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato in Marburg ab. Obwohl Wilamowitz seine Habilitation zu verhindern wusste (vgl. Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George [1965], 188f.), hielt Hildebrandt seit 1928 Philosophievorlesungen an der Berliner Universität und wurde 1934 als Ordinarius nach Kiel berufen. Neben Schriften zu Nietzsche, Hölderlin, Goethe und George publizierte er zwei Bücher zu Platon und eine Einführung in die Philosophie der Vorsokratiker. Daneben übersetzte er mehrere Platon-Dialoge, die sich z. T. noch heute im Angebot des Reclam-Verlages finden. 531 Vgl. dazu auch Hildebrandt, Das Werk Stefan Georges (1960), 342: „Von alledem [scil. von den vorausgegangenen gegenseitigen Angriffen der George-Anhänger und von Wilamowitz] war ich kaum unterrichtet – ich ging, als ich den Aufsatz ‚Hellas und Wilamowitz‘ schrieb, von seinen Übersetzungen und seinen philosophischen Ansichten aus. George ließ sich Teile vorlesen, Gundolf,
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seine im ersten Band dieser Reihe publizierte Schrift als „anklage“, die auf der „natürliche[n] grundlage“ von Wilamowitz’ Tragödienübersetzungen „manchen verehrer dieses philologengeistes von seiner gefährlichkeit überzeugen soll“.532 Wie schon Borchardt in seinem Gespräch über Formen kritisiert auch Hildebrandt die mangelnde Distanz des um Vermittlung bemühten Übersetzers zu den antiken Originalen: Wilamowitz bringt dem grossen publikum das Griechentum nahe, sehr nahe, das ist wahr. Und wie wohlig geht es dem philister ein, wenn man ihm sagt, dass auch die stolzen Griechen menschen waren, von allen trivialitäten des tages gequält wie wir, nur noch nicht ganz so erleuchtet wie wir. Dann kann man ja wohlwollend zugeben dass diese heiden manches geahnt haben was wir in vollendung besitzen.533
Darüber hinaus wirft Hildebrandt Wilamowitz biblische Ausdrucksweise, Deutschtümelei sowie „unzeitige Gelehrsamkeit“ vor und bescheinigt ihm einen unzulänglichen Zugang zu den Tragikern.534 Auf besondere Kritik stößt bei ihm Wilamowitz’ Bestreben, moderne christliche Moralbegriffe auf die Antike zu übertragen, was sich darin zeige, dass Wilamowitz in seinen Übersetzungen häufig mit den Begriffen Verbrechen, Strafe, Sünde, Gewissen, Schuld und Sühne operiere.535 Auf der Suche nach einer maßstabgebenden Übersetzung stellt Hildebrandt fest, „dass unter den künstlerischen nachdichtungen der tragiker bis jetzt ein vollendetes werk fehlt“ (100). Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Tragödienübertragungen Hölderlins, Vollmöllers und Hofmannsthals,536 die entweder mit philologischen Mängeln behaftet oder sehr frei seien. Im Vergleich mit der Alkestis-Übersetzung von Wilamowitz schneidet jedoch nach Hildebrandts Ansicht die – auch von Borchardt geschätzte – Nachbildung desselben Euripideischen Dramas durch Hugo von Hofmannsthal besser ab: Hofmannsthal hat ebenso [scil. wie Vollmöller die Orestie] die Alkestis mit grosser freiheit behandelt: aber wo Wilamowitz die freiheit verwendet um fremden stoff hineinzudrängen, poesie in prosa zu verwandeln, redet Hofmannsthal mit dem recht des lebenden dichters die eigene sprache, und seine nachdichtung lebt in ihrer schönheit, ohne das vorbild zu schädigen.537
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so oft den Freunden gegenüber bis zur Begeisterung empfänglich, tat ein Übriges – der Anlaß zum JAHRBUCH war gegeben.“ Vgl. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 65. Hildebrandt sandte Wilamowitz ein Exemplar dieses Bandes mit einem Begleitschreiben, in dem er Wilamowitz zunächst versichert, „dass ich von Ihrer Persönlichkeit als einem weithin anregenden Lehrer allen Respect habe […]“ und dann fortfährt: „Aber so sehr ich Ihre geistige Potenz bewundere, so verhasst sind mir Ihre geistigen Ziele.“ Eine direkte Reaktion Wilamowitz’ auf dieses Schreiben ist nicht überliefert (vgl. Goldsmith [1985], 589). Doch machte er sehr viel später seinen – auch nach seiner Emeritierung noch immensen – Einfluss geltend, um Hildebrandts Habilitation zu vereiteln (s. o. S. 216 Anm. 530). Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 67. Vgl. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 73 f. Vgl. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 77. Die Übertragungen Hölderlins, Hofmannsthals und Vollmöllers werden auch bei Borchardt erwähnt; vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 21, 31, 44 u. 49 f. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 100 f.
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Wilamowitz’ Abhandlung Was ist Übersetzen? hält Hildebrandt für überflüssig, da seine Übersetzungsmethode äußerst leicht zu durchschauen sei: Es ist die einfachste methode eine natürliche und ungekünstelte ausdrucksweise zu erzielen: Man schliesst sein ohr gegen die ausdrucksform des kunstwerkes und nimmt nur den gedanklichen stoff auf, diesen gibt man dann in der eigenen, gewohnten ausdrucksweise wieder (um nicht zu sagen: wie einem der schnabel gewachsen ist). Diese prosa dann in „poesie“ zu verwandeln (laut liest es ja doch niemand) ist heutzutage eine kleinigkeit die kein einsichtiger ernst nimmt. Diese subjektive methode kann auch zu guten resultaten führen, etwa wenn der übersetzende ein dichter ist, oder wenn der gedankliche stoff das wesen eines werkes bestimmt. […] In diesen übersetzungen aber ist nicht Aischylos, nicht Sophokles – nur Wilamowitz.538
Hildebrandts Hauptkritik an den Wilamowitz’schen Übersetzungsprinzipien betrifft also, ebenso wie bei Borchardt, die Missachtung der „ausdrucksform des kunstwerkes“, d. h. der sprachlichen und formalen Eigenschaften des Originaltextes. Wilamowitz’ Forderung, „den Buchstaben [zu] verachten und dem Geiste [zu] folgen“ und auf diese Weise einen vermeintlich formunabhängigen, rational fassbaren allgemeingültigen Inhalt in ein neues (deutsches) Sprachgewand zu überführen, habe, sofern der Übersetzer nicht auch ein Dichter sei, einen völligen Verlust der charakteristischen und autorspezifischen Züge des Originals zur Folge. Dass dichterische Begabung eine unabdingbare Voraussetzung für die Tätigkeit des Übersetzens sei, versucht Hildebrandt anhand eines – bereits in Borchardts Gespräch empfohlenen539 – Vergleichs der Übersetzungen des Sophokleischen König Ödipus von Hölderlin und Wilamowitz zu zeigen. Während in Hölderlins Übertragung trotz aller verständnisbedingten Fehlerhaftigkeit „die Ausdrucksweise des Genies zu Herzen“ gehe, da Sinn und Klang bei ihm unmittelbar miteinander verschmelzen würden und gerade an wesentlichen Stellen der „akzent des dichterischen rhythmus […] vollendet nachgebildet“ sei, führe die gründliche Kenntnis der griechischen Metrik bei Wilamowitz zu keiner befriedigenden Lösung: „Was hilft aber die wissenschaft der metrik, wenn der sinn für den grossen dichterischen rhythmus fehlt“.540 Seine polemische Schreibweise verteidigt Hildebrandt mit dem Argument, dass Wilamowitz’ Übersetzungen durch die Autorität des Gelehrten geradezu „gefährlich“ (108) würden: seine edelsten kräfte verbraucht Wilamowitz – wie es sein gutes recht ist – im kreise reiner gelehrsamkeit, aber wenn er aus diesem kreise treten und auf das grosse leben wirken will, so glaubt er mit hingeworfenen behauptungen und entstellenden übersetzungen dank zu verdienen. Nein, so anspruchslos sind wir denn doch nicht! In der wissenschaft ist jede kraft nutzbar, wenn sie nur an die rechte stelle gesezt wird, wer aber als meister die höchste kunst
_____________ 538 Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 101 f. 539 Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 21–23 und 44. 540 Vgl. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 107.
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und lebensweisheit verkünden will, muss berufen sein und nur wer die ganze seele hingibt, darf in den seelen das schöne zeugen.541
Kritik an Wilamowitz’ Übersetzungsmethode findet sich in subtiler Form auch in Friedrich Gundolfs 542 Einleitung zum ersten Band seiner Shakespeare-Übertragungen.543 Im Zusammenhang mit der Erläuterung seiner eigenen Übersetzungsprinzipien, die sich vor allem auf das Ziel richten, die dichterische Besonderheit Shakespeares „nach meiner Einsicht und mit den gegenwärtigen Kräften der deutschen Sprache“544 wiederzugeben und dabei sprachliche, rhythmische oder inhaltliche Unebenheiten nicht zu glätten oder gar wegzulassen, sondern vielmehr auch die Mängel des Originals in der Übertragung mit abzubilden, gelangt er, auf Wilamowitz anspielend, zu dem Fazit: Buchstabe und Geist, Inhalt und Form sind hier eins. Es galt also nicht, „den Buchstaben zu opfern um den Geist zu retten“, sondern den Geist im Buchstaben genau zu vernehmen.545
Die Eigentümlichkeit des Originals zeigt sich für Gundolf in der einmaligen, historisch gegebenen Einheit des Ganzen – von der Anordnung der Buchstaben und Silben über den „Gesamtfluß jedes Satzes“ bis hin zur Konzeption von Rede und Gegenrede – „letztendlich in der aus allen diesen Elementen sich ergebenden „unendliche(n) Melodie“ 546: Ist man in die eingedrungen, so schlägt die innere Nötigung die den Vers in der Ursprache geformt von selbst in den gleichen Wellen und Gefällen nach, d. h.: dieselbe Bewegung der
_____________ 541 Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 116 f. Vgl. auch Blüher, Wilamowitz und der deutsche Geist 1871/1915 (1916), 16: „Aber andrerseits steht fest, daß Herr von Wilamowitz bei der gemäßigten Bildung besserer Art, und vor allem bei denen, die ihre Bildung durch die eigne Kenntnis der griechischen Sprache nicht korrigieren können, geradezu als der Interpret und Erbwalter der hellenischen Kultur gilt. Es lohnt sich daher immerhin, auch dort den Wahn zu zerstören; umso mehr, als man weiß, welche Wirkung er auf die studierende Jugend hat.“ Blüher beklagt ebd. auch die geringe Verbreitung von Hildebrandts Aufsatz, der es seiner Ansicht nach wert sei, „in hunderttausenden von Exemplaren an die deutschen Studenten zu gelangen, damit das Unheil, das von Wilamowitz her ihrem jugendlichen Wesen droht, gebrochen wird.“ 542 Friedrich Gundolf (1880–1931) hatte in München, Heidelberg und Berlin deutsche Literatur- und Kunstgeschichte studiert und lehrte nach seiner Promotion über Caesar in der deutschen Literatur (1903) neuere deutsche Literatur in Heidelberg. 1898 war er durch Karl Wolfskehl in den GeorgeKreis eingeführt worden. Die gemeinsame Arbeit mit George fand ihr Ergebnis vor allem in der vom Verleger Bondi angeregten Shakespeare-Übertragung bzw. Bearbeitung des Tieck-Schlegelschen Textes, die unter dem Titel Shakespeare in deutscher Sprache in 10 Bänden zwischen 1908 und 1918 erschien. In Ergänzung zu den 1892 begründeten Blättern für die Kunst gab Gundolf von 1910 bis 1912 die Jahrbücher für die geistige Bewegung mit heraus, die sich vor allem an die akademische Jugend wandten und wegweisende und kritische Aufsätze zu Fragen der Literatur und Kunst, der Philosophie und Geschichte enthielten. 543 Gundolf, Shakespeare in deutscher Sprache (1908–1918). 544 Gundolf, Einleitung (1908), 10. 545 Gundolf, Einleitung (1908), 11. 546 Vgl. Gundolf, Einleitung (1908), 11.
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Übersetzen als schöpferischer Prozess Klang gewordenen Seele schafft sich unwillkürlich dieselben Sprachgefüge, so dass es schwerer wird unwörtlich zu sein als wörtlich.547
Wie Borchardt und Hildebrandt wandte sich schließlich Karl Gustav Vollmöller 548 in den Erläuterungen zu seiner Orestie-Übersetzung gegen „die interpretatorische Modernisierung und erkältende Aufhellung des Aischyleischen Verses, an der die bekannteste und verbreitetste philologische Übersetzung der vergangenen Jahre leidet“.549 Er selbst strebte, ähnlich wie Gundolf, danach, (u)nter größter grundsätzlicher Treue gegen das griechische Wort der deutschen Sprache von heute das Äußerste an Prägnanz und Schlagkraft zu entreißen und bei aller Sachlichkeit und Schärfe des Ausdrucks, den die Bühne fordert, nie jenes geheimnisvolle Halbdunkel und jene dämmerige Vieldeutigkeit zu zerstören, die die Seele aller Kunst ist, auch der Kunst des Theaters. Es galt, treu zu sein, ohne Dürre, sachlich zu sein, ohne Trockenheit, deutlich zu sein, ohne zu belehren, dunkel zu sein, ohne zu verwischen. Es galt, den Standart unserer neuerrungenen deutschen Sprachkunst aufs heftigste zu stabilisieren, ohne artistisch und subtil zu werden.550
Im Gegensatz zu Wilamowitz, der dem Philologen ein gleichsam professionelles Übersetzungsmonopol zuspricht, knüpfen seine Kritiker vor allem an übersetzungstheoretische Ansätze der Frühromantik und der Goethezeit an.551 Sie postulieren die Einheit von Form und Inhalt des sprachlichen Kunstwerks und betonen dessen Inkommensurabilität. Der Übersetzer ist aufgefordert, die naturgemäß vorhandene Distanz zum Original zu wahren, Fremdes bzw. Unbekanntes nicht durch vermeintlich Bekanntes zu ersetzen, sondern die Fremdheit auch für den Leser der Übersetzung spürbar zu machen. Sowohl Borchardt als auch die Mitglieder des George-Kreises vertreten die Ansicht, dass nur ein berufener Dichter in der Lage sei, die Inkommensurabilität des Kunstwerks zu erfassen und sie auf seine eigene Dichtersprache so einwirken zu lassen, dass in einem kreativen Prozess gegenseitiger Durchdringung ein eigenständiges künstlerisches Gebilde, d. h. eine dem Original angemessene und daher existenzberechtigte Übersetzung entstehen kann.552
_____________ 547 Gundolf, Einleitung (1908), 11. 548 Karl Gustav Vollmöller (1878–1948) hatte Klassische Philologie und Archäologie in Paris, Berlin, Athen und Bonn studiert. In Berlin kam er mit George in Kontakt, der 1897 erstmals Gedichte von Vollmöller in den Blättern für die Kunst publizierte. 1906 brachte Max Reinhardt Vollmöllers Übersetzung der Antigone am ‚Kleinen Theater‘ in Berlin heraus; 1911 und 1919 folgten Aufführungen seiner von Reinhardt angeregten Orestie-Übersetzung in München und Berlin; s. auch Flashar (1985), 340 f. Anm. 117. 549 Vgl. Vollmöller, Die Orestie (1911), 4. 550 Vollmöller, Die Orestie (1911), 4. 551 S. o. S. 30 f., 41 f. u. 56. 552 Hier zeigt sich die Nähe zu Novalis’ Forderung, der Übersetzer müsse „Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können“; Novalis, 68. Blütenstaub-Fragment (1798). S. o. S. 38.
Alternativen zu Wilamowitz’ Übersetzungskonzept Borchardts Gespräch über Formen und Hildebrandts Aufsatz Hellas und Wilamowitz hatten eine Übersetzungstheorie ex negativo in polemischer Abgrenzung zu Wilamowitz’ Übertragungen griechischer Tragödien entwickelt. Zugleich etablierte sich Friedrich Hölderlin – im Zuge der Wiederentdeckung seiner Pindar-Übertragungen durch den George-Anhänger Norbert von Hellingrath – als übersetzerische Leitgestalt, von der positive Anstöße zur Ausarbeitung von Übersetzungskonzepten ausgingen. Borchardt wiederum entwickelte seine Kritik in den 1920er Jahren weiter zu einem Programm der „schöpferischen Restauration“, das – in mehr oder weniger abgewandelter Form – bis weit in die 40er Jahre hinein Wirkung zeigte. Norbert von Hellingrath: Pindar-Übertragungen von Hölderlin Ein bedeutendes literarisches Ereignis stellte die Herausgabe der Pindar-Übertragungen Friedrich Hölderlins durch Norbert von Hellingrath553 dar. Der dem George-Kreis nahestehende Hellingrath war bei den Recherchen zu seiner Dissertation über Hölderlins Übersetzungen in Stuttgart und Homburg auf noch nicht ausgewertete Manuskripte Hölderlins gestoßen, unter denen sich auch die völlig unbekannten Interlinearversionen zu Pindars Oden und zahlreiche bis dahin übersehene Gedichte befanden. Im Jahr 1910 veröffentlichte er sie unter dem Titel Hoelderlins Pindar-Uebertragungen im Verlag der Blätter für die Kunst554 und erörterte ihre literaturhistorische Bedeutung in seiner Münchner Dissertation Pindar-Übertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe von 1910.555 _____________ 553 Hellingrath (1888–1916) hatte in München Philosophie sowie griechische und deutsche Philologie (u. a. bei O. Crusius und F. von der Leyen) studiert. Im Haus seiner Tante, der Verlegersgattin Elsa Bruckmann, fand er Zugang zum künstlerischen und gesellschaftlichen Leben der Stadt, so auch zum George-Kreis. Er veröffentlichte Hölderlins Pindar-Übertragungen (1910) und promovierte mit der Arbeit Pindar-Übertragungen von Hölderlin, Prolegomena zu einer Erstausgabe (1910) in München. Gemeinsam mit dem Literaturhistoriker Friedrich Seebass (1887–1963) begann er anschließend, den Plan einer kritischen Hölderlin-Ausgabe zu verwirklichen, konnte aber nur noch die zuerst erschienenen Bände 4 [Gedichte (1800–1806)] und 5 [Übersetzungen und Briefe (1800–1806)] selbst abschließen, bevor er 1916 als freiwilliger Kriegshelfer in Frankreich fiel. Zu Leben, Werk und Leistung Norbert von Hellingraths vgl. Kaulen (1990/91), 182–209. 554 Enthalten sind die Übersetzungen von Olympien 2, 3, 8, 10, 11, 14 sowie Pythien 1–5 und 8–12. Die Übersetzungen von Olympien 11 und 14 sowie von Pythien 3, 8, 11 und 12 waren zuvor bereits in der 9. Folge der Blätter für die Kunst (1910) abgedruckt worden. 555 Eine weitere Auflage der Dissertation erschien bereits ein Jahr später bei Diederichs in Jena. Nach dieser wird im Folgenden zitiert (Kurztitel: Prolegomena). Welche Widerstände Hellingrath im Zusammenhang mit der Wahl seines Dissertationsthemas zu überwinden hatte, zeigt sich in den im Anhang zu Kaulen (1990/91) abgedruckten Gutachten über die Dissertation. Während Hermann Paul die Auffassung vertrat, die Wahl des Themas sei „kaum eine glückliche zu nennen“, befand Otto
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Übersetzen als schöpferischer Prozess
Bis zu diesem Zeitpunkt war Hölderlin einem größeren Leserkreis vor allem als Verfasser des lyrischen Briefromans Hyperion bekannt. Nur wenige kannten darüber hinaus seine Übersetzungen der Sophokles-Tragödien Ödipus der Tyrann und Antigonä,556 die bereits zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Jahr 1804 sowohl bei Rezensenten als auch bei zeitgenössischen Dichtern auf deutliche Ablehnung gestoßen waren.557 So beschrieb Heinrich Voss d. J., der selbst eine harsche Rezension für die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung verfasst hatte, in einem Brief an Bernhard Rudolf Abeken die Reaktionen in Weimar: Was sagst Du zu Hölderlins Sophokles? Ist der Mensch rasend oder stellt er sich nur so, und ist sein Sophokles eine versteckte Satire auf schlechte Uebersetzer? Ich habe neulich abends als ich mit Schiller bei Goethe saß, beide recht damit regaliert. Lies doch den IV. Chor der Antigone – Du hättest Schiller sehen sollen, wie er lachte; oder Antigone Vers 20: „Was ist’s, Du scheinst ein rothes Wort zu färben.“ Diese Stelle habe ich Goethe als einen Beitrag zu seiner Optik empfohlen, zu welcher ich ihm aus meiner antiquarischen Lektüre alles was ich finde, mitteile.558
Es lag nahe, Hölderlins exzentrische Sprache seiner fortgeschrittenen Geisteskrankheit zuzuschreiben. Erst durch Hellingraths editorische Bemühungen – nach der Herausgabe der Pindar-Übertragungen zeichnete er in den Jahren 1913 bis 1916 auch für zwei von insgesamt sechs Bänden der gemeinsam mit Friedrich Seebass unternommenen Hölderlin-Werkausgabe559 verantwortlich – änderte sich der Blick auf Hölderlins literarische Leistung.560 Das Erscheinen der Pindar-Übertragungen markierte – wie _____________
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Crusius trotz Vorbehalten gegenüber Hölderlins Pindar-Übersetzungen, „daß der Stoff verdient, ans Licht gezogen zu werden“. Die Gutachter loben Hellingraths philologische Kompetenz, bemängeln aber seine aus ihrer Sicht unangemessene Parteinahme für Hölderlin und seine kritiklose Haltung gegenüber dessen Übersetzungsprinzipien; vgl. Kaulen (1990/91), 207–209. Unter dem Titel Die Trauerspiele des Sophokles 1804 in zwei gesonderten Bändchen mit Widmung an die Prinzessin von Homburg von Hölderlin selbst publiziert: Ödipus der Tyrann und Antigonä. Aus den jeweils beigefügten Anmerkungen Hölderlins lassen sich auch Rückschlüsse auf Hölderlins Tragödien-Auffassung überhaupt ziehen; vgl. dazu Kasper (2000). Ein Neudruck der Übersetzungen war 1905 von Wilhelm Böhm herausgegeben worden. Diese Ausgabe war auch Grundlage für die von Marie Joachimi-Dege besorgte Ausgabe in der Goldenen Klassikerbibliothek von 1908. Sowohl Rudolf Borchardt als auch Kurt Hildebrandt führen im Zusammenhang ihrer gegen Wilamowitz gerichteten Abhandlungen Hölderlins Oedipus-Übersetzung als Beispiel für eine gelungene, auf künstlerischer Einfühlung beruhende dichterische Nachbildung einer antiken Tragödie an; vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 21 u. 44 (s. auch o. S. 212) und Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 107 (s. auch o. S. 218). Vgl. H. Voss (1804) und Seebass (1921). H. Voss an B. R. Abeken, vermutl. Juli 1804, zit. nach Hölderlin, Sämtliche Werke, (‚Frankfurter Ausgabe‘), Bd. 16 (1988), 20. Hölderlin, Sämtliche Werke (1913–1923). Hellingrath betreute die Bände 4 (1916) und 5 (1913). Hölderlins Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte finden sich in den Bänden 5 (1913) und 6 (1923). Die ältere Hölderlin-Werkausgabe von Berthold Litzmann (1895) endete mit dem Jahr 1804. Die Ausgaben von Christoph Theodor Schwab (1846) und Wilhelm Böhm (1905) enthielten in einem Anhang ‚Gedichte aus der Zeit des Irrsinns‘ jeweils nur eine kleine Auswahl der späten Dichtungen. Durch Hellingraths Bemühungen konnten im vierten Band der Gesamtausgabe (Gedichte von 1800
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sich an den zahllosen Publikationen zu Leben und Werk des Dichters in der Folgezeit ablesen lässt – einen Wendepunkt in der Geschichte der Hölderlin-Rezeption insgesamt.561 Dem bis dahin kaum rezipierten Werk, insbesondere dem Spätwerk, zu dem auch die Pindar- und Sophokles-Übertragungen zu zählen sind,562 kam ein immenser Neuigkeitswert zu: […] denn wenn es immer ehrlicher Mühe bedarf bis ein Dichter uns lebendig wird, dann bei keinem mehr als bei diesem, der heute noch so neu ist, dessen Wirken zu grossem Teil jezt erst beginnt, dessen Wirken heute noch fast von ihm allein ausgeht, nicht durch tausend verästelte Adern in uns sickert, durch Tausend in die er gewirkt hätte und die weiter wirkten, dessen Wirken heute daher die Meisten so unvorbereitet trifft, wie kaum das eines andern.563
Hellingrath macht in seinen Prolegomena deutlich, dass gerade den PindarÜbertragungen Hölderlins, die sich durch einen extrem engen Anschluss sowohl an Metrum und Klang als auch an Wortfolge, Vers- und Satzstruktur des Originals auszeichnen und damit die Möglichkeiten der deutschen Sprache bis an ihre Grenzen und teilweise auch darüber hinaus ausreizen, eine wichtige Schlüsselfunktion für das Verständnis auch von Hölderlins späten Odendichtungen zukommt. Er vermochte zu zeigen, dass die auf den ersten Blick befremdlich anmutenden sprachlichen und formalen Strukturen in Hölderlins Dichtungen keineswegs als Ausdruck geistiger Defizienz zu werten waren,564 sondern vielmehr das Bemühen des Dichters widerspiegeln, dem großen griechischen Vorbild an sprachlich-gedanklicher Komplexität, formaler Präzision und dichterischer Ausdruckskraft nahe zu kommen.565 _____________ 561
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bis 1806) ca. 1500 Verse neu gedruckt werden. Zur Bewertung der wissenschaftlichen Leistung Hellingraths vgl. Kaulen (1990/91), 199 ff. Leyen (1958–1960), 15: „Ernst Hardt, Rudolf Borchardt, diesen beiden verdanken wir feine Bemerkungen über Hölderlins Sprache, auch über seine Übersetzungen, auch über Hölderlins Griechentum. Aber erst die Pindar-Übertragungen haben uns den späten und den tiefsten Hölderlin gezeigt, und seine Wiederkehr verdanken wir Norbert von Hellingrath; er hat – um es zu wiederholen – uns die Augen für Hölderlinsche Kunst aufgeschlossen.“ Die Entstehung der Pindar-Übertragungen datiert Hellingrath in Bd. 5 der Hölderlin-Gesamtausgabe in die Zeit nach 1800 und vor Abschluss der Sophokles-Übertragungen (Ende 1803); vgl. Hellingrath, Anhang [zu Bd. 5] (1913), 339 u. 347 f. Hellingrath, Vorrede [zu Bd. 1] (1913), VIII. In den Prolegomena vertritt Hellingrath dezidiert die Gleichgültigkeit der „geistige[n] verfassung eines dichters“ für die Bewertung eines Kunstwerks, das „absolute betrachtung“ fordere, und kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem die pathographische Arbeit des Mediziners Wilhelm Lange (Hölderlin, Stuttgart 1909), der die Spuren von Hölderlins psychischem Verfall in dessen späten Dichtungen nachweisen zu können glaubte; vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 26. S. auch Hellingrath, Vorrede [zu Bd. 1] (1913), VIII–IX. Vgl. Honold (2002), 178: „Beim Übersetzen konnte Präzision in den sprachlichen Gesten und Wendungen trainiert werden, aber auch die demütige Verbeugung vor der Größe unerreichter Vorbilder. Den höchsten Mustern verspoetischer Geschmeidigkeit übersetzend nachzueifern, bedeutete eine den Leibesübungen vergleichbare Selbsterziehung, wie Hölderlin im Sommer 1794 an den Freund Neuffer schreibt: ‚das Übersezen ist eine heilsame Gymnastik für die Sprache. Sie wird hübsch geschmeidig, wenn sie sich so nach fremder Schönheit und Größe, oft auch nach fremden Launen be-
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Darüber hinaus stellen die Prolegomena einen bedeutenden Beitrag zur Übersetzungstheorie des frühen 20. Jahrhunderts dar.566 Hellingrath versucht zunächst eine Charakterisierung des Hölderlin’schen Übersetzungsstils und macht sich zu diesem Zweck die hellenistische Unterscheidung zwischen ἁρμονία αὐστηρά („harte Fügung“) und ἁρμονία γλαφυρά („glatte Fügung“)567 zu eigen: Wir können diese bezeichnung als harte und glatte fügung wiedergeben und sagen sie mache sich geltend durch härte und glätte der fugen zwischen den einzelnen elementen/ und dies durch die drei gleichlaufenden schichten hindurch: den rhythmus der worte/ des melos/ der laute. diese drei parallelen rhythmen werden in harter fügung irrationalere minder übersichtliche minder gebundene (nicht etwa minder gehaltene) und in höherem grade einzige bildungen aufweisen.568
In „harter Fügung“ sei zumeist das einzelne Wort selbst „taktische Einheit“569, in „glatter Fügung“ dagegen das Bild oder ein mehrere Worte umfassender gedanklicher Zusammenhang. Dabei stehe die harte Fügung aufgrund ihrer Unmittelbarkeit dem Sinnlichen näher, während die glatte Fügung danach strebe, sich in stereotype Einheiten zu verfestigen, wie beispielsweise im spätromantischen Volkslied. Den Vorzug der harten Fügung erkennt Hellingrath darin, dass sie das Wort selbst betone, es dem Hörer einpräge, indem sie es der gefühlsartigen und bildhaften Assoziationen entkleide und „das tägliche und gewohnte“570 meide: „wo glatte fügung einfachste formen und ordnungen/ viel gebrauchte worte/ möglichst wenig auffälliges zeigte/ erstaunt die harte durch ungewohnte und fremde sprache“571. Zudem erweist sich die Einführung der beiden Kategorien, wie Heinrich Kaulen zeigt, als hilfreich bei der literaturhistorischen Verortung des Hölderlin’schen Übersetzungswerkes zwischen Klassik, Romantik und Moderne. So kann Hellingrath auf diese Weise bestimmte Traditionslinien (wieder) sichtbar machen und stärker betonen, während andere für falsch oder überholt erachtete Zuordnungen zurückgewiesen werden. Kaulen stellt fest: _____________ 566
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quemen mus.‘ (10./14.7.1794; MA II, 538).“ Poiss (2008) belegt Hölderlins Verfahren mit dem Terminus der „heuristischen Übersetzung“; s. ebd., 189, 193, 195, 198. Vgl. Kaulen (1990/91), 201: „Ist die kritische Ausgabe bahnbrechend durch die Veröffentlichung zahlreicher ungedruckter Gedichte aus dem Nachlaß, so liefert diese Arbeit dem neuen Hölderlinbild das erforderliche theoretische Fundament und gelangt darüber hinaus zu wichtigen übersetzungstheoretischen Grundbegriffen, deren Bedeutung für die Übersetzungstheorie dieses Jahrhunderts bislang kaum hinreichend wahrgenommen worden ist.“ Entlehnt aus Dion. Hal., De compositione verborum, 21 ff., zit. nach Hellingrath, Prolegomena (1911), 1. Hellingrath, Prolegomena (1911), 1 f. Die Schrägstriche entsprechen der Zeichensetzung Hellingraths. Hellingrath, Prolegomena (1911), 2. Das Wort als „taktische Einheit“ wird von Hellingrath offenbar in Abgrenzung zur syn-taktischen Reihung verwendet. So entsprächen im Volkslied oder in der spätromantischen Dichtung die aufeinanderfolgenden Worte je einer Reimzeile einer „taktischen Einheit“, das Gedicht sei „ein rhythmischer wechsel dieser einheiten“; s. Hellingrath, Prolegomena (1911), 2. Hellingrath, Prolegomena (1911), 5. Hellingrath, Prolegomena (1911), 4.
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Während der Begriff der harten Fügung auf einen untergründigen Traditionszusammenhang verweist, der von Pindar über Klopstock und Hölderlin bis zu George reicht, vollendet sich die glatte Fügung in der stimmungshaften Gefühlpoesie der Spätromantik, als deren Exponent Eichendorff genannt wird. Schon mit der Differenzierung zwischen diesen beiden Traditionslinien hebt Hellingrath das Werk Hölderlins scharf von der romantischen Dichtung ab, der es seit dem epochemachenden Buch Rudolf Hayms572 zugerechnet wird, und stellt der These, die letzte Schaffensperiode des Dichters sei biographisch als Resultat seiner geistigen Erkrankung zu verstehen, die Forderung entgegen, auch das Spätwerk strukturell, das heißt als eine bewußte Fortsetzung und letzte Steigerung eines poetischen Grundprinzips, zu begreifen.573
Beim Übersetzen dichterischer Werke, insbesondere solcher „im herben styl“, geht es nach Hellingraths Auffassung – darin stimmt er mit Rudolf Borchardt und Kurt Hildebrandt überein – in erster Linie darum, „den kunstcharakter des originals“ wiederzugeben. Im Hinblick auf diese Zielsetzung wird die „höhe der diction“, die „art der wortstellung/ der spannung und verschlingung“ als „sehr wichtig“, das Treffen der genauen Wortbedeutung dagegen als „minder wichtig und freiheiten zugänglicher“ eingestuft.574 Der Übersetzer handle kontraproduktiv, dies wohl indirekt gegen Wilamowitz, wenn er versuche, die von ihm erschlossenen logischen und inhaltlichen Bezüge des Originaltextes in seiner Übertragung sichtbar zu machen. Die Übersetzung müsse vielmehr dem Hörer „die gleiche gedankenarbeit wie die vorlage“ zumuten.575 Eine Schwierigkeit sieht Hellingrath allerdings in dem Umstand, dass die deutsche Sprache sich im Laufe der Zeit „auf kosten des lebendigen vom worte befreit und mit einer gewissen vorausverständlichen logik durchtränkt“ habe.576 Im Umgang mit antiker Literatur sei es daher zunächst nötig, sich von der Gewohnheit des „paraphrastische[n] auffassen[s]“ zu lösen und sich der „dunkeln sinnlichkeit des griechischen“ bewusst zu werden.577 In einem Rückblick auf ältere Pindar-Übertragungen unterscheidet Hellingrath zwischen den frühen Versuchen metrischer Wiedergabe durch Thiersch578, Humboldt579 und Herder580, die er aufgrund ihrer jeweils sehr eigenen Auffassung des Originals als positiv bewertet, und den Übersetzungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die für ihn den „niedergang“ der Pindar-Übertragung markieren.581 In diesem _____________ 572 Vgl. Haym (1870). Ein Hölderlin gewidmetes Kapitel (289–324) trägt die Überschrift „Ein Seitentrieb der romantischen Poesie“. 573 Kaulen (1990/91), 202 f. 574 Die vorangehenden Zitate finden sich in Hellingrath, Prolegomena (1911), 7. 575 Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 7. Ganz ähnlich auch ebd., 23 f.: „theoretisch gesprochen/ müsste aber der text der übersetzung den selben widerstreit der meinungen ermöglichen wie der text der vorlage.“ 576 Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 7. S. auch Hellingrath, Vorrede [zu Bd. 5] (1913), X. 577 Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 8. 578 Thiersch, Pindarus Werke (1820). 579 Humboldt, Übersetzungen aus dem Pindar (1791–1804). 580 Vgl. Herder, Pindars Siegsgesänge (1808). 581 Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 14. In diesem Sinne werden Tycho Mommsen, Johann Adam Hartung, Moritz Schmidt und Johann Jakob Christian Donner genannt; vgl. Hellingrath, Prolego-
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Zusammenhang geht Hellingrath auf die Epigonalitätsproblematik ein,582 die vor allem darin bestehe, dass das mächtige Anwachsen des „deutsche[n] schriftwesen[s]“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und die Anerkennung „eine[r] anzahl von werken als classisch“ eine gewisse Beliebigkeit und Oberflächlichkeit in der Wahl der Sprachmittel zur Folge gehabt habe.583 Diese Möglichkeit, auf Ererbtes zurückgreifen zu können,584 habe man fälschlicherweise als Fortschritt angesehen, während in Wirklichkeit „die damaligen erzeugnisse […] sich nur nach wechselnden arten der charakterlosigkeit“585 datieren ließen. Offenbar mit Blick auf Wilamowitz heißt es dann: Da konnte denn auch […] die seltsame meinung aufkommen eine dichtung vermittle bestimmte inhalte und zwar in poëtischer form/ der übersetzer habe also den inhalt der vorlage in poëtischer form wiederzugeben. […] Es ist klar dass eine zeit in der solcherlei möglich war mit Hölderlins übertragungen nicht das geringste anzufangen wusste.“586
In der von Kritikern bemängelten Dunkelheit und Unverständlichkeit von Hölderlins Sprache erkennt Hellingrath dagegen gerade die Nähe zur Sprache Pindars, welche ebenfalls keinen „zusammenhang mit täglicher rede“ aufweise. Hölderlins Anspruch, den „kunstcharakter der vorlage“ wiederzugeben, führe notwendigerweise dazu, dass seine Sprache häufig als dunkel empfunden werde, „weil sie dem ausdruck der wortstellung und wortverschlingung des Pindar mit groszer treue folgt“.587 Zudem unterscheide sich Hölderlins Pindar-Übertragung dadurch von anderen, auch von seinen eigenen Sophokles-Übersetzungen, „dass sie in unvergleichbar höherm grade privat ist“, da ihr jedes Bestreben nach Vermittlung, jeder Publikumsbezug fehle.588 Als weiteren Grund _____________
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mena (1911), 14 f. In einem Brief an Friedrich Gundolf schreibt Hellingrath am 16.12.1909: „[…] neben dem gräszlichen Tycho Momsen [sic] (den angenehmeren Thiersch habe ich zur zeit nicht) ist Hölderlin immer so sehr erlösung daß in ihm alle unterschiede verschwimmen“; dokumentiert bei Pigenot (1963/64), 112. S. auch o. S. 74 f. Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 17. Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 18: „dieses zehren von nur ererbtem nicht erworbenem gut/ das man verwandte wie es grade sich fügte/ musste jedes gefühl zerstören für das sprachlich wohlanständige und schickliche/ ferner/ eben bei dem schwinden solcher hemmungen/ eine gefährliche leichtigkeit und geläufigkeit des producirens bewirken und damit zugleich ganz falsche meinungen vom eignen können.“ Hellingrath, Prolegomena (1911), 18. Hellingrath, Prolegomena (1911), 18 f. Die vorangehenden Zitate finden sich in Hellingrath, Prolegomena (1911), 22. Vgl. auch Hellingrath, Vorrede [zu Bd. 5] (1913), XI: „Die Dunkelheit und gewaltsame Härte, die man auch beim Lesen des griechischen Urbildes sich nicht wegdeuten und wegleugnen darf, deretwegen eine treue Übersetzung schwer zugänglich sein muß und weit abliegend von der gewohnten Weichheit und Verständigkeit deutscher Dichtungen.“ Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 22 Anm. 2. Hölderlin habe, so Hellingrath, im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen die Antike nicht als historisch bedingte und mit der Gegenwart nicht vergleichbare Vorzeit aufgefasst, sondern, „unter griechen wie unter zeitgenossen“ gelebt; vgl. ebd., 47. Diese enge Verwandtschaft, die sich nicht nur in seinen Übertragungen zeige, sondern auch in seinem eigenen Werk auf technisch-stilistischer wie auf gedanklich-motivischer Ebene nachweisbar sei, habe ihn mit Pindar verbunden; vgl. ebd., 31. Allerdings lässt Hellingrath hier außer Acht, dass Hölderlin selbst durchaus über die Unterschiede zwischen dem Eigenen, dem „Hesperischen“ bzw.
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für die vordergründige Dunkelheit der Pindar-Übertragungen nennt Hellingrath „die geschwächte neuhochdeutsche sprache“, die oftmals „an ausdrucksmitteln für die beziehung der wörter der jungen griechischen nicht zu folgen vermag“.589 Doch räumt er auch ein, dass Hölderlins philologische Kenntnisse „zum verständnisse Pindars in bezug aufs inhaltliche“ oftmals nicht ausreichend gewesen seien, was zu Wortverwechslungen, zu ungenauen oder gar zu falschen Konstruktionen und zu Fehlinterpretationen geführt habe.590 Dieser Mangel falle jedoch angesichts der hohen künstlerischen Einfühlungsgabe Hölderlins und seines Vermögens, die alte Sprache wiederzubeleben, wenig ins Gewicht, so dass Hellingrath ganz im Sinne Borchardts und Hildebrandts591 konstatieren kann: es ist aber ein anderes eine sprache grammatisch beherrschen/ ein anderes ihrem wesen vertraut sein/ und durch langen innigen verkehr war ihm das griechische vertraut geworden wie wenigen andern. ingenium supplirte und so kam es denn dass einer/ dem jeder gymnasiast beliebig viele Grammatikfehler nachweisen kann/ unserer sprache ihre bedeutsamsten denkmale des erfassens griechischen sprachgeistes geschenkt hat/ wahre wiedergeburt antiker dichtung/ denkmale an denen meines erachtens sogar der classischen philologie beflissene manches lernen könnten/ was lebendig machen der alten sprache und verstehen des kunstcharakters anlangt.592
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„Vaterländischen“, und dem Griechischen reflektierte; vgl. dazu Procopan (2002), 72: „Hölderlins Auseinandersetzungen mit der Frage, wie sich das Heimatländische im Verhältnis zum Anderen, zur Fremde und Ferne definiere, die, sowohl in der Überbrückung des Raumes als auch in der Überbrückung der Zeiten, als Gang zwischen der Orbis der alten Griechen und der hesperischen thematisiert wird, erfahren ihre dichterische Gestaltung in den Oden ‚Der Gang aufs Land‘, ‚Stutgard‘, ‚Der Wanderer‘, ‚Heimkunft‘, ‚Brod und Wein‘ und in den Hymnen ‚Die Wanderung‘, ‚Am Quell der Donau‘, ‚Der Rhein‘, ‚Andenken‘ und ‚Der Ister‘. Seine theoretischen Schriften, beginnend mit dem Aufsatz ‚Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben‘ (StA IV, 221 f.), bis hin zu den späten Anmerkungen seiner Sophokles-Übersetzungen zeugen von einer allmählichen Entwicklung dieses Gedankens.“ Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 23. Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 24. Im Anhang zu den Prolegomena findet sich auch ein Abschnitt mit der Überschrift „Hölderlins Kenntnis der griechischen Sprache“ (74–80), in dem Hellingrath Hölderlins schulische und universitäre Sprachausbildung umreißt und Vermutungen über seinen Umgang mit Hilfsmitteln (wie Lexika) anstellt. Es folgt eine Analyse der für Hölderlin typischen Missverständnisse und Fehlinterpretationen, die neben grammatischen Irrtümern auch auf das nicht immer vorhandene „viele wissen das Pindar voraussetzt“ (77) zurückgeführt werden. Hellingrath selbst empfindet es als „seltsam Hölderlin so seine griechischen kenntnisse nachzuprüfen“ (79), und konstatiert: „nicht leicht war einem andern die tote sprache so vertraut und lebendig/ nicht leicht einem andern/ der einen so beträchtlichen teil der hellenischen literatur beherrschte/ die griechische grammatik und aller philologische apparat so fremd“ (79). Dabei zeige sich allerdings „dass der dichtung gegenüber inniges verhältnis zu sprachlichem überhaupt/ etwa zur muttersprache/ weiter fördert als grammatisches wissen und dieses bis zu einem gewissen grad ersetzen kann. und weiter neu die alte weisheit dass das lebendigwichtige auszerhalb des intellectualen ist und davon unbedingt“ (79 f.). Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 21 u. 44, und Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910), 107. Hellingrath, Prolegomena (1911), 24.
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Im Zusammenhang mit Hölderlins Übersetzungsstil geht Hellingrath auch auf den Begriff der inneren Form ein, der bereits in Rudolf Borchardts Gespräch über Formen (1905) eine zentrale Rolle gespielt hatte. Um Missverständnisse zu vermeiden, stellt er zunächst klar, dass die „innere form“ sich keineswegs auf etwas Inhaltliches beziehe. Vielmehr sei damit „das durchaus der sprachlichen form des gedichtes zugehörige gemeint/ das […] nicht an die äuszere form/ das metrische schema/ gebunden ist/ zumal also die besondere art der sprachbewegung“.593 Übersetzer, die sich vor allem an der äußeren Form ihrer Vorlage orientierten, könnten im besten Falle „von der peripherie aus die richtung zur mitte treffen“, sie liefen aber Gefahr, die Mitte zu verfehlen, so dass die Form „unerfüllt“ bleibe594: die innere form jedoch – es sei erlaubt im bilde zu bleiben – ist central und einer mehrzahl peripherischer formen entsprechend. aus ihr heraus kann/ und das tat Hölderlin/ ohne ihr wesen zu verändern für neue verhältnisse eine ganz neue äuszere form geschaffen werden.595
Die Pindar-Übertragungen Friedrich Hölderlins stießen bereits unmittelbar nach ihrer Herausgabe durch Hellingrath auf große Resonanz. Durch ihre enge Bindung an das Original, ihre Formbetontheit und ihre sprachschöpferischen Qualitäten bildeten sie gleichsam einen Gegenpol zu den sprachlich epigonalen Übersetzungen im Stil von Wilamowitz. Insbesondere von den Mitgliedern des George-Kreises wurde die Neuentdeckung mit großem Enthusiasmus aufgenommen.596 Friedrich Gundolf betrachtete Hellingraths philologische Aufarbeitung der Übersetzungen Hölderlins als wichtigen Beitrag zu einer Neudefinition bzw. Rückgewinnung von Philologie überhaupt: Die Philologen sollen sich nicht mehr mit der bloßen zusammenstellung und deskription von isolirten grammatikalien und realien begnügen dürfen, die aesthetiker nimmer mit einer abtastung der formen, die philosophen nimmer mit einer ausdeutung des ideengehalts einer dichtung; alle drei mit gegenseitigen Competenzkonflikten. […] Philologie wird man wieder übersetzen dürfen mit „Liebe zum geistigen (wirk-lichen, gewirkten) Wort, zum Logos[“],597 nachdem es generationenlang hieß: „beschäftigung mit wörtern.“598
Schöpferischen Ausdruck fand die durch Hölderlin intensivierte Pindar-Verehrung der Georgeaner in den Pindar-Übertragungen Alexander von Stauffenbergs, die allerdings erst 1957 und dazu nur in Teilen im Druck erschienen.599 Aber auch außerhalb des
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Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 33 und 33 Anm. 1. Vgl. Hellingrath, Prolegomena (1911), 36. Hellingrath, Prolegomena (1911), 36. Zur Bedeutung Hölderlins für den George-Kreis vgl. Hildebrandt (1940) (zu den Übersetzungen hier v. a. 269 ff.) und ders., (1960), 340; des weiteren Leyen (1958–1960), 4, und Kaulen (1990/91), 190. 597 Entsprechende Äußerungen finden sich später auch bei Wolfgang Schadewaldt; s. u. S. 279–282. 598 Friedrich Gundolf an Norbert von Hellingrath, Sommer 1911, zit. nach Pigenot (1963/64), 116. 599 Stauffenbergs Übertragungen der Olympien 1–3 finden sich in Boehringer/Hoffmann (1957); diese und weitere Pindar-Übersetzungen in Auswahl auch in Hölscher (1962) und in Schenk von Stauffenberg, Trinakria (1963). Zu Stauffenberg s. auch Christ (2008).
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George-Kreises wurde Hellingraths Verdienst um Hölderlins Pindar-Übertragungen wie auch um dessen Gesamtwerk gewürdigt600, etwa von Jonas Fränkel: Hier ist Philologie Kunst geworden und hat nichts gemein mit dem sinnlosen, selbstgenügsamen Staubschlucken, das den philologischen Ausgaben unserer Dichter nicht mit Unrecht nachgesagt wird.601
Als einschlägige, auf Hellingrath Bezug nehmende Arbeiten mit übersetzungstheoretischem Schwerpunkt seien hier nur die Dissertationen von Günther Zuntz und Friedrich Beißner, dem späteren Herausgeber der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, angeführt.602 Darüber hinaus beeinflusste Hellingraths Abhandlung über Hölderlins Pindar-Übertragungen auch die Hölderlin-Lektüre Martin Heideggers603 und hinterließ Spuren in Walter Benjamins Abhandlung Die Aufgabe des Übersetzers.604 Rudolf Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ Die von Hellingrath vor allem auf dem Wege der Übersetzungsanalyse gewonnenen Übertragungsgrundsätze – das Ziel, den „Kunstcharakter des Originals“ zu wahren, die Hervorhebung der unmittelbar sinnlichen Wirkung des Einzelwortes unter Verzicht auf die Herstellung logischer Bezüge, die Restitution und Aufwertung der eigenen zum alltäglichen Verständigungsmittel herabgesunkenen Sprache durch Verwendung altertümlicher oder ungewohnter Wendungen und poetischer Neuschöpfungen sowie die Verweigerung jeglicher Rücksichtnahmen auf Publikumsinteressen – kommen in wesentlichen Aspekten bereits denjenigen Rudolf Borchardts nahe, wie dieser sie im Rahmen seines einige Jahre später entwickelten Programms der schöpferischen Restauration theoretisch darlegte und auch praktisch umsetzte. Borchardt, dessen eigenes literarisches Werk – ähnlich wie bei den ihm freundschaftlich verbundenen Rudolf Alexander Schröder und Hugo von Hofmannsthal605 – von einer intensiven Aus_____________ 600 Wichtige Zeugnisse der Hölderlin-Rezeption namhafter Schriftsteller und Geisteswissenschaftler des 20. Jahrhunderts (u. a. George, Gundolf, Rilke, Benjamin, Heidegger, Staiger und Schadewaldt) sind zusammengestellt in Kelletat (1961). 601 Fränkel, Der neue Hölderlin [1917], 83. 602 Zuntz, Über Hölderlins Pindarübersetzung (1928); Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (1933); s. dazu auch u. S. 243 Anm. 26. 603 Vgl. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung (Norbert von Hellingrath gefallen am 14. Dezember 1916 zum Gedächtnis) (1936). 604 Vgl. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1921). Benjamin erkennt die Aufgabe des Übersetzers nicht mehr in Vermittlung und Sinnbewahrung, sondern vielmehr in der „Integration der vielen Sprachen zur einen“ (16). Somit ist auch für ihn das Wort, nicht der Satz das „Urelement des Übersetzers“ (18). Die „Interlinearversion des heiligen Textes“ gilt ihm als das „Urbild oder Ideal aller Übersetzung“ (21). 605 Seit 1909 gaben die drei Autoren gemeinsam das Jahrbuch Hesperus heraus, mit dem sie sich gewissermaßen als Anti-George-Kreis konstituierten. Das von den Georgeanern ein Jahr später ins Leben gerufene Jahrbuch für die geistige Bewegung (s. o. S. 216) wurde von Borchardt als Gegenunternehmen aufgefasst und gab letztlich den Ausschlag für seine Generalabrechnung mit den Anhängern Georges, seinen Aufsatz Intermezzo (1910); s. auch den von Borchardt verfassten Biogra-
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einandersetzung mit der europäischen Dichtungstradition im Allgemeinen und der Literatur der Antike im Besonderen geprägt ist, äußerte sich nicht nur in zahlreichen Vorträgen und Abhandlungen zu Fragen der antiken Kultur- und Literaturgeschichte,606 sondern verfasste auch seinerseits Übersetzungen antiker Werke607. Darüber hinaus wurde er von anderen gern als Berater in philologischen Fragen hinzugezogen608; so begleitete er u. a. die Entstehung von Schröders Odyssee-Übersetzung mit ausführlichen brieflichen Kommentaren und Korrekturen.609 Die umfassendsten Darlegungen von Borchardts übersetzungstheoretischen Grundsätzen finden sich wider Erwarten nicht im Kontext seiner Übertragungen der Pindarischen Gedichte oder der Altionischen Götterlieder, sondern in den Nachworten zu seinen Dante-Übersetzungen.610 Im Nachwort zur Divina Comedia beschreibt Borchardt, auf welche Weise er in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Sprache Dantes zu einer übersetzerischen „Dichtersprache“ (522) gefunden habe. Durch das (sprach-)historisch bedingte Fehlen einer deutschen Literatursprache des 13. und 14. Jahrhunderts, die ihm als Äquivalent für das Italienisch Dantes hätte dienen können, sah Borchardt sich veranlasst, auf dem Wege der poetischen „Umkehrung, revolutio, des geschichtlichen Sprachprozesses“ (526)611, durch Ausgleich „zwischen Sprachen der historischen Texte, der historischen Urkunden und der lebendigen historischen Mundarten“ (524), zunächst ein literarisches Idiom zu konstruieren, das „zwischen 1250 und 1350 im ganzen Oberdeutschland sehr leidlich verstanden worden wäre“ (522), und dieses abschließend einem fingierten Traditionsprozess zu unterziehen: _____________ 606
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phisch-bibliographischen Abriss (1912), in: Prosa 6, 57 f., sowie die Chronologie der wichtigsten Stefan George und seinem Kreis geltenden Texte in Prosa 6, 589 f. Vgl. u. a. Borchardts Reden Schöpferische Restauration (1927), Vergil (1930), Revolution und Tradition in der Literatur (1931) (abgedruckt im Band Reden innerhalb der Gesammelten Werke), seine umfangreichen Einleitungen, Nachworte und Abhandlungen zur Pindarischen Dichtung, zu den Altionischen Götterliedern und zu Homer (in: Prosa 2) sowie diverse kleinere Schriften (in: Prosa 4). Zu Borchardts Übersetzungstätigkeit s. o. S. 210 Anm. 491. Eine Anthologie Borchardtscher Übersetzungen antiker Texte im Kontext seiner Prosa sowie eine Aufstellung von Dichtungen und (weiteren) Schriften Rudolf Borchardts im Zusammenhang mit antiker Literatur findet sich in: Schmidt (2006), 203–215. S. auch Schmidt (2008). Vgl. Ott (1987), 302 f. Vgl. Borchardt/Schröder, Briefwechsel 1901–1918 (2001), v. a. 106–112, 153–155, 174–235, 247– 251, 298 (Zeitraum von 1908 bis 1910). Vgl. Borchardt, Epilegomena zu Dante / I. Einleitung in die Vita Nova (1923) und ders., Epilegomena zu Dante / II. Divina Comedia (1930). S. auch den Aufsatz Dante und deutscher Dante (1908), in dem Borchardt sich mit den Dante-Übertragungen Richard Zoozmanns (1908), Otto Hausers (1906) und Stefan Georges (1900–1904) auseinandersetzt. Vgl. Borchardt, Epilegomena zu Dante / II. Divina Comedia (1930), 526: „Durchaus ohne mein Zutun hatte sich etwas vollzogen, was mir erst aus späterem Rückblicke deutbar werden konnte: Umkehrung, revolutio des geschichtlichen Sprachprozesses […]; Rückgebärung, rinascimento, der eigenen Nationalantike, des europäischen Mittelalters, […]; Rückverwandlung, reformatio, einer aus der Fremde her verschobenen und ausgearteten seelischen Nationalgestalt zur wiedererlebten Urform, die nur theoretisch die alte, praktisch, weil im Werke zu Werk entstanden, modern war und es immer mehr wurde.“
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Ich habe angenommen, ein deutsches Gedicht vom Ende des 14. Jahrhunderts sei in den Formen, die ich auf früheren Seiten angedeutet habe, lebendig immer weiter tradiert und der Sprachwandlung angepaßt worden, […] und es habe schließlich im 20. Jahrhundert den schonenden Überarbeiter gefunden, der es behandelt habe wie ich selber in meiner Ausgabe den „Armen Heinrich“.612
Wenn dieses Beispiel sich auch nicht auf das Übersetzen antiker Literatur bezieht, so veranschaulicht es doch recht gut das Programm der „schöpferischen Restauration“, das Borchardt seit Mitte der 1920er Jahre in verschiedenen Abhandlungen und auch in den großen Nachworten zu seinen späteren Übertragungen antiker und mittelalterlicher Texte ausgearbeitet hatte.613 In einer Rede aus dem Jahr 1927 stellt Borchardt die Grundlinien dieses Programms öffentlich vor. Er vertritt darin die Auffassung, dass die durch die deutsche Romantik in Gang gesetzte dynamische Entwicklung des deutschen Geistes durch die zunehmende Verwissenschaftlichung im Laufe des 19. Jahrhunderts abgebrochen sei, und leitet aus diesem Befund folgende Forderung für eine poetische Rückgewinnung der verschütteten Tradition ab: Wir ergreifen die deutsche nationale Tradition dort wo ihre zerfaserten Enden halten, in der geistesgeschichtlichen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts als einem Mandate der deutschen Poesie und setzen das Werk der Romantik schöpferisch an den Stellen fort, an denen sie es unter die Erde tauchend den Wissenschaften überließ, die unter ihrem Anhauche erst entstanden.614
Eng verbunden mit Borchardts Konzept der „schöpferischen Restauration“ ist die Gedankenfigur der causa victa.615 So besteht für Borchardt die „wahre Geschichte“ nicht in der Aneinanderreihung „siegreicher“ Ereignisse616, also derjenigen historischen Faktoren und Strömungen, die jeweils zu ihrer Zeit die größte Durchsetzungskraft besaßen, sondern in der „unausgelebten Geschichte“617 als ein, so Ernst A. Schmidt, _____________ 612 Borchardt, Epilegomena zu Dante / II. Divina Comedia (1930), 530. 613 Die Formulierung erscheint erstmals in Borchardts an Hugo von Hofmannsthal gerichteten EranosBrief (1924) (vgl. hier v. a. 314 f., 318 f., 325) und wurde von Hofmannsthal in dem Aufsatz Europa von 1925 aufgegriffen; vgl. ebd., 243: „Unsere Epoche ist eine Epoche der Wiederherstellung […] Hinter dem Treiben der Untergangspropheten und Bacchanten des Chaos, der Chauvinisten und Kosmopoliten […] sehe ich die wenigen über die Nationen verstreuten Individuen, welche zählen, sich auf einen großen Begriff einigen: den Begriff der schöpferischen Restauration.“ Borchardt verwendet die Formulierung nochmals in zwei Reden aus dem Jahre 1927: Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts und Schöpferische Restauration; s. Literaturverzeichnis. 614 Borchardt, Schöpferische Restauration (1927), 250. Weitere Begriffe, die Borchardt in diesem Zusammenhang verwendet, sind Wiederherstellung (244), Wiederaufbau (246), restitutio in integrum (252), Revolution (252) und Reformation (252). Zur Entstehungsgeschichte von Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ vgl. Schmidt (2006), 14–19. 615 Zurückgehend auf Lukan, Bellum Civile 1,128: victrix causa deis placuit et victa Catoni. Zur Gedankenfigur der causa victa bei Rudolf Borchardt vgl. Ott (1987), 303 f., und Schmidt (2006), 19– 22. 616 Vgl. Borchardt, Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944), 107: „Aber die wahre Geschichte ist allerdings nicht die der siegreichen Sache und der vollendeten Fortschritte […].“ 617 Vgl. Borchardt, Eranos-Brief (1924), 318: „Wer hätte begriffen, daß es um restaurierende Revolution ging – um revoltierende Reformation, um den erstürmten Rückzug bergan in die unausgelebte Geschichte des Menschengeschlechtes, um Verwerfung der Zeit und Heimkehr in die Ewigkeit, die, wie
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„dramatischer, von Abbrüchen, Niederlagen und Verschüttungen geprägter Prozeß“618. Nach Borchardts Auffassung zeigen die überlieferten Werke oft deutliche Spuren der altersbedingten Zerstörung bzw. des Eindringens von Fremdem im Zuge der Verschriftlichung und der weiteren Überlieferung. Anderes wiederum sei durch philologische Revision für fremd befunden und ausgeschieden worden, so dass man letztlich überhaupt nur ein Bruchteil der antiken Werke der weiteren Überlieferung für würdig erachtet habe. Borchardt bevorzugt bei seiner Auswahl der zu übersetzenden Werke gerade solche Texte, die, wie er es sieht, entweder selbst deutliche Zeichen solcher Überlagerung tragen und somit restaurierungsbedürftig sind (Altionische Götterlieder) oder ihrerseits Produkte einer innerantiken ‚Bearbeitung‘ älterer Dichtungsformen darstellen (Pindar, Vergil, Horaz). In seinen Prosaschriften, insbesondere in den Nachworten zu den Übersetzungen, stellt er seine Auffassung solcher Überlagerungs-, Verdrängungs- und Kontaminationsprozesse ausführlich dar.619 Doch bezieht sich das Verfahren der „schöpferischen Restauration“ nicht allein auf eine Erschließung und Heilung der antiken Ausgangstexte, sondern ebenso auf eine sprachlich-formale Umsetzung ins Deutsche. Hier geht es Borchardt vor allem darum, Abstand zu üblichen Hörgewohnheiten und bereits vorgeprägten Übertragungsmodellen zu gewinnen, etwa zu dem „uns wohlvertraute[n] Vers von ‚Hermann und Dorothea‘“, dem „deutsche[n] klassizistische[n] Hexameter“ oder „Vossens Homer“.620 Mit gleichsam archäologischen Methoden soll der Dichter bzw. Übersetzer hinter die ältesten Traditionsschichten zurückgehen, um die historischen Brüche und Risse aufzuspüren; er soll die durch fremde Einwirkung verschütteten Formen freilegen, an abgerissene Traditionsfäden anknüpfen und letztlich die wiederentdeckten Formen in äquivalenten, zugleich unvorbelasteten literarischen Ausdrucksformen neu beleben.621 _____________ 618 619
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es später im Durant heißen sollte, eine Ewigkeit ist nach allen Seiten, eine Funktion der Geschichte, wie der Einsicht, wie der Schöpfung.“ Schmidt (2006), 20. Vgl. dazu Borchardt, Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944), 107 f. In seiner Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie (1929/30) führt Borchardt beispielsweise aus, wie die ursprüngliche, autochthone dorische Dichtung durch den Fremdeinfluss der ionischen Hexameterdichtung, insbesondere der homerischen Epen, überlagert worden sei und in ihren Stoffen und Rhythmen nur im Verborgenen, in der Volkspoesie, habe weiterleben können; vgl. ebd., 231. Als einziger Dichter habe Pindar sich zu einem späteren Zeitpunkt dieser Stoffe angenommen und sei restaurierend tätig geworden. Im Nachwort zu den Altionischen Götterliedern vertritt Borchardt die Auffassung, dass im Zuge der Alexandrinischen Kritik zahlreiche alte Werke verloren gegangen seien, während die neue Dichtung ihre Stoffe und Formen aufgegriffen habe; vgl. Borchardt, [Nachwort zu Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers] (1924), 111. Vgl. Borchardt, [Nachwort zu Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers] (1924), 128 f. Ebd., 129: „Damit ist der deutsche klassizistische Hexameter freilich so gebrochen wie das Reliefbild Flaxmans und Thorwaldsens, das hinter Goethes Achilleis und Vossens Homer steht. Dies Bild der Antike und des Griechentums der Urzeit, das historisch, als eine Seelenbewegung der deutschen Nation, seine Schicksale erfüllt hat, ist nicht mehr zu corrigieren oder zu heilen, sondern nur noch, und zwar in der Schöpfung, zu vernichten.“ Zu Borchardts praktischer Umsetzung des Verfahrens der „schöpferischen Restauration“ in seinen Übertragungen vgl. Apel (1989) und, am konkreten Beispiel der Altionischen Götterlieder, Schmidt (2008).
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In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rolle der Wissenschaft in Borchardts Arbeit hinzuweisen.622 So kann seiner Auffassung nach „nur Wissen vom Wissen befreien“623 und den Übersetzer wieder aufnahmefähig für neue Aspekte des scheinbar Bekannten machen. Er selbst verstand sich als Dichter und Philologen.624 Im Anschluss an eine Wissenschaftstradition, die ihm vor allem durch seinen Bonner Lehrer Friedrich Leo vermittelt worden war und die auf eine „Synthese von Humanismus und Philologie“625 zielte, stehen auch für Borchardt Philologie und Dichtung in einem symbiotischen Verhältnis, bei dem die eine Disziplin die Lücken der jeweils anderen ausfüllt.626 Obgleich Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“ als kulturhistorisches Gesamtkonzept über den Bereich des Übersetzens hinausweist, kann es doch auch für sich als eine richtunggebende übersetzungstheoretische Konzeption aufgefasst werden, der sich, neben Borchardt, auch Schröder627 und Hofmannsthal anschlossen. So findet sich auch in Schröders Nachwort zu seiner 1924 erschienenen Übersetzung von Ciceros Cato maior de senectute Verfalls- und Abbruchsmetaphorik. Unter anderem beklagt er hier den „allgemeinen europäischen Geistesverfall“, der eingetreten sei, „nachdem man einige Jahrzehnte hindurch bemüht gewesen, alle Grundlagen und Zusammenhänge eines höheren geistigen Lebens abzubrechen und zu zerstören.“628 Die Forschung habe im Umgang mit dem antiken Erbe „das Oberste zu unterst gekehrt“ und sei „nach Art des allzu eilfertigen Gärtners“ verfahren, der „die Quelle, die seinen Garten wässerte, abgräbt oder zuschüttet, um schliesslich zu bemerken, dass Dürre und Versumpfung an die Stelle früherer Fruchtbarkeit getreten sei“.629 Auch den Irrtum, den Römern ihre Abhängigkeit von den Griechen zum Vorwurf zu _____________ 622 Vgl. dazu Ott (1987) und Poiss (1997). 623 Vgl. Borchardt, [Nachwort zu Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers] (1924), 127. 624 Bereits in seinem Gespräch über Formen (1905) sah Borchardt, wie er es in einem Brief an R. A. Schröder ausdrückt, „eine leidlich wohlthuende praktische Lösung – oder den Anfang dazu – des zwischen Produktion und Wissenschaft schwebenden dipsychischen Zustandes […], über den zwischen uns eher leichte Worte hingeflogen sind, während diese Dinge doch eine furchtbare und aufgerissene Seite haben“; Rudolf Borchardt an R. A. Schröder, 23.2.1902, in: Borchardt/Schröder, Briefwechsel 1901–1918 (2001), 40. 625 Ott (1987), 310. 626 Dies wird z. B. in der Besprechung von R. A. Schröders Horaz-Übersetzung deutlich: „Schröder hat die gesamte ihm zugängliche gelehrte Arbeit lernend und prüfend in sein Werk einbezogen. Daß sein Erlebnis und seine Auffassung von ihr nicht bestimmt sein konnte, und warum nicht, liegt auf jeder Seite seiner Übersetzung zutage. Die Philologie hat gewiß viele Lücken seiner technischen Vorbereitung ausfüllen müssen – er hat es ihr nicht besser verdanken können als durch das Werk, das in ihre großen Lücken tritt, und das den Dichter, in einem andern als dem kritischen Sinne herstellt. Denn die Wissenschaft bedingt ihn, wie sie nicht anders kann und darf “; Borchardt, Schröders Horaz (1937), 316. 627 Zur Biographie Schröders s. u. S. 259 Anm. 96. 628 Vgl. Schröder, Nachwort [zu Cicero, Cato] (1924), 65. Schröder verweist an dieser Stelle explizit auch auf die Prosaschriften Rudolf Borchardts, in denen sich „grossartige Ansätze“ zu einer Beschreibung jener Verfallstendenzen fänden. 629 S. Schröder, Nachwort [zu Cicero, Cato] (1924), 66.
