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Die Theologie des Neuen Testaments hat die Aufgabe, die Gedanken, Begriffe und Überzeugungen, die in den neutestamentlichen Schriften ausgedrückt werden, in ihrem sachlichen und historischen Zusammenhang darzustellen. Im 21. Jahrhundert hat ein solches Vorhaben eine Vielfalt von Forschungsperspektiven zu berücksichtigen. Der Gegenstand einer Theologie des Neuen Testaments wird längst nicht mehr allein als die systematische Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch, sondern auch als religiöses Symbolsystem des frühen Christentums definiert. In Auseinandersetzung mit herausragenden Beiträgen der internationalen Forschung stellt Bormann in diesem Buch die Grund linien der Theologie des Neuen Testaments und die wichtigsten Ergebnisse seiner Erforschung dar.
Theologie des Neuen Testaments
Theologie | Religionswissenschaft
ISBN 978-3-8252-4838-3
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Bormann
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
Lukas Bormann
Theologie des Neuen Testaments
UTB 4838
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York
Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft Herausgegeben von Lukas Bormann
Dr. theol. Lukas Bormann ist Professor für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg.
Lukas Bormann
Theologie des Neuen Testaments Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung
Vandenhoeck & Ruprecht
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Mit 13 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ausschnitt Albrecht Dürer, Michaels Kampf mit dem Drachen, 1498, Bildarchiv Foto Marburg. © Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: SchwabScantechnik, Göttingen UTB-Band-Nr. 4838 ISBN 978-3-8385-4838-8
Vorwort
Die Arbeit an diesem Buch war von der Überzeugung bestimmt, dass es nach wie vor sinnvoll und möglich ist, ein Gesamtbild des Neuen Testaments und seiner theologischen Aussagen zu entwerfen und auszuführen. Jeder wird verstehen, dass das Ergebnis eines solchen Bemühens durch sehr viele Gespräche, Vorträge, Diskussionen und vor allem durch die Lektüre zahlloser wissenschaftlicher Publikationen mitbestimmt ist, die sich nach fast vierzigjähriger intensiver Auseinandersetzung mit den Schriften des Neuen Testaments nicht alle nennen lassen. Die Literaturverzeichnisse und das Autorenregister geben darüber eine gewisse, wenn auch nicht erschöpfende Auskunft. Mein Dank gilt demnach der großen internationalen Wissenschaftlergemeinschaft, die sich seit Beginn der kritischen Erforschung des Neuen Testaments im 19. Jahrhundert mit der Gedankenwelt dieser Texte befasst hat. Ich danke namentlich all denen, die an der Verwirklichung dieses Buchprojekts in der letzten Phase mitgewirkt haben: Eva-Maria Molnár, Hannah Kress, Fabio de Gregorio und vor allem Dr. Johanna Conrad. Die Gesprächspartner des Verlags, zunächst Jörg Persch und dann Moritz Reissing und Dr. Bernhard Kirchmeier, haben durch ruhiges Nachfragen und sachliche Hilfen die Entstehung befördert. Für die Erteilung der Rechte, die Abbildungen im Buch abdrucken zu dürfen, danke ich den im Abbildungsverzeichnis genannten Institutionen und den Kolleginnen und Kollegen Nicole Belayche, Monique Morales und Ze’ev Weiss. Dr. Timo Glaser, Universitätsbibliothek Marburg, sei für die Erstellung hochauflösender Digitalisate gedankt. Marburg an der Lahn, Ostern 2017
Lukas Bormann
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?. . . . . . . . . . . . . 17 1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Anfänge der Theologie des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . 1.3 Bultmanns Theologie des Neuen Testaments und deren Nachwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Theologisch eigenständige Entwürfe nach Bultmann . . . . . . . 1.5 Theologie oder Religionsgeschichte und Religionstheorie? . . 1.6 Theologie als „Meistererzählung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtdarstellungen einer Theologie des Neuen Testaments . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 18 20 25 28 32 34 38 39
2 Antikes Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Diaspora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Sondergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10 Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 44 47 52 56 60 64 68 71 75 77
3 Jesus von Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Historische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3 Königsherrschaft Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.4 Ethik der Königsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.5 Selbstverständnis Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.6 Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
8
Inhalt
4 Theologie des Paulus 1: Gott und Christus . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.2 Theologie des vorchristlichen Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3 Theologie des Paulus „in Christus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.4 Heilswende in Christus: Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . 128 4.5 Folgen der Heilswende in Christus: Gemeinde, Taufe und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
5 Theologie des Paulus 2: Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.1 Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.2 Gerechtigkeit aus Glauben und Rechtfertigung der Gottlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.3 Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.4 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.5 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
6 Paulustradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 6.2 Kolosser-, Epheser- und zweiter Thessalonicherbrief (Deuteropaulinen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.3 Erster und zweiter Timotheus- und Titusbrief (Pastoralbriefe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
7 Logienquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7.2 Inhalt und Aufbau der Logienquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.3 Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.4 Gericht und Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 7.5 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
8 Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 8.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.2 Theologie als Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8.3 Narrative Theologie des Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 8.4 Theologisieren mit Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Inhalt
9 Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 9.2 Besonderheiten der matthäischen Jesuserzählung . . . . . . . . . . 265 9.3 Gott, der Vater im Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 9.4 Jesus Christus, der Sohn Davids und Sohn Gottes . . . . . . . . . . 276 9.5 Die „bessere“ Gerechtigkeit und das Gericht . . . . . . . . . . . . . . 281 9.6 Von Israel zur weltweiten Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
10 Lukasevangelium und Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . 293 10.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 10.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 10.3 Gott, Herr der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 10.4 Jesus, Prophet, kyrios und „Sohn des Höchsten“ . . . . . . . . . . 307 10.5 Geschichte des Volkes Gottes und „heiliger Geist“ . . . . . . . . 311 10.6 Ethik und Politik: Armut und Besitz, Rettung und Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
11 Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 11.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 11.2 Jesuserzählung als Inszenierung der Herrlichkeit (Doxa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 11.3 Christologischer Monotheismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 11.4 Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 11.5 Höhepunkt des Neuen Testaments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
12 Hebräerbrief und katholische Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 12.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 12.2 Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 12.3 Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 12.4 Der erste Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 12.5 Die drei Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 12.6 Zweiter Petrusbrief und Judasbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
9
10
Inhalt
13 Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 13.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 13.2 Inhalt und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 13.3 Der souveräne Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 13.4 Christus, das Lamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 13.5 Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Register (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1) Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 2) Schlagwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 3) Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Zur Einführung
Diese Theologie des Neuen Testaments stellt die Gedankenwelt der neutestamentlichen Schriften und ihrer Autoren dar. Sie konzentriert sich dabei auf die Aussagen, die theologisch relevant sind. Für die Bestimmung dieser Relevanz wird als Analysekategorie ein offenes Verständnis von Theologie zugrundegelegt, nach dem Theologie das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch reflektiert. Zugleich werden die Herausforderungen angenommen, die sich einem solchen Projekt innerhalb der selbstreflexiv gewordenen Moderne stellen. An die Wissenschaften werden grundlegende Fragen nach ihrer Legitimität gestellt: Was ist Wissen überhaupt? Welche Funktionen erfüllt dieses Wissen? Welches Versprechen gibt es den Wissbegierigen? Diese hermeneutische Situation hat dazu geführt, dass die aktuellsten Theologien des Neuen Testaments (Schnelle, Wright) nicht nur informieren, sondern mit den Konzepten der story und der Meistererzählung die identitätsbildenden Funktionen einer Theologie des Neuen Testaments als Erzählung aufnehmen. Diese Erzählungen geben ihren Lesern und Zuhörern ein Versprechen. Wright sieht das Ziel in einer Kirche, die er als „single, multi-ethnic family promised by God“ bezeichnet. Schnelle hingegen konzentriert sich auf die Liebe als das „Grundprinzip allen Seins“. Beide Aussagen, die eher soziologische bzw. ekklesiologische Wrights und die eher begriffliche bzw. dogmatische Schnelles, treffen eine Auswahl, die vieles, was die neutestamentlichen Autoren theologisch bewegt, unberücksichtigt lässt, z. B. die Fragen nach Gerechtigkeit, Schuld, Strafe und Vergeltung. Der vorliegende Entwurf hat sich deswegen entschieden, einen Vorstellungszusammenhang in den Mittelpunkt zu rücken, der sowohl die neutestamentlichen Texte enger zueinander in Beziehung setzt als auch der Tatsache Rechnung trägt, dass die neutestamentlichen Autoren selbst die „Schrift“, die das Christentum das Alte Testament nennt, als autoritativen und normativen Text sowie als grundlegende Erzählung (primary history) voraussetzen. Aus diesem dem Neuen Testament vorgegebenen Reflexionshorizont der „Schrift“ ragen die Aussagen über die Eigenschaften Gottes in Ex 34,6 bzw. Ps 145,8 u. ö. hervor. Sie werden innerhalb des Alten Testaments immer wieder aufgegriffen, im antiken Judentum reflektiert und von der alttestamentlichen Wissenschaft als „Wesensdefinition Gottes“ (Jeremias, Spieckermann) bezeichnet. Der Diskurs um die Eigenschaften Gottes, der sich vor allem in der Spannung zwischen Gerechtigkeit und
offener Theologiebegriff
Wissen als Erzählung
Altes Testament
Eigenschaften Gottes
12
Zur Einführung
Sprache
Aufbau und die Gliederung
Zwischenresümees
Barmherzigkeit bzw. zwischen Recht und Liebe bewegt, ist demnach zugleich der Ausgangspunkt wie auch der Zielpunkt, d. h. das Versprechen, dieser Theologie des Neuen Testaments. Im Rahmen dieses Diskurses verwenden die verschiedenen neutestamenentlichen Schriften Sprachformen und Ausdrucksweisen, die für sie jeweils charakteristisch sind. Die gewählte sprachliche Form und der sprachliche Ausdruck bestimmen und begrenzen die Textaussagen, ihren Bezug zur textexternen Wirklichkeit und ihren Beitrag zur Kommunikation um die theologischen Anliegen. Jesus bevorzugt den Spruch und das Gleichnis, während Paulus dem Argumentationsstil der stoisch-kynischen Diatribe folgt. Das Markusevangelium reflektiert sein theologisches Anliegen als biographisches Narrativ. Matthäus und Lukas greifen das auf, setzen aber mit der Aufnahme jüdischer Diskursformen bzw. der Orientierung an der hellenistischen Fachprosa eigene Akzente. Das Johannesevangelium schlägt wiederum einen ganz anderen Weg ein, indem es die äußere Simplizität seines Sprachgebrauchs bewusst dafür einsetzt, den Leser von der komplexen theologischen These des christologischen Monotheismus zu überzeugen. Die Johannesoffenbarung schließlich entscheidet sich für eine visuelle Kommunikation in Bildern und Vorstellungen, die ganz eigene Möglichkeiten eröffnet, aber auch bestimmte Grenzen setzt. Der offene Begriff von Theologie, die Reflexion der Darstellungsform einer Theologie, die Orientierung an den Eigenschaften Gottes und die Analyse der gewählten Sprach- und Ausdrucksformen stellen die vier übergreifenden Perspektiven dar, die dieser Entwurf verfolgt. Der Aufbau und die Gliederung der einzelnen Kapitel folgen der sachlichen Ordnung des gedanklichen Zusammenhangs, der durch die behandelten Themen und neutestamentlichen Schriften gegeben ist. Auf eine schematische Bearbeitung theologischer Topoi (Gotteslehre, Christologie, Soteriologie usw.) wurde verzichtet. Vielmehr wird auf der Grundlage des offenen Theologiebegriffs die Gedankenwelt der jeweiligen neutestamentlichen Schrift oder der hinter diesen Texten stehenden Personen, etwa Jesus und Paulus, in ihrem historischen Kontext dargestellt und analysiert. Der fortlaufende Text wird an geeigneten Stellen durch im Druck hervorgehobene Zwischenresümees unterbrochen. Diese sollen Grundaussagen des zuvor entfalteten Gedankengangs zusammenfassen, weiterführende Überlegungen anstoßen und das vertiefte sinnerfassende Lesen des Buches unterstützen. Jedes Kapitel bzw. in Kp. 12 die Unterabschnitte schließen mit einem Literaturverzeichnis, das die in den Anmerkungen als Kurztitel notierten Angaben vervollständigt.
Zur Einführung
Die einzelnen Kapitel werden durch eine bildliche Darstellung eröffnet, deren Bedeutung im Text aufgegriffen und auf die weiteren Ausführungen bezogen wird. Durch die Kombination von bildlicher Darstellung und wissenschaftlichem Text soll dem Leser des Buches die Möglichkeit gegeben werden, eigenständig bedeutsame Zwischenräume wahrzunehmen und Sinndimensionen zu erschließen, die entstehen, wenn visueller Ausdruck und textlich-begriffliche Interpretation nebeneinander stehen und zugleich aufeinander bezogen werden. Die Grafiken sollen auch zum Ausdruck bringen, dass die Texte des Neuen Testaments in historischen Kontexten entstanden sind und in Rezeptionsprozessen überliefert wurden, die für ihr Verständnis bedeutsam sind, aber in diesem Buch nicht ausführlich behandelt werden können. Die gewählten Grafiken sind je für sich so ausdrucksstark und vielschichtig, dass ihre Wahrnehmung auch ein autonomes Seh- und Leseerlebnis ermöglicht. In der Regel wird im Anschluss daran, meist ausgehend von den altkirchlichen Zeugnissen, eine knappe historische Information über die Abfassungsverhältnisse gegeben, um dann in geeigneter Weise jeweils auf die gewählten sprachlichen Formen des neutestamentlichen Überlieferungsträgers oder der jeweiligen Schrift einzugehen. Diese Fragestellungen werden nicht schematisch abgearbeitet, sondern orientieren sich an den jeweiligen Sinn- und Verstehensangeboten, die die Gegenstände der Untersuchung machen. In Kapitel 1 wird die Forschungs- und Problemgeschichte der Disziplin Theologie des Neuen Testaments dargestellt. Kapitel 2 wendet sich den Grundlagen der neutestamentlichen Schriften zu, die im antiken Judentum liegen. Die neutestamentlichen Autoren reflektieren ihre Überlegungen zum Verhältnis von Gott, Welt und Mensch im Horizont der Überzeugungen und Praktiken des antiken Judentums. Ohne eine Zuordnung der neutestamentlichen Aussagen zu diesem Sinn- und Deutungshorizont sind sie nicht angemessen zu verstehen. Im Verlauf der weiteren Kapitel wird vor allem auf dieses zweite Kapitel durch Verweise immer wieder Bezug genommen, aber auch dort, wo dies nicht ausdrücklich geschieht, wird der Inhalt dieses Kapitels vorausgesetzt. Den internen Verweisen in den Fußnoten ist in Klammern jeweils ein Stichwort über die Thematik, die auf der angegeben Seite behandelt wird, beigegeben, sodass der Leser jeweils entscheiden kann, ob er diesen Sachverhalt im Sinn hat oder ob er ihn nachschlagen möchte. Kapitel 3 befasst sich mit Jesus von Nazareth. Auch in diesem dritten Kapitel werden Überlegungen formuliert, die im weiteren Verlauf des Buches immer wieder aufgegriffen werden. Aufgrund dieses besonderen Charakters enden die drei ersten Kapitel jeweils mit einem Abschnitt zu „Ergebnis und Ausblick“. In diesen abschließenden Pas-
13
Seh- und Leseerlebnis
antikes Judentum
Jesus von Nazareth
14
Zur Einführung
Paulus
Jesustradition
Quellenzitate
Sprachen
sagen sind die Gedanken, die für die Theologie des Neuen Testaments besonders bedeutsam sind, zusammengefasst. Die Darstellung der Theologie des Paulus erfolgt in den Kapiteln 4 und 5. Dabei werden nicht die einzelnen Paulusbriefe für sich, sondern die sachlichen Zusammenhänge der Theologie des Paulus behandelt. Diese beiden Kapitel setzen zwar mit „Gott und Christus“ (Kp. 4) und „Mensch“ (Kp. 5) unterschiedliche Schwerpunkte, sie sind aber aufgrund des alle Themen der paulinischen Theologie durchdringenden eschatologisch-soteriologischen Interesses des Paulus im Zusammenhang zu lesen. Das Kapitel 6 erläutert die Rezeption und Weiterführung der Theologie des Paulus in der Paulustradition, d. h. in den Deuteropaulinen (Kol, Eph, 2Thess) und in den Pastoralbriefen (1/2Tim; Tit). Die Kapitel 7 bis 11 kommen wieder auf die Jesustradition im engeren Sinn zurück. Die Logienquelle und die Evangelien werden unter besonderer Berücksichtigung ihrer narrativen Gestalt als Jesuserzählungen auf ihre theologischen Aussagen hin interpretiert. Die beiden abschließenden Kapitel 12 und 13 wenden sich dann den übrigen neutestamentlichen Schriften zu, die nicht unmittelbar an die beiden durch Paulus und Jesus vorgegebenen Traditionslinien anknüpfen: Hebräer-, Jakobus-, Johannesund Petrusbriefe sowie Judasbrief und Johannesoffenbarung. Im Verlauf werden immer wieder biblische Texte und antike Quellen zitiert. Dadurch sollen zentrale Aussagen in ihrem Wortlaut zugänglich gemacht werden. Auch diese Zitate eröffnen wie das Gegenüber von Bild und Text gedankliche Zwischenräume, indem sie den originalen historischen Ausdruck neben die Interpretationen des Autors stellen. Diese Zitate sind ein wichtiges Korrektiv gegenüber einer allzu integrativ-synthetischen Darstellungsweise. Sie ermöglichen dem Leser ein eigenes Urteil darüber, ob und inwieweit diese Darstellung der Theologie des Neuen Testaments überzeugend und sachgerecht mit ihren Quellen umgeht – und welche Sinndimensionen der antiken Texte unberücksichtigt bleiben und zu eigener Quellenlektüre auffordern. Die Übersetzungen sind an den Stellen, an denen es nicht anders vermerkt ist, eigenständig aus den Originaltexten angefertigt und an Übersetzungen in moderne Sprachen geprüft worden. Zentrale Begriffe sind in den Quellensprachen angeführt. Griechische und hebräische Wörter und Wendungen werden in einer Umschrift, die sich an der Aussprache orientiert, kursiv und dann in griechischen und hebräischen Schriftzeichen gedruckt. Der Text soll ohne Kenntnisse des Griechischen und Hebräischen verständlich sein, dennoch aber darauf hinweisen, dass die dargestellten Gedanken in Zusammenhängen stehen, die sich erst durch die Kenntnis der genannten Sprachen voll erschließen. Im Falle des Koptischen und
Zur Einführung
Aramäischen wird in der Regel nur die lautorientierte Umschrift in Kursivdruck verwendet. In Zitaten verweisen eckige Klammern auf Auslassungen, die der Autor vorgenommen hat. Runde Klammern hingegen zeigen an, dass er Ergänzungen zum Verständnis des Zitats hinzugefügt hat. Bei Zitaten moderner Autoren sind diese zudem durch das Kürzel „LB“ für den Autor gekennzeichnet. Alle fremdsprachigen Zitate aus der wissenschaftlichen Literatur wurden ins Deutsche übersetzt. Dadurch soll zum einen der Lesefluss erleichtert und zum anderen die grammatikalisch korrekte Einbindung von Begriffen und Wendungen in den deutschen Text ermöglicht werden. Die verwendeten Abkürzungen orientieren sich an Siegfried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG3), Berlin/Boston 3. Aufl. 2014.
Abkürzungen
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1 Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Abb. 1: Titelblatt der Antrittsvorlesung von Johann Philipp Gabler vom 30. März 1787 in Altdorf bei Nürnberg.
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
1.1 Einführung
Johann P. Gabler
Als Urdatum der Biblischen Theologie und damit auch der Theologie des Neuen Testaments gilt die Antrittsvorlesung von Johann Philipp Gabler (1753–1826) aus dem Jahr 1787. Dieser erste grundsätzliche und bahnbrechende Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von historischer Kritik und theologischer Gegenwartsbedeutung stellte bereits die Fragen, die bis heute im Zentrum der Diskussion um die Theologie des Neuen Testaments stehen.1 Die folgende Problemgeschichte der Theologie des Neuen Testaments setzt deswegen bei Gabler an und skizziert die markanten Weichenstellungen der wissenschaftlichen Diskussion bis zum Stand der internationalen Forschung der Gegenwart. 1.2 Anfänge der Theologie des Neuen Testaments
Biblische versus dogmatische Theologie
Die Vorlesung Gablers trug den Titel: „Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele“. In ihr schlug er eine wissenschaftstheoretische Trennung der biblischen von der dogmatischen Theologie vor, die damals als revolutionär und provokativ galt. Zu Gablers Zeiten wurde die Bibel im Zuge der Loci-Methode (Belegstellen-Methode) vorrangig als Fundus für Belege genutzt, die dazu dienen sollten, die konfessionell geprägten dogmatischen Ansichten und Glaubensüberzeugungen zu bestätigen Gabler forderte nun, dass die biblischen Schriften historisch zu untersuchen seien. Die biblischen Zitate sollten ihren Autoren, ihrer Entstehungszeit, ihrem Abfassungsort und ihren Adressaten zugeordnet und im Horizont ihrer Entstehung interpretiert werden. Er formulierte dieses Anliegen in der Sprache seiner Zeit mit den Worten, die Biblische Theologie solle „die Meinungen der göttlichen Männer aus den heiligen Schriften“ (36) sammeln und historisch erläutern.2 Erst wenn die historische Aufgabe gelöst sei, stelle sich eine zweite, nämlich „Menschliches“ von „Göttlichem“ zu scheiden. So werde das „Allgemeine“, „Universelle“, das zugleich das „Göttliche“ sei, freigelegt. Dieses solle dann als Grundlage für die „reine“ Biblische Theologie dienen. Gablers Überlegungen leiten den Beginn einer historischen Beschäftigung mit den theologischen Gehalten der Bibel ein. Sie 1 Dunn, New Testament Theology, 1; Merk, Biblische Theologie, 1. 2 In Kp. 1 verweisen die einfachen Zahlen in Klammern auf die Seitenzahlen in den Gesamtdarstellungen zur Theologie des Neuen Testaments, die unten 38 f. aufgelistet sind.
Anfänge
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machen aber auch deutlich, wo das Grundproblem einer solchen Biblischen Theologie bis heute liegt: Wie soll „Menschliches“ von „Göttlichem“ – wir würden heute sagen: Zeitbedingtes von bleibend Gültigem – unterschieden werden? Welche wissenschaftliche Methode findet das „Göttliche“ bzw. das bleibend Gültige? Oder zeitgemäß formuliert: Wie ist in den Schriften des Neuen Testaments das freizulegen, was die Sinn- und Existenzfragen des Menschen heute anspricht, ohne dass man sich dem Vorwurf aussetzen muss, dass dieses bleibend Gültige in die biblischen Schriften hineingelesen wurde? Gabler hat die Spannung zwischen deskriptiver historischer Forschung und konstruktiver Theologiebildung herausgearbeitet, mit der sich bis heute jede Theologie des Neuen Testaments auseinanderzusetzen hat. Er selbst hat allerdings seine bahnbrechenden programmatischen Überlegungen nicht umgesetzt und keine umfassende Biblische Theologie verfasst.
Zwei Generationen nach Gabler schlug Ferdinand Christian Baur (1792–1860) eine konsequente, aber auch einseitige Lösung der Problematik vor. Er forderte, dass man darauf verzichten solle, das Neue Testament als Grundlage und Quelle des Glaubens der Gegenwart zu verstehen. Dieses Interesse habe zur Folge, dass nur das bestätigt werde, „was wir selbst für das an sich Wahre und Vernünftige des religiösen Glaubens halten“ (13). Baur hingegen forderte eine Theologie des Neuen Testaments, die als „rein geschichtliche(n) Betrachtung, (welche) das geschichtlich Gegebene ganz als das nimmt, was es in seiner concreten Wirklichkeit ist“ (13). Er löste die von Gabler benannte Spannung zwischen Menschlichem und Göttlichem einseitig zugunsten des Menschlichen auf. Theologie des Neuen Testaments sei „reine“ Historie. Sie habe die „Lehrbegriffe“ Jesu, der Apostel und der Autoren der neutestamentlichen Schriften herauszuarbeiten und als systematischen Zusammenhang zu begreifen, der „die neutestamentliche Theologie […] als ein lebendiger Organismus“ erscheinen lasse (28). Baur war davon überzeugt, dass der Gesamtzusammenhang der neutestamentlichen Theologie umso deutlicher werde, je gründlicher man historisch arbeite. Er war zudem der Meinung, dass es einer historisch rekonstruierten Theologie des Paulus gelingen könne, „in letzter Beziehung zur absoluten Idee Gottes aufzusteigen, und seine Betrachtung in ihr als der absoluten Spitze abzuschließen“ (205). Für Baur konnte die Frage, „ob das Christenthum eine vernünftige und göttliche Religion sei […], wie sich von selbst versteht, nur bejahend beantwortet werden“ (9). Woher gewann Baur dieses
Ferdinand Christian Baur
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Krise des Christentums
Selbstbewusstsein? Neben der Anknüpfung an die Geschichtsphilosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der im reformatorischen Christentum die Vollendung der Religionsgeschichte schlechthin sah, ist auch auf das Selbstverständnis der Epoche, in der Baur wirkte, hinzuweisen. Im sogenannten langen 19. Jahrhundert zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg galt die Überlegenheit des Christentums über alle bekannten Religionen und Kulturen angesichts der Weltherrschaft der christlichen europäischen Nationen, die wir heute als Imperialismus und Kolonialismus kritisch bewerten, als unwiderlegbare Tatsache. Das Werk Baurs führt die Verbindung von Historie und Theologie weiter, die Gabler angeregt hatte, bezieht nun aber auch die dominante philosophische Konzeption seiner Zeit, die hegelsche Geschichtsphilosophie, in seine Überlegungen mit ein, die das Christentum unhinterfragt als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte verstand.
Mit Baur beginnt somit ein Verständnis der Theologie des Neuen Testaments, das neben Geschichtsforschung und Theologie auch die Philosophie berücksichtigt. Er begründet damit die Einbeziehung philosophischer Überzeugungen in die neutestamentliche Theologie – ein Sachverhalt, der für die deutschsprachige Theologie prägend geworden ist.
1.3 Bultmanns Theologie des Neuen Testaments und deren Nachwirkungen Diese so selbstverständlich scheinende Überlegenheit der christlichen Nationen wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs tief erschüttert. Wie konnte ein Gott als „absolute Idee“ bezeichnet werden, wenn sich auf ihn die Heerführer und Staatenlenker aller miteinander verfeindeter Nationen zugleich beriefen, um ihre Soldaten zum Töten zu motivieren? Die mörderischen Schlachten des Ersten Weltkriegs wurden auch als eine Niederlage des Christentums empfunden und forderten eine Neuorientierung in der Evangelischen Theologie heraus. Die genannten Erfahrungen prägten auch die wissenschaftliche Arbeit von Rudolf Bultmann (1884–1976). Er entfaltete, beeindruckt von der dialektischen Theologie Karl Barths (1886–1968) und der Fundamentalontologie Martin Heideggers (1889–1976), in seiner neutestamentlichen Exegese die Überzeugung, dass Theologie vor allem auf den modernen Menschen ausgerichtet sein müsse. Dieser
Bultmann und die Nachwirkungen
war für Bultmann dadurch charakterisiert, dass er in seinen Überzeugungen einerseits rational mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild übereinstimmte und andererseits innerhalb dieser Vorgaben sein Leben in freier Entscheidung sinnvoll gestalten wolle. Eine Theologie des Neuen Testaments habe diesen modernen Menschen und dessen Selbstverständnis herauszufordern und mit dem Selbstverständnis zu konfrontieren, das dem Neuen Testament zugrunde liege. Bultmann interpretierte dementsprechend die Verkündigung Jesu als „Forderung“ und „Ruf in die Entscheidung“ (8), ohne unmittelbar zu klären, was das Ziel dieser Entscheidung oder der Inhalt dieses Rufs sei. Vielmehr entsprächen diese in ihrer Struktur der fundamentalen Verfasstheit des Menschen an sich, der sein Leben als Vollzug oder Verfehlung der Entscheidung zum je eigenen Menschsein führe. Die Theologie des Paulus galt Bultmann „zugleich“, wenn nicht gar vorrangig, als „Anthropologie“ (187), die die Grundstrukturen wie auch die Widersprüche der menschlichen Existenz als solche offenlege. Die johanneische Theologie wiederum war für ihn das Angebot an den Menschen, sich in der Krise seiner Existenz gegen die Welt und für den Glauben zu entscheiden und so die „Entweltlichung“ als „Übergang in die eschatologische Existenz“ zu vollziehen (424). Tatsächlich gelang es Bultmann, die Diskussion um die Theologie des Neuen Testaments im 20. Jh. auf die Frage zu konzentrieren, was Jesus, Paulus und Johannes dem modernen Menschen des 20. Jh. zu sagen haben. So wie die neutestamentliche Theologie Baurs ihre Überzeugungskraft nicht aus der Exegese, sondern aus der Verbindung mit der breiten Bewegung des Hegelianismus seiner Zeit gewann, so war Bultmanns Theologie des Neuen Testaments auch deswegen so wirkungsvoll, weil sie die durch die Existenzphilosophie bestimmte Erwartung ihrer Zeit zu erfüllen wusste. Bultmann stellte wie Martin Buber (1878–1965), Karl Jaspers (1883–1969), Martin Heidegger und schließlich auch Jean-Paul Sartre (1905–1980) den Menschen und nicht philosophische Systeme oder abstrakte Begriffe in den Mittelpunkt. Die Bindung der neutestamentlichen Theologie an die philosophischen Einsichten ihrer Zeit gehört zu den Besonderheiten der protestantischen Theologie in Deutschland, die ihre Anziehungskraft ausmachte, aber auch Ablehnung provozierte. Die theologischen und philosophischen Annahmen Bultmanns wurden in der systematischen Theologie und in der Religionsphilosophie weiterverfolgt. Die neutestamentliche Forschung im engeren Sinn hingegen diskutierte vor allem die exegetisch-historischen Urteile Bultmanns. Auf geradezu einhellige Ablehnung stieß Bultmanns Entscheidung, die Verkündigung Jesu nur als Voraussetzung, nicht aber als Teil einer Theologie des Neuen Testaments
Theologie als Anthropologie
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Kerygma
zu betrachten (1). Bultmann machte mit dem historischen Diktum von Julius Wellhausen (1844–1918) ernst, dass Jesus kein Christ, sondern Jude gewesen und geblieben sei. Er stellte demgegenüber heraus, dass die Botschaft des Neuen Testaments, das „Kerygma“ (gr. für Botschaft), auf dem Glauben beruhe, der „Jesus Christus als eschatologische Heilstat […], und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen“ bekenne (1). Glaube habe ohne Kreuz und Auferstehung keine Grundlage. Somit könne die Verkündigung Jesu, die ja nach Bultmann weder den Kreuzestod noch die Auferstehung enthalten habe, nicht Teil einer Theologie des Neuen Testaments sein. Bultmann bestimmte mit dem Kerygma ein Kriterium, das ihm dazu diente, innerhalb des Neuen Testaments das theologisch Bedeutsame herauszustellen und weniger relevante religiöse Vorstellungen zu kritisieren. Er nannte dieses Vorgehen theologische Sachkritik.
Bultmann definierte zum ersten Mal konsequent eine bestimmte theologische Vorstellung, nämlich das Kerygma von Kreuz und Auferstehung Christi, als normative Mitte einer Theologie des Neuen Testaments. Aussagen innerhalb des Neuen Testaments, die von dieser Mitte abwichen, etwa die Verkündigung Jesu, bewertete er kritisch (theologische Sachkritik).
Jesus „nur“ Prophet?
Implizite Christologie?
So klar dieser Standpunkt formuliert ist, so widersprüchlich erscheint er zum einen angesichts Bultmanns eigener Interpretation der Verkündigung Jesu als Ruf in die Entscheidung und zum anderen angesichts der Darstellung Jesu als Messias in den Evangelien selbst. Auch nach Bultmann trat Jesus auf, um Gottes letzten Ruf vor dem Ende zu formulieren (8). Selbst wenn er Jesus „nur“ als den endzeitlichen Propheten Gottes versteht, reicht dies nicht als Begründung aus, um die prophetische Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus von Nazareth, seine Forderung nach einer dem Reich Gottes korrespondierenden Gerechtigkeit und den damit verbundenen Umkehrruf aus einer Theologie des Neuen Testaments auszuschließen. In der Diskussion um Bultmanns Theologie spielte allerdings die mögliche Bedeutung der unchristologischen Verkündigung Jesu für eine Theologie des Neuen Testaments kaum eine Rolle. Vielmehr wurde gegen Bultmanns Vorstellung eines unmessianischen Jesus die Theorie einer sogenannten impliziten Christologie vorgebracht. Jesus habe sich zwar nicht explizit als Christus bzw. Messias bezeichnet, aber doch Worte gesprochen und symbolische Handlungen vollzogen, die sein gehobenes Selbstbewusstsein, ja sein Selbstverständnis als Messias, notwendig voraussetzen d. h. implizieren. Diese vermeint-
Bultmann und die Nachwirkungen
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lich implizite Christologie wurde von Ernst Käsemann (1906–1998) und Günther Bornkamm (1905–1990) zu Jesusinterpretationen verdichtet, die Jesus scharf von seiner jüdischen Umwelt abgrenzten. Bis heute tendieren Jesusdarstellungen, die eine solche implizite Christologie herausarbeiten wollen, dazu, die Behauptung der Besonderheit, ja Exklusivität Jesu mit dem Nachweis zu verbinden, dass das antike Judentum auf irgendeine Weise eine defizitäre Religion gewesen sei oder sich zumindest in einer grundsätzlichen Krise befunden habe. Die Einbeziehung der Verkündigung Jesu in eine Theologie des Neuen Testaments sollte nicht mit dem Nachweis einer impliziten Christologie begründet werden, sondern vielmehr davon ausgehen, dass die im Neuen Testament enthaltene Jesusüberlieferung aussagekräftig genug ist, um Jesu Verständnis von Gott, Welt und Mensch darstellen zu können.