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machen und damit die lateinische Literatur gegenüber der griechischen abzuwerten, habe die Wissenschaft zu verantworten: Ihr, der Verursacherin jenes Irrtums, müsste zu diesem Behuf eine andere Instanz in der Person des dichterisch Aufnehmenden und Reproduzierenden, ihr müsste mit einem Wort der Dichter selbst zur Seite treten, insofern er sich als den Verwalter des geistigen Gesamterbes fühlt, der er seinem innersten Berufe nach ist.630
Somit sind auch bei Schröder die schöpferisch-restaurativen Fähigkeiten des Dichters gefragt, um „verdunkeltes und entfremdetes Geistesgut wieder in eine lebendige und mitteilsame Helligkeit vor die Augen jener zu rücken, die seine gültigsten und wirksamsten Beurteiler und Verbraucher sind, nämlich der unwissenschaftlichen Leser“631. Hofmannsthal632 hebt in seiner Rezension Ein deutscher Homer von heute von 1912 die restaurative Wirkung von Schröders Odyssee-Übersetzung hervor. Gerade weil sie aus einer Sphäre „künstlerisch-sittlichen Strebens inmitten einer allseitigen diffusen, ja chaotischen Betätigung“ hervorgegangen sei, sei es um so erfreulicher, „je anonymer und verdeckter sie, als ein Wirksames innerhalb unseres Volkes scheinbar auseinanderliegende Elemente zu binden und den Zusammenhang mit den reinen Bestrebungen früherer deutscher Epochen zu beleben vermögen wird.“633 Die konzeptionelle Nähe Borchardts, Schröders und Hofmannsthals zeigt sich auch in der Ausprägung ähnlicher Begrifflichkeiten. So proklamierte Hofmannsthal in seiner Münchner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von 1927 eine „konservative Revolution“, mit der er für die Integration überkommener Werte in eine neu zu schaffende Ordnung plädierte. Schröder wiederum bezeichnete sein übersetzerisches Vorgehen im – erst 1943 erschienenen und damit rückblickenden – Nachwort zu seiner Ilias-Übertragung als „Repristination“. Er meint damit den übersetzerischen Rückgriff auf ältere Sprachstufen des Deutschen, durch den er aber letztlich eine „Verjüngung“ der deutschen Sprache erzielen will.634 In der konkreten Übersetzungspraxis zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede. Während Borchardt bei der Übertragung antiker Werke sein streng am Ausgangstext orientiertes und auf konsequentes Archaisieren angelegtes Übersetzungskonzept voll zur Geltung bringt, verfährt Schröder – zwar immer noch nahe am Original _____________ 630 Schröder, Nachwort [zu Cicero, Cato] (1924), 67. 631 Schröder, Nachwort [zu Cicero, Cato] (1924), 67. 632 Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) hatte in Wien zunächst Jura, dann Romanistik studiert und 1899 seine Promotion abgelegt. Nach seiner Entscheidung gegen eine akademische Karriere – 1901 zog er seine bereits eingereichte Habilitationsschrift zu Victor Hugo wieder zurück – lebte er als freischaffender Schriftsteller in Rodaun bei Wien. Ein von zahlreichen Spannungen begleitetes Verhältnis verband ihn seit 1892 mit Stefan George; 1906 kam es jedoch zum Bruch. Neben zahlreichen eigenen dramatischen Werken, in denen er häufig auch antike Stoffe verarbeitete, schuf Hofmannsthal freie Übertragungen der Euripideischen Alkestis (1898 bzw. 1909) (s. auch o. S. 214 Anm. 523) sowie der Sophokles-Tragödien Elektra (1903) und König Ödipus (1910). Daneben wurden Dramen Molières und Calderons von ihm ins Deutsche übertragen. 633 S. Hofmannsthal, Ein deutscher Homer von heute. „Die Odyssee“ Deutsch von Rudolf Alexander Schröder (1912), 104. 634 S. auch u. S. 262.
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bleibend, doch mit Rücksicht auf den Leser – wesentlich moderater. Hofmannsthal schließlich verwirklicht vom Konzept der schöpferischen Restauration in seinen Bearbeitungen griechischer Tragödien vor allem die eigenständige, schöpferische Dimension, enthält sich dabei jedoch ganz archaisierender Stilisierung.635
_____________ 635 In seiner Alkestis-Bearbeitung hält Hofmannsthal zwar an Stoff, Personal und Szenenabfolge der Euripideischen Tragödie fest, durch Kürzungen, Aufgabe des Originalmetrums, größtenteils eher resümierende Wiedergabe der Sprechszenen sowie durch Verwendung einer eigenen poetischen Sprache erfährt das Stück jedoch eine vollkommen neue Akzentsetzung gegenüber dem Ausgangstext. Zu Hofmannsthals Bearbeitungen der Sophokles-Tragödien vgl. Steingruber (1956).
Von 1927 bis zur Gegenwart Nina Mindt
Übersetzungstheorie seit 1927: Überblick Die Theorie der Übersetzung antiker Literatur wird in den folgenden Kapiteln in einer Verbindung von chronologischem Nachvollzug und thematisch-systematischer Gliederung dargestellt. Die Diskussion über das Übersetzungsproblem antiker Literatur seit 1927 – dem Jahr des ersten dezidiert übersetzungstheoretischen Beitrages von Wolfgang Schadewaldt – bis in die fünfziger Jahre wird im Kapitel „Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft“ aufgearbeitet. Erst in den sechziger Jahren kam es zu einem durch den Generationenwechsel entscheidend mitbedingten Umbruch an gesellschaftlichen Wertvorstellungen und wissenschaftlichen Paradigmen. Dieser Einschnitt ist für die Antikerezeption und für die Theorie der Übersetzung antiker Texte folgenreicher als die politischen Zäsuren der vorausgegangenen dreißig Jahre. Im Jahr 1960 fand zudem eine Grundsatzdebatte auf dem Artemis-Symposion zwischen Wolfgang Schadewaldt und Emil Staiger statt, deren Positionen im Kapitel „Dokumentarische und transponierende Übersetzung“ erläutert werden. Der Tatsache, dass Schadewaldts Konzept des dokumentarischen Übersetzens für die griechische Tragödie großen Einfluss erlangte, jedoch nicht die einzig anerkannte Strategie im Umgang mit Theatertexten war, wird im Abschnitt „Übersetzungsreflexionen zu antiken Dramen seit 1945“ Rechnung getragen. Eine besondere Behandlung aufgrund der kulturpolitischen Bedingungen erfordern die übersetzungstheoretischen Positionen in der DDR (s. Kapitel „Übersetzungsreflexionen in der DDR“). Die Frage, inwieweit lateinische und griechische Texte dokumentarisch übersetzt werden können, bleibt in der Diskussion über das Übersetzen antiker Literatur bis in die Gegenwart aktuell. Zwar begann sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Disziplin der Übersetzungswissenschaft zu entwickeln, deren Ansätze in der allgemeinen Diskussion des Übersetzens eine Verschiebung weg von der literarischen Übersetzung hin zu sprachwissenschaftlichen Aspekten bewirkten. Neben vereinzelten Applikationsversuchen linguistischer Modelle in der Klassischen Philologie wurde und wird die Übersetzung antiker Literatur allerdings meist in traditioneller Form weiterverhandelt. Diese widersprüchlichen Tendenzen werden im Kapitel „Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren“ behandelt, das zunächst die Diskussion über die Übersetzung lateinischer Texte aufbereitet und mit Reflexionen zur Homerübersetzung am Beginn des 21. Jahrhundert endet. Die Übersetzungsdiskussion, die im Umfeld der Klassischen Philologie geführt wurde – von Klassischen Philologen, von Vertretern anderer Philologien (v. a. von Germanisten) oder von den Übersetzern antiker Texte, die aus einem anderen Bereich (z. B. vom Theater) kommen –, nimmt nicht immer auf Entwicklungen anderer Disziplinen Bezug. Einige für die deutsche Geistesgeschichte wichtige Texte, die sich auch dem
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Übersetzungstheorie seit 1927
Übersetzungsproblem widmen, wie die der Bibelübersetzer Martin Buber und Franz Rosenzweig oder des Philosophen Martin Heidegger, sind von Übersetzern antiker Literatur nur marginal rezipiert worden und finden in deren Reflexionen kaum Niederschlag.1 Einzig auf Wolfgang Schadewaldt haben die Ansichten Heideggers merklich Einfluss ausgeübt.2 Dass Vertreter der linguistischen Übersetzungswissenschaft und Theoretiker der Übersetzung antiker Literatur weitestgehend keine Notiz voneinander genommen haben, wurde bereits angedeutet.3 Erstaunlicherweise hat sich außerdem die Neuausrichtung der Hermeneutik in den sechziger Jahren nicht nachhaltig auf die Diskussion über die Übersetzung antiker Literatur ausgewirkt. Zwar stellt Gadamer, der selbst Werke des Aristoteles übersetzt hat,4 in Wahrheit und Methode (1960) die Sprache und damit auch den Sonderfall des Dolmetschens bzw. Übersetzens als Medium hermeneutischer Erfahrung und die Übersetzung als Verdopplung des hermeneutischen Vorgangs dar.5 Und Übersetzer antiker Autoren scheinen sich auch darin einig, dass sie den Rezipienten einen Vermittlungsdienst leisten müssen. Doch die Reflexionen zum Übersetzen antiker Texte setzen meist erst nach dem Schritt des Verstehens ein oder sind vorgadamerscher Hermeneutik verpflichtet.6 Die Frage Schleiermachers, ob für den Rezipienten der Verstehensprozess durch die Art der Übersetzung nachgezeichnet werden soll oder nicht, wird gar nicht erst gestellt. So werden die Überlegungen Schleiermachers von ihrem hermeneutischen Hintergrund gelöst: Sie dienen nunmehr lediglich als prägnante Formulierung einer realen Alternative zweier Übersetzungsmethoden, die Schleiermacher im Rahmen seiner Überlegungen als eine bloß scheinbare aufgestellt und erwiesen hatte.7
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S. o. S. 10. Heideggers Übersetzungsreflexionen werden im Zusammenhang mit ihren Spuren bei Schadewaldt dargestellt, s. u. S. 279–282 und 288. Zur Ausrichtung der neueren literaturgeschichtlichen Übersetzungsforschung und Einzelstudien zu Übersetzungen antiker Autoren s. o. S. 9 f. Gadamer, Aristoteles: Metaphysik 12 (1948); ders., Aristoteles, Nikomachische Ethik VI (1998). Im Vorwort zur letztgenannten Übersetzung deutet er die Verbindung von Interpretation und Übersetzung an: „Auch war ich gezwungen, die Übersetzung ins Deutsche selber zu übernehmen, damit meine Erläuterungen dazu passen.“ Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 387–393, v. a 389: „Das Angewiesensein auf die Übersetzung des Dolmetschers ist ein Extremfall, der den hermeneutischen Vorgang, das Gespräch, verdoppelt: es ist das des Dolmetschers mit der Gegenseite und das eigene mit dem Dolmetscher.“ Zu Gadamers philosophischer Hermeneutik in Verbindung mit dem Problem des Übersetzens vgl. Sallis (2000) und Müller-Vollmer (2004), 145–147. Beispielsweise Wolfgang Schadewaldt, s. u. Anm. 187. Vereinzelt werden in der Philosophie und der Übersetzungswissenschaft hermeneutische Perspektiven auf das Übersetzungsproblem eingenommen; s. Büttemeyer/Sandkühler (2000) und Stolze (2003).
Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft Die Übersetzungsdiskussion weist seit dem Ende der zwanziger Jahre bis in die fünfziger Jahre hinein deutliche Kontinuitäten auf, obgleich sie unter sehr verschiedenen zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen (Ende der Weimarer Republik, Zeit des Nationalsozialismus, Nachkriegszeit) stattfand; sie setzt aber auch die Auseinandersetzungen der vorausgegangenen Jahrzehnte fort.8 Die Reflexionen zum Übersetzen antiker Literatur gehen in diesem Zeitraum von bereits formulierten Positionen oder von Urteilen über die Übersetzungspraxis selbst aus. Oftmals werden in der Diskussion darüber, welche Methode des Übersetzens anzuwenden sei, nur verschiedene neue Terminologien auf alte Fragestellungen übertragen. Auch wenn häufig Übersetzungsgeschichte betrachtet wird, handelt es sich dennoch nicht um rein historisch-deskriptive Untersuchungen; vielmehr bestimmen zeitgenössische Literaturtheorie und Dichtungsauffassung den Übersetzungsdiskurs maßgeblich. Drei Strömungen prägen die damalige Situation: Erstens wird häufig einer irrationalistisch-individualistischen Genieästhetik gehuldigt, zweitens wird vom „Völkischen“ gesprochen, drittens kommt es zu einer Konjunktur des formalen Aspekts (Form und Stil).9 Zugunsten der Genieästhetik wird oft auch eine rationale Theoriebildung bezüglich der Übersetzung aufgegeben, und zwar nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft.10 Eine zentrale Frage, die damit verbunden ist, lautet: Wer soll und darf antike Literatur übersetzen? Die von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und seinen Kritikern entfachte Diskussion11 wird weitergeführt: Soll der Übersetzer Philologe oder Dichter sein? Aus diesem Blickwinkel wird das Übersetzen als Tätigkeit im Grenzbereich zwischen Dichtung und Philologie abgehandelt, als ‚Übersetzungskunst‘. Die ‚Historismuskrise‘ bzw. ‚Humanitätskontroverse‘ ist noch immer aktuell.12 Denn den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit antiken Texten und ihrer Übersetzung _____________ 8 9 10
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S. o. S. 209–235. Einen Überblick über die damaligen Ansätze der Literaturtheorie bietet Hermand (1968). Fast überall finden sich Bemerkungen, dem Übersetzen sei mit Theorie nicht beizukommen; s. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 523 sowie 537; Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 33; Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 192; Snell, Vom Übersetzen aus den alten Sprachen (1939), 330; Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 17; Bayr, Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947), 73; Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 637. S. auch S. 221 ff. Zur ‚Historismuskrise‘ bzw. ‚Humanitätskontroverse‘ seit dem späten 19. Jahrhundert vgl. Schiller (2006).
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bildet einerseits humanistisch-überzeitliches Interesse13 (nicht unbedingt immer in der Prägung des ‚Dritten Humanismus‘14), andererseits rein ästhetisches. Die wissenschaftliche Notwendigkeit, Erkenntnisse der historischen Antikeforschung auch in Praxis und Theorie des Übersetzens zu berücksichtigen, hat das Problem der Übersetzung gerade für klassische Philologen noch verschärft.15 Bei anderen aber wird eine historische Betrachtungsweise der Antike abgelehnt,16 stellenweise wird gewollt ahistorisch argumentiert.17 Das Hauptgewicht der Übersetzungsreflexionen liegt vorrangig auf Problemen, die Übersetzung von Dichtung betreffen; ihr künstlerisch-schöpferischer Aspekt wird betont.18 „Erleben“ und „Erlebnis“19 oder ähnliche Formulierungen, die auf ein sympathetisches Moment des Übersetzens verweisen, werden häufig als Voraussetzung zum Gelingen einer Übersetzung genannt. Gemeinsam ist vielen Beiträgen der Gedanke der Erneuerung20 oder Renaissance21. Dafür wird nach der richtigen ‚Form‘ gesucht, die die Übersetzung annehmen soll und zwar unter Verwendung von Begriffen wie der ‚inneren Form‘, des ‚Symbols‘ und des ‚Stils‘. Für die Jahre 1920 bis 1945 kann somit für die Übersetzungstheorie auch eine Parallele zur Tendenz der klassisch-philologischen Forschung beobachtet werden, die – in Anschluss an die allgemeine Literaturtheorie – neben ‚Innerer Form‘, ‚Gestalt‘ und ‚Idee‘ verstärkt das Singuläre des Kunstwerks ins Zentrum rückte.22 Teils ist ein Anknüpfen an ästhetische Positionen des Jahrhundertanfangs, an Friedrich Nietzsche und Stefan George und vor allem an den Form-Begriff Rudolf Borchardts zu beobachten,23 teils wird die Sprache, insbesondere im Gefolge Heideggers, mit ontologischer Bedeutung befrachtet. Zudem war _____________ 13 14
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Eine Verbindung von Humanismus- und Übersetzungsthematik unternahm bereits Eduard Fraenkel (1919). Zu den verschiedenen Kreisen des Humanismusdiskurses (Berlin: Jaeger, Dilthey, Spranger; Heidelberg: George-Kreis; Hamburger Warburg-Institut; Heidegger-Kreis: Schadewaldt, H. Kuhn, G. Krüger) und deren personellen und konzeptuellen Überschneidungen vgl. Schiller (2006), 73 f. S. Regenbogen, Original oder Übersetzung (1926), 59 f., sowie Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 531. S. o. S. 209–220 sowie Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 26 f.: „Diese Wandlungskraft aber besitzen nun eben nicht Zeiten und Menschen des historischen Relativismus, die alles verstehen, und eben dadurch keines erfassen, sondern allein die großen starken Menschen, die eine Sicherheit des Eigenen besitzen, aus der heraus sie annehmen und verwerfen. Diese Sicherheit aber liegt vor und diesseits allen objektiven Forschens. Und in ihr allein liegt die Kraft der re-naissance. Der aufgeklärte Nikodemus, der über das Problem der Wiedergeburt grübelt, wird sie nicht erleben können.“ S. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 7–9; ders., Fragen des künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1942), 71. S. o. S. 220, 223 sowie 229–235. Beispielshalber Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 533, oder Rüdiger, Geschichte der deutschen Sapphoübersetzungen (1934), 50 f. V. a. bei Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 25–33; s. auch Rüdiger, Geschichte der deutschen Sappho-Übersetzungen (1934), 6. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 198; s. auch Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 25–28. Vgl. die Darstellung bei Latacz (2002), 272–274. Zu Borchardt und Hellingrath im Zusammenhang mit der ‚inneren Form‘ s. o. S. 228.
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‚Stil‘ insgesamt eine wichtige Kategorie für literaturwissenschaftliche Darstellungen der Zeit, etwa für stilgeschichtliche Untersuchungen,24 in Anlehnung an die Verwendung des Begriffes in der Kunstgeschichte.25 Den Stil gelte es nun in der Übersetzung zu wahren oder neu zu erschaffen und den Bedürfnissen der Sprache der eigenen Zeit anzupassen. So rücken Anforderungen, die die deutsche Sprache an eine Übersetzung stellt, in den Mittelpunkt, wie bei dem Germanisten Richard Newald. Wolfgang Schildknechts und vor allem Rudolf Bayrs Ausführungen weisen noch deutlicher auf die Erfordernisse des Deutschen hin. Außerdem zeigen die beiden zuletzt Genannten, dass Übersetzungstheorie nun in Dissertationen abgehandelt zu werden beginnt.26 Die Übersetzung antiker Literatur ist damit endgültig als ein Gegenstand der neueren Philologien etabliert.27 Gleichsam als ein Idealfall für künstlerische Ansprüche an eine deutsche Übersetzung kann Rudolf Alexander Schröder gelten. Seine Übersetzungstätigkeit begann zwar bereits deutlich früher und ist im Kontext der Borchardt’schen „schöpferischen Restauration“28 zu verstehen, Schröder nahm allerdings erst später ausführlich zu seinem Übersetzungsverfahren Stellung. Außerdem gehört er auch insofern in den Zeitraum dieses Kapitels, als seine Übersetzungen in den dreißiger Jahren Reaktionen Klassischer Philologen wie Bruno Snell und Otto Regenbogen hervorriefen, die in ihren Rezensionen allerdings auch grundsätzlichere Stellungnahmen abgaben. Die Vertreter der Klassischen Philologie äußern sich ansonsten außerhalb von Rezensionen und Übersetzungskritiken selten in theoretischen Abhandlungen. Wolfgang Schadewaldt, der als Klassischer Philologe das Problem des Übersetzens in seiner Berliner Antrittsvorlesung 1927 zum Thema machte, bildet in seiner dezidiert theoretischen _____________ 24
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In seiner einflussreichen Arbeit Die Wesensbestimmung der Romantik operiert der Literaturwissenschaftler Petersen (1887–1941) mit den Begriffen „Stilkunde“, „Personalstil“, „Nationalstil“, „Zeitstil“, „Stilbeschreibung“, „Stilvergleichung“, „Stilgefühl“, s. Petersen (1926), 63–115. Er nennt eine lange Reihe grammatikalischer und formaler Elemente, die die Gesamtheit des Stils ausmachten (s. ebd., 79). Petersen beginnt bezeichnenderweise mit dem Phänomen des Übersetzens, um sich dem Stilproblem zu nähern (ebd., 64–67). Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 193 und 206, beruft sich explizit auf ihn. Fritz Strich ist in seiner Arbeit Deutsche Klassik und Romantik (1922) H. Wölfflin und dessen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen verpflichtet und überträgt dessen Methoden auf die Literaturwissenschaft. Die Bedeutung des Stils fasst Strich (ebd., 3) so: „Die Geschichtswissenschaft also, welche den Gestaltenwechsel des Geistes darstellen möchte, ist Stilgeschichte.“ Auch der Germanist Friedrich Beißner (1907–1977) beschäftigte sich in seiner Dissertation mit dem Übersetzungsproblem antiker Literatur: Beißner hatte Deutsche Philologie und Klassische Philologie ( Jena, Berlin, Göttingen) studiert und promovierte 1932 mit der Arbeit Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, die von dem Gräzisten Hermann Fränkel betreut wurde und für die HölderlinPhilologie wichtig war (s. o. S. 229). Übersetzungstheoretische Äußerungen finden sich allerdings kaum darin. Nach der Habilitation 1941 begann Beißner seine neue Maßstäbe setzende HölderlinEdition, für die er eine neue, bald auch anerkannte Methode entwickelte und die fortan einen seiner Forschungsschwerpunkte bildete. 1945 wurde er als außerordentlicher Professor auf den sog. Hölderlin-Lehrstuhl in Tübingen berufen. Zu den Anfängen der germanistischen Beschäftigung mit Übersetzungen antiker Literatur s. o. S. 95– 105. S. o. S. 229–235.
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Ausrichtung gewissermaßen eine Ausnahme. Seine Ausführungen machen aber deutlich, dass die in den oben erwähnten Beiträgen geführte Diskussion bereits 1927 im Gange war. Schadewaldt setzte sich daher kritisch mit rein genieästhetischen Übersetzungspostulaten auseinander, die sich bisweilen von einer Verpflichtung dem antiken Original gegenüber lösten. Eine eher vermittelnde Position außerhalb der Klassischen Philologie nimmt der Germanist Horst Rüdiger ein, auch wenn er stärker noch als Schadewaldt auf das Künstlerische abhebt. Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Übersetzungsauffassungen werden im Folgenden dargestellt.
Wolfgang Schadewaldts Vortrag Das Problem des Übersetzens (1927) Wolfgang Schadewaldt29, der später einer der bedeutendsten Theoretiker der Übersetzung antiker Literatur werden sollte, setzte sich bereits in seiner Berliner Antrittsvorlesung als Privatdozent im Jahre 1927 mit dem Problem des Übersetzens auseinander.30 Das ist auch der Grund dafür, warum das Jahr 1927 als Kapitelzäsur gewählt wurde. Schadewaldts Darlegung, über weite Strecken übersetzungsgeschichtlich angelegt, mündet hier allerdings noch nicht primär in eigene Übersetzungsvorschriften. Aber er versteht das Übersetzen – wie Wilamowitz – als Teil der Klassischen Philologie31 und bezieht somit in einer Diskussion, in der die Wissenschaftlichkeit und das antike Original zunehmend in den Hintergrund geraten, eine klare Position. Als idealen Übersetzer entwirft Schadewaldt eine Person, die Eigenschaften des Künstlers und des Philologen zugleich besitzt. Höchste Vollendung könne gelingen, „wo sich bedeutendes Wissen und ursprüngliches Schöpfertum vereint in den Dienst der Idee des Vorbildes gestellt haben.“32 Den eigentlichen Zweck einer Übersetzung sieht Schadewaldt demnach auch nicht vorrangig in einem Hilfsmittel für diejenigen, die die Sprache nicht beherrschen. Wie etwa Humboldt gesteht er Übersetzungen zwar auch diesen Nutzen zu, „[d]och ist ihre eigentliche Aufgabe die gleiche, der auch die höhere wissenschaftliche Arbeit dient: die Erkenntnis und Fruchtbarmachung des hellenischen Wesens“ (ebd.). Er diskutiert die Legitimation des Übersetzens folgendermaßen: Der Übersetzer aber, der aus solchem [scil. historischem] Verstehen heraus zu übersetzen hat, befindet sich den griechischen Vorbildern gegenüber in einem Verhältnis weit komplizierterer Verantwortlichkeit als vor einem Jahrhundert. Die Suche nach der Art des Übersetzens tritt ihm zurück hinter die Suche nach dem Rechte, und eben die erkannte und zugegebene Unmöglichkeit alles werthaften Übersetzens muß sich ihm umformen in die Erkenntnis der Notwendigkeit seines Tuns. Mit welchem Rechte darf er praktisch eine Tätigkeit unternehmen, die er theoretisch für unvollziehbar halten muss? (531 f.)
Schadewaldt gelangt zu dieser Problematisierung, indem er zum einen die Geschichte der Übersetzungstheorie und deren Einsichten nachvollzieht und zum anderen den Stand der Forschung berücksichtigt, die die Antike nun differenzierter sehe. _____________ 29
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Wolfgang Schadewaldt (1900–1974) hatte seit 1919 in Berlin, unter anderem bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Werner Jaeger, Gustav Roethe und Eduard Spranger, Klassische Philologie und Germanistik studiert. Nach der Promotion 1924 (Monolog und Selbstgespräch) habilitierte er sich 1927 mit der Arbeit Der Aufbau des Pindarischen Epinikion. Zum Zeitpunkt des hier behandelten Vortrags hatte er selbst noch keine Übersetzungen veröffentlicht. Zu seinem späteren Wirken und seiner späteren Übersetzungstheorie s. u. S. 277–297. In einem ausführlichen Rezensionsartikel von 1926 unternahm Schadewaldt bereits Vorüberlegungen, die sich in der Rede 1927 wiederfinden, s. Schadewaldt, [Rez. zu] Euripides Medea, übersetzt von Demmler, Euripides Alkestis, übertragen von Rupé (1926), v. a. 356–359. S. o. S. 196–207. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 536. Im Folgenden werden die Seitenzahlen, die sich auf diesen Text beziehen, direkt zum Zitat gesetzt.
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Er verweist auf die Relevanz, sich mit der griechischen Literatur zu beschäftigen,33 und begründet so auch die Motivation des Übersetzens: Der Antrieb zum Übersetzen entspringt, wo sich unter dem Eindruck der erlebten Werthaftigkeit des Originals ein Kulturwollen einer Kulturnorm zuneigt und unterordnet. (533)
Die Frage nach dem Wert des Übersetzens beantwortet Schadewaldt mit dem hohen künstlerischen Anspruch, wobei die Verpflichtung gegenüber dem griechischen Original die „Regulative“ (532) bildet: Übersetzung ist nicht Kopie, sondern schöpferische Tat. Identität ist ihr nicht gegeben. Das Höchste, das sie für sich beanspruchen kann, ist, dem Vorbild wesensähnlich zu sein; und doch darf die schöpferische Nachbildung eines als werthaft empfundenen Werkes nur vermöge ihres Strebens zur Wesengleichheit mit dem Urbild Übersetzung heißen. […] Alles werthafte Übersetzen ist schöpferisch getätigter Wille zur Selbstgestaltung, und die Übersetzung bestimmt sich uns als Objektivation des Vollzugs solcher geistiger Selbstgestaltung. (532 f.)
Mit dieser Hochschätzung des griechischen Originals zeichnen sich bereits die Wege zu Schadewaldts späterem Konzept der dokumentarischen Übersetzung ab. Während er dazu genauere Regeln formulieren wird, verweist er hier nur allgemein auf die Notwendigkeit, die „Idee“ bzw. das „Symbol“ des Originals wiederzugeben:34 [A]ls verwirklichte Erkenntnis der Idee des Vorbildes wahr und lebendig zugleich, zeugt sie [scil. die Übersetzung] von ihrem Gestalter als dessen Werk, von dem Vorbild als Symbol seines Wesens. Symbolgestaltung, das ist alles wahre Übersetzen. (535)
Als Ideal formuliert er weiter: Und nur wo eine Übertragung aus dem Griechischen im Prinzip ihres Daseins so vollkommen zur griechischen Literatur gehört, wie sie in ihrer sinnlichen Erscheinung der Sprache und Literatur des Übersetzers entstammt, hat sie ein Recht da zu sein. (ebd.)
Hier und an weiteren Stellen verwendet Schadewaldt Gedanken und Formulierungen Rudolf Borchardts, ohne ihn namentlich zu nennen.35 So spricht er auch von „künstlerischer Form (künstlerisch im weiteren Wortsinne begriffen)“ – oder später _____________ 33
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Vgl. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 531. Schadewaldt war, wie andere bedeutende Philologen der Zeit, etwa Richard Harder und Otto Regenbogen, vom ‚Dritten Humanismus‘ beeindruckt. Zum Dritten Humanismus vgl. überblicksartig Fritsch (1993) und Landfester (1999). Diese Bewegung aus den zwanziger und dreißiger Jahren, deren wissenschaftlicher Hauptvertreter Werner Jaeger war, trug stark normative, hellenozentrische Züge. Der ‚Dritte Humanismus‘ versuchte, als im Wesentlichen konservative Antwort auf die komplexe Krisensituation der zwanziger Jahre und als Reaktion auf die zunehmende Distanzierung von der Antike, wieder eine umfassende Beziehung zwischen Altertum und Gegenwart herzustellen und bemühte sich noch einmal, die Antike als gesellschaftliches Leitbild auszuweisen; vgl. Riedel (2000), 257. Zu Schadewaldts späteren Äußerungen zu Schule und Bildung s. u. S. 282 ff. und im Literaturverzeichnis. Somit bindet er die Übersetzung durch einen platonischen Zug ans Original zurück; denn die ‚Idee‘ versteht Schadewaldt „im Sinne Platons – als anschaulich-geistiges Prinzip der Form“; Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 535. Die Begriffe ‚Idee‘ und ‚Symbol‘ sind außerdem auch Resultat von Schadewaldts intensiver Beschäftigung mit Goethe. Schadewaldts Untersuchungen zu Goethe sind später in seinen Goethestudien (1963) gesammelt erschienen. Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 50. Für diese Hinweise danke ich Katja Lubitz.
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sogar von der „inneren Form“36 – und ihrem Wechselwirken mit dem „Stoff “37. Ein Übersetzer solle die eigene Sprache und den eigenen Geist dem fremden gestaltenden Geiste darbieten als einen bildsamen Stoff, so daß er sich gleichsam fremd gegenübertritt, und diese Wirkung der fremden Form festhalten in lebendiger und fortzeugender Wirklichkeit: der Übersetzung. (532)
Mit Begriffen wie dem der ‚Bildsamkeit‘ und des ‚Fremden‘ stellt sich Schadewaldt ebenso – nicht immer durch Zitationsweise ersichtlich – in eine Traditionslinie mit Humboldt, Schleiermacher, außerdem mit Goethe und Novalis.38 Über die Positionierung auf der Seite dynamischer Sprachauffassung und einer Übersetzungsauffassung hinaus, die das Fremde des Originals beachtet, formuliert Schadewaldt allerdings noch keine konkreten Forderungen an eine Übersetzung.
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Schadewaldt, Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955), 569. S. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 530: „Die künstlerische Form erfüllt sich selbst durch die Ganzheit ihrer Erscheinung, eine Ganzheit, die auch im Fragment noch zu wirken vermag, die sich vielleicht zerstücken und wieder zusammensetzen, aber nie auflösen und in fremdem Stoffe neu verbinden läßt. Denn der künstlerische Gedanke wächst nicht minder aus dem Stoff hervor, wie er bestrebt ist, sich den Stoff zu unterwerfen. Was wir Stoff nennen, ist in Wahrheit die erste dumpfe Werdestufe der Form; was uns als Form gilt, ist wieder Stoff einer höheren, umfassenderen Formung.“ Auch hier übernimmt Schadewaldt Formulierungen von Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905), 27. Als Schleiermacher’sches Element tritt neben der Vorstellung des Fremdbelassens etwa die grundlegende Unterscheidung zwischen „(Ver-)Dolmetschen“ und „eigentlichem Übersetzen“ auf, s. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 525. Schadewaldt verwendet den Goethe’schen Begriff „Substrat“ bei der Billigung des „Dolmetschens“ für Übertragungen, denen es um den reinen Inhalt geht (ebd., 525). Novalis’ Diktum vom Übersetzer als „Dichter des Dichters“ findet sich ebd., 535. Zu Schleiermacher und Goethe s. o. S. 60 f.
Exkurs: Übersetzung im ‚Dritten Reich‘ Nationalistische Einstellungen hatten keine unmittelbaren Veränderung in der Übersetzungstheorie ergeben und sich – von zeittypischen Terminologien abgesehen (etwa „deutscher Geist“, „Volk“ u. ä.), die sich in vielen Abhandlungen des Zeitraums finden – kaum in die Übersetzungsdiskussion antiker Literatur eingeschrieben. Von einer dezidiert nationalsozialistischen Übersetzungstheorie kann daher nicht gesprochen werden. Vielmehr gerät die romantische Auffassung vom Volkscharakter der Sprachen und von der Fremdheit der übersetzten Sprache auf doppelbödiges Terrain.39 Einzig bei Randfiguren lassen sich direkte Auswirkungen feststellen: Im Vorwort zu Die „Germania“ des Tacitus. Eine deutsche Übersetzung nach neuen Gesichtspunkten (1933) des Studiendirektors Paul Gerhardt Beyer etwa findet seine nationale Gesinnung bis in übersetzungstheoretische Äußerungen hinein Niederschlag.40 Der Münchener Literat Leopold Weber (1866–1944), regelmäßiger Beiträger im Kunstwart,41 veröffentlichte 1935/36 einen Auszug aus seiner Odyssee-Übersetzung, die 1936 vollständig publiziert wurde. Die im Kunstwart abgedruckten Werbeanzeigen loben, es sei ihm gelungen, die Odyssee „aus antikem Gefäß in eine arteigne deutsche Form umzugießen“42. Hier erhält die Übersetzungsdiskussion eine speziell ideologische Ausformung. Zur „Deutschheit“ einer Übersetzung (in Abgrenzung zu Übertragung und Nachdichtung) äußert sich überdies Hjalmar Kutzleb, bei dem die übersetzerische Grundregel folgende Gestalt annimmt: „dem Urwort so treu wie möglich zu bleiben und doch so deutsch wie möglich zu reden“43.
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Vgl. Sturge (2004), 202. Zum Übersetzen im Dritten Reich (allerdings ohne besondere Berücksichtigung der antiken Sprachen) vgl. dies. (2007). S. Beyer, Vorwort [zu Tacitus, Germania] (1933), 5: „Richtlinie der deutschen Übersetzung muß selbstverständlich bleiben, den wahren Sinn des fremden Textes zu treffen, zum Ausdruck zu bringen, was der fremde Schriftsteller uns sagen will. Man muß sich in die Seele und das Gedankenreich des Landfremden hineinversetzen und muß dann übertragen mit den reichen, überreichen Mitteln unserer schönen Muttersprache. Niemals ist unser Deutsch zu arm, zu unreichend gewesen, in seiner Weise zu sagen, was in fremden Zungen geschrieben wurde.“ Ab 1935 hatte der Kunstwart den Untertitel Deutsche Zeitschrift. Zweimonatshefte für eine deutsche Volkskultur. Deutsche Zeitschrift 49, 5/6 (1936). Ebd.: „Homers unsterblicher Heldengesang ist durch Webers kühne Tat dem deutschen Volke seelisch und künstlerisch neu erobert worden.“ Es wird auch aus Rezensionen von F. Wippermann im Völkischen Beobachter und M. Dingler in der Völkischen Kultur zitiert. Kutzleb, Übersetzen (1941), 342. Sein Artikel, in dem er eine eigene Übersetzung der Alkestis des Euripides in Reimen präsentiert, ist im „43. Jahrgang des Deutschen Volkstums“ der Monatsschrift für das deutsche Geistesleben erschienen.
Wolfgang Schildknecht, Rudolf Bayr und Richard Newald Wolfgang Schildknecht 44 stellt sich in der bekenntnishaften Einleitung seiner Dissertation Deutscher Sophokles (1935) auf die Seite Borchardts und des George-Kreises (George, Gundolf, Hellingrath).45 Er setzt damit die Kritik der Wilamowitz-Gegner fort.46 Wilamowitz erscheint bei Schildknecht als repräsentativer Vertreter der Philologie – wo doch seine Übersetzungspraxis gerade nicht als typisch philologisch gelten kann. Die Parteinahme für Borchardt und George als Dichter gegen die Philologie hat Schildknecht aber die konsequente Trennung zwischen Wilamowitz als Philologen und Wilamowitz als Übersetzer versäumen lassen. Keine korrekt rekonstruierte Antike, wie sie die Philologie darbiete, schwebt Schildknecht als Ideal vor; viel wichtiger ist ihm, dass ein Antikebild „zeugungsfähig“ (25) sei.47 Die Vorstellung einer lebendigen, wiedergeborenen oder neu hervorzubringenden Antike schlägt sich auch in Schildknechts emphatischen Gebrauch des Begriffes „Renaissance“ nieder (25 f.). Die Konsequenz daraus ist, dass er sich bei der Metrik gegen Übersetzungen im Versmaß des Originals in der Tradition des 18. und besonders des 19. Jahrhunderts ausspricht.48 Ebenso wie die Beibehaltung etwa griechischer Trimeter wirke auch die Nachahmung der Satzkonstruktion „gekünstelt“ (27). Dass er das gesamte dahinterstehende Konzept ablehnt, wird in folgendem Zitat deutlich: Man hat gemeint, dass gerade solche Werke, die sich bemühen, Fremdes fremd zu belassen und so nichts zu zerstören von der Besonderheit, beste Art der Erneuerung sei. Also die philologisch und historisch einwandfreie Übertragung. Da dies aber, so wird zugegeben, ein Bestreben, das vollkommen zu erreichen unmöglich, so kommt dabei nur eine allgemeine verwaschene an Blutarmut leidende Literatur zutage, von der dann noch geglaubt wird, sie sei imstande, den eigenen Geist zu befruchten und zu erweitern. (18)
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Wolfgang Schildknecht (geb. 1909; Todesjahr unbekannt), Germanist, hatte seit 1930 an den Universitäten Tübingen, Halle, Berlin, Bern und Bonn studiert. 1935 promovierte er bei dem Germanisten Carl Enders in Bonn mit der Arbeit Deutscher Sophokles. Beiträge zur Geschichte der Tragödie in Deutschland. Weiteres ließ sich nicht ermitteln. Schildknechts Vertrautheit mit der übersetzungstheoretischen Debatte ist daraus ersichtlich, dass er u. a. R. Prutz, W. Hertzberg, T. Mommsen, O. F. Gruppe, Fr. A. Lange, R. Borchardt, F. Beißner, U. v. Wilamowitz-Moellendorff, N. Hellingrath und W. Schadewaldt anführt. Ein Auszug aus Schildknechts Dissertationsschrift ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 351–359. S. o. S. 215–220. Die Seitenzahlen hier und im Folgenden beziehen sich auf Schildknechts Dissertation von 1935. Zu Hellingraths, Hildebrandts und Borchardts Hochschätzung der Hölderlin’schen Übersetzungen mit ähnlichen Vorstellungen s. o. S. 227 f. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 25, wendet sich, wie Kurt Hildebrandt und der George-Kreis (s. o. S. 215–220), gegen „historischen Relativismus“. S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 27: „Aus der Nachbildung antiker Metra werden durch den schöpferischen Geist neue Formen; und nur sie sind Leben, nicht aber die sklavisch nachgemessenen Formen.“ S. auch ebd., 24: „Danach ist nun eindeutig, dass Erneuerung Wiedergeburt der Antike ist, nicht aber die sklavische Wiederholung der Äußerlichkeiten.“
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Obwohl auch das Fremde als Fremdes, so Schildknecht, erkennbar bleiben solle, müsse ebenso das Eigene die Übersetzung prägen. Deutlich zeitgebunden ist Schildknechts Verwendung der Adjektive ‚deutsch‘ und ‚germanisch‘ und die Vorstellung einer besonderen geistigen Nähe zwischen Griechen und „Germanen“.49 Für die „Erneuerung“ und „Wandlung“ (25) des Fremden benutzt Schildknecht mit Hinweis auf den Germanisten Fritz Strich im übersetzungstheoretischen Zusammenhang auch die Bezeichnung „Umstilisierung“ (29). Damit ist das verändernde, aneignende Moment beim Übersetzen gemeint, das Schildknecht propagiert.50 Er stellt „die sog. ‚treuen‘“ Übersetzungen, die aber, so Schildknechts polemische Behauptung, schnell altern,51 denjenigen hintan, die er als wirkliche „Erneuerung“ des antiken Textes bezeichnet (30).52 Deren Leistung sieht er darin, „daß einmal die ‚eigenen Formen‘ gewahrt bleiben, dann aber auch eine Umstilisierung vor sich geht und eine ‚neue Form‘ wird“ (31). Als dritte Art, antike Literatur zu übersetzen, führt Schildknecht „verfälschende Umstilisierung“ (30) an. Damit bezeichnet er solche Übersetzungen, die, ohne Treue anzustreben, sich über das Original hinwegsetzen.53 Als verfälschend in diesem Sinne gilt ihm auch die Art, in der Wilamowitz übersetzt hat: Sophokles verbessern nun ist auch die Art der philologischen Übersetzer, indem sie ihn klar machen, rationalisieren, leicht verständlich, biedermännisch im Tonfall, als ob Sophokles ein Biedermann des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen wie diese Übersetzer selber. Ich denke besonders an Wilamowitz. (31)
An Schildknechts Kritik wird ersichtlich, dass sein Ideal einer Übersetzung im Sinne der Erneuerung keinen beliebigen Umgang mit der antiken Literatur erlaubt. Schildknecht führt weiter aus, eine Erneuerung solle nicht, wie die Übersetzungen von Wilamowitz, modern anmuten, Dunkelheiten auflösen oder etwas hinzufügen.54 Auch ein epigonaler Umgang werde dem Original nicht gerecht. So resümiert Schildknecht: Bloße Übernahme von Stoffen, Motiven, Kunstformen ist noch nicht Erneuerung und eben auch nicht die sogenannte (historisch-kritisch-philologisch-objektive) Treue! Die Erneue-
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S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 26: „Immer drängt der Norden zur Antike. Wie die germanischen Heerscharen, die gen Süden führen ihn zu erobern und ihn erwarben um ihn zu besitzen, so drängt noch stets der Deutsche Geist hin zur Vollendung der Antike.“ Schildknecht beginnt das Adjektiv „deutsch“ stets mit einer Majuskel. S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 29: „Jede wirkliche Übersetzung schließt notwendig eine Umstilisierung in sich. Zum völligen Ebenbild des Originals kann sie nicht werden, denn es bedeutet schon Veränderung des Sprachgewandes.“ Zu den „sog. ‚treuen‘ Übersetzungen“ fügt er noch folgende Einschränkung hinzu: „Sie sind nicht ‚treu‘, nicht philologisch-exakt, wie sie selbst glaubten“; Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 30. Ebd., 19, spricht er von der „platte[n] Übertragung“. S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 33: „Nicht genügt ein kühler Intellekt, der dem Fremden gegenüberstehend, es versteht, das bringt allenfalls Übersetzung hervor. Die hinströmende Verschwendung an das Fremde, indem man sich aber dort selbst bewahrt, gebiert die Erneuerung. Aber, rational zu ergründen ist dies so wenig wie der dichterische Schöpfungsakt.“ S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 30 f. Entweder werde dadurch ein gänzlich neues Werk geschaffen (etwa Hasenclevers Antigone), oder die Verfälschung ergebe sich daraus, dass die Verfasser der Übersetzung „Literaten“ statt Dichter seien und daher die Qualität des Originals verfehlten. S. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 32.
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rung besitzt in einem höheren Sinn Treue. Erneuerung ist wesenhafte Aneignung des Fremden, als eines Fremden, zu neuer Formwerdung, durch eine nach Zeit und Raum eigenständige schöpferische Persönlichkeit. (33)
Schildknecht verwendet den Form-Begriff mit Verweisen auf Rudolf Borchardt55 und auf Schadewaldts Vortrag von 1927. Er schließt sich auch Schadewaldts relativierendem Umgang mit dem Terminus ‚Treue‘ an, den er nicht von ungefähr als schwankend kritisiert, um seine eigene Vorstellung einer „höheren Treue“ (30) zu etablieren. Diese erschöpft sich für Schildknecht nicht in der „bloßen rationalen Wort-treue“ (32). So wohnt seiner Vorstellung generell etwas Irrationales inne, das Schildknecht selbst nicht durch weitere Äußerungen konkretisiert. Schildknecht ist weitgehend unbeachtet geblieben, einzig Richard Newald führt ihn, allerdings in kritisch-ironischer Tendenz, als Beispiel für die „dithyrambischen Aeußerungen des Georgekreises“56 an. Und in der Tat ist Schildknechts Systematisierungsversuch, Übersetzungen in bestimmte Gruppen einzuteilen, mit pathetischen Bekenntnissen durchsetzt, wenn er von „Gewalt“ spricht, die auf die Leser eindringen müsse (28) oder von „eigenständige[r] Schöpferkraft“, die der Übersetzer als Künstler besitzen solle (29). Zudem lässt sich eine deutliche Zeitprägung ausmachen, wenn Schildknecht das „Leben“ und den „starken Menschen“ (25) propagiert oder nicht ohne Konzessionen an den völkisch-nationalen Zeitgeist Folgendes feststellt: „In ihm [scil. dem Sprachgeist] liegt die ganze Schwierigkeit aller Übersetzungen, die sich in den Faktoren: völkischer Raum, und Zeit, und Person des Dichters vereinfachen lassen“ (29). Der zeittypische Charakter des von Schildknecht in der Einleitung seiner Dissertation vorgebrachten Programms für eine eigenständige Erneuerung durch die Übersetzung wird auch dadurch deutlich, dass wenige Jahre später Rudolf Bayr 57 – anscheinend ohne Schildknecht zu kennen – ebenfalls in einer Dissertation58 ein sehr ähnliches Konzept vorlegte. Dabei sind Schildknechts Zugeständnisse an die Tendenzen der damaligen Begrifflichkeiten auch bei Bayr anzutreffen.59 Bayr fordert beim „Über_____________ 55 56 57
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Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 31 f., zitiert ausführlich aus Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905). Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 192. Rudolf Bayr (1919–1990) legte nach einem Studium der Philosophie, Psychologie und Ästhetik, Germanistik und Musikwissenschaft in Wien (u. a. bei Bühler, Eibl, Gehlen) 1942 seine Dissertation Zur Problematik künstlerischen Übersetzens. Mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Verwandlung griechischer Verse in deutsche vor. Er war im ‚Dritten Reich‘ Mitarbeiter für Kulturpolitik beim Völkischen Beobachter. Zu Beginn der vierziger Jahre übertrug er Chorlieder antiker Tragödien. Zu Bayrs Wirken und seinen übersetzungstheoretischen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg s. u. S. 201 f. Die Dissertation Zur Problematik künstlerischen Übersetzens ist in überarbeiteter Kurzform nochmals als Essay Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947) erschienen. Aus dem Übersetzungsdiskurs hat Bayr auch Humboldt (s. o. S. 64 ff.), Thiersch (s. o. S. 225 f.), Cauer, (s. o. S. 172 ff.), Keller (s. o. S. 167 ff.), Wilamowitz (s. o. S. 196 ff.), Borchardt (s. o. S. 209 ff. und 229 ff.), Hellingrath (s. o. S. 121 ff.) und Rüdiger (s. u. S. 269 ff.) zur Kenntnis genommen. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 6 und 10, spricht von „volkhafter Art“ und von „Lebensfähigkeit“.
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setzen als Kunst“, das er vom „Übersetzen als Technik“ unterscheidet,60 ebenfalls die Orientierung am Deutschen: Die Übersetzung sei „vor allem ein Kunstwerk des Uebersetzers“ (9). Als Anforderungen für künstlerisches Übersetzen reichten, so Bayr, fachliche Vorbedingungen für das richtige Verständnis des Textes allein nicht aus.61 Stattdessen benennt er „existentielle Kommunikation“ und „personale Affinität“ (10) als die Hauptvoraussetzung jeder Übertragung. Aufgrund persönlicher Nähe könne ein Übersetzer eigentlich nur einen einzigen Dichter übersetzen, lautet Bayrs zugespitzte Folgerung.62 Seine absolute Gegenwartsorientierung wird in der Forderung sichtbar, eine Übersetzung müsse dichterisches Können auf der Höhe der Gegenwart vorweisen können.63 Wie Schildknecht wendet er sich gegen Übersetzungen, unter anderem aus den Reihen der Philologie, denen er dichterische Qualität abspricht: Hierbei wird der Kundige einsehen wie viele Uebertragungen man bloss poetisierend nennen müsste da sie – wie v. Wilamowitz sogar forderte – „in die Sprache unserer Dichter“ übersetzt sind, d. h. in diesem Falle dass die Verfasser in epigonaler Art Ausdrucksmittel echter Dichtung wie vorgefundenes und jederzeit frei verfügbares Material handhabten, dessen hülsiger Weltentleertheit sie gar nicht inne wurden. (33)64
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Ziel des Übersetzens als Technik sei vorwiegend die „Stofferfassung“; s. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 4. Bei manchen Texten, so Bayr, sei ein solches Verfahren schon ausreichend, wie etwa bei wissenschaftlichen Texten, einfachen Romanen etc. Demgegenüber sieht er das Ziel des Übersetzens als Kunst in der „Formerfassung“ (ebd., 6). S. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 10; ebenso Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 33. Bei seinen eigenen Nachdichtungen betont Bayr, er übertrage nicht aus primär philologischer Sicht, sondern sein grundsätzlich ästhetisches Interesse liege beim deutschsprachigen Produkt, s. Bayr, [Nachwort zu O Attika] (1948), 65. „Die existentielle Kommunikation ist demnach ein theoretisches Postulat dessen Erfüllung ich, psychologisch gesehen, inne werde als sympathetisches Erlebnis höchster Intensität, ein Kongruenzerlebnis anschaulichster Art, das mit einer Stärke und Transparenz mathematischer Evidenzerlebnisse geschieht. Für den Uebersetzer gibt es im ausgezeichneten Falle keinen eigentlichen Fremdstoff, der sich, nun anders gesehen, nicht als neu erspürtes Eigensein auswiese, das von einem ‚Analogiepunkt‘ (Fr. Gundolf ) aus gewonnen wird, um dessentwillen der Fremdstoff gewählt wurde. So könnte man formulieren: der Fremdstoff ist jeweils ein angemessener wirksamer Anlass sich selbst in der Rolle des Uebersetzers in einem Kunstwerk neu zu ereignen. Demnach sind jedem Uebersetzer wirklich nur ein Dichter oder dessen existentielle Nachbarn gemäss“; Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 11 f.; s. ders., Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947), 71 f. Bayr diskutiert in diesem Zusammenhang durchaus das Verhältnis von Fremdem und Eigenem und fordert „doppelsinnige Gerechtigkeit“ des Übersetzers dem vergangenen Original und der gegenwärtigen Sprache gegenüber; s. ders., Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 13. Zur doppelten Gerechtigkeit bzw. doppelten Treuepflicht macht auch Rüdiger, Zur Problematik des Übersetzens (1938), 184, Ausführungen. Vgl. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 10: Der Übersetzer habe „vollkommen die dichterischen Sprach- und Formmittel seiner eigenen Sprache nach dem letzten Stand ihrer Ausbildung zu berücksichtigen.“ S. auch Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 10: „Da die Arbeit ein lebensfähiges Gedicht erstehen lassen soll ist gegen Wilamowitz und mit Horst Rüdiger festzuhalten, dass hierfür nur der ‚philologisch geschulte oder beratene Dichter‘ ermächtigt ist.“ Zu Rüdiger s. u. S. 269 ff. Recht antiphilologisch bemerkt Bayr: „Das Recht der bildenden Phantasie einzugrenzen steht der Philologie nicht zu, vermochte sie doch selbst für die echte Anverwandlung der von ihr mit Fleiß und
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Bayr definiert das Übersetzen sehr vage als „Um-schreibung und Anders-schreibung“ von „Ausdrucks- und Symbolgehalt einer Stelle“ (18) – die Bezeichnung wie auch das Konzept erinnern an Schildknechts „Umstilisierung“. Bayr unterscheidet von seiner Um-schreibung das paraphrastisch erklärende Übertragen, gegen das er sich – ebenso stark wie Schildknecht und dessen Vorgänger – verwahrt: Diese Um-schreibung ist wohl zu trennen von der Umschreibung, jener gewissen Art rationalistisch explizierenden Übersetzens, wo der Übersetzer recht deutlich herausstellen will, was die Urschrift „dunkel“ meint. (18 f.)
Das Umschreiben bei Wilamowitz bezeichnet Bayr als „selbstgefällige[n] ehrfurchtslose[n] Unfug“ (19). Viele Aussagen Bayrs zu Theorie und Praxis des Übersetzens muss man aus solchen polemischen Äußerungen herausdestillieren,65 die sich auch durch seine Untersuchung des Stils vorliegender Sophokles-Übersetzungen ziehen.66 Das gilt auch für die „Frage der Verwandlung griechischer Verse in deutsche“, die Bayr im Untertitel seiner Dissertation hervorhebt. Er kritisiert: „Der Sucht wörtlich zu übersetzen ist eine andere verschwistert: die getreuer Vokalisation.“ (23) Bayr wendet sich gegen Übersetzungen im Versmaß des Originals. Solchen Übersetzungen weist er zum großen Teil höchstens handwerkliche Gelungenheit zu, wenn nicht doch nur, so Bayrs Einschätzung, schematisch „Panoptikumhaftes“67 erzeugt worden sei. Ebenso lehnt er „den Übersetzungssyrup eines Geibel oder Mörike“ und konkret den Reim als „Geschmacksverirrung“ ab (29 f.)68 – die einzige Übereinstimmung mit Wilamowitz. Das eigentliche Problem der Inkommensurabilität formuliert er folgendermaßen: Wir haben uns jedoch stets bewußt zu bleiben, daß alle derartigen Diskussionen doch nur die Oberfläche des Problems berühren. Sie befassen sich mit abgezogenen Schemata, die selbst nicht existieren, außer als ein Abgezogenes. Verbindlich bleibt nur die gültige Leistung, was aber nicht ausschließt, darüber Untersuchungen anstellen zu dürfen, die zu bestimmten Einsichten und Sätzen führen, deren tatsächliche Fruchtbarkeit für die einzelne
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Umsicht besorgten Texte bisher nur wenig beizutragen.“ Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 66. Ders., [Nachwort zu Oidipus auf Kolonos] (1958), 102, hält fest, dass es ihm nicht nur um „bloßes Wissensgut“ mit „humanistischem Sentiment“ gehe. Bayrs spätere Äußerungen zum Übersetzen antiker Dramen sind im Abschnitt „Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945“ (s. u. S. 301 f.) aufgearbeitet. Dies gilt auch für seine Einstellung zu „vertrackten Experimente[n] mit einer eigenen Übersetzersprache“, als deren Beispiele er Humboldts Pindar und Borchardts Dante anführt; s. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 17. Diese Stiluntersuchung macht den zweiten Teil von Bayrs Dissertation aus; s. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 32–58. Bayr, Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947), 76. S. auch Bayrs spätere Äußerung in Delphischer Apollon (1965), 52: „Verlängerung oder Verkürzung mögen den Ordnungssinn kränken, die Kraft des Verses aber bestimmt nicht das abstrakte Taktschema, sondern die Dichte der Fügung, die syntaktische Spannung. Die Zeiten der Übertragung in den Maßen der Urschrift sind ja noch nicht gänzlich dahin. Leider.“ Zu Geibel und Mörike s. o. S. 131–143. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 30, lässt den Reim „höchstens für manche Gebilde der Anakreontik“ zu.
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Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft Werksetzung allerdings variabel bleibt. Wir stehen vor dem nicht entsiegelbaren Geheimnis aller echten Form.69
Auf die Borchardt’schen Vorstellungen von der inneren Form und der Inkommensurabilität des Kunstwerks, die hier anklingen, wird an anderen Stellen explizit hingewiesen.70 Trotz seiner pointierten Grundauffassung vom Übersetzen als Kunst nimmt sich Bayrs methodischer Grundsatz äußerst konventionell aus. Es wird lediglich die Faustregel „so wörtlich als möglich und so frei als notwendig“ (16) reproduziert.71 Zu wörtliches Übersetzen (Bayr führt Hölderlin an), aber auch zu freies Nachdichten lehnt er mit eigenwilliger Metaphorik ab: Doch soll der Nachdichter immer imstande sein die Schmetterlinge der poetischen Freiheit mit den Stecknadeln philologischer Genauigkeit auf die Ebene des Vergleichbaren und Diskutierbaren zu spießen. (ebd.)
Bei seiner Forderung nach „doppelsinniger Gerechtigkeit – dem antiken und unserem Weltbild gegenüber“ (46) gibt Bayr deutlich der Gegenwart den Vorzug: „Aber der Vorrang des gültigen deutschen Bildes gegenüber dem zwar philologisch treuen aber undichten Fund ist zu behaupten.“ [sic] (16) Unter der Frage nach dem Verhältnis zwischen griechischer Dichtung und Gegenwart bestimmt er daher, bewusst ahistorisch, die Auswahlkriterien: „Jedes fremde Gedicht das seiner Art nach nicht hier und jetzt gelebtes Leben sein kann scheidet als Motiv im engeren Sinne, als Beweggrund zum Verdeutschen, aus“ (7).72 Hier wird das damals stark präsente Historismusproblem, d. h. die Frage, wie sich historische Forschung und überzeitliches Interesse an der Antike vereinen lassen, auf radikale Weise gelöst. Für Richard Newald 73 hatte das Fortwirken der Antike einen festen Platz in seinem wissenschaftlichen Interesse.74 Er forschte kontinuierlich zum „Nachleben“ der An_____________ 69 70 71 72
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Bayr, Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947), 76 f. S. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 12 und 31. S. Bayr, [Nachwort zu O Attika] (1948), 65. S. Bayr, Fragen künstlerischen Übersetzens aus antiken Sprachen (1947), 71 f., und Nachwort [zu Sophokles, Oidipus auf Kolonos] (1958), 102. Dass Bayr sich dabei auf Friedrich Gundolf beruft, ist kein Zufall. Auch Schildknecht führt Gundolf an und fordert „Leben“ einer Übersetzung; s. Schildknecht, Deutscher Sophokles (1935), 27. Richard Newald (1894–1954), Literaturhistoriker, war nach dem Studium der Germanistik in München (Promotion 1921) und der Habilitation (1926) in Freiburg i. Br. seit 1930 außerordentlicher und seit 1933 ordentlicher Professor für Deutsche Literaturgeschichte in Freiburg in der Schweiz, aus der er jedoch 1945 ausgewiesen wurde. Seit 1951 lehrte er an der Freien Universität Berlin, zuletzt (seit 1954) als persönlicher Ordinarius. Die Basis für seine – auch philologisch fundierte – Beschäftigung mit antiken Texten war bereits in der Gymnasialzeit gelegt worden. Zusammen mit Helmut de Boor gab er Die Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis in die Gegenwart heraus, deren Bände 5 und 6/1 er selbst erarbeitete. Ein weiteres großes Forschungsgebiet Newalds war der Humanismus (s. Literaturverzeichnis). Zur problematischen Stellung Newalds zum Nationalsozialismus vgl. Riedel (2000), 258. Das schlägt sich in allgemeinster Form in bibliographischer Arbeit (Newald, Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike [1934] für das Warburg-Institut) und Überblicken nieder; s. ders., Nachleben der Antike (1935). Als Schüler Karl Borinskis hatte er dessen Werk Die Antike in Poe-
Wolfgang Schildknecht, Rudolf Bayr und Richard Newald
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tike:75 zur Ilias-Übertragung in Auszügen von Johannes Baptista Rexius (1584),76 zur Antikerezeption Goethes77 und zu deutschen Horaz-Nachdichtungen.78 Besonders dieses Thema ließ auch übersetzungstheoretische Fragen in seinen Blick treten, denen er in dem Aufsatz Von deutscher Übersetzerkunst (1936) nachging.79 Newald thematisiert darin die Übersetzung antiker Literatur nicht speziell, sie ist aber in seinen Überlegungen inbegriffen. Denn er führt gerade übersetzungstheoretische Gedanken, die anhand von antiker Literatur entwickelt wurden (etwa die von Wilamowitz), als Beispiele für die „große Zahl an Aufsätzen und Definitionen, die das Problem der Uebersetzung behandeln“ an und weist auf viele Stimmen der diesbezüglichen Theoriegeschichte hin (192). Bezüglich des Verstehensproblems, das er im Gegensatz zu Schildknecht durchaus nicht übergeht, werden zudem zeitlich weiter zurückliegenden Werken doch besondere Schwierigkeiten zugesprochen.80 Newald untersucht Übersetzungsgeschichte als Stimulus für die eigene Literatur-, Geistes- und Kulturgeschichte,81 und auch er überlässt die „Übersetzerkunst“ den Dichtern und erkennt der deutschen Sprache dabei den Vorrang vor der zu übersetzenden Sprache zu. Er wendet sich überaus deutlich gegen eine systematische Lehrbarkeit des Übersetzens. Dieser Umstand wirkt sich auf seine eigenen Ausführungen aus, die teilweise sehr unkonkret bleiben, weil sie den Vorgang des Übersetzens mystifizieren: Man kann aber „Uebersetzerregeln“ noch so genau beobachten, die Sprache noch so meistern und über das handwerksmäßige Rüstzeug virtuos verfügen: wenn das Uebersetzerorgan, das Stilempfinden für die Ausdrucksfähigkeiten und -möglichkeiten in der eige-
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tik und Kunsttheorie (1924) herausgegeben. Newalds Arbeit Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus (1960) wurde postum veröffentlicht, der erste Band war aber bereits 1949 fertig gestellt. Darin findet sich ein Abschnitt zum Themenkomplex des Übersetzens (10–12), der zum Teil bis in die Formulierungen hinein an seinen früheren Ausführungen (Newald, Von deutscher Übersetzerkunst [1936]) orientiert ist. Vgl. Roloff (2002), 44–46. Riedel (2000), 258, spricht bei Newald von einer „Verabsolutierung des Antikebildes von 1800“ in Verbindung mit einer nationalistischen Ideologie, muss aber auch eingestehen, dass Newald „einer der besten Kenner des Nachlebens der Antike in den dreißiger bis fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts“ (ebd., Anm. 5) war. Newald, Ilias Homeri (1929); ders., Die erste deutsche Iliasübersetzung in Prosa des Johannes Baptista Rexius (1584) (1929). S. überdies ders., Verdeutschung der Paulinischen Briefe von den ersten Anfängen bis Luther. Beiträge zu ihrer Geschichte (1934). Newald, Goethe und die Antike (1935). Newald, Deutscher Horaz in fünf Jahrhunderten (1933). Im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Aufsatzes direkt beim Zitat nachgewiesen. Newalds Aufsatz ist wieder abgedruckt bei Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 361–378. S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 191. S. etwa den Begriff „entwicklungsgeschichtlich“ bei Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 206. Bereits im Titel, der wohl nicht zufällig der Arbeit Deutsche Übersetzungskunst von O. F. Gruppe (s. o. S. 108–111) sehr nahe ist, wird Newalds Ansatz sichtbar, der Übersetzung als Teil der Literaturgeschichtsschreibung versteht. Auch Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 533, verweist auf diese Dimension des Übersetzens. Bei Newald ist allerdings – auch disziplinär bedingt – deutlich weniger Bereitschaft als bei Schadewaldt vorhanden, der deutschen Sprache eine untergeordnetere Rolle beim Übersetzen zuzuweisen.
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Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft nen Sprache fehlt, geht die Seele verloren und das entstandene Produkt ist ein Tragelaph. Die letzte Voraussetzung für den Übersetzer ist eben eine Form von Genialität, die der dichterischen naheliegt, aber bescheidener, einfühlender, weiblicher und entsagender ist. Der Uebersetzer ist Sprachrohr, Vermittler, Interpret des Originaldichters, er muß mit seinen Mitteln die gleiche Wirkung zu erzielen suchen, die das Original auslöst. (192 f.)82
In dieser Grundeinstellung vom Übersetzer als „Sprachrohr“ und darin, dass eine Übersetzung die gleiche Wirkung wie das Original auslösen solle, steht Newald grundsätzlich Wilamowitz nahe,83 von dem ihn aber, wie sich zeigen wird, andere Punkte trennen. Als Bedingungen für das Gelingen einer Übersetzung nennt Newald ähnliche Voraussetzungen wie Schildknecht und später Bayr: „Kongenialität von Autor und Übersetzer, Mitschwingen des Zeit- und Formgefühls, gleichgerichteter Zeitstil, Kairos“ (198).84 Im Gegensatz zum zeitlosen Original sei, so Newald, die Übersetzung zeitgebunden und eine „Phase in der Geschichte des Nachlebens des Originals“ (191)85. Das antike Werk warte gleichsam auf seinen schöpferischen Gegenpart: Der geistige Zugang ist da und die Fähigkeit zu übersetzen erfüllt die Forderung, die von der Zeit gestellt wird, gleichsam in der Luft liegt. Von hier aus, d. h. also von der historischen Betrachtung einer vollendeten Uebersetzung her nähert sich unsere Problemstellung der des Nachlebens und -wirkens eines antiken Dichters in der europäischen Literatur, sowie der Frage nach den Wegen des Nachruhms, der Werturteile in der Folgezeit, der receptio und restitutio, ja des Renaissanceproblems überhaupt; denn eine Uebersetzung will ja doch letzten Endes das Original zum Leben wiedererwecken. (198)
Die Vorstellung von der Übersetzung als einer Phase im Nachleben des Originals ist den Ausführungen Walter Benjamins sehr nahe, die später im Zuge der Entdeckung Benjamins zu einem zentralen Bestandteil des Übersetzungsdiskurses wurden.86 Dass solche Wiedererweckungen jeweils zeitgebunden sind und es auch sein müssen, um den Anforderungen der Literatur der eigenen Sprache zu entsprechen, ist für Newald klar. Aus der germanistischen Darstellung Julius Petersens übernimmt er daher – wie
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Ein Tragelaph (‚Bockshirsch‘) ist ein mythisches Mischwesen, das meist in theoretischen Diskursen für Nicht-Existentes, künstlerisch Dargestelltes eingesetzt wird. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 194 f., fordert Sprachkenntnis und Sprachgefühl, ausgeglichen für beide Sprachen, als Voraussetzungen auf Seiten des Übersetzers, ist sich aber bewusst, dass ein gleichmäßig ausgeprägtes Sprachgefühl für zwei Sprachen ein Ideal und in Wirklichkeit höchst selten anzutreffen ist. Newald setzt sich nicht näher mit Wilamowitz auseinander, sondern führt nur dessen Vorstellung des Übersetzens als Metempsychose an, s. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 192. S. bereits Newald, Die Antike in den europäischen Literaturen (1934), 110 f. S. auch Newald, Nachleben des antiken Geistes (1960), 10 f. Zur Vorstellung des zeitlos Dichterischen des Originals s. bereits Gruppe (s. o. S. 109). Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1923), 11, spricht vom „Stadium ihres [der Originale] Fortlebens“. Zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem übersetzungstheoretischen Vorwort Benjamins zu seiner Übersetzung von Baudelaires Tableaux parisiens kam es in der klassisch-philologischen Diskussion erst später und nur am Rande, etwa bei Rüdiger und Schadewaldt, da der Name eher als Stichwort denn als wirklicher Bezugspunkt verwendet wurde.
Wolfgang Schildknecht, Rudolf Bayr und Richard Newald
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Schildknecht von Fritz Strich – den Begriff der „Umstilisierung“87. Beim Übersetzen komme es, so Newald, bewusst oder unbewusst zu einer solchen „Umstilisierung“ durch Umdenken, Umdichten und Verzeitlichen des Stils. Daher werde es stets neue Übersetzungen geben: „Das Original verewigt und die Übersetzung verzeitlicht, sie läßt das Persönliche durchschimmern. Uebersetzen ist somit eine ewige Aufgabe“ (191).88 Newald geht näher auf die übersetzerischen Schwierigkeiten des Einzelwortes, der einzelnen Satzteile und des Gesamtsatzes ein: So wird die Uebersetzung zu einer formalen Auseinandersetzung zweier Sprachen, in der die übersetzende Siegerin bleibt. Die Auseinandersetzung wird auf den Fronten: Wort, Wortgewicht und Satzbildung geführt. (195)
Das Einzelwort sei kontextabhängig mit verschiedenen Bedeutungen wiederzugeben.89 Das Problem des Wortgewichts sei schwieriger zu lösen, da sich darin die „Verschiedenheit der Denkweise zweier Sprachen“ manifestiere, auf die Rücksicht genommen werden müsse. Mit Wortgewicht meint Newald die „Verteilung des Gewichtes, das den einzelnen Redeteilen innerhalb eines Satzes zukommt“ (196), konkret etwa, ob eine Sprache Gewicht eher auf Substantiva oder Verba legt. Auch bei der Satzbildung weist Newald schließlich auf Verschiedenheiten hin90 und spricht sich, seiner Grundauffassung gemäß, für die Wahrung der Konventionen des deutschen Sprachbaus aus. Die Hochschätzung des Deutschen schwingt auch in den Aussagen zur formalen Gestaltung der Übersetzung deutlich mit, die er vom „Gehalt“ gesondert behandelt.91 Newald wendet sich gegen Prosaübersetzungen ebenso wie gegen die allzu schematische Übertragung der Versmaße des Originals,92 die aufgrund unterschiedlicher Grundsätze _____________ 87
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S. Petersen, Die Wesensbestimmung der Romantik (1926), 64. Newald benutzt diesen Begriff auch in seinem Schleiermacher-Referat, das er allerdings mit eigenen Stellungnahmen durchsetzt; s. etwa Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 193 f. S. auch Newald, Nachleben des antiken Geistes (1960), 11. Diese Formulierung erinnert an Schlegels Bezeichnung des Übersetzens als einer „unendlichen Aufgabe“; s. o. S. 40. S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 195. S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 196. S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 196: „Und die Gestalt? Kann es gelingen, Rhythmus, Klangschönheit, Reime des Originals in das geliebte Deutsch zu übertragen? Können nicht wiederzugebende Schönheiten des Originals durch andere im Deutschen ersetzt werden? Niemals, besonders wenn es sich eben um die gebundene deutsche Wiedergabe handelt. Hier geht nun freilich die Praxis der Uebersetzer weit auseinander. Die einen wollen zeigen, daß man nur in deutsche Prosa übertragen dürfe, von vornherein auf den Vers verzichten, also zum Surrogat greifen müsse. Es kommt hier darauf an, ob Chichorie, Malz oder Eicheln dem Leser nun wirklich den echten Kaffee des Originals vortäuschen oder ob beobachtet werden kann, daß der Uebersetzer in sein Gebräu nicht auch noch verdünnendes Wasser gemischt hat. Die anderen gehen bis zur völligen Aufgabe des deutschen Sprachbewußtseins, indem sie unserem Sprachstoff fremde, aus einem anderen Geist geborene Formen aufzwingen wollen.“ S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 197: „[Daran] glaubt heute doch niemand ernstlich. Als Mumienkabinett muten uns ja schon heute viele Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts auf diesem Gebiete an.“ In Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus (1960), 12, kommt Newald übersetzungshistorisch zu folgender Einschätzung: „Historisierende Zeiten wie das 19. Jahrhundert, das selbst keinen eigenen Stil schuf, haben sich deshalb bemüht, den Stil
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in Metrik und Prosodie ohnehin nicht möglich sei („messende“ vs. „wägende“ Grundsätze93). Wie die communis opinio zur Übersetzung in seiner Zeit lautete, macht Newald in seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher deutlich: Die meisten Übersetzer und Theoretiker würden sich, so Newald, dafür entscheiden, für die „Zeitgenossen in einer Form [zu schreiben], die etwa jener entspricht, in der Homer heute dichten würde, wenn er die Sprache des Uebersetzers redete.“ (193)94 Obwohl Newald in seinem historischen Überblick über deutsche Übersetzungsgeschichte und deren Theorie durchaus kritisiert, dass die Möglichkeiten der anderen Übersetzungsart, die das Fremde bewahrt, häufig übersehen würden,95 schließt auch er sich letzten Endes der verbreiteten Meinung an – entscheidet sich also für die Alternative, die doch Schleiermacher abgelehnt hatte.
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von Werken aller Zeiten und Völker nachzuahmen. Auf seinem Leidensweg des Nachlebens erlebt ein Werk des klassischen Altertums selten einen Kairos in einer Übersetzung. Vielen unwürdigen Händen ist es wehrlos ausgeliefert, viele nehmen es für ihr persönliches Wollen in Anspruch ohne wirkliches Gefühl für seine Größe und Bedeutung!“ S. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 197. Auch hier schlägt sich die metrische Untersuchung Andreas Heuslers nieder, auf den auch Schildknecht und Bayr verweisen. Zu Heusler s. o. S. 23. Die Alternativen Schleiermachers werden bei Newald am Beispiel von Homer und nicht, wie bei Schleiermacher selbst, am Beispiel von Tacitus erörtert: Daran zeigt sich einmal mehr, wie sehr das Übersetzen aus dem Griechischen gegenüber dem aus dem Lateinischen die Diskussion bestimmte. S. Newald; Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 193 und 206. Newald nimmt zweimal auf Positionen Schleiermachers Bezug; im zweiten Schleiermacher-Referat (ebd., 205 f.) legt er dessen Argumentation zwar recht detailliert dar, übersieht aber auch hier, dass die Möglichkeit, den Autor dem Leser entgegenzubringen, von Schleiermacher als Illusion entlarvt wird.
Rudolf Alexander Schröder Rudolf Alexander Schröder,96 der bereits im Zusammenhang mit Rudolf Borchardt erwähnt wurde,97 übersetzte neben Racine und Molière, Shakespeare, Eliot und Pope sowie niederländisch-flämischen Dichtern auch antike Literatur. Obwohl er betonte, sich nicht als Philologe mit antiken Texten zu beschäftigen, sondern als Dichter,98 befasste er sich wiederholt in Essays ausführlich mit antiken Autoren, wobei er auch auf wissenschaftliche Probleme einging.99 Er bezeichnete die Tätigkeit des Übersetzers als „‚gelehrte‘ Arbeit“100, verlangte dem übersetzenden Dichter „ein Stück Forschung“101 ab und ließ sich dabei von Philologen (Walter Wili, Ernst Zinn, Richard Harder, Otto Seel, Friedrich Klingner und Hermann Tränkle) beraten. Vor allem aber der Austausch mit Rudolf Borchardt über Vergil, Horaz, Homer und Pindar ist in Schröders Übertragungen eingegangen.102 Schröder veröffentlichte im Hesperus (1909) erstmals Teile seiner Odyssee-Übersetzung, die dann 1910 und 1911 in zwei Bänden erschien. Er übertrug außerdem Ciceros Cato Maior (1924) und in jahrzehntelanger Bemühung die Werke des Vergil und des Horaz.103 1943 wurde seine Ilias-Übertragung veröffentlicht, _____________ 96
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Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) hatte nach dem Besuch eines altsprachlichen Gymnasiums in München Architektur, Musik und Kunstgeschichte studiert. Zunächst arbeitete er vor allem als Architekt, betätigte sich aber bereits früh auch literarisch. Er war 1899 Mitbegründer der Literaturzeitschrift Die Insel und 1911 – zusammen mit Hofmannsthal und Borchardt – des Verlages der Bremer Presse. Seit 1931 widmete er sich ausschließlich seinen literarischen Interessen, aus der ein umfangreiches lyrisches und essayistisches Werk hervorging. Schon früh trat er als Übersetzer hervor. Für sein beeindruckendes übersetzerisches Gesamtwerk wurde er 1962 mit dem Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt. S. o. S. 229–234. S. die Selbstbezeichnung als „dichterischer Übersetzer“, Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 628, und ders., [Vorwort zur Vergil- und Horazübersetzung] (1952), 505. Vgl. Homer und der Dichter, Die Komposition der Ilias, Homer, Zur Orestie des Aeschylos, Die Oedipusdramen des Sophokles, Der Sänger der Aeneis, Marginalien eines Vergil-Lesers, Horaz als politischer Dichter, Cicero, Cato der Ältere. All diese Arbeiten sind versammelt in Schröder, Gesammelte Werke, Bd. 1 (1952). Schröder, Nachwort [zu Gedichte des Horaz] (1935), 957. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 617. So dankt Schröder Borchardt namentlich im Nachwort zu seiner Horazübersetzung von 1935; Schröder, Nachwort [zu Gedichte des Horaz] (1935), 959. Außerdem findet sich im Briefwechsel zwischen Schröder und Borchardt eine Diskussion philologischer und übersetzerischer Einzelfragen. Besonders bei Homers Odyssee hatte Borchardt ausführliche Korrekturen geschickt (1908–9), wobei er Schröder vor allem in metrischen Belangen beriet. Mit Borchardt und von Hofmannsthal, denen er freundschaftlich verbunden war, gründete Schröder 1908 das poetische Jahrbuch Hesperus und 1913 die Bremer Presse. Zum Verhältnis von George, Hofmannsthal, Borchardt und Schröder vgl. Wolde (1948), 51 f. S. außerdem o. S. 210 und 229 ff. Die Gesamtübertragung erschien 1952 als fünfter Band von Schröders Gesammelten Werken. Separat hatte Schröder bereits 1924 seine Übersetzung der Georgica (Beginn 1922) veröffentlicht und 1926 die der Bucolica, an denen er seit 1912 gearbeitet hatte. Beide Übersetzungen erschienen in aufwendigen bibliophilen Ausgaben. 1930 veröffentlichte er Auszüge aus dem zweiten Buch der Aeneis, die er
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an der er seit 1912 gearbeitet hatte.104 Außerdem sind Catull-Übersetzungen im Nachlass (Deutsches Literaturarchiv Marbach) erhalten. Im Allgemeinen sind Schröders Übersetzungen auf Nähe zum antiken Original bedacht. Ihre Besonderheiten ergeben sich daraus, dass Schröder die deutsche Sprache durch dichterische Übersetzungen verjüngen will, indem er auf ältere Sprachstufen zurückgreift. Die Entwicklung seines Konzepts der „Repristination“ zeigt sich deutlich von Borchardts „schöpferischer Restauration“ beeinflusst.105 Schröder formulierte es aber erst relativ spät aus, während seine Übersetzertätigkeit schon lange begonnen hatte. Im Nachwort zum Cato Maior (1924) thematisiert Schröder allgemein die damals aktuelle Frage nach der Notwendigkeit des Übersetzens durch Dichter, gerade auch der lateinischen Literatur.106 Im Nachwort zu seiner Horaz-Übersetzung 1935 legt er in Kürze seine Grundsätze dar.107 Eine weitere knapp gehaltene Stellungnahme gibt er in einem Aufsatz 1940 ab, der auch als Einleitung zu einer Neuausgabe der Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Voss erschien.108 Das dort noch weitgehend übergangene Gebiet der Metrik109 behandelt er dann umso ausführlicher im Ilias-Nachwort von 1943110 unter der Bezeichnung „formales Problem“: Die Übertragung eines Gedichtes aus einer Sprache in eine andere bietet ein zwiefaches Problem. Man könnte es ein materielles und ein formales nennen, insofern seine eine Seite sich auf die möglichst wort- und sinngetreue Wiedergabe seines Inhaltes bezieht, die andre auf die gewählte oder übernommene Form.111
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später nochmals überarbeitete. Bereits seit 1906 beschäftigte sich Schröder mit der Übersetzung des Horaz, 1935 veröffentlichte er die Oden, das Carmen Saeculare und die Epoden. Die Übersetzung der Episteln und Satiren wurden dann erst im Rahmen der Gesammelten Werke publiziert; vgl. Tgahrt (1978). Zur Entstehungsgeschichte der Übersetzungen vgl. Zinn (1978), 40–42. S. o. S. 233 f. S. Schröder, Nachwort [zu Cato der Ältere über das Greisenalter] (1924), 65–76. S. auch o. S. 233 f. S. Schröder, Nachwort [zu Gedichte des Horaz] (1935), 241–264, später getrennt abgedruckt in ders., Gesammelte Werke 5 (1952), 957–959. Dort bezeichnet er seine Übersetzung als „Annäherung“ (957), weist auf die syntaktischen Verschränkungen bei Horaz hin, die er „vorsichtig nachzuahmen versucht“ habe (958), und auf die Metrik des Originals, an der er sich orientiert habe, allerdings mit Freiheiten. S. Schröder, Vom Übersetzen (1940) und Einleitung (1940), V–XIII. S. Schröder, Vom Übersetzen (1940), 183, bzw. Einleitung (1940) VII f.: „Nun erst der Übersetzer eines Gedichts, der sich in dem hinderlichen Gewand ‚zugemeßner Rhythmen‘ bewegen soll. Von der Schwierigkeit, die darin liegt, daß auch einander scheinbar völlig entsprechende Vers- oder Liedformen in jeder Sprache wiederum eigenen Gesetzen oder Gewohnheitsrechten unterliegen, eigene Freiheiten oder Feinheiten des Gebrauchs gestatten oder fordern, will ich hier nicht einmal reden; von der Problematik des deutschen Hexameters erst gar nicht.“ Wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 391–418. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 596. Im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Nachworts direkt beim Zitat nachgewiesen.
Rudolf Alexander Schröder
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Schröder legt in diesem Ilias-Nachwort nach der, neben vielen lobenden Stimmen,112 teilweise auch heftigen Kritik an seinen Vergil- und Horazübersetzungen113 eine Art Rechenschaft über seine Übersetzungsprinzipien ab. Seine Übersetzungsreflexionen sind aber trotz ihrer Ausführlichkeit, vor allem von Philologen, später kaum wahrgenommen worden.114 Auf das „formale Problem“ geht Schröder ausführlich ein: Er untersucht das deutsche metrische System115 und referiert die Geschichte der Verswahl für das Epos und den Weg zum deutschen Hexameter als epischem Vers, auch unter Berücksichtigung der Entwicklung in anderen Ländern (England, Niederlande, Frankreich, am Rande Italien und Spanien). Dem griechischen Vers, so Schröder, eigne ein Doppelcharakter aus Wortakzent und Silbenmessung;116 der deutsche Vers werde durch Wortakzente und Hochtöne, also kontextgebundene Betonungssetzung auf eine Silbe, be_____________ 112 Vgl. etwa Pauli (1913); von Hofmannsthal (1912) und (1926); von Heiseler (1935/36); Borchardt (1937) sowie später D. R. (1949); D. R. (1953); Diettrich (1953); Schott (1953/54) und Hennecke (1962). 113 Die schärfste Kritik findet sich bei Haecker (1931), 36 ff. Der Schriftsteller Theodor Haecker (1879–1945) war auch als Übersetzer tätig (Sören Kierkegaard, John Henry Newman, Francis Thompson, Hilaire Belloc und Vergils Bucolica). Er gehörte zu den einflussreichsten Kulturkritikern in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‘. Als Regimegegner wurde er 1936 mit einem Redeund Publikationsverbot belegt. Mit Vergil. Vater des Abendlands (1931) hatte er einen äußerst einflussreichen kulturphilosophischen Essay vorgelegt, der deutlich von seinem katholischen Existenzialismus geprägt ist. Darin nimmt er sehr entschieden gegen R. A. Schröders Vergil-Übersetzung Stellung. Er stört sich an „lächerlich verbogenen deutschen Wörtern“, „ungewöhnliche[r] Verhunzung“ und äußert sich etwa zur Wiedergabe von infandum so: „Nur Herr Rudolf Alexander Schröder will noch kostbarere Perlen haben, er stellt sie synthetisch her, er sagt: ‚unauskündbar‘, was ein ungewöhnliches Monstrum ist von einem deutschen Wort, das nur ein anthropomorpher Hippopotame gegenüber unsagbar sagbar finden kann.“ Schon E. Fraenkel (1926), 219, hatte von „Künsteleien“ und „Archaismen“ in Schröders Cicero-Übersetzung gesprochen und rügt Übersetzungsfehler in den Georgica (ebd., 221 f.). Die schärfsten Töne Haeckers fehlen ab der 4. veränderten Auflage des Vergil-Buches (1946). 114 Schröders Übersetzungspraxis dagegen wurde von philologischer Seite (E. Fraenkel, Regenbogen, Snell) unmittelbar diskutiert, langfristig allerdings nicht. Etwas positiver als Fraenkel beurteilt Otto Regenbogen (s. u. S. 266 ff.) Schröders Übersetzungsprinzipien. Er akzeptiert das Prinzip der „Repristination abgelegener Worte“, hinterfragt aber die Angemessenheit für die Vergilische Vorlage; s. Regenbogen (1931), 149. Ähnlich bewertet Snell (1939) die Vergil-Übersetzung; s. u. S. 266. Schröders Reaktion auf Snells Kritik ist dokumentiert bei Zinn (1978), 44 f. Bei Schadewaldt wird Schröder lediglich zum letzten Glied in der Kette der Hexameterübersetzungen; s. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 321, oder ders., Zur Übersetzung [zu Homer, Ilias] (1975), 425. Der Klassische Philologe Wolf-Hartmut Friedrich führt in seinem Vortrag auf dem Internationalen Kongreß literarischer Übersetzer in Hamburg Teile von Schröders Übersetzung als Beispiel für die „exklusive, entrückende“ Übersetzungsweise an; s. Friedrich, Probleme des Übersetzens aus klassischen Sprachen [1965], 40. Aus germanistischer Perspektive behandelt Gronemeyer (1963), 217–269, Schröders Aeneis-Übersetzung und untersucht die zugrunde liegende Theorie und deren Umsetzung (ebd., 224–269). Staiger, Homer in deutschen Versen (1966), 117–119, hinterfragt Schröders Homer-Übersetzung. Müller (1970) unternimmt einen Vergleich zwischen den AeneisÜbertragungen Schillers und Schröders. 115 Zur Tradition der Metrik-Diskussion s. o. S. 33 sowie 106–111. 116 S. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 603.
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stimmt. Weil dies zwei durchaus nicht feststehende Größen seien, hebt Schröder für die Situation des Übersetzers „den gegenüber der Unfehlbarkeit der Silbenmessung auf alle Fälle wesentlich unsichereren Stand der Akzentsetzung“ (607) hervor. Beim „materiellen Problem“ hingegen verursache das griechische Wort für den Übersetzer mehr Unsicherheit117 und generell größere Schwierigkeiten.118 Grundsätzlich meint er aber, eine – seit Humboldt immer wieder behauptete – natürliche Nähe der griechischen und deutschen Sprache feststellen zu können: Die Verwandtschaft beider Sprachen geht so weit, daß den, der mit dem Altertum seiner eigenen auch nur ein wenig vertraut ist, bisweilen das Gefühl anwandeln mag, als habe in glücklichen Momenten seine Arbeit eigentlich nur der Übertragung von Worten und Begriffen aus einem jüngeren in einen gealterten Sprachzustand zu gelten. (619)
Die Bezeichnung des Griechischen als gleichsam „jüngerer Sprachzustand“ gegenüber dem „gealterten“ Deutsch zeigt die eigenwilligen Vorstellungen Schröders. Mit dieser Unterscheidung von sprachgeschichtlichen Phasen aber nähert man sich dem Zentrum der Schröder’schen Übersetzungskonzeption, der „Repristination“. Nach ihr gilt es festzustellen, auf welchem zeitlichen Stand das Original sich befindet, um eine Entsprechung in der Übersetzung zu suchen. Das Konzept gipfelt in der paradox erscheinenden Zielvorstellung, dass die Gegenwartssprache durch die Übersetzung älterer Texte wieder verjüngt werden könnte. Schröder beschreibt es mit den sich eigentlich widersprechenden Bildern des „Hinaufsteigens ins Altertum beider Sprachen“ (626) bzw. „Hinabsteigen zu ihren Wurzeln“ (ebd.) oder „Rückwanderung“: Je höher man also in das Altertum unsrer eigenen Sprache hinaufsteigt, je eher wird man bei dieser Rückwanderung, die ja auch ein Hinaufsteigen zu altertümlicheren Formen unsres geschichtlichen Daseins in sich schließt, auf [scil. mit dem Griechischen] verwandte Wortstämme und Begriffsbildungen stoßen. (619)119
Dieses Prinzip erklärt Burckhardt folgendermaßen: Ohne altertümelnde Manier versucht Schröder nun, aus der ihm vertrauten niederdeutschen Mundart, aus der konkreten Sprache des Handwerks und Gewerbes einen außer in den Großstädten noch lebendigen Sprachschatz zu heben, der, dem heutigen Leser gerade noch zugänglich, belebend in die durch Abstraktion rasch verarmende Sprache einfließen kann und imstande ist, Anschauungen zu vermitteln, die in dem griechischen Gedicht ihre Wirklichkeit haben.120
Dass Schröder dabei weitaus weniger radikal als Borchardt vorgeht, wird am speziellen Fall der Homer-Übersetzung ersichtlich, an dem er seinen Ansatz deutlich macht: Den zeitlichen Stand der Homerischen Epen (Vers sowie Redeweise) kategorisiert Schröder als mittelalterlich, da sie zum einen selbst schon einen geschichtlichen Abstand zum Geschilderten aufwiesen, also als später, zum anderen von der griechischen Klassik aus _____________ 117 S. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 617 f. 118 S. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 618: „So wird man grundsätzlich sagen dürfen, das Dilemma der Wortübernahme sei bedenklicher als das der Versübernahme.“ 119 Zur „Repristination“ im metrischen Kontext s. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 622, im semantischen Kontext s. ebd., 632. 120 Burckhardt (1953), 110.
Rudolf Alexander Schröder
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gesehen als früher einzustufen seien.121 Daher empfiehlt er einen entsprechenden „Rückstieg“ (620) bei der Übersetzung: Es wird daher dem Homerübersetzer naheliegen und ist ihm auch in jeder Hinsicht anzuraten, daß er sich fleißig in der Sprachwelt unsrer eigenen, ähnlich wie die homerische auf vorgeschichtlichem Grund erwachsenen Epik umsehe. (619 f.)
Die Übersetzung wird zu einer produktiven Spracharbeit, bei der vor allem die Wortwahl im Zentrum steht. Für das Übersetzen Homerischer Sprache empfiehlt Schröder Folgendes: Für die deutsche Diktion bedeutet das eine genaue Überprüfung des zur Verfügung stehenden Wortvorrats. Möglichst „gut“ und das heißt hier „alt“ bezeugte Worte und Wendungen wären wegen der ihnen innewohnenden urtümlichen Kraft und geschichtlichen Beziehungsfülle zu bevorzugen, Worte neuesten Ursprungs, offenkundige Lehn- oder gar Fremdworte, bloße „Kunst“- oder „Zweck“-Worte wären tunlichst zu vermeiden, volkstümlichen Wendungen wäre, soweit sie sprachgeschichtlich wohlbezeugt und dem „gehobenen“ Wesen des Verses nicht allzu abträglich sind, bei Gelegenheit Raum zu geben. (625 f.)
Zwar sei die Verlockung groß, alte Worte zu verwenden, etwa „Weigand“ für „Held“ (620), Schröder sieht aber die Gefahr, dass einzelne solche Worte „leider doch wie erratische Blöcke“ wirkten (621.). Eine vollständige Verwendung eines anderen Sprachstandes – man wird an die Versuche Rudolf Borchardts mit der Sprache mittelalterlicher Epik denken müssen – lehnt Schröder ab: An eine systematische Rekonstruktion mittelalterlicher deutscher Redeweise zugunsten einer gemäßeren Entsprechung zur mittelalterlichen Rede Homers ist jedoch nicht zu denken. Selbst wenn sie – was keineswegs der Fall ist –, „technisch“ durchführbar wäre, wo wäre das Publikum für dergleichen? Übersetzungen geschehen „im öffentlichen Dienst“, außer ihm haben sie keinen Sinn. (ebd.)
Obwohl Reim oder Strophe wie beim Nibelungenlied oder den Liedern des Heldenbuches als Mittel zur „‚stilvolle[n]‘ Repristination“ (622) der Übersetzung durch die Verwendung alter Versformen deutscher epischer Dichtung denkbar seien, entscheidet sich Schröder aufgrund der seit Klopstock bzw. Voss etablierten Tradition für den Hexameter, auch wenn dieser im Deutschen geschichtlich gesehen ein relativ junger Vers sei und außerdem als klassisch empfunden werde. Schröders Konzept gerät hier in eine Aporie: So bleibt alles in allem der neue Vers trotz aller ihm inhärenten Verfälschung und Vernebelung immer noch das geeignetste Gefäß für die Aufnahme des eigentlichen dichterischen Gehalts der uralten Vorbilder. (ebd.)122
Ein wichtiger Bereich in Schröders Übersetzungsreflexionen ist die Berücksichtigung des Klangs: Nun wird dem Übersetzer, der sein Geschäft als „musicus“, soll heißen als „Hörer“ für „Hörende“ betreibt, nichts angelegener sein, als jede Möglichkeit lautlicher Annäherung an das
_____________
121 Schröder diskutiert ausführlich den Stand der Homerforschung und die Wandlungen des Homerbildes von der Klassik bis zu seiner Gegenwart; s. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 622–625. 122 Anderen Versmaßen sei es nicht gelungen, sich „einzubürgern“; Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 616.
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Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft Vorbild auszunutzen. Da kann es ihm denn begegnen, daß er ein griechisches und ein deutsches Wort gleichen Klangs und gleichen Ursprungs zur Verfügung hat, daß aber der Sinngehalt beider nicht mehr der nämliche ist. (628)123
Dieses Problem löst er, indem er in manchen Fällen die Klangbewahrung vor der lexikalischen Bedeutung bevorzugt und etwa das griechische „augé“ („Licht“, „Strahl“, „Blendung“) mit dem deutschen Wort „Auge“ wiedergibt.124 Dieses Kriterium kehrt auch bei der Behandlung von Wortverbindungen, nicht nur bei Einzelworten wieder.125 Über Einzelfragen zum Umgang mit Homers Semantik (Farben, technischer Sprachgebrauch, Beiworte, Synonyma und Halbsynonyma) und Stilistika (figura etymologica, Parallelismus, Stab- und Silbenreim), die er ausführlich erörtert, stellt Schröder allerdings eine nicht aus Prinzipien abzuleitende Größe: die Persönlichkeit des Dichters: Damit wären wir nun freilich aus dem Felde präliminarer Erwägungen zurückgetreten auf das hinter und über ihm liegende einer Verantwortlichkeit, für die keine Regel, kein Ratschlag, keine methodische Anleitung dem Übersetzer wesentliche Hilfe zu leisten vermag. Auf diesem Felde der eigentlichen dichterischen Nötigung und ihres Anspruches sieht er sich allein gelassen vor der Frage, wie weit seine eigene Dichterkraft gegenüber dem großartigsten aller Vorbilder zu einer Aneignung ausreiche, die der Weitergabe lohnt. (637)
Am Ende kommt sein eingangs erwähntes Selbstverständnis als „Dichterübersetzer“ zum Ausdruck und lässt alle vorher verhandelten Fragen zu „Präliminarien“ werden.
_____________ 123 Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 619, räumt aufgrund der Nähe der griechischen und deutschen Sprache ein, dass die Möglichkeit bestehen könnte, gewisse lautliche Effekte in der Übersetzung in ähnlicher Weise nachzubilden. 124 S. Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 628 f. Seine Übersetzung zeichne sich, so Schröder, bisweilen „nicht durch Wörtlichkeit, wohl aber durch den festlichen Wohllaut“ aus; ebd., 633. Er spricht auch vom „eindrucksvollen Vokalklang“; ebd., 629. 125 So thematisiert Schröder, Nachwort des Übersetzers (1943), 632 f., „klingende Wendungen“.
Bruno Snell und Otto Regenbogen Bruno Snell 126 äußerte sich 1939 aus Anlass einiger Neuerscheinungen im Rezensionsartikel Vom Übersetzen aus den alten Sprachen auch allgemein zum Problem des Übersetzens.127 Wiederholt hatte er bereits zuvor Übersetzungen besprochen und dabei Allgemeines thematisiert: die Übersetzung als wissenschaftliche Leistung, den Verdienst zweisprachiger Ausgaben128 und „die alte Streitfrage, ob der Philologe oder der Dichter zum Übersetzen von Dichtung berufen ist“129. In dieser Frage entscheidet er sich aber nicht. Ebenso wenig legt er sich im Aufsatz von 1939 auf eine Methode des Übersetzens fest. Mit Schleiermacher unterscheidet Snell zunächst verschiedene Typen von antiken Originalen, die ein jeweils anderes Vorgehen erforderten: Bei manchen Texten reiche das „Dolmetschen“130 bereits aus, nämlich wenn das Persönliche, der Stil nicht besonders auffällig sei. Stil erscheint also auch bei Snell als ein übersetzungstheoretischer Kernbegriff, der bei ihm allerdings unabhängig von der zeitgenössischen Stildiskussion verwendet wird. Außerdem gebraucht er ihn eher in Bezug auf die antike Vorlage und nicht so sehr auf die deutsche Übersetzung. Schleiermachers beiden Methoden entsprechend diskutiert er verschiedene Übersetzungen, bei denen der Stil des Originals wichtig ist, unter den Kriterien der „Natürlichkeit“ und „Fremdheit“. Mit dem Begriff „Natürlichkeit“ bezeichnet er das Prinzip der Wirkungsgleichheit,131 also das Postulat einer Übersetzung, die letztendlich wie zeitgenössische Literatur wirke. In metrischer Hinsicht etwa, so Snell, ziehe „Natürlichkeit“ die Konsequenz nach sich, in modernen Rhythmen und Reimen zu übersetzen. Durch die Auseinandersetzung mit
_____________
126 Bruno Snell (1896–1986) hatte Klassische Philologie in Leiden, Berlin, München und Göttingen (1918–1922) studiert. Nach der Promotion 1922 in Göttingen und nach der Habilitation 1925 in Hamburg hatte er dort von 1931 bis 1959 den gräzistischen Lehrstuhl inne. Als einer der führenden Gräzisten seiner Zeit verfocht Snell einen europäischen Humanismus, dessen Ursprünge er in der griechischen Geistesgeschichte erkannte, wie aus seiner bedeutenden Veröffentlichung Die Entdeckung des Geistes (1946) ersichtlich ist. Er selbst übersetzte Heraklit, Fragmente (zuerst 1926), Leben und Meinungen der Sieben Weisen (zuerst 1938) und Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts (zuerst 1972). Seine eigenen Übersetzungsmethoden erläutert er allerdings nicht. 127 Wiederholt hatte Snell bereits zuvor Übersetzungen besprochen; vgl. Snell, [Rez. zu] The Loeb Classical Library (1928) und (1933) sowie ders., [Rez. zu] Tragödien des Euripides, übers. v. v. Arnim (1930). „[D]ie alte Streitfrage, ob der Philologe oder der Dichter zum Übersetzen von Dichtung berufen ist“, entscheidet er dabei nicht. Zum Thema Übersetzungen klassischer Texte, so der Titel, nahm er später nochmals in Kurzform schriftlich Stellung (als Einleitung zum Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1978). Bereits die Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hatte sich im Jahre 1956 unter seinem Vorsitz dem Thema der Übersetzung gewidmet. 128 S. Snell, [Rez. zu] The Loeb Classical Library (1928), 22. 129 Snell, [Rez. zu] Tragödien des Euripides, übers. v. v. Arnim (1930), 194. 130 Snell, Vom Übersetzen aus den alten Sprachen (1939), 317. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen bei den Zitaten auf diesen Aufsatz Snells. Zum „Dolmetschen“ vgl. Schleiermacher, s. o. S. 58 f. 131 Snell spricht von dem Prinzip, „daß die Übersetzung in der eigenen Sprache die gleiche Wirkung täte, wie einst das Original in der seinen“; s. Snell, Vom Übersetzen aus den alten Sprachen (1939), 326.
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dieser in der Diskussion der Zeit favorisierten Einstellung nimmt Snell am zeitgenössischen Diskurs teil. In seiner Skepsis wiederum stimmt er mit den vorher behandelten Theoretikern überein: „Gerade gegen dieses ‚natürliche‘ Eindeutschen sind wir recht empfindlich geworden, überhaupt gegen den Glauben, daß das Historische wie ein Kostüm sei, das man wechseln könne“ (327).132 Als Repräsentant dieser Position wird Wilamowitz von Snell angeführt und kritisiert. Das Gegenmodell zur „Natürlichkeit“, nämlich das der „Fremdheit“, bespricht Snell anhand von Schleiermachers Grundlegung. Aber auch zu dieser Position bekennt sich Snell nicht eindeutig: „Offenbar ist dem Übersetzen durch die Theorie überhaupt nicht beizukommen; die Theorie gerät in die Sackgasse, ob sie nun die Eigenständigkeit des Originals oder ob sie das natürliche Deutschsein von der Übersetzung fordert“ (328). Das macht Snell an der HorazÜbersetzung Rudolf Alexander Schröders deutlich, mit der er sich am eingehendsten auseinandersetzt.133 Er geht von den Vorwürfen Theodor Haeckers gegen Schröders Vergil-Übersetzung aus, vor allem von dem Vorwurf des „Unnatürlichen“.134 Auch Snell warnt vor „Willkürlichkeiten“, zu denen das „Programm des Fremden“ führen könne (329). Schröder versuche, einen festen, angemessenen Stil in Wortwahl, Wortstellung, Klang und Wortfügung zu realisieren. Snell kritisiert aber vor allem an den beiden letzten Punkten die missglückte Realisierung. Er schließt: Dergleichen Härten […] sind entstanden aus der Absicht, der Übertragung „Distanz“ zu geben. Diese Absicht beruht auf einer bestimmten Theorie des Übersetzens. Die Theorie ist also Schuld daran, daß auch dieser schöne und ernste Versuch nicht zu vollem Erfolg geführt hat. (330)135
Ebenfalls zu R. A. Schröders Vergil-Übersetzung äußerte sich Otto Regenbogen 136 in der Rezension Über einige neue Virgil-Übertragungen (1931). Bereits 1926 hatte er einen Aufsatz zum Übersetzen verfasst (Original oder Übersetzung?). Darin nimmt er die Frage, ob Übersetzungen antiker Texte in den Schulen verwendet werden dürften, zum Anlass für grundsätzliche Überlegungen: Wie müssen Übersetzungen im Sinne eines _____________ 132 Zur Kostümmetapher im Kontext der Übersetzungsdiskussion s. o. S. 56, 143 ff. sowie 201 f. 133 Die Tatsache, dass hier lateinische Literatur als Ausgangspunkt von Übersetzungsreflexionen außerhalb des schulischen Rahmens herangezogen wird, ist durchaus bemerkenswert, lässt sich aber mit dem damaligen Interesse an ‚großen Autoren‘ (wie etwa Horaz und Vergil) erklären. Zum Aufschwung des ‚Römertums‘ zwischen 1918 und 1933 auf der einen und dem Interesse an der Erneuerung Roms und der altrömischen Werte unter Augustus bei R. Borchardt und R. A. Schröder auf der anderen Seite vgl. Habermehl/Seidensticker (1999), 818. 134 Zu Theodor Haecker s. o. S. 261. 135 Eventuell schwingt die Auffassung „Distanz ertragen“ von Rudolf Borchardt (s. o. S. 212) in Snells Äußerung mit. 136 Otto Regenbogen (1891–1966) war nach dem Studium von 1909 bis 1914 in Berlin und Göttingen (Promotion 1914 in Berlin), nach der Habilitation 1920 in Berlin und nach zwischenzeitlicher Schultätigkeit seit 1923 außerordentlicher Professor in Berlin und 1925–1935 sowie 1945–1959 ordentlicher Professor für Klassische Philologie in Heidelberg. Er übersetzte selbst einzelne Lukrez-Passagen (in Prosa) und Reden aus Thukydides (1944 fertiggestellt). Dabei äußerte er sich nur kurz zu seinem Vorgehen; s. Regenbogen, Kleine Schriften (1961), 334 f., sowie ders., Nachwort [zu Thukydides, Politische Reden] (1949), 273.
Bruno Snell und Otto Regenbogen
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„Humanismus der posthistorischen Generation“137 aussehen? Dies war auch die Ausgangsfrage Schadewaldts in seinem Vortrag 1927.138 – Anhand von Schadewaldt, Snell und Regenbogen wird deutlich, wie drei Philologen in unterschiedlicher Weise ihre Sicht in einer Situation präsentieren, in der der philologisch-wissenschaftliche und rationale Anteil des Übersetzungsprozesses zunehmend aus der Diskussion verdrängt wurde. Die Orientierung am antiken Original soll auch nach Regenbogen, wie bei Snell, durch die Berücksichtigung des Stils gesichert werden. Als entscheidend benennt er daher in seiner Rezension der Vergil-Übersetzungen die Frage, ob bei einer Übersetzung die „Höhe des Stiles“ gewahrt werde.139 Regenbogens philologischer Standpunkt in der Übersetzungsdiskussion wird sehr deutlich, wenn er eine grundlegende Unterscheidung zwischen „Verdeutschung“140 und „Übersetzung“ einführt und deren jeweilige Aufgabe darstellt: [E]ine Verdeutschung wird nur einem Dichter gelingen; was wir Philologen leisten können, wird wesentlich immer eine Übersetzung sein. Ich fasse den Unterschied so: die dichterische Verdeutschung trägt, bewußt oder unbewußt, die Tendenz zur Autarkie in sich. Ihr höchstes Ziel ist, deutsche Dichtung zu sein, deutscher Dichtung einen neuen Bereich zu erobern, das Original vergessen zu machen. Ihre höchste Tugend: Wiedergeburt des Fremden aus der Kraft eigenen dichterischen Geistes. […] Die Übersetzung ist nicht autark. Sie dient, indem sie über sich hinaus auf das Original hinweist, das Verlangen nach ihm weckt, den Zugang zu ihm erleichtert. Ihre Tugend ist Treue und Redlichkeit.141
Die philologischen Übersetzungen werden hier also begrifflich von den künstlerischen Übertragungen geschieden; bei diesen „dichterischen Verdeutschungen“ gibt Regenbogen durchaus der vorherrschenden Meinung Recht, die dichterischen Umgang mit _____________ 137 Regenbogen, Original oder Übersetzung? (1926), 60. Vgl. auch E. Fraenkel (1919), v. a. 371 und 375. 138 Bereits 1919 hatte sich der ebenfalls dem Gedanken einer neuen humanistischen Bildungsidee anhängende Philologe Eduard Fraenkel in seiner Abhandlung Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus mit dieser Frage beschäftigt, war allerdings zu einer negativen Einschätzung gelangt: „Setzen wir eine Wiedergabe an die Stelle des Originals, so geben wir eine Deutung statt des zu Deutenden, einen Teil statt einer Totalität, und unterbinden so den Blutstrom der schöpferischen Kräfte, der nur aus dem frei gestalteten Stück Leben, dem Kunstwerke selber, in die Adern aller kommenden Geschlechter rinnt.“ Fraenkel, Vom Werte der Übersetzung für den Humanismus (1919), 381. Fraenkels Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 313–323. 139 Regenbogen, Über einige neue Virgil-Übersetzungen (1931), 151: „Doch genug der Einzelheiten. Wichtiger ist es wohl, die Höhe des Stiles am Original durch Konfrontation der Übersetzungen mit ihm zu prüfen.“ Zu den Schwierigkeiten des Stils äußert sich Regenbogen, Original oder Übersetzung? (1926), 61, folgendermaßen: Er hält gerade das Übersetzen aus dem Griechischen für eigentlich unmöglich, denn „da gibt es kein Außen und Innen, keine Vertauschtheit der Formen und Inhalte; jede Gattung spricht den eigenen, so nur ihr eigenen Stil. Und dieser Stil ist in jedem Fall ein Komplexes, geschichtet in horizontalen und vertikalen Lagen“. Regenbogen nennt neben Epos und Drama auch Prosa (speziell Herodot und Thukydides), weist metrisch gebundenen Werken allerdings die höchsten Übersetzungsschwierigkeiten zu, da dort noch das Problem der „Einheit von Rhythmus und Gehalt“ hinzutrete. 140 Der Begriff ‚Verdeutschung‘ ist des Öfteren in Übersetzungsreflexionen dieser Zeit zu finden, so auch bei Rudolf Bayr (s. o. S. 251 ff.), dessen Vorstellungen mit Regenbogens Beschreibung dieser Kategorie übereinstimmen. 141 Regenbogen, Über einige neue Virgil-Übersetzungen (1931), 164.
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dem Original fordert.142 Letztendlich erscheinen beide Möglichkeiten legitimiert, wenn er, deutlich ausgleichender als seinerzeit Wilamowitz, feststellt: Wir begrüßen sie alle, trotz unserer Kritik, mit Dankbarkeit, als Stationen auf dem immer unvollendeten Wege zu dem hohen Ziel: Erweiterung des Eigenen durch Zueignung des großen Anderen. (ebd.)
_____________ 142 So verwendet auch Regenbogen zeittypische Gedanken, wie sie bei Schildknecht, Bayr, Newald oder Rüdiger auffallen: das Übersetzen als „Erobern“, das Übersetzen als „Wiedergeburt“; darüber hinaus beruft er sich auf den Begriff des „deutschen Geistes“; s. Regenbogen, Über einige neue Virgil-Übersetzungen (1931), 164.
Horst Rüdiger Horst Rüdiger 143 entwickelte früh sein komparatistisches Interesse. So untersuchte er schon 1934 die Übersetzung antiker Literatur in der Dissertation Geschichte der deutschen Sappho-Übersetzungen, die in der Reihe Germanistische Studien erschien. Er beleuchtet darin das Übersetzen als ästhetisches und geistesgeschichtliches Problem,144 eine Perspektive, die er auch in allen seinen späteren Ausführungen beibehält: Das Problem der Übersetzung behandelte er ausführlich im Aufsatz Zur Problematik des Übersetzens (1938) in der Zeitschrift Neue Jahrbücher.145 Später erschienen seine Beiträge Übersetzen als Stilproblem (1951), auf dem Vortrag Il problema del tradurre (1943) basierend, und schließlich Über das Übersetzen von Dichtung (1958). Darüber hinaus legte er mehrere übersetzungshistorische Einzelstudien vor.146 Die überragende Bedeutung, die Rüdiger der Kunst vor der Wissenschaft beimisst, zeigt sich in seiner Betrachtung der Sappho-Übersetzungen, wo er Begriffe wie ‚Einfühlung‘, ‚Nacherleben‘, ‚Schöpfung‘ und ‚Erneuerung‘ – eine Bezeichnung, die etwa zeitgleich auch bei Wolfgang Schildknecht zentral ist – betont: Erneuerung von Dichtung kann nur aus einem der ursprünglichen Schöpfung ähnlichen individuellen Erlebnis geboren werden, weil wohl menschliche Typen wiederkehren, nie sich aber ein eigentliches Erlebnis wiederholt. […] Erneuerung von Dichtung ist eine ursprünglich schöpferische und der rationalen wissenschaftlichen Erklärung unzugängliche Handlung.147
_____________ 143 Horst Rüdiger (1908–1984) hatte nach dem Studium der Germanistik, Klassischen Philologie und Romanistik in Hamburg und Heidelberg 1932 bei Friedrich Gundolf mit der Arbeit Sappho. Ihr Ruf und ihr Ruhm in der Nachwelt promoviert. Zwischen 1938 und 1957 war er an verschiedenen italienischen Universitäten tätig. Seit 1958 hatte er eine Professur für Vergleichende Literaturwissenschaft in Mainz inne (seit 1959 als Ordinarius), von der er 1962 auf den entsprechenden Lehrstuhl in Bonn wechselte. 144 Auch bei Rüdiger (vor allem in der Einleitung) sind ‚Sprachgewohnheiten‘ der Zeit zu erkennen, wenn er vom „deutschen Formwillen“, „deutschen Geist“ und dem „Zusammenhang von Deutschtum und Antike“ spricht; s. Rüdiger, Geschichte der deutschen Sappho-Übersetzungen (1934), 6. 145 Der Aufsatz ist wieder abgedruckt bei Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 379–389. 146 Dazu gehören Wilhelm von Humboldt als Übersetzer (1936) und Oswald Beling (1937; zu dessen Übersetzung der Eklogen Vergils aus dem Jahre 1649). Der Sammlung Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen (1944) fügte Rüdiger eine Untersuchung zum Stellenwert der Übersetzung antiker Literatur im Gesamtwerk beider Dichter als Nachwort an; vgl. auch Goethe und Schiller als Übersetzer (1953). Zu Goethes Übersetzung einer Manzoni-Ode legte er überdies eine Detailstudie vor: Ein Versuch im Dienste der Weltliteratur-Idee (1960). Zu August Rodes Übersetzungsprinzipien äußerte sich Rüdiger im Nachwort zu Apulejus, Der Goldene Esel (1960). Rüdiger trat außerdem als Herausgeber, teils als Bearbeiter, teils auch selbst als Übersetzer hervor (s. Literaturverzeichnis). Später hielt er die Laudatio auf Wolfgang Schadewaldt zu dessen Ehrung bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Rüdiger, Wolfgang Schadewaldt als Übersetzer [1965]), rezensierte Neuerscheinungen – auch in Tageszeitungen – (s. Literaturverzeichnis) und verfasste außerdem einen Lexikonartikel zum Übersetzen (Rüdiger, [Art.] Übersetzung [1966]). 147 Rüdiger, Geschichte der deutschen Sappho-Übersetzungen (1934), 50 f.
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Im Aufsatz Zur Problematik des Übersetzens (1938) widerspricht Rüdiger der von Wilamowitz vertretenen These, nur der Philologe dürfe übersetzen: „Denn allein der Dichter vermag das Ideal der Treue in seiner Tiefe, das heißt in seiner Doppelsinnigkeit zu fassen.“148 Doch Rüdiger verzichtet nicht auf den wissenschaftlichen Anteil einer Übersetzung: „Das Ideal des Übersetzers wird also der philologisch geschulte oder beratene Dichter sein“ (184).149 Daraus ergibt sich die Forderung der „doppelten Treuepflicht“ (ebd.). Er sieht die Aufgabe des Übersetzers darin, im Sinne der Treuepflicht gegen die ursprüngliche Dichtung wie gegen seine Muttersprache einen Stil zu formen, der sich philologisch und künstlerisch vor dem Original und sprachlich vor dem Volke rechtfertigen läßt, in dessen geistige Welt übersetzt wird. (190 f.)
Auch bei Rüdiger ist ‚Stil‘ der zentrale Begriff. Er betont, „daß jede Übersetzung einer Dichtung in eine andere Sprache Stilisierung bedeutet“ (188). Er beruft sich, wie auch Newald, auf Schleiermacher, wenn er festhält: Schleiermachers Argumentation „bedeutet nichts anderes als ein folgerichtiges Durchdenken des Stilproblems und des Prinzips der nationalen und persönlichen Individualität, praktisch aber die Forderung nach einer Pluralität von Übersetzerstilen.“ (187). Eben diese Notwendigkeit der „Pluralität von Übersetzungsstilen“ steht bei Rüdiger im Vordergrund. Dabei sieht er es als unerheblich an, „ob der Stil original oder ‚nachgeahmt‘ ist, ob er auf historischen Mißverständnissen oder auf wissenschaftlichen Einsichten beruht.“ (189) Der Übersetzer muss also je nach Vorlage einen bestimmten Stil wählen – oder überhaupt erst schaffen.150 Dem sprachschöpferischen Potential des Übersetzens gibt Rüdiger damit – gegen Wilamowitz, mit dem er sich ausführlich auseinandersetzt – wieder deutlich mehr Raum. Die Suche nach dem äquivalenten Stil sieht er als einen dynamischen Prozess und weist dabei der deutschen Sprache besondere Möglichkeiten zu.151 Die Vorbilder der Deutschen Klassik werden nicht als verbindlich betrachtet, wobei Rüdi_____________ 148 Rüdiger, Zur Problematik des Übersetzens (1938), 184 (im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten auf diesen Aufsatz Rüdigers). So hatte Rüdiger nicht zufällig die Sammlungen Griechische Gedichte (1936) und Lateinische Gedichte (1937) in Übertragungen deutscher Dichter herausgegeben und „die sprachlich-dichterische Schönheit oder die übersetzungsgeschichtliche Bedeutung der vorhandenen deutschen Übertragungen“ als Auswahlkriterien genannt; Rüdiger, Lateinische Gedichte (1937), 280 f. Dort beschreibt er das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst so: „Daß Verdeutschungen von Philologen, Schulmännern, gewerbsmäßigen Übersetzern usw. fehlen, dürfte sich für das Gesamtbild lateinischer Lyrik, das sich aus dieser Sammlung ergibt, kaum nachteilig bemerkbar machen. […] Im übrigen kann allein der Dichter den Dichter in einer andern Sprache wiedergeben, Kunst durch Kunst und erst in zweiter Linie durch Gelehrsamkeit interpretiert werden, so daß die künstlerische Übertragung am Ende auch die treueste ist, wenn sie nicht gegen den Sinn des Originals verstößt.“ 149 Rudolf Bayr nimmt in seiner Dissertation auf diesen Passus Bezug und zeigt sich auch an anderen Punkten von Rüdiger beeinflusst (s. o. S. 252). 150 Auch in der Diskussion auf dem Artemis-Symposion 1960 (s. u. S. 273 f.) äußert sich Rüdiger entsprechend; s. Rüdiger, Diskussion (1963), 48. Staiger nimmt diesen Gedanken in seinem Schlusswort wieder auf, wenn er feststellt: „Es wird in einen anderen Stil hinein übersetzt bei mir als bei Herrn Schadewaldt“; Staiger, Schlusswort (1963), 56 f. 151 S. Rüdiger, Zur Problematik des Übersetzens (1938), 189. Somit reiht sich Rüdiger in die lange Reihe derer ein, die dem Deutschen eine besondere Eignung zum Übersetzen zusprechen (s. o. 34 f.).
Horst Rüdiger
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gers Äußerungen aber weitaus moderater sind als die Verdammungen des Epigonalen bei Schildknecht oder Bayr.152 Entsprechende Gedanken prägen auch die späteren Reflexionen Rüdigers, so in dem Aufsatz Übersetzen als Stilproblem (1951). In einem weiteren Aufsatz Über das Übersetzen von Dichtung (1958) wird dieses „Stilproblem“ des Übersetzens nochmals folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Stil transponieren […] bedeutet, entweder einen dem Original entsprechenden Stil in der Muttersprache vorfinden, oder sich ihn schaffen.“153 Das hier entschärfte Problem der Entscheidung zwischen dem Schöpferischen und dem Epigonalen, das durch die Entwicklung der deutschen Literatursprache entstanden war, sollte zwei Jahre später zum Ausgangspunkt der Diskussion zwischen Wolfgang Schadewaldt und Emil Staiger werden.
_____________ 152 Rüdiger sieht die Verwendung bestimmter historischer Stile durchaus als passende Möglichkeit an. So bewertet Rüdiger später August Rodes Übersetzung der Metamorphosen des Apuleius in einem Vergleich folgendermaßen: „Rodes Stilmischung stört uns so wenig wie Möbel verschiedener Epochen in einer Wohnung – vorausgesetzt, daß sie echt sind“; Rüdiger, Nachwort [zu Apulejus, Der goldene Esel] (1960), 554. 153 Rüdiger, Über das Übersetzen von Dichtung (1958), 184. Bei dem Komparatisten Rüdiger treten Überlegungen aus interkultureller Perspektive hinzu: Er spricht von Verfremdungseffekten und vom Gewahrwerden des Anderen; Übersetzungsgeschichte stellt sich für ihn als ein Prozess dar, der verschiedene Phasen von Umgang mit dem Fremden umfasst. Er führt daher in den späteren Aufsätzen die entsprechende Traditionsreihe Humboldt, Goethe, Pannwitz, Benjamin und Schadewaldt auf und schließt sich ihr gewissermaßen an, wenn er sie in Opposition zu Auffassungen stellt, die alles Fremde eliminieren wollen und sich ganz am Deutschen orientieren; s. ebd., 186.
Dokumentarische und transponierende Übersetzung Im Jahre 1960 veranstaltete der Artemis-Verlag anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Bibliothek der Alten Welt 154 ein Treffen, das Artemis-Symposion Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung,155 an dem neben den Hauptreferenten Wolfgang Schadewaldt und Emil Staiger und Vertretern des Verlages156 unter anderen Olof Gigon157, Walter Marg158, Horst Rüdiger159, Jürgen von Stackelberg160, Wilhelm Willige161 und Ernst Zinn162 teilnahmen. Die teilweise konträren Auffassungen in wichtigen Fragen des Übersetzens, zu denen sich Schadewaldt, einer der herausragenden Gräzisten seiner Zeit, und Staiger, der ebenso bedeutende Germanist, bereits vorher eindeutig positioniert hatten, wurden hier noch einmal präsentiert. Dass Staiger gebeten wurde, als Widerpart Schadewaldts zu sprechen, lag wohl vor allem an dem Nach_____________ 154 Zu dieser und weiteren Übersetzungsreihen s. u. Abschnitt „Übersetzungsreflexionen seit 1960“. 155 Eine Mitschrift der Redebeiträge wurde in limitierter Auflage den „Freunden des Artemis-Verlages“ als „Weihnachts- und Neujahrgabe 1963“ überreicht, war also über den Buchhandel nicht zugänglich. Die beiden Hauptreferate von Emil Staiger und Wolfgang Schadewaldt sind in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 419–423 bzw. 425–435 wieder abgedruckt. 156 Für den Verlag sprachen die Herausgeber Bruno Mariacher, Friedrich Witz und Walter Rüegg. Zur Entstehung der Reihe Bibliothek der Alten Welt vgl. Witz (1963), 7–10. 157 Olof Gigon (1912–1998), Klassischer Philologe und Philosophiehistoriker, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Übersetzung und Interpretation antiker Philosophie. Zu seinem eigenen Vorgehen bei den Übersetzungen hat er sich allem Anschein nach nicht geäußert. 158 Walter Marg (1910–1983), Klassischer Philologe, trat als Übersetzer Ovids (Amores, 1956), Hesiods (1968) und Herodots (1973) hervor. Er thematisierte Übersetzungsschwierigkeiten bei Herodot ausführlich in Marg, Vorwort (1983). 159 Vgl. Abschnitt „Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft“, S. 241–244. 160 Jürgen von Stackelberg (geb. 1925), Literaturwissenschaftler und Romanist, übersetzt selbst französische Literatur. Er befasste sich auch mit dem Phänomen des Übersetzens, das er als „literarische Rezeptionsform“ versteht; s. Stackelberg (1972). 161 Wilhelm Willige (1890–1963), Klassischer Philologe, übersetzte römische Elegien und Tragödien des Sophokles. Seine Bemerkungen im Aufsatz Vom Uebersetzen fremder, insbesondere antiker Dichtung (1957) bleiben topisch. Im Nachwort zur Übertragung des Sophokles (1966) lehnt Willige klassizistische Methoden in Metrik und Wortwahl ab, weil sie nicht das Wesen der griechischen Tragödie träfen und so kein „stilechter Eindruck“ entstehe; s. Willige, Zur Übersetzung [zu Sophokles, Dramen] (19852), 750–752. Zu Williges Übersetzung römischer Elegien s. u. S. 343. 162 Ernst Zinn (1910–1990) hatte Klassische Philologie, Germanistik, Geschichte und Archäologie (u. a. bei Ernst Buschor) studiert und wurde 1956 auf ein Ordinariat für Klassische Philologie und Komparatistik nach Tübingen berufen. Innerhalb der antiken Literatur galt sein Hauptinteresse den lateinischen Autoren, vor allem Horaz und Vergil, bei deren deutscher Übersetzung sich Rudolf Alexander Schröder von Zinn beraten ließ. Zinn war außerdem maßgeblich an der Herausgabe des Werks von Rudolf Borchardt beteiligt.
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Dokumentarische und transponierende Übersetzung
wort seiner Orestie-Übersetzung (1959), in dem er offenbar auf Schadewaldts Äußerungen zur Übersetzung des König Ödipus (1955) reagiert, wenn er in Anklang an dessen Formulierungen zwei Alternativen des Übersetzens nennt und den von Schadewaldt gewählten Weg ablehnt: Man kann sich fragen, ob man der deutschen Sprache Gewalt antun und sie der griechischen möglichst annähern solle, ob es also angezeigt sei, eher das Deutsche ins Griechische als das Griechische ins Deutsche zu übersetzen. Oder ob das andere besser sei: den griechischen Text, soweit es nur geht, an unser Ufer herüberzuziehen und dem überlieferten Körper der deutschen Sprache einzuverleiben. Schon der Begriff der Übersetzung sollte den ersten Weg ausschließen!163
Für den Übersetzungsdiskurs der Folgezeit hatten aber vor allem die Ausführungen Schadewaldts große Wirkung, wie zahlreiche Bezugnahmen auf seine Ausführungen bezeugen. Die Positionen werden hier in der Folge der Referate angeführt: Zuerst sprach Staiger, dann Schadewaldt.
Emil Staiger Emil Staiger164 übersetzte zahlreiche griechische Tragödien (alle Tragödien des Sophokles, aber auch Aischylos’ Orestie, Sieben gegen Theben und Die Perser und Euripides’ Ion), griechische Dichtung (neben einer Anthologie liegen auch Einzelveröffentlichungen zu Kallimachos, Sappho und Theokrit vor) und Vergils Aeneis.165 Zum Übersetzungsproblem äußerte er sich in diversen Vor- und Nachworten, in einem Vortrag vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,166 doch sein Referat auf dem Artemis-Symposion artikuliert sein Programm besonders deutlich. Bezüglich der Stellung einer Übersetzung zwischen beiden Sprachen entscheidet Staiger eindeutig zugunsten des Deutschen: _____________ 163 Staiger, Nachwort [zu Aischylos, Orestie] (1959), 154. Vgl. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Sophokles] (1955), 94: „Und letztes leitendes Ziel blieb also: nicht so sehr den Sophokles ins Deutsche zu übertragen als das Deutsche in den Sophokles.“ Vielleicht stellt auch der Vergleich, den Staiger zwischen Sophokles – speziell König Ödipus – und Aischylos vornimmt, einen Bezug auf Schadewaldts Übersetzungsprinzipien dar (Staiger selbst hat den König Ödipus 1936 übersetzt). 164 Emil Staiger (1908–1987) hatte von 1926 an Klassische Philologie und Germanistik in Zürich studiert. Nach der Promotion (1932) und der Habilitation (1934) ebenfalls in Zürich hatte er dort seit 1943 einen Lehrstuhl für Germanistik inne. Staiger war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler; er war Hauptvertreter der werkimmanenten Interpretation (Grundbegriffe der Poetik [1946], Die Kunst der Interpretation [1955]), die nicht zuletzt durch ihn bis in die siebziger Jahre die führende Methode der Germanistik war. Seiner ablehnenden Einstellung gegenüber manchen Spielarten der Gegenwartsliteratur, die 1966 zum „Zürcher Literaturstreit“ führte, entspricht seine vorrangige Beschäftigung mit den Klassikern, darunter auch mit antiken Autoren. Zu Staiger vgl. Wögerbauer (2000) und (2003). 165 S. Literaturverzeichnis. Staiger übersetzte auch aus dem Italienischen (Tasso und Poliziano). 166 Staiger, Homer in deutschen Versen (1966), 116–133.
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Denn über allem Bemühen, dem Wortlaut des Originals gerecht zu werden, vergesse man doch das eine nicht, daß eine Übersetzung ins Deutsche in erster Linie deutsch sein muß, daß also der Übersetzer neben den Eigenschaften, die er mit dem gediegenen Philologen teilt – oder, besser gesagt, mit ihm teilen sollte –, noch über eine verfügen muß, die mindestens ebenso wichtig ist, nämlich über die Meisterschaft im Gebrauch der eigenen, angestammten Sprache, die Fähigkeit, mächtige Verse zu schreiben und deutsche Sätze so zu modeln, daß sie ins Gemüt eindringen und jene Erregung bewirken, die vom Satzgefüge des Urtextes ausgeht. […] Höchstes Gebot ist, daß der Übersetzer die eigene Sprache beherrscht, daß er sich frei, souverän, virtuos in ihren Möglichkeiten bewegt und alles ihm zu Diensten steht, was er für sein Geschäft benötigt, die hohe und die niedere Schreibart, das Glatte und Rauhe, das Leichte und Schwere, das Liebliche und das Ungeschlachte, denn was er zu schaffen sich herausnimmt, das ist ein deutsches Sprachkunstwerk.167
Die Forderung, „daß eine Übersetzung ins Deutsche in erster Linie deutsch sein muß“, zieht nach sich, dass gegebenenfalls von der originalen Wortfolge und Syntax abgewichen werden darf: Griechische und lateinische Konstruktionen und Wortstellungen auf deutsch? Was soll das? Wir dürfen doch nicht erwarten, dass eine griechische Wortstellung im Deutschen dieselbe Wirkung habe, die ihr vermutlich im Griechischen eignet! […] Nicht Wortstellungen und Konstruktionen also gilt es nachzuahmen, sondern einen dem Griechischen analogen Effekt hervorzubringen, und zwar mit deutschen Äquivalenten, mit Mitteln, die durch und durch nur deutsch sind. (16 f.)
Staiger fordert dies ebenso in metrischen Belangen: „Auch die Frage der Metrik gilt es unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. […] Wir führen die Analogie so weit durch, als sie für uns noch faßbar, für unsere Rhythmik nachvollziehbar ist.“ (17) Er orientiert sich – und darin stimmt er grundsätzlich mit Wilamowitz überein168 – an den zum Maßstab erhobenen deutschen Literaturtraditionen.169 Ein Übersetzer müsse sich nach einem überlieferten deutschen Stil umsehen, der für seine Zwecke angemessen sei:170 Ist es Epigonentum, was ich da zu empfehlen mich anheischig mache? Ja, es ist Epigonentum. Ich scheue den Vorwurf keineswegs. Der Übersetzer – von jenen größten abgesehen –
_____________ 167 Staiger, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 15 f. Die Seitenzahlen nach den Zitaten beziehen sich im Folgenden auf diesen Text. Staigers Beitrag 168 Als einiger der wenigen weist Rudolf Bayr auf Parallelen hin: „Emil Staigers Grundsätze hat Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, wenn ich nicht irre, schon längst und viel penetranter formuliert“; Bayr, Delphischer Apollon (1965), 49. Zu Bayr s. o. S. 251–254 und u. S. 301 f. 169 S. auch Staiger, Nachwort [zu Aischylos, Orestie] (1959), 155: Für die Chorlieder empfiehlt er Hölderlin, für Dialogpartien bei Sophokles und Euripides Goethes und Schillers Blankvers, bei Aischylos den Goethe’schen Trimeter. Die jeweilige Wirkung umschreibt Staiger mit Begriffen wie „Charakter“ und „Tonfall“. Zur Problematik, dass dasselbe Versmaß bei verschiedenen Dichtern anders wirke und es im Deutschen schwierig sei, diese Differenzen abzubilden, s. ders., Zur Übersetzung [zu Theokrit, Die echten Gedichte] (1970), 23, im Hinblick auf die Unterschiede zwischen dem Hexameter Homers und demjenigen Theokrits. 170 Hommel (1963), 21, bewertet dieses Vorgehen Staigers folgendermaßen: „[A]uf ausgesprochene stilistische Verbindlichkeit ist Emil Staiger aus. Er beleiht die großen Muster deutscher Poesie zugunsten oder zuungusten der antiken Autoren.“
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Dokumentarische und transponierende Übersetzung ist Epigone, und wohl ihm, wenn er sich zu dieser bescheidenen, dienenden Rolle bekennt. (21)171
Staiger fühlt sich allerdings deutlich stärker als Wilamowitz der antiken Vorlage verpflichtet, denn er versagt sich größere Eingriffe: „Die alten Autoren sind mir zu gut, als daß ich mir irgendwelche Experimente mit ihnen gestatten möchte.“ (21) Die Achtung vor dem Original steht für ihn außer Frage. Insofern sind sich Schadewaldt und Staiger in diesem Punkt grundsätzlich einig.172 In erster Linie, und das zeigen auch Staigers Übersetzungen im Detail, möchte er sich keine Freiheit erlauben.173 In zweiter Linie erst, in der Orientierung an Äquivalenten aus der deutschen Literaturtradition, weicht Staiger deutlich von Schadewaldt ab.