Neben diesem Gesichtspunkt provozierte auch Bultmanns Akzen tuierung der historischen Diskontinuität zwischen den frühchristlichen Gruppierungen und den Überzeugungen der neutestamentlichen Schriftengruppen. Für Bultmann galten die synoptischen Evangelien als mythologische Erzählungen und stellten einen Rückschritt hinter Paulus dar. Sie verdienten seiner Ansicht nach keine nähere Erörterung in einer Theologie des Neuen Testaments. Das Johannesevangelium hingegen sei auf theologisch sachlicher Ebene mit Paulus zumindest gleichwertig. Die Synoptiker, Paulus und Johannes seien aber doch voneinander weitgehend isolierte Phänomene (356). Ein systematischer Zusammenhang einer Theologie aller Schriften des Neuen Testaments existiere nicht. Bultmann stellte vielmehr eine diskontinuierliche Entwicklung der Theologie des Neuen Testaments fest, die von historischen und religionsgeschichtlichen Umständen, letztlich auch von Zufällen und kontingenten Ereignissen bestimmt sei. Viele der auf Bultmann folgenden Theologien des Neuen Testaments bemühten sich hingegen darum, die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den neutestamentlichen Schriften und den hinter ihnen stehenden Gedanken und Bekenntnissen herauszuarbeiten oder eine theologische Mitte bzw. Einheit zu definieren. Joachim Jeremias (1900–1979) wollte die Theologie des Neuen Testaments ganz und gar auf die Verkündigung Jesu gründen. Es sei möglich die Theologie aus den ureigenen Worte Jesu, „ipsissima vox Jesu“ (39), zu entfalten. Diese Worte enthielten mit dem aramäischen „Abba“ als Ausdruck der „Einzigartigkeit der Gottesanrede Jesu“ und einer intimen Vaterbeziehung zu Gott „das letzte Geheimnis der Sendung Jesu“ (73).
ipsissima vox Jesu
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Christusgeschehen
Jeremias’ Werk blieb Fragment, ebenso wie der Entwurf von Leonhard Goppelt (1911–1973), der auf eigene Weise „Jesu Wirken in seiner theologischen Bedeutung“ als Grundlage der gesamten Theologie des Neuen Testaments verstand (52 f.). Im englischen Sprachraum publizierte George Eldon Ladd (1911–1982) eine, wie er meinte, „deskriptive“ (XI) Theologie des Neuen Testaments. Er setzte sich mit diesem Werk für die Akzeptanz einer gemäßigten historischen Bibelkritik in der evangelikalen Theologie ein, kam aber regelmäßig in seinen exegetischen und historischen Entscheidungen den Erwartungen einer theologisch konservativen oder evangelikalen Leserschaft entgegen. In beständiger kritischer Auseinandersetzung mit Bultmanns Ansichten urteilte Ladd etwa, dass Jesus sich seiner Gottessohnschaft bewusst gewesen sei (185), oder sah die paulinische Verfasserschaft der Deuteropaulinen und Pastoralbriefe als erwiesen an (414). Bis heute folgen zahlreiche Werke zur neutestamentlichen Theologie im englischsprachigen Raum dieser Vorgehensweise Ladds.3 Die Theologie von Werner Georg Kümmel (1905–1995) befasst sich nur mit den „Hauptzeugen“ neutestamentlicher Theologie: Jesus, Paulus und Johannes. Sie ist im historischen Urteil zurückhaltend. Kümmel geht nur selten über die Darstellung des exegetischen Befunds hinaus, meint aber doch, dass die theologische „Mitte des Neuen Testaments“ nach Ansicht aller Hauptzeugen des Neuen Testaments im „Christusgeschehen“ liege (294 f.). Georg Strecker (1929–1994) sieht das ähnlich, formuliert aber etwas zurückhaltender, wenn er das „Christusereignis“ als „entscheidende(n) Ausgangspunkt der theologischen Konzeption der neutestamentlichen Schriftsteller“ bestimmt (8 f.). Der Grundriss von Eduard Lohse (1924–2015) gibt einen guten Überblick, verfolgt aber keine eigenständigen theologischen Anliegen. Das gilt auch für das Buch von Hans Conzelmann (1915–1989), das explizit nur ein „Leitfaden“ sein möchte (XVI). Kurt Niederwimmer (1929–2015) hat sich dafür entschieden, die Theologie des Neuen Testaments aus den Schriften bzw. Schriftengruppen zu entwickeln, in denen er theologische Reflexion „im engeren Sinn“ zu finden meint (13). Das sind für ihn: Paulus, Johannes und der Hebräerbrief, von denen er Linien in die Theologie der Alten Kirche zieht.
3 Z. B. Ian Howard Marshall, New Testament Theology. Many Witnesses, One Gospel, Downers Grove 2004; Frank J. Matera, New Testament Theology. Exploring Diversity and Unity, Louisville 2007; Thomas R. Schreiner, New Testament Theology. Magnifying God in Christ, Grand Rapids 2008.
Entwürfe nach Bultmann
Eine Theologie des Neuen Testaments hat sich mit der Frage zu befassen, ob und, wenn ja, auf welche Weise die neutestamentlichen Schriften einen Zusammenhang oder eine Einheit bilden bzw. eine Mitte haben. Gibt es gemeinsame Grundüberzeugungen oder Anliegen oder aber zumindest gemeinsame Fragestellungen, die sie trotz unterschiedlicher und divergierender Antworten als Teil eines Gesprächs oder Diskurses erscheinen lassen? Für Bultmann war das Kerygma von Kreuz und Auferstehung diese Mitte, Jeremias sah diese in der Überzeugung Jesu von der Vaterschaft Gottes („Abba“), andere Entwürfe sprechen vom „Christusgeschehen“ oder dem „Christusereignis“ als Mitte oder zumindest von der Christologie als „Ausgangspunkt“.
1.4 Theologisch eigenständige Entwürfe nach Bultmann Oscar Cullmann (1902–1999) betonte gegen Bultmann die geschichtliche und theologische Zusammengehörigkeit der neutestamentlichen Schriften. Ihmzufolge ist eine kontinuierliche Entwicklung vom Alten Testament zum Neuen Testament festzustellen, die insgesamt als Heilsgeschichte zu verstehen sei. Die Vorstellung einer Heilsgeschichte im Sinne der geschichtlichen Entfaltung des Erlösungswillens Gottes verbinde einerseits Judentum und Christentum miteinander und trenne andererseits beide Religionen von allen anderen Religionen (7). Die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte deute die historischen Ereignisse unter dem Gesichtspunkt „der Erwählung des Volkes Israel“ (82). Die neutestamentliche Heilsgeschichte knüpfe an dieser an, stelle aber heraus, dass die Erwählung Israels auf Jesus hinziele und von diesem ausgehend die Erwählung des „neuen Israel“ begründe (82). So sei das Alte Testament Heilsgeschichte, aber auch das Leben und Wirken Jesu, auf dem das neue Israel beruhe (137). Die Theologie des Paulus sei „Darstellung des göttlichen Heilsplans“ (100) und die christologische Jesuserzählung des Johannesevangeliums sei unmittelbar Heilsgeschichte in „betonter Weise“ (247). Der Glaube, den das Neue Testament fordere, sei vor allem der Akt des Eintretens in dieses geschichtliche Geschehen (101) und unterliege der Spannung zwischen schon erfüllt und noch nicht vollendet. Die Eschatologie sei das gegenüber der biblisch-jüdischen Heilsgeschichte „Neue“ im Neuen Testament (153). Die Heilsgeschichte besteht für Cullmann aus einer zusammenhängenden Ereignisfolge, die auch Umwege und damit auch „Unheilsgeschichte“ umfasse, letztlich aber auf Erlösung in Glaube, Liebe und Hoffnung ziele: „Glaube an das Christusgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart, Hoffnung auf das zukünftige Heils-
Heilsgeschichte
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geschehen, Liebe als normatives Prinzip und als Aktualisierung von Glaube und Hoffnung“ (313). Cullmann hat richtig gesehen, dass sich die neutestamentlichen Texte selbst als Teil einer Ereignisfolge verstehen, die mit der Schöpfung beginnt, die Geschichte Israels und das Leben Jesu umfasst und die ihr Ziel in der Erlösung hat. So gelingt es, den Zusammenhang von Altem Testament und Neuem Testament sowie die Bindung des frühen Christentums an die Geschichte Israels aufrechtzuerhalten.
Meistererzählung
Harmonisierung?
Die theologische Bedeutung dieses heilsgeschichtlichen Zusammen hangs kann heute mit Ergebnissen der kulturwissenschaftlichen Forschung verknüpft werden, die mit dem Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998) davon ausgeht, dass kulturelles Wissen überwiegend als „Erzählung“ und gemeinschaftliche Überzeugungen als „große Erzählungen“ (grand récit, Meistererzählung, master narrative) festgehalten sind. Die große biblische Erzählung als Meistererzählung ist nicht einfach als Ereignisfolge vorgegeben, sondern beruht auf theologischen Deutungskonstanten, die diese überhaupt erst zur Heilsgeschichte formen. An diesem Projekt, der Bildung einer neutestamentlichen Meistererzählung bzw. einer Heilsgeschichte, knüpfen zahlreiche weitere Theologien des Neuen Testaments auf unterschiedliche Weise an. Die Varianten in der Entfaltung der im Neuen Testament repräsentierten Heilsgeschichte beruhen darauf, dass die neutestamentlichen Schriften in der Darstellung der theologisch relevanten Ereignisfolge und deren Deutung als Heilsgeschichte ebenso differieren wie die Deutungen, die zeitgenössische Exegeten diesen Ereignissen zumessen. So beginnt für Matthäus die Ereignisfolge mit Abraham (Mt 1,1), für Lukas und Paulus aber bereits mit Adam (Lk 3,28; Röm 5,14), um zunächst nur ein einfaches Beispiel zu nennen. Ist es nun die Aufgabe einer heilsgeschichtlichen Theologie des Neuen Testaments, über die Divergenzen zwischen den einzelnen Schriften hinweg eine theologisch relevante Ereignisfolge von der Schöpfung bis zur Erlösung herauszuarbeiten, die davon abweichenden Ereignisfolgen als Holzwege zu entlarven und somit das Zeugnis des Neuen Testaments zu harmonisieren? Einige Exegeten favorisieren ein solches Verständnis einer Theologie des Neuen Testaments und fordern den Primat der Theologie über die Exegese. So erklärt etwa Ulrich Wilckens: „Eine solche „Harmonisierung“ ist nicht nur methodisch erlaubt, sondern eben auch theo-logisch (sic!) geboten“ (Bd. 2/1, 3). Wilckens folgt dabei den Entwürfen von Brevard S. Childs, Ferdinand Hahn, Wilhelm Thüsing und Peter Stuhlmacher, die auf je unterschied-
Entwürfe nach Bultmann
liche Weise das in sich stimmige Handeln Gottes in der Geschichte zur Grundlage der Einheit einer Theologie des Neuen Testaments machen. Hier ist auch noch Hans Hübner (1930–2013) zu nennen, der eng an Bultmanns Existenzverständnis anschließt und einen offenen Theologiebegriff, nach dem Theologie Reflexion über religiöse Überzeugungen sei, verwendet (Bd. 1, 27). Manche Exegeten gehen hingegen unmittelbar von Gott und seiner Offenbarung in der Geschichte aus. Brevard S. Childs (1923–2007) war stark beeinflusst von der Theologie Barths und dessen dialektischem Gottesverständnis. Childs meinte die eine Theologie der gesamten Bibel aus Altem und Neuem Testament, unbeschadet ihrer jeweils eigenen Zeugnisse, in der allen biblischen Texten gemeinsamen Beziehung zur „vollkommenen göttlichen Realität“ und damit zur relationalen Wirklichkeit Gottes bestimmen zu können (Bd. 1, 112 f.). Andere setzen an der in den neutestamentlichen Schriften bezeugten Geschichte an und interpretieren diese auf das Handeln Gottes hin, wie etwa Peter Stuhlmacher. Sie alle eint jedoch, dass sie von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Theologie des Neuen Testaments überzeugt sind, die sich in Verbindung mit systematisch-theologischen Überlegungen an den konfessionellen Erwartungen christlicher Gruppen oder Kirchen orientiert bzw. diese herausfordert. Wilhelm Thüsing (1921–1998) formuliert explizit, dass er vom „christlichen Glaubensverständnis“ ausgehe, um mit seiner Theologie des Neuen Testaments die Grundlage für die „gesamte Theologie“ zu legen (Bd. 3, XI). Stuhlmacher versteht das Neue Testament als „Buch der Kirche“ und fühlt sich verpflichtet, „theologische Einheitslinien“ aufzuzeigen (Bd. 1, 34). Eine Theologie des Neuen Testaments soll nach dieser Sichtweise ihr grundlegendes Verständnis von Theologie aus der systematischen Theologie oder der jeweiligen konfessionellen Tradition übernehmen. Dieses Theologieverständnis sei dann als Deutungskonstante zu allen neutestamentlichen Schriften exegetisch und historisch geschult in Beziehung setzen, um so eine biblisch begründete oder zumindest inspirierte Theologie auf dem Stand der wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung zu erarbeiten. Ein solches Vorgehen bringt zumindest zwei Schwierigkeiten mit sich: 1. Die systematische Theologie selbst ist nach Ingolf U. Dalferth „eine komplexe, multidisziplinäre Interpretationspraxis“ (202) und durch eine innere Pluralität geprägt, die zu einer Vielfalt divergierender Verständnisse von Theologie führt. Von ihr ist keine in sich geschlossene Theologie zu erwarten, sondern bestenfalls ein vielstimmiger Diskurs über Theologie. 2. Das reformatorische Schriftprinzip und damit die Bedeutung des Neuen Testaments für eine systematische Theologie werden sehr unterschiedlich beurteilt. Dalferth versteht das Evangelium im Neuen Testament als
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bibelorientierte Kulturphilosophie
Kriterium und Norm gegenwärtiger evangelischer Theologie. Er verweist aber darauf, dass das Neue Testament als solches keine überlegene Form von Theologie ist, sondern erst durch seinen Beitrag zur Kommunikation des Evangeliums theologisch relevant wird (167). Jörg Lauster erkennt nur noch einen relativen Vorrang des Neuen Testaments für die theologische Urteilsbildung gegenüber anderen Manifestationen des christlichen Glaubens an, weil es als ältestes Zeugnis des Christentums durch „Ursprungsnähe“ charakterisiert sei (195). Arnulf von Scheliha hält es schließlich angesichts der Pluralität der Schriftrezeptionen in der Gegenwart für unmöglich, an einem Schriftbezug oder gar an einem Schriftprinzip innerhalb der Theologie festzuhalten und sieht die Zeit für eine „bibelorientierte Kulturphilosophie“ gekommen (78). Die begrenzten Möglichkeiten für eine Kooperation von systematischer Theologie und neutestamentlicher Forschung führen dazu, dass manche Autoren einer Theologie des Neuen Testaments ihr eigenes Verständnis von systematischer Theologie zugrunde legen, ohne sich mit den Schriftverständnissen in der systematischen Theologie der Gegenwart auseinanderzusetzen. Ein solches Vorgehen führt in der Regel zu theologischen Argumentationen, denen es an Selbstreflexivität mangelt, und zu ethischen Positionen, die auf fragwürdige Weise etwa in der Sexualethik vermeintlich klare biblische Forderungen in die Gegenwart übertragen.
Einige der neueren Theologien des Neuen Testaments suchen die Verbindung zur systematischen Theologie, um die Ergebnisse der exegetischhistorischen Forschung am Neuen Testament theologisch angemessen zu interpretieren und die Ergebnisse für die Theologie im Ganzen zur Verfügung zu stellen. Diesem Ansinnen stehen aber die innere Pluralität der systematischen Theologie und ihr kritisches Verhältnis zum Neuen Testament sowie zum reformatorischen Schriftprinzip entgegen.
1.5 Theologie oder Religionsgeschichte und Religionstheorie? Im Gegensatz dazu stehen Überlegungen, die die Theologie des Neuen Testaments in eine Theologiegeschichte (Klaus Berger), eine Theorie der frühchristlichen Religion (Gerd Theißen) oder eine Religionsgeschichte des frühen Christentums (Dieter Zeller, Heikki Räisänen) überführen wollen. In der Darstellung der Gedanken, die in den neutestamentlichen Schriften enthalten sind, sollen nicht normative Vorstellungen, die die christlichen Konfessionen von
Religionsgeschichte und Religionstheorie?
Gott und seinem Offenbarungshandeln entwickelt haben, führend sein, sondern Überlegungen, die an wissenschaftliche Konzeptionen anknüpfen und die sich auch bei der wissenschaftlichen Analyse anderer kultureller, religionsgeschichtlicher und historischer Phänomene als sinnvoll erwiesen haben. Die Theologiegeschichte Klaus Bergers verpflichtet sich auf eine „sich als konsequent historisch verstehende(n) Hermeneutik“ (VII). Die Auswahl der Themen und die Grundlinie der Darstellung sind an der Entwicklung der ersten Gemeinden orientiert, werten die Gemeinschaft höher als die Lehre und das Bekenntnis (5) und verfolgen damit eine ekklesiologische Schwerpunktsetzung, die wiederum eher einer katholisch-konfessionellen Erwartung entgegenkommt und deswegen nicht wirklich als „konsequent historisch“ zu bezeichnen ist. Überzeugender ist der Entwurf von Dieter Zeller (1939–2014), der die Entstehung des Christentums unter religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten darstellt. Er vergleicht die entstehende christliche Religion mit anderen antiken Religionen. Dabei betont er einerseits die ursprüngliche Abgrenzung vom Judentum und beschreibt andererseits die Anpassungs- und Adaptionsprozesse an den nichtjüdischen Hellenismus. Die „fortschreitende Vergöttlichung Jesu“ komme hellenistischen Erwartungen an göttliche Wesen entgegen und sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass sich das Christentum im Hellenismus habe behaupten können (222). Einen deutlich anderen Zugang wählt Gerd Theißen. Er arbeitet eher religionstheoretisch analytisch als religionsgeschichtlich deskriptiv. Dabei knüpft er vor allem an die Ethnologie als Leitwissenschaft an und rezipiert sowohl die Methodik der „dichten Beschreibung“ als auch die Definition von Religion als Symbolsystem von Clifford Geertz (1926–2006). Seine religionstheoretischen Überlegungen sind zudem von der Systemtheorie beeinflusst, etwa wenn er das Symbolsystem des frühen Christentums und dessen Entwicklung zur systemischen Autonomie, d. h. zur Unabhängigkeit vom Judentum, beschreibt. Das Symbolsystem der ersten Christen gewinne zunehmend an Unabhängigkeit und erreiche im Johannesevangelium seinen Höhepunkt, da hier alle Kriterien für ein autonomes System erfüllt seien: Reflexivität, Selbstreferenz, Abgrenzung von der Umwelt, eine eigene Zeichenwelt und autonome Selbsterhaltung (280). Heikki Räisänen (1941–2015) entscheidet sich für einen religionswissenschaftlichen Zugang. Er bietet eine systematische Darstellung der Überzeugungen des frühen Christentums und versteht diese als „die Ausbildung von Glaubensüberzeugungen in Wechselwirkung zu den Erfahrungen von Individuen und Gemeinschaften“ (5). Räisänens Werk steht mit seiner Thematisierung von „Glaubens-
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Religionstheorie des NT
Religionswissenschaft des NT
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
überzeugungen“ einer Theologie des Neuen Testaments recht nahe. Er will sein Konzept aber dadurch von einer solchen unterschieden wissen, dass es vor allem die Vielfalt der neutestamentlichen Aussagen und deren ethische und gedankliche Widersprüche und Probleme thematisiere (6). Die Grundstruktur seiner Darstellung sieht das Christentum in den eschatologischen Erwartungen des Judentums begründet, nach denen eine „entscheidende und bedeutende Wende der Geschichte“ erwartet werde, die das Problem von Tod und Sünde löse und das Heil eröffne (79). Jesus wird diesem zentralen Vorgang der Wende und der Erlösung funktional untergeordnet. Er hat keine davon unabhängige Bedeutung, sondern ist in erster Linie aufgrund seiner Funktion als „Vermittler zwischen Gott und Menschen“ wichtig (202). Nur im Johannesevangelium, wo Jesus als übermenschliches Wesen eine eigenständige Rolle spiele, stehe er tatsächlich im Mittelpunkt der Gedankenwelt einer neutestamentlichen Schrift (217–220). Die Trennung von Judentum und Christentum beruhe auf den Spannungen, die durch die Integration der Heiden in die christlichen Gemeinschaften bewirkt worden seien. Auf dieser Basis entwickele sich das frühe Christentum zu einer eigenständigen Gemeinschaft und bilde ein zunehmend orthodoxes Glaubenssystem aus. Einige religionsgeschichtlich und religionstheoretisch orientierte Entwürfe versuchen zwar den gedanklichen Zusammenhang der neutestamentlichen Schriften zu bestimmen, verzichten aber explizit auf die Bezeichnung „Theologie des Neuen Testaments“ und lehnen sich an Geschichte, Religionsgeschichte, Religionswissenschaft oder an Konzeptionen der Kulturwissenschaften wie der Ethnologie an.
Bei diesem Stand der Diskussion wird immer wieder die Frage erörtert, welche Trennlinie zwischen einer Theologie des Neuen Testaments und einer eher un-theologischen geschichtlichen Darstellung, etwa einer Religionsgeschichte oder einer systematischen Religionswissenschaft des frühen Christentums, zu ziehen ist. Es wird als Kennzeichen einer Theologie ein „nach innen“ gerichtetes Interesse, eine „Binnenperspektive“ genannt, die sich in der Bindung des Autors an eine Religionsgemeinschaft und in der Wirkabsicht auf eine gegenwärtige Religionsgemeinschaft erweise. Diese Eigenschaften gelten manchen für eine explizit „theologische Theologie des Neuen Testaments“ als nicht hinreichend. Für eine solche wird als entscheidendes Kriterium die Orientierung an einer zentralen theologischen bzw. religiösen Überzeugung, etwa dem Gottesgedanken bzw. der Selbstmitteilung
Religionsgeschichte und Religionstheorie?
Gottes, gefordert.4 Man kann demnach Theologien des Neuen Testaments auch danach unterscheiden, ob sie einer starken und damit geschlossenen Theologiedefinition, etwa bei Childs (Existenz Gottes), oder einer schwachen und damit offenen, etwa bei Bultmann (Verhältnis von Gott, Welt und Mensch), folgen. Der von Bultmann und auch in dieser Theologie des Neuen Testaments gewählte Zugang über einen offenen Theologiebegriff unterscheidet sich von einer systematischen religionswissenschaftlichen Darstellung der „Gedankenwelt“, wie sie Räisänen vorgelegt hat, wiederum in der Hinsicht, dass er vor allem die theologischen Überzeugungen untersucht, die Praktiken und Erfahrungen der Trägergruppen hingegen weniger stark gewichtet. Sowohl eine Religionsgeschichte als auch eine Theologie des Neuen Testaments beruhen allerdings auf der genauen Kenntnis der neutestamentlichen Schriften. Da diese Schriften selbst ihre wesentlichen Aussagen mit einem Konzept von „Gott“ verbinden, können weder Religionsgeschichte noch Theologie diesen Sachverhalt umgehen. Die religionsgeschichtliche, religionstheoretische wie auch die theologische Beschäftigung mit dem Neuen Testament macht eine Auseinandersetzung mit dessen Gottesverständnis unumgänglich. Eine Theologie, die mit einem offenen Theologiebegriff arbeitet, unterscheidet sich in ihrem wesentlichen Gehalt demnach nur wenig von einer Religionsgeschichte des Neuen Testaments. Beide interessieren sich für die Entwicklung von Überzeugungen und Sichtweisen im Neuen Testament, sodass sich deren Inhalte zu einem hohen Prozentsatz überschneiden. Beide Zugangsweisen bedürfen aber auch einer Reflexion ihrer Werturteile, Deutungskonstanten und Konzeptualisierungen, mit denen sie über die Auswahl, Akzentuierung, Hervorhebung und Einordnung der Sachverhalte, über die sie berichten, entscheiden. Auch an diesem Punkt differieren religionsgeschichtliche, religionswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und theologische Zugänge nicht grundsätzlich voneinander.
Konzept von „Gott“
Eine Theologie des Neuen Testaments konzentriert sich darauf, das theologische Denken und dessen sprachliche Ausdrucksformen in den neutestamentlichen Schriften herauszuarbeiten und auf eine Weise methodisch zu analysieren, die es ermöglicht, dass sie unter den Verstehensbedingungen der Gegenwart nachvollziehbar werden.
4 Klumbies, Herkunft und Hoffnung, 142–155.
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
1.6 Theologie als „Meistererzählung“
Einheit und Vielfalt
NT als Meistererzählung
Die Vielfalt des Neuen Testaments stellt vermutlich Joachim Gnilka am deutlichsten heraus. Aus den unterschiedlichen „Glaubenserfahrungen“, die im Neuen Testament dokumentiert seien, gingen unterschiedliche Theologien hervor. Der „Auslegungsprozess“ habe daran anzuknüpfen und damalige Glaubenserfahrungen mit gegenwärtigen Glaubenserfahrungen zu konfrontieren (464). Eine solche Sicht der Vielfalt, die die verschiedenen Positionen unverbunden nebeneinander stehen lässt und keinerlei Versuche unternimmt, gedankliche und theologische Zusammenhänge herzustellen, wirkt beliebig. Deswegen verwundert es nicht, dass weiterhin nach der Einheit in der Vielfalt der Theologien des Neuen Testaments gefragt wird. Hier sind vor allem drei Autoren zu nennen, die bei den Überlegungen zur Theologie des Neuen Testaments in der Gegenwart besondere Aufmerksamkeit verdienen: Udo Schnelle, James Dunn und Nicholas Thomas Wright. Schnelle verbindet die Erwartungen, die sich an eine Theologie des Neuen Testaments richten, mit theoretischen Überlegungen, die er in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Kulturwissenschaft entwickelt hat. Für ihn repräsentieren die Schriften des Neuen Testaments Sinnsysteme, die sich durch Transformationen ausgehend von Jesus von Nazareth über Paulus, die synoptischen Evangelien, Johannes und die übrigen Schriften an die jeweiligen Abfassungsverhältnisse angepasst und doch je für sich signifikant eigene Sinnangebote gemacht haben. Schnelle urteilt wie Theißen, dass das Johannesevangelium einen Höhepunkt darstelle. Er formuliert, indem er Aussagen des Kulturwissenschaftlers Jörn Rüsen über die „Meistererzählung“ (engl. master narrative) zitiert: „Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theoriebildung dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen ‚eine Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungs- und Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten‘“ (707). Das Neue Testament als Erzählung könne durch die Betrachtung seiner Vielfalt und Kohärenz einerseits und seiner Sinnleistungen und Transformationen andererseits damals und auch heute ein in sich überzeugendes Sinnangebot sein, das vom Handeln Gottes in Jesus Christus berichte und die „Jesus-Christus-Geschichte“ nacherzähle (25–29). In der Durchführung seiner Wissenserzählung folgt Schnelle allerdings weitgehend den traditionellen theologischen Topoi in Anlehnung an die Artikel des Apostolikums, indem er für jede neutestamentliche Schrift schematisch die theologischen Positionen zu Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt (45). Die neutestamentlichen Überlieferungen werden mit wenigen Ausnahmen (Jud, 2Petr) durch
Theologie als „Meistererzählung“
diese Vorgehensweise unter Fragestellungen ausgewertet, zu denen sie zum Teil selbst gar nichts beitragen möchten, etwa wenn auch die Logienquelle auf ihre Ekklesiologie befragt wird. So entsteht eine zwar kulturwissenschaftlich gerahmte, inhaltlich aber doch geradezu dogmatisch strukturierte Theologie des Neuen Testaments. Sie gesteht die eigene Perspektivität und Standortgebundenheit ein (28), leitet daraus aber die Berechtigung zu einer entschiedenen Positionalität ab, die nur gelegentlich kritisch und selbstreflexiv in die Vielfalt der Forschungsmeinungen eingeordnet wird. Die plurale Situation der internationalen neutestamentlichen Wissenschaft der Gegenwart erfordert es aber, die eigene Position als Teil der Vielfalt von Forschungsmeinungen zu analysieren und zu reflektieren. Dunns Idee des Theologisierens („theologizing“) schlägt einen eher pragmatischen Umgang mit dem Neuen Testament vor: Eine finale Botschaft oder Mitte des Neuen Testaments gebe es zwar nicht, aber immerhin setze der Kanon des Neuen Testaments seiner inneren Vielfalt auch Grenzen (9). „Glaube“ und „Gott“ seien zentrale Themen des Neuen Testaments, sodass eine Religionsgeschichte, die diese Themen meide, keine angemessene Alternative sei. Für Dunn sind trotz der Vielfalt alle neutestamentlichen Schriften auf Jesus Christus ausgerichtet und es existiere ein „substantielles Kontinuum“ von der impliziten Christologie Jesu von Nazareth zur expliziten Christologie der neutestamentlichen Schriften (156 f.). Der Gegenwartsbezug sei durch einen Prozess des Theologisierens („Doing NT-theology“ oder „theologizing“) gegeben, der bereits im Neuen Testament stattfinde und den jeder Leser des Neuen Testaments wahrnehmen und selbst weiterführen könne (16 f.). Die Kontinuität, die Dunn betont, wird auch in den Arbeiten von Wright hervorgehoben, dort aber noch deutlicher zu einer großen Gesamtgeschichte, einer Art Meistererzählung der einen Theologie der Bibel geformt, in den Worten Wrights: Dem „einen-Plan-durch-Israelfür-die-Welt“.5 Aus der Perspektive der deutschsprachigen Theologie scheint es, dass Wright das Anliegen Cullmanns, eine Theologie des Neuen Testaments als Heilsgeschichte zu konzipieren, aufgenommen und energisch durchgeführt hat. Hinter den Schriften des Neuen Testaments steht nach Wright vor allem eine große Erzählung („story“): Die Realisierung von Gottes Plan in der Schöpfung über den Bund mit seinem Volk Israel und über das neue Volk des Messias aus Heiden und Juden bis hin zum Gericht beweise die Treue Gottes zu sich selbst und zu seiner Schöpfung. Für Wright ist die Christologie demnach ein wichtiger, aber ein dem Heilswillen Gottes und seiner Treue klar untergeordneter Aspekt der Erzählung („story“), die das Neue Testament überliefert. 5 Wright, Rechtfertigung, 181.
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Doing NT-theology
story
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
In der Konzeption Wrights wird zwar keine Mitte des Neuen Testaments definiert, aber es werden doch alle Teile einem Ganzen zugeordnet. Diskontinuitäten in der biblischen Meistererzählung gibt es keine, allerdings dramatische Spannungen, die nach der einen Lösung in der Liebe Gottes drängen. Wright nutzt damit konsequent die Stärken einer narrativen Theologie, die es vermag, Gegensätze und Konflikte zu thematisieren und diese dann auch in einer Art dramatischer Katharsis aufzulösen. Wrights These von der einen großen Geschichte Gottes geht aber über vieles hinweg, was der näheren Erörterung bedurft hätte. Detaillierte, selbstreflexive und kritische Argumentationen sind selten. Die Überzeugungskraft wird vielmehr aus einer intensiven Rhetorik mit zahlreichen suggestiven Ausdrucksformen gewonnen. Wright scheut sich auch nicht, in seinen Publikationen den Stil der neutestamentlichen Schriften zu imitieren und die eigenen Aussagen mit diesen auf eine Weise zu verschmelzen, die zu der Suggestion führt, dass durch Wright zumindest Paulus, wenn nicht gar Gott selbst spricht. Die gegenwärtigen Entwürfe zur Theologie des Neuen Testaments nutzen die Möglichkeiten, die Wissenserzählungen bieten. Diejenigen Sachverhalte, die Bultmann und anderen als unvereinbare sachliche Gegensätze erschienen, können als Teil eines dramatischen Geschehens (Wright, teilweise Dunn) oder aber als Teil einer komplexen identitätsbildenden Meistererzählung (Schnelle) sinnbildend integriert werden. Die Theologie des Neuen Testaments ist damit nicht mehr ein Unternehmen, das Göttliches von Menschlichem scheidet und das die eine unverrückbare ewige Wahrheit formuliert (Gabler). Vielmehr ist eine Theologie des Neuen Testaments das Ergebnis der Auseinandersetzung um die Frage, welche grundlegenden, gemeinschaftsbildenden und identitätsstiftenden Überzeugungen in den ältesten Texten des Christentums formuliert sind und wie sie in den gegenwärtigen Debatten des theologizing/Theologisierens (Dunn) wissenschaftlich reflektiert verwendet werden können.