_____________ 171 Späterhin hat Staiger Konzessionen gemacht: „Übersetzungen, die sich der Sprache des Urtextes nähern, haben die Grenzen der Möglichkeiten des Deutschen weiter hinausgerückt, was nie geschehen wäre, hätte der Übersetzer von vornherein sich nur bemüht, dem Fremdling unsere heimischen Sitten beizubringen.“ Staiger, Homer in deutschen Versen (1966), 128. 172 So insistiert Staiger auf Treue im Schlusswort des Artemis-Symposions: „[A]ls ob eine Übersetzung, wie ich sie meine, sich von dem Wortlaut notwendigerweise mehr entfernen müßte als zum Beispiel eine Übersetzung, wie Herr Schadewaldt sie vertritt. Das ist gar nicht wahr, es ist eine reine Stilfrage. Es wird in einen anderen Stil hinein übersetzt bei mir als bei Herrn Schadewaldt, aber dem Wortlaut nach und in der Wiedergabe des Inhalts kann prinzipiell mein Übersetzungsprinzip genau so treu sein wie das seinige.“ Staiger, Schlusswort (1963), 56 f. S. auch ders., Zur Übersetzung [zu Theokrit, Die echten Gedichte] (1970), 24: „Im übrigen gilt das Prinzip der Wörtlichkeit im rigorosesten Sinn. Mein deutscher Text in Versen sollte […] nicht minder wortgetreu sein als die englische Übersetzung in Prosa, die Gow, oder als die französische, die Legrand, gleichfalls in Prosa, unterbreitet.“ 173 S. Staiger, Schlusswort (1963), 55: „Dann möchte ich sagen, daß ich mit Herrn Schadewaldt vollkommen einiggehe in seiner Forderung, daß man nicht kürzen darf, daß man nicht ändern darf, daß man nicht dazudichten darf.“ Auch Melchinger (1966), 8, stellt neben Schadewaldt „zwei andere Gelehrte“ mit ähnlichen Vorsätzen: Karl Reinhardt und Emil Staiger.
Wolfgang Schadewaldt Die Entwicklung des dokumentarischen Übersetzens Wolfgang Schadewaldt174 entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg das von ihm so benannte Konzept des dokumentarischen Übersetzens, das er gegen das transponierende Übersetzen abgrenzt und das er auf dem Artemis-Symposion besonders pointiert vertrat. Er legte es wiederholt in Vorträgen und Aufsätzen dar, die im Folgenden zusammen dargestellt werden.175 Die beiden Bezeichnungen „transponierende“ und „dokumentarische“ Übersetzung stehen am Beginn seiner theoretischen Ausführungen noch nicht als termini technici fest. Erst auf dem Artemis-Symposion von 1960 legt er sich letztgültig auf diese Begriffe fest, die die spätere übersetzungstheoretische Diskussion nachhaltig prägten. Die damit bezeichneten Verfahren unterscheidet er bereits früher: Im Nachwort zur Übersetzung des König Ödipus (1955) benutzt Schadewaldt den Begriff „transponierendes Übersetzen“ noch nicht. Dort spricht er vom „pseudo-poetischen Überhöhen“ und „eindeutschenden Umsetzen“, in dem Aufsatz Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955) von einer parodistischen Übertragung in deutsche poetische Konventionen. In der Untersuchung Hölderlins Übersetzung des Sophokles (1956) taucht der Begriff „Transponieren“ auf, im Nachwort zur Schadewaldt’schen Odyssee-Übersetzung zum ersten Mal „transponierendes Übersetzen“, das aber bis zum Artemis-Symposion 1960 noch gleichbedeutend oder ergänzend zu „frei“ bzw. „umsetzend“ gebraucht wird.176 Die Art des dokumentarischen Übersetzens charakterisiert er im Sophokles-Nachwort (1955) noch durch die weiter gefasste Bezeichnung „wörtlich“, 1958 durch „wörtlich bewahrend“, bis er 1960 auf dem Artemis-Symposion für seine Übersetzungsregeln endlich die Benennung „dokumentarisch“ verwendet. Schadewaldts mehrteiliger Argumentationsgang für das dokumentarische Übersetzen ist dem Schleiermachers vergleichbar: Wie dieser nimmt auch Schadewaldt, bereits in seiner Rede 1927, eine grundlegende Trennung zwischen dem Dolmetschen als Übertragen von Zwecktexten auf der einen und dem „eigentlichen Übersetzen“177 _____________ 174 Wolfgang Schadewaldt war nach Ordinariaten in Königsberg (1928), Freiburg i. Br. (1930), Leipzig (1934) und Berlin (1941) 1950 nach Tübingen berufen worden. Die Hauptgebiete seiner Forschung waren Homer, die frühgriechische Lyrik, das attische Drama sowie die Wirkungsgeschichte antiker Literatur. Er trat als Übersetzer von Homer, von frühgriechischer Lyrik und von griechischen Tragikern, v. a. von Sophokles, hervor. 1965 erhielt er den Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zu seinem früheren Wirken s. o. S. 245 Anm. 29. 175 Schadewaldts zahlreiche Äußerungen zum Problem des Übersetzens sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. 176 Die Bezeichnung ‚transponieren‘, ausgehend von dem Vergleich mit dem Transponieren in der Musik, kommt recht häufig in übersetzungstheoretischen Zusammenhängen vor; s. etwa Newald, Von deutscher Übersetzungskunst (1936), 195. 177 Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 71.
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(1966 unter der Bezeichnung „literarisches Übersetzen“178) auf der anderen Seite vor.179 Auch in der Tradition des literarischen Übersetzens gibt es, so Schadewaldt weiter, zwei Modi: das transponierende und das dokumentarische Übersetzen.180 Dieser Dualismus entspricht in gewisser Weise den zwei Maximen Schleiermachers für das eigentliche Übersetzen.181 Für Schadewaldt ist jedoch, wie für Schleiermacher, nur eine Methode wirklich akzeptabel: den Leser zum Autor zu bewegen, d. h. dokumentarisch zu übersetzen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Schadewaldt aber seine eigene Ausprägung dieses Übersetzungskonzepts vornimmt. Zwar ist der Grundgedanke Schadewaldts nicht neu und zeigt deutliche Nähe zu Schleiermacher, Goethe und auch Humboldt. Deren Positionen waren bereits durch die Diskussion in den vorausgegangenen Jahrzehnten – auch von Schadewaldt – aufgearbeitet worden.182 Schadewaldts Leistung besteht jedoch darin, sie für Übersetzungsverfahren handhabbar gemacht zu haben. In einem Punkt, und zwar in der Beibehaltung der Metrik des Originals, die gerade für Humboldt ein wesentlicher Bestandteil übersetzerischer Treue war, weicht Schadewaldt allerdings ab. Während der Arbeit an seinem Sappho-Buch (erschienen 1950) und im Zuge der Lektüre von fremdsprachiger Lyrik verschiedener Zeiten mehrten sich, wie Schadewaldt selbst mitteilt, Bedenken am transponierenden Übersetzen: Da geschah mir nun etwas äußerst Merkwürdiges: ich las Victor von Strauß’ Übersetzungen von jenem altchinesischen Schi-king und fand – ich fand ständig Geibel und Heinrich Heine und nochmals Geibel und auch wohl mal Mörike und Eichendorff. Da habe ich mich gefragt, was ist denn hier bloß los, sollten die alten Chinesen des Schi-king alle schon Heinrich Heine und Geibel und Eichendorff präformiert haben?183
Erst nach dem Vergleich mit einem Kommentar und einer lateinischen Interlinearversion habe er eine Vorstellung vom Original bekommen und daraus Konsequenzen für sein eigenes Übersetzen gezogen.184 Die Sappho-Übersetzung ist allerdings noch nicht konsequent dokumentarisch, sondern erst die Übersetzung des König Ödipus, die 1952 uraufgeführt und 1955 veröffentlicht wurde. In der Folge übertrug Schadewaldt eine Vielzahl antiker Dramen. Bei Komödien stieß er allerdings, wie wir noch sehen wer_____________ 178 Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672. 179 S. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens (1927), 525; ders., Übersetzung als geistige Aufgabe (1958), 326 f.; ders., Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 24 f.; ders., Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 651. 180 Besonders deutlich ist diese Abfolge der Argumentation in Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672: „Das Übersetzen dichterischer Werke ist streng vom Dolmetschen zu unterscheiden. […] Auch innerhalb des literarischen Übersetzens sind zwei Arten zu unterscheiden, die ich die transponierende und dokumentarische nenne.“ 181 S. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 74. 182 S. o. Kapitel „Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft“, S. 241–244. 183 Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 29. 184 S. Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 28 f. 1951 schrieb Schadewaldt an Carl Orff, er habe soeben eine neue Übersetzung des Sophokleischen König Ödipus abgeschlossen, in der er nach den gleichen Prinzipien wie bei Sappho verfahren sei: „bei äußerer freier Form strengste Bindung an die nackte Wahrheit des Gedankens, seine Bewegung, seine innere Dynamik“; Wolfgang Schadewaldt an Carl Orff, 30.10.1951, dokumentiert bei Massa (2006), 227.
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den, an die Grenze seiner Konzeption. Die Übersetzungen der Dramen, zunächst vom Verleger Peter Suhrkamp angeregt, waren dann zum Großteil Auftragsarbeiten für das Theater und wurden seinerzeit vielfach als Textbasis für Inszenierungen verwendet.185 Daneben trat Schadewaldt mit seinen Homer-Übersetzungen (Odyssee zuerst 1958; Ilias 1975) hervor.186 Bevor Schadewaldts Konzept des dokumentarischen Übersetzens erläutert wird, müssen zunächst die Hintergründe dargelegt werden, die dieses Konzept bestimmen. Schadewaldts Sprach- und Literaturauffassung Schadewaldts Übersetzungstheorie wird maßgeblich von seiner Sprachauffassung beeinflusst. Intensiv setzte er sich mit der Frage nach Wesen und Funktion von Sprache auseinander und bildete seine Position in der Beschäftigung mit verschiedenen sprachphilosophischen Auffassungen (von der Antike über Humboldt bis zu Heidegger187 und neueren linguistischen Ansätzen) immer stärker aus. Die Sprache bzw. das Sprechen sind für ihn nicht nur Mittel oder Werkzeug zur Mitteilung und Verständigung, und ein Wort mehr als eine Vokabel188 – Schadewaldt wehrt sich entschieden gegen ein technisches Sprachverständnis, wie es die kommunikationstheoretisch orientierte _____________ 185 Vgl. folgende Premieren: Sophokles, König Ödipus (Darmstadt 1952), Elektra (Darmstadt 1956); Aristophanes, Lysistrata (Darmstadt 1958); Aischylos, Die Perser (Heidelberg 1959), Sieben gegen Theben (Tübingen 1960); Menander, Das Schiedsgericht (Tübingen 1963); Aristophanes, Die Vögel (Kiel 1967); Sophokles, Aias (Wiesbaden 1967); Sophokles, Oidipus auf Kolonos (Köln 1968); Aristophanes, Acharner (Frankfurt a. M. 1969), Die Frösche (Göttingen 1971); Euripides, Die Bakchen (1972). Zum dokumentarischen Übersetzen auf dem Theater s. u. S. 293 f. Zur Bedeutung Schadewaldts in Bezug auf das Theater der Bundesrepublik in den fünfziger bis siebziger Jahren vgl. auch den Abschnitt „Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945“ (u. S. 299–315). Insbesondere die Regisseure Gustav Sellner und Hansgünther Heyme arbeiteten oft mit Übersetzungen Schadewaldts. 186 Homer galt neben den attischen Tragikern und der frühgriechischen Lyrik Schadewaldts Hauptinteresse. Die von ihm verfassten Ilias-Studien (1938) kann man als sein wissenschaftliches Hauptwerk betrachten. Bereits in den Jahren 1935–1943 übersetzte er, allerdings nicht nach den Grundsätzen des dokumentarischen Übersetzens, verschiedene Ausschnitte aus Homer. Im Nachlass findet sich gar ein Versuch aus den Jahren 1944/1945, Homers Odyssee auf der Grundlage von Voss metrisch zu übersetzen; s. Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 398 Nachlass Schadewaldt A II 3 a. 187 Martin Heidegger (1889–1976), der sich mit zahlreichen antiken Texten auseinandersetzte und bei seiner Auslegung das Mittel der Übersetzung einbezog, widmete sich vor allem Fragmenten der Vorsokratiker (Anaximander, Heraklit, Parmenides), übertrug aber auch das erste Stasimon der Antigone des Sophokles (zuerst 1935, dann 1942 überarbeitet; dazu vgl. Pöggeler [1996] und Vukićević [2003]). Das Übersetzungsproblem reflektiert er wiederholt; s. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935); ders., Hölderlins Hymne „Der Ister“ (1942), 74–83; ders., Parmenides (1942/43), 12–20; ders., Heraklit (1943/44), 44 f., 62–64, 120 f.; ders., Der Spruch des Anaximander (1946); ders., Was heißt Denken? (1954); ders., Satz vom Grund (1957). Zu Heideggers philosophischer Hermeneutik und Sprachphilosophie in Verbindung mit dem Problem des Übersetzens vgl. Gondek (1996) und (1997); Heidbrink (1997); Bianco (2002) und Müller-Vollmer (2004), 143–145. Zu „Heidegger als Heraklit“ vgl. Poiss (2003). 188 S. Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1960), 29 f.
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Sprachwissenschaft seit Ende der fünfziger Jahre und in den sechziger Jahren propagierte.189 Deutlich unter Heidegger-Einfluss190 formuliert Schadewaldt: „So kann man die Sprache fassen als ontologischen Entwurf des Daseins des Menschen auf das Seiende im Ganzen, das ihm gegenübersteht“191. Erst recht sei das Griechische, so die Wertung Schadewaldts, der die Zirkularität dieser Vorstellung nicht bemerkt, keine Sprache unter vielen: [Die Seinsadäquatheit ist] ein Charakteristikum der Sprache, die wir sprechen, des Indogermanischen und besonders des Griechischen, mit dem wir es zu tun haben. Diese Sprache hat eine außerordentlich hohe Seinsadäquatheit in bezug auf das Einfangen und Sichtbarwerden-Lassen der Strukturen dieses Seins, seiner Geschichtetheit und inneren Bezüglichkeit, eben des Logos.192
Unter Berufung auf Humboldt vertritt Schadewaldt den Gedanken, dass Sprache Weltsichten widerspiegele und erschaffe, denn dieser, so Schadewaldt, „spricht davon, wie der Mensch in der Sprache gleichsam eine zweite Welt aufbaut“193. Das Besondere an Schadewaldts Sprachauffassung ist in diesem Zusammenhang die wiederholte Betonung der „Strukturen“ und „Verhältnisse“, Begriffe, die wiederum Schadewaldts intensiver Beschäftigung mit Goethe entstammen.194 Diese Auffassung wirkt sich auch bis in die praktischen Forderungen an eine Übersetzung aus (z. B. in der Berücksichtigung syntaktischer Verhältnisse). Schadewaldts Übersetzungspoetik, worunter hier die Anweisungen und Techniken zum Erstellen einer Übersetzung verstanden seien, wird also wesentlich von seiner Literaturauffassung beeinflusst, seinen Vorstellungen vom Dichter: _____________ 189 S. v. a. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (1978), 471–481. Auch Heidegger hatte sich gegen eine Auffassung der Sprache als „Verkehrsmittel“ gewehrt; s. Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“ (1942), 75. 190 Auf Schadewaldts Nähe zu „Heideggers Gedanken vom Seinsgeschick und vom Ereignis des Seins in der Sprache“ verweist Szlezák (2005), 62. Zum Einfluss Heideggers auf das Hölderlinverständnis, das wiederum auch auf Schadewaldt wirkte, vgl. Massa (2006), 69–72. Besonders aufschlussreich ist die spezielle Ausformung der Übersetzungstheorie, die Schadewaldt in einem Text zu Heideggers sechzigstem Geburtstag vornahm; s. Schadewaldt, Odysseus-Abenteuer (1949), 94–121. Die Alternative der Übersetzungsstrategie lautet ebd., 112 f., folgendermaßen: „Sie [scil. die Übersetzer] tischen Leuten, die nie einen Pfirsich sahen, eine bestimmte Sorte Äpfel auf, und die Leute sollen dann meinen, sie hätten Pfirsiche gegessen. […] Man könnte einmal einen Pfirsich vorzeigen, nicht hineinbeissen, doch dran riechen lassen. So weiss man zwar nicht, wie der Pfirsich schmeckt und wie er einem so wohl bekommt, doch hätte man seinen Duft genossen.“ Eine Untersuchung, inwieweit sich Heideggers Gedanken bis ins Vokabular Schadewaldts – auch außerhalb übersetzungstheoretischer Schriften – nachweisen lassen, wäre eine lohnende wissenschaftsgeschichtliche Aufgabe. Zum sprachphilosophischen Austausch zwischen Schadewaldt und Heidegger s. Schadewaldt, Amphibolie des Worts (1977). Zur Semiotik Schadewaldts im Anschluss an Platon, Wittgenstein und Heidegger – gegen de Saussure und in Vorwegnahme der Position von Peirce – sei verwiesen auf den Artikel von Oehler (2005), 53–76, der allerdings den Einfluss Humboldts nicht mitberücksichtigt. 191 Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (1978), 123. 192 Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (1978), 123. 193 Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (1978), 127. Zu Humboldt s. o. S. 69. 194 Vgl. Schwinge (2005), 104.
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Der Dichter realisiert sich in seinem Wort, das nicht Vokabel ist, sondern ‚logos‘, um griechisch zu sprechen, ja, der Logos, der am Anfang war. Logos in seinem eigentlichen Sinne als Proportion, als ein riesiges System von mannigfaltigen lebendigen Verhältnissen und Bezügen, das ist doch das, was Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes ist: nicht das Klingende und dann irgendwie auf unser Ohr Treffende, das ist nur das Mittel, sondern dieses Gesamte von wohlabgemessenen, in einer Sprache ganz charakteristischen, lebendig aufeinander bezogenen Verhältnissen und Bezügen mannigfaltigster Art.195
Dichtung bedeutet für Schadewaldt, soweit sie „große, ernste Dichtung“196 sei (z. B. Homers Epen oder Sophokles’ Tragödien), eine Dokumentation; Dichtungen seien „riesige Dokumentationen von etwas, das sich einmal ereignet hat“197. Dabei spielt das Wortfeld des Sehens bei Schadewaldt eine besondere Rolle: Durch Dichtung würden „Verhältnisse und Bezüge einer eigentlicheren Welt“ sichtbar, Dichtung sei demnach „Sehertum des Seienden“198, der visuelle, ja visionäre Sinn des Dichters konstituiere den „Sinn des Poetikalischen“199. Dass aber nicht jede sprachliche Äußerung von diesem dokumentarischen Charakter sei, macht Schadewaldt durch seine Kategorisierung von Literatur deutlich200: je ursprünglicher, desto weltenthüllender, wirklichkeitsschaffender das Wort. Die Überzeugung von dieser Kraft des Wortes sieht Schadewaldt auch bei Hölderlin gegeben, der das Wort des Dichters in seiner vollen Kraft als „faktisches Wort“ begriffen und wiedergegeben hat – als ein Wort nämlich, das nicht lediglich aus den Menschen und ihren Empfindungen wie Bestrebungen geredet ist, sondern das in dem hohen und letzten Sinne Wort ist, daß der Gott und das Geschehen in ihm geschieht.201
_____________ 195 Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 29 f. 196 S. etwa Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 539. 197 Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 30. 198 Schadewaldt, Das Wort der Dichtung (1960), 750. 199 Schadewaldt, Das Wort der Dichtung (1960), 751. Hier wird der Einfluss der Goethe-Philologie auf Schadewaldts Sprach- und Literaturverständnis sichtbar. Mit Goethe setzte sich Schadewaldt intensiv auseinander (vgl. etwa die Initiative des Goethe-Wörterbuches). Schadewaldts Arbeiten zu Goethe sind in Hellas und Hesperien sowie in den Goethestudien (1963) versammelt. In den Goethestudien findet sich auch der hier zitierte Aufsatz Das Wort der Dichtung (1960), in dem Schadewaldt eine ähnlich aufgeladene Auffassung vom Wort als logos vertritt wie etwa der Goethe-Forscher Friedrich Gundolf; s. o. S. 219 f. Schadewaldt selbst verweist auf Goethes Homer-Bild (Goethe, Italienische Reise, Neapel 17.5.1787, dokumentiert in Schadewaldt, Hölderlin und Homer [1949], 682 f.), das ähnliche Charakteristika aufweist wie sein eigenes. 200 Schadewaldts Wertschätzung der Sprache großer Dichtung deckt sich mit Heideggers Äußerungen über Probleme der „Übersetzungen im Bereich des hohen Wortes der Dichtung und des Denkens“; s. Heidegger, Heraklit (1943/44), 45. Heidegger unternimmt ebd., 44 f., die oben skizzierte, von Schadewaldt (und Schleiermacher) unternommene Zweiteilung in der Problemschwere des Übersetzens: „Geschäftspapiere“ ließen sich leichter übersetzen. 201 Schadewaldt, Die Hölderlinsche Antigone des Sophokles von Carl Orff (1956), 862. Die Charakterisierung des Worts als „faktisch“ bei Hölderlin schwingt vermutlich in gewisser Weise mit, wenn Schadewaldt bestimmte Dichtung als „dokumentarisch“ beschreibt, obgleich diese Bezeichnung Schadewaldts natürlich durch einen anderen Gedankengang motiviert ist. Wie nahe Schadewaldt Hölderlin
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Besonders bei Homer besitze das Wort solche Kraft.202 Dem unverbrauchten Wort wird eine Aufladung zugeschrieben, die es später nicht mehr besitze. Je häufiger benutzt, je abgegriffener, abgeschliffener es werde, umso mehr verliere es davon. Im Bereich des Dichterischen bestehe die Gefahr des Verfalls hin zur angewandten Dichtung, zur Redekunst, zum Redensartlichen.203 Schadewaldt versucht, die Dichtungssprache der griechischen archaischen und klassischen Epoche sprachphilosophisch zu nobilitieren. Schadewaldts Antike-Auffassung Die skizzierte Sprach- und Literaturauffassung korreliert mit Schadewaldts Auffassung von der Bedeutung der Antike. Dass die Beschäftigung mit der griechischen Literatur in besonderem Maße bereichernd sei, begründet er, von Werner Jaegers ‚Drittem Humanismus‘ beeinflusst,204 in seinen Reden und Schriften zu Schule und Bildung,205 deren Kern in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: Das Griechentum ist […] die Entelechie Europas, nämlich die lebendige geprägte Grundform, die sich […] in ständiger Metamorphose verwandelt und durch alle ihre Verwandlungen hindurch gerade beharrt.206
Schadewaldt stellt zwar fest, es gelte kein Winckelmann’scher Idealismus mehr, und nicht als normative Vorbilder seien die Griechen anzusehen, sondern als Modelle.207 An der Qualität dieser Modelle hingegen lässt er keinen Zweifel. Zu Homer etwa schreibt er: _____________
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ist, wird aber in folgender Äußerung ersichtlich: Das Wort in großer, ernster Dichtung sei „ursprünglich, wesensunmittelbar, seinsträchtig, sachlich erfüllt, dichterisch faktisch“; Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 539. – Den Einfluss von Heidegger und Hölderlin auf Schadewaldts Sprach- und Übersetzungskonzept zeigen außerdem die Zueignung (an Heidegger) und das Motto (von Hölderlin) in Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 5. Die Entwicklung der Sprache skizziert Schadewaldt folgendermaßen: In der Entwicklung vom mythos zum logos habe man nach Vereinheitlichung (Exaktheit statt Totalität) gestrebt, eine Entwicklung, die bereits mit Platon begonnen habe, theoretisch postuliert zu werden. Das Wort der Wissenschaft, der logos (hier wird logos freilich in einem anderen Sinne, auf einer anderen Ebene, verwendet als bei der Zweiteilung von Sprache in logos und phone) und das Wort der Dichtung (mythos) stehen sich dabei als zwei verschiedene Weisen des Worts gegenüber; s. Schadewaldt, Das Wort der Dichtung (1960). S. beispielsweise Schadewaldt, Das Wort der Dichtung (1960), 753. Zu Auffassungen von Humanismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, auch speziell zum ‚Dritten Humanismus‘, s. o. S. 246 Anm. 33. Schadewaldt, Gedanken zu Ziel und Gestaltung des Unterrichts in den Alten Sprachen auf der Oberstufe unserer altsprachlichen Gymnasien (1953), 950–972; ders., Sinn und Wert der humanistischen Bildung im Leben unserer Zeit (1955), 934–941; ders., Die Situation der Klassischen Philologie heute (1957), 973–981; ders., Die Gegenwärtigkeit der Antike in unserer Zeit (1959), 923–928; ders., Das humanistische Bildungsideal und die Forderungen (1959), 942–949. Dazu vgl. Krämer (2005), 76–91. Schadewaldt, Heimweh nach Hellas heute? (1958) 932. S. etwa Schadewaldt, Heimweh nach Hellas heute? (1958), 932 f.
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Ein Welt-Endecker und Welt-Begründer in einem bisher nicht wieder erreichten Ausmaß war Homer. […] Nach Homer ist die weltenthüllende und weltbegründende Kraft des Dichters in unserem Erdteil nie wieder so umfassend aufgetreten, obwohl auch die griechische Lyrik und Tragödie, die römisch-augusteische Dichtung, Dante, Shakespeare, die großen spanischen Dramatiker, die Dichter der französischen Klassik und unter den Deutschen vor allem Goethe in bedingter Weise so gewirkt haben.208
An anderer Stelle, im Zusammenhang mit von ihm übersetzten Werken, bewertet Schadewaldt griechische Dichtung folgendermaßen: Die große Dichtung der Griechen, die wir wiedergewinnen wollen, ist durchweg Dichtung in jenem großen ursprünglichen Sinn. Ihr Wort ist notwendiges Wort, Wort, das Welt enthält. Und selbst wo Redensartliches in diese Dichtung hineinwirkt, da ist dies immer noch ursprünglich im allgemeinen nationalen Sinn.209
Im Bildungszusammenhang rückt Schadewaldt die Lektüre antiker Originale sogar in die Nähe des Lesens in den Heiligen Schriften.210 Obwohl Schadewaldt sich gegen Winckelmann-Klassizismus und Vorbild-Idealisierung wehrt, enthält seine ModellAuffassung also noch Spuren davon:211 Er gesteht vor allem den archaischen und klassischen griechischen Dichtern zu, am originärsten mit ihren Worten Welten schaffen zu können. Aus dem bisher Angeführten lässt sich die enorme Werschätzung „hoher Dichtung“, vor allem Homers verstehen, die Schadewaldt auch Sappho, Pindar, Sophokles und Aristophanes entgegenbringt:212 So charakterisiert er Sappho als „naiv“213, und Pindar wird „archaisches Denken in Bildern“214 zugesprochen. So-
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208 Schadewaldt, Das Wort der Dichtung (1960), 751. 209 Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 539. 210 Schadewaldt, Gedanken zu Ziel und Gestaltung des Unterrichts in den Alten Sprachen auf der Oberstufe unserer altsprachlichen Gymnasien (1953), 962: „Man mag hier an das Lesen in den Heiligen Schriften denken, wo es selbstverständlich ist, daß der Lesende sich des in diesen Schriften aufbewahrten göttlichen Sinns zu versichern sucht. […] Auch das Lesen des Homer, der Tragiker, des Platon und Thukydides ist erst dann ein ‚Lesen‘ im vollen Sinn des Wortes, wenn der in diesen hohen Schriften Lesende durchdringt zu den in ihnen aufbewahrten großen Welt-Realitäten, wenn es zur vollen Vergewisserung, Vergegenwärtigung, Aneignung dieser bedeutenden Welt-Realitäten kommt.“ S. auch ders., Übersetzen als geistige Aufgabe (1958), 335: „[I]ch glaube, daß das Grundverhältnis, das der Übersetzer seinem Text gegenüber einnehmen sollte, doch dieses Verhältnis ist, das durch den religiösen und aus religiösem Geiste des übersetzenden Übersetzers der Schrift gegenüber irgendwie prinzipiell bestimmt ist.“ S. auch Anm. 289. 211 Vgl. Kritik etwa bei Fuhrmann, Die Antike und ihre Vermittler (1969), in einer Zeit, in der es aufgrund des gesamtgesellschaftlich abnehmenden Stellenwerts der Klassischen Philologie zu einer starken Selbstreflexion der Klassischen Philologie kam und Überhöhungen der Antike wie bei Schadewaldt infrage gestellt wurden. 212 Die ontologisch-weltschaffende Sprachauffassung Schadewaldts und seine Hochschätzung der frühen griechischen Literatur kommen auch dadurch zum Ausdruck, dass er Sappho zuspricht, die Erfinderin der Liebe zu sein, während Homer der Erfinder des Zorns und Sophokles der des Leids sei; s. Schadewaldt, Vorhaben [zu Sappho] (1950), 7 f. 213 Schadewaldt, Frühgriechische Lyrik (1959/60), 142. Zu den Schwierigkeiten, Sappho zu übersetzten, s. ebd., 143: „Auch diese Sprache erwächst aus einem bestimmten Weltverhältnis, einem Verhältnis zur Welt der Aphrodite, und in ihrer Anmut hat sie zugleich den Charakter einer unglaublichen Wahrhaftigkeit, mit der in ihr die Dinge gesehen, empfangen und dann gegeben werden. Sie verste-
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phokles sei frei von Ornat und „groß in der goldenen Bestimmtheit des Wortes, im unmittelbaren Ansprechen der Dinge. Sein Wort, bei aller Geformtheit, hat Natur“215. Aristophanes’ dichterische Kraft – auch wenn der Witz und die Alltagssprache in seine Komödien einziehen – stehe auf einer Ebene mit der Shakespeares, und „die Genialität der Griechen, die sonst streng gebändigt – fast allein in der Komödie freies Spiel hat, bezeugt sich in diesem Werk des jungen Dichters aufs quellendste und vielgestaltigste.“216 Diese ‚Sakralisierung‘ antiker oder vielmehr: früher griechischer Literatur hat Auswirkungen auf Schadewaldts Übersetzungspoetik.217 Aus dieser extremen Hochschätzung speist sich das Ziel, Eingriffe in das Original möglichst zu vermeiden, dessen Integrität zu wahren und höchste Authentizität auch in der Übersetzung anzustreben. Das transponierende Übersetzen Das transponierende Übersetzen bedeutet für Schadewaldt „Verdeutschen“ bzw. „Eindeutschen“, „indem man ihn [scil. den fremden Autor] seiner nationalen und persönlichen Eigenschaften entkleidet“218. In seinen Darlegungen zu Hölderlins Übersetzung des Sophokles (1956) arbeitet Schadewaldt aus den seit 1800 erschienenen SophoklesÜbertragungen vier Haupttypen heraus: die klassizistische ausgeglichene (mit ihrer Tendenz, den Ernst der Tragik zu verschönen), die schulmeisterlich gewissenhafte (die gar zu oft zu bürgerlich hausbacken ausfällt), die sprachmeisterlich ziselierende (deren zugeordnete Gefahr die Manieriertheit ist), die ‚frische‘, aktualisierende (mit ihrem Ausgleiten ins Alltägliche).219
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hen, wie schwer es sein muß, diese Dinge zu übersetzen. Immer wieder ist es von modernen Dichtern versucht worden, aber es ist im Grunde nicht wiederzugeben.“ Schadewaldt, Notiz: Zur Übersetzung (1972), 126. Dort spricht Schadewaldt auch von der „‚vorlogischen‘ archaischen Syntax“ Pindars. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 92. Schadewaldt, Die Acharner des Aristophanes (1970), 539. Schadewaldt betont auf dem Artemis-Symposion seinen Versuch, „dieses Ereignishafte, was die Dichtung mir da im Wort darstellt, nachzulallen“; Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1960), 31. Zum Begriff des Nachlallens vgl. o. S. 47 Anm. 158. Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 538. Vgl. auch ders., Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 851. Schadewaldt, Hölderlins Übersetzung des Sophokles (1956), 807. Er belegt diese Tendenzen nicht konkret mit Namen. Er führt aber Übersetzungsbeispiele für Sophokles von Tobler (1781), Stolberg (1787), Solger (1808), Boeckh (1834), Donner (1839), Wilbrandt (1866), Wilamowitz (1899), Hofmannsthal (1906) und Woerner (1942) an, die er im Vergleich zu Hölderlin abwertet. Die kritisierte Art der schulmeisterlich gewissenhaften Übersetzung taucht später nicht mehr auf, weil sie nicht grundsätzlich dem dokumentarischen Übersetzen widerspricht. Dennoch kann sie nicht als Ideal gelten, weil sich Schadewaldt nicht mit schulmäßigen Verständnishilfen begnügt, sondern auch einen poetisch-schöpferischen Anteil fordert; s. Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 674.
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Diese Beschreibungen können als Übersetzungsvorschriften ex negativo verstanden werden. Schadewaldt bestimmt später in verschiedenen Schriften drei Verfahren des von ihm abgelehnten transponierenden Übersetzens: konventionelles Übersetzen, d. h. in deutsche Konventionen hineinübersetzen, kompendiarisches bzw. reduzierendes Übersetzen und bedichtendes Übersetzen. Während beim Transponieren in Konventionen auf Goethes Begriff „parodistisches Übersetzen“ explizit verwiesen wird,220 lassen sich hinter dem reduzierenden und bedichtenden Transponieren zwei von Schleiermacher abgelehnte Formen des Übersetzens vermuten: die „Paraphrase“ und die „Nachdichtung“.221 In Bezug auf Dramenübersetzungen erklärt Schadewaldt, was er darunter versteht: Unnötig zu sagen, daß uns dem so verstandenen ursprünglichen Dichterwort gegenüber keine der drei heute meist geübten Arten des transponierenden Übersetzens genügen konnte: weder das von den feinen Kennern empfohlene Transponieren in eine der im Deutschen bereits seit Lessing, Schiller, Goethe, Kleist bestehenden dramatischen Konventionen, noch die prosaisierende kompendiarische Reduktion des Worts der alten Dichter auf die bloße Meinung, ihres Geschehens auf die pure Begebenheit, noch auch jenes Bedichten des alten Dichters, das willkürlich variierend das originale Wort umspielt und überspielt.222
Die erste Abgrenzung ist vor allem gegen Wilamowitz und Staiger zu verstehen, wobei sich Schadewaldt nicht nur auf die äußere Form wie das Versmaß, sondern auch auf die Wortwahl bezieht.223 Wilamowitz wurde von Schadewaldt ausdrücklich kritisiert,224 einen indirekten, aber nicht weniger deutlichen Verweis auf Staiger liefert ein von Schadewaldt angeführtes Beispiel aus Staigers Übersetzung der Sophokleischen Elektra: Aber ich lese Schiller lieber doch bei Schiller als bei Sophokles und Aischylos. Höre ich zum Beispiel die Sophokleische Elektra in einer neueren Übersetzung klagen: ‚Ich Schmerzensreiche!‘, so ruft das, nicht zu meiner Freude, Gretchens ‚Ach neige, du Schmerzenreiche!‘ in mir hinauf.225
Dabei bleiben aber auch die Übersetzungen des Goethe-Bewunderers Schadewaldt nicht frei von Reminiszenzen goethischen Ausdrucks. Die Ablehnung kompendiarisch-reduzierenden Übersetzens dürfte gegen Walter Jens gerichtet sein, bei der dritten Art des Transponierens, dem bedichtenden Übersetzen, hatte Schadewaldt vermutlich Ernst Buschor im Sinn.226 _____________ 220 S. Schadewaldt, Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955), 569. 221 S. Schadewaldt, Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955), 569; zu „Paraphrase“ und „Nachdichtung“ bei Schleiermacher s. o. S. 59. 222 Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 558. S. auch ders., Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672. 223 S. Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672: „in uns geläufige Begriffe, Vorstellungen und gegebene Konventionen“. 224 S. Schadewaldt, Die Antike auf der modernen Bühne (1955), 556, und ders., Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 652. 225 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 653. 226 Zu deren unterschiedlichen Übersetzungsstrategien s. u. S. 302–305 im Abschnitt „Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945“.
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Doch auch bei Schadewaldt hat das transponierende Übersetzen seinen Platz. Zwei Kriterien sind für die Entscheidung über den Übersetzungsmodus ausschlaggebend. Erstes Kriterium ist der Zweck der Übersetzung: Dort, wo es nur um den Inhalt als solchen gehe, reiche das transponierende Übersetzen aus (die „story“ werde so transportiert).227 Das zweite Kriterium ist in der oben skizzierten Schadewaldt’schen Literaturauffassung begründet, nach der bestimmte sprachliche Äußerungen transponiert übersetzt werden könnten bzw. müssten, nämlich aus dem Bereich des „Redensartlichen“:228 Darunter fallen, was die Antike betrifft „die alltägliche Umgangssprache gerade einer kultivierten Gesellschaft, wie der athenischen“ und „literarisierte Schriftsprachen kultureller Spätepochen“229 wie das Griechisch der Kaiserzeit und der Spätantike. Konkret hat Schadewaldt für Plutarch und Werke des Hellenismus transponierendes Übersetzen angeraten.230 Die für Schadewaldts eigene Übersetzungspraxis relevante Ausnahme stellt die Komödie dar, deren Witz nur durch Transponieren bewahrt werden könne.231 Später gestand er Bühnenfassungen von Komödien weitere Freiheiten zu: Das Transponieren also – in Epos und Tragödie von mir streng verpönt – hat in der Komödie sein Recht, freilich in der Form eines kontrollierten und sozusagen dokumentarischen Transponierens.232
Das dokumentarische Übersetzen Der Begriff des Dokumentarischen wird von Schadewaldt auf individuelle Weise gebraucht.233 Nachdem er das Übersetzen gegen das Dolmetschen abgegrenzt und festge_____________ 227 Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 558. Zur Wichtigkeit des Übersetzungszwecks s. auch ders., Schlusswort (1963), 52. 228 Zu seiner Unterscheidung der zwei unterschiedlichen Bereiche von Literatur s. Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 539, sowie ders., Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 32 f. 229 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 654. 230 S. Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 32: „Plutarch zum Beispiel, ein glänzender Schriftsteller, stellt dieses redensartliche Griechisch dar. Auch in der Dichtung des Hellenismus gibt es eine bestimmte konventionelle Art der Glätte. Und so gibt es noch viele Beispiele. Ich wäre immer der Meinung, daß Plutarch auch im Deutschen transponierend übersetzt werden muß.“ S. auch ders., Schlusswort (1963), 52: „Das andere, was mich sehr interessierte, war, daß allmählich immer deutlicher wurde, daß doch sozusagen eine Multiformität der Typen besteht und damit auch der Weisen […] Ich glaube, es ist völlig richtig – ich hatte es nur angedeutet –, wenn ich von dem Redensartlichen und dem anderen sprach. Selbstverständlich muß Plutarch anders übersetzt werden als Aischylos.“ 231 S. die Begründung in Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1960), 32. Außerdem hat Schadewaldt die Homerlegende transponierend übersetzt (zuerst 1942, dann 1947 und 1959), „die wir dem deutschen Leser hier in freier, doch, wie wir hoffen, sinngetreuer Übertragung brachten“; Schadewaldt, Erläuterung [zu Legende von Homer dem fahrenden Sänger] (1959), 42. 232 Schadewaldt, Zur Bühnenfassung [zu Aristophanes, Die Frösche] (1971), 103. S. auch den Abschnitt „Praktizierbarkeit des dokumentarischen Übersetzens“, S. 296 f.
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stellt hat, dass man an das Dolmetschen von Dokumenten ganz andere – strengere – Forderungen stelle als an die Übersetzung von Dichtung, dreht er die Forderungen gerade um: Nicht dort, wo es um Inhaltsvermittlung im „technischen Bereich“ gehe, verlangt er die „wörtliche“ Wiedergabe, sondern gerade bei Werken der Dichtung, die eben „riesige Dokumentationen“ seien. Da die Bezeichnung „wörtlich“ aber missverständlich sei, überträgt er die Bezeichnung „Dokument“ bzw. „Dokumentation“ auf die Art des Übersetzens.234 Der Übersetzer, der die „Dokumentationen“ anderen Seins in seiner Sprache neu verwirklicht, rekonstruiert – ‚re-dokumentiert‘ bzw. ‚re-dokumentarisiert‘ – dieses Sein für die heutige Zeit. Das Hauptaugenmerk Schadewaldts liegt stets auf der „hohen Dichtung“ und der Ausarbeitung des dokumentarischen Übersetzens, für das er konkrete Vorgaben aufstellt. Von einer Forderung, die häufig erhoben werde, nämlich derjenigen nach der Bewahrung der äußeren Form wie des Metrums, macht Schadewaldt sich frei. Die äußere Form kann er ruhigen Gewissens „opfern“235. Denn gemäß seiner Sprachauffassung gehört diese „sinnliche Form“236 zu den gleichsam unrettbaren, unwiederholbaren, unübersetzbaren Elementen der Sprache (Klang, Rhythmus), zur phone.237 Schadewaldt folgt nämlich der Aristotelischen Zweiteilung des gesprochenen Wortes in logos und phone. Spricht Schadewaldt von ‚Wort‘ im prägnanten Sinn, bezieht er sich stets auf den logos, den „Sinn“, das „Gepräge“, das „Bedeutungs-Gebende“ mit dessen „strukturellem Charakter“, nicht aber die „Stimme“, die „reine Materie“, den „Laut“.238 Logos sei also der wesentliche Teil der Sprache, während der Laut das einmalig Konkrete und nicht Wiederholbare darstelle. Zur phone gehöre, so Schadewaldt, auch das Versmaß. Hierin unterscheidet sich Schadewaldts Übersetzungsauffassung von derjenigen um 1800: Zwar übernimmt er den damals betonten Zusammenhang von Sprache und Denken sowie von Inhalt und Form, gibt aber einen Teilbereich der Form, _____________ 233 Auf die doppelte Verwendungsweise hat Szlezák (2005), 62, bereits hingewiesen. 234 Neben der Anlehnung an die Schleiermacher’sche Argumentation und neben der eigenen Sprachauffassung könnte die Formulierung R. A. Schröders, Einleitung [zu Homers Odyssee] (1940), VIII, einer „‚diplomatisch‘ getreuen Wiedergabe“ Schadewaldt zur Bezeichnung seines Konzepts angeregt haben. 235 S. die Bezeichnung des Übersetzens als „Kunst des richtigen Opferns“ bei Schadewaldt, Griechisches Theater (1964), 560: „Die Strenge des dokumentarischen Übersetzens war durchführbar nur durch ein Opfer auf der anderen Seite – wie Übersetzen denn ‚Opfern auf alle Fälle‘ oder die Kunst des richtigen Opfern ist.“ Zum Dilemma zwischen „rhythmisch-melodischer“ und „dialektisch-grammatischer“ Treue s. bereits Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzen (1813), 80: „Aber wie oft, ja es ist schon fast ein Wunder, wenn man nicht sagen muß immer, werden nicht die rhythmische und melodische Treue und die dialektische und grammatische in unversöhnlichem Streit gegen einander liegen! Wie schwer, daß nicht im Hin- und Herschwanken welches hier welches dort solle aufgeopfert werden, oft gerade das unrechte herauskomme!“ 236 Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur (1958), 540. 237 So gibt er eine feste Versform auf und schreibt Prosa (Odyssee), rhythmisierte Prosa (Ilias), freie Rhythmen (Drama) und hält sich auch nicht an die Verszahlen der Vorlage; s. Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur (1958), 540, sowie ders., Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 37. 238 Schadewaldt, Von der Mündlichkeit des Worts (1968), 778. Ausführlicher ders., Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (1978), 183 und 472 f.
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die phone, völlig auf, konkret die Nachahmung antiker Versformen des Originals239 – und damit gleichzeitig auch metrische deutsche Äquivalente (wie etwa Wilamowitz sie postuliert). In der prägnanten Kurzfassung seiner Übersetzungstheorie schreibt Schadewaldt: Von diesem „Wort“ des Dichters kann die eine Hemisphäre (die der phoné): Stimme, Klang, sinnliche Erscheinungsfülle, auf keine Weise in einer anderen Zunge nachgebildet werden, weil sinnliche Qualitäten schlechthin einmalig und nicht durch andere sinnliche Qualitäten „wiedergebbar“ sind. Die andere, rationale Hemisphäre des Wortes aber, das innere vielfältige Sinngefüge, die innere Sinngestalt, der logos, kann in seiner Eigenart weitgehend in einer anderen Zunge sinnlich neu verwirklicht werden, zumal wenn diese andere Zunge, wie das Deutsche, syntaktisch noch so schmiegsam ist.240
Das erinnert an die berühmte Forderung Heideggers: „Um das griechisch Gesagte in unsere deutsche Sprache herübersetzen zu können, ist nötig, daß unser Denken vor dem Übersetzen erst zu dem übersetzt, was griechisch gesagt ist“241. Die Betonung der „innere[n] Sinngestalt“ bedeutet nicht, dass Schadewaldt die „sinnliche Form“ der Sprache nicht wichtig ist,242 aber sie gehört der jeweiligen Sprache und nur ihr an. Die Übersetzung dürfe dabei das Akustische nicht außer Acht lassen. Daher ist Schadewaldt das laute Lesen seiner Homer-Übersetzung (vor allem der Ilias in rhythmisierter Prosa!)243 und die Aufführung der Dramen wichtig.244 Schadewaldts Definition der Übersetzung macht dies deutlich: [Die Übersetzung ist] eine sprachliche Form, die im Ringen mit dem Sprachdämon des Originals und nach dessen Maßstab im deutschen Wortlaut neu errichtet wird, gleichsam
_____________ 239 S. o. Abschnitt „Aspekte der Übersetzungstheorie nach 1800“, Aspekt 2 und 4. Die wichtigen Begriffe der Treue (Aspekt 1) und Wörtlichkeit, die Schadewaldt zu abgenutzt erschienen, ersetzt er durch die Bezeichnung „Bindung an das Original“; s. etwa Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur (1958), 541. 240 Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 559. Einen weiteren Hinweis gibt Schadewaldt in: Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672: „die ‚Stimme‘ (phoné), das heißt Klang, Farbe und gesamte äußere sinnliche Form des Originals“, müsse zwangsweise geopfert werden. 241 Heidegger, Der Spruch des Anaximander (1946), 303. Zur Verbindung Hölderlin–Heidegger– Schadewaldt in diesem Punkt vgl. Euler (1956), 20 f. Zu Heideggers Äußerungen zum Übersetzungsproblem und der entsprechenden Sekundärliteratur s. o. S. 279 Anm. 187. Zu Heideggers Übersetzung der Antigone von Sophokles vgl. Pöggeler (1996). 242 In dem leicht veränderten Nachwort zur Übersetzung der Odyssee in der Bibliothek der Alten Welt von 1966 betont Schadewaldt stärker noch als in dem Nachwort von 1958, dass auch eine Prosaübersetzung nicht unpoetisch und ganz ohne Musikalität sei. Damit begegnet er Rezensionen wie der von Seyffert (1960), 586 f., der den Status der Schadewaldt’schen Prosaübertragung als deutsches Sprachkunstwerk in Frage stellt und sie eher als „Arbeitsinstrument“ betrachtet, wobei er dann „Ausbrüche der Stillagen“ moniert, etwa die bisweilen poetische Wortwahl. 243 In der Einleitung zu der von ihm gesprochenen Schallplatte Odyssee (1958) argumentiert Schadewaldt, dass der Klang der Sprache unwiederbringlich verschollen sei, weil Akzent und Rhythmus im Griechischen und Deutschen unterschiedlich seien. Daher liest er – ganz konsequent! – neben der Übersetzung auch das griechische Original; s. Schadewaldt, Einleitung für die Schallplatte Odyssee (1958), 38. 244 So weist W. Kraus in seiner Rezension von Schadewaldts Übersetzung des König Ödipus darauf hin, dass dieser nicht einfach in Prosa, „sondern in quasi-Verse“ übersetze; Kraus (1958), 7.
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ein „Griechisch“ im Bereich der deutschen Zunge, eine Sprache, die in ihrer sinnlichen Gestalt so deutsch wie möglich ist, in der aber dabei doch die Sinnstruktur des Griechischen transparent wird.245
Der logos bleibt griechisch, die phone wird deutsch: „Ich habe mich befreit von dem übermäßigen Zwang der äußeren Form.“246 Schadewaldt legitimiert dies auch mit dem Hinweis auf das „Zeitalter der gebrochenen Form“247 und verweist damit auf den Verzicht auf feste Versmaße in deutscher Dichtung seit dem Expressionismus. Statt der Bewahrung der äußeren, metrischen Form stellt Schadewaldt drei Forderungen an eine dokumentarische Übersetzung, die er das erste Mal 1955 im Nachwort zum König Ödipus vorgelegt hatte und die seitdem durch all seine übersetzungstheoretischen Stellungnahmen hinweg konstant bleiben. Dokumentarisches Übersetzen soll durch Einhalten der folgenden Maximen – Schadewaldt nennt es auch eine „dreifache Bindung“248 – geschehen: Einmal die Forderung, vollständig zu übersetzen und nichts, was dasteht, wegzulassen, nichts hinzuzufügen. Sodann die Forderung, die ursprünglichen Vorstellungen des Dichters auch in deutscher Zunge in ihrer Reinheit zu bewahren. Und zum dritten, die Folge dieser Vorstellungen, so wie sie dem Dichter in seinem Satz vor Augen kommen, nach Möglichkeit auch im Deutschen einzuhalten.249
Mit der Forderung nach Vollständigkeit wendet sich Schadewaldt gegen Kürzungen und Zutaten transponierender Übersetzer.250 Was er darunter versteht, die Vorstellungen in ihrer Reinheit und Eigentümlichkeit zu übersetzen, erklärt Schadewaldt an anderer Stelle wie folgt: Es seien „die originalen Vorstellungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen auch im deutschen Wortlaut zu bewahren.“251 Er expliziert die Forderung einer „höheren Wörtlichkeit“252 anhand seiner Pindar-Übersetzung folgendermaßen: „Im besonderen wollte das Wort Pindars nach Wort-Art, Wort-Form, Wort-Zusammensetzung, Bildhaftigkeit des _____________ 245 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1969), 673. 246 Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1960), 37. Staiger widerspricht auf dem Artemis-Symposion den Begriffen Schadewaldts („Dokumentation“ und „äußere Form“): „Hingegen bin ich nicht mit Ihnen einig, und da werden Sie mich wahrscheinlich auch nie überzeugen, daß wir das, was eine Dichtung dann zur Dichtung macht, als äußere Form bezeichnen. Schon das Wort kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Ich würde bestreiten, daß man überhaupt bei einer Tragödie eine Dokumentation von ihrer sprachlichen Fassung irgendwie abtrennen kann.“ Staiger, Schlusswort (1963), 55 f. 247 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 663; vgl. auch Rüdiger (1966), 43. 248 Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 541. 249 Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 323. 250 S. v. a. Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 541. 251 S. Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 557. 252 Schadewaldt, Antrittrede (1958), 1042. Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Homers Odyssee spricht Schadewaldt von einer „ ‚Wörtlichkeit‘ im höheren Sinn“; Schadewaldt, Nachwort [zu Homer, Odyssee] (1958), 325.
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Worts, Wort-Folge so weit nur irgend möglich bewahrt werden.“253 Er verwahrt sich damit gegen Eingriffe des Übersetzers, die dem Original nicht entsprechen (Übersetzerdeutsch, „pseudopoetische Rhetorisierung“, Umschreibung oder Anpassung an eigene Konventionen).254 Stattdessen solle der Übersetzer den Vorstellungen des antiken Dichters folgen und versuchen, sie „in Rede, Satz, Gliedern des Satzes bis zur Stellung des einzelnen Worts in Satz und Vers weitgehend auch im Deutschen abzubilden“255. Schadewaldt betont besonders, dass die Folge der Vorstellungen beibehalten werden müsse, denn sie „führt am nächsten an die innere Sinngestalt heran“ und ist „der unmittelbarste Ausdruck für jene ‚Logik‘ des Dichters, mit der dieser auf seine Weise Welt bewältigt und Welt bildet.“256 Der Gedankenrhythmus des Dichters werde dadurch wiedergegeben, die „Art des Sehens“ und die „Art des Seins“257. Weitere Übersetzungsmaximen, die sich auf diese drei Forderungen zurückführen lassen, sind folgende: (1) Es sollen auch die derben Ausdrücke in den Dramen, v. a. in der Komödie, wiedergegeben werden.258 Damit wendet sich Schadewaldt gegen Eingriffe, die aufgrund klassizistisch-ausgleichender Antike-Vorstellungen und aus Gründen der Dezenz verharmlosen oder Kürzungen vornehmen. Allerdings müsste genauer untersucht werden, inwieweit Schadewaldt, insbesondere in der Komödie, nicht auch selbst durchaus Derbheiten und Obszönitäten verschleiernd übersetzt. (2) Schreie in der Tragödie werden „auf griechisch genuine Weise“259 beibehalten (u. a. pheu, oi moi, ai ai, otototoi, i-uh), um das gesamte Spektrum der Emotionen ausdrücken zu können.260 Hieran wird Schadewaldts Verständnis der Griechen als „Elementarwesen“ _____________ 253 Schadewaldt, Notiz. Zur Übersetzung [zu Pindar] (1972), 126. 254 S. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 92, sowie ders., Philologie und Theater (1964), 560. Eine Abneigung gegen „jede pseudopoetische Übermalung“ äußert Schadewaldt bereits in den Vorbemerkungen [zu Homerischen Szenen] (1944), 133 f. 255 S. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 91. 256 Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 93. S. ders., Notiz. Zur Übersetzung (1972), 126: Um die „Struktur des Sehens und Sagens“ beispielsweise Pindars zu zeigen, sei die Wortfolge besonders wichtig, da neben der artifiziellen Buntheit (poikilia) der archaischen Sprache Pindars dadurch seine „Art sichtbar wird, wie dem Dichter die Dinge der Welt, in ihrem Bestand wie ihrem Ablauf, vor Augen kommen.“ 257 Schadewaldt, Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung (1958), 541. Vgl. etwa konkret zu Homer: „Vor allem aber mag so [scil. durch das dokumentarische Übersetzen] etwas von jener homerischen Sehweise spürbar werden“; ders., Zur Übersetzung [zu Homer, Die Odyssee] (1958), 323. An solchen Ausführungen wird erklärlich, warum sich Schadewaldt als „Mittler“ der antiken Dichter versteht; s. ders., Übersetzung als geistige Aufgabe (1958), 339, sowie ders., Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation (1965), 685. 258 Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 500. Als Beispiel aus der Tragödie führt Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 93, „jenes aus dem großen Naturzusammenhang gesprochene ‚Bepflügen der Gebärerin‘“ an. 259 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 662. 260 Er nennt beispielsweise „jene Urschreie der Iokaste und des Ödipus, ihre Todesschreie“; s. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 93. In den Komödien allerdings verfährt Schadewaldt um einiges freier.
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deutlich, die ihre Emotionen entsprechend auf der Bühne ausdrückten.261 In diesem Punkt hat sich auch Staiger Schadewaldt angeschlossen.262 (3) Die jeweilige „Worthöhe“, so fordert Schadewaldt, müsse bewahrt bleiben.263 Homer etwa dürfe man nicht mit Pathos verzieren, denn „die einfache Sprache Homers [ist] von Übermalungen, Sprachmätzchen, Verkünstelungen und Verzierungen freizuhalten“264. Auf Schwierigkeiten weist Schadewaldt zum Teil selbst hin: Nicht immer könne man „leidige Übersetzungswörter“ meiden, um die „Eigenart der griechischen Vorstellung sichtbar“ zu machen.265 (4) Bei der durchgehenden Wiedergabe eines Wortes durch immer dasselbe zeigt sich Schadewaldt kompromissbereit: „[D]enselben griechischen Ausdruck stets mit demselben deutschen wiederzugeben, wurde angestrebt, doch nicht um jeden Preis erzwungen“266, denn das sei wegen der Spannbreite des griechischen Ausdrucks nicht immer möglich.267 Die Vergegenwärtigung antiker Literatur durch den Philologen Schadewaldt gehört zu den wenigen Vertretern der Klassischen Philologie, die das Übersetzen als wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit auffassen. Im Hinblick auf die Vermittlung antiker Literatur an ein Publikum äußert er sich folgendermaßen: Im Ganzen gesehen, erscheint mir das Übersetzen, so wie ich es nun zu betreiben suche, als die Integration des ganzen philologischen Geschäfts. Die sonst nur gar zu oft getrennten Verbindlichkeiten des Philologen und des Humanisten kommen hier unwillkürlich in der höchsten ‚Vergegenwärtigung‘ des antiken Wortes in der eigenen Sprache zusammen […].268
Schadewaldt unterscheidet drei Stufen einer solchen „Vergegenwärtigung“269: Die Grundstufe stelle das Lesen des Originals durch den Philologen und seine Erklärung _____________ 261 S. Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 497. S. auch die besonders deutlichen Stellungnahmen Schadewaldts in ders., Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1963), 39, sowie ders., Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 662. 262 Staiger ahmte zum Teil schon in der Orestie-Übersetzung (1959) die griechischen Schreie nach. Im Schlusswort des Artemis-Symposions gesteht er außerdem im Hinblick auf seine Übersetzung des König Ödipus (1936) ein: „Ich würde jetzt, wenn ich Sophokles nochmal übersetzen würde, auch so weit gehen, die Schreie nachzuahmen.“ Staiger, Schlusswort (1963), 55. S. außerdem die ausführliche Begründung für das Beibehalten der griechischen Schreie mit Schadewaldt’schen Argumenten in Staiger, Nachwort [zu Aischylos, Die Perser] (1970), 47 f. 263 Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 497. 264 Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Ilias] (1975), 426. 265 Als Beispiele nennt Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Die Odyssee] (1958), 324, „Salzflut“ neben „Meer“, „See“, „offenes, hohes Meer“. 266 Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 93. 267 S. auch Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Die Odyssee] (1958), 324: Er habe ein Wort nicht immer gleich übersetzt, „wenn doch die Vorstellungs-Aspekte verschieden waren.“ 268 Schadewaldt, Antrittsrede, gehalten im Sommer 1959 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1958), 1042. 269 Auch Staiger operiert mit diesem Begriff: „Doch nicht nur für den Regisseur und für den Zuschauer stellt sich die Frage, ob wir Aischylos noch gewachsen sind, ob wir uns noch getrauen dürfen, uns
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für sich und andere dar (Interpretation): „Diese Grundstufe der Vergegenwärtigung ist die textnächste. Doch sie vollzieht sich nur in der Vorstellung, im Denken.“270 Die Übersetzung als zweite Stufe der Vergegenwärtigung vollziehe sich „im lebendigen Wort der eigenen modernen Sprache“ und entferne sich damit notwendigerweise auch ein wenig vom Original, sei aber „als eine Neuverleiblichung im Wort“ auch „wirklicher, konkreter“271. Schadewaldt übersetzte in der Tat diejenigen Autoren, mit denen er sich interpretatorisch besonders intensiv auseinandergesetzt hatte: Mein Bestreben war, dem Homer, der Sappho, dem Pindar, den Tragikern, denen seit dreißig Jahren meine Bemühungen als Interpret gegolten haben, nun auch so viel wie nur möglich unmittelbar an Vorstellungen für das deutsche Sprach- und Kulturbewußtsein abzugewinnen.272
Nach dem Nachdenken wolle er daher gerade durch das Nachsprechen zeigen, inwieweit er die Dichter versteht.273 So könnte man Schadewaldts Übersetzung als Zeugnis seines Verständnisses des Originals lesen und sein Verfahren als hermeneutisches Übersetzen bezeichnen.274 Doch damit rückt man Schadewaldt vielleicht zu nahe heran an die dezidiert hermeneutische Ausrichtung Schleiermachers. Schadewaldt hingegen sieht, wie auch Wilamowitz, das Verständnis, die Interpretation eher als Vorstufe und unabdingbare Grundlage der zweiten Stufe, des Übersetzens, an.275 Bei Dramen komme die Inszenierung als dritte Stufe der „Aneignung“ und „Vergegenwärtigung“ hinzu, in der das Original „neu ins Bild gebracht“ werde: „Sie bewahrt, indem sie zugleich verwandelt (womit sie das Grundgesetz aller echten und lebendigen Tradition erfüllt).“276 Das Übersetzen ist somit eine Phase dieser „bewahrenden Verwandlung“. Schadewaldt verband in den fünfziger bis siebziger Jahren diese drei Stufen der „Verge_____________ 270 271 272 273 274
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seine Kunst zu vergegenwärtigen. Noch ehe die andern reden können, stellt sie sich dem Übersetzer.“ Staiger, Nachwort [zu Aischylos, Orestie] (1959), 154. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 670. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 670. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 657. S. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 326. Vgl. Rüdiger (1966), 44: „Wenn man nicht Goethes Bezeichnung übernehmen will, so würde ich den Ausdruck hermeneutisches Übersetzen vorziehen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß diese Art der Wiedergabe die sachgemäße Auslegung des Originals voraussetzt, daß sie einen ganz spezifischen Stil verlangt, der sich an keinen bekannten Stil anlehnen darf, vor allem nicht an den der deutschen Tragödie klassisch-romantischer Prägung, welcher ganz andere geistige und zeitgeschichtliche Voraussetzungen hat.“ Vgl. außerdem Kraus (1958), 6. Dass Schadewaldt fern von Skrupeln zeitgenössischer Hermeneutik war und eher der Hermeneutik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (v. a. Dilthey) vor Gadamers Neuansatz anhing, zeigt Krämer (2005), 83 und 87. Zu „Einfühlung“ s. Schadewaldt, Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation (1965), 648: Die Aussage solle „nicht bloß ‚verstanden‘, sondern innerlich ‚vernommen‘“ werden. Der Übersetzer „muß ja aus dem eigenen Leben übersetzen, er muß an der fremden Sphäre gesogen haben, wir kommen dann in den Bereich des Psychologischen, den Bereich des Individuellen, einen Bereich, den man anerkennen muß, den man als solchen anspricht, über den aber im einzelnen Worte zu machen nicht viel Sinn hat“. Schadewaldt gelangt in hermeneutischen Belangen also an eine gewisse Grenze des klar begrifflich Fassbaren; s. o. S. 202 und 207. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 671.
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genwärtigung“ antiker Texte und betonte den Gewinn, der für die Philologie durch die Kooperation mit den Bühnen entsteht.277 Das dokumentarische Übersetzen und das Theater Die Dramenübersetzungen Schadewaldts sind nicht primär als Lesedramen, sondern als Bühnentexte entstanden.278 Das Konzept des dokumentarischen Übersetzens und seine Auffassung zur Tragödie ergänzen einander.279 Schadewaldt selbst betont: Die tragische Sprache, die aus dem wörtlich dokumentarischen Übersetzen ins Deutsche resultiert, ist eine derbe und harte Sprache. Sie meidet die klassizistische Glätte, vermeidet den pseudopoetischen hohen Ausdruck, nennt wie im Griechischen die Sache scharf beim Namen, ohne damit ins Alltägliche abzugleiten. Sie ist, wie das Altgriechische, von schärfster Drastik und Unmittelbarkeit. Insofern sie die griechische Wortfolge auch im Deutschen einhält, versinnlicht sie mit den Sperrungen und Verschränkungen die extreme Gespanntheit der tragischen Existenz.280
Da die griechische Tragödie laut Schadewaldt „in der Einmaligkeit ihres Geschehens zugleich jeweilig, in ihrer versammelten Konkretheit zugleich merkwürdig abstrakt“ sei, müsse der passende Bühnenstil „realsymbolisch“ bzw. „repräsentativ-symbolisch“281 sein. Nur so – im Einklang mit dem dokumentarischen Übersetzen – könne das „tragische Wort“ richtig wirken: „Schließlich kommt alles in der Behandlung des tragischen Worts zusammen, die das Erste und Letzte in der Tragödie ist.“282 Schadewaldt sieht die antike Tragödie nicht als psychologisches Charakterdrama oder Gesellschaftsdrama, sondern „als das Spiel, das von den Leiden des Gottes wie den Leiden des Menschen handelt, der, als sterbliches Wesen, notwendig in Zwiespalt gerät _____________ 277 Schadewaldt, Experimentelle Philologie (1966), v. a. 67; s. auch ders., Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 665: „Ich war an diesen Inszenierungen vor allem als Lernender beteiligt und darf bekennen, dass ich die bühnenmäßig verwirklichende Interpretation von Regisseuren wie Schauspielern als eine aufschlussreiche, ja notwendige Ergänzung der Textinterpretation des Philologen würdige“. 278 S. etwa Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 664: „Die Verpflichtung der Wahrheit des griechischen Dichterworts gegenüber war dabei die erste und selbstverständliche Verpflichtung des Philologen. Und doch ist mein Übersetzen von vornherein zugleich ein Übersetzen für die moderne Bühne gewesen.“ S. auch ders., Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955), 545: „Aber so entscheidend in jenem Zeitalter unserer Klassik der Durchbruch zu Homer und zu den griechischen Tragikern im Sinne der Wiedergewinnung des dichterischen Worts gewesen ist: zu einer unmittelbaren Gegenwart der griechischen Tragödie auf dem Theater ist es nicht gekommen.“ Ebd. übt Schadewaldt diesbezüglich Kritik an Humboldts Agamemnon-Übersetzung. 279 Zu Schadewaldt und dem Theater vgl. Euler (1956); Hommel (1963); Melchinger (1965) und (1966); Sellner (1970); Flashar (2005); Massa (2006), 80–96; Flashar (2009), 196–198, 220, und passim. 280 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 665. 281 Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 667. 282 Schadewaldt, Antike Tragödie auf der modernen Bühne (1955), 569. S. auch ders., Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 669.
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und in diesem Zwiespalt in Leiden und Untergang bestehen muß.“283 Die Betonung des Leidens, wie es für die griechische Tragödie charakteristisch ist, bedingt Schadewaldts oben erläuterten Umgang mit den Ausrufen und Schreien: Und so müssen wir heute auch die Tragödie sehen: wie in ihr der höchste Adel der Gesinnung aus dem Elementaren eines manchmal urtümlich blutigen Zeremoniells zu einer Ekstase des Leidens und der Selbstzerfleischung, einer wahren Lust an der Klage, zum Selbstgenuß des Schmerzes aufsteigt.284
Diese starke Betonung des Elementaren und der „dunklen, wilden Seiten in der Seele des Griechen“285 geht mit Schadewaldts Ablehnung klassizistischer Vorstellungen einher. Der Wille, sich aus vorgegebenen Traditionen zu befreien, bestimmt insgesamt seine Übersetzertätigkeit. Dabei übersieht er, wie er selbst durch bestimmte Auffassungen der griechischen Tragödie – etwa durch Hölderlin – beeinflusst ist. Der sprachbereichernde Effekt des Übersetzens Schadewaldts Strategie des dokumentarischen Übersetzens ist stark am Original orientiert. Dies verbindet ihn mit Schleiermacher, Humboldt, Hölderlin sowie mit Pannwitz und Benjamin, eine Traditionslinie, in die er sich auch selbst explizit stellte.286 Pannwitz kritisiert in seiner Schrift Die Krisis der europäischen Kultur wie Schadewaldt die Orientierung an den deutschen Sprach- und Literaturtraditionen: Unsre übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen . sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks .287
Er fährt fort: Der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen . er muss zumal wenn er aus einer sehr fernen sprache überträgt auf die letzten elemente der sprache selbst wo wort bild ton in eins geht zurück dringen er muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann. (193)
Als Ideal benennt Pannwitz folgende Art der Übersetzung: „ihr stolz muss sein fast jedes wort fast die ganze wortfolge streng wieder zu geben in dem denkbar höchsten grade der interlinearversion nahe zu bleiben .“ (ebd.) Auch Benjamin formuliert: „Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.“288 _____________ 283 284 285 286 287 288
Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 669. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 663. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 663. Zu Pannwitz und Benjamin s. Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 673 f. Pannwitz, Die Krisis der europäischen Kultur (1917), 191. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1923), 21: „Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung“. Fritz Güttinger bringt daher Benjamin, Nabokov, y Gasset,
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Mit einer solchen Art der Übersetzung möchte Schadewaldt eine Bereicherung durch das Fremde erzielen,289 auch das ein Gedanke, der ihn mit den eben genannten Theoretikern, insbesondere mit Schleiermacher und Humboldt, verbindet. Schadewaldt diskutiert diesen sprachbereichernden Aspekt des Übersetzens ausführlich. Auf der einen Seite hält er zwar fest: Hier geht es nicht um Wortschöpferisches und nicht um Anmaßung von Wortschöpfung, sondern hier geht es um ein ganz einfaches Ich und Du zwischen jenem großen Phänomen und meiner Fähigkeit, es einigermaßen deutsch nachlallen zu können. 290
Auf der anderen Seite bezieht er deutlich gegen die Staiger’sche Epigonen-These Stellung: Eine Sprache ist nicht nur ein riesiger Besitz, der in der Literatur bereits fest geworden ist, eine Sprache ist vor allen Dingen auch eine umfassende Potenzialität, eine riesige Potenz, und sie ist voll von unerhörten Potenzen. Ich würde jene wirkliche Sprachbeherrschung, von der Sie, Herr Staiger, gesprochen haben, darin sehen, daß man auch etwas über die Potenzen verfügt. Und wenn man über die Potenzen des Deutschen verfügt, dann meine ich, kann es vielleicht sein, daß man durchaus deutsch bleibt, ohne doch die Sprache von gestern und vorgestern zu sprechen.291
Dafür hat man seinen Übersetzungen den Vorwurf des philologischen „Stallgeruchs“292 gemacht, wozu auch folgende Äußerung beigetragen hat: „Ich habe, um es etwas überspitzt auszudrücken, versucht, weniger den Sophokles in die deutsche Sprache, als die deutsche Sprache in den Sophokles zu übersetzen“293. Dies wird allerdings begrenzt durch die folgende Ergänzung, es sei dabei „die feine und schwer zu treffende Mittellinie einzuhalten, wo der deutsche Ausdruck schon griechisch und doch noch deutsch ist“294. Was aber deutsch sei oder nicht, sei, so Schadewaldt, nicht bereits durch Tradi_____________ 289
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Schadewaldt und Pannwitz zusammen, denen die Abneigung gegen Übersetzungen gemeinsam sei, die sich wie ein Original der Zielsprache lesen; s. Güttinger (1963), 8 ff. S. Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 672: „Das dokumentarische Übersetzen ist an der Eigenart des fremden Autors interessiert, um eine bislang fremde Eigenart unserer Sprache, unserm Fühlen und Denken nicht nur anzunähern, sondern anzueignen, um so jene übersetzerische Verpflichtung zu erfüllen, unser eigenes Dasein durch andere Weisen menschlichen Daseins zu erweitern und bereichern.“ Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1960), 33. Das (Nach-)Lallen im Zusammenhang mit dem Übersetzen antiker Texte taucht auch bei Solger auf; s. o. S. 47. Der Begriff passt zu Schadewaldts fast religiöser Hochachtung vor antiker „hoher Dichtung“; s. o. S. 284. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1960), 34. Zu Humboldts Vorstellung von der Potentialität der Sprache s. o. S. 69 f. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1963), 23. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 654. Dort nimmt er seine Äußerungen aus dem Nachwort zum König Ödipus und aus dem Artemis-Symposion wieder auf. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 654. Diese Maxime formuliert Schadewaldt bereits im Nachwort Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 94. Schon Schleiermacher sprach diesbezüglich von einer „feinste[n] Linie“; Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 81. Ebenso schwierig zu treffen wie die oben erwähnte Mittellinie zwischen den Sprachen sei dabei eine andere übergeordnete Größe beim Übersetzen, die Schadewaldt als höheres und umfassendes Prinzip anführt: „der Takt, das heißt: der Instinkt für das
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tion und Konvention vorentschieden, „[s]ondern im Sagen dessen, was ‚jetzt‘ nottut, befolgt und verwirklicht sich neu das Deutsche ständig, augenblicklich.“295 Der sprachbereichernde Effekt des Übersetzens wird auch deutlich an Formulierungen wie „poetisch-schöpferisch“296, „produktive Amalgamierung“297 oder „sprachliches Neuland“298. Nicht von ungefähr zitiert er des Öfteren Novalis, um auf den Übersetzer als „Dichter des Dichters“ zu verweisen, oder greift auf Goethes Kategorie der poetischen Interlinearversion zurück.299 Und er lobt sprachbereichernde Übersetzungen wie die von Luther, Voss, Schleiermacher, Tieck und Schlegel. Obwohl Goethe-Bewunderer, problematisiert Schadewaldt eine an deutsche Klassiker angelehnte Übersetzungssprache. Er beansprucht vielmehr die Möglichkeit, die durch die Geschichte der Literatursprache vorgezeichneten Bahnen zu verlassen, das Deutsche zusätzlich zu bereichern und sogar einen neuen Sprachstil zu schaffen: „Die Möglichkeit war nicht auszuschließen, daß man je griechischer auch um so deutscher spräche.“300 Die Praktizierbarkeit des dokumentarischen Übersetzens Schadewaldt selbst entwickelte seine Übersetzungspoetik während der Arbeit an dem Sappho-Buch (1950), arbeitete sie in ihrer konkreten Form mit der Übersetzung des König Ödipus des Sophokles aus (1952/1955), wo er sie das erste Mal auch umsetzte, und übertrug sie dann auf Homer (1958).301 Auf weitere Tragödien und Komödien wendete Schadewaldt das dokumentarische Übersetzen ebenso an, wobei er, wie bereits erläutert, in Bezug auf die Komödie eine Modifizierung vornahm: Erlaubte er sich zunächst transponierendes Vorgehen nur beim Witz, so stellte er bald fest, dass im Sinne der Bühnenwirksamkeit weitere Anpassungen oder gar Streichungen vorzunehmen seien, was er mit der paradoxen Bezeichnung „dokumentarische Transponierung“302 versah. Die später einzeln publizierten freieren Bühnenfassungen unterscheiden sich von den dokumentarischen Transponierungen in der Anthologie Griechisches Theater (1964) durch größere Abweichungen vom Original. Daher ist über den Sonderfall des Übersetzens von Komödien für die Bühne hinaus zu fragen, inwieweit die Theorie des dokumentarischen Übersetzens, die Scha_____________ 295 296 297 298 299 300 301
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jeweils Angemessene (prepon) entscheidet“; Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 557. S. auch ders., Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 94. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 94. Schadewaldt, Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 674. Schadewaldt, Übersetzen im Zeitalter der Kommunikation (1966), 687. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 323. S. Schadewaldt, Übersetzen als geistige Aufgabe (1958), 339, sowie ders., Aus der Werkstatt meines Übersetzens (1966), 674. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Sophokles, König Ödipus] (1955), 94. Die Übersetzungen von Ilias-Stellen in den dreißiger und frühen vierziger Jahren folgen seinen späteren Forderungen noch nicht, sie transponieren nur die „story“. Vgl. Schadewaldt, Vorbemerkung (1944), 133 f., zu seinen „Homerischen Szenen“, die er 1935 und 1936 übersetzt hat. Schadewaldt, Zur Bühnenfassung [zu Aristophanes, Die Vögel] (1970), 109.
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dewaldt nur dem Epos und der Tragödie eindeutig zuwies, Gültigkeit für alle Texte beanspruchen kann. Schließlich hatte Schadewaldt selbst für bestimmte Gebiete der Literatur das transponierende Übersetzen angeraten.303 Doch sicherlich ist es möglich, Schadewaldts Konzeption – dies gilt vor allem für ihre drei Grundregeln – auch auf Texte anderer Gattungen zu übertragen. So berufen sich, wie in den folgenden Kapiteln deutlich wird, nicht wenige Übersetzer antiker Literatur in Vor- oder Nachworten auf die Prinzipien Schadewaldts. Die häufig schnell gezogene Gleichsetzung von ‚dokumentarisch‘ mit ‚wörtlich‘ oder ‚ausgangssprachenorientiert‘ lässt allerdings erkennen, dass dabei oftmals wesentliche Elemente der vielschichtigen Schadewaldt’schen Übersetzungstheorie ausgeblendet werden.
_____________ 303 In der Frage nach Allgemeingültigkeit der Theorie des dokumentarischen Übersetzens betrachtet Kloepfer (1967), 71, Schadewaldts Denken in Bezug auf den Komplex der redensartlichen Literatur zu Recht noch nicht als abgeschlossen und erkennt ihm daher keine vollständige Theorie zu: „Eine Theorie der Übersetzung muß beiden Bereichen und auch der normalen, gemischten Form gerecht werden.“ Dennoch spricht er Schadewaldt zu, „mit M. Buber und F. Rosenzweig die entscheidende Wende in der Übersetzungstheorie herbeigeführt“ zu haben (ebd.). Anerkennend äußert sich auch der Romanist Hugo Friedrich (1965), v. a. 21, der sich zur Traditionslinie Humboldt – Schleiermacher – Schadewaldt (auch mit der Terminologie des dokumentarischen Übersetzens) bekennt.
Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945 Im öffentlich-gesellschaftlichen Leben waren es antike Dramen, vor allem griechische Tragödien, die durch ihre Aufführung im Theater eine breitere Wirkung als andere Gattungen antiker Literatur entfalten konnten.304 Dementsprechend bezogen sich auch Übersetzungsreflexionen nicht selten auf dieses Gebiet antiker Texte, insbesondere aus Anlass von Neuübersetzungen für die Bühne.305 Diese Diskussion wird im Folgenden erstmals aufgearbeitet.306 Bisweilen beschränken sich zwar Überlegungen zum Problem der Übersetzung auf verstreute, wenig systematische Stellungnahmen. In einigen Fällen zeigen sich aber erhellende Zusammenhänge zwischen Übersetzungs- und Theaterkonzeption.307 Wolfgang Schadewaldt, der sein Konzept des dokumentarischen Übersetzens wesentlich bei der Übersetzung griechischer Dramen entwickelte, hat bereits im vorangegangenen Kapitel zusammen mit Emil Staiger eine eigene Darstellung erhalten. Zeitlich und systematisch gehören aber beide in den Zusammenhang dieses Kapitels: Denn vor allem Schadewaldt ist jene Autorität, auf die sich die weiteren Beiträge zur Übersetzungsdiskussion in der Regel beziehen; bisweilen nimmt auch Schadewaldt wiederum zu jenen Stellung;308 andere Positionen lassen sich zumindest mit der seinen vergleichen. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass es nicht nur philologische Übersetzer sind, die ähnliche Verfahren wie Schadewaldt verwenden, sondern auch Schriftsteller und Theaterleute. Andererseits zeigt sich, dass das Schadewaldt’sche dokumentarische Übersetzen nicht die einzige vertretene Strategie des Übertragens antiker Texte für die Bühne darstellt. _____________ 304 Zur Rolle antiker Stücke auf der modernen Bühne ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren vgl. Flashar (1991), 164–302, und Riedel (2000), passim. Die Aufführungsgeschichte antiker Dramen nach dem Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert bietet Flashar (2009), 176–354. Im abschließenden Teil des zur Ausgabe von 1991 ergänzten Kapitel setzt sich Flashar mit der Frage nach der Nähe zum antiken Text auseinander, s. Flashar (2009), 351–354. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie zu – auch die Bundesrepublik beeinflussenden – bedeutsamen Antike-Inszenierungen s. u. Abschnitt „Übersetzungstheorie in der DDR“ (S. 331–334). 305 Zumeist handelt es sich bei den Reflexionen um Äußerungen der Übersetzer, während die Übersetzung in Theaterrezensionen oft nur oberflächlich besprochen wird. Eine gründliche Auseinandersetzung mit antiken Stücken auf der Bühne seiner Zeit und den ihnen zugrunde liegenden Übersetzungen liefert allerdings Hommel (1963). 306 Übersetzungen, die für bedeutende Inszenierungen verwendet wurden, zu denen es aber keine übersetzungstheoretischen Äußerungen gibt, sind hier nicht berücksichtigt. 307 Zur speziellen Problematik von Theaterübersetzungen mit Blick auf antike Dramen vgl. Flashar (2007), 19 f. 308 S. o. S. 285.
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Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatte der Klassische Philologe Karl Reinhardt 309 seiner Übersetzung der Antigone des Sophokles ein Vorwort vorausgeschickt, das er ausschließlich Übersetzungsfragen widmete. Auch wenn es sonst kaum beachtet wurde, war es insofern indirekt einflussreich, als Schadewaldt seine Opfer-Metapher daraus entlehnte. Reinhardt beginnt: „Jede Übersetzung ist, verglichen mit dem Original, Verlust im ganzen, und die Frage ist nur, was man opfert, um was zu behalten.“310 Damit versucht er, das Verhältnis von Treue und Freiheit präziser zu fassen: „[D]as sind meist nur unscharfe Begriffe. Es gibt keine Treue ohne Opfer, keine Freiheit ohne Opfer“ (3). Wie Schadewaldt dynamisiert er damit die Treue-Diskussion: Welche Elemente beim Übersetzen keinerlei Freiheit gestatten und welche freier behandelt werden dürfen, wird neu erörtert.311 Besondere Aufmerksamkeit widmet Reinhardt dem Verhältnis von Vers und Satz und ihrer jeweiligen Gewichtung.312 Diese „Ponderation“ (ebd.) solle in der Übersetzung beibehalten werden. Die Folge ist, dass die Berücksichtigung von „tontragenden Worten […] und zwar möglichst an denselben Versstellen“ (4) auch Vorrang vor Fragen der Wortwahl gewinnt. Damit setzt Reinhardt einen recht seltenen Schwerpunkt in der Prioritätenliste der in einer Übersetzung zu bewahrenden Elemente.313 Auf das Übersetzen griechischer Dramen für Inszenierungszwecke kommt er nicht gesondert zu sprechen. Heinrich Weinstocks 314 Übersetzung des König Ödipus lag der Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin 1946 zugrunde.315 Weinstock, der auch Platon, Sallust _____________ 309 Karl Reinhardt (1886–1958) wurde nach Promotion bei Wilamowitz in Berlin (1910) und Habilitation in Bonn (1914) im Jahre 1916 Extraordinarius in Marburg, 1919 Ordinarius in Hamburg, 1923 in Frankfurt, 1942 in Leipzig, 1946 wieder in Frankfurt. Zu dessen bedeutendem Sophokles-Buch (1933) vgl. Flashar (2009), 141 f. 310 Reinhardt, Vorwort (1942), 3 (die Seitenzahlen nach den Zitaten beziehen sich im Folgenden auf dieses Vorwort Reinhardts). Vgl. Schadewaldt, Philologie und Theater (1964), 560: „Die Strenge des dokumentarischen Übersetzens war durchführbar nur durch ein Opfer auf der anderen Seite – wie Übersetzen denn ‚Opfern auf alle Fälle‘ oder die Kunst des richtigen Opferns ist“. Ein Hinweis auf Reinhardt findet sich im Nachlass Schadewaldts, Bayerische Staatsbibliothek München Ana 398 XI 8, Von Freud und Leid des Übersetzens (1965), 17. Freilich ist der Gedanke an sich schon viel älter; s. etwa Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 80. 311 Eine durchgängige Übernahme der Versmaße des Originals lehnt Reinhardt ab. Er wählt statt des Trimeters den Blankvers, die Anapäste hingegen belässt er, bei den Chorpartien unternimmt er einen Kompromiss: Den mehr oder weniger freien Rhythmen stellt er die Bezeichnung „Strophe“ und „Gegenstrophe“ bei. Auch Reinhardt beruft sich für den Bereich der Metrik auf Andreas Heusler; S. 23 und 258. 312 Damit sind etwa Doppelungen, Dreigliedrigkeit oder die relative Länge eines Satzganzen in Bezug auf eine bestimmte Zahl von Versen gemeint; s. Reinhardt, Vorwort (1942), 3 f. 313 S. Reinhardt, Vorwort (1942), 4 f. Zur Frage der Betonung als Übersetzungsproblem vgl. ansonsten R. A. Schröder (s. o. S. 259–264), R. Schottlaender (s. u. S. 322 ff.), J. Blänsdorf (s. u. S. 348 f.). 314 Heinrich Weinstock (1889–1960) hatte Germanistik, Klassische Philologie und Philosophie, u. a. bei Wilamowitz, studiert. Nach seiner Promotion in Münster (1921) trat er in den höheren Schuldienst ein und wurde Direktor des Kaiser-Friedrich-Gymnasiums in Frankfurt a. M. (1926–1949). 1949 erhielt er einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik in Frankfurt a. M. Bereits die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hatte ihn in der Antike nach Vorbildern für die Lebensführung suchen lassen. Das manifestiert sich in seinem Sophokles-Buch von 1931 und wiederholt sich nach dem Zweiten Welt-
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und Thukydides übersetzte,316 äußert sich nur im Vorwort zu den Übersetzungen sämtlicher Sophokles-Tragödien (1941) zu seinen Grundsätzen: Die Wilamowitz’sche „Lehre vom Übersetzen, so einleuchtend sie auch zunächst wirkt“, halte er „im Tieferen für irrig“ (VII), vor allem in Bezug auf die Metrik. Obgleich er vom Leser und Hörer spricht und typographische Hilfen für lautes Lesen eingefügt hat, geht er auf die Besonderheit des Übersetzens für die Bühne nicht gesondert ein. Er betont nur die Bildhaftigkeit der Sprache und das Musikalisch-Rhythmische der Chorlieder,317 bleibt aber sonst recht vage. Er ist, trotz des Willens, „Wort und Fluß der Sophokleischen Sprache so treu wiederzugeben, wie es die deutsche Sprache gestattet“ (IX), weit entfernt von den Prinzipien, die das dokumentarische Übersetzungskonzept bestimmen. Rudolf Bayr 318 setzte sich ebenfalls kritisch mit Wilamowitz auseinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen seine Übertragungen griechischer Tragödien, die in den fünfziger und sechziger Jahren auch am Wiener Burgtheater aufgeführt wurden.319 Während er in seinen früheren Reflexionen ins Spekulative abgleitet, lassen sich die späteren übersetzerischen Grundsätze zunehmend mit den Schadewaldt’schen vergleichen.320 Bayr wolle, so führt er an, folgende Eigentümlichkeiten der Vorlage nachbilden: Die syntaktische Beweglichkeit der deutschen Sprache erlaubt es, das deutsche Wort eng an das griechische zu schmiegen, Vorstellung an Vorstellung zu schließen, soferne man nicht einzig jenes Gefälle für deutsch hält, welches die Kinnlade, gewohnheitsmäßig sich hebend
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krieg. Flashar (2009), 179, bezeichnet die Übersetzungen im negativen Sinne als „humanistisch durchtränkt“. Zu Weinstock vgl. außerdem Regenbogen (1954). Vgl. Flashar (2009), 178. Zu den „Nachkriegserscheinungen“ des Theaters im Zusammenhang mit antiken Dramen vgl. das entsprechende Kapitel ebd., 176–193. S. Literaturverzeichnis. Seine Übersetzungen wurden größtenteils vor dem Zweiten Weltkrieg beim Kröner-Verlag veröffentlicht und auch danach dort immer wieder neu aufgelegt. S. Weinstock, Vorwort [zu Sophokles, Die Tragödien] (1941), VII f. Weinstock wendet sich gegen eine Auffassung, die Sophokles’ Sprache als von rhetorischen Kunstmitteln bestimmt ansieht, s. ebd., VIII: „Auch die schon erwähnten Bilder dienen nicht der Hebung der Sprache in eine höhere Sphäre, sondern sie sind der unmittelbare und notwendige Ausdruck einer erschütterten Seele, welche Erlebnisse nicht in Bilder überträgt, sondern sie bildhaft hat.“ Vgl. auch die anti-rhetorischen Züge bei Schadewaldt, s. o. S. 279 f. Zu Rudolf Bayrs Wirken und seinen früheren Übersetzungsreflexionen s. o. S. 251–254. In der Nachkriegszeit nahm er verschiedene Funktionen im kulturellen Leben Österreichs wahr. 1953 wurde er mit dem Grillparzer-Preis, 1960 mit dem Österreichischen Staatspreis geehrt. Seine literarischen Interessen hatten ihn auch zur antiken Literatur geführt: 1948 erschienen Nachdichtungen griechischer Gedichte und Chöre. Später folgten seine Tragödien-Übertragungen. 1952 wurde seine Nachdichtung des Sophokleischen Oidipus auf Kolonos (entstanden 1946) im Wiener Burgtheater aufgeführt (Neufassung 1965 bei den Salzburger Festspielen). Bayrs Übersetzung von Sophokles’ Oidipus auf Kolonos unterscheidet sich von seinen anderen Übertragungen und ist auch als Nachdichtung bezeichnet. Zur Unterscheidung von Übersetzung bzw. Übertragung gegenüber Nachdichtung s. Bayr, Delphischer Apollon (1965), 52 f. Seine Übersetzung des Agamemnon von Aischylos wurde 1958 uraufgeführt. Von Sophokles übersetzte Bayr außerdem König Ödipus (Uraufführung 1960), Antigone (Uraufführung 1961) und Elektra (Uraufführung 1962). Allerdings referiert Bayr in der Dissertation aus dem Jahre 1942 (s. o. S. 251 ff.) die Regeln des französischen Latinisten Jules Marouzeau (1878–1964), die Schadewaldts Auffassungen schon sehr nahe kommen; vgl. Marouzeau, Traduire (1937).
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Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945 und senkend, taktiert. Die einzelnen Wörter sind nahezu durchgängig an jenen Platz gerückt, den sie in der Vorlage einnehmen. […] Ließ die Wahl der deckenden Vokabel mehr als eine Möglichkeit, zog ich die blassere, trockenere vor. […] Dasselbe griechische Wort ist meistens mit demselben deutschen Wort wiedergegeben, auch in Fällen kurzfristiger Wiederholung, worin der Grieche weniger empfindlich ist, als wir es sind.321
Die Orientierung an Wort und Wortfolge sowie das Vermeiden hochgestochener Wortwahl322 und das Hintansetzen des Metrischen sind – gewiss nicht zufällig – Übereinstimmungen mit Schadewaldt, die den Regisseur Gustav Sellner, der sonst auch häufig Schadewaldts Übersetzungen verwendete,323 zum Einsatz von Bayrs Übertragungen für seine Salzburger Inszenierung 1965 bewogen: Er verwendete Bayrs König Ödipus in einer gegenüber der Burgtheaterversion von 1960 gründlich überarbeiteten Fassung, und Ödipus auf Kolonos. In einer Rezension heißt es zu Bayrs Übersetzungen, die in eine Traditionslinie mit Schleiermachers Konzept des Fremdbelassens gestellt werden, Bayr habe „eine sprachlich womöglich noch tiefer begründete Annäherung an Wort und Geist des Originals gefunden [scil. als Schadewaldt]“324. 1965 nimmt Bayr selbst explizit Bezug auf Schadewaldt und führt Wilhelm von Humboldt („das Fremde fühlbar machen“), Walter Benjamin sowie Rudolf Pannwitz als seine Vorbilder an.325 Auch die von Schadewaldt besonders problematisierten Schreie thematisiert Bayr und plädiert ebenfalls für eine Beibehaltung der originalen Interjektionen, will jedoch die konkrete Ausführung dem Regisseur überlassen.326 Speziell im Hinblick auf die performative Situation des Theaters nennt Bayr eine weitere Besonderheit: „Hartnäckig hielt ich darauf, die Demonstrativpronomina um ihrer bühnenergiebigen Geste des Zeigens und Hinweisens willen nicht zum bestimmten Artikel zu verdünnen“327. In etwa den gleichen Zeitraum fällt auch die Verwendung der Übertragungen Ernst Buschors 328, der wiederum ein ganz anderes Vorgehen wählte. Er übertrug zwi-
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321 Bayr, Übertragung des Sophokles (1963), I. 322 S. Bayr, Delphischer Apollon (1965), 52: „Könige und Unheil dürfen kommen und gehen, brauchen also nicht zu schreiten, zu stürzen, um königlich oder furchtbar zu sein.“ Vgl. Melchinger (1965), 21: „Bayrs Tragödiendeutsch meidet Schönklang und Dunkelheit […] Was einigen bei Bayr salopp vorkam, ist in Wahrheit die Schlichtheit des Sophokles“. 323 Zu Schadewaldt und Sellner s. o. S. 279 und 293. Zur Nähe zwischen Bayr und Schadewaldt vgl. Hommel (1963), 21. 324 Melchinger (1966), 8. Auch Fuhrmann (2000/1), 11, hält Bayrs Übertragungen im Bewahren des Fremden für noch konsequenter als die Schadewaldts, ja fast schon für zu konsequent. 325 S. Bayr, Delphischer Apollon (1965), 50. 326 S. Bayr, Delphischer Apollon (1965), 52, wo er auf Schadewaldt und dessen Feststellung verweist, dass Interjektionen eigentlich mit „Oh“, „Ach“ und „Weh“ nicht äquivalent wiedergegeben werden könnten, s. o. S. 290 f. 327 Bayr, Übertragung des Sophokles (1963), I. 328 Ernst Buschor (1886–1961) fand nach seinem Studium der Altertumswissenschaften in München (1905–1908) und der Promotion (1912) in Klassischer Archäologie mit seinem Frühwerk Griechische Vasenmalerei (1912) internationale Anerkennung. Von 1921 bis 1925 war er Direktor der Abteilung Athen des Deutschen Archäologischen Instituts. 1925 bis 1961 war er Leiter der Ausgrabungen auf Samos und lehrte als Professor an der Universität München (1929–1959). Er leistete wichtige Beiträge zum Verständnis der griechischen Kunst der archaischen Zeit. Vgl. Walter (1979); zu Buschor als Übersetzer v. a. ebd., 10–17.
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schen 1942 und 1961 sämtliche 31 erhaltenen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Ein geschlossenes Konzept des Übersetzens antiker Texte entwarf Buschor nicht, jedoch finden sich verstreute Bemerkungen in den Vorworten, aus denen man immerhin den individuellen Ansatz rekonstruieren kann, den er für seine Übersetzungstätigkeit entwickelt hatte.329 Buschors Äußerungen wirken sehr unscharf und sind von einer gewissen Überhöhung der Antike geprägt. Jedoch wurden seine Übertragungen selbst Ausgangspunkt für übersetzungstheoretische Stellungnahmen anderer.330 Zum Großteil sind diese Übertragungen als Auftragsarbeiten für bestimmte Inszenierungen entstanden.331 Nicht zuletzt von daher bestimmt sich der Charakter der Übersetzungen, wie Buschor selbst formulierte: Der Gedanke an das Spiel, an das gesprochene Wort habe ihn geleitet.332 Außerhalb davon hätten seine Übertragungen „keine Berechtigung“333. Auf die persönliche Konstellation als übersetzender Archäologe spielt Buschor an, wenn er feststellt: Bei der Übersetzung standen mir freundliche Helfer und ernste Mahner zur Seite: die volltönenden und doch schwerelosen plastischen Gestalten der parthenonischen und der nachparthenonischen Erzkunst mit ihrem einheitlichen Umriss, ihrer federnden Gespanntheit, ihrem strömenden Klangbau: ich weiß, was ich ihnen schuldig bleiben mußte.334
_____________ 329 S. Buschor, [Vorwort zu Euripides, Medeia] (1952), 5 f.; ders. [Vorwort zu Aischylos, Die Perser] (1953), 5 f.; ders., Nachwort [zu Aischylos, Die Perser] (1953), 305–307; ders., [Vorwort zu Sophokles, Antigone] (1954), 5 f.; ders, [Vorwort zu Euripides, Die Troerinnen] (1957), 5 f.; ders., [Vorwort zu Euripides, Orestes] (1960), 5 f.; ders., [Vorwort zu Euripides, Helena] (1963), 5 f. 330 Vgl. etwa Schottlaender, Zur Aktualisierung aktueller Dramatik (1969), 90 und 92, sowie Ebener, Blick in die Werkstatt (1973), passim. Das liegt zum einen daran, dass er sämtliche Tragödien übertragen hat, zum anderen an der weiten Verbreitung durch namhafte Verlage (Beck, Heimeran, Reclam). 331 S. Buschor, [Vorwort zu Euripides, Helena] (1963), 6. 332 S. Buschor, [Vorwort zu Euripides, Medeia] (1952), 6. Flashar (2009), 195, hält fest, die Übertragungen Buschors seien „durchaus bühnenwirksam, aber voller Willkürlichkeiten, mit denen sich Buschor souverän und wohl auch sehr schnell über den Text hinweggesetzt hat.“ 333 Buschor, [Vorwort zu Euripides, Die Troerinnen] (1957), 6, sowie ders., Über das Griechische Drama (1963), 12. Buschors Übersetzungen wurden in den fünfziger und sechziger Jahren für zahlreiche Inszenierungen zugrunde gelegt (vgl. Flashar [2009], 195 f.), werden aber auch heute noch herangezogen (vgl. ebd., 240 f., 307, und passim). Als Lesetexte scheinen sie nach und nach durch neuere Übersetzungen verdrängt zu werden. 334 Buschor, [Vorwort zu Sophokles, Antigone] (1954), 6. In der ausführlichen Würdigung Buschors als Übersetzer stellt Luzzato (1961), 82, diese Besonderheit klar heraus: „L’archeologo considera i drammi, contemplando le statue e rievocando la musica. Il suo rinnovamento del testo poetico è preoccupato sempre dell’immediatezza dell’azione espressiva delle battute: ed effetivamente, senza rinunziare all’intensità poetica, egli ottiene una trasparenza di dizione appassionata, che non ha nulla di arcaico o di astruso. Buschor arrotonda mirabilmente la forma: in modo che nella sua traduzione non si trova già una realizzazione ineguale di adeguazione, di efficacia, di intensità poetica, ma bensì la convincente continuità della stessa chiarezza: e l’allontanamento dalla fedeltà letterale è sempre quel tanto per raggiungere l’immediatezza evidente: il resultato non è peró una trasposizione organica sopra un altro piano, bensì qualchecosa che sembra rinnovare il testo originale, in una realtà molto simile“.
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Buschor weist auf die prinzipielle Unmöglichkeit hin, ein griechisches Drama mitsamt seinen kulturellen und anthropologischen Voraussetzungen335 im Deutschen wiederzugeben: Die Sprache des Dramatikers läßt sich durch andere nicht ersetzen; Übersetzungen zerstören gerade den dramatischen Charakter der Sprache, stehen vor der schweren Aufgabe, ihn auf Umwegen zu erneuern. Gerade Übersetzungen antiker Dramen stehen hier vor großen Schwierigkeiten, weil die Sprache der Antike, vor allem das Griechisch seinen besonderen, allem Nachantiken fernliegenden, urtümlichen Klangcharakter und substantielle Inhaltsfülle hat, so daß sich der Sprachkörper eines antiken Dramas von dem abstrakteren, inhaltsbetonteren des nachantiken Dramas wesentlich unterscheidet.336
Buschor betont insbesondere die akustisch-klangliche Dimension der griechischen Dramen. Er legt dar, er habe „aus der Verantwortung gegenüber dem Vokalismus und der dichten Sprachsubstanz der Ursprache heraus, eine konzentriertere Übertragung durchgeführt“337. Damit legitimiert er auch Kürzungen: Er habe zwar in die Vers- und Wortzahl, nicht aber in die Bilder- und Gedankenfülle eingegriffen.338 Schadewaldt würde Buschors Eingriffe sehr wohl als Streichungen bezeichnen, die gegen die Forderung verstoßen, nichts wegzulassen. Buschors „Treue gegenüber dem vollen Klangkörper“, der „erst der Verpflichtung des Übersetzers das volle Maß setzt“339, bleibt hingegen überaus vage. Somit sind gerade Freiheiten für Ernst Buschors Übertragungen charakteristisch, die auch zu interpretierenden Formulierungen führen können, die nicht aus dem Original zu gewinnen sind. Daher wird Buschors Übersetzungspraxis mitunter in eine Linie mit der von Wilamowitz gestellt.340 In der Orientierung an deutschen literatursprachlichen Traditionen und in der gleichzeitigen Freiheit bei der Wahl der äußeren Form341 stimmen ihre Konzeptionen in der Tat überein, ihre Überset_____________ 335 Buschors Griechenbild wird deutlich in seinen Äußerungen Über das griechische Drama (1963), 39 f.: „Man kann diese dramatische Begabung, ja man muß sie in Beziehung setzen zu der philosophischen und der plastischen: so wie die Griechen das philosophische Denken und die kontrapostisch bewegte Plastik ‚erfinden‘ mußten, war ihnen auch die ‚Erfindung‘ des Dramas beschieden. Als der Weltgeist dieses Volk zur Wirksamkeit für den großen Weltenplan erkor, hat er ihm diese Spannung, um nicht zu sagen diesen Zwiespalt verliehen: Geist in neuer Weise als Gegenwelt der Natur zu erleben, das Leid des Schicksals als göttliche Macht zu ergreifen. Grieche sein, Grieche im eigentlichen, wesentlichen Sinne sein, heißt nicht: im Meer der sinnlich-göttlichen Natur sich treiben zu lassen, sondern Klippe sein, an der die Brandung bricht.“ 336 Buschor, Über das Griechische Drama (1963), 30. 337 Buschor, [Vorwort zu Euripides, Medeia] (1952), 6. 338 S. Buschor, [Vorwort zu Euripides, Medeia] (1952), 6. Buschors Ausführungen kreisen um die Schwierigkeiten, die „Bildersprache“ der griechischen Tragödien für die Bühne zu erneuern; s. ders., Nachwort [zu Aischylos, Die Perser] (1953), 306. 339 Buschor, Nachwort [zu Aischylos, Die Perser] (1953), 306. 340 Frey (1964), 187, hält Buschor vor, dem antiken Drama eine deutsche Form geben zu wollen und sich dabei zu weit oder in falschen Belangen von der Form des Urbildes gelöst zu haben und sich gleichzeitig in anderen Punkten nicht genügend zu lösen. 341 Buschors Umgang mit der antiken Metrik ist uneinheitlich. Da ihm das klangliche Moment des Dramas wichtig ist, widmet er metrischen Fragen allerdings stets breiten Raum; vgl. Buschor, [Vorwort zu Euripides, Medeia] (1952), 6, sowie ders., Nachwort [zu Aischylos, Die Perser] (1953), 306.
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zungen sind also nach Schadewaldts Terminologie transponierend.342 Buschors Einstellung wird von G. A. Seeck in der Gesamtausgabe von Buschors Euripides-Übertragungen treffend bezeichnet: Buschor wollte weder eine freie Nachdichtung schaffen noch ließ er sich durch Verszahlen, grammatische Konstruktionen oder metrische Schemata einengen. Er wollte im philologischen Sinne streng übersetzen und zugleich die Übersetzung zu eigener Lebendigkeit bringen. […] [E]r war nicht im geringsten bereit, die deutsche Sprache dem Original zu opfern […].343
Im Verlaufe der späten sechziger Jahre kam es im Zusammenhang der 68er-Bewegung zu verstärkter Aktualisierung, Ideologisierung und Repolitisierung antiker Dramen auf der Bühne. Ein in diesem Sinne politisches Interesse an der Verwendung antiker Texte lässt sich etwa bei Walter Jens 344 ausmachen. Er sorgte in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren für eine breite Vermittlung der Antike,345 unter anderem durch eine Reihe von Übersetzungen, Bearbeitungen und Nacherzählungen. 1958 erschienen seine Nacherzählungen der Ilias und Odyssee und eine Übertragung der Antigone, 1961 die Übertragung der Orestie, 1963 des König Ödipus und 1965 des Aias. Seine Fassungen von Euripides’ Troerinnen (Der Untergang 1982) und Aristophanes’ Lysistrate (Die Friedensfrau 1986) sind dann vielmehr Bearbeitungen,346 deren politisierende Intention deutlich spürbar ist. Jens bediente sich mit Buch, Bühne, Hörspiel und Fernsehen unterschiedlicher Medien und vieler Gattungen. Im Zusammenhang seiner „freien Übertragung“ der Orestie, wie Jens selbst sie im Untertitel charakterisierte, gab er über das von ihm angewandte Verfahren Auskunft: Unter diesen Aspekten war es meine Aufgabe, an der Grenze von ‚Übersetzung‘ und ‚Nachdichtung‘ dem Drama seinen Rang als Theaterstück wiederzugeben. Darum die Wortwörtlichkeit vieler Passagen, darum auch die vielen Freiheiten […], Sprechbarkeit eines Theater-
_____________ 342 Auch Flashar (2009), 195, ordnet Buschors Übersetzungen der transponierenden Art zu. 343 Seeck (1972), Bd. 1, 319. S. auch ebd., Bd. 2, 273: Für Buschor gelte das Prinzip, „Freiheit im Äußeren walten zu lassen, um desto größere Strenge im Wesentlichen anzuwenden. So werden Einzelheiten manchmal in einer Weise umgesetzt, die sich rein sprachlich kaum rechtfertigen lässt, die in der Wirkung jedoch einen Gesamteindruck ergibt, der dem Text besser entspricht als eine pedantische Wiedergabe von Einzelheiten.“ Vgl. ebenso ders., Artemis-Wegweiser (1983), 184. 344 Walter Jens (geb. 1923), Philologe, Schriftsteller und Publizist, hatte in Hamburg und Freiburg Klassische Philologie und Germanistik (u. a. bei Bruno Snell und Martin Heidegger) studiert und lehrte nach Promotion (1944) und Habilitation (1949) in Tübingen Klassische Philologie. Als Mitglied der Gruppe 47 gelang ihm ab 1950 auch als Schriftsteller der Durchbruch. Als Kenner der griechischen Dramatik weist ihn vor allem die überarbeitete Fassung seiner Dissertation Die Stichomythie in der frühen griechischen Tragödie (1955) aus. Von 1963 bis 1988 war er in Tübingen Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik. Dazu wirkte er auch als politischer Publizist. Neben den oben aufgeführten Werken der klassischen Antike übersetzte er auch die Evangelien und den Römerbrief. 345 Zu seinem Verhältnis zur Antike s. Jens, Mein Bild von der griechischen Antike (2002), 181–185. 346 Vgl. Seidensticker (2002), 186–208. Jens betont bezüglich der Troerinnen selbst, dass der Begriff „Um- oder Nachbildung“ – „Aneignung des Vergangenen nach Maßgabe der Gegenwart“ – angebrachter sei als der der Übersetzung; s. Jens, Der Untergang (2002), 237–260. Zu Jens’ Lysistrate im Vergleich mit Erich Frieds Übersetzung s. S. 308 Anm. 365.
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Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945 stücks, das aus dem Lesesaal dahin zurückgeholt werden muß, wohin es gehört – auf die Bühne.347
Klarheit und Einfachheit machen Jens’ Dramenübertragungen aus, die teils eben wegen ihrer „gefälligen Sprechbarkeit“ und „schlanken, präzisen Modernität“348 gelobt, teils aber kritisiert wurden.349 Auch Schadewaldt formuliert Vorbehalte gegen die verständliche und, wie er sie nennt, „reduzierende“ Übersetzungsart.350 Auch Claus Bremer 351 übersetzte griechische Stücke für die Bühne mit dem Ziel der Klarheit. Von ihm liegen Ödipus (1963), Der Frieden (1965), Lysistrata (1966), Antigone (1969), Ekklesiazusen (Frauenvolksversammlung, 1969), Die Perser (1971), Plutos (Der Reichtum, 1976) und Elektra (o. J.) vor. Zur Übersetzung der Lysistrata und der Frauenvolksversammlung verfasste er je einen Essay (1969) und hatte bereits zuvor (1963) mit einer Stellungnahme auf Rezensionen reagiert.352 „Übersetzen heißt für mich verständlich machen“353, definiert Bremer seinen Ansatz. Auch in einem dialogischen Essay über seinen Theaterstil geht er auf das Übersetzen ein: B: […]. Sie [scil. die klassischen Stücke] müssen verständlich gemacht werden, ohne daß man sich selbst aufgeben muß. A: Deswegen laßt ihr Stücke von gestern in die Sprache von heute übersetzen? B: Stücke von gestern, deren Aufführungen uns versprechen, daß sie zu einer Stellungnahme einladen, die im Alltag Folgen hat. 354
Die Besonderheit seines Ansatzes liege darin, dass er für die Ohren, nicht für die Augen übersetzt habe.355 Bremer ist sich bewusst, mit seinem Übersetzungsstil traditionelle _____________ 347 Jens, Nachwort [zu Aischylos, Die Orestie] (1979), 175. Melchinger (1965), 21, stellt den Vorzug der Übertragungen von Schadewaldt, Jens und Bayr heraus, durchweg in engem Kontakt mit dem lebendigen Theater verfasst worden zu sein. 348 Schwab-Felisch (1965), 47. Jens’ Übertragung der Orestie gebrauche eine „moderne, das statuarische Pathos weithin auflösende Sprache“. 349 Jens’ Übertragung der Orestie sei zuweilen etwas „dürr“ und „blass“, so Wendt (1961), 13. Flashar (2009), 195, charakterisiert die Übersetzungen folgendermaßen: „Die Übersetzungen von Jens, einem wirklichen Kenner der griechischen Tragödie, sind stilistisch uneinheitlich, glätten das Original, kommen dem Leser (oder Hörer) entgegen, sind ohne Komplikationen bühnenpraktikabel, überbrücken das Fremdartige des antiken Dramas, schaffen vertraute Nähe.“ 350 S. o. S. 285. Flashar (2009), 195, stellt Schadewaldt und der dokumentarischen Übersetzung für die fünfziger und sechziger Jahre u. a. Jens als Repräsentanten der transponierenden Übersetzung gegenüber. 351 Claus Bremer (1924–1996), Lyriker, Dramaturg und Übersetzer, hatte von 1945 bis 1949 Klassische Philologie, Philosophie sowie Literatur- und Kunstgeschichte studiert. Er war in den Jahren 1956 bis 1978 Dramaturg in Darmstadt, Bern, Ulm, Kassel, Düsseldorf und Zürich. In dieser Zeit übertrug er zahlreiche Theaterstücke aus dem Italienischen, Französischen und Altgriechischen. Zu Claus Bremers Theaterstil vgl. Flashar (2009), 201–204, und Hommel (1963). 352 Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), I f. Er wendet sich gegen die größtenteils negativen Kritiken zur Ulmer Uraufführung des Ödipus. Auch die Bühnenfassung der überarbeiteten Übersetzung für die Düsseldorfer Inszenierung 1973 enthält Stellungnahmen; Bremer, [Vorwort zu Aristophanes, Die Frauenvolksversammlung] (1973), [ohne Pag.]. 353 Bremer, 12. Essay. Zu meiner Übersetzung der Frauenvolksversammlung (1969), 55. 354 Bremer, Berufsavantgardisten (1969), 54. 355 S. Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), II: „Ich finde, es wird Zeit, dass man seine Ohren auf das Gewöhnliche einstellt. Was ‚Papier‘ ist und was nicht, weiß ich als Theatermann. Jedenfalls ist
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Vorstellungen nicht zu erfüllen. Gegen den Vorwurf, damit ‚humanistischen‘ Standards nicht gerecht zu werden, rechtfertigt er sich: Man hält mir entgegen, man sei eben doch Humanist und man könne sich eben nicht von Hölderlin, Emil Staiger, Wolfgang Schadewaldt trennen. Aber auch ich bin Humanist, wie käme ich sonst dazu, dass ich alles Humanistische jeden Tag neu lebendig machen möchte.356
Im Vergleich zu Jens steigert Bremer im Sprachlichen die angestrebte Einfachheit noch weiter. Er streicht überdies, wenn auch selten, Passagen, die das Stück für zeitgenössische Rezipienten unverständlich zu machen drohten.357 Andererseits greift er nicht zu Aktualisierungen, so dass sein Verfahren durchaus innerhalb der Grenzen einer Übersetzung im engen Sinne bleibt, also keine Bearbeitung darstellt. Sein Ziel beschreibt Bremer so: „Die Auseinandersetzung mit etwas, das fremd ist, glaube ich durch eine Sprache zu erreichen, die in die Nähe bringt, weil sie nachvollziehbar ist.“358 Daher verzichtet er auch auf die metrische Bindung: Ist es nicht befremdlich genug, wenn auswendig gesprochen wird? Muß das in verdrehter und ungenauer Sprache vor sich gehen? Nein. […] Wer heute im Hinblick auf Lysistratas Probleme Verse spricht, spricht unter Verhältnissen, die mich nicht angehen. Im übrigen opfert er der Form eine Fülle von Auskünften, die ich für unumgänglich halte, wenn etwas zeitlich Vergangenes wie die „Lysistrata“ lebendig werden soll. Ich wollte eine Übersetzung für Leute machen, die lebendig sind und die deutsche Sprache sprechen. Ich durfte nicht Griechisch mit Griechisch übersetzen und Kunst mit Kunst. Ich mußte Griechisch mit Deutsch übersetzen und Kunst mit Leben.359
Bremer strebt also „eine möglichst allgemeine Sofortverständlichkeit“ an, die sogar in die „Erlebniswelt von Frau Piefke“ passe.360 Er ist sich bewusst, dass er in Folge davon den Text länger macht, die Figurensprachstile einebnet und das Original verharmlost.
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das, was man mir vorwirft (Slang, zu große Direktheit etc.), das Gegenteil von ‚Papier‘. Hätte ich ‚Papier‘ geschrieben, hätte sich kaum jemand von den Kritikern aufgeregt.“ Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), II. S. Bremer, 12. Essay. Zu meiner Übersetzung der Frauenvolksversammlung (1969), 55. Bremer, 12. Essay. Zu meiner Übersetzung der Frauenvolksversammlung (1969), 55. Damit vertritt Bremer in der Frage, wie es zur Auseinandersetzung mit dem Fremden kommen kann, freilich eine diametral entgegengesetzte Auffassung zu Humboldt und Schleiermacher. Vgl. aber auch Jäger (1973), 17, der Bremers Übersetzung zuspricht, durch die klare Verständlichkeit eine Grundvoraussetzung geschaffen zu haben, „die den Zuschauern Gelegenheit gibt, sich auf das Geschehen zu konzentrieren“. Bremer, 10. Essay. Zu meiner Lysistrata-Übersetzung (1969), 51. S. auch. ders, 12. Essay. Zu meiner Übersetzung der Frauenvolksversammlung (1969), 55: „Ich habe DIE FRAUENVOLKSVERSAMMLUNG, die Aristophanes in Versen geschrieben hat, in Prosa übersetzt, weil ich den denkmalhaften Anspruch, die Feierlichkeit, die Faszinationskraft von etwas vermeiden will, das für die Ewigkeit geschrieben scheint. Aristophanes’ FRAUENVOLKSVERSAMMLUNG gehört, finde ich, wenn der Eindruck bewahrt werden soll, den das Original macht, nicht auf den Sockel. Der Vers scheint mir angebracht, wenn Übliches, etwas, das naheliegt, distanziert werden soll.“ Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), I.
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Der Übersetzungsstil Bremers ist stark von seiner gesamten auf Alltäglichkeit ausgerichteten Theaterkonzeption beeinflusst.361 In die Reihe derjenigen, die sich wie Jens oder Bremer Stücken des Aristophanes widmeten,362 gehört auch Erich Fried 363 mit seiner Lysitrata, „übersetzt und an einigen Stellen sehr frei bearbeitet“, wie er selbst seinen Umgang mit dem Original charakterisierte.364 Wie bei Jens ist auch Frieds Lysitrata im weiteren Sinne politisch motiviert, denn Fried bevorzugte ebenfalls solche antiken Dramen, die eine aktuelle Thematik transportieren konnten.365 Daher hatte er im Jahre 1970 die Bakchen des Euripides übersetzt.366 Im Programmheft zur Inszenierung unter dem Titel Die Bacchantinnen äußerte sich Fried zu den Schwierigkeiten, ein antikes Stück durch eine Übersetzung zu vermitteln. Bereits bei der Übersetzung von Shakespeare367 war er mit der Frage nach parallelen Sprachstufen konfrontiert, d. h. mit der Entscheidung, ob die Übersetzung die deutsche Sprache aus der Zeit Shakespeares verwenden solle. Bei der Wahl zwischen
_____________ 361 Dieses Vorgehen wurde seinerzeit nicht nur harsch kritisiert, sondern durchaus auch als legitim und konsequent anerkannt: „Gegenüber der erklärterweise banalen Sprache, deren sich Bremer bedient, erscheint das Verfahren von Jens als halbherzig.“ Rischbieter (1966), 36. 362 Zur Vorliebe der sechziger Jahre für Aristophanes, ausgehend vom Anstoß durch Peter Hacks’ Frieden 1962, vgl. Flashar (2009), 204 f. Zu Peter Hacks s. u. S. 331–333. 363 Erich Fried (1921–1988), österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist, mußte aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach London emigrieren. Er war ein bedeutender deutschsprachiger politischer Lyriker der Nachkriegszeit und angesehener Shakespeare-Übersetzer. Nach 1968 verstärkte er sein schriftstellerisches politisches Engagement in Deutschland und mischte sich mit kritischen linken Positionen in die Politik seiner Zeit ein. Späterhin wurde er einem größeren Leserkreis u. a. durch Liebeslyrik bekannt. Er übersetzte neben Shakespeare Dylan Thomas, W. H. Auden und Sylvia Plath sowie die oben genannten antiken Stücke. 364 Fried, Einige Anmerkungen zu meiner Übersetzung (1985), 32, erläutert die bearbeitenden Eingriffe, vor allem die Betonung der Rolle der Frauen und der Liebe. Die Übersetzung wurde 1985 publiziert, es lag aber bereits 1979 eine Textfassung für die Ruhrfestspiele Recklinghausen vor. 365 Janka (2002), der Jens und Fried als „linksintellektuelle Moralisten“ bezeichnet, unternimmt einen detaillierten Vergleich beider Bearbeitungen (im Abgleich mit Schadewaldts Übersetzung) und kommt zu folgenden Ergebnissen: „Pädagogische Plakativität und Veranschaulichung heißt offenbar Jens’ Devise; Fried setzt dagegen auf behutsame Modernisierung und Unmittelbarkeit der Wirkung. […] ‚Dichtung im Sinne des Originals‘ zur Entfaltung von dessen überzeitlicher Gewalt (Fried) steht einer Dichtung im Sinne der Gegenwart mit dem überzeitlichen Original als Muster resp. Hintergrundtext ( Jens) gegenüber.“ Ebd., 585 bzw. 598. Rezensionen der Inszenierung, die auch auf Frieds Übersetzung Bezug nehmen, liefern Schmidt (1979) und Franke (1986). 366 1979 legte Fried Die Backchen noch einmal als freie Bearbeitung vor; dazu vgl. Riedel (1990), 396. 367 Zu seiner Übersetzungsstrategie, speziell bei Shakespeare, s. Fried, Möglichst nah am Original (1963); ders., Anmerkungen des Übersetzers [zu Shakespeare, Richard II] (1969), 133 f.; ders., Weltliteratur oder Die unauffällige Weltpolitik des Übersetzens (1984) sowie ders., Nachdichten oder Übersetzen (1988, Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Studiengangs „Literaturübersetzen“ an der Universität Düsseldorf ). Zu den Shakespeare-Übersetzungen Frieds vgl. Stamm (1971) und Reichert (1986). Fried selbst weist bei seiner bearbeitenden Übersetzung der Lysistrata darauf hin, dass er hier wesentlich freier als bei der Übersetzung Shakespeares verfahre; Fried, Einige Anmerkungen zu meiner Übersetzung (1985), 32.
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einem Deutsch um 1600 und einem Deutsch von heute entschied er sich bei Shakespeare für einen Mittelweg.368 Entsprechend formuliert Fried für Euripides: Beim Übersetzen des Euripides fällt die Frage nach dem Deutsch seiner Zeit natürlich weg. Auch eine grundsätzlich altertümelnde Sprache könnte nur irritieren. Andererseits lassen sich die Überlegungen eines Stadtkönigs von Theben oder eines Apollopriesters Teiresias, der nun auch dem neuen Dionysoskult aufgeschlossen ist, nicht in modernes Deutsch übersetzen, ohne als Parodie zu wirken. Der bestmögliche Ausweg liegt auch hier im Verzicht auf moderne Redensarten und Worte, so daß eine klare, von den Inhalten her manchmal als alt – aber nicht veraltet – anmutende Sprache entsteht.369
Der Klassische Philologe Manfred Fuhrmann 370 veröffentlichte 1977 seine Übersetzung der Wolken des Aristophanes. Fuhrmann selbst berichtet, dass ihm der Intendant des Deutschen Theaters in Göttingen, Günther Fleckenstein, geholfen habe, eine aufführbare Fassung „über die professionelle Schwelle des zur Texttreue verpflichteten Philologen hinweg“ zu erarbeiten,371 denn anders als Schadewaldt hatte Fuhrmann noch keine Theatererfahrung. So erklärt sich auch der Zusatz im Titel „übersetzt und für die Zeitgenossen des späten 20. Jahrhunderts zubereitet“. Kriterium für diese „Zubereitung“ war dabei die Frage, inwieweit die Übersetzung einer Komödie im strengen Sinn die Theaterzuschauer überhaupt noch erreichen könne.372 Fuhrmann kommt dabei zu Ergebnissen, wie sie ähnlich schon Schadewaldt373 ausgeführt hatte, nämlich daß die Komödie die größten Freiheiten gestattet oder gar fordert. Jedenfalls in einer für Aufführungen bestimmten Version muß alles unmittelbar verständlich sein, der Dialog behende hin und her flitzen, jede Pointe sofort treffen. (82)
Fuhrmanns Bemühen um Verständlichkeit der Komödie erfordert Streichungen, führt aber auch zu Einfügungen moderner Pendants für gesellschaftliche Spannungen (Studentenbewegung, Generationenkonflikt). Solch aktualisierende Eingriffe hatte Schadewaldt für Übersetzungen abgelehnt. Fuhrmann bezeichnet seine Version der Wolken daher zu Recht als „ein Gebilde, das zwar über weite Strecken hin noch als Überset_____________ 368 Fried, Zugang durch Übersetzung? (1970), 71 f.: „Eine ideale Lösung gibt es nicht (gibt es beim Übersetzen überhaupt nicht), aber die beste Annäherung erzielten wir vielleicht, wenn wir Worte und gängige Redensarten, die erst seit Beginn des Industriezeitalters aufgekommen sind, vermeiden, ebenso aber alte Worte, die heute verstaubt wirken, außer wo eine Figur verstaubte Worte gebrauchen soll, etwa als Wahrer veralteter Traditionen.“ 369 Fried, Zugang durch Übersetzung? (1970), 72. Zu diesem Problem vgl. auch die Ausführungen von Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 11; s. u. S. 329 f. 370 Zu Biographischem und den weiteren Übersetzungsreflexionen Fuhrmanns s. u. S. 339–342. Zu Fuhrmanns Übersetzung der Wolken vgl. Mindt (2008), 121 f. 371 Fuhrmann, Nachwort [zu Aristophanes, Die Wolken] (1977), 77 (im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Nachworts direkt beim Zitat nachgewiesen). Die Verbindung zwischen Fuhrmann und Fleckenstein, der sonst häufig mit den Schadewaldt’schen Übersetzungen gearbeitet hatte, kam dadurch zustande, dass Schadewaldt selbst als der eigentlich intendierte Übersetzer anderweitig, nämlich mit der Übersetzung der Ilias, beschäftigt war und den Auftrag ablehnen musste. 372 Zu den Sonderproblemen der Übersetzung antiker Komödien vgl. Blänsdorf (2004), s. u. S. 348 f., sowie Kloepfer (1967), 86–96 im Kapitel „Umgangssprache in der Komödie – Plautus’ Epidikus“. 373 Zu Schadewaldts Konzept der „dokumentarischen Transponierung“ s. o. S. 286 und 296.
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zung gelten kann, jedoch in etwa einem Drittel des Werkes die Merkmale einer Bearbeitung aufweist“ (77). Während in den sechziger und siebziger Jahren Aristophanes der meist gespielte antike Dramatiker war, rückte mit der Orestie des Aischylos in Übersetzung und Regie von Peter Stein 374 (1980) die Tragödie wieder in den Vordergrund. Stein wandte für diese Inszenierung ein besonderes Verfahren an:375 Die Übersetzung ist eine Kompilation aus mehreren verschiedenen Quellen: Neben Kommentatoren nennt Stein konkret acht Übersetzer, die er herangezogen habe (Paul Mazon, französisch; Mario Untersteiner, italienisch; Hugh Lloyd-Jones, englisch; Johann Gustav Droysen, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Ernst Buschor, Oskar Werner, Dietrich Ebener). Sein eigener Text fügt Passagen dieser Übersetzungen zusammen, gegebenenfalls auch um den Preis von Wiederholungen.376 Auf dieses Verfahren greift er vor allem für die langen Chorpartien des Agamemnon zurück:377 Zwei Drittel des Textes ist Chor-Text, und sehr bald entschied ich, den Chor für jedermann unmittelbar verständlich zu machen. […] Deshalb ist die vorliegende Übersetzung manchmal wesentlich ausführlicher als die Vorlage und berücksichtigt unterschiedliche, sich oft widersprechende Forschungsergebnisse.378
Steins Entscheidung für eine Fassung, die mehrere vorhandene Übersetzungen als Textgrundlage kombiniert und somit durch die Wiederholungen mehrfach auf einzelne Stellen des griechischen Textes verweist, ist bisher einmalig geblieben. _____________ 374 Peter Stein (geb. 1937), Theater- und Filmregisseur, hatte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Frankfurt a. M. und München studiert. Seine Theatererfahrung hatte er zunächst in München gemacht, bevor er dann in Bremen und Zürich ein Ensemble aufbaute, mit dem er 1970 an die Schaubühne am Halleschen Ufer nach Berlin kam (ab 1981 Schaubühne am Lehniner Platz). Dort feierte er große Erfolge. Mit seiner Praxis, für Aufführungen auch Räumlichkeiten außerhalb des Theaters zu nutzen, revolutionierte er das deutsche Theater. 375 S. Stein, Vorbemerkung (1997), 7: „Die vorliegende Übersetzung zeichnet sich dadurch aus, daß sie nicht zu literarischen oder wissenschaftlichen Zwecken, auch nicht fürs Theater allgemein, sondern für eine spezielle Aufführung angefertigt wurde.“ 376 Diese Technik verselbständigte sich und übernahm auch andere Funktionen; vgl. dazu Seidensticker (1997), 227: „[Es] dienen die Doppel- oder Dreifachübertragungen auch der Erläuterung und Deutung, der Betonung und immer wieder der Pathossteigerung.“ Dazu und zum politische Element von Steins Inszenierung vgl. Rischbieter (1981), 48 f., der auch einen Übersetzungsvergleich zwischen Droysen, Buschor, Werner, Jens und Stein unternimmt. 377 Die Übersetzung von Chorliedern stellt ein Spezialproblem antiker Dramen dar. Meist wird der Komplex unter metrischen Fragen gesondert behandelt. Der antike Chor wird außerdem immer wieder für verschiedene szenische Experimente (z. B. das ‚fugale Sprechen‘ bei den Inszenierungen Sellners) genutzt. S. auch zu seinem eigenen Umgang mit den Chorpartien Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), II, und ders., 11. Essay. Zu meiner Lysistrata-Übersetzung (1969), 52. 378 Stein, Die Orestie des Aischylos (1997), 8 f. (im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Textes direkt beim Zitat nachgewiesen). Vgl. Ulrich (1981), 56: „Deutlichkeit vor allem wird erstrebt, dort wo sie sich nur schwer herstellen lässt, scheut Stein sich nicht, mehrere deutsche Begriffe für ein Wort des Originals nebeneinander zu stellen.“ Ulrich betont auch die Wichtigkeit des Chors, der bei Steins Inszenierung durch Wiederholungen und abweichende Varianten auch Widersprüche hervorbringt: „Dabei wird der Text durchleuchtet, transparent gemacht, auch kritisierbar durch den Zuschauer“ (ebd.).