1.7 Ergebnis und Ausblick
Offenbarung
Die Entwürfe zur neutestamentlichen Theologie in der Gegenwart lassen sich demnach in etwa nach drei Richtungen unterscheiden: a) „Theologische“ Theologien des Neuen Testaments wählen als Deutungskonstante der exegetischen und historischen Befunde die Korrespondenz zwischen der Selbstmitteilung Gottes (Offenbarung), den biblischen Schriften und den Erwartungen der Glaubenden der Gegenwart. Sie bewegen sich in der Spannung zwischen
Ergebnis und Ausblick
historischer Exegese und systematischer Theologie der Gegenwart (Childs, Hahn, Stuhlmacher, Wilckens). b) „Untheologische“ Theologien bzw. religionswissenschaftliche und religionsgeschichtliche Entwürfe folgen entweder vorrangig dem Paradigma ihrer Bezugswissenschaften oder knüpfen an unterschiedlichen sinnbildenden Konzeptionen der Kulturwissenschaften und der Philosophie an. Sie bewegen sich in der Spannung zwischen historischer Exegese und kulturwissenschaftlichen Leitdisziplinen wie der Ethnologie oder der Religionswissenschaft (Räisänen, Theißen, Zeller). c) „Erzählende“ Theologien des Neuen Testaments führen die theologische Tradition einer dramatischen Heilsgeschichte, die von der Schöpfung über verschiedene Krisen und Rettungen zur endgültigen Erlösung führt, weiter und konstruieren eine Meistererzählung bzw. story, die von einer dramatischen Krise in Israel oder in der Heilsgeschichte und ihrer rettenden Auflösung durch Christus berichtet. Sie orientieren sich bei ihren Rekonstruktionen an den Deutungsoptionen, die die theologische Tradition anbietet, und entnehmen den neutestamentlichen Schriften eine Ereignisfolge, die sie als theologisch relevant interpretieren und zu einer sinn- und gemeinschaftsstiftenden Erzählung formen. Sie bewegen sich damit in der Spannung zwischen historischer Exegese und kulturwissenschaftlich orientierter sowie theologisch interessierter Geschichtswissenschaft (Dunn, Wright, Schnelle). Die Zusammenstellung zeigt, dass die historische Exegese in jedem Fall als grundlegende Basis aller weiterer Überlegungen angesehen wird. Die methodisch geschulte Kenntnis und kritische Analyse der neutestamentlichen Schriften ist für eine Theologie des Neuen Testaments unverzichtbar. Sie allein kann aber nicht alle Zusammenhänge und Beziehungen wie auch Sinnpotentiale dieser Texte erfassen. Um über die Haltung des naiven Historikers oder Theologen hinauszukommen, bedarf es neben der geschulten Quellenkenntnis auch einer reflektierten Deutungskompetenz, die zum Verstehen der Anliegen der Texte und der in ihnen repräsentierten Menschen, Autoren, Gesprächspartner, Gegner, Streitenden und Widerstreitenden führt. Eine solche Deutungskompetenz setzt grundlegende Kenntnisse der antiken Religionsgeschichte und vor allem des antiken Judentums voraus. Ein großer Teil der religionsgeschichtlich relevanten Themen und Diskurse befasst sich mit dem Handeln des biblischen Gottes und der anderen Götter („Götzen“), der Beziehung zwischen Israel, den anderen Völkern („Heiden“) und dem Gott Israels und schließlich mit den Krisen, in die diese Beziehungen durch historische Ereignisse geraten. Neben
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Bezugswissenschaften
Große Erzählung
Quellenkenntnis
Deutungskompetenz
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
theologizing
offener Theologiebegriff
der historischen und der religionsgeschichtlichen Kompetenz bedarf die komplexe Gestalt der in neutestamentlicher Zeit aufgeworfenen Fragen auch einer explizit theologischen Vertiefung, die sich mit Themen wie Sünde, Heil, Erlösung, Gericht oder Handeln Gottes in einer systematisch konstruktiven Haltung auseinanderzusetzen weiß und zwar in einer Tiefe, die über die deskriptive Aufgabe hinaus auch eine theologische Sachkritik ermöglicht. Welches Verständnis von Theologie ist dieser vertieften theologischen Analyse als Deutungskonstante zugrunde zu legen? Zumindest eine solche, die zunächst im Sinne von Dunns theologizing oder Dalferths Interpretationspraxis als eine Praxis des Theologisierens zu bestimmen ist. Diese Praxis hat zwar die Kenntnis der theologischen Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments als Voraussetzung, sollte aber dennoch mit einem offenen Theologiebegriff arbeiten, der die Ergebnisse nicht im Vorhinein auf eine bestimmte Theologie festlegt. Ein solcher offener Theologiebegriff als Deutungskonstante ist demnach notwendig ein sogenannter schwacher, d. h. nur in Umrissen definierter Theologiebegriff, der die Erfassung der pluralen und divergierenden theologischen Vorstellungen in den neutestamentlichen Schriften ermöglicht. Eine der oft nicht wahrgenommenen Stärken der Theologie Bultmanns ist es, dass er ebenfalls von einem material schwachen Theologiebegriff ausgeht. Er folgt seiner neukantianischen begrifflichen Schulung und analysiert, mit welchen Begriffen die neutestamentlichen Autoren das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch erfassten und zu verstehen suchten. Auf dieser Basis kommt er zu dem Schluss, dass das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt am klarsten im Kerygma zum Ausdruck komme, das den Ruf Gottes (Gott) als Botschaft von Kreuz und Auferstehung Christi in der Forderung der eschatologischen Existenz (Mensch) und der Entweltlichung (Welt) formuliere. Dieser Theologiebegriff, der nach der Explikation des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in den neutestamentlichen Schriften fragt, liegt auch diesem Entwurf einer Theologie des Neuen Testaments zugrunde. Diese begriffliche Konstellation kann aber nicht mehr wie bei Bultmann als Deutungskonstante für eine erschöpfende Erfassung der Theologie des Neuen Testaments verstanden werden. In diesen Begriffen sind nicht, wie der Neukantianismus meinte, alle Anschauungen, d. h. historischen und empirischen Realisierungen, verdichtet bzw. erfasst, vielmehr sind auch die Begriffe aufzulösen und kulturwissenschaftlich zu erweitern. Meist wird man nicht eine im Begriff gefasste Sache, etwa Gerechtigkeit, selbst erschließen können – der Poststrukturalismus ist ohnehin der Ansicht, dass das gar nicht möglich sei – sondern auf Interpretationen, Praktiken des Umgangs
Ergebnis und Ausblick
mit dieser Sache und auf Diskurse um diese stoßen. Zudem ist die Bedeutung der Narrativität für das menschliche Wissen ernst zu nehmen. Es sind nicht nur Gedanken und Argumente, die das Verhältnis der Begriffe bestimmen, sondern eben auch dramatische Konstellationen und Erzählungen, Symbole, Metaphern und Rituale sowie amorphe Konzepte wie „Sünde“ und nur diskursiv zu beschreibende Konstellationen wie „rein und unrein“. Das Verständnis, das Schnelle und Wright von der Bedeutung der Erzählung für eine Theologie des Neuen Testaments entwickeln, entlässt ebenfalls nicht aus der Notwendigkeit der theologischen Urteilsbildung. Ein vermeintlich einfaches Nacherzählen bringt erhebliche Defizite mit sich. Das offensichtlichste besteht darin, dass sich die angebotenen Wissensgeschichten der Theologie des Neuen Testaments signifikant unterscheiden. Theologisch bedeutsamer ist allerdings die Einsicht Lyotards, auf den die Theorie der Wissenserzählung zurückgeht, dass Erzählungen nicht nur Form, sondern auch Inhalt sind, genauer gesagt, dass sie auf eine Praxis verweisen und ein Versprechen in sich tragen. Lyotard ist der Ansicht, dass die Wissenserzählung der Moderne zwei verschiedene Versprechen gemacht, aber nicht eingelöst habe: Einerseits versprach Wissen als spekulatives Wissen um seiner selbst willen philosophische Freiheit und Wahrheit, andererseits kündigte es auch an, zu politischer Freiheit im Sinne von Gerechtigkeit zu führen. Nach Lyotard hat die moderne Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft keines dieser Versprechen, Freiheit oder Gerechtigkeit, eingelöst bzw. diese konkurrierten unversöhnlich miteinander. Welches Versprechen formuliert eine Theologie des Neuen Testaments als Wissenserzählung? Freiheit? Wahrheit? Gerechtigkeit? Sie sollte zumindestens eine signifikante Annäherung an alle drei genannten Zusagen erreichen und diese in Beziehung zu den Eigenschaften, mit denen sich der biblische Gott selbst vorstellt, interpretieren (Ex 34,6): „Der Herr ist ein barmherziger und liebevoller Gott, langsam im Zorn, voll Gnade und Treue.“
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Wissenserzählung
Eigenschaften Gottes
Die vorliegenden Theologien des Neuen Testaments verfolgen unterschiedliche Konzeptionen, die sich nach den gewählten interpretativen Ansätzen und Deutungskonstanten in drei Gruppen einteilen lassen: a) „theologische“ Theologien orientieren sich an einer als normativ verstandenen systematischen Theologie, b) „untheologische“ Theologien folgen Paradigmen aus der Religionsgeschichte und Religionstheorie, c) „erzählende“ Theologien bilden biblisch-theozentrische (Wright) oder neutestamentlich-christologische (Schnelle) Wissenserzählungen, die als „Meistererzählungen“ orientierende Funktionen für das Selbstverständnis von Theologie und Kirche der Gegenwart beanspruchen.
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Gesamtdarstellungen einer Theologie des Neuen Testaments6 1787: Gabler, Johann Philipp: De iusto discrimine biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus (Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele), in: Otto Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972 (MThSt 9). 1864: Baur, Ferdinand Christian: Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. v. Ferdinand Friedrich Baur, Leipzig 1864. 1953: Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1980. 1965: Cullmann, Oscar: Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965. 1967: Conzelmann, Hans: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41987. 1969: Kümmel, Werner Georg: Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Jesus, Paulus, Johannes, Göttingen 51987. 1971: Jeremias, Joachim: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 41979. 1974: Ladd, George Eldon: A Theology of the New Testament, Cambridge 1994. 1974: Lohse, Eduard: Grundriß der neutestamentlichen Theologie, Stuttgart 51998. 1976: Goppelt, Leonhard: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 31991. 1981: Thüsing, Wilhelm: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments, 3 Bd., Münster 1981–1999. 1993: Childs, Brevard S.: Die Theologie der einen Bibel, 2 Bd., Freiburg 1994 u. 1996 [engl. O.: Biblical Theology of the Old and New Testaments, 1993]. 1994: Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 21995.
6 Die Aufstellung ist chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der ersten Auflage geordnet. Die weiteren Angaben nennen die im vorliegenden Werk benutzte und zitierte Ausgabe.
Literatur
1994: Gnilka, Joachim: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i B. 1994. 1995: Hübner, Hans: Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bd., Göttingen 1990–1995. 1996: Strecker, Georg: Theologie des Neuen Testaments, Berlin/New York 1996. 1999: Stuhlmacher, Peter: Biblische Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Göttingen 32005 u. 1999. 2000: Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 32003. 2002: Hahn, Ferdinand: Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Tübingen 22005. 2002: Wilckens, Ulrich: Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Neukirchen-Vluyn 2002–2009. 2002: Zeller, Dieter: Die Entstehung des Christentums, Konsolidierung in der 2./3. Generation, in: ders. (Hg.): Christentum I. Von den Anfängen bis zur konstantinischen Wende, Stuttgart 2002, 15–222. 2003: Niederwimmer, Kurt: Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriss, Wien 32004. 2007: Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 22014. 2009: Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009. 2010: Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010. 2011–2014: Wright, Nicholas Thomas: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott, 3 Bd., Marburg 2011–2014; Bd. 4 für 2017 angekündigt [engl. O.: Christian Origins and the Question of God, 4 Bd., 1992–2013]. Literatur Bayer, Oswald/Ringleben, Joachim/Slenzka, Notger: Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche, Neuendettelsau 2000. Bormann, Lukas: Kulturwissenschaft und Exegese. Gegenwärtige Geschichtsdiskurse und die biblische Geschichtskonzeption, in: EvTh 69 (2009), 166–185. Breytenbach, Cilliers/Frey, Jörg (Hg.): Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2007 (WUNT 205). Dalferth, Ingolf Ulrich: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004.
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Was ist „Theologie des Neuen Testaments“?
Deuser, Hermann/Korsch, Dietrich (Hg.): Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004. Eskola, Timo: A Narrative Theology of the New Testament. Exploring the Metanarrative of Exile and Restoration, Tübingen 2015 (WUNT 350). Evangelische Theologie, Themenheft Neutestamentliche Theologie 64 (2004). Klumbies, Paul-Gerhard: Herkunft und Hoffnung der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2014. Lauster, Jörg: Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Tübingen 2014 (TdT 8), 179–206. Merk, Otto: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972 (MThSt 9). Morgan, Robert: New Testament Theology and/or Theological Interpretation of Scripture, in: Jochen Flebbe/Matthias Konradt (Hg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2016, 481–510. Penner, Todd/Vander Stichele, Caroline (Hg.): Moving beyond New Testament Theology? Essays in Conversation with Heikki Räisänen, Göttingen 2006. Petzoldt, Matthias (Hg.): Autorität der Schrift und Lehrvollmacht der Kirche, Leipzig, 2003. Räisänen, Heikki: Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, Stuttgart 2000. Scheliha, Arnulf von: Dogmatik, ‚Ihre Zeit in Gedanken gefaßt‘? Die dogmatische Aufgabe zwischen historischer Kritik und christologischer Gegenwartsdeutung, in: Hermann Deuser/Dietrich Korsch (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, 60–84. Sparn, Walter: Art. Schriftprinzip, in: LThK 9 (2000), 266–268. Wright, Nicholas T., Rechtfertigung. Gottes Plan und die Sicht des Paulus, Münster 2015 (StOeFr 63).
2 Antikes Judentum
Abb. 2: Die religiöse Topographie Palästinas um 66 v. Chr.
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Antikes Judentum
2.1 Einführung
jüdisches Siedlungsgebiet
Galiläa und Judäa
Diasporajudentum
Die oben abgebildete Karte stellt für die Zeit vor dem ersten jüdischrömischen Krieg 66–70 v. Chr. den geographischen Raum dar, auf den sich die Evangelienüberlieferung und große Teile der Apostelgeschichte beziehen. Sie unterteilt nach dem Kriterium der ethnischreligiösen Zugehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit in jüdische, pagane und samaritanische Siedlungsgebiete. Die als überwiegend jüdisches Siedlungsgebiet bezeichneten Regionen umfassen Galiläa, westlich vom See Genezareth mit der Metropole Sepphoris, und Judäa mit Teilen Transjordaniens, also den Jordangraben und das östliche und westliche Bergland mit Jerusalem als Zentrum. Die Karte macht deutlich, dass im Gebiet, das auch die jüdischen Autoren Flavius Josephus (ca. 37–100 n. Chr.) und Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.– 40 n. Chr.) Palästina (gr. Palaistine; Παλαιστίνη) nennen, neben der jüdischen Bevölkerung auch eine teilweise hellenisierte nichtjüdische Bevölkerung anzutreffen war, die insbesondere im Küstenstreifen zum Mittelmeer mit dem Sitz des römischen Präfekten in Caesarea und im Gebiet der zehn Städte (Dekapolis) mit Skythopolis und Gerasa südlich und südöstlich des Sees Genezareth lebte. Diese pagane Bevölkerung war in sich recht heterogen, teilte aber die kulturellen und religiösen Ansichten der hellenistisch-römischen Welt, d. h. stand einem religiösen und kulturellen Synkretismus weitgehend aufgeschlossen gegenüber. Zudem lag zwischen den jüdischen Siedlungsgebieten Galiläa und Judäa das Gebiet der Samaritaner. Dabei handelt es sich um eine bis in die Gegenwart existierende religiös-ethnische Gruppierung, die sich zwar auf die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, beruft, sich aber etwa im 2. Jh. v. Chr. von dem nach Jerusalem orientierten Judentum abgespalten hat und den Berg Garizim als wichtigsten heiligen Ort betrachtet. Das Leben in Palästina dieser Zeit eröffnete demnach zahlreiche Erfahrungen mit anderen Kulturen, Religionen und Sprachen. Der Umgang mit diesen Erfahrungen reichte von Prozessen der Integration bis zu bewusster Abgrenzung. Alle Bevölkerungsgruppen setzten sich mit den Folgen dieser religiös-ethnischen Vielfalt auseinander und entwickelten Verhaltensweisen für kulturellen Austausch, Handel, Feiertagspraxis, Nahrungstabus, Wissenstransfer, exogame Ehen und religiös-ethnische Konversionen. Die Juden, die außerhalb Palästinas lebten, das Diasporajudentum, führten diese Auseinandersetzungen mit der Vielfalt der Denk- und Lebensweisen in ihrer Umwelt besonders intensiv, da sie sich einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber sahen und somit beständig anderen kulturellen und religiösen Prägungen begegneten.
Einführung
Die Religion des Judentums fungierte als Orientierungssystem der jüdischen Bevölkerung in Judäa und Galiläa, aber auch in der Diaspora. Sie bewertete oder interpretierte historische Ereignisse als Erfüllung des Willens Gottes oder als Folge menschlicher Sünde, als toragemäß oder torawidrig und damit auch als ethisch gut oder verwerflich. Das antike Judentum war aber durch Vielfalt, Diversität und Kontroversen geprägt. Selbst in Grundfragen wie jenen nach dem Tempel, der Tora, der Ethik und der Schriftauslegung war der Konsens der Mehrheit immer auch durch abweichende Meinungen von Sondergruppen herausgefordert. Die normative Sichtweise der sprachmächtigen Eliten (z. B. Priester und Schriftgelehrte) unterschied sich nicht selten von der sozialen Praxis der Mehrheit einfacher Menschen. Für eine Theologie des Neuen Testaments ist es demnach von besonderer Bedeutung, diese Vielfalt zu berücksichtigen und ein einseitiges Bild des antiken Judentums zu vermeiden. Dabei ist auch zu beachten, dass über Jahrhunderte christliche Theologen das Bild vom Judentum bestimmten und jüdischen Selbstdarstellungen kein Gewicht beimaßen. Gerade die Darstellungen des antiken Judentums in den Theologien des Neuen Testaments haben eine breite Wirkung auf die Wahrnehmung des Judentums entfaltet. Aus der Perspektive christlicher Theologie erschien das Judentum positiv als Vorbereitung des Evangeliums (lat. praeparatio evangelii) und negativ als eine defizitäre Entität, die in sich einen inneren Widerspruch, ein Problem, eine dramatische Spannung trug, die nach einer Lösung drängte, die dann durch Jesus gebracht worden sei. Das Judentum wurde überwiegend in dieser Ambivalenz zwischen positiver Vorbereitung oder Wurzel des Christentums einerseits und problembeladener oder defizitärer Ursache der Hervorbringung des Christentums andererseits behandelt. Dieses auf Basis der neutestamentlichen Texte konstruierte Bild des antiken Judentums bestimmt teilweise bis heute die Wahrnehmung des Judentums und ist immer wieder kritisch zu reflektieren. Die geschilderte Ambivalenz wurde durch die neutestamentliche Wissenschaft zudem als historische Tatsache und nicht als theologisches Urteil dargestellt und bot sich dadurch geradezu für antijüdische und auch antisemitische Inanspruchnahmen außerhalb der Theologie an. Der moderne Antisemitismus zeichnet sich durch eine hohe Adaptionsfähigkeit und Flexibilität in der Konstruktion judenfeindlicher Anschauungen, Vorurteile und Stereotype aus.1 Er integrierte von Anfang an christlich geprägte antijüdische Sichtweisen in seine Polemik. Neben dieser Rezeptionsgeschichte von Judentumsbildern der christlichen Theologie ist auch zu berücksichtigen, dass 1 Benz, Handbuch des Antisemitismus 3, 20.
Vielfalt des Judentums
Konstruiertes Judentum
normative Sichtweisen
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Antikes Judentum
historische Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums von Kontroversen um normative Sichtweisen des gegenwärtigen Judentums und des Staates Israel beeinflusst sind. Aussagen zur Bedeutung des Landes Israel oder des Tempelareals in Jerusalem sind oftmals durch heutige Konflikte zwischen der dort lebenden jüdischen, muslimischen und christlichen Bevölkerung beeinflusst. Die in den neutestamentlichen Texten berichteten Geschehnisse, wie etwa das Wirken Jesu von Nazareth in Galiläa und Judäa oder die Missionstätigkeit des Paulus im östlichen Mittelmeerraum, ereignen sich in einem Handlungsraum, der durch die sozialen, religiösen und politischen Vorstellungen des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit bestimmt ist.
2.2 Bezeichnung
Judentum des Zweiten Tempels
Der Begriff „antikes Judentum“ bezeichnet die ethnisch-religiöse Gemeinschaft der Juden in hellenistisch-römischer Zeit, d. h. von den Eroberungen Alexanders des Großen, der im Jahr 332 v. Chr. Jerusalem erreichte, bis zur islamischen Expansion, in deren Zuge Jerusalem im Jahr 637 n. Chr. dauerhaft in sarazenisch-islamische Herrschaft gelangte. Als alternative Epochenbezeichnung wird auch vom „Judentum des Zweiten Tempels“ gesprochen. Damit wird die Zeit zwischen 539 v. Chr. und 70 n. Chr. bezeichnet. Im Jahr 539 v. Chr. übernahm der Perserkönig Kyros im Zweistromland die Macht. Er erlaubte den nach Babylonien deportierten Israeliten/Judäern die Rückkehr nach Jerusalem und ermöglichte ihnen den Bau des „zweiten“ Tempels, des Tempels von Esra und Nehemia. Die wechselvolle Geschichte des zweiten Tempels endet im Jahr 70 n. Chr. In diesem Jahr wurde dieser Tempel im Verlauf von militärischen Auseinandersetzungen zwischen den römischen Truppen unter Titus und den in sich zerstrittenen judäischen Verteidigern zerstört. An diese Epoche schließt sich dann die Zeit des rabbinischen Judentums an. Die Rabbinen repräsentieren eine Form des Judentums, die nach dem Wegfall des Tempels die Diskurse um die religiös-ethnische Verfassung, die Tora bzw. das Gesetz, in das Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses rückte.2 Die quellensprachliche Bezeichnung gr. Ioudaios ( Ἰουδαῖος) für „Jude“ hat eine starke ethnisch-geographische Komponente und bezeichnet Personen, die sich nach Herkunft, Lebensweise, Kult, 2 Wick, Antikes Judentum, 7–10.
Bezeichnung
Rechts- und Gemeinschaftsvorstellungen auf die Bevölkerung der Landschaft Judäa zurückführen.3 Aus diesem Grund wird für eine deutsche Übersetzung alternativ zu Jude/Jüdin, eine Bezeichnung, die die religiöse Komponente und damit die selbstgewählte Lebensweise hervorhebt, auch von Judäer/Judäerin gesprochen. Der letztgenannte Begriff will verdeutlichen, dass die Juden als Judäer unter ethnischen und politischen Gesichtspunkten ein Volk sind wie Ägypter, Griechen und Römer, während die Bezeichnung „Jude“ die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft hervorhebt und damit die Vorstellung von einer selbstgewählten Lebensweise in den Mittelpunkt stellt. In der Forschung ist die Frage umstritten, inwiefern und ab wann mit „Jude“ eine selbstgewählte Lebensweise bezeichnet wird. Cohen sieht ein solches Auseinandertreten der ethnischen und der religiösen Komponenten in Folge der Makkabäeraufstände nach 167 v. Chr.4 Ab diesem Zeitpunkt ist man nicht mehr einfach nur Jude aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, sondern aufgrund der Wahl einer Lebensweise, die sich am religiös-ethnischen Gesetz, das auch als väterliche Überlieferungen (gr. patrioi nomoi; πατρίοι νόμοι) bezeichnet wird, orientiert. Mit diesem Zurücktreten der ethnischen Komponente setzt zudem eine Diversifizierung des Judentums ein. In dieser Zeit kommt der Begriff Ioudaismos auf (gr. Ἰουδαϊσμός). Im zweiten Makkabäerbuch wird von der Selbstbehauptung einer später dominanten Gruppe von Judäern, den Makkabäern, berichtet, die mit Ioudaismos das selbst gewählte aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bis hin zum Aufstand oder zum Martyrium bezeichneten: 2Makk 2,21: (Bericht über …) die Erscheinungen, die vom Himmel her zugunsten derjenigen geschahen, die tapfer und ehrbar für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) eintraten, damit sie, obwohl sie nur wenige waren, in die Lage versetzt würden, das ganze Land zur Beute zu machen und die Menge der Barbaren (Nichtjuden) zu verfolgen. 2Makk 8,1: Judas aber, der auch Makkabäer (hieß), und diejenigen, die mit ihm verborgen in die Dörfer eingedrungen waren, riefen ihre Verwandten und, nachdem sie diejenigen, die auf das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) bedacht waren, hinzugenommen hatten, brachten bis zu 6000 (Männer) zusammen. 2Makk 14,37 f.: Razis aber, einer der Jerusalemer Ältesten […] auch „Vater der Juden“ genannt, wurde bei Nikanor (ein Vertrauter des seleu3 Mason, Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism, 484–489. 4 Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 160 f.
Jude/Judäer
Ioudaismos
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Antikes Judentum
kidischen und damit nichtjüdischen Königs Antiochos IV.) angezeigt, denn er war in den vorherigen Zeiten der Verfolgung wegen des Anliegens des Judentums (Ioudaismos) vor Gericht gezogen worden, und hatte Leib und Seele für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) mit voller Entschiedenheit eingesetzt.
Paulus als Jude
Ioudaismos, hier mit „Anliegen des Judentums“ übersetzt, bezeichnet das bewusste und aktive Eintreten für ein bestimmtes Verständnis von Judentum, das sich von den Lebensweisen, die sich an der hellenistischen Weltkultur orientieren, abgrenzt. In Auseinandersetzung mit Kultur, Recht und Religion des Hellenismus und vor allem mit einem hellenisierenden Judentum betont der Ioudaismos die Ausdrucksformen des Judentums, die die unverwechselbaren Besonderheiten hervorheben und die als Festhalten an den väterlichen Überlieferungen, der Tora, verstanden werden.5 Das sind vornehmlich Beschneidung, Sabbatgebot, Speisegesetze, Ehegesetze und Monolatrie. Diese bewusste Form der aktiven Lebensgestaltung des Judentums als Ioudaismos in Abgrenzung von anderen Lebensformen erwähnt auch Paulus, um seine Lebensführung vor seiner Berufung zum Apostel der (nichtjüdischen) Völker zu beschreiben: Gal 1,13 f.: Ihr habt von meiner Lebensführung einst gemäß des Anliegens des Judentums (Ioudaismos) gehört, wie ich im Übermaß die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu vernichten suchte, (14) und (wie ich) in der Wahrnehmung dieses Anliegens des Judentums (Ioudaismos) viele Altersgenossen in meiner Generation übertraf – ich war in hervorragender Weise ein Eiferer für die väterlichen Überlieferungen.
Es bilden sich somit etwa ab dem 2. Jh. v. Chr. innerhalb des antiken Judentums verschiedene Praktiken, dem jüdischen Gesetz zu folgen, aus. Damit ist die Entstehung von Gruppierungen wie den Pharisäern, Sadduzäern oder Essenern verbunden, die sich durch je eigene Interpretationen und Handhabungen des jüdischen Gesetzes voneinander unterscheiden, sich aber zugleich als Teil des Judentums verstehen. Der Jerusalemer Tempel bleibt bis zu seiner Zerstörung ein wichtiges, vergleichsweise niederschwelliges Bindeglied für diese verschiedenen Gruppierungen. Unter diesen gibt es allerdings auch einige, die sich vom Jerusalemer Tempelkult abwenden, wie etwa die Samaritaner und
5 Niebuhr, Heidenapostel aus Israel, 21–24.
Gott
die „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; )יחד, die für die Gruppe der gemeinschaftsbezogenen Qumrantexte verantwortlich ist.6 Das Wort Ioudaios wird in der Antike von Nichtjuden als Fremdbezeichnung mit Betonung der ethnischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk verwendet. Als Selbstbezeichnung der Juden dient es vor allem zur Unterscheidung von anderen Völkern, wobei sowohl die religiöse wie die ethnische Komponente im Blick sind. Diese Funktionen erfüllt auch der Begriff „Hebräer“ (gr. Hebraios; Ἑβραῖος). Als Selbstbezeichnung eigener Art mit einer starken religiösen Komponente wird auch der Begriff „Israel“ verwendet. Mit „Israel“ bezeichnet das antike Judentum sich selbst als die unverwechselbare besondere Gemeinschaft im Gegenüber zu dem einen Gott, der als Namen das Tetragramm, JHWH, trägt. Diese Selbstbezeichnung spiegelt eher eine Binnenperspektive wider und enthält neben der religiösen auch eine normative Komponente.
Jude, Hebräer
Israel
Das Judentum der Antike reflektiert sich selbst als eine religiös-ethnische Gruppierung, die immer wieder zur Selbstbehauptung gegenüber ihrer Umwelt herausgefordert ist. Diese Situation bringt auch innere Konkurrenzen, um die Frage hervor, wie sich das Judentum selbst versteht und in welchen Praktiken und Überzeugungen es am besten repräsentiert ist. Die variierenden und schillernden Selbst- und Fremdbezeichnungen wie Jude, Hebräer und Israelit spiegeln diese Situation ebenso wider, wie der Begriff Ioudaismos, der das aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bezeichnet.
2.3 Gott In der Antike ist die Vorstellung, dass Götter existieren und das Geschick der Menschen beeinflussen können, weit verbreitet. In Homers Ilias, dem eminenten Grundtext antiker Bildung, greifen die Götter unmittelbar in das weltliche Geschehen ein und beteiligen sich auf beiden Seiten an den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Trojanern und Griechen. Atheismus im Sinne der kognitiven Überzeugung, dass keine Götter existierten, ist außerordentlich selten und setzt im Grunde die spezifischen Bedingungen der europäischen Geistesentwicklung ab dem 16. Jh. voraus. Unter gr. a-theos (ἄθεος), „gottlos“, oder a-sebes (ἀσεβής), 6 Die Umschrift des hebräischen Jods mit „y“ bei yahad für יחדund nicht mit „j“ wie etwa im Tetragramm JHWH folgt dem angelsäschsischen Sprachgebrauch, der sich für diesen Begriff auch in der deutschsprachigen Fachliteratur eingebürgert hat.
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Antikes Judentum
fromm und gerecht
Götzen
Götterverehrung
„unfromm“, versteht man in der Antike vielmehr jemanden, der sich der öffentlichen und gemeinschaftlichen kultischen Religionsausübung verweigert und deswegen als religiöser Frevler und zugleich als moralisch Asozialer gilt. Philo von Alexandrien erläutert das Wort atheos aus jüdischer Perspektive mit einem polemischen Akzent, indem er festhält, dass derjenige, der keine Götter verehrt, und derjenige, der viele Götter verehrt, in gleicher Weise in die Irre gehen (migr. Abr. 69). In den Psalmen ist der „Gottlose“ oder „Frevler“ ein Mensch, der die göttlichen Gebote missachtet und damit zum Ausdruck bringt, dass er keine Strafe durch Gott fürchtet. Ein solcher Mensch ist verloren, vergänglich, „wie Spreu, die der Wind verweht“ (Ps 1,4). Ihm gegenüber steht der „Fromme“ (gr. hosios; ὅσιος, z. B. Ps 4,4), der in seiner Verehrung Gottes auch die Befolgung des göttlichen Gesetzes miteinbezieht und somit auch ein „Gerechter“ (gr. dikaios; δίκαιος, z. B. Ps 1,6) ist. Diese Verschränkung des Gerechten mit dem Frommen, die die griechische Übersetzung der Bibel, die Septuaginta (lat. für siebzig), vertritt, entspricht dem griechisch-hellenistischen Tugendideal, nach dem der Mensch „fromm“ gegenüber Gott und den Göttern sein soll und zugleich „gerecht“ gegenüber seinen Mitmenschen. Bereits Platon (428–348 v. Chr.) spricht vom Ideal einer „frommen und gerechten“ Lebensführung.7 Das antike Judentum folgt diesen allgemeinen religiösen und moralischen Überzeugungen, zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass es explizit monolatrisch und monotheistisch ausgerichtet ist. Seit der Zeit des Exils hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass der Gott Israels nicht einer von vielen, sondern der eine und einzige Schöpfer und damit der eine und der einzige wahrhaft existierende Gott ist. Die Ablehnung der Verehrung anderer Götter verschärft sich zu einer grundsätzlichen Kritik dieser Götter als Götzen. Sie gelten als nichtig und die Nähe zu ihnen als Bruch des Gesetzes der Juden, d. h. ihrer väterlichen Überlieferungen. Die Schärfe, mit der andere Götter abgelehnt werden, ist innerhalb des Judentums unterschiedlich ausgeprägt. Flavius Josephus etwa legt den Dekalog für seine am Judentum interessierten griechischen Leser (Ant. 1,5) so aus, dass den Juden die Verehrung anderer Götter und die Verehrung von Bildnissen zwar untersagt sei, die Kulte anderer Völker aber nicht per se abzulehnen seien (Ant. 3,91). Auch Philo folgt dieser Linie, die dem nichtjüdischen Verständnis der Götter entgegenkommt, indem er bestimmte Ansichten positiv würdigt. Er unterscheidet zwischen den Nichtjuden, die einen Gott als den höchsten anerkennen, und solchen, die entweder viele Götter verehren oder gar Götterbildnisse tatsächlich für Götter halten. Schließlich nennt er als unterste und besonders verachtenswerte Stufe 7 Plato Gorg. 523b: δικαίως καὶ ὁσίως.
Gott
diejenigen, die Lebewesen, d. h. Tiere, als Götter verehren. Er öffnet sich zudem der hellenistischen Weltsicht dadurch, dass er die Verehrung eines einzigen Gottes als des höchsten und die Ablehnung der Vielgötterei als Folge vernünftiger Einsicht versteht, die auch Nichtjuden zugänglich sei (Philo Decal. 65). Neben diesen eher versöhnlich-apologetischen Aussagen, die auf eine allzu scharfe Kritik nichtjüdischer Kulte verzichten und sich der Argumente antiker Religionsphilosophie bedienen, gibt es auch eine Traditionslinie im Judentum, die eine deutlich aggressivere Position vertritt. Von Deuterojesaja über die Weisheit Salomos bis zur Apokalypse Abrahams und zu Paulus wird das Bekenntnis zum Monotheismus mit der Abwertung der anderen Götter als Götzen und sogar mit der Strafforderung gegen Nichtjuden verbunden. In Jes 44, dem Grundlagentext für den Spott über heidnische Religionspraktiken, wird der Irrsinn derjenigen, die sich aus Holz Götter machen, dargestellt. Die Weisheit Salomos, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in das 1. Jh. v. Chr. zu datieren ist, steigert diesen Spott noch durch feinsinnige Ergänzungen, etwa indem das Holz, aus dem die Götter gefertigt werden, nun als Abfallholz bezeichnet wird. Die im 1. Jh. n. Chr. entstandene Apokalypse Abrahams greift das Motiv der Abwendung Abrahams von seinem heidnischen Vater auf, der noch dazu als Götzenbildner dargestellt wird. Abraham verlässt das Vaterhaus, das in diesem Moment vor seinen Augen von Gott vernichtet wird (ApcAbr 8,5). Jes 44,14 f.17 (Übers. Westermann): Er geht hinaus, sich Zedern zu fällen, nimmt eine Steineiche oder eine Eiche, er wählt sich unter den Bäumen des Waldes. Er pflanzt eine Fichte, der Regen lässt sie wachsen, (15) dass sie den Leuten zum Feuer diene, und er nimmt davon und wärmt sich. Teils zündet er’s an und backt Brot, teils macht er einen Gott und fällt nieder und bückt sich davor. […] (17) Und den Rest davon macht er zum Gott, zu seinen Götzen und kniet davor, wirft sich nieder und betet zu ihm, sagt: Rette mich, denn du bist mein Gott! Weish 13,13 f.18 (Übers. Georgi): Ein Stück Abfall, das dann zu gar nichts mehr nütze ist, ein knorriges Holz mit Astlöchern durchsetzt, das nimmt er und schnitzt es in der Muße seiner Freizeit, formt daran während des Feierabends und gleicht es dem menschlichen Bilde an (14) oder er macht es einem armseligen Tier ähnlich […] (18) Um Leben bittet er das tote Ding.
Auch der Apostel Paulus steht in dieser Tradition der scharfen Kritik an der heidnischen Götterverehrung. Diejenigen, die statt Gott selbstgemachte Götzen verehren, sind ihmzufolge zum Tode verurteilt:
Götzenkritik
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Antikes Judentum
Röm 1,20.22 f.32: Das unsichtbare Wesen (Gottes) […] ist ja seit der Erschaffung der Welt, wenn man es in seinen Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie (die Menschen) keine Entschuldigung haben. […] (22) Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren (23) und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Gestalt des Abbildes von vergänglichen Menschen und Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren. (24) Darum hat Gott sie dahingegeben. […]. (32) Sie kennen den Richtspruch Gottes, dass nämlich diejenigen, die derartiges tun, des Todes würdig sind.
Eifer
Bund
Eigenschaften Gottes
Der Gott Israels ist demnach mit exkludierenden Eigenschaften ausgestattet, die als „Eifer“ (gr. zelos; ζῆλος; hebr. qinah; )קנאהdieses Gottes und als Eifer der Seinen für diesen Gott und sein Gesetz bezeichnet werden. Die jeweiligen Ausprägungen des „Eifers“ können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zunächst richtet sich der Eifer nach innen gegen Juden, denen der Abfall von den väterlichen Gesetzen vorgeworfen wird, dann gegen Nichtjuden, die Juden zum Abfall verleiten oder die im Land Israel Götzendienst betreiben, und schließlich gegen alle nichtjüdischen Symbole wie z. B. Legionszeichen der Römer, wenn sie in die heilige Stadt Jerusalem, womöglich gar während eines Festtages, gebracht werden sollen.8 Die Exklusivität der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott gilt als Gabe und Verpflichtung, als Bund (gr. diatheke; διαθήκη). Der Bund beruht auf der Entscheidung Gottes, Israel als sein Volk zu erwählen. Bund und Erwählung bilden die Klammer, aus der die Verpflichtung zur Einhaltung des Gesetzes Gottes erwächst. Sie gelten als Gabe eines Gottes, der seinem Volk Israel gegenüber gerecht und barmherzig ist. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk vollzieht sich in dieser Spannung: Der gerechte Gott, der durch sein Schöpferhandeln und durch die Erwählung dieses Volkes einen berechtigten Anspruch auf Gehorsam hat, verfolgt die Verfehlungen gegen seinen Rechtsanspruch mit als gerecht angesehener Strafe. Wenn die Verfehlungen allerdings ein solches Ausmaß annehmen, dass die Vernichtung seines Volkes die gerechte Folge wäre, tritt die Barmherzigkeit im Sinne der Strafverschonung an die Stelle der Gerechtigkeit. Israel bekennt sich daher zu seinem Gott und zu dessen Willen zur Strafverschonung, indem es in Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö. auf seine herausragenden Eigenschaften verweist.9 Die sogenannte „Gnadenformel“ fasst diese Eigenschaften
8 Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme, 332 f. 9 Bormann, Diversity by Rewriting, 105–113.
Gott
Gottes im Sinne einer „Wesensdefinition“ zusammen10: Gott ist barmherzig (hebr. rachum; רחום – gr. oiktirmon; οἰκτίρμων), liebevoll (hebr. chanun; חנון – gr. eleemon; ἐλεήμων), langsam im Zorn (hebr. äräch aphim; ארך אפים, – gr. makrothymos; μακρόθυμος), voll Gnade (hebr. rav chäsäd; חסד-רב – gr. polyeleos; πολυέλεος) und treu bzw. wahrhaftig (hebr. ämät; אמת – gr. alethinos; ἀληθινός).11 Dieser barmherzige Gott wird sein Volk um seiner Zusagen willen verschonen, vor seinen Feinden retten, aus Unheil und Unglück erlösen und von Fremdherrschaft befreien. Dieser Gott, der sich durch diese Eigenschaften an sein Volk Israel gebunden weiß, hat einen Namen: das Tetragramm JHWH. Dieser Name ist heilig und darf nicht entheiligt (Lev 19,12; 20,7) oder gar gelästert (Lev 24,16) werden. Dieser Schutz des Gottesnamens wird ab dem 3. Jh. v. Chr. auf die Aussprache ausgeweitet. Bei der Übersetzung der hebräischen Schriften der Bibel ins Griechische wird Lev 24,16, das Verbot der Lästerung, so interpretiert, dass schon die Aussprache verboten und mit dem Tod bestraft werden soll. Die ältesten Handschriften der Septuaginta lassen für den Gottesnamen eine Lücke, um dort in hebräischen Schriftzeichen das Tetragramm einzutragen. Auch zahlreiche Qumranhandschriften heben den Gottesnamen hervor, indem sie im hebräischen Text von der assyrischen Quadratschrift zu paläohebräischen Schriftzeichen wechseln, wenn das Tetragramm zu schreiben ist (z. B. 11QPsa). Im Neuen Testament gilt das artikellose „Herr“ (gr. kyrios; κύριος) als Gottesname im Unterschied zu „Herr“ als Anrede eines Höhergestellten, wobei aber im Einzelfall die Besonderheiten des Artikelgebrauchs bei Eigennamen im Griechischen zu berücksichtigen sind. Dieser Gott Israels ist der eine und einzige, der Schöpfer und Erhalter der Welt, er gibt Leben und Nahrung, und er steht zu seinem Volk in einer unvergleichlichen Beziehung, die durch Erwählung, Bund und Tora geprägt ist.
10 Spieckermann, Heilsgegenwart, 291. Ähnlich Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 290 f. 11 Vgl. Dtn 4,31; 2Chr 30,9; Neh 9,17.31; Ps 86,15; 103,8; Joel 2,13; Jon 4,2; Mi 7,18 f.; vgl. Nah 1,2.
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Tetragramm JHWH
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Antikes Judentum
Das Gottesverständnis des antiken Judentums ist durch eine spannungsvolle Diskursivität geprägt. Gott tritt zu seiner Schöpfung und zu seinem Volk Israel durch Bundesschluss und Erwählung in Beziehung. Daraus leitet er seinen Rechtsanspruch auf Anerkennung ab. Gleichzeitig ist er aber auch durch seine Fürsorge für die Schöpfung und seine Barmherzigkeit gegenüber seinem Volk gekennzeichnet. Im Mittelpunkt stehen die Eigenschaften Gottes, wie sie in der Gnadenformel als Wesensdefinition Gottes zusammengefasst sind: Gott ist barmherzig, liebevoll, langsam im Zorn, voll Gnade, treu und wahrhaftig.
2.4 Schrift
Kanon
Das antike Judentum hat ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht, das sich zudem in einer eindrücklichen inneren Vielfalt präsentiert. Auf Hebräisch und Aramäisch, aber auch auf Griechisch, der damaligen Weltsprache, thematisieren Autorinnen und Autoren ihre Weltsicht, ihr Gottesverständnis und ihr Selbstverständnis als Teil einer religiös-ethnischen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt stehen die „heiligen Bücher“ (gr. hieroi grammatoi; ἱεροὶ γράμματοι) des Judentums, die heute aus christlicher Perspektive als Bücher des Alten Testaments bezeichnet werden. Es ist nicht ganz klar, zu welchem Zeitpunkt die Schriftensammlung der heiligen Bücher des Judentums als abgeschlossen galt. Es lassen sich aber einige Stufen des Kanonisierungsprozesses nennen. Der erste deutliche Hinweis auf eine Abgrenzung einer definierten Schriftengruppe aus der Gesamtheit des jüdischen Schrifttums findet sich bei Jesus Sirach. Der Übersetzer des um 180 v. Chr. hebräisch abgefassten Werkes stellt diesem ein Vorwort, einen Prolog, voran. Darin erläutert er, dass der Verfasser des Werkes, sein Großvater, das „Gesetz, die Propheten und andere väterliche Schriften“ studiert habe (Sir Prol. 24 f.). Jesus Sirach ist demnach der älteste Beleg für die Dreiteiligkeit des Kanons heiliger Schriften im antiken Judentum.12 Der Autor selbst blickt also auf eine Schriftensammlung zurück, die zwar schon recht konsolidiert wirkt, aber auch noch offen für Ergänzungen ist. Genauere Informationen über die einzelnen Bücher, die diesem dreiteiligen Schriftenkorpus zugehörig sind, erhalten wir erst später. Während im Neuen Testament meist nur von „Gesetz und Propheten“ (z. B. Mt 7,12; Röm 3,21) die Rede ist, wenn die Gesamtheit der heiligen Schriften bezeichnet werden soll, wird im Lukasevangelium an einer 12 Sauer, Jesus Sirach, 490.
Schrift
Stelle auch die Dreiteilung der Bibel zum Ausdruck gebracht, wobei der dritte Teil, die Schriften, pars pro toto mit „Psalmen“ bezeichnet wird. In Lk 24,27 findet sich zunächst der klassische zweiteilige Ausdruck, allerdings mit der für Lukas typischen Betonung der Gesamtheit der Propheten durch das Adjektiv „alle“. Einige Verse später wird dann aber die Gesamtheit der heiligen Schriften des Judentums in der dreiteiligen Form zum Ausdruck gebracht:
Dreiteilung
Lk 24,27: Und er begann, angefangen von Moses und von allen Propheten, ihnen zu erklären, was in allen Schriften über ihn (zu finden ist). Lk 24,44: […] es muss alles das erfüllt werden, was über mich geschrieben ist im Gesetz des Moses und bei den Propheten und in den Psalmen.
Die Gesamtzahl der biblischen Bücher wird zum ersten Mal von Josephus in seiner Schrift Contra Apionem, etwa in den ersten Jahren nach 100 n. Chr., festgehalten. Er spricht von 22 Schriften und untergliedert diese in die fünf Bücher Moses, dreizehn prophetische Bücher und vier Schriften (Jos. Ap. 1,38 f.). Die Bücher Moses und die Propheten gelten ihm als historische Berichte, die Schriften dienen seiner Meinung nach vor allem zu Gottesverehrung und Lehre. Etwa zeitgleich nennt das apokryphe und auf Lateinisch überlieferte vierte Buch Esra 24 Bücher, die von allen zu lesen sind, im Unterschied zu nicht näher bezeichneten 70 geheimen Schriften, die nur die Weisen einsehen dürfen (4Esr 14,45 f.). Es zeigt sich, dass im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Kanon zwar noch nicht abgeschlossen war, aber doch als dreiteilige Sammlung der heiligen Bücher des Judentums aus Gesetz, Propheten und Schriften eine recht feste Gestalt angenommen hatte. Die Mischna (um 200 n. Chr.) überliefert eine Diskussion über die Heiligkeit dieser Schriften. Da die Berührung der heiligen Schriften die Hände verunreinige, ist mit der Zuweisung einer Schrift zum Kanon der heiligen Schriften auch eine bestimme rituelle Praxis, die Fragen der Reinheitstora zu beachten hat, verbunden. Im nachfolgend abgedruckten Abschnitt des Mischna-Traktats Jadajim („Hände“) wird demnach diskutiert, ob die Bücher Hoheslied und Kohelet die Hände verunreinigen, d. h. ob sie als heilige Schrift zu betrachten seien: mJad 3,5 (Übers. Lisowsky): Alle heiligen Schriften machen die Hände unrein, auch das Hohelied und Kohelet machen die Hände unrein. R. Jehuda sagt, das Hohelied mache die Hände unrein, über Kohelet dagegen (bestehe) ein Streit. R. Jose sagt, Kohelet mache die Hände nicht unrein, und über das Hohelied (bestehe) ein Streit. R. Schim‘on sagt, Kohelet (gehöre) zu den Erleichterungen der Schule Schammais
Mischna
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Antikes Judentum
und zu den Erschwerungen der Schule Hillels. R. Schim‘on ben Azzai sprach: Mir wurde als Ausspruch der zweiundsiebzig Alten am Tage, da sie R. El‘asza ben Azarja (zum Vorsteher) einsetzten, überliefert, daß sowohl das Hohelied wie auch Kohelet die Hände unrein machten. R. Akiba sprach: Nein, behüte! Kein Mensch in Israel streitet dem Hohelied ab, daß es die Hände unrein mache; denn nie war die ganze Welt würdiger als der Tag, da das Hohelied Israel gegeben wurde, denn sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig; besteht aber ein Streit, so geht er lediglich um Kohelet. Da sagte Johanan ben Schammua, der Sohn des Schwiegervaters R. Akibas: (Es ist,) wie Ben Azzai gesagt hat. So stritten sie und so entschieden sie. Talmud
Im Babylonischen Talmud (Endredaktion 6. Jh. n. Chr.) finden sich abschließende Aussagen zum Umfang des Kanons und der Reihenfolge der Bücher der Hebräischen Bibel. bBB 14b (Übers. Goldschmidt): Die Rabban lehrten: Die Reihenfolge der Propheten (hebr. nebiim) ist folgende: Jehosua, Richter, Semuel, Könige, Jirmeja, Jehezqel, Jesaja und die zwölf. […] Die Reihenfolge der Hagiographen (hebr. ketubim) ist folgende: Ruth, Psalmen, Ijob, Sprüche, Qohelet, Lied der Lieder, Klagelieder, Daniel, die Esterrolle, Ezra und die Chronik.
Tora
Die Sonderstellung der heiligen Schriften drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sie in ihrem Wortlaut als so wertvoll erachtet werden, dass sie nicht durch neue Bücher ersetzt, sondern kommentiert und ausgelegt werden. Die ältesten überlieferten Schriftauslegungen, etwa durch Philo, befassen sich nur mit den fünf Büchern Mose, der Tora, und unterstreichen damit deren hervorgehobene Stellung unter den heiligen Büchern. Diese enthalten nach allgemeiner Auffassung die grundlegenden Gesetze, ja wie Josephus immer wieder hervorhebt, die Verfassung (gr. politeia; πολιτεία) des jüdischen Volkes (Jos. Ant. 4,196–301). Daneben werden insbesondere die prophetischen Bücher und die Psalmen einer intensiveren Interpretation unterzogen. Deren Rezeption war noch nicht einer festen Auslegungstradition unterworfen, sodass sich hier mehr Möglichkeiten für abweichende Auffassungen boten. In den Qumrantexten finden sich die ersten Pescharim, d. h. Auslegungen: 4QFlor I 14 (Übers. Lohse): Eine Auslegung (hebr. midrasch) von: Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen (Ps. 1,1). Die Deutung (hebr. pescher) des Wortes bezieht sich auf diejenigen, die abgewichen sind vom Wege […]
Schrift
Die Pescharim legen den geschriebenen Text zugrunde. Sie nennen Einzelverse der „Schrift“ und legen sie mit dem einleitenden Hinweis „die Deutung dieses Wortes“ (hebr. pescher hadabar ascher) aus (z. B. 4QpJesb bzw. 4Q162 I,2). In den Pescharim aus Qumran werden die Schriftworte dann auf die Gegenwart der religiösen Gemeinschaft bezogen. Eine weitere Möglichkeit abweichenden Meinungen Nachdruck zu verleihen, bestand darin, neue bzw. weitere Schriften mit autoritativem Anspruch zu verfassen. Die Henochliteratur, das Jubiläenbuch und viele andere Schriften verstehen sich nicht nur als Ergänzung der heiligen Schriften, sondern als Korrektur, Erweiterung, Erneuerung, oder sogar als Neuschreibung der grundlegenden Schriften („Rewritten Bible“). Der Eingangsteil des Jubiläenbuches macht deutlich, mit welchem hohen Anspruch diese Schrift neben die Tora tritt: Das Jubiläenbuch stellt sich als umittelbar niedergeschriebene Rede Gottes dar: Jub 1,5 (Übers. Berger): Und er sagte zu ihm: „Richte dein Herz auf jede Rede, die ich zu dir reden werde auf diesem Berg, und schreibe sie in ein Buch, damit ihre Nachkommen sehen, dass ich sie nicht verlassen habe wegen allem Bösen, das sie getan haben, indem sie ihre Ordnung auflösten, die ich heute verordnet habe zwischen mir und dir für ihre Geschlechter auf dem Berge Sinai.“
Daneben ist schließlich auch noch zu erwähnen, dass biblische Gattungen weitergeführt wurden. In 11QPsa XXVII, 4 f. (David-Komposition) wird erwähnt, dass David 3600 Psalmen (hebr. tehilim, )תהלים und 450 Lieder (hebr. sir, )שירfür den Tempeldienst geschrieben habe.13 Diese sind nicht mehr erhalten, aber die Qumranhandschriften belegen immerhin 200 Psalmen über die dort ebenfalls belegten 150 kanonischen Psalmen hinaus.14 Schließlich nehmen die Midraschim eine Mittelstellung zwischen Neuschreibung und Kommentierung ein, indem sie auf der Basis biblischer Texte durch Erweiterungen, Ergänzungen und Ausschmückungen besonders die narrative Gestalt der Vorlage umgestalten.15
13 Dahmen, Psalmen- und Psalter-Rezeption, 17. 14 Die Zahl für 3600 Psalmen kommt vermutlich über je 150 Psalmen für jede der 24 Priesterklassen zustande, die Zahl 450 für Lieder in etwa über den kultischen Jahresablauf, d. h. 364 für das tägliche Dankopfer (Tamid), 52 für das Sabbatopfer, 30 weitere für die Neumondfeste, die Festversammlungen und den Versöhnungstag und einige weitere evtl. für den Schaltmonat. 15 Fishbane, Midrash Imagination, 17–19.
Rewritten Bible
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Antikes Judentum
Die Vielfalt des Schriftgebrauchs im antiken Judentum reicht demnach von der Sphäre des Rechts, der Politik bis zum Kult. Zudem wurden die heiligen Bücher ausgelegt und für Sondermeinungen in Anspruch genommen sowie durch weitere Literatur ergänzt. Schließlich galten die heiligen Schriften auch als autoritative historische Berichte von der Geschichte des jüdischen Volkes. Die unbestrittene Mitte der heiligen Schriften des antiken Judentums sind die fünf Bücher Mose, der Pentateuch, die zusammenfassend als Tora oder Gesetz bezeichnet werden. Daneben stehen die prophetischen Bücher, deren Anzahl ebenfalls als weitgehend abgeschlossen gilt. Die Schriften als dritter Teil der jüdischen Bibel haben geringere Geltung und auch ihr Umfang ist noch umstritten. Neben diesem Kernbereich der Überlieferung existiert eine lebendige Produktion von religiösen Schriften, Fortschreibungen biblischer Texte und Gattungen („Rewritten Bible“) und zunehmend auch Auslegungen, die die Auseinandersetzung um die heiligen Schriften und deren Aussagen lebendig erhalten.
2.5 Geschichte
Geschichts verständnis
Geschichte kann verstanden werden als eine Abfolge von vergangenen Ereignissen in Raum und Zeit, die durch das Subjekt des Geschehens, den Raum, in dem es sich vollzieht, und durch andere Kausalitäten einen Zusammenhang bilden. Geschichtsschreibung besteht nur darin, diesen Zusammenhang zu erfassen und ihm eine narrative Gestalt zu geben. Sie beruht demnach einerseits auf den Informationen über diese Ereignisse und andererseits auf der Art ihrer Darstellung, über die die Geschichtsschreiber entscheiden. Diese bringen als Einzelpersonen oder Repräsentanten von Gruppen in der Geschichtsschreibung auch ihr gegenwärtiges Selbstverständnis zum Ausdruck. Es geht im Folgenden demnach um das Geschichtsverständnis des antiken Judentums und um die Konstruktion der Geschichte des jüdischen Volkes als Teil seines Selbstverständnisses und nicht um eine kritische Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse. Die Vertreter des antiken Judentums waren stolz auf die geschichtlichen Überlieferungen des Judentums. Sie waren der Ansicht, dass ihnen im Pentateuch und in den prophetischen Schriften eine vernünftige und glaubwürdige Geschichte ihres Volkes überliefert sei, ja dass diese Bücher, die mit der Erschaffung der Welt beginnen, auch eine Geschichte allen Seins enthielten. So hebt Josephus die Zuverlässigkeit und Klarheit der heiligen Bücher des Judentums hervor:
Geschichte
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Jos. Ap. 1,38 f.: […] nicht Tausende von unstimmigen und einander widerstreitenden Büchern existieren bei uns, sondern 22 Bücher enthalten die Niederschrift der gesamten Zeit, die auch zu Recht anerkannt sind. Von diesen sind fünf die des Moses, sie enthalten die Gesetze und die Überlieferung von der Menschenerschaffung bis zum Tod des Gesetzgebers Moses.
Immer wieder wird von jüdischen Autoren der Antike behauptet, dass die heiligen Schriften des Judentums auch die hervorragenden Vertreter des Griechentums beeinflusst hätten. Für Philo gilt es als sicher, dass Platon für seine Schrift Timäus, in der die Entstehung der Welt erörtert wird, „Moses“, genauer das Buch Genesis genutzt, habe.16 Er deutet zudem den Namen des Volkes Israel mit „das Volk derjenigen, die Gott sehen“ und schließt daraus, dass die Griechen zwar einen wahren Philosophen (Sokrates bzw. Platon) hätten, Israel aber ein Volk von Philosophen sei.17 Die heiligen Schriften des Judentums sind nach Philo allen anderen philosophisch überlegen und auch in ihren historischen Inhalten zuverlässiger. Die fünf Bücher Mose und die Bücher der vorderen Propheten (Josua, Richter, Samuel und Könige; Luther: „Geschichtsbücher“) lassen sich wie eine Geschichtserzählung lesen. Sie berichten eine in sich geschlossene Folge von Ereignissen, die zunächst von der Schöpfung über Sintflut, Völkergeschichte bis zu den Erzeltern reicht, um dann, ausgehend von den zwölf Söhnen Jakobs, die Geschichte Israels von der Gefangenschaft in Ägypten bis zum babylonischen Exil und dessen Ende durch das Kyrosedikt zu erzählen. Freedman hat für diesen Erzählzusammenhang, dieses Narrativ, den Begriff der „primary history“, d. h. der erstanfänglichen und grundlegenden Geschichtserzählung, geprägt.18 Sie ist die identitätsbildende Fassung der Geschichte Israels, die im antiken Judentum als grundlegendes Geschichtsbild vertraut war. Diese Geschichte trägt in sich ein Deutungsprinzip, das nach Josephus auf folgendem Gedanken beruht: Die heiligen Schriften enthalten „tausende Dinge“, vor allem aber mahnen sie, dass Gott das Befolgen des Gesetzes belohne und Übertretungen des Gesetzes bestrafe (Ant. 1,13 f.). Josephus folgt in seinem Werk über die „Jüdischen Altertümer“ (Antiquitates Judaicae) dieser biblischen Grunderzählung, gibt ihr aber für die von ihm intendierte Leserschaft und die von ihm angestrebten Zwecke eine eigene Prägung. Sterling denkt besonders an Josephus, wenn er die 16 Philo Opif. 21; 119; 133. 17 Philo Migr. 18; 21; 39. 18 Freedman, Unity of the Hebrew Bible, 6–15.
Moses und Platon
primary history
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Antikes Judentum
Geschichtsschreibung des antiken Judentums näher charakterisiert. Es seien zwei besondere Momente, die die jüdische von der römischen und griechischen Geschichtsschreibung unterscheide: „Erstens, sie (die jüdische Geschichtsschreiber; LB) schrieben die Geschichte eines Volkes. Das gemeinsame Element war, dass das jüdische Volk der grundlegende Gegenstand ihrer Erzählungen war. […] Zweitens, sie waren überzeugt, dass Gott die Geschichte des jüdischen Volkes bestimmt.“19
Sinai
Die Geschichte Israels ist demnach einem Grundprinzip unterworfen, nach dem Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt. Freedman stellt nun noch heraus, dass das sinnbildende Zentrum dieser Geschichtserzählung die Sinaiereignisse darstellten, die die Begegnung zwischen Gott und seinem Volk, den Bundesschluss und die Verpflichtung des Volkes auf den Bund umfassten. Am Sinai werde das Deutungsprinzip der Geschichte Israels verankert, nach dem das Wohlergehen des Volkes von seinem Gehorsam gegenüber den am Sinai eingegangen Verpflichtungen bestimmt sei: „Das übergeordnete Thema (der biblischen Geschichtserzählung; LB) ist, dass genau wie Israel von Gott geschaffen wurde, es auch von ihm zerstört werden könnte und tatsächlich auch zerstört wurde (durch die Eroberung Jerusalems im Jahr 587 v. Chr.; LB). […] Die kontinuierliche Existenz der Nation, noch mehr aber sein Erfolg, seine Sicherheit und sein Wohlstand, würden von seinem Verhalten abhängen. Insbesondere hinge dies von der Einhaltung eines Verhaltenskodex ab […]. Diese Regeln und Vorschriften seien wiederum im Dekalog oder den Zehn Geboten zusammengefasst, die jeder Israelit kennen müsste.“20
Dekalog
Das geschichtstheologische Grundprinzip der uranfänglichen Geschichte Israels ist damit deutlich herausgestellt: Es ist eine Geschichte des Volkes im Gegenüber zu seinem Gott. Die Hervorhebung des Dekalogs durch Freedman hingegen überzeugt nicht, da der Dekalog zwar als wichtige Orientierung gelten kann, aber eben doch nur eine recht reduzierte Zusammenstellung von Überzeugungen und Verhaltensweisen ist. Der Dekalog erwähnt z. B. weder Kult noch Opfer, weder Beschneidung noch Speisegebote. Freedman stellt etwas einseitig den Monotheismus und die ethische Orientierung in den Mittelpunkt. 19 Sterling, Jewish Appropriation of Hellenistic Historiography, 241 f. 20 Freedman, Unity of the Hebrew Bible, 14.
Geschichte
Eine andere Interpretation des Geschichtsverständnisses Israels hat Neusner auf der Basis der rabbinischen Texte vorgeschlagen. Er bezeichnet die Erstgeschichte Israels in Anknüpfung an und in Differenz zu Freedman als „standard history“, die das rabbinische Judentum als „paradigmatisch“ verstehe. Was meint Neusner damit? Für die Rabbinen gelte: „Israel lebt in Beziehung zu einem dauerhaften Paradigma, das weder Vergangenheit noch Gegenwart oder Zukunft kennt.“21 Israel definiere sich über bestimmte Handlungen, die in Übereinstimmung mit einem zeitlosen Paradigma beurteilt würden. Nicht die geschichtlichen Ereignisse als solche seien relevant, sondern deren Beziehung zu dem einen Kriterium, das zählt, nämlich die Tora. Es stehen sich demnach zwei idealtypische Zugangsweisen zur Geschichte Israels gegenüber. Die eine versteht die Geschichtserzählungen als eine Abfolge dramatischer und teilweise tragischer Ereignisse in der Spannung zwischen Gehorsamsforderung und Übertretung, zwischen Fürsorge und Strafe. In der geschichtlichen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel wiederholt sich ein Drama, das nach Erlösung drängt. Dieses Verständnis einer dramatisch-tragischen Geschichte bringt folgerichtig Figuren hervor, die diese Tragik beenden, etwa die Idealgestalt eines Königs wie David, die dann als Messias die Erwartungen nach ewigem Heil für Israel befriedigt. Dieses Narrativ scheint in der biblischen Geschichtserzählung angelegt zu sein und bildet die Basis für eine Interpretation, die für die christliche Theologie wichtig geworden ist: Die tragische Beziehung des biblischen Gottes zu seinem Volk bedarf der Erlösung. Demgegenüber hebt Neusner darauf ab, dass es in der rabbinischen Tradition nicht diese innere tragische Gestalt sei, die die Kontinuität der biblischen Geschichtserzählung ausmache. Es gebe vielmehr ein Kriterium außerhalb der geschichtlichen Erzählung, die jedes Ereignis der zeitlosen Frage unterwerfe, in welcher Beziehung es zu den Geboten der Tora stehe. Israel als das Volk der Tora und die Tora als die zeitlose ewige Weisung Gottes werden so zu einer Mitte, die durch die historischen Ereignisse nicht wirklich berührt würden. Mit den Konzepten der primary history und der paradigmatic history stehen sich demnach eine geschichtstheologische und eine toraorientierte Interpretation der biblischen Geschichtserzählung gegenüber. Die eine betont die Bedeutung des Gottesgedankens in seinem geschichtlichen Verhältnis zum Gottesvolk, die andere stellt die ewige Weisung der Tora und die Verpflichtung des Volkes Israel auf die Tora in den Mittelpunkt. Die geschichtstheologisch-dramatische Sichtweise der Geschichte Israels wirkt besonders in der jüdischen 21 Neusner, Idea of History in Rabbinic Judaism, 23.
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Rabbinisches Geschichts verständnis
Dramatik und Tragik
Tora und Geschichte
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Antikes Judentum
Apokalyptik fort, während die ungeschichtlich-toraorientierte, durch Sadduzäer und Pharisäer vorbereitet, dann schließlich im rabbinischen Judentum dominiert. Die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes und deren Deutung spielen eine wesentliche Rolle für das Selbstverständnis des antiken Judentums. Auf der Basis einer grundlegenden biblischen Geschichtserzählung (primary history) wird diese Geschichte entweder als eine dramatische und krisenhafte Beziehung zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gedeutet oder aber als eine an den Forderungen der Tora zu messende Sammlung von Beispielen für die Erfüllung und Verfehlung der Tora (paradigmatic history). Bei beiden Geschichtskonzeptionen steht aber das eine Grundprinzip im Hintergrund, dass Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt.
2.6 Tora
Tora, Gesetz
Die biblische Grunderzählung von Genesis bis zum zweiten Buch der Könige denkt geschichtlich. Gehorsam oder Übertretung entscheiden über das Ergehen des Volkes Israel im Raum der Völkergeschichte. Die Völker können nur Macht über Israel gewinnen, wenn der Gott Israels es zulässt oder die Völker gar als Instrumente seines Strafhandelns nutzt. In den biblischen Geschichtserzählungen begegnen allerdings noch weitere Kriterien, die die Grenze zwischen Gehorsam und Ungehorsam markieren, etwa die Fremdgötterverehrung, die Höhen, auf denen verehrt, die Kultstatuen und Masseben, die aufgerichtet werden, oder auch das Vergießen unschuldigen Blutes. Es war durchaus umstritten, woran sich Gott orientiert, wenn er die Geschicke seines Volkes bestimmt. Diese Fragen werden im antiken Judentum mit Hilfe der Vorstellung von den väterlichen Überlieferungen, dem Gesetz bzw. der Tora beantwortet. Nach Josephus führt die Beachtung der „väterlichen Gesetze“ (gr. patrioi nomoi; πάτριοι νόμοι) zu einem „glückseligen Leben“ (gr. eudaimonia; εὐδαιμονία). Philo ist der Überzeugung, dass die Tora den Aufstieg der Seele zur Weisheit (gr. sophia; σοφία) ermögliche, da die Tora mit dem Naturgesetz (gr. nomos physeos; νόμος φύσεως), das allem Seienden als Prinzip innewohnt, identisch sei. Das eher religionsgesetzliche Verständnis der Rabbinen hingegen unterstreicht die Verpflichtung zur Tora um ihrer selbst willen. Sie sei eine himmlische Gabe und ihre Befolgung sei für Israel Schöpfungsauftrag.
Tora
In der Hebräischen Bibel finden sich als Bezeichnungen für Recht, Rechtssatz, Weisung zahlreiche Wörter, etwa dat, mischpat, chok, mizwa und auch tora. Das hebr. Wort tora ( )תורהmeint zunächst die Einzelweisung. Als zusammenfassende Bezeichnung für die Gesamtheit der Gebote Gottes ist es erst in späterer Zeit belegt. Die Septuaginta übersetzt tora überwiegend und die verschiedenen anderen oben genannten hebräischen Begriffe zum Teil ebenfalls vereinheitlichend mit „Gesetz“ (gr. nomos; νόμος) im Singular. Das Wortfeld nomos dominiert in der griechischen Übersetzung noch in weiterer Hinsicht. So werden auch zum Teil sehr spezifische Rechtsbrüche und Übertretungen verallgemeinernd mit gr. anomia (ἀνομία) oder gr. paranomia (παρανομία) bezeichnet. Die Septuaginta nutzt im Falle der genannten Rechtsbegriffe, die feine terminologische Unterscheidungen erlauben, überwiegend das Wortfeld gr. nomos, wie sie auch in anderen Fällen dazu neigt, für die Übersetzung spezifischer hebräischer Begriffe „semantisch allgemeinere Äquivalente“ im Griechischen zu verwenden.22 Durch die vereinheitlichenden Übersetzungen der disparaten hebräischen Rechtsbegriffe wird auch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Gesetz“ bewirkt. Er steht nun für die Summe der religiös-ethnischen Regelungen des Judentums. Damit öffnet sich die Bezeichnung für die hellenistische Vorstellung, nach der ein Volk durch gemeinsame Sitten und durch ein gemeinsames Gesetz gebildet werde. Diese vereinheitlichende Tendenz findet sich dann auch im masoretischen Text der Hebräischen Bibel. In ihr kommt hebr. tora genau 220 Mal vor. Der Sachverhalt weist auf eine vereinheitlichende Redaktion des masoretischen Textes hin, die in der Zahlensymbolik (22 Buchstaben des Alphabets × 10) die zentrale Bedeutung der tora, ihre „Perfektion und Totalität“ zum Ausdruck bringen möchte.23 Verteilt über den gesamten Kanon wird tora zum zentralen Inhalt der Schrift, deren Bedeutung über die dort berichteten Einzelereignisse hinausgeht und dadurch zeitlos wirkt. Die Festlegung der Tora vollzieht sich aber nicht nur symbolisch, sondern auch sehr konkret. Im Babylonischen Talmud findet sich die traditionell gewordene Gesamtzahl von 613 Geboten und Verboten. Da ältere Traditionen nicht nachweisbar sind, ist diese Zusammenstellung wohl spätestens auf die Mitte des 6. Jh. zu datieren (Endredaktion: bBB 157b; bBM 86a). Im Traktat Makkot (Geißelung) aus der Ordnung Nezikin (Schädigungen) des Babylonischen Talmuds heißt es:
22 Austermann, Von der Tora zum Nomos, 203. 23 García López, Art. תורהtorah, 601.
nomos, Gesetz
613 Gebote
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Antikes Judentum
bMak 23b (Übers. Goldschmidt): R. Simlai rief aus: „613 Gebote wurden Moses gegeben, 365 (Verbote), entsprechend der Zahl der Tage im Sonnenjahr, und 248 (Gebote), entsprechend der Teile des menschlichen Körpers.“
schriftlich/mündlich
Erst aus späterer Zeit sind Listen erhalten, die diese 613 Gebote im Wortlaut nennen. Aus älterer Zeit und auch aus dem Neuen Testament sind aber immerhin Äußerungen überliefert, die die Einhaltung jedes einzelnen, noch so kleinen Gebotes bzw. der ganzen Tora einfordern (Gal 5,3; Jak 2,10). Was ist aber nun die Tora im Sinne der Gesamtheit der religiösethnischen Gesetze? Der Mischna-Traktat Pirke Abot (Sprüche der Väter) berichtet davon, dass Moses und Aaron, als sie auf dem Sinai waren, nicht nur die schriftliche Tora, wie sie in den fünf Büchern Moses festgehalten ist, empfingen, sondern auch eine mündliche Tora, die ohne schriftliche Fixierung von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Erst in rabbinischer Zeit bemüht man sich, Weisungen der mündlichen Tora, die über die schriftliche Tora hinausgehen, auf den Bibeltext zurückzuführen. Die älteste rabbinische Überlieferung verankert ihre Grundüberzeugungen bei den beiden Schulgründern Hillel und Schammai. Hillel gilt als der Konziliantere, Schammai eher als streng. Die Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Tora wird durch eine kurze anekdotische Erzählung über Schammai überliefert: bSchabb 31a (Übers. Goldschmidt): Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: Wieviel Thoroth habt ihr? Dieser erwiderte: Zwei; eine schriftliche und eine mündliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaub ich dir, die mündliche glaube ich dir nicht; mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweis.
Im ersten Jahrhundert n. Chr. sind Tora, Gesetz und väterliche Überlieferungen zwar recht klar umrissen, in ihrer Konkretion aber bleiben sie Gegenstand von divergierenden Interpretationen. So gelten Beschneidung, Sabbat, Speisegebote und Reinheitsregeln in der Antike als bekannte Merkmale jüdischen Lebens, aber ob ein Junge beschnitten werden darf, wenn der achte Tag auf einen Sabbat fällt, oder was man macht, wenn der Rüsttag des Pessach, dem Tag, an dem die Lämmer geschlachtet werden sollen, auf einen Sabbat fällt, bleibt Gegenstand von Auslegungen. Die Tora im Sinne der Gesamtheit der überlieferten Regeln wurde bis ins 2. Jh. n. Chr. mündlich weitergegeben. Erst in der Mischna, die
Tora
etwa um 200 n. Chr. eine schriftliche Form findet, werden zum ersten Mal die grundlegenden Gebote und die Diskussionen um diese festgehalten. Die Tosefta stellt eine Art kommentierende Neuschreibung der Mischna dar, die die Regelungen eher predigtartig vorstellt. Babylonischer und Jerusalemer Talmud, Bavli und Jeruschalmi, kommentieren die Traktate der Mischna und enthalten weitere rabbinische Meinungen zu dieser. In diesem Sinn kann man sagen, dass es die eine festumrissene Tora nie gab und bis heute nicht gibt. Dennoch gibt es eine Reihe von Regelungen, die in der Außenwahrnehmung des Judentums zu Unterscheidungsmerkmalen von der Umwelt werden, wie etwa Arbeitsruhe am Sabbat, Speisetabus, bes. die Ablehnung von Schweinefleisch, und die Ablehnung der Verehrung anderer Götter. In den rabbinischen Schriften bewirkt die zentrale Stellung der Tora bisweilen ein Gottesverständnis, das diesen der Tora geradezu unterordnet und anthropomorphe Sichtweisen nicht scheut. So wird z. B. der Tagesablauf Gottes in wie folgt geschildert:
Tosefta
bAZ 3a (Übers. Goldschmidt): R. Jehuda sagte im Namen Rabhs: Zwölf Stunden hat der Tag. In den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und befasst sich mit der Tora; in den anderen sitzt er da und richtet die ganze Welt, und sobald er sieht, dass die Welt sich der Vernichtung schuldig macht, erhebt er sich vom Stuhle des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit; in den dritten sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den gehörnten Büffeln bis zu den Nissen der Läuse, in den vierten sitzt der Heilige gepriesen sei er, und scherzt mit dem Leviathan, denn es heißt, der Leviathan, den du geschaffen hast, um mit ihm zu spielen (Ps 104,26).