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In Bezug auf die äußere Form entscheidet sich Stein gegen eine metrische Fassung.379 Stattdessen formuliert er folgende zu bewahrenden Elemente und steht damit in gewisser Nähe zu Schadewaldts Forderungen für eine dokumentarische Übersetzung:380 Dennoch versucht meine Übersetzung soweit wie möglich die Reihenfolge der sinntragenden Worte des überlieferten Textes beizubehalten, um die Dynamik des Auftauchens und Einanderablösens der altgriechischen Sprachelemente spürbar zu machen und den Bau der Bilder und Argumentationsketten anzudeuten. (9)
Dies hält Stein allerdings nicht streng durch. Denn bei aller Vollständigkeit und Genauigkeit geht mit der Entscheidung für Prosa auch das „Ideal der Einfachheit und Klarheit“381 einher, ablesbar etwa auch an der Auflösung komplizierter syntaktischer Strukturen in Parataxe oder bisweilen Erklärung, Umschreibung oder Streichung von Namen. Denn das Anliegen, das in den Reflexionen von den sechziger Jahren an bis zum Anfang der achtziger Jahre dominiert, ist vor allem das der Verständlichkeit, Vermittlung, Entidealisierung und Distanzverringerung. Dabei muss dieses Ansinnen, wie gezeigt, durchaus keine transponierende Übersetzung bedingen. Mit Blick auf Steins Verfahren etwa hat Flashar sogar von der „Rückkehr des Dichters“ [scil. des antiken Autors] gesprochen und davon, dass die Aussage des Originaltextes bewahrt bleibe, „ohne Umdeutung, ohne fremde Texteinsprengsel, ohne modernistische Verfremdung“382. Auch Peter Handke 383 spricht sich gegen eine Bewahrung der Versmaße und für Wörtlichkeit aus, was sich in die im Vorhergehenden skizzierte Entwicklungslinie _____________ 379 S. Stein, Die Orestie des Aischylos (1997), 9: „Für eine Übertragung und eine Aufführung, die den Sinn des Aischylos-Textes vermitteln sollte, kam nur die Prosafassung in Betracht, da jeder Rekonstruktionsversuch der altgriechischen Rhythmik im Deutschen weder schön noch anmutig noch ursprünglich, sondern Verständnis erschwerend, distanzierend, ja manieriert wirkt.“ 380 Schadewaldts Übersetzungsprinzip bezeichnet Stein als „vorbildlich“; Stein, Anmerkungen zur Übersetzung (1980), 2. Zu Steins Orestie-Übersetzung (und auch zum Grad des dokumentarischen Übersetzens) vgl. Seidensticker (1997), 223–232, insbes. 224 f.: „Steins Personen sprechen eine einfache und klare Prosa mit gelegentlichen umgangssprachlichen Wendungen, eine Sprache, die auch dort, wo Stein sich darum bemüht, antike Begriffe, Vorstellungen und Bilder zu bewahren, nie antikisierend wirkt.“ 381 Seidensticker (1997), 225. Vgl. auch Canaris (1981), 46, der Steins Inszenierung als nüchtern, sachdienlich und konkret charakterisiert: „Das beginnt schon mit der Übersetzung, die in klarer, verständlicher und leicht rhythmisierter Prosa den gewaltigen Text in ein Deutsch überträgt, das keinesfalls alltäglich ist, aber auch nicht altertümelnd – die Bilder und die Bögen und Brüche von Worten und Gedanken werden eher hörbar als das Geheimnisvolle archaischen Sprechens.“ 382 Flashar (2009), 253. Zu Steins Vorgehen insgesamt vgl. ebd., 253–258, und 305 f., sowie ders. (2007), 21–23. 383 Peter Handke (geb. 1942), österreichischer Schriftsteller und Übersetzer, hatte 1961–1965 in Graz Jura studiert, brach aber sein Studium vor der 3. Staatsprüfung ab und wurde Schriftsteller. Bereits 1966 gelang ihm mit dem Stück Publikumsbeschimpfung der Durchbruch. Mit Latein und Griechisch war er aus Schulzeiten vertraut. Neben einem Stück des Aischylos (Prometheus, gefesselt) übersetzte er auch eines des Sophokles (Ödipus auf Kolonos, Uraufführung 2003 bei den Wiener Festwochen). Bei der Aischylos-Übersetzung dankt er Manfred Fuhrmann (s. u. S. 339–342), bei der Sophokles-
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einordnen und durchaus im Schadewaldt’schen Sinne verstehen läßt. In seinen Bemerkungen zu Prometheus, gefesselt (1986) erläutert Handke: Diese Übertragung des Prometheus Desmotes versucht so treu wie frei zu sein. Treu möchte sie sich, so weit es geht, der griechischen Wörtlichkeit zeigen: den Wortbildern, den Wortzusammensetzungen, den Wortwiederholungen. Frei mußte sie sich verhalten gegenüber den Versmaßen: dem iambischen Trimeter, dem Anapäst, den Daktylen, usw. Alle meine Versuche, diese Rhythmen im Deutschen nachzuformen, führten, so schien mir, zu einer Glättung und zugleich Verzerrrung der ursprünglichen Sprache des Stücks; einem Wort- und Wirklichkeitsverlust durch ein aufgezwungenes Nachfühlen.384
Obgleich Handke erklärtermaßen frei gegenüber den Versmaßen verfährt, handele es sich dennoch um keine reine Prosaübersetzung: [D]enn ich habe mich bei der Arbeit immer in den Rhythmen bewegt, die Vers für Vers aus dem Verständnis der griechischen Syntax, dem Erlebnis des Bildes und dem Bedenken des Deutschen von selber anklangen.385
Handke entscheidet sich wie Schadewaldt für rhythmisierte Prosa, die sich am „Gedankenrhythmus“ und den Bildern des Originals orientiert.386 Die Parallelen zwischen Schadewaldt und Handke ergeben sich aus einer ähnlich emphatischen Auffassung vom dichterischen Wort. Beide haben ein Sprach- und Literaturverständnis, das Sprache als Spiegel von Weltsicht begreift und Wörtern weltbildende Kraft zuspricht (vgl. Handkes Formulierung „Wort- und Wirklichkeitsverlust“). So konzentrieren sich beide Übersetzer auf das Erfassen des genauen Wortsinns und versuchen, das „Ursprungshafte oder das Frische oder die Verbundenheit des Worts mit dem ursprünglichen Ding zu wiederholen oder zu erneuern“, wie Handke es für sich formuliert.387 Das Interesse am Archaischen nennt Handke daher auch als Motiv der Prometheus-Übersetzung.388
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Übersetzung Oswald Panagl und Kurt Steinmann (s. u. S. 350 f.) für die Durchsicht der Übersetzung. Zu Handkes Übersetzungen griechischer Dramen vgl. Flashar (2009), 270 und 323. Handke, Anmerkung des Übersetzers (1986), 70. Die Übersetzung lag erstmals der Inszenierung 1986 bei den Salzburger Festspielen zugrunde, entstand aber nicht als Auftragsarbeit. Zur Übersetzung vgl. – eher anekdotisch – Panagl (2002) und (2006). Eine detaillierte Analyse der Übersetzung unternimmt Bürge (1991). Zu Handkes Übersetzungsauffassungen vgl. Schnyder (1988). Handke, Anmerkung des Übersetzers (1986), 70. Zu Schadewaldt s. o. S. 290. Schnyder (1988), v. a. 15–19, ordnet Handke in die Tradition des dokumentarischen Übersetzens ein. Zu den gelegentlichen Verstößen Handkes gegen das dokumentarische Prinzip vgl. ebd., 22–31. Eine Nähe zu Schadewaldt sieht auch Bürge (1991), 37–41. Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 112. Zur Etymologie als Arbeitsprinzip bei Handke sowie zu dessen Versuch, die Worte von überlagernden Konnotationen zu befreien und zum Ursprungssinn zu gelangen, vgl. Schnyder (1988), 21. S. Handke, Anmerkung des Übersetzers (1986), 70: „Natürlich bin ich mir bewußt, wie fragwürdig es ist, ein zweieinhalb Jahrtausende altes dramatisches Gedicht heute neu zu übersetzen. Aber ich hatte schlicht Lust dazu – gerade heute –, und Freude daran, mit Hilfe archaischer Wörter archaische Dinge zu sehen, oder mir diese einzubilden, und mit Hilfe der Einbildungen meine heutige deutsche Sprache zu üben.“
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Wenn Handke sich gegen vorliegende Übersetzungen wendet, die sich zu weit von der griechischen Vorlage entfernten („Nachdichtungen“389) oder teilweise einfach literatursprachliche Traditionen fortschrieben, deckt sich diese Kritik mit der Schadewaldts an einer transponierenden Übersetzung.390 So weist Handke etwa die Übertragungen Buschors ab: Das ist eine grauenhaft falsche Übersetzung und zugleich ist es ein ganz und gar totes Deutsch. Das ist ja das Paradebeispiel. Alle anderen Übersetzungen, da gibts ein paar redlichere, ein paar genauere – sind im Grund auch nur Nachempfindungen. Und eben keine Nachempfindung des Aischylos. Wenn schon man übersetzt [sic], muß man mitempfinden und darf nicht nachempfinden. Das sind nicht einmal Nachempfindungen des Aischylos, sind nicht einmal Empfindungen, sind Nachpausereien von – wirklich überspitzt gesagt – Schillerschen Jamben. Es ist eigentlich frevelhaft, was da gemacht wurde.391
Handkes Anmerkungen zur Übersetzung des Prometheus sind sehr knapp gehalten, weitere Prinzipien müssen aus der Übersetzung selbst erschlossen werden. Es wird allerdings deutlich, dass Handke nicht gänzlich mit Schadewaldt übereinstimmt: Für Handke steht die Beachtung einzelner Lexeme und Wortfelder im Vordergrund, hingegen werden syntaktische Funktionen und Strukturen sowie die Wortfolge nicht immer beibehalten.392 Es zeigt sich, dass auch der Schriftsteller Handke in der Übersetzung sichtbar wird.393 Dennoch ist seine Übersetzung in hohem Maß dem Original verpflichtet.394 Das gilt auch für Ödipus in Kolonos (2003), obgleich Handke dort die in der Prometheus-Übersetzung angelegten Tendenzen noch verstärkt hat (etwa seine Vorliebe für Komposita).395 Zwar vergleicht Handke generell die Tätigkeit des Überset_____________ 389 S. die bei Panagl (2002), 165, dokumentierte Aussage Handkes: „Ich glaube, ich habe die erste wirkliche Übersetzung des Stückes gemacht, alle anderen Versuche sind eher Nachdichtungen.“ 390 Bürge (1991), 37 f., weist auf das Artemis-Symposion und die dortige Kontroverse zwischen Schadewaldt und Staiger hin. Er verortet Handke eher auf Seiten Schadewaldts: „[W]o sich […] der Germanist Staiger den ‚Ton von Hölderlins Hymnen im Ohr‘ und ‚aufmerksam auf den Tonfall der Goetheschen Trimeter‘ lauschend zuversichtlich an die Arbeit gemacht hatte, kann Handke darauf verzichten, das Original im Prisma eines vorgegebenen dichterischen Vorbildes zu brechen, sondern ist in der Lage, als Dichter seine Sprache als eine heutige Dichtersprache zu finden.“ Vgl. Staiger, Nachwort [zu Aischylos, Orestie] (1959), 155, und ähnlich ders., Das Problem des Übersetzens antiker Dichtung (1963), 17 ff. S. auch o. S. 274 ff. 391 Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 196. Die Lektüre einer Übersetzung des Prometheus, wohl die von Dietrich Ebeners Prometheus in Fesseln (1975), hat Handkes Interesse für diese Tragödie geweckt; vgl. Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 210: „[D]as war eine DDR-Übertragung, die mehr wörtlich war, aber auch zugleich dieses Zwitterhafte, indem sie die Versmaße nachmachen wollte und dadurch auf einen Weg geriet, der mir jetzt in der Überprüfung, als ich selber übersetzt hab, als ein falscher Weg erschienen ist.“ Zu Ebener s. u. S. 325–328. 392 Vgl. Schnyder (1988), 27, und Bürge (1991), v. a. 54. 393 So weist Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 216, darauf hin, dass er nicht nur Übersetzer, sondern Schriftsteller und Übersetzer genannt werden möchte. Bürge (1991), 32 und 36 f., zeigt beispielsweise die lyrische Komponente des Nominalstils in der Übersetzung Handkes auf. 394 Vgl. Schnyder (1988), 30, und Bürge (1991), 54 f. 395 Die Aufführung im Burgtheater zog eine Kontroverse der Kritiker über die Bewertung der Übersetzung nach sich. Kümmel (2003), der Handke und Schadewaldt vergleicht, wirft Handke vor, „viel mehr Eigenschöpfer, unterschwelliger Nachgestalter, auch Verdunkler“ oder „Wortklingler und Stab-
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zens und des Schreibens,396 doch er betont nicht das dichterisch Freie des Übersetzens, sondern den hermeneutischen Akt und verweist damit deutlich auf die Orientierung am Original: „Übersetzen ist ja eigentlich nur ein genaueres Lesen.“397 Die Praxis, antike Texte als Anregung für Übersetzungen und Ausgangspunkt für eigene Produktionen zu nehmen, verbindet Durs Grünbein mit Peter Handke, vor allem aber auch mit Bert Brecht und Heiner Müller und verweist so auf den im nächsten Kapitel dargestellten Umgang der DDR mit antiken Stoffen. Grünbein398 übersetzte zwei griechische Tragödien, Die Perser (2000) und Sieben gegen Theben (2002) des Aischylos, doch bildete für ihn die römische Literatur, insbesondere die römische Satire und Seneca, den Ausgangpunkt für sein Interesse an der Antike.399 So gehört er zu den wenigen, die sich einer Tragödie des Seneca widmeten (Thyestes, 2001).400 Jegliche Musealisierung liegt Grünbein fern, doch unternimmt er keine aktualisierenden Nachdichtungen, sondern bleibt in den Grenzen einer Übersetzung, auch wenn er deutlich transponierend vorgeht.401 In einem Interview zum Thyestes nimmt Grünbein _____________
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reimer“ zu sein. Gegen die meist negative Kritik wandte aber Dorschel (2003) ein, dass Handke „mit bewundernswerter Genauigkeit am griechischen Original gearbeitet hat […]. Und die Funde nah am Sophokleischen Wortlaut sind häufig zum Erstaunen.“ In der Übertragung des Ödipus in Kolonos behält Handke übrigens teilweise, wie Schadewaldt, die Schreie in ihrer ursprünglichen Lautung bei. S. Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 197 f. Das Verhältnis zwischen Schriftsteller und idealtypischem Übersetzer wird literarisch beschrieben in Handke, Nachmittag eines Schriftstellers (1987), 79–82. Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen (1987), 195. Den Vergleich zwischen Lesen und Übersetzen von der anderen, der hermeneutischen Seite her unternimmt Gadamer, Lesen ist wie Übersetzen (1993). Durs Grünbein (geb. 1962) wurde nach dem Abbruch eines Studiums der Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin 1987 freier Autor (Dichter, Übersetzer und Essayist). Er ist Mitglied verschiedener Akademien der Künste (Berlin-Brandenburg, Hamburg, Leipzig) und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2005 ist er Professor für Poetik an der Kunstakademie Düsseldorf. Die Antike bildet für ihn einen wichtigen Bezugspunkt seiner Selbstverortung, was v. a. in seinen Werken Nach den Satiren (1999), An Seneca. Postskriptum (2004), Antike Dispositionen (2005), Strophen für übermorgen (2007) deutlich wird. Verschiedene Variationen von Hadrians Animula vagula blandula finden sich in Grünbein, Nach den Satiren (1999), 60. Insbesondere Juvenal und Seneca interessieren ihn in ihrer Modernität. Barner (2006), 1050 f., spricht mit Blick auf Grünbein und Raoul Schrott (vgl. S. 351–353) von der „Wiederkehr des poeta doctus“, vom „neue[n] Historismus“ und dem „Eindruck eines neuen Alexandrinertums“. Vgl. auch Burdorf (2004) zu „Exotismus und Tradition“ (so der Titel der entsprechenden Tagung) bei Grünbein und Schrott. S. Grünbein, Zwischen Antike und X (2001), 97 ff. Zu Grünbeins Verhältnis zur Antike vgl. von Albrecht (2002), der aber den Themenkomplex des Übersetzens nur gelegentlich streift. Dieses Stück wurde erstmals seit mehr als 100 Jahren in Deutschland am 12. Mai 2001 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt. Die Übersetzung der Uraufführung wurde für die Veröffentlichung 2002 überarbeitet. Zur Übersetzung vgl. Flasch (2001), Krumbholz (2001), Stephan (2002), Reitz (2002), Lobe (2003), Müller (2003) und Schmitt (2003) mit bisweilen unterschiedlichen Wertungen. Insgesamt wurde die Übersetzung aber in Kritiken der Inszenierung, wenn überhaupt berücksichtigt, recht positiv aufgenommen. Zu Grünbeins Perser-Übersetzung vgl. Irmer (2000): „[Man könnte] einiges aus der jüngsten Zeit in das älteste Stück hineinreimen, die Übersetzung hält sich jedoch bei aller Konkretheit zurück damit, belässt es bei Anklängen eines modernen Vokabulars (Front, Bodenschatz) in gestisch direkter Spra-
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zu seinem Verfahren Stellung: Dass seit Uhland keine deutsche Versübersetzung des Thyestes entstanden sei, benennt er als Antrieb zur eigenen metrischen Version.402 Bei der Wortwahl gesteht er selbst sein Abweichen vom „strikten Übersetzen“ ein.403 „Mir ging es um ein einigermaßen heutiges Idiom, allerdings gereinigt von Aktualismen“ (113), beschreibt er seinen Ansatz. Nur an wenigen Stellen habe er, wie bei den beiden Aischylos-Dramen, „Verheutigungen“ (ebd.) vorgenommen.404 Die Angemessenheit seines Umgangs mit antiken Texten wird allerdings von Burkard Müller in Frage gestellt.405 In der Tat sind einige Entscheidungen Grünbeins fragwürdig, was unter anderem auch daran liegt, dass es ihm an einer einheitlichen konsequenten Übersetzungsstrategie fehlt. Denn eine über die Bezeichnung „Wiedergabe“ (ebd.) statt ‚Übersetzung‘ oder ‚Nachdichtung‘ hinausgehende Theorie liefert Grünbein nicht. So verquickt er schwer vereinbare Begriffe, wenn er erklärt (ebd.): Jetzt sind wir vielleicht zum ersten Mal in der Lage, eine quasi strukturalistische Übersetzung zu bieten. Das stand für mich als Überlegung dahinter. Ich nähere mich dem Text wie ein Ideenhistoriker.
Klar ist nur, dass er die Nähe oder Ferne zum Original durch solche Aussagen möglichst offen lassen will.406 _____________ 402
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che.“ Grünbein liefere „weder Folklore-Antike noch Aktualisierungsanmache“. Vgl. anerkennend auch Flashar (2009), 318 f. Grünbein spricht sich insgesamt für die Versdramatik aus: „Worauf ich bestehe, ist die metrische Form. Es gilt, die Dynamik zu bewahren, und das gelingt nur im wechselnden Versmaß.“ Grünbein, Gott, die Turbine (2001), 61. Das Ergebnis ist aber eher als rhythmisierte Prosa einzuordnen. Grünbein, Gespräch [zu Seneca, Thyestes] (2002), 114: „Wenn man ganz strikt übersetzen würde, müßte der Text des ‚Thyestes‘ eigentlich noch viel monotoner sein, denn es war schon ein Zugeständnis an den Zeitgeist, bestimmte häufig wiederkehrende Begriffe wie Zorn oder Schmerz überhaupt zu variieren. Wobei man davon ausgehen muß, daß ein und dasselbe Wort im Lateinischen ein ganzes Wortfeld abdecken konnte.“ Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten auf diesen Text. Vgl. Völker (2002), 45: „Bei seiner Wiedergabe [scil. der Perser] hat Durs Grünbein auf aktualisierende Verdeutlichungen verzichtet, er war bemüht, verharmlosenden, nur auf Effekt erpichten modernen Jargon zu vermeiden und die gewaltigen Verse des griechischen Dichters nicht dem flotten Redefluss der Globalisierung anstrebenden Weltvernetzer anzupassen. Und dennoch bemüht er keinerlei philologische Orthodoxie, kein Droysentum.“ So konstatiert auch Reitz (2002), 214, für die Übersetzung des Thyestes: „Der Duktus des ‚Deutschlatein‘, einer Sprache, der unmittelbar ihre Herkunft aus der alten Sprache anzusehen ist, wie in den meisten Klassikerübersetzungen, ist nirgends festzustellen.“ Vgl. Müller (2003): „Eine komplette Liste aller Stilblüten, Bildbrüche, Anachronismen, Tonverfehlungen, geschwätzigen Übererfüllungen und anspruchslosen Übersetzungsfehler wäre so lang wie das Buch – nein, länger, weil man sie ja auch noch erklären müsste.“ Grünbein gibt das Verhältnis zwischen sich und dem antiken Text stets mit „wiedergegeben von“ an. Grünbein, Gespräch [zu Seneca, Thyestes] (2002), 113, erklärt: „Dahinter [scil. hinter der Bezeichnung ‚Wiedergabe‘] steckt ein sehr interessantes Wortspiel, denn der Übersetzer wird zunächst zum Echo, einem möglichst getreuen Echo, und er zieht sich auch zurück, denn er erhebt keinen Anspruch auf absolute Originalität.“ Zum metaphorischen Bereich des „Echos“, häufig motiviert durch Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1923), vgl. beispielsweise auch Joachim Schickel, Übersetzen – Echo oder Spiegelung? (1965), in leicht veränderter Form auch als Nachwort zu Schickel, Sappho, ein lyrisches, lesbisches Spektakel (1978), v. a. 77–83.
Übersetzungstheorie in der DDR Die institutionelle Lage der Alten Sprachen an Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen der DDR war schwierig.407 Zwar wurden in der DDR die Altertumswissenschaften im Gegensatz zur Situation in der Bundesrepublik stärker als geschlossene Einheit verstanden, doch das altsprachliche Gymnasium wurde fast vollständig abgeschafft,408 das Studium der Klassischen Philologie stark beschränkt. Stellen an den Universitäten blieben unbesetzt, oder die entsprechenden Studentenkontingente wurden nicht genehmigt. Einzig an den Universitäten Jena und Halle blieb die Klassische Philologie erhalten. Die Forschung und die Traditionsprojekte aber wurden an den Akademien durchgeführt (v. a. an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, später Akademie der Wissenschaften der DDR).409 Es gab keinen Berufsverband für Vertreter der klassischen Altertumswissenschaften, was „zu einer relativen Isolierung der ostdeutschen Altertumswissenschaften im internationalen Rahmen“410 führte. 1957 wurde allerdings das Eirene-Komitee gegründet, das die DDR zumindest in die altertumswissenschaftliche Forschung der sozialistischen Länder integrierte. Die 1955 gegründete Zeitschrift Das Altertum war zum Teil populärwissenschaftlich angelegt.411 Ihr Redakteur Johannes Irmscher412 gehörte zu den zentralen Wissenschaftsorganisatoren, die für die Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse in der DDR sorgten. Er verband humanistische Argumente mit marxistischer Theorie.413 Dieser Situation der eng begrenzten schulischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Antike stand eine breite Antikerezeption außerhalb der Institutionen _____________ 407 Zur Lage der Altertumswissenschaften in der DDR vgl. Dummer (1999), Sp. 682–685, zur Antikerezeption vgl. Seidensticker (1999). 408 Eine Darstellung der Situation an den Schulen aus der Innenperspektive bietet Huchthausen (1969). 409 Vgl. Fuhrmann (1995), 163 f. 410 Dummer (1999), Sp. 682. 411 Zur Geschichte dieser Zeitschrift vgl. Willing (2005). 412 Johannes Irmscher (1920–2000) war ab 1968 Direktor des Bereichs Griechisch-römische Kulturgeschichte des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie. Er sorgte für die Fortsetzung der Traditionsprojekte, gründete neue Reihen und Zeitschriften und gab das Lexikon der Antike heraus. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und langjähriger Präsident der Winckelmann-Gesellschaft setzte er sich neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer an der Humboldt-Universität allgemein für die Belange der Altertumswissenschaften ein. Irmscher pflegte zahlreiche internationale Kontakte, die er allerdings über den wissenschaftlichen Austausch hinaus auch als Informeller Mitarbeiter für die Staatssicherheit nutzte; vgl. Stark (1998). 413 S. etwa Irmscher (1976). Die Beschäftigung mit dem Altertum legitimierte er unter anderem mit Argumenten Jaeger’scher Prägung. Seine Hochschätzung Werner Jaegers zeigt sich deutlich bei Irmscher (1990).
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gegenüber, vor allem in der Literatur und in den Künsten. Insbesondere für Lyriker und Theaterdichter der DDR, etwa für Volker Braun, Peter Hacks, Günter Kunert, Karl Mickel und Heiner Müller, hatte die Antike einen hohen Stellenwert. In der Lyrik war die Auseinandersetzung mit antiken Themen schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich greifbar. Sie war weitaus stärker und konstanter als in der Bundesrepublik. Für die Dramatik waren die sechziger und frühen siebziger Jahre der Höhepunkt der Antikerezeption.414 Die Wahl antiker Stoffe galt künstlerisch durch die Autorität Brechts und später durch den Rang Heiner Müllers als gerechtfertigt und als Teil des sozialistischen ‚Erbes‘415. Die explizite Bezugnahme auf die Antike durch Marx und Engels bildete darüber hinaus die Grundlage der Legitimation. Mythische Gestalten wurden für politische Bestandsaufnahmen, geschichtsphilosophische Analysen und poetische Reflexionen genutzt, zum Teil affirmativ, aber zunehmend auch mit kritischen Untertönen.416 Antike wurde als Modell verstanden, durch das sich Vergangenheit und Gegenwart verbinden ließen und das einen Ausweg aus der Verengung des sozialistischen Realismus (‚Bitterfelder Weg‘) weisen konnte.417 Vor allem die griechische Literatur bot mit ihrem mythischen Material einen Ausgangspunkt. Neben Homer und den griechischen Tragikern sowie den Lyrikern Sappho und Pindar wurden aber ebenso die lateinischen Autoren Plautus, Catull oder Horaz als Archetypen genutzt, und auch die römische Geschichte lieferte Stoff für literarische Verarbeitungen. Das hing unter anderem mit der Präsentation antiker Werke in Übersetzungen zusammen: „Es ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß die Kenntnis der antiken Literatur durch gut lesbare und preiswerte Übersetzungen (Schottlaender, Ebener, U. und K. Treu) gefördert wurde und daß die Theater der DDR regelmäßig antike Stücke aufführten.“418 Auf die Bühnen gelangten jedoch selten Übersetzungen im engeren Sinn, sondern Stücke „nach der Antike“419. Dennoch ist die breite und publikumsorientierte Übersetzertätigkeit in der DDR bemerkenswert, die den allgemeinen Bestrebungen nach Verbreitung der Antike als Teil des progressiven bürgerlichen Kanons entsprach. Neben Reclams Universalbibliothek 420, mit der man an Vorkriegstraditionen anknüpfte, nahmen auch der Aufbauverlag (Bibliothek der Antike), der Akademieverlag (Schriften und Quellen der Alten Welt) – dieser allerdings eher für den Leser vom Fach – sowie der Inselverlag und die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung antike Autoren in eine Übersetzungsreihe auf, teils mit überarbeiteten Fassungen älterer Übertragungen, _____________ 414 Vgl. Riedel (2000), 362. Bereits 1947 aber hatte Brecht die Hölderlin’sche Übersetzung der Antigone zu einem Paradigma seiner didaktischen Poetik umfunktioniert. Zu Brechts Antigone vgl. Weisstein (1973), Rösler (1979), Emmerich (1987), 230–232, und Flashar (2009), 181–188. 415 Zum ‚Erbe‘ als Leitgedanke vgl. Seidensticker (1999), Sp. 690. Als exemplarisch können die Erörterungen bei Irmscher (1976) gelten. 416 Zur literarischen Antikerezeption in der DDR und ihrer Entwicklung vgl. Riedel (2000), 332–394. 417 Vgl. Seidensticker (1999), Sp. 689 ff. Der ‚Bitterfelder Weg‘, als Programm der sozialistischen Kulturpolitik 1959 in Bitterfeld beschlossen, sollte die ‚Trennung von Kunst und Leben‘ überbrücken (‚Bewegung schreibender Arbeiter‘ und ‚Künstler in die Produktion‘). 418 Seidensticker (1999), Sp. 691. 419 Vgl. die Sammlung von Trilse, Stücke nach der Antike (1969). 420 Vgl. die programmatischen Stellungnahmen von Irmscher (1967) und Möller (1979).
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teils mit Neuübersetzungen.421 Neben Autoren, die einen breiten Absatz beim Lesepublikum garantieren konnten, fanden sich auch weniger populäre Titel aus Prosaoder Fachliteratur in den Verlagsplänen, was wohl den besonderen Wirtschaftsbedingungen zuzuschreiben ist: Denn dadurch, dass keine Gewinnkalkulation vorgenommen werden musste, hatten kommerzielle Erwägungen für Übersetzungen wenig Gewicht.422 Die Übersetzung antiker Literatur wurde im Umfeld der Klassischen Philologie selten eingehend und vor allem kaum öffentlichkeitswirksam diskutiert, wohl weil über die verständnisfördernde Funktion von Übersetzungen weitgehend Einverständnis herrschte. Doch die Eirene-Tagung des Jahres 1967 in Görlitz verhandelte – als Pendant zum westdeutschen Artemis-Symposion – Übersetzungsprobleme antiker Tragödien.423 Übersetzungen wurden ansonsten als Teilbereich der Antikerezeption untersucht,424 wobei man auch dabei stets ihre Bedeutung für die Verbreitung der Antike betonte.425 So waren beispielsweise auf dem Kolloquium Antikerezeption heute (1985) zwei Beiträge dem Übersetzen gewidmet. Neben Dietrich Ebener äußerte sich dort auch Kurt Treu.426 Er diskutiert das Problem, dass aufgrund der zeitlichen und kulturellen Ferne antiker Literatur Erläuterungen beigegeben werden müssten; diese wirkten aber ihrerseits unkünstlerisch und könnten den ästhetischen Eindruck beeinflussen. Sein Lösungsvorschlag kann paradigmatisch für eine weit verbreitete Übersetzungsstrategie stehen: „So kommt es zur Notlösung der kommentierenden Überset_____________ 421 Zu den verschiedenen Verlagsreihen, ihren Ausrichtungen und zum Stellenwert von Übersetzungen in der DDR vgl. Frolíková (1976). 422 Zum Verlagswesen, wenn auch ohne Berücksichtigung antiker Literatur, vgl. Pisarz-Ramirèz (2007), 1783 f. 423 Der Tagungsband wurde herausgegeben von Harmatta/Schmitt, Übersetzungsprobleme antiker Tragödien (1969). Behandelt werden Probleme des Übersetzens und der Rezeption antiker Dramatik unter sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen sowie pädagogischen Aspekten, darunter Ebener, Übersetzungsprobleme antiker Tragödien (1969), 7–14; Nasta, On Translating Greek Tragedy (1969), 15–88; Schottlaender, Zur Aktualisierung antiker Dramatik (1969), 89–96; Lanowski, Einige Probleme der Euripidesübersetzung (1969), 103–108; Häsler, Zur Übersetzung der Chorlieder in der griechischen und römischen Tragödie (1969), 109–116; Löwe, Griechische Tragödientexte im Schulunterricht (1969), 123–128; Schmitt, Erasmus als Euripidesübersetzer (1969), 129–166; Hofmann, Zur Übersetzung Plautinischer Cantica (1969), 167–176. 424 Vgl. etwa die übersetzungsgeschichtlichen Arbeiten (Aristophanes, Pindar) von Jürgen Werner (s. Literaturverzeichnis). 425 Vgl. die wiederholten Bemerkungen in den gedruckten Beiträgen der Tagung Das klassische Altertum in der sozialistischen Kultur aus dem Jahre 1969 in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität Jena (L. Huchthausen, F. Kühnert, A.-G. Kuckhoff, B. Häsler) sowie Hofmann/Kuch, Die gesellschaftliche Bedeutung des antiken Dramas für seine und für unsere Zeit (1973), passim. 426 Zu Ebener und zu seinem Beitrag Sind antike Tragödien auf der modernen Bühne aufführbar? (1985), 53–57, s. S. 325 ff. Kurt Treu (1928–1991), Papyrologe und Patristiker, hatte in Jena 1958 promoviert und sich in Berlin 1963 habilitiert. Kurt und Ursula Treu waren gemeinsam, aber auch jeweils einzeln, als Übersetzer tätig – zumeist für den Reclam- oder Aufbauverlag – und zwar von antiken Texten, die eher am Rande des klassischen Kanons stehen (s. Literaturverzeichnis). Im Beitrag Zwischen Kreativität und Willkür (1985) thematisiert Kurt Treu speziell das Übersetzen fragmentarisch erhaltener Texte.
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zung, bei der die notwenigen Erklärungen nicht in Anmerkungen gegeben, sondern gleich in die Übersetzung eingearbeitet werden.“427 Er beschreibt das Ergebnis folgendermaßen: „Unsere Übersetzung könnte man eine populär-philologische nennen. Freiheiten, die sie sich nehmen mußte, werden nicht weiter begründet, aber weitergehende Freiheiten auch nicht genommen.“428 Der Großteil theoretischer Äußerungen ist vornehmlich den Bemerkungen der Übersetzer zu ihren eigenen Übersetzungen zu entnehmen.429 Dabei lässt sich feststellen, dass diese von den neueren sprachwissenschaftlichen Ausführungen der Übersetzungswissenschaft kaum Notiz genommen haben.430 Bemerkenswert ist, wie bereits angedeutet, die starke Orientierung am Publikum,431 die weit mehr als ein bloß verlegerischer Gesichtspunkt war. Daher spielten in Theorie wie Praxis sprachmimetische Konzepte mit Fremdheitseffekten selten eine Rolle, und Schadewaldts „dokumentarisches Übersetzen“ fand kaum Anhänger, obgleich das Konzept bekannt war und diskutiert wurde.432 Das Zürcher Artemis-Symposion bildet bei Rudolf Schottlaender sogar den Ausgangspunkt seiner theoretischen Selbstverortung. Die Diskussion zur Übersetzung antiker Literatur in der DDR ist also nicht streng von der in der Bundesrepublik geführten abgegrenzt. Allerdings wurden umgekehrt die Ausführungen von Übersetzern aus der DDR in der Bundesrepublik so gut wie gar nicht wahrgenommen.433 Mit Rudolf Schottlaender und Dietrich Ebener werden zunächst zwei prominente Übersetzer, die beide über längere Zeit als Philologen an der Universität lehrten, mit ihren teilweise divergierenden Übersetzungsstrategien vorgestellt. Volker Ebersbach hingegen ist ein Übersetzer, der an der Grenze von Wissenschaft und freier Autorschaft _____________ 427 Treu, Zwischen Kreativität und Willkür (1985), 97. Vgl. auch Ebeners „Art ‚interpretierenden Übersetzens‘, die dem nichtfachmännischen Leser, oft unter Verzicht auf eine Anmerkung, ein sofortiges Erfassen des Sinnes erleichtern möge“; Ebener, Überlegungen aus Anlaß einer VergilÜbertragung (1985), 321, sowie Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 12. 428 Treu, Zwischen Kreativität und Willkür (1985), 100. 429 S. neben Vor- und Nachworten etwa die Werkstattberichte von Ebersbach (Römische Antiquitäten [1979]), sowie die von Ebener (Blick in die Werkstatt [1973/4] und Überlegungen aus Anlaß einer Vergil-Übertragung [1985]). 430 Nur im Beitrag des Ungarn Nasta, On Translating Greek Tragedy (1969), ist übersetzungswissenschaftliche Literatur verarbeitet. Von der seinerzeit einflussreichen ‚Leipziger Schule‘ ist keine Wirkung auf die Sprach- und Literaturbetrachtung in den Altertumswissenschaften ausgegangen. 431 S. auch Irmscher, Vorwort [zu Xenophon, Erinnerungen an Sokrates] (1955), 6. Irmscher selbst übersetzte neben dieser Schrift äsopische Fabeln (1978), gab die Schleiermacher’sche Platon-Übersetzung heraus und äußerte sich zu ihr im Aufsatz Schleiermachers Platonübersetzung (1983). 432 So untersucht etwa Häsler, Zur Übersetzung der Chorlieder in der griechischen und römischen Tragödie (1969), 109–116, Schadewaldts Theorie und Praxis des Übersetzens, v. a. im Vergleich mit Schottlaender, der selbst ausführlich zu Schadewaldt Stellung nimmt (s. u. S. 322 ff.). 433 Das gilt vor allem für die rein klassisch-philologische Diskussion der Bundesrepublik. Außerhalb dieser nimmt einzig die Übersetzungswissenschaftlerin Katharina Reiß von Schottlaenders Konzept der Wirkungstreue Notiz; s. v. a. Reiß, Textbestimmung und Übersetzungsmethode (1981), 89. Sie nennt ihn im Zusammenhang mit ihrer Kategorie der „subsidiären Texte“, die „als gesprochenes Wort eines außersprachlichen Mediums bedürfen, um zum Hörer zu gelangen“ (ebd., 87), in diesem Fall also Bühnenstücke.
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zu verorten ist und als Übersetzer lateinischer Dichtung weniger im Licht der Öffentlichkeit stand als die Übersetzer griechischer Dramen.434 Diese drei Übersetzer vertreten verschiedene Generationen – Schottlaender (*1900), Ebener (*1920) und Ebersbach (*1942) – wodurch sich teilweise auch Unterschiede im Umgang mit antiken Texten erklären lassen. Peter Hacks und Heiner Müller wiederum, denen sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels widmet, haben als führende Dramatiker der DDR Konzepte zum Umgang mit antiken Dramen formuliert und auch zum Problem des Übersetzens Position bezogen.
_____________ 434 Zu übersetzungstheoretisch in der DDR weniger behandelten Texten gehören etwa Homers Epen. Dazu s. auch Riemschneider, Homerübersetzung in Hexametern? (1968), sowie Scheibner, Nachwort [zu Homer, Ilias] (1972). Zu Scheibners Grundsätzen s. u. S. 353 Anm. 581.
Rudolf Schottlaender Rudolf Schottlaender435 verfasste – neben der ersten deutschen Proust-Übertragung (1926, Der Weg zu Swann) – Übersetzungen zahlreicher griechischer Tragödien des Sophokles, von Ausschnitten aus Plutarchs Moralia und Petrarcas De remediis utriusque fortunae sowie griechischer und lateinischer Komödien, die er teilweise mit der von ihm gegründeten Schauspielgruppe „Philomimen“ des Instituts für Altertumskunde der Humboldt-Universität in Berlin aufführte. Schottlaenders Übersetzungen erwiesen sich auch außerhalb der Universität als bühnenwirksam und wurden recht häufig in der DDR gespielt. Sein Konzept der „Wirkungstreue“ bzw. den „Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens“ legte er zunächst in der Einleitung zu seinen Sophoklesübersetzungen dar,436 ausführlicher auf der bereits erwähnten Görlitzer Eirene-Tagung von 1967 unter dem Titel Zur Aktualisierung antiker Dramatik:437 Unter „Wirkungstreue“ verstehe ich eine Art von Analogie, die wir uns am Schema der mathematischen Proportionengleichung verdeutlichen können. In der Forderung, c solle sich zu d so verhalten wie a zu b, sei mit c die Übersetzung, mit d der Übersetzungsempfänger, mit a das antike Original, mit b dessen zeitgenössische Hörer- und Leserschaft gemeint! Dementsprechend heiße die Übersetzung „wirkungsgetreu“, wenn sie auf ein buchlesendes oder theaterbesuchendes Publikum von heute analog zu wirken vermag, wie das Original auf die seinerzeitigen Griechen oder Römer gewirkt haben muß. (89)
Er trennt und bestimmt die Parameter Wortwahl (Worttreue), Wortstellung (Wortstellungstreue) und Metrik, wobei er in allen Punkten das Verhältnis seiner eigenen Position zu den Grundsätzen des Schadewaldt’schen dokumentarischen Übersetzens thematisiert. Bei der Wortwahl könne man schlichte, gehobene und neugeprägte Worte unterscheiden.438 Je nach Konventionalität und Worthöhe des antiken Wortes und der daraus resultierenden Wirkung auf den antiken Rezipienten sei ein entsprechendes deutsches Wort zu wählen.439 Bezüglich der Wortstellung und der syntakti_____________ 435 Rudolf Schottlaender (1900–1988), Philosoph, Klassischer Philologe und Übersetzer, hatte von 1918 bis 1923 in Freiburg i. Br., Berlin, Heidelberg und Marburg studiert danach zunächst als Privatgelehrter gearbeitet. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft im ‚Dritten Reich‘ diskriminiert, konnte er erst nach dem Zweiten Weltkrieg berufliche Positionen bekleiden, wobei er im Wechsel auf beiden Seiten der sich herausbildenden innerdeutschen Grenze tätig war: zunächst als Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule in Dresden (1947–1949), dann als Gymnasiallehrer in West-Berlin, zuletzt (seit 1959) als Professor der Klassischen Philologie an der Humboldt-Universität im damaligen Ost-Berlin. 436 S. Schottlaender, Einleitung [zu Sophokles] (1966), XXXV–XXXVII. 437 S. Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 437–441. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten auf Schottlaenders Beitrag von 1969. Auch in seiner Autobiographie widmete er dem Thema des Übersetzens einen eigenen kurzen Abschnitt; s. Schottlaender, Trotz allem ein Deutscher (1986), 104–107. 438 S. Schottlaender, Zur Aktualisierung antiker Dramatik (1969), 90. 439 An einem Beispiel aus der Antigone (454 f.) begründet er seine Übersetzung des schlichten ἀσφαλῆ mit „unumstößlich“ gegen diejenige von Buschor („ehern“), die zu gehoben sei, und diejenige von
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schen Konstruktion stellt sich Schottlaender in der Diskussion zwischen Schadewaldt und Staiger uneingeschränkt auf die Seite Staigers und wiederholt das Argument, dass die Beibehaltung der griechischen Wortfolge keinesfalls dieselbe Wirkung im Deutschen reproduzieren müsse.440 Seine weiterführende Frage lautet, mit welchen spezifischen sprachlichen Mitteln man im Deutschen eine analoge Wirkung erzielen könne wie der antike Autor im Griechischen, und ob es anstatt der syntaktischen Nachahmung spracheigene Möglichkeiten gebe, die einen vergleichbaren Eindruck hervorbrächten.441 Denn wenn dieser im Deutschen nicht auf dieselbe Weise wiederzugeben sei, müsse man, so Schottlaender, nach anderen Mitteln suchen. Schottlaender erläutert dies am Beispiel der Wortstellung als antikes Mittel der Betonung: Aber wir haben ein anderes Mittel zum Ausdruck der Emphase, wie sie im Griechischen und Lateinischen durch die Stellung am Anfang oder am Ende eines Satzes bewirkt wird, nämlich den dynamischen Akzent, der notfalls typographisch hervorzuheben ist. Ich habe für τάδε ‚das da‘ gesagt und das Wörtchen ‚das‘ noch unterstrichen. Die Verachtung, die das Versschlußwort τάδε spitz zum Ausdruck bringt, kommt dann so heraus: ‚Ging doch das Gebot da nicht von Zeus an mich.‘ (91)
Auch im Hinblick auf die Wiedergabe der Metrik verweist Schottlaender auf das Artemis-Symposion: Er spricht sich einerseits gegen Schadewaldts Verzicht auf das Versmaß aus, andererseits aber auch gegen Staigers Einschränkung, man dürfe nur diejenigen antiken Versmaße verwenden, deren Gebrauch durch deutsche Klassiker autorisiert sei. So rät Schottlaender durchaus zum Versmaß des Originals, ein Punkt, in dem er selbst Staiger und Schadewaldt an Treue zu übertreffen beansprucht.442 Doch auch hier beachtet er die Wirkung des Metrums: Im Hinblick auf die Metrik scheint mir die Wirkungstreue eher Anlehnung an das Original als Abweichung von ihm zu erfordern, aber so, daß durch zusätzliche Kunstmittel unerwünschten Nebenwirkungen der Metrumsübernahme vorgebeugt wird. (92)
Schottlaender erklärt also eine dem Original möglichst analoge Wirkung zum Ziel für die deutsche Übersetzung, das gegebenenfalls auch mit anderen oder zusätzlichen Mitteln zu erreichen sei. Als Beispiel hierfür nennt er zusätzliche Zäsuren. Das legitimiert allerdings – trotz mancher Freiheiten – keine Übersetzungspraxis, die sich, um als deutschsprachiges Original zu wirken, von einer möglichst starken Rückbindung an den antiken Text befreit. Denn Schottlaender verhindert ein allzu schnelles Hinweggehen über das Original durch seine Forderung nach einer genauen Analyse von Wortwahl, Wortstellung und Metrik. Seine konkreten Vorgaben beschrän_____________ Schadewaldt („wankenlos“), dessen Neuprägung ein Befremden des deutschen Rezipienten bewirke, das nicht der antiken Wirkung entspreche. 440 S. Schottlaender, Zur Aktualisierung antiker Dramatik (1969), 90 f. Vgl. Staiger, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 16. 441 S. Schottlaender, Zur Aktualisierung antiker Dramatik (1969), 91. 442 S. Schottlaender, Trotz allem ein Deutscher (1986), 107: „Ich bin in metrischer Hinsicht um der Wirkungstreue willen genauer als beide [scil. Schadewaldt und Staiger], bilde sogar Versmaße nach, die bisher kein deutscher Autor aus dem Griechischen übernommen hat.“
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ken sich auf Komödien443 und Tragödien, obgleich sein Grundsatz des wirkungsgetreuen Übersetzens auf alle anderen Gattungen übertragen werden kann. Freilich beinhaltet sein Konzept der „Wirkungstreue“, das dem der Wirkungsäquivalenz444 nahe kommt, einige Unschärfen. Eine Proportionengleichung vermag den übersetzerischen Entscheidungsprozess nur stark vereinfacht darzustellen. Die Wirkung auf das antike wie diejenige auf das moderne Publikum bleiben zwei unscharfe Größen, die nur schwer festzulegen sind. An diesem Punkt setzt auch die Kritik Dietrich Ebeners an.
_____________ 443 Gerade bei Komödien bewirkte der Grundsatz der Wirkungstreue, dass bei der Suche nach analogen komischen Effekten „mancherlei Anspielungen auf lokale Verhältnisse und religiöse Vorstellungen durch uns geläufige Wendungen ersetzt“ werden müssen; Schottlaender, Einleitung [zu Dyskolos] (1962), 8. S. auch ders., Nachbemerkung des Übersetzers [zu Bacchides] (1972), 99 f. 444 Zu diesem Prinzip, das vor allem in der Übersetzungswissenschaft im Zusammenhang mit modernen Sprachen diskutiert wird, s. o. S. 347. In der Nähe Schottlaenders zu diesem Prinzip liegt wohl auch der Grund, warum die Übersetzungswissenschaftlerin Reiß auf Schottlaenders Übersetzungsreflexionen verweist, s. o. S. 320 Anm. 433.
Dietrich Ebener Dietrich Ebener445 war als Übersetzer nach 1945 speziell für die DDR, aber auch darüber hinaus eine Gestalt von prägender Wirkung. 1996 erhielt er für sein Lebenswerk die Ehrengabe zum Brandenburgischen Literaturpreis, da er zu einer Zeit, als in der DDR die Klassische Philologie zunehmend aus den Schulen und von den Universitäten verdrängt wurde, durch seine Herausgabe und Übersetzung griechischer und römischer Autoren weiten Leserkreisen den Zugang zur antiken Literatur ermöglicht habe.446 In verschiedenen Vor- und Nachworten sowie Vorträgen, Aufsätzen und Werkstattberichten äußerte sich Ebener wiederholt zu seinem Vorgehen.447 Ebener erläutert darin, warum er sich in seinen Übersetzungen an die beiden folgenden Gebote gehalten habe: das Gebot der größtmöglichen philologischen Genauigkeit und das einer dem antiken Original angemessenen äußeren Form. Seine Reflexionen sind aber vor allem Begleitprodukte der Übersetzertätigkeit. Er bezeichnet seine Überlegungen selbst als eine Art von Selbstverständigung, „aus der sich weder Regeln noch Vorschriften gewinnen lassen“448. Ebeners Übersetzungen sind dabei grundsätzlich vom Willen nach größtmöglicher Nähe zum Original getragen, die aber aus Rücksicht auf die Konventionen des Deutschen eingeschränkt wird. Denn Ebener richtet an Übersetzungen den unabdingbaren Anspruch, dass sie sich den realen Rezeptionsvoraussetzungen anpassen: In einer Zeit, die nur wenigen noch die Möglichkeiten zum Genießen des Originals eröffnet, wird auch die Forderung erhoben werden müssen, Übersetzungen zu schaffen, die, ohne auf philologische Ehrlichkeit zu verzichten, dem weiten Kreise der nicht fachlich vorgebildeten Interessenten die Schätze der griechischen Tragödie einigermaßen zu erschließen vermögen.449
_____________ 445 Dietrich Ebener (geb. 1920) war nach dem Studium der Fächer Russisch, Latein, Griechisch und Geschichte von 1946 bis 1951 an der Humboldt-Universität Berlin von 1952 bis 1957 als Assistent, später als Dozent an der Universität Halle tätig (1956 Habilitation; die Promotion war 1953 noch in Berlin erfolgt). Er übernahm 1957 eine Professur für Klassische Philologie in Greifswald, machte dann aber von 1967 an als freier Autor das Übersetzen antiker Texte zu seinem Beruf. Ebener leistete in dieser Funktion einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung antiker Literatur, besonders der griechischen Dichtung, in der DDR: Homer (1971), Euripides (1972), Theophrast (1972), Theokrit (1973), Aischylos (1976), griechische Lyrik (1976), Lukan (1978), die Griechische Anthologie (1981), Vergil (1984), Nonnos (1985), Terenz (1988) und Lukrez (1989); die Sophokles-Übersetzung (1995) gehörte bereits in ein neues Zeitalter. 446 Die Bedingungen für das Übersetzen antiker Literatur thematisierte Ebener selbst im Aufsatz Überlegungen aus Anlaß einer Vergil-Übertragung (1985), 319. Vgl. auch Flashar (2009), 312. 447 Darüber hinaus danke ich Dietrich Ebener für eingehende Gespräche. 448 Ebener, Übersetzungsprobleme antiker Tragödien (1969), 7. 449 Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 592. Dieser Text ist wieder abgedruckt in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009). 443–459.
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Grundsätzlich habe er sich daher bei seinen Übersetzungen vom Vorsatz leiten lassen, „Laien heranzuführen an eine eben nicht immer einfache Lektüre“450. Diese anti-elitäre Funktion von Übersetzungen wird besonders im Aufsatz Zwischen Übersetzung und Neudichtung. Methodologische Probleme der Übersetzung als eines Mittels der Popularisierung altertumswissenschaftlicher Forschungsergebnisse (1978) formuliert. Er übersetze nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – für den philologisch Interessierten451 oder gar den Experten, betont Ebener: [Es] schälte sich für den Vf. ein immer klareres Bild dessen heraus, was der Leserkreis, den er in erster Linie zu erreichen bestrebt ist, an Forderungen stellt. Diese Forderungen sind umso ernster zu nehmen, als auf der einen Seite die Rolle der Antike im Schulunterricht eine stets geringere wird und die ohnehin klein gewordene Zahl derer, die noch in den Originalen zu lesen vermögen, ständig schrumpft, auf der anderen Seite aber, und dies in bemerkenswertem Umfang in der DDR, die Zahl der allgemein für antike Werke weltliterarischen Ranges Interessierten ständig wächst.452
Bei Ebener erhalten Übersetzungen vom Anspruch her durchaus selbst wieder den Status von Primärtexten.453 Er hält die „Rücksicht auf die Forderungen der deutschen Sprache für unerläßlich“454. Der Aufbau-Verlag, für den Ebener den Großteil seiner Übersetzungen anfertigte, veröffentlichte ohnehin einsprachige Ausgaben ohne den Originaltext, die nicht auf den Vergleich von Übersetzung und antikem Text angelegt waren (obwohl Ebener diesen nicht scheut455). Ebener, von sich selbst in der dritten Person sprechend, definiert sein Übersetzungsverständnis folgendermaßen: Es lasse sich „[s]chlicht unter das alte Gebot ‚so wörtlich wie möglich, so frei wie nötig‘ stellen, wobei er nicht darauf verzichtet, lesbar zu sein und einen, wenn auch noch so bescheidenen literarischen Eigenwert zu erstreben.“456 Dieser Faustregel fügt er speziell für Übersetzungen von Dramen noch das Kriterium der Sprechbarkeit hinzu. So formuliert er im Aufsatz Zwischen Übersetzung und Neudichtung (1978) seine Zielvorstellung in nuce: Man solle eine Übertragung schaffen, „die ein diskutables Maß an philologischer Genauigkeit mit einer für weitere Kreise bestimmten Lesbarkeit – die auch die Sprechbarkeit einschließt – vereinigt.“457 _____________ 450 S. auch Ebener, Überlegungen aus Anlaß einer Vergil-Übertragung (1985), 315: Er habe die Übersetzung „für weitere Kreise von Nichtfachleuten“ geschrieben. Andernorts führt er „den belletristischen Zweck dieses Bandes“ an; Ebener, Zu dieser Ausgabe [zu Aischylos] (1976), 418, sowie ders., Zu dieser Ausgabe [zu Griechische Lyrik] (1985), 655. 451 Ebener verweist „Kenner des Lateinischen, die sich die Eigenart des Dichters aus dem Original erschließen möchten“ auf stärker unter philologischen Gesichtspunkten gestaltete Übersetzungen; s. Ebener, Zu dieser Ausgabe [zu Lucan] (1978), 306. 452 Ebener, Überlegungen aus Anlaß einer Vergil-Übertragung (1985), 319. 453 „Eine gute Übersetzung vermag Eingang in die Literatur ihrer Sprache zu finden und in ihr einen ehrenvollen Platz zu behaupten.“ Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 587; s. auch ders., Übersetzungsprobleme griechischer Tragödien (1969), 9. 454 Ebener, Übersetzungsprobleme antiker Tragödien (1969), 10; s. auch ders., Blick in die Werkstatt (1973/74), 589. 455 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 591. 456 Ebener, Übersetzungsprobleme griechischer Tragödien (1969), 10. 457 Ebener, Zwischen Übersetzung und Neudichtung (1978), 503 f.
Dietrich Ebener
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Insbesondere seine Euripides-Übersetzungen wurden ab 1976 im deutschsprachigen Raum in über dreißig Inszenierungen aufgeführt und werden bis heute genutzt.458 Ebener grenzt sich einerseits vom dokumentarischen Übersetzen Schadewaldts und andererseits vom wirkungsgetreuen Übersetzen Schottlaenders ab. Er würdigt Schadewaldt,459 obgleich er im Einzelnen von dessen Prinzipien abweicht, und diskutiert das Konzept der „Wirkungstreue“ von Rudolf Schottlaender gleichsam als Schadewaldts Gegenpart. Ebener betont stärker als Schottlaender die Unmöglichkeit, sprachlich-kulturelle Distanz überspringen zu können.460 Stattdessen müsse der Übersetzer sich bei antiken Tragödien bemühen, das Wesen ihrer Aussagekraft historisch zu begreifen und eine Form zu entwickeln, die dem Höchststand seiner eigenen Sprache gerecht wird, sich dabei aber der originalen Form der Tragödie so weit, wie die Gesetze seiner Sprache es gestatten, nähert.461
Mit seinem ersten Gebot der „größtmöglichen philologischen Exaktheit“462 grenzt Ebener im Aufsatz Blick in die Werkstatt (1973/1974) die Übersetzung gegenüber der häufig praktizierten Bearbeitung und Nach- bzw. Neudichtung ab.463 Nach- oder Neudichter müssten, so Ebener, nicht einmal Griechisch beherrschen.464 Er sieht etwa in der Beibehaltung des syntaktischen Aufbaus des Originals einen wichtigen Unterschied zwischen Übersetzung und Nachdichtung.465 Aber auch einer Übersetzung räumt er bei Satzbau, Partizipialkonstruktionen, Partikeln, rhetorischen Fragen, Nominalfügungen sowie der Länge der Satzperiode Freiheiten ein.466 Doch gibt er stets dem „Handwerklichen“ den Vorrang vor dem „Dichterischen“ (591) und sieht sich in diesem _____________ 458 Seine zweisprachige Euripides-Ausgabe erschien 1972–1980 im Akademie-Verlag Berlin. 1976 brachte Spyros A. Evangelatos am Züricher Schauspielhaus mit Die Troerinnen erstmals eine Übersetzung Ebeners auf die Bühne. Unter den Regisseuren, die Ebeners Übersetzung in der Folgezeit verwendeten, finden sich u. a. Frank Castorf, Holk Freytag, Andreas Kriegenburg, Alexander Lang und Volker Schmalöer. 459 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 584 et passim. Ebener verwendet – wie übrigens auch Schottlaender – den Begriff der „dokumentarischen Treue“, während Schadewaldt diese Verbindung niemals gebraucht. 460 S. Ebener, Übersetzungsprobleme griechischer Tragödien (1969), 8; ders., Blick in die Werkstatt (1973/74), 586 f.; ders., Sind antike Tragödien auf der modernen Bühne aufführbar? (1985), 54. 461 Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 587. 462 Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 589. 463 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 588. Die Seitenzahlen dieses Aufsatzes werden im Folgenden direkt beim Zitat nachgewiesen. 464 So war es durchaus keine seltene Praxis, vor allem nicht bei Übertragungen neusprachlicher Dichtung, dass ein Schriftsteller sich von einem Philologen eine Art Interlinearversion anfertigen ließ, auf deren Basis er selbst dann weiterarbeitete. Für griechische Dramen etwa ist die Zusammenarbeit von Heiner Müller mit dem Philologen Peter Witzmann (s. u. S. 333 f.) ein Beispiel. Oder bereits existierende Übersetzungen wurden als Basis verwendet und mit Philologen diskutiert (etwa bei Peter Hacks, s. u. S. 331–333). 465 S. auch Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 500 f. Die Unterschiede macht er unter anderem durch einen Vergleich seiner eigenen Übersetzung mit der Ernst Buschors (s. o. S. 302 ff.) deutlich. 466 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 589 f. (im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Aufsatzes direkt beim Zitat angegeben), sowie ders., Übersetzungsprobleme griechischer Tragödien (1969), 11.
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Punkt in gewisser Nähe zu Schadewaldt. In der Diskussion um den Vorrang zwischen der „dokumentarischen Treue“ (600) Schadewaldts, die Ebener weitgehend mit „grammatischer Treue“ (601) gleichsetzt, und der Wirkungstreue Schottlaenders, die, so Ebeners Einschätzung, der Übersetzung zu große Abweichungen vom Original erlaubt, tendiert er klar zur ersteren. Speziell mit Blick auf das Drama wendet sich Ebener auch dem „zweite[n] Gebot einer Übersetzung griechischer Tragödien“ (594) zu, das die ästhetische Form betrifft und die Notwendigkeit thematisiert, „eine der Metrik des Originals angemessene Bindung der Sprache vorzunehmen“ (ebd.). Ebener erörtert mögliche Lösungen für ein „der Struktur unserer Sprache gemäßes Umsetzen quantitierender Metrik in akzentuierende“ (ebd.), wie er es aufgrund des Unterschieds der antiken Metrik und der deutschen Metrik vorsichtig nennt.467 Im Vergleich mehrerer Übersetzungen (u. a. denen von Donner, Buschor, Schadewaldt und Schottlaender) erörtert er die Angemessenheit verschiedener Umgangsweisen mit der metrischen Gestalt.468 In Bezug auf lyrische Partien positioniert sich Ebener zwischen Schottlaender und Schadewaldt, zwischen der Verwendung des antiken Versmaßes und dessen Ersatz. Im Zweifelsfall entscheidet er sich für die Wahrung der Grammatik vor der des Verses.469 Ebener trifft sich in der Orientierung am Publikum zwar mit Rudolf Schottlaender. Dieser vertrat allerdings ein radikaleres Konzept der vergegenwärtigenden Übersetzung, während Ebener sich in höherem Maße dem Original verpflichtet.
_____________ 467 S. auch Ebener, Überlegungen aus Anlaß einer Vergil-Übertragung (1985), 316: „Für bedenklich hält der Übersetzer indessen, von einer Verwendung der ‚Versmaße des Originals‘ zu sprechen“. 468 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 595 f. Besondere Vorsicht sei bei der nicht allzu starren und dadurch monotonen Betonungsverteilung geboten; s. ebd., 598. Ebener warnt vor Betonungsverschiebungen, die dem natürlichen Akzent aus metrischen Gründen zuwiderlaufen würden. Die Berücksichtigung des Betonungsverlaufs der deutschen Sprache ist ihm mit Schottlaender gemein. 469 S. Ebener, Blick in die Werkstatt (1973/74), 600 f., sowie ders., Übersetzungsprobleme griechischer Tragödien, 14.
Volker Ebersbach Volker Ebersbach470 behandelt in seinem Beitrag Römische Antiquitäten (1979) für die Übersetzerabteilung des DDR-Schriftstellerverbandes das Übersetzen lateinischer Autoren.471 Dabei stützt er sich auf eigene praktische Erfahrungen. Er benennt als Ziel, eine Übersetzung zu verfassen, die einerseits nicht über die Distanz hinwegtäusche, anderseits die „gewesene Modernität“ (20) des antiken Dichters aufzeige und nicht per se antikisierend wirken dürfe. Der Übersetzer müsse sich gut in den Kontexten des antiken Textes auskennen, um in Kenntnis der historischen Divergenz dennoch etwas Vergleichbares für den zeitgenössischen Leser zu schaffen.472 Dieses Vorgehen bezeichnet er selbst als „historische Textparallelität“, die er von „philologischer Textparallelität“ unterscheidet.473 Seine zentrale Frage lautet: Auf welche Textparallelität wird es also dem Übersetzer antiker Texte aus dem Griechischen und Lateinischen ankommen? Das scheint mir der Kern des Problems, das mit der Übersetzung aus einer antiken, sogenannten „toten“ Sprache in eine sogenannte „lebende“ verknüpft ist. (11)
Damit spricht er einen Problemkomplex an, der andernorts in der Theoriediskussion der DDR nicht auftaucht, und versieht ihn mit einer eigenständigen Terminologie. Zunächst behandelt er das Problem des Übersetzens aus einer Sprache in eine andere auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene. Dass man beim Übersetzen (moderner Sprachen) in die Gegenwartssprache übersetzen solle, steht für Ebersbach nicht von vornherein unumstößlich fest, denn man könne sich durchaus auch den „Sprachstand der Epoche aneignen, aus der das zu übersetzende Werk stammt“ (9). Eben dies bedeute philologische Textparallelität, die neben dem sprachlichen Übertragen auch das übersetzende Parallelisieren von Epochen zur Folge habe. Ebersbach betont aber die Problematik dieser Vorgehensweise: Je weiter man literaturgeschichtlich zurückgehe, desto absurder werde das Unterfangen einer solchen sprachlich-philologischen Textparallelität. Für das Übersetzen antiker Texte kommt ein solches Verfahren in voller Konsequenz ohnehin nicht in Frage. R. Borchardt oder R. A. Schröder sind zwar nicht ge_____________ 470 Volker Ebersbach (geb. 1942), Klassischer Philologe, Germanist und Schriftsteller, unterrichtete nach Studium (1961–1966) und Promotion in Jena (1967) von 1967 bis 1976 Deutsch als Fremdsprache in Leipzig, Bagdad und Budapest. Seit 1976 lebt er als freier Autor. In seinem schriftstellerischen Werk nahm er verschiedentlich auf die Antike Bezug, so in dem Erzählungsband Der Verbannte von Tomi (1984), dem Jugendbuch Gajus und die Gladiatoren (1985), dem Essayband Rom und seine unbehausten Dichter (1985) sowie den Romanen Tiberius (1991) und Die Weinreisen des Dionysos (1999). Daneben stehen Übersetzungen lateinischer Texte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit; zu nennen sind Catull, Vergil, Ovid, Petron, das Waltharilied, der ungarische Humanist Janus Pannonius und der polnische Renaissance-Dichter Jan Kochanowski. 471 S. Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 461–471. Die Seitenzahlen, die im Folgenden direkt bei den Zitaten nachgewiesen werden, beziehen sich auf den Text von 1979. 472 S. Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 14. 473 S. Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 9–12.
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nannt, können aber wohl als Beispiele eines solchen Ansatzes gelten, den Ebersbach ablehnt. Auf dem Gebiet der Wortwahl solle man sich vor einer „mehr oder weniger geschmackvoll künstliche[n] ‚Patina‘“ hüten und die lateinischen Autoren „konsequent in einem modernen Deutsch wiedergeben, allerdings ohne sie gewaltsam zu modernisieren“ (14). Einen ähnlichen Mittelweg schlägt er im Umgang mit der Syntax vor: Der Übersetzer wird nicht jede lateinische Periode in voller hypotaktischer Staffelung hinüberheben können. Er darf aber auch nicht bedenkenlos jede lateinische Periode in parataktische Einzelteile zertrümmern. (17)
Er lehnt zu große Konzessionen an „parataktische Zertrümmerungserscheinungen der Gegenwartssprache“ ab (ebd.). Im Vergleich weist er der Genauigkeit bei der Wortwahl Priorität gegenüber syntaktischen Übernahmen zu.474 Um die historische Parallelität von Lexik und Syntax zu wahren, gibt er persönlich bei Großepen den Hexameter zugunsten deutscher epischer Prosa auf.475 Sein Ideal einer Übersetzung beschreibt er folgendermaßen: Wie jeder Dichter von weltliterarischer Bedeutung, so waren auch die Römer zu ihrer Zeit keineswegs „antik“, sondern jedesmal modern und aktuell. Wer sie übersetzt, muß sie möglichst leicht, aber auch möglichst unverfälscht ins Bewußtsein der Leser bringen. Er muß fühlbar machen, wie aktuell der Autor zu seiner Zeit wirkte, darf aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, wie alt er ist und wie grundverschieden die Welt, in der er lebte, von der unseren war. (25)
Aus diesem Grund benötige jede Zeit ihren eigenen Übersetzer, um Zugang zu antiken Texten sicherzustellen.476
_____________ 474 Zu den syntaktischen Unterschieden zwischen dem Lateinischen und Deutschen s. Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 16–18. 475 S. Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 21–24, wo er aber keinesfalls strikt metrische Übersetzungen ablehnt. Seine Ausführungen ähneln in einigen Punkten denen Michael von Albrechts, da beide denselben Gegenstandsbereich thematisieren. Das Problem der Übersetzung lateinischer epischer Dichtung bildet andere Schwerpunkte für die Theoriediskussion heraus als die sonst die Diskussion dominierende griechische Dramatik; s. u. S.335 und 343. 476 S. Ebersbach, Römische Antiquitäten (1979), 12 und 24.
Übersetzen und Theater Vielfach bildeten Bearbeitungen und nicht textgenaue Übersetzungen antiker Dramen die Basis für Inszenierungen auf DDR-Bühnen. In ihrem Rückgriff auf antike Stoffe für das eigene Schaffen trafen sich Peter Hacks 477 und Heiner Müller 478, obwohl sie in den sechziger Jahren geradezu als Antipoden gelten können: Hacks als Gründer einer ‚sozialistischen Klassik‘, der von der Romantik an eine Abnahme des handwerklichen Könnens zu erkennen meinte und sich daher gegen die Moderne wandte, zeichnete sich zunächst durch eine zustimmend-identifizierende Beziehung zu früheren klassischen Autoren aus.479 Dies gilt auch für seine Verwendung des Aristophanes: Hacks’ Lesart des Frieden (1962), seines ersten großen Publikumserfolges, am Deutschen Theater unter der Regie von Benno Besson aufgeführt, ist recht positiv-optimistisch, während erst später Die Vögel (1973) auch distanzierende Signale zur Fortschrittsideologie aufweisen.480 Demgegenüber setzte sich Müller von Anfang an in gegenwartskritischer Intention mit antiken Stoffen auseinander.481 Beide äußerten sich, auch hier mit unterschiedlichen Ausrichtungen, zum Problem der Übersetzung. In den Bemerkungen zum _____________ 477 Peter Hacks (1928–2003) veröffentlichte seine ersten Werke nach dem Studium der Soziologie, Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft in München (1946–1953), das er mit einer Dissertation abschloss. 1955 siedelte er nach Ost-Berlin über. Dort wurde er Mitglied in Bertolt Brechts Berliner Ensemble. 1960 wurde er Dramaturg und Hausautor am Deutschen Theater, ab 1963 arbeitete er als freier Schriftsteller und wurde neben Heiner Müller zum erfolgreichsten Dramatiker in der DDR und der Bundesrepublik. 478 Heiner Müller (1929–1995) konnte in der Nachkriegszeit als Dramatiker rasch Erfolge verbuchen. Deutlich unter Brechts Einfluss behandelte er in seinen ersten Stücken den Aufbau der sozialistischen Produktionsgesellschaft der frühen DDR, wobei er auch vor Schockeffekten als didaktischem Mittel nicht zurückschreckte. Die Umsiedlerin und Der Bau ließen die offizielle DDR dann zeitweise auf Distanz zu Müller gehen; es folgten Aufführungsverbot und Ausschluss aus dem Schriftstellerverband (1961). Auch deswegen wandte er sich einer zeitenthobenen Darstellung von Gewalt und Revolutionsutopie in mythischer Form zu. Ab 1970 war er Dramaturg am Berliner Ensemble. In der Bundesrepublik wurde er zu einem der meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker, auch seine persönliche Situation in der DDR entspannte sich. Nach 1989 wirkte er v. a. als Regisseur und künstlerischer Leiter am Berliner Ensemble. 479 Vgl. Riedel (2002), 346 f., mit weiterführenden Hinweisen zu Hacks’ Verhältnis zur Antike im Literaturverzeichnis. 480 Zu den beiden Stücken vgl. Hommel (1963); Schütze (1976) (zu Hacks Frieden v. a. 97 f.); Emmerich (1987), 242–247; Stucke (2002a), 128 f.; ders. (2002b), v. a. 83–86; Riedel (2002), 350. Zu Heiner Müllers Philoktet und Peter Hacks Frieden vgl. die zeitnahe philologische Stellungnahme von Rudolf Schottlaender (1969). 481 Müller bearbeitete ab den späten fünfziger Jahren antike Stoffe, etwa Sophokles’ Philoktet (1958 bis 1964) oder später Herakles 5 (1964) und Die Horatier (1968). Ähnlich wie Hacks nutzte Müller antike Stoffe, um gegenwärtige Fragen aufzuwerfen, wie etwa im Medeamaterial (1982). Er versah seine Bearbeitungen klassischer Texte mit einer hinzugefügten Kommentarebene, etwa zu Sophokles’ Philoktet und König Ödipus (Ödipus Tyrann [1967]). Zu Letzterem vgl. Perl (1969). Zu Müllers Form der Antikeaneignung insgesamt vgl. Bernhardt (1978); Emmerich (1987), 233–242; Stucke (2001) und Barner (2002). Speziell zu Müllers Philoktet und Ödipus Tyrann vgl. Ostheimer (2002).