Gott hat einen Tagesablauf, an dessen Anfang das Studium der Tora steht. Die übrige Zeit wendet er auf, um Recht und Barmherzigkeit zu bewirken, die Schöpfung zu erhalten und zu spielen. Der Begriff Tora erfährt durch die Übersetzung ins Griechische mit „Gesetz“ eine erhebliche Bedeutungsverschiebung. Tora bezeichnet eher einen vielfältigen und differenzierten Diskurs um Geltungsansprüche innerhalb des Judentums, Gesetz hingegen die Gesamtheit der religionsgesetzlichen Regelungen des Judentums. Im antiken Judentum existiert keine normative Festlegung auf eine Gesamtheit der für das Judentum ausschlaggebenden religionsgesetzlichen Regelungen. Vielmehr werden Gehalt und Bedeutung jedes einzelnen Gebotes wie auch die Gesamttatsache Tora kontrovers diskutiert, in den verschiedenen Sondergruppen unterschiedlich bewertet und immer wieder neu bestimmt.
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Antikes Judentum
2.7 Tempel
Zweiter Tempel
Makkabäer
Der Jerusalemer Tempel wurde in den Jahren zwischen 520 und 515 v. Chr. als Nachfolgebau für den im Jahr 587 v. Chr. zerstörten ersten, den Salomonischen Tempel errichtet. Er galt als das zentrale und einzige Heiligtum der Bewohner Judäas, eines Gebiets von ca. 40 × 50 km im Umfeld von Jerusalem mit 15.000 bis 25.000 Einwohnern zu dieser Zeit. Den Tempeldienst verrichteten 24 Priesterklassen, die abwechselnd je 14 Tage Tempeldienst zu leisten hatten. Danach kehrten die Priester wieder in ihre übliche Wohnumgebung, meist judäische Bergdörfer, zurück. Nur wenige Priester waren ganzjährig tätig, unter ihnen der Hohepriester. Der Jerusalemer Tempel war durch diese Regelung nicht nur ein Gebäude, sondern auch ein religiöses Sozialsystem, ein Priesternetzwerk. Im Jahr 169 v. Chr. führte der seleukidische Herrscher Antiochos Epiphanes IV mit der Unterstützung hellenisierter Judäer den Kult des Zeus Olympios im Jerusalemer Tempel ein. Diese stellten dort auch eine Statue des Antiochos auf. Der Aufstand gegen diese und andere Maßnahmen, wie etwa das Verbot der Beschneidung und das Gebot, die Speisegesetze unbeachtet zu lassen, führte zum Aufstand national-judäischer Traditionalisten unter der Führung des Mattathias Makkabäus und seiner fünf Söhne. Die Eroberung des Tempels stellte die Makkabäer vor die Frage, wie sie mit den durch „Frevel“ sakral zerstörten Kulteinrichtungen umgehen sollten. Der Altar wurde niedergerissen und nach den Vorschriften von 1Kön 6 neu errichtet (1Makk 4,36–59; 2Makk 10,1–8; Jos. Ant. 12,316–325). Die Einweihung erfolgte am 25. Kislev und begründet das Fest der Tempelweihe, Chanukka (חנוכה, Wortbedeutung unklar, „Lager am 25.“ oder „Einweihung“) bzw. der „Erneuerung“ (vgl. Joh 10,22). Der Talmud überliefert die Legende von der Entstehung des Festes: Im Tempel sei ein einziger Krug mit reinem Öl gefunden worden, der aber wunderbarerweise acht Tage ausgereicht habe. bSchabbat 21b (Übers. Goldschmidt): Was bedeutet das Chanukafest? – Die Rabbanan lehrten: Am fünfundzwanzigsten Kislev beginnen die Tage des Chanukafestes; es sind ihrer acht, an denen man keine Trauerfeier abhalten noch fasten darf. Als nämlich die Griechen in den Tempel eindrangen, verunreinigten sie alle Öle, die im Tempel waren. Nachdem die Herrscher des Hauses der Hasmonäer sich ihrer bemächtigt und sie besiegt hatten, suchte man und fand nur ein einziges mit dem Siegel des Hohepriesters versehenes Krüglein mit Öl, das nur so viel enthielt, um einen Tag zu brennen. Aber es geschah ein Wunder, und man brannte davon acht Tage. Im folgenden Jahre bestimmte man, diese Tage mit Lob- und Dankliedern als Festtage zu feiern.
Tempel
Das Tempelgebäude wurde von Herodes dem Großen in den Jahren ab 20 v. Chr. grundlegend umgestaltet. Aus jüdischer Perspektive ist dieser Neubau aber kein neuer, dritter Tempel, sondern steht sakralrechtlich in Kontinuität zum zweiten Tempel bzw. zu dem von den Makkabäern neu eingeweihten Tempel. Diese sakralrechtliche Komponente kommt darin zum Ausdruck, dass Herodes die Priester alle für den Tempelneubau notwendigen Handwerke erlernen ließ, sodass die Arbeiten am Tempel durch Priester ausgeführt wurden. Der Tempel war der einzige legitime Ort der kultischen Gottesverehrung und damit des Opferdienstes. Täglich wurden als regelmäßiges Dankopfer, Tamid, zwei einjährige Schafe („Lämmer“) geopfert. Eines am Morgen und eines am Abend als Brandopfer, begleitet von einem Mehl-Öl-Gemisch als Speisopfer und Wein als Trankopfer (Ex 29,38– 42; Num 28,3–8). Num 28,3–5: Und sage ihnen: Das ist das Feueropfer, das ihr dem Herrn darbringen sollt: zwei einjährige Lämmer ohne Fehler, täglich als regelmäßiges (hebr. tamid; )תמידBrandopfer. (4) Das eine Lamm sollst du am Morgen bereiten, und das zweite Lamm sollst du in der Abenddämmerung bereiten, (5) und als Speisopfer ein zehntel Efa Feinmehl, untergerührt mit einem viertel Hin gestoßenen Öles. Ex 29,38.45: Und dies sollst du auf dem Altar darbringen: täglich zwei einjährige Lämmer als regelmäßiges (hebr. tamid; )תמידOpfer. […] (45) Und ich werde mitten unter den Kindern Israels wohnen und ihr Gott sein.
Am Sabbat verdoppelte sich die Zahl der Opfertiere auf vier (Num 28,9 f.), am Monatsanfang wurden zwei Jungstiere, ein Widder und sieben Lämmer ebenfalls begleitet von Speis- und Trankopfern dargebracht (Num 28,11–15). Ein normaler, festfreier Monat von 30 Tagen und 4 Sabbaten erforderte demnach ca. 78 Opfertiere. An den Festtagen erhöhte sich die Zahl der Opfertiere. An der Spitze steht das siebentägige Laubhüttenfest, Sukkot (von hebr. sukka; „ ;סכהLaubhütte“; vgl. Lev 23,34–43). Der Festkalender in Num 29,12–38 nennt täglich 29 bis 23 Opfertiere (am ersten Tag 13 Jungstiere, zwei Widder und vierzehn einjährige Lämmer). Insgesamt sollen einschließlich des achten Tages mit neun Opfertieren am Sukkot ca. 190 Opferschlachtungen stattfinden. Während die bisher angeführten Opfer Aufgabe des regelhaften Tempeldienstes waren, gab es zusätzlich noch Opfer, die durch Einzelpersonen, Familien und Sippen angeregt wurden. Die Deutung dieser Opferhandlungen und der mit ihnen verbundenen Mahlgemeinschaften ist nicht ganz einfach. Es geht sicher
Opferdienst
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Antikes Judentum
Sühne
Gemeinschaft
Passah
nicht um die Sättigung Gottes, sondern um die Gemeinschaft mit Gott. Gese hebt die Funktion der Sühne durch das Opfer hervor, die die durch den Menschen verschuldete „Störung des Gottesverhältnisses“ aufhebe und überhaupt erst so die Gemeinschaft Israels mit Gott ermögliche.24 Nur die im Opfer vollzogene Sühne der wissentlichen und unwissentlichen Schuld Israels erlaube die Nähe zu Gott. Marx hingegen stellt den kommunitären Charakter in den Mittelpunkt.25 Das Opfer werde von Gott als Zusage der Mahlgemeinschaft des Gottes Israels mit seinem Volk verstanden. Die Priesterschrift bevorzuge das Opfer mit gemeinschaftlicher Opfermahlzeit (hebr. säbach schelamijm; )זבח שלמים. Sie vertrete die Vorstellung, Gott lasse sich zu dieser Mahlgemeinschaft einladen und zeige mit der Annahme der Produkte des Landes seine Verbundenheit mit Volk und Land. Die Opferhandlung ermöglicht jedenfalls den Zugang und die Nähe zu Gott, wie die Begrifflichkeit für „opfern“ (hebr. qarab; )קרב, wörtlich „sich nähern (um zu opfern)“, und Opfer (hebr. qorban; )קרבן für Nähe zu Gott unterstreicht. Das Opfer ist demnach ein kultisches Ritual, das die Präsenz Gottes bei den an diesem Ort versammelten Menschen gewährleistet. Eine Sonderstellung nimmt das Passahfest ein, weil die Opfertiere dabei nicht von Priestern geschlachtet wurden und die Mahlzeit auch nicht am Tempel stattfand. Die nichtpriesterliche Schlachtung und das sich anschließende gemeinschaftliche Laienmahl hatten keine sühnende Wirkung. In nachexilischer Zeit hatte sich die Regelung durchgesetzt, dass die Passahlämmer, die in den Familien und Gruppen als Festmahl verspeist werden sollten, im Tempel zu schlachten waren (2Chr 35,11). 2Chr 35,7–9 nennt für ein Passahfest zur Zeit Josias insgesamt 37.600 Stück Kleinvieh, Ziegen und Lämmer, und 3.800 Rinder, die geschlachtet wurden. Im 1. Jh. n. Chr. ist damit zu rechnen, dass ein großer Teil der judäischen und galiläischen Bevölkerung zum Passah nach Jerusalem kam, d. h. zumindest einige hundertausend Pilger.26 Die Schlachtungen wurden von Priestern und Leviten überwacht, aber von „Israeliten“ durchgeführt (mPes V,5). In den einschlägigen Texten von Mischna und Talmud werden die damit verbundenen Vorgänge wie Festbinden der Tiere, Schlachtungen, Auffangen des Blutes, Weitergabe des Blutes zum Altar, Vorrichtungen zum Aufhängen und Abhäuten der Tiere, deren Zerlegung 24 Gese, Sühne, 87. 25 Marx, Le système sacrificiel de P, 297. 26 Jos. Bell. 2,280 spricht von 3 Millionen Pilgern, die an einem Passah während der Statthalterschaft des Cestius Gallus (63–67 n. Chr.) in Jerusalem versammelt waren (vgl. Bell. 6,420–427). Das ist sicher übertrieben, aber selbst 300.000 oder gar nur 30.000 wären bereits gewaltige Zahlen.
Tempel
usw. im Detail beschrieben (z. B. bTamid 30a–30b). Der Opferkult und die mit ihm verbundenen Dienstleistungen wie Erwerb der Opfertiere, Vergabe des Priesteranteils von den Opfertieren oder Verwertung von Häuten und Fellen hatten auch eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Der Tempel war ein Großabnehmer für die verschiedenen Opfertierarten, Wein, Öl, Getreide, Weihrauch, Kleidung u. a.27 Es ist wichtig, sich die konkreten Abläufe des Jerusalemer Kultes zu vergegenwärtigen, um die Dimensionen des Geschehens zu verstehen, innerhalb derer dann das Auftreten Jesu (Mk 11,15 f.) und des Paulus (Apg 21,26–22,30) im Tempel einzuordnen ist. Die hier geschilderten Vorgänge unterschieden sich nicht kategorial und grundsätzlich von Vorgängen an vergleichbaren antiken Kultstätten. Der aus heutiger Perspektive offensichtliche Unterschied besteht darin, dass für keine antike Kultstätte auch nur annähernd vergleichbar ausführliche Kultnarrative, Festkalender und religiös-theologische Erörterungen über den Opferkult vorliegen. Es kommt hinzu, dass im jüdischen Schrifttum die Feste einer Sinnbildung unterliegen, die als Spiritualisierung oder auch Theologisierung bezeichnet werden kann. Der Kult, das Opfer, die Inszenierung der Gemeinschaft und ihre sozialen Strukturen werden intensiv reflektiert, die Kultterminologie wird metaphorisiert und die mit dem Kult verbunden Heilserwartungen werden immer wieder aktualisiert, auf andere Phänomene übertragen und gesteigert. So spricht der qumranische Yahad, der sich vom Jerusalemer Tempelkult abgewendet hat, von einem „Heiligtum aus Menschen“ (hebr. mikdasch adam; )מקדש אדם.28 Paulus nennt die Gemeinde einen „Tempel Gottes“, dessen Beschädigung durch falsches Verhalten Gott strafen werde (1Kor 3,16). Der Tod Jesu am Kreuz wird als sühnendes Opfer (Röm 3,24–26) und Jesus als der Hohepriester verstanden, der „nicht durch das Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut […] sich selbst als makelloses Opfer Gott hingegeben“ hat (Hebr 9,11–14). Im antiken Judentum wird man grob drei Stufen des Umgangs mit Opfer, Kult und Fest benennen können, die Kaiser als Historisierung, Denaturierung und Eschatologisierung bezeichnet.29 Das ursprünglich nomadische Passah, das Schlachten der Lämmer und der Blutritus, wird historisiert, indem es mit einem einmaligen historischen Ereignis, dem Exodus, verbunden wird, und denaturiert, indem es seine Funktionen für die nomadische Gemeinschaft verliert und an die eine 27 Ådna, Jerusalemer Tempel, 145–148. 28 4Q174 Kol. III 6; vgl. 1QS VIII 5 u. IX 6. 29 Kaiser, Gott des Alten Testaments 1, 318.
Tempel und Wirtschaft
Kultterminologie
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Antikes Judentum
Metaphorisierung
Tempelsteuer
und einzige zentrale Kultstätte, den Jerusalemer Tempel, gebunden wird. Das Passah wird zum Erinnerungsfest an die Befreiung aus der Knechtschaft und zugleich an die kultischen Vorstellungen und Interessen der Priesteraristokratie angepasst. Die Zusagen des Kultes und des Festkreises werden durch Metaphorisierung auf andere Sachverhalte übertragen, die die in der Gegenwart ausbleibende Realisierung der Heilserwartung in die eschatologische Endzeit verlagern. Für die Funktionen am Tempel wurde eine Tempelsteuer in Höhe einer tyrischen Doppeldrachme erhoben. Diese Tempelsteuer wurde auch in der Diaspora eingetrieben. Der Transport des Geldes nach Jerusalem stellte ein Politikum dar, da der Geldabfluss aus den Siedlungsgebieten der Diasporajuden von Nichtjuden bisweilen kritisch bewertet wurde. Cicero berichtet von einem Edikt des Statthalters der römischen Provinz Asia aus dem Jahr 62 v. Chr., das den Export von „Gold der Juden“ (d. i. Tempelsteuer) verboten habe.30 In diesem Zusammenhang erwähnt Cicero auch, dass in Laodikeia zwanzig Pfund Gold eingezogen wurden, was einer jüdischen Bevölkerung in der Gegend um diese Stadt von etwa 10.500 personenrechtlich freien jüdischen Männern entspricht.
Der Jerusalemer Tempel ist das zentrale Heiligtum des Judentums, an dem eine mit dem Volk verbundene Priesterschaft die kultischen Dienste verrichtet. Das tägliche Opfer wie auch die umfangreichen kultischen Handlungen an den Festen unterstreichen die religiöse, soziale, politische, aber auch wirtschaftliche Bedeutung des Tempels. Das Disporajudentum ist durch die Tempelsteuer ebenfalls in die durch den Tempel konstiuierten inneren Beziehungen des antiken Judentums eingebunden. Der Tempel gilt als der Ort, an dem Gott seine Präsenz zugesagt hat. Vor allem diese Vorstellung führt dazu, dass kultische Begriffe metaphorisiert verwendet und auf andere religiös bedeutsame Sachverhalte übertragen werden.
2.8 Diaspora
Jüdischer Bevölkerungsanteil
Seit dem babylonischen Exil waren in Mesopotamien und Ägypten zwei Diasporagruppen entstanden. Die nach dem Alexanderzug sich auch über Kleinasien, Syrien und Ägypten ausbreitende hellenistische Weltkultur, das ptolemäische und das seleukidische Reich ermöglichten und förderten zum Teil die Ansiedlung von Judäern außerhalb des judäischen Kerngebietes. Die Forschung beziffert die judäische 30 Cicero, Flacc. 28.
Diaspora
Bevölkerung in Palästina im 1. Jh. n. Chr. auf etwa 800.000 bis eine Million Einwohner. Philo nennt für Alexandria und Ägypten ebenfalls die Zahl Eine Million und spricht davon, dass etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung Alexandrias jüdisch gewesen sei.31 Die Angaben Philos sind wohl übertrieben. Da die Einwohnerzahl Alexandrias in dieser Zeit in der Forschung nur auf etwa 300.000 bis 500.000 geschätzt wird, wären davon ein Viertel doch eher ca. 100.000 Juden. Weiterhin belegen Inschriften und literarische Quellen jüdische Bewohner der an Palästina angrenzenden Provinzen Syrien und Kilikien. Für Kleinasien überliefert Josephus einen Brief des Antiochos III (223– 200 v. Chr.), in dem dieser die Anweisung erteilt, „2000 jüdische Haushalte” von Mesopotamien nach Lydien und Phrygien umzusiedeln, ihnen Land zu geben und ihnen die Befolgung ihrer eigenen Gesetze zu erlauben.32 Von diesen 2.000 im 3. Jh. v. Chr. umgesiedelten Familien stammen vermutlich auch die bereits oben genannten ca. 10.500 steuerpflichtigen jüdischen Männer des 1. Jh. v. Chr. ab, die in der Gegend um Laodikeia lebten. Auch Philo erwähnt, dass in Kleinasien und Syrien „Juden in großer Zahl in jeder Stadt“ lebten.33 Weitere Hinweise lassen sich aus Einzelnachrichten entnehmen, wie etwa die Information, dass Herodes der Große Abgaben kilikischer Kleinstädte übernommen habe, oder die Aufzählung judäischer Kolonien (gr. apoikia; ἀποικία) in Pamphylien und Kilikien durch Philo.34 Auf Philo geht auch die Aussage zurück, die Juden Judäas hätten den römischen Statthalter von Syrien gewarnt, dass die Missachtung des jüdischen Religionsgesetzes zu Aufständen der Juden weltweit führen könnte. Sie tragen vor: Philo, Gai. 215: Wäre es nicht höchst gefährlich, diese Massen (der Juden in Palästina und in der Diaspora) zu Feinden zu machen? Ach, nie geschehe es, dass sie, nachdem sie sich verbündet hätten, von allen Seiten zur Vergeltung vorrückten.
Die zahlreichen literarisch und inschriftlich belegten jüdischen Einzelpersonen und Gemeinden in der Antike lassen sich nur schwer zusammenfassen. Versuche, eine Gesamtzahl zu bestimmen, sind naturgemäß ungenau. Es ist jedenfalls mit einer eher städtisch orientierten Bevölkerung zu rechnen, die sich vor allem im Osten des Mittelmeerraums konzentriert. Wenn man zugrunde legt, dass ca. 31 Philo Flacc. 43. 32 Jos. Ant. 12,148–153. 33 Philo Legat. 245. 34 Jos. Bell. 1,428; Philo Legat. 281.
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Antikes Judentum
2 bis 5 % jüdischer Bevölkerungsanteil
20 % der Bevölkerung im Mittelmeerraum in Städten lebten und dass sich die jüdische Bevölkerung außerhalb Palästinas überwiegend ebenfalls in Städten ansiedelte, dann kann man unter Einbeziehung der Zahlen aus Alexandria und Palästina auf einen Bevölkerungsanteil von 2 bis 5 % im römischen Reich kommen. Die Frage, ob dieser große Bevölkerungsanteil allein auf natürliches Bevölkerungswachstum oder auch auf Mission und Ausbreitung des Judentums unter Nichtjuden zurückgehen kann, ist umstritten. Eine organisierte Mission ist nicht nachzuweisen (vgl. Mt 23,15), allerdings ging von den Formen jüdischen Lebens in der Diaspora auch eine Anziehungskraft aus. Josephus berichtet z. B., dass in Antiochien die Synagoge so attraktiv gewesen sei, dass „eine große Menge der Griechen zu ihren (der Juden) Gottesdiensten“ gekommen sei.35 Die Sprache des Diasporajudentums war Griechisch, ihre Bibel die Septuaginta, die aber nicht einfach als Übersetzung galt, sondern selbst als inspirierte Schrift betrachtet wurde. Aristeasbrief 310: Da gut und fromm und sehr genau übersetzt worden ist, ist es gut, dass sie so erhalten bleibe und keinesfalls eine Überarbeitung erfolge.
Synagoge
Diasporasynagoge
Das jüdische Leben der Diaspora kam ohne Opfer aus. Die Nähe zu Gott wurde vor allem in der Befolgung der Tora, ihrer Lesung im Synagogengottesdienst und im Gebet gesucht. Es ist nicht ganz klar, ab wann und auf welche Weise das Synagogengebäude bzw. der Ort der Gebetszusammenkunft als sakraler Ort verstanden wurde. Nach Levine leitet sich die Synagoge aus dem Tor der jüdischen Stadt ab, in dem Recht gesprochen wurde und wo sich die Ältesten versammelten.36 In der Diaspora fiel das Stadttor für die jüdische Minderheit als Versammlungsort aus. Die Synagoge trat an ihre Stelle als soziales und rechtliches Zentrum. Die religiöse Funktion als Ort des Gottesdienstes und Gebets habe sich später etabliert und die Vorstellung der Sakralität der Synagoge sei erst durch die Präsenz der Torarolle entstanden, deren Heiligkeit auf das jeweilige Gebäude übertragen worden sei. Andere Theorien leiten hingegen die Synagoge als Gebetsstätte aus der ägyptischen Diaspora ab, die das Vorbild aus ihrer Umwelt übernommen habe, und betonen den ursprünglich religiösen Charakter. Das Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora stellte jedenfalls die Synagogengemeinschaft dar, die sich als „Personengemeinschaft“ (gr. politeuma; πολίτευμα) versteht und sich an einem Ort 35 Jos. Bell. 7,45. 36 Levine, Ancient Synagogue, 41.
Sondergruppen
versammelt, der im Griechischen meist mit „Gebetsstätte“ (gr. proseuche; προσευχή) bezeichnet wird. Im ersten Jahrhundert n. Chr. existierten in der Diaspora bereits einige repräsentative Synagogengebäude. Oft wurden jedoch Privathäuser für die Synagogenversammlung genutzt. Das Bild, das Lk 4,16–30 von der Synagoge in Nazareth zeichnet, scheint hingegen unhistorisch zu sein. Lukas überträgt die Verhältnisse der Diaspora der Jahre 80–90 n. Chr. auf das Galiläa der 30er Jahre. Im Nahbereich des Jerusalemer Tempels, d. h. in Judäa, sind Gebäude, die als Synagogen interpretiert werden können, nur für jüdische Sondergruppen belegt. Erst nach der Tempelzerstörung entstehen in größerem Ausmaß auch Synagogengebäude in Judäa und besonders in Galiläa. Das Judentum hatte sich ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. über andere Länder verteilt. Dieses sogenannte Diasporajudentum blieb an die Zentren jüdischen Selbstverständnisses in Palästina, besonders an die Stadt Jerusalem und den Tempel, rückgebunden. Es brachte aber auch eigenständige religiöse und kulturelle Institutionen hervor, wie etwa die Synagoge, die Tempelsteuer, Bibelübersetzungen, religiöse Literatur in Griechisch und die Auseinandersetzung mit hellenistischen Denk- und Lebensweisen.
2.9 Sondergruppen Die religiösen Sondergruppen haben sich im Zuge eines Prozesses der inneren Diversifizierung des Judentums des Zweiten Tempels gebildet. Pharisäer, Sadduzäer, Essener und weitere Gruppierungen werden von Josephus als Sekten oder Sondergruppen (gr. hairesis; αἵρεσις) des Judentums und ihre Mitglieder als Sektierer, Anhänger (gr. hairetistai; αἱρετισταί) bezeichnet.37 Philo macht uns mit zwei Gruppierungen vertraut, die sich ebenfalls als Sondergruppen von der Mehrheit abgrenzen. Er nennt zum einen die Essaier oder Essener (gr. Essaioi; Ἐσσαίοι), die eine praktische und aktive Lebensführung bevorzugen, und zum anderen die „Therapeuten und Therapeutinnen“ (gr. therapeutai; θεραπευταί), die sich gemäß ihrer „Lebensweise als Philosophen“ mit dem beschaulichen Leben (gr. theoria; θεωρία) befassen.38 In den Textfunden von Qumran begegnet eine Klasse von Texten, die eine weitere Sondergruppe vorstellt, die sich als „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; )יחדin Abgrenzung von der Mehrheit des judäischen 37 Jos. Bell. 2,118–119; Ant. 13,371–373; 18,10–23. Vgl. Mason, Introduction, XXXI. 38 Philo Contempl. 1–2. Vgl. Taylor, Jewish Women Philosophers.
„Sekten"
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Antikes Judentum
yahad und ekklesia
Judentums versteht.39 Vor diesem Hintergrund jüdischer Sondergruppen sind auch die Gemeinschaften der ersten Christusanhänger zu verstehen, die vom Apostel Paulus in seinen Briefen als „Versammlung“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία), „Versammlung Gottes“ oder „Versammlung Christi“ angesprochen werden (Phil 4,15; 1Kor 1,2; Röm 16,16). Unter diesen Gemeinschaften nehmen die von Paulus, dem Apostel der Völker, gegründeten Gemeinden als „Versammlungen der (nichtjüdischen) Völker“ wiederum eine Sonderstellung ein.40 Für die nähere Charakterisierung der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen folge ich zunächst dem Schema, das Neusner entwickelt hat.41 Er beschreibt die Gruppen nach den Kriterien: soziale Zugehörigkeit, Binnenstruktur, sozialer Ort und Toraverständnis. Man kann erkennen, dass das Toraverständnis hier zum zentralen Kriterium bezüglich der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen wird.
Tab. 1: Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu Name
Soziale Zugehörigkeit
Sozialer Ort
Toraverständnis
Sadduzäer Tempelaristokratie/ Priesterfamilien Oberschicht
Tempel
Kultgesetz
Pharisäer
Volksbewegung/ Mittelschicht
Synagoge, Lehrhaus
Alltagsgesetz
Zeloten
Polit.-messianisch/ AufstandsUnspezifisch bewegung
Politische Nation
Nationales Gesetz
Essener
Priester im Exil und Anhänger
Esoterische Gemeinschaft
Alltagsgesetz und Endzeitordnung
nichtjüdische Ethnien
Binnenstruktur
Lehrer – Schüler
Stufen der Heiligung
Schließlich wirkt auf die Binnenkommunikation des antiken Judentums auch das weitere soziale, kulturelle und politische Umfeld ein. Als nichtjüdische Ethnien in Judäa, Samaria und Galiläa sind zu nennen: Samaritaner (religiös definierte Ethnie); Samarier (Bewohner von Samaria); „Syrer“ (nichtjüdische Einwohner überwiegend in den Küstenstädten Caesarea, Tyrus, Sidon); Römer (Mitglieder der röm. Administration, Kaufleute, Soldaten) und „Griechen“ oftmals synonym mit „Syrer“ (Angehörige der hellenisierten Stadtbevölkerung). 39 4Q255 (= 1QS): Buch der Regel der Gemeinschaft (hebr. sepher serech hayahad; )ספר סרך היחד. Vgl. Schofield, From Qumran to the Yahad, 217 f. 40 Röm 16,4. Daneben unterscheidet Paulus im Rahmen seiner Briefkommunikation die Versammlungen auch nach geographischen Gesichtspunkten, z. B. die „Versammlung der Thessalonicher“ (1 Thess 1,1) oder die „Versammlungen Galatiens“ (Gal 1,2). 41 Neusner, Judentum in frühchristlicher Zeit, 26–30.
Sondergruppen
Neusner konzentriert sich auf das Toraverständnis der oben genannten vier Gruppen. Eine nähere Untersuchung muss noch weitere Gesichtspunkte heranziehen, um der Vielfalt von Sondergruppen gerecht zu werden. Nach Cohen beginnt mit der Zeit der Makkabäer und damit ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. ein Prozess der Diversifizierung des Judentums, die er mit dem positiv konnotierten Begriff der „Demokratisierung der Religion“ näher kennzeichnet.42 Diese Sondergruppen grenzten sich von der Mehrheitsgemeinschaft des Judentums ab, ohne sich von dieser zu trennen. Vielmehr verstanden sie sich als elitäre Gruppen, in denen das Selbstverständnis der Mehrheitsgruppe besonders angemessen zum Ausdruck käme. Cohen schlägt folgende Definition vor:
Demokratisierung
„Eine religiöse Sondergruppe („sect“) ist eine kleine organisierte Gruppe, die sich selbst von der größeren religiösen Gemeinschaft abgrenzt und die Behauptung vertritt, dass sie alleine die Ideale der größeren Gruppe verkörpere, weil nur sie alleine den Willen Gottes verstehe.“43
In dieser Definition wird die religiöse Sondergruppe als eine Gemeinschaft definiert, die eine spannungsvolle Beziehung zur Mehrheitsgruppe aufrechterhält. Sie repräsentiert die Ideale, die eigentlich von allen wahrgenommen werden sollten, und folgt damit alleine dem Willen Gottes, womit ein bestimmtes Toraverständnis miteingeschlossen ist. Auf dieser Basis wird näherhin diskutiert, welche bestimmten Elemente zur Abgrenzung und welche zur Aufrechterhaltung der Beziehung zur Mehrheitsgruppe geeignet sind. Lim nennt in seinen Überlegungen zur Sondergruppenmatrix („sectarian matrix“) folgende Sachverhalte, die die Identität einer Sondergruppe innerhalb der weiten Grenzen des Judentums des Zweiten Tempels bestimmen: Trennung von der Mehrheit, besondere religiöse und ethische Überzeugungen, die Hervorhebung bestimmter biblischer Texte, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale.44 Vor diesem religionssoziologischen Hintergrund, der die ekklesia, d. h. die Sondergruppe der Christusanhänger im Kontext der jüdischen Sondergruppen des Judentums des Zweiten Tempels, versteht, sind auch die paulinischen Gemeinden zu analysieren. Diese kann man aufgrund einer ihrer exklusiven Besonderheiten, der Bereitschaft Nichtjuden aufzunehmen, ja geradezu anzuwerben, als Konversionsgruppe („conversionist group“) bezeichnen.45 42 Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 160. 43 Cohen, From the Maccabees to the Mishnah, 125. 44 Lim, Description of the Sectarian Matrix, 7 f. 45 Regev, Temple and Righteousness, 81.
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Sondergruppenmatrix
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Antikes Judentum
Judentum und Christentum
Die Entwicklung des frühen Christentums ist nun nicht so vorzustellen, dass das antike Judentum zwar auf Jesus von Nazareth oder die erste Gemeinde eingewirkt habe, nach dem Auftreten Jesu aber eine christlich-neutestamentliche Binnenentwicklung eingesetzt habe. Ein solches Bild vermittelt z. B. Schnelle, wenn er behauptet, „dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde“.46 Der historische Gehalt dieser Aussage, dass kein Jude vor und nach Jesus solch hohe Ansprüche vertreten hätte, ist leicht zu widerlegen. Das Judentum kennt messianische Figuren wie z. B. Simon Bar Kochba (bis 135) oder Sabbatai Zwi (1626–1676), die sich im Gegensatz zu Jesus selbst als Messiasse proklamierten. Außerdem brachte es weitere herausragende religiöse Persönlichkeiten hervor. So wird vom Begründer des neuzeitlichen Chassidismus Israel Ben Eliezer, auch bekannt als Baal Schem Tov (ca. 1700–1760), und seinen Nachfolgern berichtet, dass ihnen die Dämonen untertan waren. Zudem bewirkten sie durch die mystische Verschmelzung mit Gott die Erlösung der Seelen ihrer Anhänger nach dem Tod und sicherten durch die Kraft ihrer eigenen Seelen den Bestand aller sieben Firmamente.47 Wichtiger als diese historische Relativierung der Aussage Schnelles in Blick auf das Judentum ist es aber, dem Eindruck entgegenzutreten, dass mit Jesus von Nazareth eine vom Judentum weitgehend abgeschottete eigenständige Entwicklung des Christentums begonnen habe. Jesus hätte demnach durch seinen „ungeheuren Anspruch“ eine implizite Christologie zum Ausdruck gebracht, die die „frühchristliche Theologiebildung“ durch Transformationen bis zu einer vollendeten Gestalt der „Jesus-Christus-Geschichte“ im Johannesevangelium entwickelt hätte.48 Eine solche im Kern autonome Entwicklung der Christologie bzw. Theologie des Neuen Testaments ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr ist es so, dass jede Phase der neutestamentlichen und frühchristlichen Entwicklung zu den verschiedenen Formen des antiken Judentums in der jeweiligen historischen Epoche und geographischen Lage weiterhin unmittelbar und grundlegend in Beziehung steht. Die Jesusgemeinschaften werden demnach von den vielfältigen Formen des antiken Judentums auch nach Kreuz und Auferstehung Jesu weiterhin maßgeblich beeinflusst.
46 Schnelle, Theologie, 136. 47 Buber, Erzählungen der Chassidim, 15–110; Grözinger, Jüdisches Denken 2, 709–753. 48 Schnelle, Theologie, 707.
Ergebnis und Ausblick
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Etwa ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. entstehen jüdische Sondergruppen, die sich zwar nicht vom Mehrheitsjudentum vollständig abspalten, aber doch die Vorstellung vertreten, dass sie die Ideale des Judentums am besten repräsentieren. Wichtige Formen und Bereiche, in denen Eigenständigkeit zum Ausdruck gebracht wird, sind: Separierung, besondere ethische Überzeugungen, Konzentration auf einige wenige biblische Aussagen, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale. Die ersten Gemeinschaften der Jesusanhänger sind ebenfalls als jüdische Sondergruppen zu verstehen.
2.10 Ergebnis und Ausblick Eine Theologie des Neuen Testaments kann nicht darauf verzichten eine Sicht des Judentums zu entwickeln, da die Autoren der neutestamentlichen Schriften und deren Gemeinden zu diesem in enger Beziehung standen. Sie wird auch reflektieren, welche Formen und Anschauungen des antiken Judentums jeweils in den einzelnen neutestamentlichen Schriften aufgenommen und thematisiert werden. Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften ist nicht nur Ausdruck einer inneren Entwicklung des entstehenden Christentums, sondern auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit Anschauungen, die von verschiedenen Gruppen des antiken Judentums vertreten werden. Jesus und Paulus stehen vor den Fragen, die sich das Judentum des Zweiten Tempels stellt. Das Matthäusevangelium ringt mit dem pharisäischrabbinischen Judentum gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte reflektieren die Haltungen des hellenistischen Diasporajudentums dieser Zeit. Die Johannesoffenbarung ist von den Sichtweisen des kleinasiatischen Judentums geprägt. Es ist deswegen unangemessen, dem antiken Judentum ein Defizit nachweisen zu wollen, für das Jesus, Paulus oder das frühe Christentum insgesamt die Lösung angeboten hätten. Eine solche Sichtweise klingt an, wenn Theißen das Judentum als „rituelle Religion“ bezeichnet, die Jesus „revitalisiert“, ja „neu belebt“ habe, als ob das Judentum zur Zeit Jesu nicht genau das war: vital und lebendig.49 Die Dynamik der Entwicklung wird vielmehr von Räisänen richtig beschrieben: Zur Zeit Jesu teilten viele im Judentum die Erwartung einer „großen Wende“.50 Die Diskrepanz zwischen den Aussagen über Israel, den Tempel und das Volk der Gerechten Gottes etwa in 49 Theißen, Religion der ersten Christen, 59 u. 62. 50 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 83–86.
antikes Judentum
Erwartung der Wende
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Antikes Judentum
Dezentrierung der Gottesvorstellung
Kreuzigung Jesu
Ps 146–150 und der politischen und sozialen Realität der Juden in Judäa und Samaria verbunden mit der Erwartung einer Rückkehr der weltweiten Diaspora führte immer wieder zu religiös-ethnisch motivierten politischen Konflikten. Diese Konflikte können als Ausdruck der Vitalität und Lebendigkeit des antiken Judentums verstanden werden und bilden den Rahmen für religiös-politische Kontroversen, die auch im Neuen Testament thematisiert sind (Mk 6,14–16; Lk 13,1 f.; 23,5.25; Joh 19,12; Apg 5,36 f.; 21,38). Die Lebendigkeit und Vielfalt des antiken Judentums wirken sich auch auf die Ausbildung der Christologie aus. Dunn hebt hervor, dass die frühe Christologie „mit der Reflexion der Gottesvorstellungen des Judentums des Zweiten Tempels übereinstimmt und zu ihr gehört“.51 Es ist sinnvoll, diesen Gedanken nicht auf die Anfänge zu beschränken, sondern auf die weitere christologische Entwicklung auszuweiten. Die Christologie ist Ausdruck der energischen Auseinandersetzung um die Frage, in welcher Beziehung Gott zu Israel und zur Menschheit steht.52 Dabei ist zu beachten, dass im antiken Judentum die Dezentrierung der monotheistischen Gottesvorstellung bereits weit fortgeschritten ist. Dezentrierung bezeichnet den Vorgang der Ausweitung der Gottesvorstellung von der einen Figur des handelnden und richtenden Gottes auf eine Vielfalt von räumlich und figürlich vorgestellten Handlungsräumen und -trägern des göttlichen Willens.53 Je transzendenter Gott selbst vorgestellt wird, desto zahlreicher werden die Vermittlungsinstanzen, die seinen Willen und seine Macht erfahrbar machen. Die räumlichen Vorstellungen über den Thronsaal Gottes und das himmlische Heiligtum waren zur Zeit Jesu bereits weit entwickelt. Dort begegnen himmlische Heerscharen, Engel, Erzengel und der Engel des Herrn. Die Sabbatopferlieder (4Q 400–407; 11Q17) stellen einen himmlischen Gottesdienst vor, der kosmische Dimensionen erreicht. In der aus diesen Texten zu erschließenden Liturgie verschmelzen die himmlische und die irdische Welt im Gottesdienst. Diese Hymnen berichten vom Zusammenströmen von Priestern und Engeln, gottähnlichen Wesen (hebr. elohim und elim) und weiteren Figuren unter der „Anweisung des Königs“.54 Die Dezentrierung der Gottesvorstellung war im antiken Judentum in vollem Gang. Sie entwickelte sich während der Entstehung der neutestamentlichen Schriften weiter, ohne allerdings die Entscheidung des 51 Dunn, New Testament Theology, 68. 52 Mach, Concepts of Jewish Monotheism, 24 f.; Stuckenbruck (Hg.), Early Jewish and Christian Monotheism, 2. 53 Bormann, Monotheismusdebatte, 30–34. 54 Davidson, Angels at Qumran, 247–253.
Literatur
frühen Christentum zu übernehmen, dass der galiläische Jude Jesus von Nazareth nach seinem schmählichen Kreuzestod in diesen Thronraum Gottes erhöht worden sei und dort eine hervorragende Machtstellung „zur Rechten Gottes“ einnehme (Rezeption von Ps 110,1 in Röm 8,34; 1Kor 15,25; Eph 1,20; Kol 3,1). Diese Entscheidung, Jesus von Nazareth als wesentlichen Bestandteil des Thronraums Gottes, der als Macht- und Willenszentrum Gottes galt, zu verstehen, führt zu weiteren theologischen Reflexionen über Grundüberzeugungen des Judentums des Zweiten Tempels. Wright verweist etwa darauf, dass die Vorstellung der Rechtfertigung als Reflexion des Paulus über den Ort der Tora im bundestheologischen Denken zu interpretieren sei, „das Paulus kannte und als Basis seines fortdauernden Dialogs mit dem Judentum voraussetzte“.55 Wenn es ein „Problem“ gab, auf das das antike Judentum keine angemessene Antwort gefunden hat – eine solche Fragestellung verbindet historische und normative Gesichtspunkte – dann wird man am ehesten davon sprechen können, dass das Judentum für Nichtjuden keine angemessene Stellung gefunden habe.56 Die Bedeutung der Nichtjuden für den Gott Israels und für das Judentum blieb eine offene Frage, deren Beantwortung zwar im Judentum selbst nicht als dringlich empfunden wurde, die aber dennoch auf eine überzeugende Antwort wartete. Literatur Ådna, Jostein: Jerusalemer Tempel und Tempelmarkt im 1. Jahrhundert n. Chr., Wiesbaden 1999 (ADPV 25). Austermann, Frank: Von der Tora zum Nomos. Untersuchungen zur Übersetzungsweise und Interpretation im Septuaginta-Psalter, Göttingen 2003 (AAWG.PH 3,257). Belayche, Nicole: Iudaea – Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Tübingen 2001 (RRP 1). Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus 3, München 2010. Bormann, Lukas: Diversity by Rewriting. The Divine Characteristics as Part of the Identity Concept of Jewish Groups in Second Temple Judaism, in: Antti Laato/Jacques Van Ruiten (Hg.), Rewritten Bible Reconsidered, Winona Lake 2008 (SRB 1), 103–123. Ders.: Jüdische oder römische Perspektive? Neue Studien zum römisch dominierten Judäa – Ein kritischer Literaturbericht, in: ZRGG 61 (2009), 105–123.
55 Wright, Rechtfertigung, 62. 56 Boyarin, A Radical Jew, 51 f.
Problem der Nichtjuden
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Antikes Judentum
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3 Jesus von Nazareth
Abb. 3: Grundriss des Gehöfts eines wohlhabenden Landbewohners mit Wirtschafts- und Wohnräumen, Hoffläche, Olivenpressen, Weinpresse und Zisternen aus dem südlichen judäischen Bergland (Anab al-Kabir).
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Jesus von Nazareth
3.1 Einführung
Welt Jesu
Erinnerter Jesus
Verkündigung Jesu
Jesus von Nazareth zog durch „Dörfer, Städte und Gehöfte“ (Mk 6,56). Die reale Welt seines Wirkens als Verkündiger und Wundertäter waren die Häuser und Siedlungen jüdischer Männer und Frauen, die ihren Alltag nicht zuletzt zwischen Vorratshaus, Olivenpresse, Zisterne und Kleinvieh verbrachten. Das oben abgebildete Gehöft eines wohlhabenden Landbewohners im judäischen Bergland soll einen Eindruck von der agrarisch geprägten Welt vermitteln, aus der die literarische Überlieferung zu Jesus hervorgegangen ist. Der Besitzer eines solchen Gehöfts war meist reich und lebte in der Stadt. Er überließ die Verwaltung seiner landwirtschaftlichen Gehöfte einem Verwalter. Dieser leitete und beaufsichtigte die tägliche Arbeit, die von Männern und Frauen als Knechten und Mägden oder Sklaven und Sklavinnen geleistet wurde. Diese bildeten wiederum eine weitgehend autarke Arbeits- und Lebensgemeinschaft unter der Leitung des Verwalters. Die Überschüsse der Produktion wurden als Markterlös oder Naturalien an den reichen Besitzer in der Stadt geliefert. Viele dieser alltäglichen Sachverhalte werden in der Verkündigung Jesu thematisiert und mit seiner Botschaft von der Königsherrschaft Gottes verbunden, etwa das Kneten von Brotteig, die Arbeit an einer Mühle, die Sorge um das Kleinvieh oder die Abwesenheit des Besitzers eines Landguts (Q 12,42–46; 13,20 f.; 15,4; 17,35; 19,15). Die Verkündigung Jesu ist in den Evangelien und damit im Rahmen biographischer Erzählungen überliefert. Die Evangelienverfasser schaffen damit eine neue Literaturgattung: die Jesuserzählung bzw. das Evangelium. In ihnen kommt vor allem die Erzählperspektive der Evangelienverfasser zum Ausdruck. Sie entwerfen mit literarischen Mitteln ihrer Zeit ein Bild vom Wirken Jesu bzw. einen sogenannten erinnerten Jesus: „Die synoptische Überlieferung bietet Belege nicht so sehr für das, was Jesus tat oder sagte, sondern für das, dessen sich die ersten Jünger von dem, was Jesus tat und sagte, erinnerten.“1 Die Jesuserzählungen der Evangelisten enthalten auch umfangreiche Wortüberlieferungen, die als Aussprüche Jesu präsentiert werden. Diese Aussprüche können zum Teil als historischer Gehalt des von den Evangelienverfassern Erinnerten auf Jesus von Nazareth zurückgeführt werden. Es handelt sich dabei oft um Aussagen, die sprachlichen Formen folgen, die für das aramäischsprechende Judentum charakteristisch sind. An erster Stelle steht hier der Einzelspruch, hebr. maschal ( )משלund gr. parabole (παραβολή, dt. Parabel), der als Spruch bzw. Logion oder als ausgeführtes Bildwort bzw. Gleichnis 1 Dunn, Jesus Remembered, 130.
Historische Grundlagen
begegnet. Jesus wählt mit dem maschal oder Bildwort eine Sprachform, die für seine Verkündigung besonders geeignet ist. In ihr werden alltägliche oder plausibel erscheinende menschliche Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen aufgegriffen, verfremdet, neu interpretiert und auf die Botschaft der Königsherrschaft Gottes ausgerichtet. Der maschal ist eine in sich geschlossene semantische und syntaktische Wortfolge, die etwas bedeutet, was sich dem Sinn konstituierenden Lesen/Hören alleine nicht erschließt, sondern weitere kognitive Operationen, wie z. B. den Vergleich und den Bedeutungstransfer erfordert. Jesus wählt eine Sprachform, die die Adressaten in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Wirklichkeitswahrnehmung zu Ablehnung, Kritik oder Zustimmung auffordert. Das rhetorische Ziel der Sprüche Jesu ist das Einverständnis in die neue Wirklichkeitswahrnehmung, die im Horizont der Königsherrschaft Gottes so grundlegend verändert ist, dass in ihr Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe als Ausdruck des Willens Gottes zum Zuge kommen.
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Königsherrschaft Gottes
3.2 Historische Grundlagen Die Frage, ob Jesus von Nazareth Teil einer Theologie des Neuen Testaments sein kann, ist daran zu entscheiden, ob sich die Gedankenwelt Jesu hinreichend sicher historisch rekonstruieren lässt. Die ältere Forschung neigte zu dem Urteil, dass man die Verkündigung Jesu einigermaßen gut, sein Leben aber kaum zuverlässig darstellen könne. Tatsächlich ist der Bestand der Verkündigung Jesu, der sich aus der synoptischen Überlieferung entnehmen lässt, nur wenig umstritten, auch wenn dessen Deutungen, etwa ob sie vor allem auf die Zukunft, d. h. eschatologisch, oder auf die Gegenwart, d. h. weisheitlich, ausgerichtet ist, divergieren. Aufgrund der großen theologischen Bedeutung, die die Forschung des vergangenen Jahrhunderts der Verkündigung Jesu beimaß, wurde fast um jedes einzelne Wort gerungen, z. B. ob Jesus das Wort „Lösegeld“ (gr. lytron; λύτρον) in Mk 10,45 gesagt und auf seine Lebenshingabe bezogen habe.2 Dabei stand in einer Zeit, in der man die Klärung methodischer Fragen als Königsweg zur Wahrheit verstand, die Diskussion um die Kriterien, nach denen die Authentizität der Jesusworte bestimmt werden könnte, im Mittelpunkt. Die Forschung bis in die frühen siebziger Jahre folgte dem sogenannten Differenzkriterium oder Unableitbarkeitskriterium, wie es Käsemann hier beschreibt: 2 Stuhlmacher, Biblische Theologie 1, 120–122.
Authentizität der Jesusüberlieferung
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Jesus von Nazareth
„Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat.“3
unmessianischer Jesus
Jesus als Jude
In Bezug auf das frühe Christentum berücksichtigt dieses Kriterium die exegetische Beobachtung, dass Jesus sich in der ältesten Überlieferung niemals als Messias/Christus oder gar als Sohn Gottes bezeichnet und auch vom Menschensohn nur in der dritten Person spricht. Die Verkündigung Jesu war demnach unmessianisch.4 Die in diesem Kriterium zum Ausdruck gebrachte Abgrenzung vom Judentum kann hingegen nicht durch die neutestamentlichen Texte begründet werden. Jesus wird durchweg als ein Jude seiner Zeit dargestellt. Die alleinige Anwendung des Differenzkriteriums führt zu einem unjüdischen und oft genug zu einem antijüdischen Jesusbild, z. B. bei Ernst Käsemann oder Günther Bornkamm.5 Neben diesem methodischen Einwand gegen dieses Kriterium ist aber eine andere Entwicklung von weit größerer Bedeutung. Das Wissen über die Vielfalt des antiken Judentums ist in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen. Das führt dazu, dass die Forschung bestimmte Haltungen wie die Kritik am Jerusalemer Tempel oder Abweichungen im Verständnis von Speisegeboten, der Reinheitstora oder dem Sabbatgebot nicht mehr als grundsätzliche Gegnerschaft zu Tempel, Tora oder gar dem Judentum überhaupt interpretiert, sondern vielmehr als Teil des Diskurses um die Fassung der Tora und um die Konkretisierung von Torageboten versteht.6 Jesus von Nazareth ist demnach historisch dann angemessen dargestellt, wenn die rekonstruierten Überzeugungen und Verhaltensweisen innerhalb der Vielfalt des antiken Judentums plausibel und auch in ihren kritischen Akzenten als Ausdruck innerjüdischer Kontroversen verstehbar bleiben. Dafür ist von Theißen der Begriff „historische Kontextplausibilität“ vorgeschlagen worden.7 Dort, wo Jesus Anschauungen des Judentums seiner Zeit wiedergibt, etwa in seinem Gottesverständnis oder bezüglich seiner Schöpfungsvorstellung (Mk 10,6–8; Mt 5,34 f.), spricht man von kontextueller Korrespondenz, d. h. die Aussagen und das Verhalten Jesu stimmen (korrespondieren) mit 3 4 5 6
Käsemann, Problem des historischen Jesus, 206. Bultmann, Theologie, 27. Merkel, Zwei Jahrzehnte Jesusforschung, 80–82. Dunn, Jesus Remembered, 609. Vgl. Klawans, Purity, Sacrifice, and the Temple, 247–254. 7 Theißen/Merz, Historischer Jesus, 116–120.
Historische Grundlagen
den Erwartungen seiner Umwelt (Kontext) überein. Dort, wo Jesus Ansichten äußert, die als kritische Beiträge zum innerjüdischen Diskurs erscheinen, etwa bezüglich der Frage von rein und unrein (Mk 7,15), beurteilt man diese Aussagen als kontextuelle Individualität oder kontextgebundene Besonderheit, d. h. die Aussagen Jesu sind zwar ungewöhnlich (individuell), aber doch vorstellbar (kontextplausibel) innerhalb seiner Umwelt.8 Die Unterscheidung der jesuanischen Verkündigung von den Anschauungen des frühen Christentums wird hingegen nach wie vor so vollzogen, dass die in den Evangelien berichteten Aussagen und Verhaltensweisen Jesu, die das spätere Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes voraussetzen oder ihm eine damit kohärente gehobene Bedeutung zuweisen, eher als Ausdruck des Bekenntnisses der Gemeinde (Gemeindebildung) zu verstehen sind und historisch nicht auf die Verkündigung Jesu zurückgeführt werden können. Wenn allerdings Aussagen festgehalten sind, die mit dem Bekenntnis übereinstimmen, etwa über Jesus als Wunderheiler, in denen aber auch tendenzwidrige Züge zu erkennen sind, etwa dass Jesus für die Heilung eines Blinden seinen Speichel verwendet (Mk 8,23), haben diese eine hohe historische Glaubwürdigkeit. In Bezug auf das Leben Jesu sind, gemessen an dem, was man gerne aus einer Biographie erfahren würde, nur einige wenige Sachverhalte deutlich benennbar. Bei der Näherbestimmung dieser historisch wahrscheinlichen Ereignisse im Leben Jesu wird man sich zunächst auf diejenigen beschränken, die sowohl in der Erzählüberlieferung der Evangelien als auch in der Verkündigung Jesu einen Anhaltspunkt haben. Wenn also z. B. von Jesus erzählt wird, er habe die Taufe von Johannes empfangen (Mk 1,9–11), und auch in der Verkündigung Jesu der Täufer erwähnt wird, etwa als der Größte „unter den von Frauen geborenen“ (Lk 7,28), dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Jesus in einer Beziehung zum Täufer stand. Unter diesem Gesichtspunkt sind sechs biographische Geschehnisse als historisch sehr wahrscheinlich hervorzuheben: 1. Die Beziehung zu Johannes dem Täufer (Mk 1,9–11; Q 3,2–7,35), 2. Jesu Aufenthalt in Galiläa, bes. in Kapernaum (Mk 1,9.14; Q 7,1; 10,13–15), 3. Seine Heilungen und Exorzismen (Mk 1,23–34; Q 10,13–15; 11,14–20), 4. Die Bildung einer Jüngergemeinschaft und evtl. auch die darauf bezogene Zwölfzahl (Mk 3,13–19; Q 22,30), 5. Der Weg nach Jerusalem (Mk 11,1–10; Q 13,34), 6. Der Besuch des Tempels (Mk 14,58; Mk 11,15–17).9 8 Ebner, Jesus von Nazaret, 19. 9 Bormann, Menschensohn, 125; Collins/Collins, King and Messiah, 170; Sanders, Jesus and Judaism, 11.
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Gemeindebildung
Biographie Jesu
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Jesus von Nazareth
3.3 Königsherrschaft Gottes Die „Königsherrschaft Gottes“ ist die zentrale Vorstellung, um die sich die Theologie Jesu von Nazareth gruppiert. Ihr Gehalt, die Errichtung der Herrschaft des Schöpfers, bestimmt auch das Gottesverständnis. Aus ihr wird die Ethik der Köngisherrschaft abgeleitet, die von den Menschen im Umgang mit dem Nächsten die Nachahmung der barmherzigen Fürsorge des Schöpfers fordert. 3.3.1 Königsherrschaft im Hellenismus und im Judentum
basileia tou theou
Die Wendung „Königsherrschaft Gottes“ ist eine quellensprachlich orientierte Übersetzung der griechischen Wendung basileia tou theou (βασιλεία τοῦ θεοῦ). Anders als die traditionelle Übersetzung mit „Reich Gottes“ (z. B. Luther) nimmt sie den bildhaften Anteil des griechischen Wortes, nämlich „König“, auf. Im Griechischen bezeichnet basileia, Königsherrschaft, den durch die Befehlsgewalt eines Königs bestimmten sozialen, rechtlichen, politischen und religiösen Handlungsraum. Die Vorstellung vom Königtum ist im Hellenismus seit Philipp von Makedonien und Alexander dem Großen als Gegenbegriff zur Stadtgemeinschaft bzw. Staat (gr. polis; πόλις) ausgeprägt worden. Zum Verstehenshintergrund gehört die hellenistische Vorstellung vom „charismatischen Königtum“, nach der der König Wohltäter, höchster Richter, Gesetzgeber und Garant des religiösen Kultes zugleich ist.10 Gehrke fasst pointiert zusammen: „Die basileia (Königsherrschaft) ist der König“.11 Die Verbindung des Wortes „Königsherrschaft“ mit dem Genitivattribut „Gott“ führte dann zur Übersetzung mit „Königsherrschaft Gottes“ oder verkürzt mit „Gottesherrschaft“. Die basileia ist demnach ein von einer Person, dem König, dominierter Bereich, eben das Reich, über das der hellenistische König in allen Belangen die Herrschaft hat. Der Bereich der basileia ist nicht in erster Linie räumlich und durch Grenzen definiert vorzustellen, sondern ist vor allem durch die Reichweite der königlichen Befehlsgewalt bestimmt. Die basileia wird nicht vorrangig als die im König konzentrierte Herrschermacht (funktional: Königsherrschaft) verstanden oder als das Gebiet, das ihm durch Grenzen zugewiesen ist (geographisch: Königreich), sondern meint vielmehr den sozialen und politischen
10 Bormann, Recht, 35–39. 11 Gehrke, Geschichte des Hellenismus, 48.
Königsherrschaft Gottes
Raum seiner Machtausübung und damit den Bereich, in dem seine königliche Macht uneingeschränkt wirksam ist. Die Königsherrschaft wird als eine dem Menschen gegenüber wirksame Macht aufgefasst, die sich als heilvoll, friedensbringend, rechtschaffend und wohltätig erweisen kann, aber auch als unheilvoll, kriegführend, willkürlich und vernichtend. Die basileia ist die Welt in ihren tatsächlichen Machtdimensionen und deren symbolischen Inszenierungen (Herrscherrituale) und Repräsentationen (Insignien). In biblischer Tradition wird die Vorstellung der Königsherrschaft mit dem Schöpfungsgedanken verbunden und so auf „Himmel und Erde, und alles, was darinnen ist“ (Ps 146,6; Apg 17,24) übertragen. Das wird besonders in der Variante „Königsherrschaft der Himmel“ oder traditionell „Himmelreich“ (gr. basileia ton ouranon; βασιλεία τῶν οὐρανῶν), die im Matthäusevangelium (Ausnahme: Mt 12,28; 21,31.43; vgl. 6,33; 19,24) und im rabbinischen Judentum verwendet wird, deutlich. „Himmel“ ist in dieser Wendung eine Umschreibung des Gottesnamens, die auf der Vorstellung beruht, dass der Himmel der Thron Gottes ist (Ps 11,4; 103,19). Jes 66,1 thematisiert die Inszenierung Gottes als Schöpfer und königlichen Herrscher:
Machtbereich des Königs
Himmelreich
Jes 66,1: So spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße.
In Mt 5,34 f. wird dieser Gedanke von der Himmel und Erde umfassenden Herrschaft Gottes von Jesus aufgenommen und mit dem Königstitel verbunden: Mt 5,34 f.: Ich aber sage euch: Schwört gar nicht, weder beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, noch bei der Erde, den sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs (d. i. Gott). Die Königsherrschaft Gottes bezeichnet den sozialen und politischen Handlungsraum, in dem Gott die alles bestimmende Instanz ist. Dieser Handlungsraum umfasst die ganze Schöpfung, über die Gott als König seine Herrschaft ausübt. In diesem theozentrischen Weltbild ist der eine und einzige Gott als der Schöpfer, Erhalter und Herrscher über seine ganze Schöpfung das alles entscheidende Gegenüber des Menschen.
Die Königsherrschaft Gottes ist zudem durch Inhalte bestimmt, die ihre prägende Vorgeschichte im biblischen Psalter haben. Die Redak-
Armentheologie
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Jesus von Nazareth
tion des Psalters vertrat eine Theologie, die das Kommen eines messianischen Königs nach dem Vorbild Davids und die Errichtung der „Königsherrschaft Gottes“ (hebr. malkut JHWH; )מלכות יהוהfür die „Armen“, die zugleich als fromm und gerecht galten, erwartete. Die Eigenschaften dieser Königsherrschaft werden ebenfalls in den Psalmen näher geschildert. Insbesondere die Psalmen 145 und 146–150 sind hier bedeutsam. Ps 145 gilt als eine Zusammenfassung der Theologie des Psalters und die Psalmen 146–150, das Schlusshallel, als der Ausblick auf das Anbrechen der Königsherrschaft Gottes.12 Diese Herrschaft geht vom Zion bzw. Jerusalem aus und befreit Israel von seinen Feinden. In dieser machtvoll gesicherten Herrschaft erweist sich der barmherzige Schöpfer als fürsorglich gegenüber allen, die seiner Hilfe bedürfen, und als machtvoll gegenüber denjenigen, die diese gute heilvolle Herrschaft gefährden. In Ps 145, einem Alphabet-Akrostichon (jede Zeile beginnt mit einem Buchstaben, die zusammengenommen die Abfolge des Alphabets bilden), dessen theologischer Gehalt der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu besonders nahesteht, wird diese Herrschaft so dargestellt: Ps 145,11–13 כ/Kaph 11: Sie sagen von der Herrlichkeit deiner Königsherrschaft und von deiner Kraft reden sie, ל/Lamed 12: um den Menschen deine Kraft zu verkündigen und den herrlichen Glanz deiner Königsherrschaft. מ/Mem 13: Deine Königsherrschaft ist eine Königsherrschaft für alle Ewigkeit. Und dein Herrschaftsgebiet gilt von jedem Geschlecht zu Geschlecht.
Gott ist König
Die Lektüre der Zeilen Kaph bis Mem ergibt in umgekehrter Reihenfolge gelesen das Wort hebr. mlk, König. Thema der Zeilen ist ebenfalls hebr. malkut, die Königsherrschaft. Die Nun-Zeile fehlt im masoretischen Text. Darüber gibt es eine umfangreiche, kontroverse Debatte. Inzwischen neigt man dazu, das Fehlen der Nun-Zeile für ursprünglich zu halten. Möglicherweise sollte der Leser inne halten, auf die Zeilen Mem bis Kaph zurückblicken und das Wort hebr. mlk für König entdecken. Die Königsherrschaft Gottes ist demnach ein Gebilde, das direkt aus der Kraft und der Majestät Gottes als König abgeleitet wird. Mit der Vorstellung von der Herrschaft durch Gott selbst konkurrieren messianische Aussagen im Psalter. Nach diesen wird eine messianische Königsfigur nach dem Vorbild Davids die Herrschaft 12 Zenger, Komposition Ps 145–150, 1–27.
Königsherrschaft Gottes
antreten. Ps 2 thematisiert die Einsetzung eines „Sohnes Gottes“ als Herrscherkönig. Im Verlauf des Psalters tritt die Vorstellung, dass eine messianische Königsfigur wie David auftreten müsse, um die Herrschaft Gottes zu verwirklichen, allerdings zunehmend zurück. Nach Ps 89, endgültig aber mit Ps 144 dominiert die theokratische Sichtweise über die messianische Psalterredaktion. Die letzte Erwähnung des königlichen Gesalbten findet sich in Ps 132,10.17.13 In Ps 146,10 heißt es hingegen ausdrücklich: „Der Herr (JHWH) wird König sein.“ Er wird Jerusalem aufbauen und die Zerstreuten des Volkes wieder zusammenführen (Ps 147,2). Er wird als gerechter Richter in Israel auftreten (Ps 148,6) und seine Frommen werden an den Feinden Israels Rache üben (Ps 149,6–9). Im ersten Jahrhundert n. Chr. gehört der Psalter zu den am intensivsten rezipierten Texten der Hebräischen Bibel. Zudem ist die Gattung des Psalms lebendig und bringt weitere Psalmdichtungen hervor, etwa die zahlreichen apokryphen Nach- und Weiterdichtungen in den Qumrantexten, den Psalmen Salomos, aber auch im Neuen Testament (z. B. Lk 1,46b–55; 1,68–79; 2,29–32).14 Die Psalmen Salomos, die aus einer jüdischen Sondergruppe mit Nähe zur pharisäischen Bewegung stammten und im 1. Jh. v. Chr. entstanden sind, entfalten die Vorstellung eines davidischen Königmessias, der die Königsherrschaft Gottes in Israel durchsetzt.15 In der Komposition von achtzehn Psalmen werden die beiden Grundgedanken der Redaktion des kanonischen Psalters aufgenommen: Das Ergehen des Gerechten und die Herrschaft Gottes. Sie werden im Begriff der „Gerechtigkeit“ (gr. dikaiosyne; δικαιοσύνη) miteinander verbunden. So spricht der Beter der Psalmen Salomos: PsSal 1,2: Er erhört mich, weil ich von Gerechtigkeit erfüllt bin.
Gerechtigkeit ist der Kern der Beziehung zwischen Gott und Mensch im Konzept der Gottesherrschaft. Auch in den Psalmen Salomos wird Gott als König der Gottesherrschaft gepriesen (PsSal 17,1–3.46). PsSal 17,1–3: Herr, du selbst bist unser König […] 3 Wir aber hoffen auf Gott, unseren Retter, denn die Macht unseres Gottes (ist) in Ewigkeit mit Erbarmen und die Königsherrschaft unseres Gottes ist in Ewigkeit über die Völker im Gericht.
13 Vgl. Ps 2,2; 18,51; 28,8; 84,10; 89,39.52; 105,15. 14 Dahmen, Psalmen- und Psalter-Rezeption, 11–24. 15 Holm-Nielsen, Psalmen Salomos, 51; Atkinson, I Cried to the Lord, 211 u. 220 f.
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David
Königlicher Messias
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Israelzentrierung
Das Erbarmen Gottes richtet sich auf Israel, das Gerichtshandeln gegen die (nichtjüdischen) Völker. Dies ist ein zentraler, immer wiederkehrender Gesichtspunkt in der Wahrnehmung von Welt und Geschichte. Die Perspektive ist israelzentriert und wird auch innerhalb Israels oft auf eine kleinere Gruppe der Frommen und Gerechten beschränkt. In den Psalmen Salomos ist das mit einiger Wahrscheinlichkeit die Gruppe der Pharisäer. Sie erhoffen sich, dass Gott seine Herrschaft durch einen messianischen Sohn Davids durchsetzt. PsSal 17,21: Herr lass ihnen ihren König, den Sohn Davids zu einem Zeitpunkt erstehen, den du, Gott, ausgewählt hast, damit er herrsche als König über Israel, deinen Knecht.
Schöpfung
Mit den königlichen Macht- und Herrschaftsattributen sind durchweg auch Eigenschaften der Fürsorge und des Schutzes verbunden. Sie erstrecken sich auf diejenigen, die zur Königsherrschaft hinzugehören, nämlich auf Israel oder zumindest auf die Frommen in Israel. Durch die Schöpfungsterminologie, die mit diesen Aussagen verbunden ist, entsteht der Eindruck, dass die Fürsorge Gottes als König uneingeschränkt ist. Dafür nochmals ein Beispiel aus Ps 145, dem „Kompendium“ der Theologie der Psalmen.16 Ps 145, 14–20 14: JHWH unterstützt alle Gefallenen und richtet alle Gebeugten auf. 15: Die Augen aller hoffen auf ihn und du gibst ihnen ihre Speise zu ihrer Zeit. 16: Du öffnest deine Hand und sättigst alles Lebende wohlgefällig. 17: Gerecht ist JHWH auf allen seinen Wegen. Und liebevoll in allen seinen Werken. 18: Nahe ist JHWH allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Treue anrufen. 19: Er erfüllt den Willen derer, die ihn fürchten, und er hört ihre Hilferufe und hilft ihnen. 20: JHWH behütet alle, die ihn lieben, aber alle Frevler rottet er aus.
Majestät Gottes
Wir sehen also, dass die Vorstellung einer Königsherrschaft Gottes im Judentum zur Zeit Jesu klare Konturen hatte und verbreitet war. Sie konnte mit dem Auftreten eines davidischen Königs verbunden sein, musste aber nicht. Dort, wo eine messianische Figur auftritt, ist sie Gott selbst unter- und zugeordnet. Das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch in der Vorstellung vom Reich Gottes stellt sich wie folgt dar: Gott ist der majestätisch Herrschende, der eine Form von 16 Seybold, Psalmen, 533.
Königsherrschaft Gottes
Gerechtigkeit schafft, die für Israel Frieden bringt. Der Mensch in dieser Beziehung zu Gott ist als der Fromme und Gerechte vorgestellt, der auf die Errichtung der Gottesherrschaft vertraut. Dieses Vertrauen beruht nicht zuletzt auf der Vorstellung von der Welt als Schöpfung Gottes. So wie Gott immer wieder heilvoll in die Geschichte Israels eingegriffen hat, so erweist er sich täglich als fürsorglicher Schöpfer, der sich seiner Geschöpfe erbarmt. Die Theologie der Gottesherrschaft im 1. Jh. n. Chr. beruht auf einem Gottesverständnis, nach dem der Gott Israels barmherziger Schöpfer, fürsorglicher Erhalter und geschichtsmächtige Majestät, d. h. sowohl König als auch Richter, ist. Die geschichtliche Welt wird in den binären Oppositionen von Israeliten und Nichtisraeliten („Heiden“) nach außen und von Gerechten und Frevlern nach innen wahrgenommen. Der Mensch wird von der Königsherrschaft Gottes herausgefordert, als Gerechter auf Gott zu vertrauen. Dem Gerechten steht Landbesitz, Gerechtigkeit und Frieden zu, während dem Frevler Strafe und Vernichtung drohen.