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Stück (1965) begründet Hacks, warum seine „Stücke nach Aristophanes“ keine Übersetzungen im strengen Sinne sind: Aristophanes kann nicht einfach übersetzt werden. […] er [scil. Aristophanes] ist wirkungslos oder von wenig Wirkung, wenn wir versuchen, ihn in korrekter Übersetzung auf die Bretter zu bringen. Je pedantischer wir uns an ihn halten, desto gründlicher verlassen wir ihn; Treue ist Verrat. Der Grund für diesen paradoxen Vorgang liegt in der Unwiederholbarkeit der meisten seiner Schönheiten. Wir sind außerstande, sie nachzuahmen; wir müssen sie im Wesen erfassen und mit unseren Mitteln reproduzieren. (118 f.)482
Auf der anderen Seite spricht er sich gegen eine schematische, parallelisierende Aktualisierung aus und gibt über die Prinzipien seiner Bearbeitung Auskunft: Aristophanes ist viel bearbeitet worden und selten gut. […] Aristophanes darf nicht einfach aktualisiert werden […] Es erweist sich als notwendig, die Kirche im Dorf zu lassen und Athen in Hellas. […] Wo Analogien zu heutigem Geschehen vorliegen, wird der Bearbeiter sie, mit äußerstem Zartgefühl, verdeutlichen. Wo keine sind, wird er sie nicht hineinzumanipulieren trachten. (119)483
Die Funktion der prosodischen Gestaltung der antiken Vorlage müsse möglichst bewahrt bleiben, wenn auch nicht in der originalen Form: Diese Schönheit wurde vom antiken Ohr aufgefaßt; sie krepiert vor unseren verwahrlosten Ohren. Dennoch ist ein analoger Effekt durch bedeutende Vergröberung der metrischen Besonderheiten erreichbar. (ebd.)
Er verzichtet auf die Versmaße des Originals und arbeitet stattdessen mit Prosa, Blankvers und zahlreichen weiteren Versformen. Das Obszöne in der Komödie484 sieht Hacks als „eine unentbehrliche, volkstümliche und machtvolle Seite der Freiheit überhaupt. Darum ist es, meint der Bearbeiter, erforderlich, auch die Fäkalwitze des Aristophanes in Ehren zu halten, selbst wenn man sie nicht liebt.“ (120) Peter Hacks, selbst nicht des Griechischen mächtig, zog philologische Experten zu Rate,485 vor allem wohl zu inhaltlichen Fragen. Denn die Grundlage bildeten die teilweise überarbeiteten Neuauflagen der Übersetzungen von Seeger und vor allem Droysen aus dem 19. Jahrhundert. Obwohl Hacks also weitgehend mit bereits vorhandenen Übertragungen arbeitete, widmete er sich dem Übersetzungsproblem nochmals gesondert im Essay Arion. Er habe sich mit Übersetzungsfragen auseinandersetzen müssen, weil er sich in der Situation des Angewiesenseins auf fremde Hilfe befand: „Ich erhielt _____________ 482 Hier und im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten auf diesen Text 483 Zur Bearbeitung des Friedens vgl. Stucke (2001), 125 f.: Es sei Hacks weniger um eine kritische Umfunktionierung gegangen als um eine „bewahrende Erbeaneignung“. Stucke führt aus: „Er wählt dazu Bearbeitungstechniken, die es ihm ermöglichen, die Rezeptionsschwierigkeiten, die die Aristophanische Komödie einem modernen Publikum bietet, auszuräumen und dennoch ihre inhaltlichen und formalen Besonderheiten zu erhalten.“ 484 Zu Schadewaldts Erörterung dieser Spezifik der Komödie s. o. Abschnitt „Dokumentarische und transponierende Übersetzung“, bes. S. 290 und 296. 485 S. Hacks, Arion (1978), 181 f.: Bei Gerhard Piens (Dresden), selbst Sophokles-Übersetzer, und Walter Beltz (Berlin), Theologe und Orientalist, hole er sich seinen „gelehrten Most“.
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unerwartete Auskunft: die Übersetzung ist nicht durchaus richtig. […] Mich ergriff Blässe: ob wir die ganzen Griechen so haben?“486. Während Hacks’ Bearbeitungen wie auch die meisten philologischen Übersetzungen seiner Zeit gemeinhin nah an den Gewohnheiten der deutschen Literatursprache bleiben, finden sich bewusste Verfremdungseffekte nur in den Übertragungen Heiner Müllers. Neben Bearbeitungen antiker Stoffe legte er auch textnahe Übersetzungen vor: Für seine Version der Aischyleischen Dramen Prometheus (1968), Die Perser (1991) und für die fragmentarisch gebliebene Orestie (aus den siebziger Jahren) dienten ihm die Interlinearversionen von Peter Witzmann487 als Grundlage, an denen er selbst nicht viel änderte.488 Den Sonderstatus dieser Art von Übersetzung, sich gegen bestehende ältere Versionen wendend, charakterisiert Müller so: Die Übertragungen von Peter Witzmann (PROMETHEUS, ORESTIE, PERSER) sind Interlinearversionen. Sie unterscheiden sich von andern per Tuchfühlung mit den alten Texten. Sie ziehn dem Autor nicht die Uniform der Zeit an wie die gängigen wilhelminischen der Droysen und Wilamowitz mit ihrer Nachfolge. Der Gestus des Originals verschwindet nicht in der Information über den Inhalt. Das macht sie dunkel und für flüchtige Leser schwer zugänglich. Sie sollten gelesen werden wie sie geschrieben sind, nicht satzweise, sondern Wort für Wort. Die Dunkelheit erhellt den Abstand zwischen Äschylos und uns. In der Distanz scheint das Kontinuum menschlicher Existenz auf und im Kontinuum die Differenz.489
Es soll also nicht eine leicht verständliche Vermittlung („Information über den Inhalt“) geleistet werden, vielmehr sollen Schwierigkeiten nicht nur nicht eliminiert werden, sondern die Rezeption gewollt begleiten („dunkel“, „schwer zugänglich“).490 In dieser Intention liegt auch die Begründung für Müllers Verwendung von Hölderlins Übersetzung für Ödipus Tyrann.491 Witzmann betont ebenso die Distanz durch Nähe zum griechischen Text: „Für uns vollzieht sich der Versuch der Annäherung über Distanzge_____________ 486 Hacks, Arion (1978), 182. 487 Peter Witzmann (geb. 1936) hatte nach dem Abitur Klassische Philologie in Leipzig studiert (1954– 1959) und war dann Fachlehrer für Latein und Griechisch an der Kreuzschule zu Dresden. 488 Dies bestätigte Peter Witzmann in einem Workshop-Gespräch. 489 Müller, [Zu Witzmanns Übersetzung] (1991), 14. Bezüglich des Verhältnisses von Wort und Satz ergibt sich allerdings ein Widerspruch zu Müller, [Zur Prometheus-Übersetzung] (1974), 55: „Der Prometheus-Text ist nicht Wort für Wort lesbar, außer man liest ihn laut. Er besteht, wie jeder Sprechtext, aus Sätzen, nicht aus Wörtern.“ Allerdings kann Müllers spätere Aussage als charakteristischer für sein Übersetzungsverständnis gelten. 490 S. auch Müller, [Zur Prometheus-Übersetzung] (1974), 55: „Verzicht auf Erklärungen (Aufhellung dunkler Stellen, Übersetzung = Interpretation von Eigennamen), die den Kreis der möglichen Bedeutungen einengt.“ Zu Müllers Prometheus vgl. Emmerich (1987), 240, zu Die Perser vgl. Flashar (2009), 316: „Aber das Prinzip der Interlinearversion ist doch bis zur Unverständlichkeit gesteigert […].“ 491 Zum Einfluss Hölderlins auch auf Müllers Philoktet vgl. Rischbieter (1968), 28–31: „Müller versteht es, sich Hölderlins Übersetzungsgebärde anzueignen, anzuverwandeln, er versteht es, hart und genau zu formulieren. Als Jongleur mit grammatischen Finessen und Verkürzungen ist er konkurrenzlos. […] Allzu schwer macht es dieser Autor seinen Zuhörern freilich mit vielen, in Schachtelsätzen und ungewöhnlichen Anknüpfungen versteckten Informationen.“
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winnung, die aus einer höchstmöglichen Nähe zum Text erwächst.“492 Müller schätzt an der Wörtlichkeit Witzmanns die fragmentierende Wirkung, die keine Nivellierung des antiken Stückes zulasse.493 Die Wahl einer Übersetzungsstrategie bildete bei Hacks und Müller einen Teil ihres dramatischen Gesamtkonzepts, das auch außerhalb der DDR wahrgenommen und diskutiert wurde. Es war jedoch nur Heiner Müller, der Übersetzen als ein Konzept in sein Literaturverständnis und seine Geschichtsphilosophie integrierte.
_____________ 492 Witzmann, Aischylos Über-setzen (1991), 66. 493 S. Müller, Aischylos übersetzen (1991), 68: „Witzmann durchbricht durch diese Wörtlichkeit eigentlich Ordnung. Es ist absolut komplett, aber es besteht aus Teilen, weil das Ganze kriegst du überhaupt nicht mehr in den Kopf und auch nicht in die Sprache, und das, was an den alten Übersetzungen so nervt, ist ja gerade der Versuch, eine Totalität, einen ganzen Text herzustellen. Das führt immer zu einer ungeheuren Niveausenkung, das ist dann das Niveau der Epoche, in der es gemacht ist.“ Vgl. Irmer (2000), 60, zu Müllers Persern: „In jener 1991 an der Freien Volksbühne aufgeführten Übersetzung verlangsamt eine archaisierende Partizip-Fülle den Text zur beabsichtigten Langsamkeit“.
Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren Als Ort übersetzungstheoretischer Reflexion finden sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Vor- und Nachworte zu gedruckten Übersetzungen. Dies ist auf den enormen Anstieg der Produktion zurückzuführen, eine Entwicklung, bei der der Erfolg des Taschenbuches eine nicht zu überschätzende Rolle spielte. Übersetzungen antiker Texte erschienen sei es in weitergeführten traditionellen, sei es – vor allem – in neu gegründeten Reihen.494 Zu nennen sind (aus beiden Gruppen): die Sammlung Tusculum 495, die Bibliothek der Alten Welt 496, Reclams Universal-Biblothek 497, Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, die Exempla Classica des Fischer-Verlages, die Reihe dtv zweisprachig 498, die Sammlung Dieterich, die Insel-Bücherei – vor allem (seit 1977) die Insel Taschenbücher –, Goldmanns Klassiker, Kröners Taschenausgaben. Auch wenn die Antike im Laufe des 20. Jahrhundert zunehmend an Vorbildhaftigkeit verloren hatte, hielten – und halten bis heute – verschiedene Aspekte antiker Literatur ein Interesse bei Übersetzern und Publikum aufrecht: Man glaubt etwa, das Ursprüngliche, Archaische in den Homerischen Epen und in frühgriechischer Lyrik noch erkennen zu können. Die größte Faszination geht häufig immer noch von der als besonders originär verstandenen griechischen Dichtung aus. Es herrscht zudem Interesse an antiker Philosophie; Reclams Universalbibliothek startete nicht zufällig nach dem Zweiten Weltkrieg mit Platon als erstem übersetzten antiken Autor. Neben philosophischen Werken, deren Übersetzungsprobleme allerdings kaum eingehend theoretisch reflektiert werden, ist vor allem das griechische Drama besonders präsent, das auf dem Theater häufig, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und mit verschiedenen Konzeptionen, gespielt wird. Daraus erklärt sich, dass ein Schwerpunkt inner-
_____________ 494 Zu deutschen Übersetzungsreihen s. o. S. 117–129. Vgl. außerdem Balzert (2003), Sp. 734–736, sowie Latacz (2002), Sp. 275. 495 Diese zweisprachige Reihe wurde 1923 im Verlag Dr. Ernst Heimeran entwickelt. Sie wurde später vom 1943 gegründeten Artemis-Verlag übernommen, wo sie neben die von Karl Hoehn gegründete Reihe Bibliothek der Alten Welt trat. 496 Zur Tradition des Verlags Artemis&Winkler (heute bei Patmos) im Hinblick auf Übersetzungen vgl. das verlegerische Nachwort von Bruno Mariacher (1985). 497 Zu den Ausgaben griechischer und lateinischer Schriftsteller in Reclams Universalbibliothek vgl. Reusner (1967), v. a. 59. 498 Da der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) unter anderem vom Artemis-Verlag mitgegründet worden war, übernahm er bevorzugt Übersetzungen, die zuvor schon bei Artemis erschienen waren, in sein Programm. Zum größten Projekt dieser Art, der von Manfred Fuhrmann herausgegebenen Bibliothek der Antike, vgl. Fuhrmann (1990a).
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Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren
halb der Übersetzungsdiskussion antike Dramen betrifft.499 Auch Autoren wie Catull und – besonders wieder in den letzten Jahren – Ovid werden gerne gelesen. Daneben ist antike – gerade lateinische – Literatur vor allem als Teil der kanonisierten Texte innerhalb der europäischen Literatur und als Schullektüre in Übersetzungsreihen vertreten. Die jeweils intendierte Zielgruppe – in Verbindung mit der Verlagspolitik – beeinflussen häufig die Art der Übersetzung maßgeblich. Neben dem Übersetzen in der Schule, wo vor allem lateinische Texte gelesen werden, während das Griechische nur noch einen marginalen Platz einnimmt, neben den Übersetzungen von Klassischen Philologen (von Lehrern und Mitarbeitern der Forschungseinrichtungen) wird antike Literatur außerhalb von Bildungsinstitutionen auch weiterhin von Schriftstellern übersetzt und in die eigene Arbeit miteinbezogen. Reflexionen finden sich vor allem bei den Übersetzern selbst; sie gehen meist speziell auf die Übersetzungsschwierigkeiten des jeweiligen Textes oder der Gattung ein und sind daher untereinander sehr heterogen. Daneben erschienen auch einige unabhängige übersetzungstheoretische Studien Klassischer Philologen.
Texttypenspezifische Übersetzung Seit den sechziger Jahren lässt sich in Deutschland allgemein ein wachsendes Interesse an sprachwissenschaftlichen und verwandten Fragestellungen konstatieren. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war auch die Übersetzungswissenschaft als linguistische Teildisziplin.500 In ihr geht es allerdings nicht primär um die Übersetzung literarischer Texte,501 sondern um kommunikations- und sprachtheoretische Fragen und AnalyseModelle von Übersetzungsprozessen. Betrachtet werden Sprachgemeinsamkeiten und unterschiede (Sprachkomparatistik), die Kommunikationsfunktion der Sprache (Kommunikationstheorie, Pragmatik) und psycholinguistische Abläufe beim Verstehen der eigenen und Verstehen fremder Sprachen. Der Blick wird erst im zweiten Schritt auf das Übersetzungsprodukt gelenkt, wo zumeist Übersetzungskritik oder -vergleich im Mittelpunkt stehen. Nicht wenige Vertreter der Klassischen Philologie ignorierten solche Ansätze der Sprachbetrachtung, lehnten sie gänzlich ab oder erkannten sie zwar an, hielten sie aber, wie beispielsweise Schadewaldt, für verkürzt und nicht für antike Literatur anwendbar. Was die Beschäftigung mit antiker Literatur betrifft, so sind Anregungen der Übersetzungswissenschaft und der modernen Linguistik vor allem von der Fachdidaktik der Alten Sprachen rezipiert worden. Eine wichtige Vermittlungsfunktion nahm dabei über einen längeren Zeitraum Rainer Nickel 502 wahr. _____________ 499 S. Abschnitt „Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945“, oben S. 299–315, und „Übersetzungstheorie in der DDR“, S. 317–334. 500 Vgl. Wilss, Übersetzungswissenschaft (1977), 41 f. 501 S. allerdings Albrecht (1998) und Greiner (2004) sowie den kurzen Überblick bei Apel/Kopetzki (2004), 33–39. 502 Rainer Nickel (geb. 1940) hatte von 1960 bis 1965 Klassische Philologie in Marburg und an der Freien Universität Berlin studiert. Nach der Promotion (1970) war er Lehrer in Berlin, Kiel und
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Vor allem das der Übersetzung gewidmete Kapitel in seiner fachdidaktischen Monographie Die Alten Sprachen in der Schule (1974)503 ist eine umfassende Auseinandersetzung mit vorausgegangenen sprachwissenschaftlich-textpragmatischen Diskussionen von 1950 an bis zur Mitte der siebziger Jahre.504 Nickel fordert, Sprache und somit auch das Übersetzen als einen Kommunikationsprozess anzusehen (was seinerzeit noch nicht selbstverständlich war).505 Er trennt Texterschließung und Übersetzung als zwei unterschiedliche Phasen voneinander, wie es auch in der Sprachwissenschaft üblich ist,506 aber auch von Philologen wird die erste Phase des Verstehens häufig von der Versprachlichung geschieden, dann jedoch häufig nicht weiter thematisiert.507 Nickel verwendet für diese zwei Phasen die eigenwillige Unterscheidung „philologisch“ und „postphilologisch“: Die philologische, d. h. auch: textpragmatische Analyse von Texten beschränkt sich auf die synchronistische Kommunikationssituation. […]. Ihre Methode der Texterschließung ist daher eigentlich auch nicht das Übersetzen und ihr Ziel nicht die Übersetzung. Übersetzen und Übersetzung sind dagegen postphilologische Möglichkeiten einer Auseinandersetzung mit antiken Texten. Wer übersetzt, überschreitet die Grenze der Philologie, um sich in den Raum der Didaktik zu begeben, ob er nun den Text an den sprachunkundigen Leser heranbringen oder den Leser an den originalen Text heranführen will. Er hat keine philologische, sondern eine didaktische Zielsetzung, wobei er diese nur verwirklichen kann, wenn er den Text zuvor philologisch, d. h. vor allem textpragmatisch analysiert hat. Aber nun erst beginnt seine eigentliche Aufgabe, nämlich eine kommunikative Situation zwischen dem antiken Autor und dem heutigen Leser herzustellen. Der Übersetzer verwandelt den
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Göttingen und betätigte sich auch in der Lehrerbildung. Er verfasste zahlreiche fachdidaktische Schriften zum altsprachlichen Unterricht und arbeitete an Lehrbüchern und Lexika mit. Er hat selbst folgende griechische und lateinische Autoren übersetzt: Epiktet, Marc Aurel, Xenophon, Cicero, Plinius, Aristoteles, Archilochos und Äsop. S. Nickel, Die Alten Sprachen in der Schule (1974), 87–179 (im Folgenden werden die Seitenzahlen dieses Textes direkt bei den Zitaten nachgewiesen). Weitere Arbeiten Nickels zu der Frage des Übersetzens sind im Literaturverzeichnis zusammengestellt. In seinem Lehrerheft Lateinisch und Deutsch. Übersetzung und Sprachvergleich mit Übungstexten (1977) nennt Nickel – über die pragmatischen Aspekte hinaus – zahlreiche Gesichtspunkte für eine vergleichende Sprachbetrachtung: Wortbildung, Wortfolge, Wort- und Satzverbindung, Verweisung (Konnektoren), Periodenbau, Subjekt- und Prädikatbildung, Textlänge, semantische Opposition, Konnotation, Bezeichnung und Bedeutung sowie Stilistik; s. Nickel, Lateinisch und Deutsch (1977), 8–23. S. Nickel, Die Alten Sprachen in der Schule (1974), 102 f.: „Der Übersetzer unterzieht sich der Aufgabe, einen Kommunikationsprozess, den er selbst (im fremdsprachlichen Medium) durchlaufen hat, für andere in einem anderen sprachlichen Medium zu reproduzieren bzw. nachvollziehbar zu machen.“ Zu Modellen des Übersetzens aus sprachwissenschaftlicher Sicht gibt Lörscher (2004) einen Überblick (auch unter Einbeziehung der historischen Entwicklung). S. etwa Staiger, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 76: „Niemand wird die fundamentale Bedeutung des rechten Verstehens verkennen, und wenige werden sich über die hier verborgenen Schwierigkeiten täuschen. Indes, es ist ein Problem, das bereits den Philologen als solchen und nicht erst den Übersetzer angeht. Wir lassen es also hier beiseite, nehmen das philologische Wissen als Condicio sine qua non und wenden uns dem eigentlichen Problem der Übersetzung zu.“ Ähnlich s. auch Fuhrmann, Die gute Übersetzung (1992), 5.
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Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren Text in eine Botschaft für den heutigen Leser. Damit ihm dies glücken kann, muß er eine ursprünglich nicht in der Intention des antiken Autors liegende kommunikative Funktion des Textes fingieren, d. h. die primäre Kommunikationssituation um eine sekundäre, nicht originäre Kommunikationssituation erweitern. (108)
Aus dem sprachwissenschaftlichen Begriffsinventar der Übersetzungswissenschaft übernimmt Nickel die Bezeichnung ‚Äquivalenz‘ sowie ‚Ausgangs‘- und ‚Zielsprache‘, wenn er schreibt: „Das zentrale übersetzungs-theoretische Problem ist hier zunächst die Äquivalenz von ausgangssprachlicher und zielsprachlicher Information“ (113).508 Speziell in Anlehnung an Katharina Reiß509 unterscheidet er außersprachliche Determinanten, d. h. Faktoren, die die Gestaltung eines Textes mitbestimmen (Situationskontext), und textimmanente, innersprachliche Determinanten. Nickel referiert die Reiß’sche Texttypologie und unterscheidet auf dieser Grundlage inhaltsbetonte, formbetonte und appellbetonte Texte.510 Er versucht, diesen von Reiß unterschiedenen Texttypen wichtige Bereiche der antiken Literatur zuzuordnen: [I]nhaltsbezogene Texte sind fachwissenschaftliche Abhandlungen aus dem Corpus Hippocraticum, philosophische Texte aus dem Corpus Aristotelicum, das erzählende Werk des Herodot, die Geschichtsschreibung des Thukydides, Livius, Tacitus … Dem formbetonten Texttyp gehören Textarten wie Gedichte, Epigramme, poetische Großformen an. […]. Der appellbetonte Texttyp wird vor allem von den Textarten Rede, Satire, Drama repräsentiert. (112 f.)
Das Problem, dass eine solche Zuordnung das Hauptmerkmal und die Primärfunktion eines Textes betrifft, kommentiert Nickel selbst: So ist es denkbar, z. B. in Tacitus’ Germania Partien zu unterscheiden, die jeweils vorrangig zum inhaltsbetonten, formbetonten und appellbetonten Texttypus zu rechnen sind. Dieser Typenwechsel ist dann im speziellen Falle beim Übersetzen zu berücksichtigen, d. h. im ersten Fall ist die Invarianz der Information, im zweiten darüberhinaus das Formprinzip der sprachlichen Gestaltung und die ästhetische Wirkung und im dritten Fall die im Original beabsichtigte Effektauslösung zu beachten. (113)
Je nach Texttyp wird eine andere Art der Übersetzung gefordert: Bei inhaltsbetonten Texten sei vor allem eine semantisch und grammatisch korrekte, d. h. zielsprachlich orientierte Wiedergabe anzustreben. Bei formbestimmten Texten sollten Übersetzungen hingegen ausgangssprachenorientiert bleiben und „Äquivalenzen durch Nachfor_____________ 508 Der Äquivalenzbegriff hat sich in der Übersetzungswissenschaft durchgesetzt, zieht aber weiterhin Diskussionen nach sich; vgl. Koller (2004) und Albrecht (2005). Zudem ist gerade im Zusammenhang mit literarischen Texten der Begriff ‚Inhalt‘ überaus problematisch. 509 Die Sprachwissenschaftlerin Katharina Reiß stellte als Vertreterin der Textlinguistik innerhalb der Übersetzungswissenschaft als erste ein funktionales Modell des Übersetzens auf, dem sie Bühlers Organon-Modell der Sprache zugrunde legt. Zu Texttypologie, Übersetzungsmethode und -kritik s. Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik (1971); dies., Texttyp und Übersetzungsmethode (1976) sowie dies., Textbestimmung und Übersetzungsmethode (1981). Zusammen mit Hans Vermeer verfasste sie das Werk Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie (1984). Darin liegt das Hauptaugenmerk nun weniger auf dem Ausgangstext, dessen Textfunktion in der Übersetzung erhalten bleiben solle, als auf der kommunikativen Funktion des Zieltextes in der Zielkultur (sog. Skopostheorie). 510 S. Nickel, Die Alten Sprachen in der Schule (1974), 112 f.
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men“ (ebd.) analog schaffen. Bei appellbetonten Texten wiederum empfiehlt Nickel die Bewahrung des Effekts durch „assimilierendes Übersetzen“ (113 f.), was allerdings von Nickel nicht weiter ausgeführt wird und daher sehr vage bleibt. Auch Manfred Fuhrmanns 511 Übersetzungssystematik bezieht sich auf die Ansätze der modernen Textlinguistik und Literaturtheorie. Im Zusammenhang mit der eigenen Übersetzertätigkeit512 trat Fuhrmann zudem mit zahlreichen Vorträgen, Aufsätzen und Rezensionen an die Öffentlichkeit.513 Wie Nickel knüpfte er dabei unter anderem an übersetzungswissenschaftlich-textpragmatische Ansätze an und übertrug die Reiß’sche Unterscheidung texttypabhängiger Übersetzungsprinzipien auf antike Literatur.514 Er konzentriert sich in seinen Übersetzungsreflexionen auf dasjenige Gebiet der antiken Literatur, mit dem er sich selbst als Interpret und Übersetzer am intensivsten auseinandersetzte, auf die Kunstprosa. Damit wird, was Übersetzungstheorie angeht, ein bislang eher vernachlässigter Bereich in den Blick genommen. Fuhrmanns Ausgangspunkt war denn auch die Beobachtung, dass gerade die Kunstprosa in Schadewaldts übersetzungstheoretischem Gegensatzpaar („hohe Dichtung“ – „redensartlicher“ Stil515) überhaupt nicht vorkommt. Demgegenüber entwirft Fuhrmann in Anlehnung an Reiß eine
_____________ 511 Manfred Fuhrmann (1925–2005) hatte von 1947 bis 1953 Klassische Philologie und Jura in Freiburg i. Br. und Leiden studiert. Nach Promotion (1953) und Habilitation (1959) in Freiburg wurde er 1962 Ordinarius in Kiel und ging 1966 an die neugegründete Universität Konstanz. Seit dieser Zeit gehörte er der interdisziplinären Forschergruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ an. Seine Arbeitsschwerpunkte waren Rhetorik, Spätantike und Rezeptionsgeschichte. In seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Die Antike und ihre Vermittler (1969) trat er für Reformen innerhalb der Klassischen Philologie ein. Eine klare Abgrenzung von Gräzistik und Latinistik sollte sich mit der Ausweitung des jeweiligen Zuständigkeitsbereiches über die Antike hinaus verbinden. Sein Engagement für die Vermittlung der Antike über Universität und Wissenschaftsbetrieb hinaus fand einerseits in seinen vielfältigen Kontakten zu Schule und Lehrerschaft Ausdruck, andererseits in seiner wissenschaftlichen Produktion, in der Einführungen (Dichtungstheorie, Rhetorik), Biographien (Cicero, Seneca) und eben Übersetzungen vor allem lateinischer, aber auch griechischer Literatur einen wichtigen Platz einnahmen. 1990 wurde er mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Zuletzt widmete er sich verstärkt der europäischen Bildungsgeschichte. Vgl. Poiss/Rösler (2005). 512 Neben seiner Übersetzung der Cicero-Reden, die in den Jahren 1970–1982 veröffentlicht wurde, übertrug Fuhrmann die Germania des Tacitus (1971), Ad Galli cantum aus dem Liber Cathemerinon des Prudenz (1971), die Poetik des Aristoteles (1976), Die Wolken des Aristophanes (1977) – s. o. S. 309 f. – „Drei Hieronymus-Legenden“ (Vita Pauli primi eremitae, Vita Malchi monachi captivi, Vita Hilationis, 1983), Die Apologie des Sokrates und den Kriton von Platon (1986 und 1987), Exempla Iuris Romani („Römische Rechtstexte“, 1988) und den Liber de Caesaribus von Aurelius Victor (1997) sowie zuletzt (2005) drei Bücher Fazetien von Heinrich Bebel (2005). Auf die Problematik, inwieweit Fuhrmann die eigenen Maximen in seinen Übersetzungen berücksichtigt, weist Mindt (2008), 89–124, sowie ebd., 159–170 hin. 513 Seine Arbeiten zu Fragen der Übersetzung sind im Literaturverzeichnis zusammengestellt. Der Aufsatz Die gute Übersetzung (1992) findet sich auch in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 473–491. 514 Zuerst begegnet diese Unterscheidung in Fuhrmann, Sind neue Übersetzungen klassischer Autoren gerechtfertigt? (1985). 515 S. o. S. 286.
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Typologie dreier „Schreibweisen“, die er als „normale“, „rhetorische“ und „poetische“516 bezeichnet. Es müsse je nach Schreibweise des antiken Originals entschieden werden, nach welcher Übersetzungsart vorzugehen sei. Wie Schadewaldt unterscheidet Fuhrmann dafür zwei Modi des Übersetzens: ausgangssprachenorientiert bzw. dokumentarisch oder zielsprachenorientiert bzw. transponierend. Unter der erstgenannten Kategorie wird ein Übersetzungsverfahren verstanden, das die Wortwahl, die Wortstellung und die syntaktischen Strukturen des Originals zu kopieren sucht, soweit dies die Zielsprache zuläßt, selbst um den Preis einer ungewohnten oder gar schroffen Diktion; die andere Kategorie zielt auf Übersetzungen, die – um den Preis des Verzichts auf rigorose Genauigkeit – ein glattes, gefälliges Deutsch anstreben. (9)
Für den Umgang mit Texten in der „normalen Schreibweise“ (damit sind Sachtexte gemeint) fordert Fuhrmann Folgendes: Im Bereich der normalen Texte ist die zielsprachenorientierte Übersetzung im allgemeinen die angemessene Lösung: hier kommt es auf die exakte Wiedergabe der Wortstellung oder der syntaktischen Strukturen weniger an als auf eine möglichst eingängige Vermittlung des Inhalts; ausgangssprachenorientierte Übersetzungen können allerdings bei philosophischen oder stark mit Termini durchsetzten Texten als Hinführung zum Original den Vorzug verdienen. (ebd.)517
Das entspricht dem Zugeständnis, das Wolfgang Schadewaldt an das transponierende Übersetzen bei Redensartlichem macht; doch bei Fuhrmann fehlt der abwertende Unterton Schadewaldts.518 Die „poetische Schreibweise“ definiert Fuhrmann folgendermaßen: „ans Versmaß gebunden, in Wortwahl und Satzbau größte Freiheit beanspruchend, bestimmt, dem Inhalt der Dichtung, der ‚Botschaft‘, durch Originalität zu möglichst reiner und starker Wirkung zu verhelfen“ (ebd.). Für die Übersetzung von Texten in dieser Schreibweise schließt er sich den Forderungen Schadewaldts für eine dokumentarische Übersetzung weitgehend an, wobei er auch eine Prosafassung für zulässig erklärt. Er fordert Ausgangssprachenorientierung insbesondere bezüglich der Diktion des Originals, wie vor allem seinen eigenen Rezensionen zu entnehmen ist.519 Fuhrmann hält es dabei für legitim, je nach intendiertem Zweck der Übersetzung einen bestimmten Aspekt des _____________ 516 S. Fuhrmann, Die gute Übersetzung (1992), 9. Im Folgenden werden die Seitenzahlen, die sich auf diesen Aufsatz Fuhrmanns beziehen, direkt beim Zitat nachgewiesen. Zu dem Sonderproblem des Übersetzens von Fachtexten, speziell der in ihnen enthaltenen Termini – ein Gebiet, das aus klassischphilologischer Perspektive bisher übersetzungstheoretisch kaum behandelt wurde – s. besonders Fuhrmann, Rechtstexte (1994), 370–375, sowie ders., Zur Übersetzung [zu Aristoteles, Poetik] (1976), 35. 517 Diese Unterscheidung nach der Funktion des Zieltextes deckt sich mit antiken wie modernen pragmatisch-funktionalistischen Übersetzungstheorien (vgl. Fuhrmanns Interesse für Ciceros Maxime beim Übersetzen griechischer Musterreden für Redner ut orator; s. ebd., 17). Die Berücksichtigung des Kommunikationsaspektes (Pragmatik und Funktion des Textes) spielt auch für Fuhrmanns Übersetzungsvorgaben zu den anderen Schreibweisen eine wichtige Rolle. 518 S. o. S. 279–282. 519 S. Literaturverzeichnis. In den Vorträgen und Aufsätzen macht Fuhrmann zum Übersetzen dieser Schreibweise kaum grundsätzliche Vorgaben.
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Originals besonders zu beachten (Beibehaltung der Metrik, inhaltliche Genauigkeit, Berücksichtigung der Wortstellung usw.). Auf der „rhetorischen Schreibweise“ (Kunstprosa) liegt, wie einleitend ausgeführt, Fuhrmanns Hauptaugenmerk. Bei Texten dieser Art hält er allein eine Übersetzungsmethode für angemessen: Dort, wo ein Autor „besondere – sei es typische, sei es individuelle – sprachliche oder argumentative Mittel“ (ebd.) verwende, sollten sie auch im Zieltext spürbar werden.520 Denn Stilistika des Originals müssten dort, wo sie auffällig sind, auch in der Zielsprache wiedergegeben werden. Fuhrmann spricht von „rigoroser Wörtlichkeit“521 und möchte damit das Anwendungsgebiet des von Schadewaldt für die hohe Dichtung postulierten dokumentarischen Übersetzens erweitern: Kunstprosa darf nicht in Alltagsdeutsch transponiert, sondern muß – wie, nach Schadewaldt, auch alle Dichtung – ausgangssprachenorientiert, dokumentarisch übersetzt werden; wer, sei es aus Unachtsamkeit, sei es um Fremdartigkeit zu eliminieren, anders verfährt, raubt dem Text seine künstlerische Eigenart und stuft ihn zu einem bloßen Vermittler von Inhalten herab. (17)522
Das Insistieren darauf, dass auch Prosatexte, soweit sie stilistisch durchgeformt sind, nicht im Sinne einer Lesehilfe, sondern per se ausgangssprachenorientiert zu übersetzen seien, ist der wichtigste Gedanke Fuhrmanns zur Theorie der Übersetzung antiker Texte. Die beinahe ausschließliche Orientierung der übersetzungstheoretischen Diskussion an Dichtung hatte beinahe vergessen lassen, dass Schleiermacher auch die Platonischen Dialoge ausgangssprachenorientiert bzw. dokumentarisch übersetzt und die verschiedenen Methoden des Übersetzens an Tacitus erörtert hatte.523 Allerdings ist das ausgangssprachenorientierte Übersetzen Fuhrmanns und das dokumentarische Übersetzen Schadewaldts, in dessen Tradition Fuhrmann sich zum Teil selbst stellt, nicht vollkommen kongruent. Dies wird dann auch bei Fuhrmanns eigener Übersetzungspraxis deutlich, die noch um einiges stärker an der Zielsprache orientiert ist, als es seine theoretischen Stellungnahmen zunächst erwarten lassen. Auch trennt beide eine grundverschiedene Sprach- und Literaturauffassung: Schadewaldts Sprachverständnis ist ontologisch, das Fuhrmanns kommunikativ ausgerichtet, Schade_____________ 520 S. auch Fuhrmann, Vom Übersetzen (1988), 20: „[D]ort aber gibt es nur eine Methode der Übertragung: die ‚wörtliche‘, diejenige also, welche die besonderen Ausdrucksmittel des Originals möglichst vollständig in die Version hinüberzuretten versucht, welche die Version als Abbild des Originals erscheinen lässt.“ S. ebenso ders., Von Wieland bis Voss (1987), 20, und ders., Übersetzen als Brücke (1998), 16. 521 Fuhrmann, Neue Übersetzungen? (1985), 20. 522 Dass Schadewaldt „alle Dichtung“ der dokumentarischen Übersetzungsart zuweist, ist allerdings nicht zutreffend; es ging ihm nur um „große, ernste […] im höchsten Sinne originale Dichtung“; Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 654. Ebd., 655, führt er aus: „[I]ch denke an Homer, Sappho, Pindar, Aischylos, Sophokles, Dante, Shakespeare, Racine“. 523 Die Unterteilung in Sachtexte, Kunstprosa und Poesie – mit einem Hinweis auf die Nähe der beiden letzteren – macht übrigens schon Schleiermacher: „Diese Schwierigkeiten zeigen sich am meisten auf dem Gebiet der Wissenschaft; andere giebt es, und nicht geringere, auf dem Gebiet der Poesie und auch der kunstreicheren Prosa, für welche ebenfalls das musikalische Element der Sprache, das sich in Rhythmus und Tonwechsel offenbart, eine ausgezeichnete und höhere Bedeutung hat.“ Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 79 f.
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waldts Literaturauffassung ist künstlerisch-schöpferisch, die Fuhrmanns eher technisch-rhetorisch.524 Schon der von Fuhrmann stets verwendete Terminus ‚rhetorische Schreibweise‘ ist bezeichnend: In der Antike stellte die rhetorische Theorie die Regeln der Prosapoetik auf, und so lässt Fuhrmann ihre Vorschriften auch für seine Übersetzungsmaximen gelten, wie etwa die Übernahme des rhetorischen Wirkziels movere für seine eigene Übersetzung der Cicero-Reden zeigt. Entscheidende Überlegungen Fuhrmanns zum Übersetzen antiker Originale basieren also auf dem Sprachverständnis und den Denkmustern rhetorischer Tradition.525 Damit greift Fuhrmann bewusst auf Übersetzungsprinzipien des 18. Jahrhunderts zurück.526
_____________ 524 Vgl. Mindt (2008), 76–78. 525 Zu rhetorischen Begriffen wie consuetudo, puritas, perspicuitas, aptum, ornatus und ihrem Niederschlag in Fuhrmanns Übersetzungsreflexionen vgl. Mindt (2008), 80–87, sowie ebd., 129–144. Die Reiß’sche Dreiteilung von Texttypen ist für Fuhrmann plausibel, weil sie mit den drei antiken genera dicendi/genera elocutionis der Rhetorik vereinbar ist. 526 Zum Einschnitt um 1800 s. besonders Fuhrmann, Von Wieland bis Voss (1987).
Die Übersetzung lateinischer Literatur unter dem Einfluss von Wolfgang Schadewaldt Unabhängig von dem Sonderfall linguistisch-textpragmatisch beeinflusster Übersetzungstheorie bei Nickel und z. T. bei Fuhrmann stellte sich auch allgemein – bedingt vor allem durch die Herausforderung, die ‚großen‘, ‚klassischen‘ Texte zu übersetzen – die Frage, ob Schadewaldts Konzeption ebenso für die Übersetzung lateinischer Literatur ein Modell sein könnte. Gerade die augusteische Poesie (insbesondere Ovid und Horaz) und etwa die Kunstprosa Senecas forderten zu theoretischen Stellungnahmen auf, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Der implizite Ausgangspunkt dieser theoretischen Bemühungen ist, dass die transponierende Übersetzung lateinischer Texte, zum Teil sogar in deutschen Reimen, um 1960 noch üblich war und unangefochten galt. So sprach sich Emil Staiger beim Artemis-Symposion, wenngleich nur in einer praeteritio, für eine Angleichung der Übersetzung an überlieferte deutsche Muster im Sinne des „Epigonentums“ aus.527 Und Wilhelm Willige hatte 1957 noch programmatisch formuliert: „[D]ie Übersetzer antiker Elegien oder Oden sollten danach streben, daß in ihren Übertragungen alle Spuren der übersetzerischen Arbeit getilgt seien und daß sie sich lesen lassen wie die Oden und Elegien deutscher Dichter.“528 Doch geriet diese Überzeugung infolge der durch Schadewaldt für die Übersetzung griechischer Literatur ausgelösten Debatte ihrerseits in Bewegung. Bernhard Kytzler 529 äußerte sich zu dieser speziellen Übersetzungsproblematik vor allem im Nachwort zu seiner zweisprachigen Ausgabe von Horaz’ Oden und Epoden (1978).530 Als entscheidende Anregung nennt er Schadewaldts Pindarübersetzung von _____________ 527 S. Staiger, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 21: „Für die lateinische Prosa, für Horaz, Vergil, Lukrez, könnten freilich andere Muster [scil. als bei der Übersetzung griechischer Autoren] geeigneter sein. Ich würde jedem Lukrez-Übersetzer raten, die großen Lehrgedichte Albrecht von Hallers gründlich zu studieren.“ Zu Staiger und seiner Übersetzungstheorie s. o. S. 273–276. 528 Willige, Vom Übersetzen fremder, insbesondere antiker Dichtung (1957), 446. Immerhin schränkt er ein: „Eine Übersetzung sei also eine völlig sinngetreue und eine möglichst form- und stilgetreue Spiegelung ihrer Vorlage“ (ebd.). S. ebenso Willige, Nachwort [zu Tibull] (1960), 151 f. Zu Williges Übersetzung vgl. Lenz (1968). Zu Williges Sophokles-Übersetzung s. o. S. 273. 529 Bernhard Kytzler (geb. 1929), Klassischer Philologe und Musikwissenschaftler, war nach der Promotion mit einer Arbeit über Statius (1956) und der kumulativen Habilitation an der Freien Universität Berlin ebendort von 1971 bis 1992 außerordentlicher Professor und übernahm in dieser Zeit auch einige Gastprofessuren im Ausland. 1992–1997 lehrte er in Durban, Südafrika. Sein breites Forschungsprofil reicht bis zum Neulatein und der Antikerezeption. Kytzler trat als Übersetzer von Minucius Felix (1965), erotischen Briefen der griechischen Antike (1967), Xenophon von Ephesos (1968), lateinischer und griechischer Romdichtung (1972), rhetorischen Schriften Ciceros (1970 und 1975), Horaz (1978 und 1986), griechischer und lateinischer Laudes Italiae (1988) und der Historia Apollonii regis Tyriae (2001) hervor. 530 Kytzler nahm in folgenden Zusammenhängen Übersetzungsreflexionen vor: Er rezensierte Fuhrmanns Cicero-Übersetzung (1971), äußerte sich zu seinen eigenen Übertragungen von Ciceros Brutus (1970) und Orator (1975) (v. a. Kytzler, Nachwort [zu Cicero, Orator] (1975), 265 f., zur Überset-
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1972531, die ihn zum Verzicht auf eine metrische Übersetzung veranlasst habe.532 Unter Berufung auf Schadewaldts Pindar-Nachwort macht er sich überdies konkrete Regeln des dokumentarischen Übersetzens zu eigen:533 [Es] wurde auch größtes Gewicht gelegt auf die genau gestaltete Abfolge der Worte und Gedanken, der Begriffe und Bilder. Sie sind ja im antiken – und ganz besonders im horazischen – lyrischen Gedicht mit äußerster Sorgfalt plaziert, die Setzung einer Vokabel im Ablauf einer Zeile oder Strophe hat wichtigen Aussagewert, Beginn und Ende treten als Tonträger akzentuierend hervor, die enge Gegenüberstellung gegensätzlicher Vorstellungen steigert ihr Gewicht ebenso wie die weite Auseinanderstellung von einander zugeordneten Gedanken – kurz: Die poetische Textur drückt sich zu einem gewichtigen Teil durch die vom Dichter geformte Folge der Vorstellungen aus, ihre Verschränkung und Verknüpfung, aber auch ihre Trennung und Kontrapostierung im Rahmen der vorgegebenen Zeile und Strophe wirkt entscheidend mit an jener Nuancierung der Aussage, die wir als Poesie bezeichnen. Diese poetische Textur zu erhalten ist hier zum höchsten Ziel genommen worden.534
Auch Niklas Holzberg 535 orientiert seine übersetzungstheoretischen Reflexionen im Vorwort seiner Übersetzung griechischer und lateinischer Liebesgedichte an Schadewaldts Übersetzungsprinzipien.536 Holzberg möchte das Original so exakt wie möglich wiedergeben und dabei die vorgegebene Zeilenanordnung, möglichst auch die Wortfolge beibehalten. Er verzichtet auf eine Versübertragung und hält stattdessen leicht _____________
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zung rhetorischer Termini) und arbeitete die antike Übersetzungstheorie auf (s. ders. [1989a]). Zur Wichtigkeit des Übersetzens für die Klassische Philologe s. ders. (1989b). Einen Vergleich zu Übersetzungen und Nachdichtungen von Hadrians anima vagula blandula s. ders. (1998). S. o. S. 289 f. Eine dezidierte Gegenposition in dieser Frage vertritt Häuptli, Zur Übersetzung [zu Ovid, Liebesbriefe] (1995). Dabei weist er auch auf die besonderen Gegebenheiten der Übersetzung in einer zweisprachigen Ausgabe hin: „Der vorliegende Versuch versteht sich nicht als poetische Reproduktion, sondern als demonstrative Interpretation: er deutet als Verständnishilfe auf das nebenstehende Original, das er erschließen, nicht ersetzen will.“ Kytzler, Zur Übersetzung [zu Horaz, Oden und Epoden] (1978), 324. Gerade in zweisprachigen Reclam-Ausgaben ist häufig auf die besondere Präsentationsform der Übersetzung verwiesen, die die Art der Übersetzung bestimme. S. auch ders., Zur Übersetzung [zu Horaz, Epistulae] (1986), 120. Kytzler, Zur Übersetzung [zu Horaz, Oden und Epoden] (1978), 325. Zur Problematik einer HorazÜbersetzung vgl. ansonsten R. A. Schröder, s. o. S. 260 Anm. 107, sowie Mann, Erfahrungen beim Übersetzen aus klassischem Latein (1978), 30–32. Niklas Holzberg (geb. 1946), Klassischer Philologe, ist nach Promotion (1972) und Habilitation (1979) in Erlangen seit 1983 Professor an der Universität in München. Innerhalb der griechischlateinischen Literaturwissenschaft hat er einen Schwerpunkt auf antiker Erzählprosa und römischer Liebesdichtung, betreibt außerdem Renaissancestudien mit Schwerpunkt auf der Antikerezeption in Deutschland im 16. Jahrhundert. Er verfasste einführende Werke zu Catull, Ovid, Vergil und Horaz, zu Martial und dem Epigramm, zum antiken Roman, zur römischen Liebeselegie und zur antiken Fabel. Holzberg trat als Übersetzer folgender Werke hervor: Frauen in der Volksversammlung des Aristophanes (2004, zuerst für eine Münchner Inszenierung 1983), Ovid (Ars amatoria 1985, Remedia amoris 1991, Fasti 1995, Amores 1999) sowie antike Liebesgedichte (2004) und eine Auswahl aus Martials Epigrammen (2008). Zu Problemen beim Übersetzen Martials s. Holzberg, Nachwort [zu Martial, Epigramme] (2008), 296–299. S. Holzberg, Vorwort [zu Applaus für Venus] (2004), 12 f.
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rhythmisierte deutsche Prosa für angemessen.537 Dies begründet er vor allem mit unerwünschten Konsequenzen, die metrisches Übersetzen häufig nach sich ziehe: Was wirklich stört, ist ein bestimmter Sprachgebrauch, zu dem die Notwendigkeit des Silbenzählens oft verleitet. Bis heute bedienen sich Übersetzer, die zum Beispiel elegische Distichen „dichten“, gerne bestimmter einsilbiger Wörter, die zwar in der Mitte und am Ende des Pentameters sehr nützlich sein können, aber zum großen Teil auch in gebundener Sprache nicht mehr verwendet werden. Hierher gehören etwa „Leu“, „Lenz“, „(er) dräut“, „(er) beut“ oder „Naß“ (für „Wasser“).538
Mit ähnlichen Argumenten wie Holzberg und unter Berufung auf Schadewaldt begründet Michael von Albrecht 539, der sich wiederholt mit der Übersetzungsthematik beschäftigt hat,540 seine Entscheidung für Prosaübersetzungen: Auch er verweist auf die Unterschiede zwischen dem antiken und dem deutschen metrischen System und auf die Gefahr, bei einer metrischen Übersetzung zur Komplettierung des Verses störende ‚Füllwörter‘ zu verwenden. Für die Prosafassung von Ovids Metamorphosen führt er einen zusätzlichen Grund an, der speziell die Gattung des Epos betrifft: Bei einem Werk, das Sagen und Geschichten enthält, ist für den heutigen Leser die Prosaform die geläufige, da in den neuzeitlichen Literaturen längst der Roman die Nachfolge des Epos angetreten hat. Auch andere Literaturgattungen lösen sich zunehmend von Reim und
_____________ 537 Bei seiner Übersetzung der Ars Amatoria des Ovid allerdings behält Holzberg die Metren bei und begründet dies mit den besonderen Funktionen, die sich bei Ovid mit der Versform (u. a. Enjambement) verbinden. 538 Holzberg, Vorwort [zu Applaus für Venus] (2004), 112. Wie Schadewaldt im Hinblick auf die Alte Komödie thematisiert Holzberg überdies den Bereich der obszönen Wörter, die, wie er fordert, ungemildert in der Übersetzung wiedergegeben werden müssten; s. Holzberg, Vorwort [zu Applaus für Venus] (2004), 113. Zum Umgang mit Obszönem s. auch Fischer, Anmerkungen des Übersetzers [zu Catull] (1987), 179 f.; Barié/Schindler, Zu dieser Ausgabe [zu Martial] (1999), 1551; Schrott, Fünfeinhalb Gemeinplätze die Übersetzung betreffend (2005), 75 f., sowie 94. 539 Michael von Albrecht (geb. 1933) studierte, nachdem er bereits ein Musikstudium abgeschlossen hatte, in Tübingen und Paris Klassische Philologie und Indologie. Nach Promotion (1959) und Habilitation (1964) in Tübingen hatte er von 1964 bis 1998 einen Lehrstuhl für Klassische Philologie in Heidelberg inne. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk schließt eine viel benutzte zweibändige Geschichte der römischen Literatur ein (in erster Auflage 1992 erschienen; zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen). Daneben trat er als Übersetzer römischer Dichtung – Ovids Ars Amatoria (zuerst 1979) und Metamorphosen (zuerst 1981), Catulls Carmina (1995) und Vergils Bucolica (2001) –, aber auch einer spätantiken griechischen Prosaschrift – Iamblichs De vita Pythagorica liber (1963)– hervor. 2004 erhielt er den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 540 In seinen Beiträgen Erfahrungen beim Übersetzen antiker Texte (2001) und Literatur als Brücke (2003), 327–361, untersucht er die Übersetzungsgeschichte lateinischer Literatur ins Deutsche (v. a. anhand von Vergils Aeneis), stellt sprachkomparatistische Überlegungen zwischen Latein und Deutsch an und thematisiert Chancen und Grenzen des Übersetzens (u. a. auch im metrischen Bereich). Zu seiner Übersetzung von Ovids Metamorphosen äußert er sich besonders ausführlich im Nachwort der Erstausgabe im Goldmann-Verlag (1981) sowie leicht verändert in seiner Reclam-Ausgabe (erstmals1994). Vgl. darüber hinaus ders., Zur Übersetzung [zu Ovid, Ars Amatoria] (1992); ders., Zur Übersetzung [zu Ovid, Amores] (1997); ders., Zur Übersetzung [zu Catull, Carmina] (1995), 284; ders., Zur Übersetzung [zu Vergil, Bucolica] (2001), 284 f.
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Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren Metrum, so daß eine Versübersetzung vielen Lesern als Anachronismus erscheinen könnte.541
Einen weiteren Vorteil der Prosaübersetzung sieht von Albrecht in der Möglichkeit, die ursprüngliche Folge der Vorstellungen zu bewahren. Dass dabei aber auch syntaktische Konstruktionen und Wortfolge mitzubeachten seien, hält er für undurchführbar, woraus sich ein Unterschied zu der Auffassung Kytzlers und Holzbergs ergibt. Von Albrecht begründet diese Behauptung damit, dass das Lateinische in Wortschatz, Satzbau und Wortstellung größere Unterschiede zum Deutschen aufweise als das Griechische.542 Eine konsequent dokumentarische Übersetzung römischer Dichtung erachtet von Albrecht schließlich auch noch aus einem weiteren Grund für ungeeignet: W. Schadewaldts Prinzip des „dokumentarischen Übersetzens“ hat für die Aneignung griechischer Texte in Deutschland Maßstäbe gesetzt, obwohl sein Charisma schwer nachzuahmen ist. Auf das Übersetzen aus dem Lateinischen läßt sich seine Methode nicht restlos übertragen, weil das Lateinische dem Deutschen viel ferner steht als das Griechische. Eine wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen kann naiv und ursprünglich, eine solche aus dem Lateinischen barbarisch und stillos klingen. Nun aber gehören Urbanität und Stil nicht nur akzidentiell, sondern wesenhaft zur römischen Dichtung.543
Wenn von Albrecht die Modernität augusteischer Literatur betont, ergibt sich von selbst, dass eine u. U. archaisch anmutende Übersetzung für den lateinischen Bereich nicht passend sein kann, obwohl eine solche im Bereich der griechischen Literatur durchaus gerne akzeptiert wird. Nicht umsonst wurden etwa im Allgemeinen die Übersetzungen der Homerischen Epen durch R. A. Schröder höher bewertet als seine VergilÜbersetzungen. Darin wird sichtbar, wie sehr bestimmte Vorstellungen über die Antike, mögen sie auch noch so alt und stereotyp sein, die Übersetzung lateinischer und griechischer Literatur bis heute bestimmen. Da es, wie von Albrecht konstatiert, für deutsche Prosaübersetzungen an einem Gattungsstil und an einer Tradition fehle, an die man beim Übersetzen lateinischer Literatur anknüpfen könnte,544 hält er die Schaffung eines solchen Stils für erforderlich und sieht seine eigenen Übersetzungen als einen Beitrag dazu an. _____________ 541 Von Albrecht, Zur vorliegenden Übersetzung [zu Ovid, Metamorphosen] (1994), 990. Der Text ist in Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 493–497, wieder abgedruckt. 542 S. von Albrecht, Zur vorliegenden Übersetzung [zu Ovid, Metamorphosen] (1994), 993; ders., Zur Übersetzung [zu Ovid, Liebesgedichte] (1997), 262; ders., Erfahrungen beim Übersetzen antiker Texte (2001), 305; ders., Brücken zwischen den Sprachen (2003), 327–332. Vgl. auch Häuptli, Zur Übersetzung [zu Ovid, Liebesbriefe] (1995), 253, mit dem Hinweis auf die fast völlig freie Wortstellung des Lateinischen, die „sehr viel rascher an die Grenzen ‚wörtlicher‘ Übertragung“ führe. 543 Von Albrecht, Zur vorliegenden Übersetzung [zu Ovid, Metamorphosen] (1994), 994. S. auch ders., Zur Übersetzung [zu Ovid, Liebesgedichte] (1997), 262: „Zudem darf ein Dolmetscher eines Weltmanns wie Ovid viel weniger vom geläufigen deutschen Sprachgebrauch abweichen, als dies bei einem archaischen Dichter wie Homer oder einem Philosophen wie Platon vertretbar sein mag.“ 544 S. von Albrecht, Zur vorliegenden Übersetzung [zu Ovid, Metamorphosen] (1994), 994. S. auch die anderen Nachworte, in denen von Albrecht seine Argumentation jeweils auf den Autor und den Text abstimmt.
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Auch Gerhard Fink 545 – ebenfalls Übersetzer von Ovids Metamorphosen – opfert die Metrik des Originals zugunsten „poetischer Prosa“546, lehnt aber noch schärfer als von Albrecht eine streng ausgangssprachenorientierte bzw. dokumentarische Übersetzung ab. Denn wo die wörtliche Wiedergabe unbeholfen wirke, müsse er von der Wortfolge abweichen, auch wenn er sie weitgehend beibehalten wolle.547 Sonst führe diese Art des Übersetzens, so seine Einschätzung, zu unidiomatischen Phrasen und verdrehter Wortstellung: „der Leser hat nur das Gefühl, daß wieder einmal der deutschen Wortstellung Gewalt angetan wird.“548 Im Gegensatz dazu ist er aber bestrebt, Stil- und Gedankenfiguren zu bewahren: Ein besonderes Merkmal antiker Dichtung und Kunstprosa ist die Fülle der Stil- und Gedankenfiguren, die keineswegs wie buntes Konfetti planlos in die Texte gestreut sind, sondern vielfach klar erfaßbare Aufgaben erfüllen und es verbieten, die von ihnen geschaffene Wortfolge als für die Übersetzung irrelevant zu beachten. (39)
Rhetorische Figuren, Wortspiele sowie Gedanken- und Wortfolge des Originals (vor allem bei „abbildender Funktion der Stilfigur“ [ebd.]) seien durchaus zu beachten. Allerdings konzediert er sich, solchen „stilistischen Schmuck“ gegebenenfalls auch zu ersetzen oder an eine andere Stelle des Textes zu verpflanzen.549 Ein entsprechender Befund ergibt sich für Finks Seneca-Übersetzung. Fink berücksichtigt dabei die jeweilige moderne Zielgruppe.550 Dieser Gesichtspunkt erlaubt gerade in Ausgaben ohne den lateinischen Text gewisse Freiheiten gegenüber dem Original, um die anvisierte Wirkungsäquivalenz zu erreichen. Diese Forderung, die sich bei Übersetzungen aus modernen Fremdsprachen nahezu allgemeiner Zustimmung erfreut,551 wird auch auf Übersetzungen lateinischer Literatur übertragen. Auch _____________ 545 Gerhard Fink (geb. 1934) war nach dem Studium der Alten Sprachen, Philosophie und Germanistik seit der Promotion in Erlangen (1959) in Nürnberg als Lehrer tätig. Er trat als Übersetzer von Ovids Metamorphosen (1989), von Dialogen Senecas (seit 1992) und seinen Briefen (2007), von Konrad Celtis’ Norimberga (2000) und von Horaz’ Oden und Epoden (2002) sowie von Vergils Aeneis (2005) hervor. Seine Übersetzungsreflexionen finden sich vor allem in dem Nachwort Blick in die Werkstatt (1989) und in dem Aufsatz „…Da rauschte Phoebus’ Leier“ (1992). 546 Fink, Blick in die Werkstatt (1989), 420. 547 S. Fink, Blick in die Werkstatt (1989), 421. „Wörtlichkeit, sofern sie nur zum Schaden des Textes bewahrt werden kann“, gibt er auf (ders., „…Da rauschte Phoebus’ Leier“ [1992], 40). 548 Fink, „…Da rauschte Phoebus’ Leier“ (1992), 35 (die Seitenzahlen dieses Textes werden im Folgenden direkt bei den Zitaten nachgewiese). Zum Problem der unterschiedlichen Wortstellung im Lateinischen und Deutschen s. auch von Albrecht, Zur Übersetzung (1997), 262. 549 S. Fink, „… Da rauschte Phoebus’ Leier“ (1992), 41: „Man sollte nicht davor zurückschrecken, was an der einen Stelle verloren ging, in nächster Nähe sozusagen nachzuholen, und – ehe man auf stilistischen Schmuck ganz verzichtet – gegebenenfalls das Stilmittel A durch ein bedingt vergleichbares Stilmittel B zu ersetzen“. S. auch Fink, Nachwort [zu Seneca] (1992), 381. Dieses Verfahren der Substitution wird freilich kaum der inneren Funktionalität des antiken Textes gerecht. 550 S. Fink, „… Da rauschte Phoebus’ Leier“ (1992), 34: „Wer heute antike Autoren übersetzt, wird sich bei der beschriebenen Alternative je nach der Zielgruppe, die er sich denkt, bald so, bald so entscheiden.“ 551 So trägt etwa die bekannte Schrift Güttingers Zielsprache, Theorie und Technik des Übersetzens (1963) die Zielsprachenorientierung bereits im Namen. Güttinger stellt aber gerade für zeitlich und kulturell ferne Texte die Frage, ob das gelehrte Übersetzen (damit meint er die Schleiermacher’sche Traditionslinie) vielleicht gar die einzig mögliche sei, s. ebd., 30.
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Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren
wenn er selbst seine Leitlinie als „Mittelweg“552 bezeichnet, kann kein Zweifel bestehen, dass er eher als Repräsentant der transponierenden bzw. zielsprachenorientierten Richtung zu betrachten ist. Demgegenüber beruft sich Manfred Rosenbach 553 bei seiner Übersetzung von Senecas philosophischen Schriften (1969) explizit auf Schleiermacher („den Leser dem Autor entgegenbewegen“554) und in der Neuauflage (1995) auch auf Schadewaldt.555 Sein Ziel ist es, Senecas typische Sprach- und Stilelemente bis ins Kleinste nachzubilden: Folgende Feststellung mag eine Binsenweisheit scheinen, dennoch sollte ein Übersetzer sich auf sie besinnen und sich ihrer bedienen: die Sprache des Originales und die der Übersetzung enthält, allen Grundstrukturen und Besonderheiten des jeweiligen Nationalstiles zum Trotz, eine Fülle von Möglichkeiten zu Ausdrucksweisen, die durchaus von der ‚normalen‘ Struktur abweichen. Im Bereich der großen antiken Autoren jedenfalls gibt es keinen Normalstil, sondern individuell ausgeprägte Stilformen.556
Dies berührt sich mit den Fuhrmann’schen Anforderungen an Übersetzungen von Texten der rhetorischen Schreibweise – nicht umsonst führt er in der 1995 um einige Vorbemerkungen erweiterten Neuausgabe seiner Übersetzung dessen Aufsatz Die gute Übersetzung (1992) an. Das Prinzip wird von Rosenbach aber kompromissloser als bei Fuhrmanns Cicero-Übersetzung verwirklicht. Es ist auffällig, dass sich in der bislang behandelten Diskussion zwei konträre Meinungen ohne ausreichende Begründung gegenüber stehen, ob eine dokumentarische Übersetzung lateinischer Texte aufgrund der Sprachunterschiede möglich sei oder nicht. Eine deutlich systematischere Untersuchung der unterschiedlichen grammatikalischen Struktur der lateinischen und der deutschen Sprache sowie der Konsequenzen für die Übersetzung liefert Jürgen Blänsdorf 557 in einem Aufsatz aus dem Jahre 2004. Er analysiert eine Komödie des Plautus, den Amphitruo, unter dieser Fragestellung. Blänsdorf selbst hatte den Amphitruo übersetzt und 1979 publiziert. In dem späteren Aufsatz diskutiert er eine große Zahl an Einzelphänomenen, die die Komödie betreffen. Während die von ihm erörterte Frage der Metrik zu den traditionellen Diskussionspunkten bei Dramen-Übersetzungen gehört, thematisiert er auch, dass sich _____________ 552 Fink, Nachwort [zu Seneca] (1992), 381. 553 Manfred Rosenbach (geb. 1934) hatte nach dem Studium der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte an der Freien Universität Berlin und der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Jahre 1958 an der Freien Universität Berlin promoviert. Von 1958 bis 1960 war er dort wissenschaftlicher Assistent, bevor er in den Schuldienst eintrat. 554 Rosenbach, Einleitung zur Übersetzung (1969), XII. 555 S. Rosenbach, Vorbemerkung zur Auflage 1995 (1995), X. Im Vorwort zur Erstausgabe hatte Rosenbach lediglich auf Schadewaldts frühe Äußerungen aus dem Jahre 1927 verwiesen, die um die allgemeine Problematik des Übersetzens kreisen. 556 Rosenbach, Einleitung zur Übersetzung (1969), XII. 557 Jürgen Blänsdorf (geb. 1936) hatte die Fächer Latein, Griechisch und Alte Geschichte in Freiburg i. Br. und Kiel studiert. Nach der Promotion (1965) und Habilitation (1971) nahm er einen Ruf nach Mainz an. Sein wissenschaftliches Interesse gilt neben römischer Dichtung, Cicero und Seneca insbesondere der römischen Komödie, aber auch der Linguistik, Stiltheorie und Metrik. Er inszenierte verschiedene Dramen in lateinischer Sprache mit Studierenden der Klassischen Philologie.
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gerade in der Komödie eine Vielzahl verschiedener Stilhöhen und Gattungsstile abwechselten. Daher sei es die Aufgabe des Übersetzers, „den Übersetzungsstil nicht zu einem gleichförmigen ‚Komödiendeutsch‘ einzuebnen, sondern die Integration poetischer und prosaischer Fremdstile durch vergleichbare, wenn schon nicht gleiche Stilmuster nachzuvollziehen.“ 558 Blänsdorf verfolgt in seinen allgemeinen Übersetzungsreflexionen einen linguistisch-sprachkomparatistischen Ansatz. Er erörtert Flexion, Wortstellung, Stellung der Satzteile, Satzart – stets mit Blick auf den Betonungsverlauf („Focus“ [185/189]) – sowie besondere sprachspezifische Phänomene des Lateinischen (wie Partizipialkonstruktionen oder Polysemie einiger Konjunktionen). Es zeigt sich: „Vielfach hilft nur eine periphrastische Übersetzung mit weitgehender Änderung im lexikalischen und syntaktischen Bereich und in der Satzreihenfolge“ (191). Allerdings formuliert er für eine „unausweichlich freie Übersetzung“ auch restriktive „Mindestanforderungen“: [W]enigstens die Aussageklassen wie Aussage, Aufforderung, Wunsch, Bedingung, und der Stil – denotativer, metaphorischer, begrifflicher, formeller u. a. Stile – sollten erhalten bleiben. (192)559
_____________ 558 Blänsdorf, Überlegungen zu einer Übersetzung des Plautus in heutigem Deutsch und antiken Versen (2004), 200. S. auch Fried, Zugang durch Übersetzung? (1970), 72 (die Seitenzahlen bei den Zitaten beziehen sich im Folgenden auf diesen Aufsatz Blänsdorfs). Eine Gegenposition vertritt Bremer, Antwort an meine Kritiker (1963), I; s. o. S. 306–308. 559 Die Bezeichnung „denotativer Stil“ (Denotation als Gegenbegriff zu Konnotation) verweist ein weiteres Mal auf die linguistische Ausrichtung von Blänsdorfs Ansatz. Auch in der Übersetzungswissenschaft wird denotative und konnotative Äquivalenz voneinander unterschieden.