3.3.2 Königsherrschaft Gottes in der Verkündigung Jesu Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu schließt an diesen Vorstellungen kohärent und kontextplausibel an. Worin besteht nun aber ihre Originalität bzw. kontextuelle Individualität? Jesus teilt viele der Vorstellungen, die seine Zeitgenossen von der Gottesherrschaft haben. Das Gottesverständnis im Rahmen der Königsherrschaft Gottes konzentriert sich auf den für Israel geschichtsmächtig wirkenden Gott und auf Gott als Erhalter der Schöpfung. Der Mensch in dieser Konzeption ist zunächst einmal Israelit, der die Welt aus einer israelzentrierten Perspektive sieht und vor allem zwischen Israel und den nichtjüdischen Völkern unterscheidet. Dabei gelten ihm die Unterschiede zwischen Israel und den Nichtjuden insgesamt als bedeutender als die Unterschiede zwischen den verschiedenen nichtjüdischen Völkern. Er erwartet die Königsherrschaft Gottes insbesondere als Teil der Geschichte des Volkes Israel. Er steht der Königsherrschaft Gottes nicht ausschließlich passiv gegenüber. Sein Vertrauen auf Gott, seine Frömmigkeit und sein Gotteslob haben Teil an der Dynamik der Königsherrschaft. Sie provozieren und ermuntern Gott zum Handeln, das von einem Messiaskönig wie David oder durch direktes göttliches Eingreifen erwartet wird. Das Reich Gottes selbst wird durch Gerechtigkeit charakterisiert sein, die jeder Sippe und Familie in Israel Landbesitz und ein Auskommen garantieren wird.
Dynamik der Königsherrschaft
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Machtbereich Gottes
Logienquelle
Die Vorstellung der Welt, die mit der Königsherrschaft verbunden ist, sieht die Welt zunächst als Gottes Schöpfung. Die Menschenwelt ist aufgeteilt in Israel und die nichtjüdischen Völker. Hier wird der Gott Israels durch sein Handeln die Rechte Israels wiederherstellen. Es gibt so etwas wie eine Rahmenkonzeption des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in der Reich-Gottes-Vorstellung. Innerhalb dieser entwickeln die verschiedenen jüdischen Gruppen charakteristische Varianten, die sich etwa in der Vorstellung einer oder mehrerer messianischer Mittlerfiguren, in der Bedeutung Jerusalems, in der Rückführung der Diaspora oder in der Rolle der Tora in diesem Prozess ausdrücken. Die Königsherrschaft Gottes ist demnach eine ereignishafte Wirkkraft, zu der sich der Mensch entschieden und folgenreich zu verhalten hat. In diesem Sinn verwendet Jesus von Nazareth den Begriff und bezeichnet mit ihm die herausfordernde Nähe und Präsenz des Machtbereichs des einen und einzigen Gottes, der Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, gemacht hat, dessen Thron der Himmel und dessen Fußschemel die Erde ist. Ich wähle hier bewusst, die bildreichen und anschaulichen biblischen Aussagen, da Abstraktionen wie „Schöpfergott“ oder „Wille Gottes“ zwar sinnvoll sind, aber nicht dazu führen dürfen, dass der semantische Hintergrund biblischer Sprache verloren geht. Basileia kommt im Neuen Testament etwa 162 Mal vor, davon ca. 140 Mal in der Wendung „Königsherrschaft Gottes“ oder „Königsherrschaft der Himmel. Etwa 55 dieser Nennungen von basileia tou theou/ton ouranon finden sich bei Mt, 46 bei Lk, 14 bei Mk, ca. acht in der Apg, zwei bei Joh, sechs bei Paulus und nur eine in der Apk. Von besonderer Bedeutung ist, dass in den Passagen, in denen Mt und Lk nahezu wörtlich übereinstimmen, in der sogenannten Logienquelle oder Q, die Wendung 14 Mal sicher (Mt=Lk im Nicht-Mk), insgesamt aber vermutlich ca. 20 Mal vorkommt. Der Begriff Königsherrschaft wird demnach vor allem in der synoptischen Überlieferung genutzt, wobei noch auf zwei wichtige Besonderheiten in der Verwendung aufmerksam zu machen ist. Die Logienquelle, Mk und Mt thematisiseren die Königsherrschaft als solche, etwa in der Formulierung „die Königsherrschaft ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,14), und verstehen sie als eigenständige Sache. Das lukanische Schrifttum (Lk und Apg) hingegen verbindet den Begriff häufig mit einem Verb des Sagens und Meinens (verbum dicendi) zu Wendungen wie „die Königsherrschaft verkündigen“, was dann für die Evangeliumsverkündigung überhaupt steht (z. B. Lk 4,43; 8,1; 9,2.11.60 u. ö.; Apg 1,3; 8,12 u. ö.). In Mt wiederum findet sich die Besonderheit, dass überwiegend von Königsherrschaft der Himmel die Rede ist, womit eine hebräische Wendung
Königsherrschaft Gottes
(hebr. malchut schamajim; )מלכות שמיםaufgegriffen wird. Im Ergebnis ist deutlich, dass der Begriff Königsherrschaft vor allem in der synoptischen Tradition begegnet, bei Paulus und Johannes hingegen zwar auch bekannt ist, aber nur eine geringe Rolle spielt. Die Königsherrschaft Gottes gilt den synoptischen Evangelien als der zentrale Begriff für die Verkündigung Jesu. Er bildet die Mitte seiner Theologie im Sinne der Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch.
Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu lässt sich also innerhalb des Judentums seiner Zeit als kontextplausibel und kohärent einordnen. Um vor diesem Hintergrund die kontextuelle Individualität oder Originalität der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung herauszuarbeiten, ist auf die Texte der ältesten Jesusüberlieferung selbst einzugehen. Nach Darstellung des Markusevangeliums lässt sich die Verkündigung Jesu mit folgenden Worten zusammenfassen: Mk 1,15: Die Zeit ist erfüllt und die Königsherrschaft Gottes ist nahe heran gekommen, kehrt um und glaubt an das Evangelium!
In diesem markinischen Satz findet sich eine Wendung, die in der ältesten Jesusüberlieferung mehrfach unabhängig bezeugt ist, z. B. in der Aussendungsrede Jesu (Q 10,2–16): „Die Königsherrschaft Gottes ist nahe heran gekommen.“ (Q 10,9; vgl. Lk 10,11; 19,11; 21,31). In zwei weiteren Worten Jesu werden Kennzeichen der Nähe genannt: Q 11,2: Deine Königsherrschaft komme. Q 11,20: Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist doch die Königsherrschaft Gottes schon zu euch hingelangt.17
In beiden Logien, d. h. in der Bitte aus dem Vaterunser und in dem Wort über die Dämonenaustreibung, wird die Königsherrschaft als in Bewegung dargestellt: Sie soll „kommen“ (Q 11,2) und ist bereits an Orte „gelangt“ (Q 11,20), wo etwas geschieht, was in Relation zu Gott steht, nämlich das Gebet und Dämonenaustreibungen. Damit wird deutlich, dass die Königsherrschaft nicht als physikalischer oder durch geographische Grenzen definierter Raum vorgestellt ist, son17 Die lukanische Fassung hat statt „Geist“ „Finger Gottes“ und stellt damit eine Beziehung zum Wunderwettkampf zwischen Moses und den ägyptischen Magiern her, wo es in Ex 8,15 über Moses heißt: „Dieses ist der Finger Gottes!“.
Nähe der Gottesherrschaft
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dern als ein dynamisches Geschehen, als ein „Ereignis“.18 Gottesherrschaft ist der Bereich, in dem der Wille Gottes die Herrschaft angetreten hat. Dieser sich verwirklichende Wille „kommt“ zu den Betenden, ist „nahe“ und drängt, wo er „hingelangt“, die widergöttlichen dämonischen Mächte weg. Die Gottesherrschaft ist somit ein dynamischer Machtraum, der sich über den Bereich erstreckt, in dem Gottes Macht wirksam geworden ist. Diese Sichtweise wird durch ein weiteres Logion ausgedrückt: Lk 17,20b.21: Die Gottesherrschaft kommt nicht mit Beobachtung, (21) noch wird man sagen „Siehe hier“ oder „(siehe) dort“. Denn siehe, die Gottesherrschaft ist direkt bei euch (gr. entos hymon; ἐντὸς ὑμῶν).
Raum der Gottesherrschaft
Luther übersetzte mit der kirchlichen Tradition das entos hymon in Anlehnung an das Lateinische intra vos mit „inwendig in euch“ und damit kaum zutreffend. Die Präposition entos bringt zum Ausdruck, dass etwas in der unmittelbaren Nähe vorhanden und verfügbar ist. Die neueren Kommentare nehmen das auf und übersetzen: „Die Herrschaft Gottes ist verfügbar für euch“19 oder „Das Reich Gottes (ist) in dem Raum, der der Eure ist“.20 Nun stellt sich die Frage, in welchem Sinne die Gottesherrschaft „kommt“, „hingelangt“ ist oder „da ist“. Ist sie eher zukünftig oder eher gegenwärtig vorgestellt? Die genannten Logien machen deutlich, dass die Verkündigung Jesu hier keine klare Grenze zieht. Sie verbindet vielmehr die Aussage, dass eine entscheidende Wende auf Erden bereits in der Gegenwart eingetreten sei, mit der Erwartung, dass eine umfassende Erfüllung der Königsherrschaft Gottes sich noch ereignen werde.21 Selbst die Frage, ob sich diese Erfüllung auf Erden oder in einer transzendenten Welt („Himmel“) vollziehen werde, kann nicht klar beantwortet werden. Jedenfalls erscheint die Königsherrschaft als „Gegenwelt“ zum Bestehenden und umfasst die gesamte Schöpfung.22 Die Botschaft von der Gottesherrschaft und das Vertrauen auf ihre unmittelbare Nähe und Präsenz verwandeln die Gegenwart vor allem im Alltag der Menschen. Hier wird ein weiteres Spezifikum der ReichGottes-Verkündigung Jesu berührt. Die Königsherrschaft ereignet sich im Alltag einfacher Leute. Das kommt in den Jesusworten zum
18 Luz, Art. βασιλεία, 483. 19 Klein, Lukasevangelium, 566. 20 Bovon, Evangelium nach Lukas,160. 21 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 86–93. 22 Schnelle, Theologie, 79.
Königsherrschaft Gottes
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Ausdruck, die einen veränderten Umgang mit alltäglichen Herausforderungen wie Armut und Tod thematisieren. Q 6,20/Mt 5,3: Selig, ihr Armen, denn euch gehört die Königsherrschaft Gottes. Q 9,60: Lasst die Toten ihre Toten begraben. Lk 9,62: Keiner, der die Hand an den Pflug legt und blickt zurück, taugt für die Königsherrschaft Gottes.
Als Arme im Sinne derjenigen, die von der Teilhabe an gesellschaftlicher Macht und Reichtum ausgeschlossen sind, versteht sich in der Antike die Mehrheit der Bevölkerung, die sogenannte Nicht-Elite, die etwa 97–99 % der Bevölkerung ausmacht.23 Die Königsherrschaft ist also nicht an der Wiederherstellung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung interessiert, sondern an den einfachen Menschen und ihren Erfahrungen, wie Familienritualen oder Landwirtschaft. Diese Orientierung am Alltag wird deutlich an den Metaphern, die für das Reich Gottes verwendet werden: dem Senfkorn und dem Sauerteig.
Arme, Nicht-Elite
Q 13,18 f.: Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen? (19) Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen. Q 13,20 f.: Außerdem sagte er: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? (21) Es ist wie der Sauerteig, den eine Frau unter einen großen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war.
Das Doppelgleichnis thematisiert die Lebenserfahrungen von Frauen und Männern, um in den Alltagserfahrungen den Kontrast zu verdeutlichen, den die Königsherrschaft mit sich bringt. Die Königsherrschaft Jesu wird in Bildern des Alltags und unter Verzicht auf Aussagen, die an Erfahrungen von glanzvoller Herrschaft und Majestät anknüpfen, geschildert. Während etwa Ps 145 von dem Glanz, der Hoheit, der Macht und Stärke der Gottesherrschaft in Analogie zum orientalischen Herrscher spricht, wählt Jesus von Nazareth Bilder aus dem Alltag einfacher Menschen. Ihre Lebenswelt wird in Beziehung zum Schöpfer gestellt, ohne dass dieser zugleich als der majestätische Herr der Geschichte dargestellt wird. Dunn hebt hervor, dass 23 Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 197 f.
Bilder des Alltags
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Jesus von Nazareth
Teilhabe an der Gottesherrschaft
Jesus zwar von der Königsherrschaft spricht, niemals aber explizit die Aussage mache, dass Gott ein König sei.24 In Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft reflektiert sich keine gesellschaftliche Elite wie etwa in den Psalmen Salomos, die ihre Möglichkeiten zur Teilhabe an der Macht in der Sprache der Religion und mit der Vorstellungswelt der Königsherrschaft Gottes ausweiten möchte. Es ist vielmehr die Erfahrung des jüdisch-palästinischen Alltagslebens, die hier in Beziehung zu Gott gebracht wird. Die Art und Weise, wie diese Erfahrungen thematisiert werden, sind nun aber nicht pastoral idyllisch, sondern dynamisch. Die Dynamik der Gottesherrschaft ist dabei nicht einseitig von oben, von Gott her, zu denken. Die Reich-Gottes-Bitte des Vaterunsers bittet um das „Kommen“ der Gottesherrschaft, ja drängt auf ihr Kommen. Man fragt Jesus, „wann sie kommt“ (Q 17,20 f.). Die Gottesherrschaft wird gesucht (Q 12,31), man „drängt in sie mit Gewalt hinein“ (Q 16,16). Nur die Pharisäer „gehen nicht hinein“ und versuchen, die Tür zu ihr zu „verschließen“ (Q 11,52). Doch den „Armen“ ist sie zugesagt (Q 6,20). In der Gottesherrschaft wird der Kleinste größer als der in dieser Welt herausragende Johannes der Täufer sein (Q 7,28) und die Menschen, die von „Osten und Westen“ kommen, womit wohl die Zusammenführung der jüdischen Diaspora oder gar die Inklusion der Nichtjuden gemeint ist, werden dort mit den Erzvätern zum Mahl liegen (Q 13,28). Diese Gottesherrschaft ereignet sich in den Heilungen und Dämonenaustreibungen, die nicht nur Jesus, sondern auch seine Anhänger durchführen (Lk 10,9/Mt 10,8). Die Mahlgemeinschaften Jesu sind offen für Anhänger, Gegner und Μarginalisierte der Gesellschaft („Zöllner und Sünder“). Diese Mahlgemeinschaften nehmen bereits jetzt, in der durch die ereignishafte Präsenz der Gottesherrschaft veränderten irdischen Gegenwart das eschatolgische Mahl vorweg, von dem in Q 13,28 f./Mt 8,11 f. und in Lk 22,29 f. die Rede ist. Dort wird man „mit Abraham, Isaak und Jakob im Reich Gottes zu Tisch sitzen“ (Q 13,28). Die Mahlgemeinschaft ist auch das Thema des Gleichnisses vom „großen Gastmahl“ (Q 14,16–24), das sich allerdings im Wortlaut der Logienquelle nicht sicher rekonstruieren lässt. Hier ist die Gottesherrschaft mit einer dramatischen Mahlvorbereitung verglichen, die zunächst erfolglos erscheint, weil die Geladenen absagen, und dann durch eine überraschende Wende, die Einladung der Menschen von der Straße, doch noch glückt.
24 Dunn, Jesus Remembered, 544. Die Aussage impliziert allerdings, dass Mt 5,35 keine genuin jesuanische Ansicht formuliert.
Ethik der Königsherrschaft
Die Theologie der Gottesherrschaft verzichtet bei ihrer Gottesvorstellung auf Attribute, mit denen antike Herrscher ihre Macht und ihre Majestät zum Ausdruck bringen, sondern greift die Eigenschaften des fürsorglichen Schöpfers auf. Die Welt ist vor allem Alltag. Alltagsund Naturvorgänge werden zu Grunde gelegt. Dieser Alltag steht nun im Horizont des Kommens der Gottesherrschaft und wird zu einem Alltag, der neue Erfahrungen ermöglicht. Der Mensch ist als Mann und Frau vorgestellt. Sie führen ein Leben, das durch Landwirtschaft, Dorfleben und Armut geprägt ist. In dieser Welt ist die Gottesherrschaft präsent, indem sie sich durch Heilungen und Dämonenaustreibungen Raum schafft und in inklusiven Mahlfeiern Gemeinschaft ermöglicht.
3.4 Ethik der Königsherrschaft Die Orientierung der Gottesherrschaft auf den Alltag einfacher Frauen und Männer ist die unverwechselbare Besonderheit der ReichGottes-Verkündigung Jesu. Sie verzichtet auf Aussagen, die sich an gesellschaftliche Hierarchien anlehnen oder die Elitenkonstruktion des judäischen und galiläischen Judentums positiv aufnehmen, indem Repräsentanten der Elite wie Richter, Priester, Mitglieder der hohepriesterlichen oder herodianischen Familie als fürsorgliche Eliterepräsentanten thematisiert werden. Jesus folgt darin der Tradition der biblischen Armentheologie, die vom Ergehen der Frommen und Gerechten angesichts einer Gesellschaft, in der andere Kriterien wie Gewalt, Macht und Ansehen den Ausschlag geben, berichtet. Diese Grundentscheidungen in der Reich-Gottes-Verkündigung wirken sich auch auf die ethischen Forderungen Jesu aus. Die Ethik Jesu ist in Bildworten gefasst. Das Bildwort ist eine Form der uneigentlichen Rede. Es sagt etwas im Bild, meint aber in der Sache etwas anderes. Das Gesagte (gr. rhema; ῥῆμα) wird auf einen bekannten Sachverhalt bezogen (gr. thema; θέμα), um eine neue Aussage zu machen. Bildworte arbeiten sprachlich an Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen, um sie zu beeinflussen, zu verändern und für neue Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen aufzuschließen. Bildworte haben demnach eine reflexive Struktur und bieten denjenigen, die sich ihrer Botschaft aussetzen, eine selbstreflexive Haltung an. Die Bildworte Jesu wollen für die Wirklichkeit der Gottesherrschaft aufschließen, indem sie die Reflexion der Wirklichkeit einfordern und die Adressaten zur Selbstreflexion nötigen.
Elite versus Nicht-Elite
Bildworte
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Q 6,41 f.: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? (42) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: „Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!“ – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.
rhetorische Provokation
Seligpreisungen
Das Logion wählt mit „Bruder“ die gebräuchliche Anrede für jeden jüdischen Mitmenschen im Dorf oder in der städtischen Nachbarschaft. Dadurch ist die gesellschaftliche Wirklichkeit präsent. Die übertriebene Divergenz zwischen Splitter und Balken im Auge dient der rhetorischen Provokation, die keine Relativierung der Problemstellung zulässt. Das Problem wird als Spannung zwischen scheinbar richtiger Fremdwahrnehmung und offensichtlich falscher Selbstwahrnehmung entwickelt, um letztere zu korrigieren und zu ermöglichen, dass man dem Bruder gegenüber angemessen handelt. Ein solches Bildwort, das zur Korrektur der Selbstwahrnehmung drängt, lässt sich nicht ohne den Verlust an Anschaulichkeit und Erfahrungsgehalt in eine abstrakte Aussage übersetzen. Nur als Bildwort behält die Aussage ihre rhetorische Prägnanz und kognitive Wirkung. Die Überzeugungskraft der ethischen Forderungen Jesu ist an ihre Anschaulichkeit und an die von seinen Bildworten aufgerufenen gesellschaftlichen Wirklichkeiten gebunden. Jesus gelingt es aber gerade durch die teilweise exzentrischen Übertreibungen, die ethische Aussage von ihrem konkreten Kontext zu lösen und ihr eine von diesem unabhängige Überzeugungskraft zu geben. Kein Mensch muss jemals einen Splitter aus dem Auge eines anderen entfernt haben, um die Aussage auf sich beziehen zu können. Die Aussagen Jesu, die ethische Bedeutung haben, sind schnell zusammengestellt. Beginnen wir bei dem Material, das in der Bergpredigt enthalten ist. Die Seligpreisungen sprechen mit dem „selig“ oder besser übersetzt mit „Wohl dem“ (gr. makarios; μακάριος; hebr. aschrej; )אשרי, diejenigen an, die im Horizont der Königsherrschaft vom Rand in die Mitte gerückt werden: die Armen, die Hungernden und die Weinenden (Q 6,20b.21). Die hohe Bedeutung dieser Aussagen regte zu Erweiterungen und Fortschreibungen an, die die jesuanischen Aussagen durch weitere Vorstellungen der jüdischen Armenfrömmigkeit anreicherten. Die Tradition ergänzt bald aufgrund der Verfolgungserfahrungen der ersten Gemeinden die Seligpreisung der „Verfolgten“ (Lk 6,22/Mt 5,11 f.). Die matthäische Tradition überliefert eine Komposition von neun Seligpreisungen (Mt 5,3–12) und Lukas kontrastiert die vier Seligpreisungen mit vier komplementären Weherufen gegen die Reichen, Satten, Lachenden
Ethik der Königsherrschaft
und Angesehenen (Lk 6,24–26). Die Bezeichnung der „Armen“ lässt sich nicht auf die sogenannten „Bitterarmen“ oder „absolut Armen“ beschränken. Die oft aufgestellte Behauptung, dass das Griechische ptochos (πτωχός) diese kleine Gruppe der materiell absolut Armen bezeichne, ist falsch, wie die Durchsicht der synonymen Verwendung des Begriffs im Septuagintapsalter zeigt. Die „Armen“ (ptochos in der LXX überwiegend für hebr. ani; )עניund „Elenden“ (gr. penes; πένης in der LXX überwiegend für hebr. ebijon; )אביוןbezeichnen beide in der Tradition der biblischen Armenfrömmigkeit diejenige Personengruppe, der die Fürsorge und Barmherzigkeit Gottes in besonderer Weise gilt. Diese „Armen“ sind von der Mitwirkung an der gesellschaftlichen Macht und Ressourcenverteilung ausgeschlossen und gehören zur Nicht-Elite, die 97–99 % der Bevölkerung ausmachen.25 Ihnen spricht Jesus die Fürsorge Gottes bedingungslos zu und ihnen hat die Fürsorge der Menschen zu gelten, wie etwa das Gleichnis vom großen Gastmahl unterstreicht, wenn es fordert, „geh hinaus auf die Straßen und welche auch immer du findest, lade sie ein!“ (Mt 22,1–14; Lk 14,15–24). Die stilistische Gestaltung der Antithesen geht wahrscheinlich auf den Evangelisten Matthäus zurück.26 Die Unterscheidung von sogenannten primären und sekundären Antithesen, auf die etwa Schnelle sich beruft, wenn er die 1. (vom Töten; Mt 5,21 f.), 2. (vom Ehebrechen; 5,27 f.) und 4. (vom Schwören; 5,33 f.) Antithese als primäre Antithesen Jesus selbst zuweist und als Überbietung der Tora interpretiert, ist nicht überzeugend zu belegen.27 Die Gegenüberstellung von „Ihr habt gehört, was den Alten gesagt wurde“ und der rhetorisch eindrucksvoll mit „ich aber sage euch“ eingeleiteten These ist selbst bei Matthäus Ausdruck der Auseinandersetzung mit Tora interpretationen, nicht aber der Torakritik. Unumstritten ist allerdings, dass sich der materiale Gehalt der Thesen auf Jesus zurückführen lässt und als Einzelsprüche (z. B. Mt 5,32/Lk 16,18) oder als Teil von kurzen Redekompositionen (Q 6,27–36) überliefert worden war.28 Jesus thematisiert in diesen Aussagen der Antithesen das Vorfeld des eigentlichen Gebots. Nicht nur die Tat selbst, sondern die der Tat vorausgehende Haltung wird in die ethischen Überlegungen miteinbezogen: Nicht nur das Töten ist verboten, sondern bereits das Zürnen, das zum Tötungswunsch führen kann, hat zu unterbleiben und an seine Stelle solle die Versöhnungsbereitschaft treten (Mt 5,22–26; Lk 12,57–59). 25 S. o. 95 (Elite im Imperium Romanum). 26 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 79 f. 27 Schnelle, Theologie, 97 f. 28 Kirk, Composition, 152–165; vgl. Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 402 f.
Antithesen
ethische Haltung
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Nicht nur der Ehebruch, sondern bereits das willentliche Begehren ist gegen Gottes Willen (Mt 5,28–30/Mk 9,43.47 f.). Der Scheidebrief ist Ausdruck der Unbarmherzigkeit des Mannes, der die Frau durch ihre Entlassung zum Ehebruch nötigt (Mt 5,31 f.; 19,9/Mk 10,2–12/Lk 16,18). Das Schwören setzt die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge voraus, da man beim Schwören nur das ausspricht, was gerichtsfest ist (Mt 5,33–37/Jak 5,12). Es bereitet demnach die Unehrlichkeit vor und soll deswegen ganz unterbleiben. Mit diesen Aussagen ist der Blick auf die innere Haltung des Menschen gerichtet, die in den Aussagen der Antithesen 5 und 6 in den Mittelpunkt rückt: Vergeltungsverzicht und Feindesliebe. Die beiden Themen waren in der ältesten Jesusüberlieferung unmittelbar miteinander verbunden und Bestandteil der Rede über die Feindesliebe in der Logienquelle (Q 6,27–30).29 Q 6,27–30: Liebt eure Feinde (28) und betet für die, die euch misshandeln. (29) Dem, der dich auf eine Wange schlägt, halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. (30) Gib jedem, der dich bittet, und von dem, der geborgt hat, verlang es nicht zurück.
Liebesgebot
Jesus führt hier Überlegungen der Diskussion um das Liebesgebot weiter. Die Nächsten- und Fremdenliebe ist Teil der jüdischen Ethik (Lev 19,18b.33 f.). Jesus weitet die Grenzen der barmherzigen und fürsorglichen Liebe aus. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter fordert er Nächstenliebe gegenüber dem Fremden und Fernen ein, indem er einen Samariter als vorbildlich, fürsorglich und barmherzig gegenüber einem mit ihm eigentlich verfeindeten Juden darstellt (Lk 10,30–35). Diese Fremden- und Fernstenliebe ist Ausdruck der jesuanischem Interpretation der sogenannten „goldenen Regel“: Lk 6,31/Mt 7,12: Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen.
Der besondere Akzent des erweiterten jesuanischen Verständnisses des Liebesgebots wird hier bereits angedeutet. Am deutlichsten kommt es in der Frage nach dem Umgang mit dem Feind zum Ausdruck. Der Umgang mit dem Feind (gr. echthros; ἐχθρός) ist bereits in der Hebräischen Bibel thematisiert: Ex 23,4 f. (LXX): Wenn du das verirrte Rind deines Feindes oder seinen Esel antriffst, sollst du sie ihm auf jeden Fall zurückbringen. (5) Wenn 29 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 93–99.
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du siehst, dass der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammengebrochen ist, geh nicht an ihm vorbei, sondern richte ihn mit dieser (Last) wieder auf.
Der „Feind“ ist als Teil der sozialen Gemeinschaft, z. B. im Nahbereich des Dorfes vorgestellt. Wie weit darf die Feindschaft gehen? Im Buch Exodus wird bereits eine begrenzte Beibehaltung des ethischen Altruismus trotz der Feindschaft gefordert. Jesus geht über die in Ex 23,4 f. geforderten reaktiven Unterstützungshandlungen hinaus, indem er den aktiven Gewalt-, Besitz- und Rechtsverzicht als Konkretion und Ausdruck der Feindesliebe fordert (Q 6,27–30). Die Feindesliebe reflektiert demnach die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft im Nahbereich durch aktiven Verzicht, der dann nötig wird, wenn die Krise der Gemeinschaft dazu führt, dass grundlegende Regeln nicht mehr eingehalten werden. Assmann definiert die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Gerechtigkeit als konnektive Gerechtigkeit (iustitia connectiva) oder „reziproke Solidarität“, die drei Aspekte umfasst: Füreinander handeln, aufeinander hören, aneinander denken als aktive, kommunikative und intentionale Solidarität.30 Die von Jesus geforderte Feindesliebe als Rechts-, Besitz- und Gewaltverzicht hält diese Aspekte der Gemeinschaftsgerechtigkeit unter Bedingungen, in denen die Gemeinschaft diese Gerechtigkeit nicht mehr sichern kann, aufrecht. Jesus proklamiert mit der Feindesliebe eine individuelle ethische Praxis im Vorgriff auf die Wiederherstellung der Gemeinschaftsgerechtigkeit, die mit der Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes zu erwarten ist. Die Begründung für diese ethische Praxis ist mit der Ausrichtung der Königsherrschaft an den Eigenschaften Gottes, die als „Wesensdefinition Gottes“ verstanden werden können, verbunden: Gnade und Barmherzigkeit, Langmut und Liebe (Ex 34,6; Ps 145,8).31 Feindesliebe ist Nachahmung der „universalen Fürsorge Gottes“ und die Realisierung der Barmherzigkeit im Sinne der Gemeinschaftsgerechtigkeit als reziproke Solidarität:32
Gemeinschaftsgerechtigkeit
Q 6,36: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Diese Erwartung an Gott als den Vater wird auch im Vaterunser zum Ausdruck gebracht (Mt 6,9b–13/Lk 11,2–4). Jeremias urteilt über die Anrede Gottes als Vater, aram. abba: „in dem Abba Jesu kommt 30 Assmann, Ma’at: Gerechtigkeit, 58–91. 31 Spieckermann, Heilsgegenwart, 291. 32 Hoffmann/Heil, Spruchquelle Q, 27.
Abba, Vater
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ein besonderes Gottesverhältnis zum Ausdruck“, das Jesus „seinen Jüngern als Anrede Gottes weitergegeben hat“.33 Es umfasse neben „Vertraulichkeit“ auch Gehorsam und Teilhabe an Gottes Vollmacht. Die Bedeutung der Anrede Gottes als Vater sieht Jeremias richtig, sie lässt sich aber nicht auf Jesus und seine Jünger beschränken. Die Anrede Gottes als Vater ist im antiken Judentum nicht ohne Parallelen (Weish 14,3) und auch die Fürsorge des Schöpfers als Vater lässt sich belegen, etwa in den Hodayot: 1QH 9,35 f.: Denn du bist ein Vater für alle Kinder deiner Wahrheit und freust dich über sie wie eine Mutter über ihren Säugling, und wie ein Pfleger versorgst du im Schoß alle deine Geschöpfe.
Vaterunser
Pharisäer
Jesus greift das auf und besonders das Matthäusevangelium stellt die Bezeichnung Gottes als Vater in den Mittelpunkt. Die vermutlich älteste Fassung des Vaterunsers in Q 11,2–4 bestand aus einer Vateranrede, zwei Segensbitten über den Namen und das Reich Gottes, und drei Bitten um Brot, Schuldenerlass und Versuchungsverschonung. Auch dieses Gebet nimmt die Perspektive der Armen ein, die sich vertrauensvoll in ihren Alltagsnöten an Gott wenden sollen. Im Gegensatz dazu kritisiert Jesus die Praxis demonstrativer Frömmigkeit, die dem Ziel des Statusgewinns dient (Mt 6,1–6.16–18). Wieder begegnet die expressive Rhetorik Jesu: „blas nicht die Posaune, […] deine linke Hand soll nicht wissen, was die Rechte tut, […] schließ dich ein in die Kammer“. Der Akzent liegt auch hier auf der inneren Haltung, das was „im Verborgenen“ geschieht, das sieht der „Vater“ (6,4.6.18). Mit diesen Aussagen ist eine bemerkenswerte Subjektivierung der religiösen Praxis verbunden. Ihre Bedeutung entscheidet sich in der Beziehung zwischen dem einzelnen und dem „Vater“, nicht aber an ihrer sozialen Wahrnehmung. Jesus lehnt weder Fasten noch Almosengeben ab, aber er unterstreicht durch rhetorische Zuspitzungen, dass die Willensbildung und das Tun „im Verborgenen“ entscheidend sind, weil genau dieses von Gott wahrgenommen wird. Aus dieser Haltung heraus formuliert Jesus eine Polemik gegen Pharisäer und Schriftgelehrte, die in der synoptischen Tradition aufgrund der Konflikte der Gemeinde mit den Pharisäern noch erweitert wurde. Die Rhetorik Jesu ist bisweilen auch scharf und verletzend. Die Pharisäer gelten ihm als Gegner in Fragen der „mündlichen“ Tora, genauer bezüglich des Zehnten, der Reinheitstora und der Speiseregeln (Q 11,39–44; Mk 2,16). Eine ähnliche, wenn auch nicht so schneidende Kritik der Pharisäer und ihres Umgangs mit den Geboten der Tora 33 Jeremias, Abba, 63.
Ethik der Königsherrschaft
findet sich auch in den Qumrantexten, wo sie als solche dargestellt werden, „die glatte Dinge“ suchen, d. h. den Sinn der Tora verfälschen (CD 1,18–2,1; 1QH 2,32 f.; 4,9–11; 4Q169).34 Jesus steht den Bindungen, die durch die Herkunftsfamilie und durch Besitz entstehen, sehr kritisch gegenüber. Die Aussagen brechen mit ethischen Vorstellungen, die für antike Gesellschaften grundlegend sind. Die Königsherrschaft fordert eine Nachfolgebereitschaft, der die Verpflichtung, den Vater zu begraben, nicht im Wege stehen darf (Q 9,59 f.). Sie bringt Entzweiung zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter (Q 12,51–53). Die Familie, sowohl die Eltern als auch die eigenen Kinder, ist zu „hassen“ (gr. miseo; μισέω), d. h. gering zu achten und aktiv zurückzuweisen (Q 14,26). An die Stelle der Herkunftsfamilie tritt die Nachfolgegemeinschaft (Mk 3,35). Wie die Familie so erscheint auch Besitz als ein Hindernis der Gottesherrschaft. Dabei folgt bereits aus der Konkretisierung der Feindesliebe die Forderung nach Rechts- und Besitzverzicht (Q 6,29): „gib auch den Mantel, […] verlange nichts zurück“. Das Vaterunser thematisiert den Schuldenerlass (Q 11,4). Die Frage nach der Erlangung des ewigen Lebens wird einerseits mit der Einhaltung des Dekalogs (Mk 10,19) und andererseits mit der Forderung des Besitzverzichts beantwortet (Mk 10,21parr.): „verkaufe […] und gib den Armen“. Besitz ist aber mehr als ein passives Hindernis. Von ihm geht auch eine Machtsphäre aus, die die alleinige Herrschaft über den Menschen erringen will: Q 16,13: Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben, oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen.
Die Forderung des Besitzverzichts richtet sich an jeden, dessen Besitz dem Willen der Königsherrschaft entgegensteht. Die Gottesherrschaft fordert auch der Nachfolgegemeinschaft ein neues Verständnis von Macht ab: Mk 10,42–44/Mt 20,25–27: Ihr wisst, dass die Mächtigen der Völker über sie herrschen und ihre Großen sie niederhalten. (43) So soll es nicht bei euch sein, sondern derjenige, der unter euch groß werden will, sei euer Diener, (44) und der unter euch der Führende sein will, der Sklave aller.
Die jesuanische Verkündigung setzt sich nur gelegentlich direkt mit den Machtstrukturen der Gesellschaft auseinander. Das Wort zur 34 Vanderkam, Pharisees and the Dead Sea Scrolls, 225–228.