Die Übersetzung griechischer Literatur: Homer im 21. Jahrhundert Während lateinische Literatur zunehmend unter dem Aspekt ihrer Modernität betrachtet wird,560 sind es aus dem Bereich der griechischen Literatur vor allem frühe Autoren, die immer wieder übersetzungstheoretische Stellungnahmen hervorgerufen haben.561 Diese Reflexionen zum Übersetzen griechischer Literatur seit 1960 sind in unterschiedlichen systematischen Zusammenhängen bereits in vorausgehenden Abschnitten behandelt worden.562 Nun soll an dieser Stelle noch abschließend ein Blick auf die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworfen werden, an dem sich die theoretische Debatte erneut der Übersetzung aus dem archaischen Griechisch, insbesondere dem Problem der Homer-Übersetzung widmet. Kurt Steinmann 563 trat zunächst beim Übersetzen griechischer Tragödien des Sophokles und des Euripides dezidiert in die Nachfolge Schadewaldts: Im Alkestis-Nachwort setzt er die Positionen Staigers und Schadewaldts als moderne Formulierungen des Schleiermacher’schen Dualismus auseinander und verpflichtet sich selbst dem dokumentarischen Übersetzen.564 Dies begründet er folgendermaßen: „Auf die Bewahrung des Metrums wurde verzichtet, aus der tiefen Überzeugung heraus, daß Transposition metrischer Formen mit rigoroser Strenge gegenüber dem Wortlaut unvereinbar ist.“565 Später hingegen änderte er diese Auffassung: Bei der Übersetzung der Odyssee Homers versucht er zwar weiterhin die drei Schadewaldt’schen Forderungen einzuhal_____________ 560 Einzige Ausnahme ist der vorklassische Lukrez, dessen zum Teil noch archaische Sprache Büchner, Nachwort an den geneigten Leser (1956), 632, thematisiert. 561 Über Homer hinaus ist dies besonders bei der frühgriechischen Lyrik zu beobachten; s. Hausmann, [Vorwort zu] Das Erwachen. Lieder und Bruchstücke aus der griechischen Frühzeit (1949) oder Schickel, Sappho, ein lyrisches, lesbisches Spektakel (1978). Zu Pindar s. Hölscher, Nachwort [zu Pindar] (2002) und Bremer, Nachwort [zu Pindar] (1992), 354–358. Bremer spricht sich auch im Zusammenhang seiner Übersetzung von Aischylos’ Prometheus in Fesseln dafür aus, „die eigenständige Bildersprache der archaischen Dichtung“ zu bewahren; Bremer, Zum Text und zur Übersetzung (1988), 112. Ebd., 111, findet sich ein Hinweis auf Schadewaldts Übersetzungsprinzipien, auf die Bremer sich bei der Pindar-Übersetzung ausdrücklich beruft. 562 S. die Abschnitte „Dokumentarische und transponierende Übersetzung“, „Reflexionen zur Übersetzung des antiken Dramas seit 1945“, „Übersetzungstheorie in der DDR“. 563 Kurt Steinmann (geb. 1945), Klassischer Philologe und Germanist, war nach der Promotion (1975) Lehrer für Latein und Griechisch. Er übersetzt seit Mitte der siebziger Jahre, beginnend schon mit der Promotion, die neben der Interpretation auch die Übersetzung der Gelesuintha-Elegie des Venantius enthielt, Autoren der griechischen und römischen Antike sowie des Humanismus und der Renaissance (s. Literaturverzeichnis). Dramenübersetzungen von Steinmann werden nicht selten für Theaterinszenierungen herangezogen. 564 S. Steinmann, Zur Übersetzung [zu Euripides, Alkestis] (1981) und ders., Nachwort [zu Sophokles, König Ödipus] (1989), 83 f. Steinmann setzt Schadewaldt in Tradition und Abhängigkeit vom spanischen Philosophen, Soziologen und Essayisten José Ortega y Gasset (Miseria y esplendor de la traducción, zuerst 1937), berücksichtigt dabei aber nicht, dass dieser wiederum vor allem Humboldt’sches Gedankengut neu formulierte. 565 Steinmann, Zur Übersetzung [zu Euripides, Alkestis] (1981), 174 f.
Die Übersetzung griechischer Literatur: Homer im 21. Jahrhundert
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ten, ohne dabei jedoch das Metrum zu opfern; eine Übersetzung in Hexametern müsse kaum weniger dokumentarisch sein als eine solche in Prosa.566 Steinmanns Übertragung wird häufig mit den anderen berühmten Übersetzungen von Voss (1781), R. A. Schröder (1911) oder Schadewaldt (1958) verglichen.567 Steinmann selbst setzt seine Übersetzung zu der Vossischen und Schadewaldt’schen in Beziehung: Obgleich beide ihre großen Verdienste hätten, seien auch Defizite auszumachen. Voss sei veraltet (in seiner Sprache, seinem Ton und auch in philologischer Hinsicht) und nicht fehlerfrei, Schadewaldt benutze den Hexameter nicht und dennoch Wörter „pseudoarchaischen Gepräges“568. Solch altertümelnde Manier wird ansonsten vor allem R. A. Schröder attestiert, ist aber durchaus auch bei Schadewaldt angelegt.569 Steinmann hingegen will Archaismen entgehen, was ihn in seltenen Fällen zur Verwendung von Alltagssprache führt. Er verpflichtet sich jedenfalls der Schlichtheit im lexikalischen und semantischen Bereich sowie der Parataxe und der konsequenten Wiedergabe der Epitheta des Homerischen Originals.570 Dagegen will Raoul Schrott 571 die Übersetzung Homers – in diesem Fall: der Ilias – in ganz anderer Weise erneuern. Schrott hatte seine Übersetzertätigkeit 1991 mit Liedern okzitanischer Sprache des Trobador Guihelm IX. begonnen und dann 1997 mit der Anthologie Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten vier Jahrtausenden Texte aus verschiedenen Literaturen, auch der griechischen und römischen (Archilochos, Sappho, Catull und Properz) auf Deutsch vorgelegt.572 1999 folgten die Bakchen nach Euripides, eine Bearbeitung des Stücks für das Wiener Burgtheater. 2001 schloss sich eine Übersetzung des Gilgamesch-Epos an.573 Eine übersetzungstheoretische Zwischenbilanz erschien unter dem Titel Fünfeinhalb Gemeinplätze die Übersetzung betreffend, in der Schrott sein Programm einer Aktualisierung von Dichtung durch Nachdichtung entwirft und von den Intentionen und Rücksichten eines philologisch _____________ 566 S. Steinmann, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (2007), 382. 567 Vgl. Flasch (2007), Jessen (2007), Richter (2007). Einen Vergleich zu Voss mit Konzentration auf die Metrik unternimmt der Gräzist und Journalist Schloemann (2007), der – entgegen den meisten anderen Rezensenten – metrische Schwächen Steinmanns aufzeigt. 568 Steinmann, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (2007), 381. 569 S. Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 324: „Es ging […] darum, uns eine ferne, längst vergangene Sprachwelt wieder heraufzuführen.“ Zum Konzept der Repristination bei R. A. Schröder s. o. S. 229–235. 570 S. Steinmann, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (2007), 382 f. Zu Homerischen Wörtern, insbesondere den Beiwörtern, sowie der additiven Satzform und der Schlichtheit Homers s. auch Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 324 f., sowie Steinmann, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (2007), 383. 571 Raoul Schrott (geb. 1964) hatte Literatur- und Sprachwissenschaften in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck studiert. Nach der Promotion in Innsbruck (1988) und einer Tätigkeit als Lektor für Deutsch in Neapel (1990–1993) habilitierte er sich 1996 in Innsbruck für Komparatistik. Sein literarisches Werk umfasst Lyrik, Romane und Essays. Daneben steht auch ein großes übersetzerisches Werk. 572 Zu Schrotts dortigem Verfahren vgl. Schmitz-Emans (2004). 573 Zu dieser Übersetzung vgl. Streck (2007).
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Übersetzungsreflexionen seit den sechziger Jahren
fundierten und motivierten Übersetzens abgrenzt.574 2008 erschien Schrotts Übersetzung der Ilias, die im Auftrag des Hessischen Rundfunks entstanden war. Die seit 2007 mit dem Schauspieler Manfred Zapatka als Sprecher veranstaltete Tonaufzeichnung ist nach der Ausstrahlung im Rundfunk auch als Hörbuch publiziert worden. Bereits während der Arbeit an der Ilias legte Schrott die übersetzungstheoretischen Prinzipien dar, die ihn bei der Übersetzung leiteten:575 Übersetzungen würden altern; sie bedürften der Anpassung an das aktuelle Publikum. Der Hexameter lasse sich im Deutschen nicht nachbilden und müsse deshalb völlig aufgegeben werden. Die stereotype Homerische Formelsprache könne in der Übersetzung nach den Erfordernissen der jeweiligen Situation dynamisiert werden, um sich der Vorstellungsbildung heutiger Rezipienten anzupassen.576 Die Übersetzung müsse explizit aussprechen, was in der historischen Aufführungssituation der Vortragende durch drastische Darstellung vermittelte. In die Übersetzung eines Textes aus einer vergangenen, fremd gewordenen Kultur müssten die zum Verständnis erforderlichen Kenntnisse eingearbeitet werden. Epitheta würden in der Regel nicht als solche übersetzt, sondern kontextuell aufgelöst.577 Die Sprache Homers verbleibe stets auf demselben stilistischen Niveau, ungeachtet, ob es sich um erzählende Partien oder um direkte Rede von Personen handele, die Übersetzung von Schrott dagegen „transponiert den jeweiligen Inhalt […] in die zur jeweiligen Situation passende Tonlage“578. Wiederholt beschreibt Schrott das Übersetzen wie Schleiermacher mit einer Bewegungsmetapher als „etwas von einem Ufer zum anderen zu bringen“579. Sein Anliegen ist es, wie er in der Einleitung zur Druckfassung der Ilias-Übersetzung ausführt, „Homer von seinem Ufer abzuholen, um ihn ins Heute zu bringen“580. Zweihundert _____________ 574 Zum Gewinn des Dichters durch das Übersetzen, zum Verhältnis von Verpflichtung dem Original gegenüber und zum kreativen Übersetzungsakt s. bereits Schrott, „Lyrik kann Dinge auf den Punkt bringen“ (1998). 575 S. Schrott, Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias (2006) – s. Kitzbichler/Lubitz/Mindt, Dokumente (2009), 499–505 – und ders., Replik auf den Kommentar von Joachim Latacz in Heft 4 (2006). Eine Zusammenfassung findet sich in der Druckfassung, s. ders., Zu dieser Fassung (2008). Das folgende Referat schließt sich v. a. der Replik auf den Kommentar von Joachim Latacz an. 576 Die epische Formelsprache als Reflex der Mündlichkeit sei heute funktionslos, s. Schrott, Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias (2006), 196. Zur Formelhaftigkeit als Sonderproblem der Homer-Übersetzung s. auch Schröder, Nachwort des Übersetzers [zu Homer, Ilias] (1943), 633 f. 577 Zu den Epitheta s. Schrott, Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias (2006), 199–201. Schrott verteidigt sein Vorgehen in Replik auf den Kommentar von Joachim Latacz in Heft 4 (2006), 475–479. Zu den stehenden Beiwörtern s. auch R. A. Schröder, Nachwort des Übersetzers [zu Homer, Ilias] (1942), 632, der „es mit ihnen nicht immer allzu genau genommen“ habe; Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Ilias] (1974), 426: „Beibehalten wurden natürlich die hieratischen Formelwörter in Beinamen der Götter und Helden und sonstigen Beiwörtern, die dem Homer aus der alten epischen Tradition überkommen waren“; s. auch Steinmann, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (2007), 382 f. 578 Dieser letzte Punkt ist – unter der Überschrift „Dramatik“ – erst in der Druckfassung der Übersetzung besonders herausgestellt; s. Schrott, Zu dieser Fassung (2008), XXXIX f. 579 S. bereits Schrott, Fünfeinhalb Gemeinplätze die Übersetzung betreffend (2005), 77. 580 Schrott, Zu dieser Fassung (2008), XXXIII; s. auch ders., Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias (2006), 196.
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Jahre nach Schleiermacher ist hier dessen übersetzungstheoretisches Konzept, d. h. die Fremdheit des Originals bewusst zu bewahren, dezidiert aufgegeben. Vielmehr praktiziert Schrott „jenes transponierende Übersetzen, in dem man vielfach heute die eigentliche Kunst des Übersetzens sieht“, wie es von Schadewaldt für Homer kritisiert worden war: Dieser hatte „es durchaus vermieden, die homerischen Vorstellungen in gängige deutsche Vorstellungen umzusetzen, wie diese sich dem Übersetzer zunächst als ‚gutes‘ und ‚lebendiges‘ Deutsch darbieten.“581 Gerade ein solches Vorgehen führt bei Schrott zu einer mit modernen umgangssprachlichen Wendungen gesättigten Sprache, die unter anderem „Homers Idiome durch jenen Vorrat an Phrasen [ersetzt], den unsere heutige Sprache als Erbe uralter Mündlichkeit besitzt: ihren Schatz an sprichwörtlichen Wendungen, von ‚Honig ums Maul schmieren‘ bis zu ‚vom Hocker hauen‘“582. So antitraditionell die Übersetzung daherkommt (was ihr sogleich fundamentale Kritik von philologischer Seite eingetragen hat583), so traditionell ist die – einst von Goethe und Schleiermacher formulierte, jedoch gerade von Schleiermacher vehement abgelehnte – Vorstellung des zum Leser transportierten Autors, mit der Schrott seine übersetzerische Intention umschreibt. Es scheint, als habe das 19. Jahrhundert mit dieser Formulierung – wenn auch gegen die Intention Schleiermachers – ein Fundament gelegt, das ungeachtet aller Auseinandersetzung um die übersetzerische Praxis Bestand und Gültigkeit besitzt.
_____________ 581 Schadewaldt, Zur Übersetzung [zu Homer, Odyssee] (1958), 323 f. Der Programmatik Schrotts hingegen am nächsten kommt unter älteren Homer-Übersetzern Gerhard Scheibner, der zu seiner in der DDR erschienenen Ilias-Übersetzung erklärt: „Bei meiner eigenen Übersetzung habe ich mich von dem Grundsatz leiten lassen, alles, was das Sprachgefühl des heutigen Lesers befremden muß, möglichst zu vermeiden, ohne aber die poetische Kraft des Ausdrucks aufzugeben. Keinesfalls geht es an, alle seltsamen Gewohnheiten der archaischen Syntax nachbilden zu wollen. Bei der Wortwahl mußten endlich einmal die von Lexikon zu Lexikon übernommenen, heute nicht mehr üblichen deutschen Ausdrücke vielfach durch neue ersetzt werden. […] Die stehenden Beiwörter (die ‚vielrudrigen‘ Schiffe, der ‚vielkluge‘ Odysseus und dergleichen) behielt ich großenteils bei, da sie ein Charakteristikum des epischen Stils sind. Dann gibt es Stellen von prägnanter Kürze, die kaum zu verstehen sind, wenn man sie wörtlich übersetzt. Hier übertrug ich kommentierend und gab den Gedanken zwar wortreicher, aber verständlicher wieder.“ Scheibner, Nachwort (1972), 398. 582 Schrott, Zu dieser Fassung (2008), XXXVII. 583 Latacz, Homer übersetzen. Zu Raoul Schrotts neuer Ilias-Fassung (2006). Latacz hatte Schrott zunächst (bei den ersten beiden Büchern der Ilias) beraten. Diese erschienen bereits 2006 in einem separaten Vorabdruck in der Zeitschrift Akzente.
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Personenregister
Abeken, Rudolf 222 Aischylos 2, 15 f., 18, 29, 64 ff., 83, 110 f., 117, 119, 123 f., 126 ff., 139 ff., 147, 164, 200, 206, 209, 218, 220, 274 f., 279, 285 f., 292, 301, 303, 305 f., 310 f., 313 ff., 325 f., 333 f., 341, 350 Albrecht, Jörn 30, 336, 338 Albrecht, Michael von 2, 12, 314, 330, 345 ff. Amalie, Königin von Griechenland 140 f. Ammianus Marcellinus 117 Anakreon 19, 99, 131, 133 ff. Apel, Friedmar 3, 5, 10, 40, 73, 336 Apel, Johann August 33 Apuleius, Lucius 191, 271 Ariosto, Ludovico (Ariost) 36, 99 Aristophanes 16, 19, 80 ff., 93, 111, 124 ff., 141 f., 152, 185 , 187, 279, 283 f., 286, 296, 305 ff., 319, 331 f., 339, 344 Aristoteles 99, 117, 169, 187 ff., 193, 240, 337, 339 f. Arndt, Andreas 55 Arnold, Matthew 26 Ast, Friedrich 3, 30, 33, 46 Baggesen, Jens 22 Bahr, Hermann 121 Bahrdt, Carl Friedrich 125 Bardt, Carl 177 ff. Baudelaire, Charles 10, 215, 256 Bauer, A[dolf ?] 191 Bäumlein, Wilhelm von 74
Bayr, Rudolf 64 f., 241 ff., 251 ff., 256, 258, 267 f., 270 f., 275, 301 f., 306 Becker, August 81 Beißner, Friedrich 229, 243, 249 Bekker, Immanuel 55 Belger, Christian 182 ff. Benjamin, Walter 10, 229, 256, 271, 294, 302, 315 Béranger, Pierre-Jean de 80 f. Berman, Antoine 10 Bernays, Jacob 187 ff. Besseldt, Karl 33 Bindemann, Ernst Christoph 131 Binder, Wilhelm 120 Bindseil, Fritz 121, 126 Bion von Smyrna 131 f. Blänsdorf, Jürgen 300, 309, 348 f. Bloesch, Hans 144 Blüher, Hans 219 Bodenstedt, Friedrich von 136, 137 ff., 186 Bodmer, Johann Jakob 16 f., 110 Boeckh, August 139, 149, 177, 181, 196, 198 Boeckh, August 3, 25, 31, 33, 54 ff., 59, 63, 73, 86, 91 ff., 284 Bogner, Hans 126 ff. Böhm, Wilhelm 222 Boie, Heinrich Christian 20 Bondi, Georg (Verleger) 219 Borchardt, Rudolf 3 f., 7 f., 12, 30, 73, 116, 138, 158, 203, 209 ff., 216 ff., 220 ff., 225, 227 f., 229 ff.,
420
Personenregister
242 f., 246 f., 249, 251, 253 f., 259 ff., 266, 273, 329 Börne, Ludwig 77 f. Borst, Otto 118 Bötticher, Wilhelm 123 Brandis, Christian August 139 f. Bratuscheck, Ernst 92 Breitinger, Johann Jakob 16 f., 110 Bremer, Claus 2, 8, 306 ff. Brentano, Clemens 36, 38 Brod, Max 126 Bruch, Carl 130 Brumoy, Pierre 19, 65 Buber, Martin 10 Bücheler, Franz 189, 191 Büchner, Georg 80 Büchner, Karl 350 Bürger, Gottfried August 20 f., 44, 164, 202, 213 Burckhardt, Jacob 140 Burdach, Konrad 209 Caecilius (neoterischer Dichter) 213 Caesar, Gaius Iulius 117, 219 Calderón de la Barca, Pedro 27, 36, 99, 122, 204, 234 Caprivi, Georg Leo von 176 Carlyle, Thomas 96 Cato, Marcus Porcius, d. Ä. 175, 231, 233, 259 f. Catullus, Gaius Valerius 126, 135, 182, 185 f., 213, 260, 318, 329, 336, 344 f., 351 Cauer, Paul (Pseud. Ludwig Logander) 3, 7, 172 ff., 175, 178 f., 251 Cebes s. Kebes Cervantes Saavedra, Miguel de 27, 36, 122 Cicero, Marcus Tullius 16, 60, 87, 99, 117, 173, 176 f., 233, 259, 261, 337, 339 f., 342 ff., 348 Cinna, Gaius Helvius 213 Conrad, Heinrich 125 f. Conz, Karl Philipp 68 Corneille, Pierre 122
Crusius, Otto 177, 190 f., 221 Curtius, Ernst 77, 139 ff. Curtius, Georg 172 D’Annunzio, Gabriele 215 Dacier, Anne 16, 19 Dante Alighieri 27, 36, 138, 210, 215, 230, 253, 283, 341 Degen, Johann Friedrich 131, 133, 135 Demosthenes 176 Denner, Balthasar 85 Diels, Hermann 193 ff. Dilthey, Wilhelm 209, 214, 242, 292 Dingelstedt, Franz von 136, 138, 146 Döhring, Leberecht Immanuel 33 Donner, Johann Jakob Christian 3, 91 f., 101, 105, 110 f., 118, 120, 122, 127, 149, 201, 225, 284, 328 Droysen, Johann Gustav 27, 61, 82, 87 ff., 91, 101, 119, 139 f., 162, 177, 187, 200, 310, 315, 332 f. Dütschke, Hans 124 Ebener, Dietrich 2, 303, 310, 313, 318 ff. Ebersbach, Volker 2, 8, 320 f., 329 f. Echtermeyer, Theodor 101 Eckstein, Ernst 57 Eichendorff, Josef von 225, 278 Einstein, Albert 194 Ennius, Quintus 175 Ermatinger, Emil 130, 143 ff. Eschenburg, Johann Joachim 163 Euler, Walter 285, 293 Euripides 2, 19, 47, 67, 111, 116, 119 f., 122 f., 149, 152 f., 155, 171, 196 f., 204 f., 214, 217, 234 f., 245, 248, 265, 274 f., 279, 303 ff., 308 f., 319, 325, 327, 350 f. Eyth, Eduard 120 Fähse, Gottfried 3, 46 Fink, Gerhard 12, 347 f.
Personenregister
Fischer, Hermann 86, 125 Flashar, Hellmut 293, 299 ff., 303, 305 f., 308, 311 f., 315, 318, 325, 333 Flaxman, John 620 Floerke, Hanns 125 Fontane, Theodor 154 Foscolo, Ugo 138 Fraenkel, Eduard 242, 261, 267 Fränkel, Jonas 229 Freiligrath, Ferdinand 107 Frey, Hans 2 Fried, Erich 308 f., 349 Friedrich der Große 62 Friedrich Wilhelm IV. 91 Friedrich, Wolf-Hartmut 261 Fritze, Franz 91 Fröreisen, Isaak 16 Fuhrmann, Manfred 2, 8, 12, 283, 302, 309 f., 311, 317, 335, 337, 339 ff., 343 Fulda, Ludwig 178 Gadamer, Hans-Georg 10, 240, 314 Gaedertz, Karl Theodor 141 Galen (Galenos von Pergamon) 193 Gallus, Gaius Cornelius 213 Garve, Christian 16 f., 58, 99 Geibel, Emanuel 77 f., 106, 115, 130, 136 ff., 144, 148 f., 201, 207, 253, 278 George, Stefan 8, 73, 116, 209, 215 ff., 221, 225, 228 f., 230, 234, 242, 249, 259 Gercke, Alfred 3, 195 Gigon, Olof 273 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 4, 8, 16, 19 f., 22, 25, 27, 36, 43 ff., 47, 50, 54, 59 f., 64 f., 68, 73 f., 76 f., 88, 95 f., 99, 101, 104 ff., 108 ff., 121 f., 125, 127, 136, 147, 155, 163, 171, 175, 179, 186, 191 f., 201 f., 204 ff., 211, 216, 220, 222, 232, 246 f., 255, 269,
421
271, 278, 280 f., 283, 285, 296, 353 Goldhagen, Johann Eustachius 125 Goldoni, Carlo 122 Goldsmith, Oliver 122 Gondek, Hans-Dieter 279 Gottsched, Johann Christoph 16 f., 109 f. Gravenhorst, Carl Theodor 155 Greiner, Norbert 336 Gries, Johann Diederich 36, 99 Gronemeyer, Horst 2, 261 Grünbein, Durs 4, 314 f. Gruppe, Otto Friedrich 2, 34, 63, 89 f., 92, 95, 108 ff., 139, 249, 255 f. Günther, Ernst 124 Güttinger, Fritz 294 f., 347 Gundolf, Friedrich 209, 215 f., 219 f., 226, 228 f., 249, 252, 254, 269, 281 Gurlitt, Johannes 162 f. Gurlitt, Ludwig 126 ff. Gutzkow, Karl 75 f. Hacks, Peter 308, 318, 321, 327, 331 ff. Haecker, Theodor 261, 266 Hafis 27 Hamann, Johann Georg 30 Hampe, Roland 122 Handke, Peter 311 ff. Häntzschel, Günter 2 f. Hardt, Ernst 223 Hartlaub, Wilhelm 134 Hartung, Johann Adam 140, 225 Häsler, Berthold 319 f. Hauff, Wilhelm 75 f. Haupt, Moriz 115, 172, 177, 181, 182 ff., 185, 188, 191, 193, 195 f. Häuptli, Bruno W. 344, 346 Hauser, Otto 230 Hausmann, Manfred 350 Haym, Rudolf 225 Hebbel, Friedrich 207
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Personenregister
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 101, 104, 108 Heidegger, Martin 8, 10, 229, 240, 242, 279 ff., 288, 305 Heilmann, Johann David 125 Heinse, Johann Jakob 128 Heinze, Richard 189 Hellingrath, Norbert von 2, 7 f., 12, 116, 215, 221 ff., 242, 249, 251 Heraklit 193, 265, 279, 281 Herder, Johann Gottfried 24 f., 48, 54, 73, 121, 164, 184, 192, 202, 211, 225 Hermann, Gottfried 27, 29, 65 f., 115, 181 f., 196 Herodot 3, 30, 122, 125, 175, 267, 273, 338 Herondas 190 f. Hertel, Ludwig 126 Hertz, Wilhelm 142 f. Hertzberg, Wilhelm Adolf Boguslaw 2, 7, 118, 120, 158 Herwegh, Georg 80 Herzog, Rudolf 190 Hesiod 110, 204 Heß, G[eorg?] 123 Heusler, Andreas 23, 258, 300 Heyme, Hansgünther 279 Heyse, Paul 136 ff., 142, 186 f. Heyse, Theodor 186 Hieronymus 44, 60, 339 Hildebrand, Rudolf 190 Hildebrandt, Kurt 12, 116, 209, 215 ff., 221 f., 225, 227, 249 Hoffmann, Carl 120 Hofmann, Walter 319 Hofmannsthal, Hugo von 210, 214, 217, 229, 231, 233 ff., 259, 261, 284 Hogarth, William 155 Holberg, Ludvig 122 Hölderlin, Friedrich 2 f., 7 f., 12, 27, 46, 88, 109, 212, 216 ff., 221 ff.,
243, 254 f., 281 f., 284, 288, 294, 307 Hölscher, Uvo 207, 350 Holzberg, Niklas 12, 344 f. Homer 2, 6, 12, 17 ff., 29, 36, 41 f., 44, 46, 48, 90, 93, 103, 110 f., 115, 117, 122 ff., 126, 137, 145, 147 f., 153 ff., 164, 170, 173, 175, 192, 200, 202, 204 f., 210, 213 f., 230, 232, 234, 258, 259 ff., 274, 276 f., 279, 281 ff., 286, 288 ff., 296, 318, 321, 325, 341, 346, 350 ff. Hommel, Friedrich 275, 293, 299, 302, 306, 331 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 77 f., 90, 99, 110, 124 ff., 131, 138, 143, 146 f., 164, 178, 182, 189, 202, 205, 210, 214, 232 f., 255, 259 f., 266, 273, 318, 343 f., 347 Hottinger, Johann Jakob 75, 99 Hötzer, Ulrich 131, 135 Hugo, Victor 80, 234 Humboldt, Alexander von 106 Humboldt, Wilhelm von 1 f., 6 ff., 10 f., 15, 17 f., 25, 29, 31 ff., 36, 48 f., 51, 54, 56, 64 ff., 88, 90, 92, 110, 119, 122, 128, 132, 143, 161 f., 164, 167 f., 172 f., 175, 177 ff., 193, 198 f., 201, 203, 225, 245, 247, 251, 262, 269, 271, 278 ff., 294 f., 297, 302, 307 Hunziker, Rudolf 130, 143 ff., 169 Huyssen, Andreas 3 Immermann, Karl 75 Irmscher, Johannes 317 f., 320 Jacobs, Friedrich 131 Jaeger, Werner 241, 245 f., 281, 317 Jahn, Friedrich Ludwig 34 f. Jahn, Otto 162, 182, 189 Jauß, Hans Robert 24 Jenisch, Daniel 68 Jens, Walter 285, 305 ff., 310 Joachimi-Dege, Marie 222
Personenregister
Jordan, Wilhelm 115, 148, 153 ff., 167 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 111 Kaibel, Georg 189 f. Kalidasa 28 Kallimachos 213, 274 Kallistratos 117 Kaltwasser, Johann Friedrich Salomon 125 Kant, Immanuel 64 Kaulen, Heinrich 224 Kautz (Gymnasiallehrer) 84, 89 f. Kebes von Theben 117 Keller, Gottfried 154 Keller, Julius 7, 167 ff., 175, 178 f., 251 Kerler, Heinrich 120 Kerner, Justinus 133 Kiessling, Adolf 189 f. Klausen, Rudolf Heinrich 139 Klein, Carl August 215 Kleist, Heinrich von 24, 191 Kloepfer, Rolf 297, 309 Klopstock, Friedrich Gottlieb 6, 19 f., 33 f., 99, 101, 103, 106, 110, 164, 205 f., 225, 263 Koch, Günther 191 Koller, Werner 5, 338 Kranz, Walter 193 Kutzleb, Hjalmar 248 Kytzler, Bernhard 12, 343 f., 346 Lachmann, Karl 139, 182 Lachner, Franz 149 Landfester, Manfred 198, 246 Lange, Friedrich 3, 30, 122 Lange, Wilhelm 33, 223 Langenscheidt, Gustav 121 Langenscheidt, Paul (Pseud. Erwin Rex) 121 f. Latacz, Joachim 242, 335, 352 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 62 Lejeune Dirichlet, Georg 175 ff., 179
423
Lenz, Friedrich Walter 343 Leo, Friedrich 124, 209, 233 Leopardi, Giacomo 138, 187, 376 Lesage, Alain 122 Lessing, Gotthold Ephraim 16 f., 121 f., 127, 285 Leuthold, Heinrich 136, 138 ff., 149 Lewinsohn, Paul 126 Leyen, Friedrich von der 221, 223 Litzmann, Berthold 222 Livius Andronicus 213, 338 Livius, Titus 117, 176 Lloyd-Jones, Hugh 310 Löbel, Renatus Gotthelf 10 Longfellow, Henry Wadsworth 122 Ludwig II., König von Bayern 139 Ludwig, Gustav 118 ff. Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 231, 325 Lukian 122, 189 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 182, 194, 266, 325, 343, 351 Luther, Martin 30, 45, 99, 163, 255, 296 Mähly, Jakob 121, 123, 130 Mallarmé, Stéphane 215 Marbach, Oswald 3, 101, 105 Marg, Walter 273 Mariacher, Bruno 273 Marouzeau, Jules 301 Martial (Marcus Valerius Martialis) 99, 126, 344 f. Martin, Paul 122 Maximilian II., König von Bayern 136, 139 Mazon, Paul 310 Mekler, Siegfried 191 Mendelssohn Bartholdy, Felix 91 f., 149 f. Mewaldt, Johannes 194 Meyer, Johann Heinrich 95 Milton, John 17, 27 Mimnermos 213
424
Personenregister
Minckwitz, Johannes 11, 106 f., 118 ff. Mittler, Adolf 126 Molière, Jean-Baptiste 122, 234 Mommsen, Theodor 162, 177, 182, 225 Mommsen, Tycho 3, 7 f., 45, 64, 162 ff., 167, 169 f., 174 f., 179, 250 Mörike, Eduard 115, 120, 130, 131 ff., 144, 148, 201, 253, 278 Moritz, Karl Philipp 33 Moschos 131 f. Motte-Fouqué, Friedrich de la 30 Müller, Heiner 314, 318, 321, 327, 331, 333 f. Müller, Jos. God. 155 Müller, Karl Otfried 140 Mundt, Theodor 76, 96 Napoleon Bonaparte 53 f. Nasta, Michael M. 319 f. Nernst, Walther 194 Neuffer, Ludwig 88, 223 Newald, Richard 241 ff., 251, 254 ff. Nickel, Rainer 3, 12, 336 ff., 343 Nietzsche, Friedrich 10, 215 f., 242 Norden, Eduard 3, 191 f., 195, 198 Notter, Friedrich 120, 131 f. Novalis (Friedrich von Hardenberg) 6 f., 29, 36 ff., 43 ff., 145, 163, 220, 247, 296 Nowak, Kurt 54 Opitz, Martin 99 ff., 103 Ortega y Gasset, José 294, 350 Osiander, Christian Nathanal 117 Otto, König von Griechenland 140 Ovid (Publius Ovidius Naso) 2, 19, 110, 124, 203, 213, 273, 329, 336, 343 ff. Pannwitz, Rudolf 271, 294 f., 302 Parini, Giuseppe 138 Parmenides 193, 279 Parthenios 117 Pater, Walter 210
Paul, Hermann 221 Paulsen, Friedrich 161 Pauly, August 118 Peirce, Charles S. 280 Persius 111 Petersen, Julius 243, 256 f. Petronius, Titus 126, 128, 329 Pfannschmidt, Viktor 123 Philetas von Kos 213 Philon 188 Pindar 7 f., 12, 30, 64 f., 93, 110 f., 126, 162 f., 205, 210, 221 ff., 230, 232, 245, 253, 259, 283, 289 f., 292, 318 f., 341, 344 f., 350 Platen, August Graf von 81, 106, 119, 125, 137 Platon 25, 29, 37, 54 ff., 117, 122 f., 125, 176, 188, 193, 201, 209 f., 211, 215 f., 246, 280, 282 f., 300, 320, 335, 339, 341, 346 Plautus, Titus Maccius 111, 126 f., 128, 309, 318, 348 f. Plotin 211 Plutarch 123, 125, 266, 286, 322 Polyainos 117 Pope, Alexander 44 Pringsheim, Heinz 210 Properz (Sextus Propertius) 120, 182, 213, 351 Prutz, Robert 2 f., 48, 89, 95, 100 ff., 110 f. Pudor, [Karl Heinrich] 3, 30, 34 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 122 Racine, Jean 122 Ramler, Karl Wilhelm 99, 126, 131, 164 Raumer, Friedrich von 30, 49, 88 Regenbogen, Otto 3, 242 f., 246, 261, 266 ff. Reinhardt, Karl 276, 300 Reinhardt, Max 220 Reiß, Katharina 320, 324, 338 f., 342
Personenregister
Rex, Erwin s. Langenscheidt, Paul Ribbeck, Otto 190 Riedel, Volker 246, 254 f., 299, 308, 318, 331 Riemer, Friedrich Wilhelm 31, 95, 97 ff. Rilke, Rainer Maria 229 Rischbieter, Henning 308, 310, 333 Ritschl, Friedrich Wilhelm 172, 187, 189 f. Roquette, Otto 106 Rosenbach, Manfred 348 Rosenzweig, Franz 10 Rösler, Wolfgang 195 Rossbach, August 185 Rossetti, Dante Gabriel 215 Rothfuchs, Julius 175 Rückert, Friedrich 141 Rückert, Friedrich 33 Rüdiger, Horst 2, 64, 242, 244, 251 f., 256, 268 ff., 273, 289, 292 Ruge, Arnold 3, 33 f., 80 f., 83 f., 89, 101, 105 Sachs, Hans 103, 191 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 88, 176, 300 Sappho 2, 19, 142, 147, 242, 269, 274, 278, 283, 292, 296, 315, 318, 341, 350 f. Saussure, Ferdinand de 280 Savigny, Friedrich Carl von 176 Schack, Adolf von 136 ff. Schadewaldt, Wolfgang 1 f., 8, 12, 31, 47, 207, 215, 228 f., 239 ff., 249, 251, 255, 261, 267, 269 ff., 273 ff., 299 ff., 304 ff., 311 ff., 320, 322 ff., 327 f., 332, 336, 339 ff., 343 ff. Schäfer, Karl 57, 78, 86 f., 92 f. Scheffer, Thassilo von 126 Scheibner, Gerhard 321, 353 Scherr, Johannes 130 Schickel, Joachim 315, 350
425
Schildknecht, Wolfgang 2, 243, 249 ff., 271 Schiller, Friedrich 8, 19, 47, 64 f., 67, 106, 121 f., 142, 145, 147, 155, 164, 171, 186, 192, 205, 207, 222, 261, 269, 275, 285, 313 Schlegel, August Wilhelm 3, 19, 22, 24, 29 f., 32 ff., 36 ff., 41 ff., 51, 54, 64 f., 68, 104, 158, 162, 164, 178, 204, 219, 296 Schlegel, Friedrich 6 f., 29, 31, 36 ff., 47, 49, 54 f., 62, 73, 75, 104, 257 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 1 f., 6 ff., 10 f., 17 f., 25, 29, 31, 34, 36 f., 40, 48 f., 53 ff., 65, 69, 73, 86, 88 ff., 102, 108 ff., 119, 121 f., 125, 128, 173, 193, 198, 201, 204, 240, 247, 257 f., 265 f., 270, 277 f., 281, 285, 287, 292, 294 ff., 300, 302, 307, 320, 341, 347 f., 350 ff. Schlosser, Johann Georg 75, 82 f. Schmid, Wilhelm 86, 125 Schmidt, Ernst A. 213, 219, 231 Schmidt, Moritz 225 Schnitzer, Karl Friedrich 118 Schöll, Adolf 118 f. Schopenhauer, Arthur 167, 202 Schottlaender, Rudolf 4, 300, 303, 318 ff., 327 f., 331 Schröder, Otto 176 Schröder, Rudolf Alexander 2, 4, 7, 158, 210, 214, 229 f., 233 f., 240, 243, 259 ff., 266, 287, 300, 330, 344, 351 Schrott, Raoul 2, 12, 314, 345, 351 ff. Schuster, Gerhard 209 Schwab, Christoph Theodor 222 Schwab, Gustav 117 Schweighäuser, Johann Gottfried 66 Sdun, Winfried 5 Seebass, Friedrich 221 f.
426
Personenregister
Seeger, Ludwig 2, 11, 42, 74 f., 77 f., 80 ff., 89, 109, 124 ff., 140, 332 Seidler, August 181 Sellner, Gustav Rudolf 279, 293, 302, 310 Seneca, Lucius Annaeus 314 f., 339, 343, 347 f. Sengle, Friedrich 75, 78, 82 Seyffert, Oskar 184 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 211 Shakespeare, William 17, 27, 36, 77, 80, 132, 138, 146, 153, 157, 162, 163, 178, 204, 215, 219 Silius Italicus 118 Simrock, Karl 107 Snell, Bruno 3, 241, 243, 261, 265 ff., 305 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 2 f., 10 f., 18, 22, 25, 29, 33, 36 f., 46 ff., 54, 67, 82, 90, 92, 104, 110, 284, 295 Sophokles 2 f., 17 ff., 29 f., 46, 49 f., 52, 67, 80, 91, 99, 100 f., 103, 110 f., 118 f., 123, 125, 141, 148 f., 151 ff., 155, 157, 159, 164, 171, 212, 218, 222 f., 226 f., 234 f., 241 f., 249 ff., 253 f., 259, 273 ff., 276, 279, 281 ff., 288, 290 f., 295 f., 300 ff., 311, 323, 325, 331 f., 341, 343, 350 Spangenberg, Wolfhart 103 Stackelberg, Jürgen von 274 Stahr, Adolf 85, 125 Staiger, Emil 12, 229, 239, 261, 270 f., 273 ff., 285, 289, 291 f., 295, 299, 307, 313, 323, 337, 343, 350 Stauffenberg, Alexander von 228 Stegemann, Hermann (Pseud. Hermann Sentier) 143 Stein, Peter 310 f. Steinmann, Kurt 12, 312, 350 f. Sternbach, Hermann 126
Sterne, Laurence 27 Stolberg, Christian Graf zu 46, 82, 284 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 16, 20 f., 82, 124, 164, 213 Stolze, Radegundis 5 Störig, Hans Joachim 4, 73 Storm, Theodor 154 Strauß, Botho 211 f. Strich, Fritz 243, 250, 257 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 125 Süvern, Johann Wilhelm 29 f., 33 Swinburne, Charles 215 Tacitus, Publius Cornelius 49, 123, 125, 173, 182, 184, 210, 248, 258, 338 f., 341 Tafel, Gottlieb Lukas Friedrich 117 Tasso, Torquato 27, 36, 99, 274 Terenz (Publius Terentius Afer) 111, 117, 325 Teuffel, Sigmund 118 Theognis 132, 142 Theokrit 90, 131 ff., 135, 205, 274 ff., 325 Theophrast 99 Thieriot, Paul Emil 22 Thiersch, Friedrich 30, 32 f., 35, 82, 110, 162, 225 f., 251 Thorwaldsen, Bertel 232 Thudichum, Georg 3, 101, 105 Thukydides 125, 266 f., 283, 301, 338 Tibullus, Albus 126, 139, 182, 213, 343 Tieck, Ludwig 36, 49, 91, 149, 162, 219, 296 Tiro, Friedrich 122 Treu, Kurt 318 ff. Türkheim, Leo 124 f. Uhland, Ludwig 315 Untersteiner, Mario 310 Usener, Hermann 189, 191, 193, 198, 209
Personenregister
Venzky, Georg 6, 17 Vergil (Publius Vergilius Maro) 2, 19, 21, 36, 124, 126, 147, 173, 176, 182, 186, 192, 203, 205, 213, 232, 259, 261, 266 f., 269, 273 f., 320, 325 ff., 329, 343 ff. Verlaine, Paul 215 Vollmöller, Karl Gustav 209, 215, 217, 220 Voss, Heinrich 3, 46 f., 222 Voss, Johann Heinrich 3, 6, 8, 11, 18, 21 ff., 26, 29, 33, 39, 41 ff., 45 f., 51, 65, 70, 74, 82 ff., 89 f., 93, 99, 103 f., 106, 110, 119 f., 122 ff., 133, 137, 141, 143, 158, 164, 175, 179, 200 f., 232, 260, 263, 279, 296, 341 f., 351 Wackernagel, Wilhelm 140 Walch, Georg Ludwig 49 Weber, Wilhelm Ernst 131 f. Weinstock, Heinrich 300 f. Welcker, Friedrich Gottlieb 139 f. 187, 189 Werner, Jürgen 319 Werner, Oskar 310 Wernicke, Konrad 122 Westphal, Rudolf 185 ff. Wetzel, Friedrich Gottlob 24 Wieland, Christoph Martin 4, 16, 20, 26, 42, 44 f., 82, 99, 101, 109, 122, 124 ff., 163 f., 189, 214, 342 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 1 f., 4, 7, 12, 73 f., 91, 116, 128, 144, 146, 152, 172, 175, 179, 181 f., 185, 189, 192, 195 ff., 209 ff., 221 f., 225 f., 228, 241 f., 245, 249 ff., 255 f., 266, 268, 270, 275 f., 284 f., 288, 292, 300 f., 304, 310, 333 Wilbrandt, Adolf 11, 77 f., 83, 85, 91, 115, 148 ff., 158, 170, 200 f., 206, 284 Willige, Wilhelm 273, 343 Wilss, Wolfram 336
427
Winckelmann, Johann Joachim 17 ff., 23, 197, 118, 282 f. Wittgenstein, Ludwig 280 Wittmann, Reinhard 118 Witzmann, Peter 327, 333 f. Wolf, Friedrich August 3, 26 f., 34, 49, 65, 69, 75, 82, 93, 201, 203 Wolfskehl, Karl 215, 219 Wolters, Friedrich 215, 216 Zieler, Gustav 152 Zinn, Ernst 259 ff., 273 Zoozmann, Richard 230 Zuntz, Günther 229
Sachregister
Akzent 261 f., 288, 323, 328, 344 Alexandriner 16, 141, 164 Allgemeine Literaturzeitung 22, 41, 46 Allgemeine Schulzeitung 90 Altertumswissenschaften 115 f., 317 altsprachlicher Unterricht 77, 115, 266, 282 f., 317, 326, 336 ff., 339 Analogie, analog etc. 141, 163 ff., 174, 199, 252, 275, 322 ff., 332, 339 Anapäst 141 f., 150, 157 f., 192, 300, 312 Anthologien 115, 130 ff., 191, 230, 269 f., 274, 296, 318, 325, 351 Antikebild 77 f., 81, 216, 232, 246, 249, 255, 282 ff., 290 f., 303 ff., 346 Antikeideal 24 f., 33, 64, 67, 78, 102, 282, 311 Äquivalenz, äquivalent 144, 146 f., 167 f., 192, 206, 230, 232, 270, 275 f., 288, 302, 324, 338, 347, 349 Archaische, das, archaisch 7, 68, 176, 282 ff., 290, 311 f., 335, 346, 350, 353 Archaisierung, archaisierend 30, 175 f., 194, 234 f., 260 ff., 311, 334, 346, 351 Artemis-Symposion 239, 270, 273 f., 276 f., 284, 289, 291, 295, 313, 319 f., 323, 343 Athenaeum 37, 54 Aufklärung 16 f., 64
Ausgangssprachenorientierung, ausgangssprachenorientiert 6 f., 297, 338, 340 f., 347 Bearbeitung 305, 307 f., 310, 327, 331 ff., 351 Begleittexte 118, 120 f., 123, 128 f., 142, 331 belles infidèles 17, 44, 66 Bibel 99, 240, 283 Bibliothek der Alten Welt 273, 288, 335 Bibliothek sämtl. griech. u. röm. Klassiker in neueren dt. Muster-Übersetzungen 120 Bild, Bildlichkeit 254, 283, 289, 292, 301, 304, 311 f., 344, 350 Bildungsvoraussetzungen 115, 128, 148, 150, 325 Blankvers 16, 65, 82, 84, 91, 125, 206, 123, 147, 151 f., 157, 164, 192, 275, 300, 332 Blätter für die Kunst 215, 212 Bühnenwirksamkeit 78, 150 f., 153, 293 f., 306, 319 f., 322 Burgtheater 115, 136, 148, 152, 301 f., 313, 351 causa victa 231 Chorlied, antikes 16, 84, 91, 123, 142, 147 f., 149 ff., 155, 157, 187, 205, 206, 222, 251, 275, 300 f., 310, 319 f. claritas 16 Collection Spemann 123 f. Cotta (Verlag) 124 f.
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Sachregister
Cotta’sche Bibliothek der Weltliteratur 124 f. Daktylen 20, 142, 158, 312 ‚deckende Übersetzung‘ 157, 167 ff. decorum 16 Deutsche Bibliothek der Schönen Wissenschaften 20 Deutsche Hand- und Hausbibliothek 123 f. Deutsches Museum 20 f. deutsch-griechische Affinität 7, 24, 34 f., 47, 199, 226, 250, 262, 264 Dialektübertragung 187 Distanz 7, 82, 116, 128, 164, 170, 211 f., 217, 220, 232, 266, 307, 311, 327, 329, 333 f. dokumentarisches Übersetzen 239, 246, 273 ff., 299 ff., 306, 311 f., 320, 322, 327, 340 f., 344, 346 ff., 350 f. Dolmetschen 58, 240, 247, 265, 277 f., 286 f. Drama 148, 153, 157, 192, 217, 234, 267, 277, 285, 287, 293 f., 299 ff., 318 f., 322, 328, 331 ff., 338, 350 ‚Drittes Reich‘ 248, 251, 261, 321 Dunkelheit, dunkel 17, 68, 70, 92, 124, 127, 220, 225 ff., 234, 250, 253, 302, 333 einbürgern 6, 138 f., 145 f., 179, 185, 204, 276 Einfachheit 68, 291, 306 f., 311 Einfühlung 143, 146, 173, 183, 199, 201 f., 211 f., 214, 222, 227, 242, 252, 256, 269, 292 Englisch, englische Literatur etc. 17, 27, 29, 77, 98, 204, 276 Epigonalität, Epigonen 74 f., 106, 226, 228, 250, 252, 271, 275 f., 295, 343 Epos, episch 9, 107, 115, 124, 130, 133, 147 f., 153 f., 157 f., 213, 232, 261, 263, 267, 286, 297, 330, 345, 351 f.
Erneuerung 242, 249 ff., 269, 304, 312, 351 Erobern 248, 250, 267 f. Europa 34, 54, 62 f., 76, 108, 110, 256, 282 Experiment, experimentell 165, 213 f., 215, 253, 276, 310 Form 18 f., 31 f., 41 f., 47, 70, 103, 106, 111 –, innere 210 f., 212, 214, 228, 242, 247, 254 –, neue 249 ff., 270 Form-Inhalt-Relation 31 f., 56, 62, 102 ff., 120, 122, 125, 137, 141, 144, 146 f., 163 f., 193, 202, 210 f., 215, 218 ff., 226, 246, 260, 267, 278, 287 ff., 311, 338 f., 344 Französisch, französische Literatur etc. 17, 19, 27, 44, 62, 65, 98, 100, 103, 170, 274, 276, 296 Frauen als Leserinnen 117, 133, 137, 151 Fremdheit, fremd 7 f., 15, 24, 27, 32, 54, 56, 61 ff., 70 f., 119, 121, 128, 135, 137 ff., 145 ff., 150 f., 163 f., 169 ff., 177 ff., 181, 183, 185 f., 189, 195, 198 ff., 205, 214, 220, 223 f., 227, 230, 232, 247 ff., 254, 258, 266, 271, 276, 292, 294 f., 306 f., 320, 333, 341, 352 f. Frühromantik s. Romantik Fußnoten s. Kommentar Gegenwartsbezug 102, 246, 252, 254, 291 ff., 305, 308, 318, 328, 331 f. Genie, -ästhetik, -kult 241, 244, 249 ff. George-Kreis 8, 116, 209, 215 ff., 221, 225, 228 f., 230, 234, 242, 249 Germanistik 95, 100 ff., 108, 245, 251, 254, 270, 273 f., 300, 305, 331, 347
Sachregister
Geschmack 115, 119, 133, 163, 177, 191, 216 Gewand 56, 121, 126, 143 ff., 147, 152, 158, 168, 186, 191, 201 f., 210, 218, 224, 250, 260, 266 ‚glatte Fügung‘ 224 f. Goethezeit 73 ff., 78, 89, 100, 147, 220 Göttinger Hainbund s. Hainbund Grenzen des Übersetzens 138 f., 146, 167 ff., 177, 188, 192, 215, 245, 255 f., 264 f., 267, 276, 304, 327, 345 f. Griechenland, griechisch 8, 17 ff., 27, 29, 31 ff., 41, 67, 98, 239, 246, 249, 253 f., 258, 261 f. 264, 267, 273 ff., 277, 280 ff., 286, 288 f., 291, 293 ff., 299, 301 ff., 306, 311 ff., 318, 321 ff., 325, 327 ff., 332 f., 335 f., 339, 343 ff., 350 ff. Griechische Dichter in neuen metrischen Uebersetzungen 90, 117 Griechische Prosaiker in neuen Uebersetzungen 90, 117 Gymnasialprogramme s. Schulprogramme Hainbund, Göttinger 20 Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 101 Handwerk, Übersetzen als – 146, 252 ‚harte Fügung‘ 224 f. Heidelberger Jahrbücher 55 Hermeneutik, hermeneutisch 10, 24 ff., 30 f., 39, 47, 54 ff., 60, 91 ff., 110, 159, 198, 240, 279, 292, 314 Hesperus 214, 229 heuristische Übersetzung 224, 292, 314 Hexameter 19 ff., 43, 103, 107, 110, 138, 141, 147, 157 f., 164 f., 170, 192, 203 f., 232, 260 f., 263, 275, 321, 330, 351 f.
431
Hinkjambus 190 f. Historiographie 9 historisch-kritische Forschung 197, 201, 216, 242, 245, 249 f., 254, 256 historisieren 175 f., 242, 257, 266, 271, 327, 329 f. historisierende Aufführungspraxis 149, 151 f. Historismus 75, 241 f., 249, 254, 314 „hohe Dichtung“ 281, 283, 287, 295, 339, 341 Humanismus 64, 72, 242, 254, 265, 267, 282, 350 – ‚Dritter‘ 242, 246, 282 humanistisches Gymnasium 12, 77, 161 f., 317 Idealität 282 f., 311 Idee 242, 245 f., 315 Ideologisierung 248, 255, 305 Inkommensurabilität 27, 61, 68, 212, 215, 220, 253 f. Insel, Die 259 Interlinearversion 45, 221, 229, 278, 294, 296, 327, 333 Jahrbücher für die geistige Bewegung 216 f., 219, 229 Jambus, jambisch 20, 142, 157 f., 191, 313 – fünfhebiger Jambus s. Blankvers – jambischer Trimeter 84, 104, 123, 141, 150 f., 153, 157, 187, 206, 249, 275, 300, 312 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 222 Junges Deutschland, Jungdeutsche 76, 136 Junghegelianer 80, 101 Juntina/Giuntina 27 Kanon, Kanonisierung 19, 77 f., 96, 318 f., 336 Klang 69, 257, 263 f., 266, 282, 287 ff., 297 f., 303 f.
432
Sachregister
Klassik, klassisch 224, 263, 282 f., 305 f., 319, 331, 343 – Weimarer 18, 74, 106, 263, 270, 274, 293, 323 Klassiker – des Altertums 125 ff., 262, 282 f., 305 f., 331 – deutsche 8, 64, 74, 292 f., 296, 323 Klassizismus, klassizistisch – deutscher 7, 11, 17 ff., 33 f., 273, 283 f., 290, 293 f. – französischer 17 Kleid s. Gewand Knittelverse 16, 103 Kommentar, Fußnoten 21, 26, 278, 331 Komödie 81 ff., 124 ff., 141 f., 152, 158, 178, 187, 204, 278 f., 184, 286, 290, 296, 309, 322, 324, 345, 348 f. Komposita 84, 157, 165, 170, 289, 312 f. Kongenialität 57, 128, 143, 205 f., 256 Konservative Revolution 125, 234 Konstruktion 249, 275, 305, 322 f., 327, 346, 349 „Kontamination“ 131 f., 232 Kritik 32, 39, 241, 243, 250, 261, 268, 283, 293, 306 f., 313 f., 324, 353 Kunst, Kunstwerk, künstlerisch 146, 185, 241 ff., 275, 307, 318 f., 342, 353 „Kunstcharakter des Originals“ 225 ff., 229 Kunstprosa s. Prosa Kunstwart 248 Langenscheidt (Verlag) 120 ff. Langenscheidt’sche Bibliothek sämticher griechischen und römischen Klassiker 120 ff.
Latein, Übersetzen aus dem Lateinischen 239, 258, 260, 266, 20, 275, 315, 323, 329 f., 337, 343 ff. Lebendigkeit, lebendig 81, 83, 127 f., 133, 138 f., 142, 146 f., 148, 150 ff., 163, 173 f., 176 ff., 190, 197, 199 f., 205 f., 214, 223, 225, 227, 230 ff., 234, 246 f., 249, 262, 282, 292, 305 f., 353 Lehrgedicht 193 f., 213, 343, 350 Leser s. Publikum Linguistik, linguistisch 9, 239 f., 279, 336 ff., 343, 348 f. Literaten 115, 181, 196, 209, 248, 250 Literaturgeschichte, deutsche 2 f., 43, 45, 95 ff., 108, 254 f. logos 280 f., 287 ff. Lyrik 9, 115, 130 ff., 148, 164, 185, 192, 204, 215, 270, 277 ff., 283, 318, 325, 335, 350 Meininger Hoftheater 149, 152 Metapher, Übersetzungs- 30, 56, 60, 144 f., 150, 202, 210, 257, 266, 300, 352 Metempsychose 198 f., 201 f., 210, 212, 256 Metrik 22, 29, 32 f., 65, 70, 117 ff., 120 f., 123, 125, 127 f., 130, 133, 137 ff., 141 ff., 147 ff., 153, 156 ff., 164 f., 172, 178, 183 f., 185 ff., 190 ff., 194, 196 f., 200 ff., 210 f., 213, 218, 223, 225, 228, 235, 249, 258, 260 f., 273, 275, 278, 300 f., 304, 322 f., 328, 341, 347 f., 351 Metzler (Verlag) 117 ff., 134, Mimus 40 Mischkalkulation 122 mittlerer Weg 61, 79, 84, 88 ff., 309, 330, 348 Moderne 34, 36 ff., 40, 224, 265, 289, 292 f., 306, 309, 314 f., 324, 329 ff., 347, 353
Sachregister
Modernisierung 115, 121 f., 142 ff, 146, 150 ff., 186, 194, 202, 211, 217, 220, 308, 311, 330 Morgenblatt für gebildete Stände 60, 75 Müller (Verlag) 125 Münchner Dichterkreis 11, 106, 136 ff., 146, 148 f., 186 Musen, Die 30 Musik, antike 33, 51, 301 Nachahmung 33, 37, 123 f., 136 f., 138 f., 145, 150, 155, 165, 177, 199, 205, 249, 288, 323 Nachbildung 33, 39, 47, 49 ff., 59, 90 Nacherzählung 285, 305 Nationalcharakter 15, 56, 67, 69, 93 Nationalliteratur 95 f., 108 Natürlichkeit 265 f. Neoteriker 213, 215 Normpoetik 25 „nostrifizieren“ 138 Ode 19, 260, 269, 343 f. ontologisch 8, 243, 280, 283, 341 orientalische Literatur 27, 36, 45 „Originaldichtung in fremdem Stil“ 163 f. Ottave rime 99 Paraphrase, paraphrasieren 59, 285 Partikeln 165, 177, 327 Pentameter 165, 204, 345 Philologie, Philologiegeschichte 17 f., 25, 27, 38, 49 f., 81, 93 f., 99, 101 f., 108, 110, 115 f., 128, 141, 143, 152, 154, 159, 181 ff., 228, 230, 233 f., 239, 241, 243, 245, 249, 252, 282 f., 291, 293, 317, 336 f. Philosophie 9, 17, 54 f., 240, 273, 279, 300, 304, 318, 322, 334 f., 338, 340, 348 phone s. Klang Photographie 85
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poetische Übersetzung 78 ff., 111, 146 Polymetrie, polymetrische Übersetzung 192 Porträt 85 proprietas 16 Propyläen (Verlag) 125, 196 Prosa 267, 319, 339, 341 ff., 347 Prosaübersetzung 45, 59, 104, 117 f., 120, 127, 162 ff., 175 ff., 192, 255, 257, 266, 276, 287 f., 307, 311 f., 315, 330, 332, 340, 345 ff., 351 Prosodie 23, 32 f., 51, 70 – deutsche 107, 258, 332 – griechische 65, 258, 332 Publikum, Leser, Hörer, Zuschauer 60 f., 82 f., 91, 111, 117, 128, 130, 132 f., 136 f., 142 f., 148, 150 ff., 155, 159, 179, 189, 194, 198, 200 f., 209, 212, 216, 225 f., 229, 234 f., 251, 257 f., 262 f., 278, 286, 291, 301, 306 ff., 318 ff., 322, 324 ff., 328 ff., 332 f., 335, 337 f., 345 ff., 352 f. Realgymnasium 161 f., 166 Realismus 84 f., 136 Reclam (Verlag) 122 f., 216, 303, 318 f., 335, 344 f. Reclams Universal-Bibliothek 64, 122 f., 335 Reformation 82, 98 f., 101 f. Reim 16, 91, 123 f., 137, 142, 148, 155, 164, 186 f., 191, 194, 224, 248, 253, 257, 263 ff., 313, 343, 345 f. Relativismus, relativistisch 216, 242, 249 Renaissance, Übersetzung als Wiedergeburt 227, 242, 249, 256, 267 f. Repristination 234, 260 ff., 351 rhapsodischer Vortrag 148, 154, 156, 158
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Sachregister
Rhetorik 9, 16 f., 301, 305, 327, 339 ff., 347 f. rhythmisierte Prosa 287 f., 311 f., 315, 345 Rhythmus 23 f., 32, 52, 71, 84, 107, 119, 123, 127, 138, 141, 153, 157 f., 165, 185 ff., 191 f., 203, 207, 218 f., 224, 232, 257, 260, 265, 267, 275, 287 f., 300 f., 311 f., 341 Rom, römisch 17, 19, 34, 65, 77, 98, 266, 273, 283, 314, 318, 325, 344 ff., 348, 351 Romantik, romantisch 1, 7 f., 10, 18, 25, 29, 33, 36 ff., 47, 49, 54, 74, 78, 91, 101, 138, 198, 200, 204, 211, 220, 224 f., 231, 243, 248, 292, 331 Römische Dichter in neuen metrischen Uebersetzungen 117 ff. Römische Prosaiker in neuen Uebersetzungen 117 ff. Sammlung Tusculum 335 Satzbau s. Syntax „Schönheitslinie“ 155 f. „schöpferische Restauration“ 1, 8, 116, 221, 229 ff. Schulkrieg 161, 166 Schulpolitik 115, 161 ff. Schulprogramme 115, 162 f., 167, 175 Schulreform 126, 161 f., 166, 174 f. Schweizerbart (Verlag) 134 Semiotik, semiotisch 280 Silbenlehre s. Prosodie Spondeus 19, 21, 33, 89, 158 Sprachbereicherung 7, 70, 127, 173, 203, 205, 294 ff. Sprachbewegung 1, 228 sprachmimetisch 24, 70, 79, 83 f., 90, 120, 128, 320 Sprachphilosophie 66, 68 ff., 159, 198, 279, 282 Stanzen 147, 192
Stil
109 f., 118 f., 124, 128, 131, 136 ff., 163 f., 173, 175 f., 182, 184 f., 189 ff., 197 f., 201, 203 ff., 209 f., 212, 214, 224, 226, 228, 242 f., 253, 255 ff., 263 f., 265 ff. 269 ff., 273, 275 f., 288, 292 f., 296, 306 ff., 313, 337, 339, 341, 346 ff., 352 f. stilgeschichtlich 243 „stilhafte Übersetzung“ 163 f., 175 „stillose Übersetzung“ 163 f. Stilvorbilder 179, 185 f., 191 f., 206, 257, 270 f., 275 f., 292, 346, 349 Symbol 242, 246, 253, 293 sympathetisch s. Einfühlung Syntax 253, 260, 275, 280, 284, 288, 301, 311 ff., 322 f., 327, 330, 340, 346, 349, 353 Tetrameter 141 Teutscher Merkur 20 Textpragmatik 336 f., 339 f., 343 Texttypologie 336 ff. Theater 50, 83, 115, 148 ff., 152, 206, 209, 220, 239, 279, 292 ff., 296 f., 299 ff., 318, 322, 331 ff., 350 f. Ton 41, 71, 109 f., 250, 275, 294, 313, 341, 351 Tragödie 9, 19, 48 f., 85, 91, 115 f., 123, 148 ff., 155, 157 f., 172, 189, 196 f., 203 ff., 209 f., 212, 215, 217, 221 f., 234 f., 239, 251, 273 f., 277, 281, 283, 285 f., 289 f., 292 ff. 296 f., 299, 301 ff., 311, 313 f., 319, 322, 324 f., 327 f., 350 Tragödienaufführung 50, 81, 91, 111, 149 ff., 278, 288, 293, 299, 301, 306, 310 f., 313 f., 319 transponierendes Übersetzen 239, 273, 277 f., 284 ff., 289, 296 f., 305 f., 309, 311, 313 f., 340 f., 343, 348, 353 Travestie 201 f., 210
Sachregister
Treue 15, 27, 31, 42, 66, 70 ff., 84, 90, 98, 109, 122, 125, 127 f., 133, 138, 146, 149 ff., 156, 159, 163, 171, 178, 183 f., 188, 190, 194, 200 f., 220, 226, 248, 250 ff., 260, 267, 270, 276, 278, 286 ff., 300 f., 304, 309, 312, 315, 320, 322 ff., 327 f., 332, 343 Trimeter s. jambischer Trimeter Trochäus 19, 124, 133, 141 f., 157 f., 192, 204 Tusculum s. Sammlung Tusculum Ueber Kunst und Alterthum 95 ff. Übersetzung als Form des Kommentars 146 f., 173, 185, 188, 190, 192 ff., 200, 253, 284, 291 f., 311, 319 f., 333, 344, 352 Übersetzungsfabrik 75 f. Übersetzungsgeschichte 79, 95 ff., 108 Übersetzungsmaximen, -methoden 43 ff., 54, 60 ff., 86, 88, 93, 278, 289 f., 339, 342 Übersetzungsreihen 115, 117 ff., 136, 272, 318 f., 335 f. Übersetzungstabu 115, 177, 181 ff., 195 f. Übersetzungstypologie 43 ff., 60 Übersetzungswissenschaft 30, 239 f., 320, 324, 336, 338 f., 349 „Umstilisierung“ 250, 253, 257 Urbild 226, 229, 246, 294, 304 Vergegenwärtigung 283, 291 ff., 315, 328 Verlebendigungsstrategie 148, 151 Verschiedenheit der Sprachen 127, 172, 177, 179, 193, 257 f., 288, 328, 330, 336, 345, 347 f. Verständlichkeit, verständlich 70, 84, 92, 116, 119, 124, 126 ff., 133 f., 137 f., 141, 143, 146 f., 152 f., 163, 176, 188 ff., 200, 207, 211, 216, 226, 250, 306 f., 309 ff., 319, 333, 353
435
Verständnis, Verstehen 93, 121, 124, 132, 143, 153 f., 164, 171 f., 173 ff., 177 f., 181 ff., 185, 194 f., 197 ff., 210, 212 f., 214, 216, 218, 223, 227, 240, 242, 252, 255, 270, 292, 319, 336 f., 344, 352 Versübersetzung, metrische Übersetzung 32 f., 50 ff., 65, 70, 79, 84, 89, 91, 99, 106 f., 109, 261, 276, 315, 346, 249 Verwissenschaftlichung 231 Vollständigkeit (der Übersetzung) 289, 311 Vormärz 11, 77, 80, 102 Vorsokratiker-Fragmente 193 f. Weimarer Klassik s. Klassik Weltliteratur 38, 95 ff., 99, 108, 124, 130, 136 f., 204 Wirkung 59, 83 ff., 93, 127 f., 133, 136, 138. 146 f., 148 ff., 163, 175 f, 184, 178, 202, 213, 229, 234, 247, 256, 275, 305, 308, 320, 322 ff., 327 f., 332, 338, 340, 347 Wirkungsäquivalenz, -gleichheit 59, 83, 93, 126 ff., 151, 155, 158, 172, 175 f., 179, 184 ff., 190 f., 201 f., 265, 322 ff., 327, 344 Wörtlichkeit 253 f., 264, 276 f., 287 ff., 293, 297, 305, 311 ff., 326, 334, 341, 346 f., 353 Wortstellung 266, 275, 290, 311, 322 f., 340 f., 349 Wortwahl 263, 266, 273, 285, 288, 300, 302, 315, 322, 330, 340, 353 Zeitabstand, absoluter und relativer 262, 333 Zielsprachenorientierung, zielsprachenorientiert 6, 295, 338, 340 f., 347 f. Zuhörer, Zuschauer s. Publikum zweisprachige Ausgabe 65, 265, 327, 335, 343 f. Zweiter Weltkrieg 251, 277, 282, 299 ff., 318, 322, 335