Familie
Schuldenerlass
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Staat und Religion
Ethik für alle
Kaisersteuer gilt als klassischer Text zur Unterscheidung von Staat und Religion. Angesichts des Gewichts der Gottesherrschaft, die so viele grundlegende Sozialbeziehungen wie Achtung der Ahnen, Familie und Besitz ablehnt, kann das Wort nicht vorrangig als Aufforderung zum Steuerzahlen verstanden werden, auch wenn es in der synoptischen Tradition so interpretiert wurde.35 Es fordert vielmehr dazu auf, die Frage nach dem, was dem Kaiser zukommt, und dem, was Gott zukommt, zu stellen. Der Bereich des Kaisers kann angesichts der jesuanischem Vorstellung von der Gottesherrschaft nur sehr klein und vorläufig sein. Angesichts der Loyalitätserwartung des römischen Kaiserhauses ist diese Antwort sowohl klug als auch heikel, vor allem aber eine „Relativierung des Kaisers“,36 wenn nicht gar „eine politisch subversive Semantik“, die eine kritisch distanzierte Haltung zur römischen Herrschaft empfiehlt.37 Dieser weitgehend unumstrittene Befund zu den ethischen Aussagen Jesu in der ältesten Jesusüberlieferung ist nun nicht ganz leicht in grundsätzliche Aussagen zur Ethik zu übersetzen. Im Folgenden werden zunächst drei Konzepte der Ethik Jesu in ihren Grundzügen dargestellt. Die Bandbreite der Lösungen dieser Frage reicht von der sozialverträglichen Relativierung (Dunn) über eine Zwei- Stufen-Ethik (Schröter) bis hin zu einer konfrontativen Explikation (Schnelle): 1. Dunn:38 Dunn ist zurückhaltend in der genauen Bestimmung der Adressaten der ethischen Verkündigung Jesu. Jesus richte sich jedenfalls an Israel, aber jeweils auch an sich überschneidende und überlappende Personenkreise und Gruppen wie die Jüngergemeinschaft, Nachfolgende oder Sünder und Zöllner. Seine Ethik führe aus, auf welche Weise sich die Gottesherrschaft auf das Leben der Menschen, an die er sich richtete, auswirken soll. Bestimmte Themen treten dabei deutlicher hervor: a) Macht und Barmherzigkeit des Schöpfers, b) Hinwendung zu den Armen, c) Vergebung, d) Offenheit der Nachfolgegemeinschaft, e) Liebesgebot sowie f) soziale und politische Folgen. Jesus stelle sich eine Gemeinschaft vor, „die vor allem nach den Prioritäten Gottes strebe, in der Vergebung erfahren werde, die immer wieder von der Gnade überrascht wird und weiß, wie die Gottheit Gottes in der Offenheit der Mahlgemeinschaften und der Nächstenliebe zu feiern ist.“39 35 Lührmann, Markusevangelium, 200–202. 36 Schnelle, Theologie, 96 f. 37 Schreiber, Gottesherrschaft, 41. 38 Dunn, Jesus Remembered, 543–611. 39 Dunn, Jesus Remembered, 611.
Ethik der Königsherrschaft
2. Schröter:40 Eine Ethik Jesu lasse sich nicht feststellen. Vielmehr entfalte Jesus ein Ethos im Sinne einer „Lebensordnung“, die im Vorgriff auf die Ordnung des Gottesreiches entworfen werde. Jesus unterscheide dabei zwischen der Nachfolgegemeinschaft und dem zu „erneuernden Israel“, das Schröter auch in Anknüpfung an Jesu Aussage in Mk 3,35 „Familie Gottes“ nennt. Jesus richte radikale Forderungen an die Nachfolgegemeinschaft, die vor allem in der Bergpredigt zusammengestellt seien, und dazu analoge, aber abgemilderte Forderungen an diesen erweiterten Kreis der „Familie Gottes“. Jesus fordere von der Nachfolgegemeinschaft Feindesliebe, Besitzverzicht, den Bruch mit der Herkunftsfamilie und die Umkehrung von Herrschen und Dienen. In Analogie dazu verlange er vom weiteren Adressatenkreis der „Familie Gottes“ Vergebungsbereitschaft, den angemessenen Umgang mit Besitz, die Orientierung an der Gottesherrschaft und die Begrenzung der weltlichen Herrschaft. Jesus lehne die Tora nicht grundsätzlich ab, noch hebe er sie auf, vielmehr stelle er sie in den Horizont der Gottesherrschaft. 3. Schnelle:41 Schnelle hebt die Provokationen, die mit der Ethik Jesu verbunden sind, deutlich hervor. Jesu Ethik sei keine Sammlung situationsgebundener und unsystematischer Einzelworte, sondern habe prinzipiellen Charakter. Sie entfalte den Willen Gottes als radikale Liebe. Sie sei auf das Liebesgebot als Mitte hin strukturiert und stimme mit Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft überein. Schnelle führt eine Argumentation mit langer exegetischer Tradition weiter, nach der Jesu Ethik nicht der Tora folge, sondern souverän auf den unbedingten Willen des Schöpfers zurückgreife, etwa wenn er das Scheidungsverbot mit Gen 1,27 und 2,24 begründe (Mk 10,2–12), die Institution des Scheidebriefs (hebr. get; גט: bGit 85b) ablehne oder das Sabbatgebot (Mk 2,27) und die Reinheitstora (Mk 7,15) relativiere. Es gehe Jesus um die Entsprechung zum Willen des Schöpfers und nicht um die Inkraftsetzung oder Interpretation der Sinaitora. Jesu ethische Forderungen seien gerade deswegen radikal, weil sie „unüberhörbar“ Gottes unbedingten Willen zum Ausdruck brächten, etwa in den Antithesen zu Töten und Zorn, Ehebruch und Begehren, Schwören und Wahrheit. Jesus fordere aktiven Vergeltungsverzicht und die Feindesliebe. Er verbiete das Richten und die Ehescheidung, kritisiere den Reichtum, das Fasten und den Tempel. Er fordere in „souveräne(r) Freiheit“, radikal und konkret zum Liebesgebot auf und zwar „exemplarisch“ und „in jeder Situation neu“.42 40 Schröter, Jesus von Nazareth, 215–245. 41 Schnelle, Theologie, 94–104. 42 Schnelle, Theologie, 103.
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Jünger versus Volk
radikale Liebe
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Jesus von Nazareth
Altruismus
Zwei-Stufen-Ethik
Alle drei Entwürfe gehen von der Überlegung aus, dass die Ethik Jesu Folge seiner Reich-Gottes-Botschaft sei. Dunns Zugang über den „erinnerten“ Jesus führt dazu, dass er recht großzügig vieles aus der Jesusüberlieferung auf Jesus selbst zurückführt. Dadurch gelingt es ihm, die provokanten Aussagen Jesu, etwa die Forderung der Feindesliebe und des Bruchs mit der Familie, in größere Zusammenhänge, etwa der Nächstenliebe und der grundsätzlichen Akzeptanz familialer Strukturen zu stellen, die diesen Aussagen die Spitze abbrechen. Die Ethik Jesu erscheint so als eine sozialverträgliche, leicht altruistische Gruppenethik in der Tradition der jüdischen Armenfrömmigkeit. Schröter hingegen nimmt die radikalen Aussagen Jesu deutlicher auf, ordnet sie aber der Nachfolgegemeinschaft als „Lebensordnung“ im Sinne einer Sonderethik zu. Diese stehe in Analogie zur Lebensordnung für eine zweite Adressatengruppe, die „Familie Jesu“. Schröter verteilt somit die radikalen und die sozialverträglichen Forderungen Jesu auf zwei Gruppen und stellt sich damit in die Tradition der Zwei-Stufen-Ethik. Die spontane, illustrative Ethik Jesu wird so zu einem zielgruppenorientierten, durchdachten und dadurch ebenfalls einigermaßen sozialverträglichen System gebildet, das zudem auf die Lebensführung (Ethos) beschränkt wird. Schnelle konzentriert sich auf das kritisch rekonstruierte Jesusmaterial und arbeitet das Profil der Ethik Jesu pointiert heraus: Feindesliebe, Besitzverzicht, Scheidungsverbot. Diese und andere Gebote gelten für alle. Schnelle stellt allerdings die Radikalität der Ethik Jesu vor allem als Überbietung von Tora und Altem Testament dar, was die Haltung Jesu zum Judentum unnötig verzeichnet. Dunn und Schröter sehen richtig, dass eine Ethik Jesu nur angemessen dargestellt werden kann, wenn ihre jüdischen Voraussetzungen positiv und integrativ mitbedacht werden. Schnelle ist darin zuzustimmen, dass er die konfrontative Radikalität und die Unausweichlichkeit der ethischen Forderungen Jesu deutlich herausarbeitet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Zentrum der Ethik Jesu steht die Vorstellung von Gott als barmherzigem Schöpfer und Vater. Die ethischen Forderungen Jesu verstehen sich als Nachahmung der fürsorglichen Eigenschaften Gottes und übergehen seine majestätischen Attribute. Jesus konkretisiert die altruistische jüdische Ethik angesichts krisenhafter Erscheinungen, wie Missbrauch von Macht, Recht und Besitz als Gewalt-, Rechts- und Besitzverzicht. Diese Praxis des Verzichts versteht er als Vorgriff auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit sozialer Reziprozität (iustitia connectiva). Die Hinwendung zu einfachen Frauen und Männern, den „Armen“, ist ebenso charakteristisch für seine Ethik wie ihre expressive rhetorische Struktur, die die Unausweichlichkeit der ethischen Entscheidung unterstreicht.
Selbstverständnis Jesu
3.5 Selbstverständnis Jesu Die Verkündigung Jesu gruppiert sich um den Zentralbegriff der Königsherrschaft Gottes. Die Theologie Jesu bewegt sich uneingeschränkt im Rahmen des jüdischen Monotheismus und erwartet alles von Gott. Deswegen ist die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu für das Verständnis seiner Theologie von untergeordneter Bedeutung. Die christliche Theologie fragt aber mit Recht, welchen Anhalt ihr Bekenntnis zu Jesus als wahrem Sohn und wahrem Gott an Jesus von Nazareth selbst hat. Diese theologisch interessierte Frage ist mit den Mitteln der kritischen historischen Forschung zu beantworten und hat den Druck zu reflektieren, der von dem Interesse ausgeht, die historischen Ergebnisse so weit als möglich in Übereinstimmung mit dem religiösen Bekenntnis zu bringen. Allerdings sperren sich die neutestamentlichen Schriften weitgehend gegen eine solche Vereinnahmung. Die Aussage, Jesus sei Gott (gr. theos; θεός), findet sich nur am Rande des Neuen Testament, aber nie aus dem Mund Jesu selbst und jeweils in recht interpretationsbedürftigen Kontexten (Hebr 1,8 f.; Joh 1,1; 20,28). In den synoptischen Evangelien spricht Jesus von sich selbst nie als Sohn Gottes oder Messias/Christus. Die Evangelien lassen zwar keinen Zweifel daran, dass sie Jesus als Christus, Herr und Sohn Gottes verstehen, aber in der ältesten Jesusüberlieferung fehlen derartige Aussagen. Die Logienquelle etwa verzichtet völlig auf die Bezeichnung Messias/Christus. Die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu steht demnach vor der Situation, dass die Quellen selbst sehr zurückhaltend sind und offensichtlich erst die weitere Entwicklung im frühen Christentum die Person Jesus mit titularen Aussagen wie Christus oder Herr (gr. kyrios; κύριος) verbunden hat. Dieser Befund führt dazu, dass sich die Diskussion um die Frage des Selbstverständnisses Jesu auf einige wenige Zusammenhänge konzentriert, die bisweilen in ihrer Aussagekraft überbewertet werden. Es gibt zwar einige Elemente im Auftreten Jesu, die zum christologischen Bekenntnis in Beziehung stehen, aber nur sehr wenige, die eine Entwicklung des christologischen Bekenntnisses aus sich heraus bewirkt haben könnten, wie es das Konzept einer „impliziten Christologie“ unterstellt.43 Für das Selbstverständnis Jesu sind die titularen Bezeichnungen Sohn Davids, Prophet und Menschensohn auszuwerten. Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit im Auftreten Jesu symbolische Handlungen vollzogen werden, in denen ein gehobenes Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Hier sind zu nennen: die Frage nach seiner 43 S. o. 22 (Implizite Christologie).
Monotheismus
Bedeutung des Todes
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Jesus von Nazareth
christologische Titel
Jesus, der Prophet
Sterbebereitschaft und das Bewusstsein seiner stellvertretenden Lebenshingabe. Schließlich ist noch zu erörtern, auf welche Weise die Verkündigung der Gottesherrschaft mit seiner Person auf besondere Weise verbunden ist. Die christologischen Titel Sohn Gottes und Messias/Christus hat Jesus nicht für sich verwendet. Die Bezeichnungen Menschensohn, Sohn Davids und Prophet gehören jedoch in die älteste Jesusüberlieferung und werfen ein Licht auf Jesu Selbstverständnis. Zunächst aber soll darauf aufmerksam gemacht werden, mit welchen Techniken die synoptischen Evangelien die christologischen Hoheitstitel zu Jesus in Beziehung gesetzt haben. In Mk 14,53–65 wird von einem Verhör Jesu vor dem Synhedrion berichtet. Im Verhör fragt der Hohepriester: „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ Jesus antwortet mit dem direkten „Ich bins“ und mit einer Paraphrase des Wortes vom Menschensohn in Dan 7,13. Nach der Verurteilung wird Jesus weggeführt, verspottet und gefoltert. In dieser Szene werden vier wichtige Titel zusammengeführt: Christus, Sohn Gottes, Menschensohn und schließlich wird mit dem Spottruf „Sag, wer hat dich geschlagen?“ seine Stellung als Prophet thematisiert. Allzu deutlich stellt der Evangelienverfasser in dieser Szene die wichtigsten christologisch relevanten Aussagen zusammen, um sie geradezu juristisch bestätigen zu lassen: Ja, Jesus ist der Sohn Gottes, der Christus, der Menschensohn und ein Prophet. In dieser Szene stellt die markinische Gemeinde ihr Bekenntnis zu Jesus dar, nicht aber das Selbstverständnis Jesu. Ähnlich verhält es sich mit der Geburtstradition nach Lukas. Dort wird hervorgehoben, dass Jesus aus dem Geschlecht Davids war. Tatsächlich aber wird Jesus in der ältesten Tradition „Jesus von Nazareth“ und niemals „Jesus aus Bethlehem“, der eigentlichen Stadt Davids, genannt. Hengel hat zwar einige Mühe darauf verwendet, die Abstammung der Familie Jesu aus dem Geschlecht Davids aufgrund von „Indizien“ plausibel zu machen, überzeugend ist seine Argumentation aber nicht.44 Jesus macht in einigen Worten deutlich, dass er sich in der Tradition der Propheten und in direktem Anschluss an seinen Vorgänger Johannes den Täufer als Prophet sieht. Die Redaktion der Logienquelle hat die Aussagen Jesu über den Täufer in eine Struktur gebracht, die zugleich die Legitimation Jesu durch den Täufer wie auch seine Überlegenheit über den Täufer zum Ausdruck bringen soll (Q 3,7–17; 7,18–35).45 Die synoptischen Evangelien haben diese 44 Hengel, Jesus und das Judentum, 292. 45 Kirk, Composition of the Sayings Source, 364–397.
Selbstverständnis Jesu
Sichtweise übernommen und um die Vorstellung des Täufers als Vorläufer des Messias nach der Elia-Tradition ergänzt (Mk 1,8; Mt 11,14; Mk 9,13; Lk 1,17; vgl. Joh 1,21).46 Trotz dieser literarischen und theologischen Gestaltung aus späterer Zeit lässt sich dennoch Jesu Haltung zum Täufer rekonstruieren. Jesus nennt den Täufer einen „Propheten“ (Q 7,26–28) und äußert sich über ihn anerkennend (Q 7,28.33). Wie der Täufer zurückgewiesen wurde, werde er selbst abgelehnt (Q 7,33 f.). Die Erwartungen an einen Propheten gingen weit über das einfache Verständnis einer „alttestamentlichen Botenkategorie“ hinaus.47 Das antike Judentum vertraute auf die Zusage, dass Gott in jeder Generation „einen Propheten wie Moses“ auftreten lassen werde (Dtn 18,15– 18), der als „Dolmetscher Gottes“ (Philo) oder gemeinsam mit dem Hohepriester und dem Hohen Rat als Leitungsorgan Israels (Josephus) fungieren sollte.48 Als ein solcher Prophet für seine Generation hat sich Jesus verstanden. Er wusste aber auch, dass Israel diese Propheten immer wieder zurückgewiesen hatte (Lk 12,49–51). Im Anschluss an die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten, deren ältester Beleg in Neh 9,26 vorliegt, wird die Erwartung formuliert, dass ein Prophet nach Jerusalem ziehen und sich in Todesgefahr begeben müsse (Q 13,34 f.). Den Titel „Prophet“ hat Jesus für sich selbst in Anspruch genommen und als Dienst für das Israel seiner Generation im Horizont der durch Dtn 18,15–18 geweckten Erwartungen des antiken Judentums verstanden. Der gelegentlich aus christlicher Perspektive vorgebrachte Einwand „nur ein Prophet?“ belegt vor allem das Unverständnis gegenüber der herausragenden Bedeutung, die das Judentum des Zweiten Tempels der Erwartung einer solchen Figur als „Dolmetscher Gottes“ (Philo) und als tragender Teil der idealen Verfassung Israels (Josephus) beigemessen hat.
Etwas komplizierter verhält es sich mit der Selbstbezeichnung Jesu als „Menschensohn“ (gr. ho hyos tou anthropou; ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) und mit der Erwartung eines „Tags des Menschensohns“ (Q 17,24.26.30).49 Jesus spricht häufig in der dritten Person vom Menschensohn. Dieser Begriff begegnet auch im Aramäischen dieser Zeit und steht zunächst einfach für „Mensch“, kann aber in einer Rede der ersten Person in 46 Öhler, Elia im Neuen Testament, 31–110. 47 Schnelle, Theologie, 129. 48 Philo Spec. 1,59–65, hier 65; Jos. Ant. 4,218. 49 Bormann, Menschensohn, 115–124.
Menschensohn
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Jesus von Nazareth
Menschensohnworte
der Bedeutung „ein Mensch wie ich“ oder „einer wie insbesondere ich es bin“ verwendet werden. Diese zweite Deutung versteht den jesuanischen Gebrauch des Wortes als die Umschreibung des „Ich“. Aus ihr würden sich recht weitreichende Folgen für das Selbstverständnis Jesu ergeben, da dann Aussagen über das Gericht und das Wiederkommen auf Selbstaussagen Jesu zurückgeführt werden könnten. Auf der Basis dieser Menschensohnworte wäre Jesus ein gehobenes, ja ein messianisches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis zuzuschreiben. Die Menschensohnworte werden in der ältesten Überlieferung in drei Gruppen geordnet: a) Worte vom kommenden Menschensohn (Q 12,8 f.; 12,40; 22,28.30; Mt 10,23b; 24,30a; Lk 18,8b), b) Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn (Mk 8,31; 9,31; 10,45; 14,21), c) Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn (Mk 2,10.28; Q 7,34; 9,58; 11,30; 12,10). Die Worte unter b) scheiden aus der Betrachtung aus, weil sie bereits Kreuz und Auferstehung Jesu voraussetzen. Die Worte vom kommenden Menschensohn unterscheiden zwischen Jesus und der Figur des Menschensohns und geben damit auch keine unmittelbare Auskunft über Jesu Selbstverständnis. Was tragen nun die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn zur Klärung der Frage bei? In ihnen begegnet ein hohes Selbstbewusstsein: Der Menschensohn vergibt Sünden, obwohl die Sündenvergebung nach den Vorstellungen des antiken Judentums allein Gott vorbehalten ist (Mk 2,10). Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat, obwohl der Sabbat durch ein Gebot Gottes geordnet und nur Gott dessen Herr ist (Mk 2,28). Das Verhalten gegenüber dem Menschensohn entscheidet über das Ergehen im Endgericht (Q 12,8 f.). Mk 2,10 und 2,28 sind Ausdruck der markinischen Christologie und scheiden für die Fragestellung aus, In Q 7,34; 9,58 und 12,10 sind die Menschensohnaussagen ohne gehobenen Selbstanspruch und haben die Bedeutung „einer wie insbesondere ich es bin“. Die Diskussion konzentriert sich nun aber auf Q 12,8 f., da die Mehrfachbezeugung dieses Wort als älteste Überlieferung anzeigt (vgl. Mk 8,38/Lk 9,26). Q 12,8 f.: Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.
Jesus als Fürsprecher
In diesem Wort spricht Jesus von sich in der 1. Person und davon klar unterschieden auch von dem Menschensohn in der 3. Person. Das Verhalten gegenüber Jesus und gegenüber seiner Verkündigung „vor den Menschen“, d. h. jetzt unter den irdischen Bedingungen, wird „vor den Engeln“, d. h. im endzeitlichen Geschehen, die Richtlinie für das Verhalten des Menschensohns als Zeuge, Fürsprecher oder gar
Selbstverständnis Jesu
Richter sein. Führt man das Wort auf Jesus selbst zurück, hat man das stärkste Argument für die Ansicht, Jesus habe den Menschensohn von sich unterschieden und das Kommen eines anderen als Menschensohn verkündigt. Allerdings tritt diese Anschauung in einen Widerspruch zu der herausgehobenen Bedeutung, die Jesus in diesem Wort sich selbst und seiner Verkündigung beimisst. Wenn das Verhalten gegenüber Jesus entscheidend sein soll, welche Rolle hat denn dann noch ein endzeitlicher Menschensohn? Nimmt der Sprecher dieses Wortes, d. h. Jesus, nicht auch dann für sich eine hohe eschatologische Bedeutung in Anspruch, wenn er sich vom Menschensohn unterscheidet? Das spricht dafür, dass sich die Aussage über die nicht revidierbaren eschatologischen Folgen einer bekennenden oder verleugnenden Haltung zu Jesus nicht auf Jesus von Nazareth zurückführen lässt, sondern sich ebenfalls der Menschensohnchristologie von Q und Mk verdankt.50 Jesus hat von sich selbst als „Menschensohn“ gesprochen, allerdings in Zusammenhängen, in denen er kein gehobenes Selbstbewusstsein oder gar einen besonderen Anspruch vertrat (Q 7,34; 9,58). Die übrigen Menschensohnaussagen und die Erwartung des Tages des Menschensohns stehen unter Einfluss von Dan 7,13 und dessen Interpretation durch die Gemeinde.
Haben aber nicht wenigstens die Handlungen Jesu eine symbolische Dimension, die auf ein besonderes Selbstverständnis hinweisen? Bei der Beantwortung dieser Frage können nicht einfach alle Erzählungen der Evangelien herangezogen werden, vielmehr hat man sich auf die historisch plausiblen Geschehnisse zu beschränken, die oben genannt wurden. Zunächst ist es bemerkenswert, dass der Sohn eines Zimmermanns aus Nazareth in Galiläa überhaupt öffentlich auftrat und sein Leben nicht einfach in den traditionellen Bahnen von Arbeit, Ehe, Familie und Dorfleben führte. Mit seinem öffentlichen Auftreten waren Heilungen und Dämonenaustreibungen verbunden. Sie demonstrieren als symbolische Handlungen den Machtverlust der widergöttlichen Mächte und die Wiederherstellung des Willens des Schöpfers. Diese Zeichenhandlungen sind aber nicht auf Jesus beschränkt, sondern werden auch den Jüngern zugetraut (Q 10,9). Sie sind Zeichen für die Nähe der Gottesherrschaft, nicht aber für ein gehobenes Selbstverständnis Jesu. Die Bildung einer Jüngergemeinschaft (Mk 3,13–19; Q 22,30) zeigt an, dass von Jesu öffentlichem Auftreten eine Anziehung ausging, die zur Gemein50 S. u. 222.
Heilungen
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Jesus von Nazareth
Zwölferkreis
Sühnevorstellung
schaftsbildung führte.51 Hat er aber einen symbolischen Zwölferkreis bestimmt? Die Logienquelle weiß davon nichts, sondern überliefert vielmehr das Gericht über die zwölf Stämme Israels durch die Jünger, die auf zwölf Thronen sitzen werden (Q 22,28.30). Ein Zwölferkreis ist somit nicht von Jesus selbst gebildet worden, sondern verdankt sich vielmehr der theologischen Reflexion der ersten Gemeinde. Der Weg nach Jerusalem und der Gang in den Tempel stehen mit den Erwartungen an einen Propheten für diese Generation in Übereinstimmung. Die genannten historischen Sachverhalte weisen nicht über das Selbstverständnis eines „endzeitlichen Sprechers für Gott“ hinaus.52 Mit der Beauftragung als Prophet war die Vorstellung des Konflikts mit Israel verbunden. Dieser musste sich in Jerusalem und in Nähe zum Tempel ereignen. Jesus kannte das Schicksal des Täufers und rechnete allein schon deswegen mit der Möglichkeit seines gewaltsamen Todes. Hat er aber mit seinem Sterben eine besondere Vorstellung verbunden, etwa die auf der Interpretation von Jes 52,13–53,12 beruhende Vorstellung einer stellvertretenden Lebenshingabe als Schuldopfer (Jes 53,10: hebr. ascham; )אשםfür die Sündenschuld Israels? Es gibt in der ältesten Jesusüberlieferung nur wenige und durchweg isolierte Anklänge an diese Vorstellung: Das Lösegeldwort (Mk 10,45) erlaubt alternative Deutungen. Das Kelchwort der Einsetzungsworte steht mit seiner Aussage zum „Bund“, die vermutlich auf Jer 31,31–34 beruht, isoliert in der gesamten Jesusüberlieferung („Jesu Bundeschweigen“) und ist zudem wahrscheinlich erst später parallel zum vermutlich ursprünglichen Brotwort gebildet (Mk 14,24). Das Zerreißen des Brotes verbunden mit dem Deutewort „Dies ist mein Leib“ bilden eine symbolische Handlung, die als Hinweis Jesu auf seinen Tod gedeutet werden kann. Die Bedeutung dieser Zeichenhandlung ist aber recht unspezifisch, was ebenso für die viel diskutierte Tempelaktion Jesu gilt (Mk 11,15–17). Jesu Weg nach Jerusalem und die mit dem Jerusalemaufenthalt verbundenen Zeichenhandlungen erlauben eine vertiefte theologische Interpretation. Aus ihnen lässt sich aber nicht auf die Bedeutung der Person Jesu im Sinne eines messianischen Bewusstseins oder eines Todesverständnisses im Sinne der stellvertretenden Lebenshingabe als Sühnopfer schließen. Die Bedeutung, die Jesus selbst ihnen beigemessen hat, geht nicht über den Rahmen hinaus, der durch sein Selbstverständnis als eschatologischer Prophet der Gottesherrschaft gegeben ist. Jesus erwartete die Wende nicht von seinem eigenen Tod, sondern vom Handeln Gottes. Jesus und die Jünger erwarteten gleichermaßen nicht mehr als „mit Abraham, Isaak und Jakob in der Königsherrschaft Gottes“ vereint zu sein (Q 13,28 f.). 51 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 197. 52 Dunn, Jesus Remembered, 762.
Ergebnis und Ausblick
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3.6 Ergebnis und Ausblick Die Analyse des ältesten Materials zeigt, dass Jesus sich als eschatologischer Prophet der Gottesherrschaft, der den Willen Gottes auslegte und für Israel in Kraft setzen wollte, verstand. Er wählt für seine Botschaft die Sprachform des maschal und entwirft in Bildworten und Gleichnissen eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, die diese für den zentralen Gehalt seiner Verkündigung öffnet: die Königsherrschaft Gottes. Die Verkündigung der Gottesherrschaft orientiert sich an den Eigenschaften Gottes, Barmherzigkeit und Gnade (Ps 145,8), und an der Fürsorge des Schöpfers, der die Gebeugten aufrichtet (Ps 145,14– 20). Die neue Wirklichkeit der Gottesherrschaft ist dynamisch und spannungsreich. In ihrer Mitte stehen einfache Frauen und Männer, nicht aber die Elite aus Ältesten, Richtern und Repräsentanten der herodianischen oder römischen Herrschaftsschicht. Die Ethik der Gottesherrschaft entfaltet die Eigenschaften Gottes. So wie der gerechte Gott vor allem barmherzig und liebevoll ist, so sollen es auch die Seinen, die Söhne und Töchter des Höchsten, sein. Damit ist zugleich etwas Wichtiges über den Charakter der Liebe im biblischen Sinn gesagt. „Liebe“ ist keine emotionale Haltung oder eine innere Gestimmtheit. Liebe ist fürsorgliches und barmherziges Handeln, das nicht unparteiisch ist, sondern die benachteiligte Mehrheit, die „Armen“, bevorzugt. Die barmherzige Liebe in der Ethik Jesu schließt notwendig eine soziale oder materielle Interaktion, eine soziale Aufwertung oder eine bevorzugte Zuteilung, ein. Wer liebt, gibt, wendet sich zu, grüßt, achtet, respektiert in Form einer materiellen Gabe und/oder einer sozialen Interaktion, die dem Gegenüber Anerkennung und Respekt übereignet. Der Sozialphilosoph Richard Sennett übersetzt Respekt mit den Worten: „man wird beachtet, man wird als Mensch angesehen, dessen Anwesenheit etwas zählt“.53 Das biblische Verständnis von Liebe steht dieser Definition von Respekt nahe und realisiert sie durch konkretes Handeln.
Gottesherrschaft
Ethik
Die Verkündigung Jesu ist demnach Theologie im vollen Sinn der Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch, weil sie die Welt als Schöpfung durch die Verkündigung der Gottesherrschaft in eine dynamische Beziehung zu Gott als dem fürsorglichen Schöpfer setzt und diese Beziehung eine veränderte Wirklichkeit im Alltag der Frauen und Männer Israels bewirkt.
53 Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 15.
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Jesus von Nazareth
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4 Theologie des Paulus 1: Gott und Christus
Abb. 4: Propylon des Augustusheiligtums von Antiochia ad Pisidiam mit den Inschriftentafeln des Tatenberichts des Göttlichen Augustus (res gestae divi Augusti).
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
4.1 Einführung
Imperium Romanum
Paulus der Theologe
Die Verkündigung Jesu von Nazareth war an die Welt des jüdischen Dorfes gerichtet, Paulus von Tarsus aber brachte das Evangelium in die hellenistisch-römische Stadt. Vermutlich ist Paulus einige Zeit vor dem Jahr 47 n. Chr. durch dieses oben abgebildete Prunktor, das zum monumentalen Augustusheiligtum des pisidischen Antiochien führte, geschritten (Apg 13,14–51). Sein Blick fiel vermutlich auch auf die gewaltigen marmornen Inschriftentafeln mit dem Tatenbericht des „göttlichen Augustus“ (lat. divus Augustus), die dort angebracht waren. Möglicherweise hatte er diese oder ähnliche Repräsentationsbauten des Imperium Romanum im Sinn, wenn er in 1Kor 1,19–26 schreibt, dass Gott das Törichte, Schwache, Geringe und Verachtete dieser Welt erwählt hat, um das Weise, das Starke und das Angesehene zunichte zu machen. In Städten wie dieser traf Paulus auf Sinn- und Orientierungsangebote, die mit seinem Evangelium von dem einen Gott, der seinen gekreuzigten Sohn von den Toten auferweckt hat, konkurrierten: die hellenistische Popularphilosophie, die römische Kaiserpropaganda, die Mysterienkulte und natürlich auch die altehrwürdigen Kulte der griechischen und römischen Götter und Heroen. In der Auseinandersetzung mit diesen Gedanken, Haltungen und Weltanschauungen war Paulus gezwungen, auch sein Evangelium mit einer besonderen gedanklichen Tiefe zu verkündigen, um die Menschen dieser städtischen Welt zu erreichen. Die paulinische Theologie gilt der Exegese in reformatorischer Tradition als die Theologie des Neuen Testaments schlechthin. Kein anderer neutestamentlicher Autor stellt so differenziert und reflektiert, aber auch spannungsvoll und polemisch dar, in welcher Beziehung Gott, Welt und Mensch zueinander stehen. Diese besondere Stellung des Paulus als dem Theologen des Neuen Testaments schlechthin bringt es immer wieder mit sich, dass im Streit um die paulinische Theologie der Eindruck entsteht, es werde über das entschieden, was im Christentum damals und heute gelten sollte. Es ist aber weder historisch noch theologisch zwingend, Paulus mit dieser normativen Anspannung zu lesen. In der Geschichte des frühen Christentums waren es nicht die Paulusbriefe, sondern die Evangelien, die sowohl kirchenbildende als auch missionarische Kraft entfaltet haben. Es ist die sogenannte petrinische Traditionslinie, zu der das Markusevangelium, das Matthäusevangelium, die Petrustradition der Apostelgeschichte (Kp. 1–12; 15) und die beiden Petrusbriefe zu zählen sind, die als Weitergabe des Evangeliums des Herrn durch den hervorgehobenen Jünger (Mt 16,13–19) besonders wirksam geworden sind. Die paulinische Linie, repräsentiert in den Paulusbriefen, der
Einführung
Paulustradition der Apostelgeschichte (Kp. 9; 13 f.; 16–28) und den deuteropaulinischen Briefen einschließlich der Pastoralbriefe, hat vor allem in Kleinasien Wirkung entfaltet, aber doch insgesamt weniger stark die Geschichte und Ausbreitung des frühen Christentums beeinflusst. Es gibt sowohl eine neutestamentliche Theologie als auch eine Geschichte des frühen Christentums ohne Paulus. Es ist demnach eine Frage des theologischen Urteils, welchen Stellenwert man Paulus zuweisen möchte. Die Behauptung etwa, Paulus sei der eigentliche Begründer des Christentums, ist weit überzogen und setzt ein normatives Verständnis des frühen Christentums voraus, das seiner Vielfalt, Dynamik und Lebendigkeit nicht gerecht wird. Dennoch ist die zentrale Stellung des Paulus in einer Theologie des Neuen Testaments nicht unbegründet. Anders als die auf die Gottesherrschaft konzentrierte Theologie Jesu und die aufgrund ihrer biographisch-narrativen Gestaltung eher indirekte Theologie der Evangelien formuliert Paulus direkt und argumentativ, welche Ursache, Bedeutung und Folgen für ihn das Handeln Gottes in Christus, d. h. das Christusereignis, hat. Diese Reflexion bekommt auch deswegen besonderes Gewicht, weil Paulus seine Verkündigungstätigkeit als „berufener Apostel“ (Röm 1,1) und als Gründer von „Gemeinden unter den nichtjüdischen Völkern“ (Röm 16,4) unter Berücksichtigung seiner Herkunft aus dem pharisäischen Judentum thematisiert (Phil 3,5; vgl. Gal 1,13 f.).1 Die Paulusbriefe eröffnen somit den Einblick in die religiöse Erfahrung und theologische Urteilsbildung eines Christusanhängers mit guter Kenntnis der antiken Denktraditionen und mit tiefer Vertrautheit mit den religiösen Konflikten seiner Zeit. Paulus reflektiert die ihm widerfahrenen Ereignisse als Erleben in der Ich-Perspektive bzw. Erste-Person-Perspektive und findet für sie eine symbolische Form in religiösen Metaphern wie „Offenbarung“ und „Sohn Gottes“ (Gal 1,12.16), die er zudem verstehend artikuliert, indem er sie grundsätzlich auf ihre Bedeutung für das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch reflektiert und sie mit seinen Gegnern und Anhängern theologisch kommuniziert.2 An Darstellungen der Theologie des Paulus ist kein Mangel: Wolter bietet auf über 450 Textseiten einen „Grundriß“ der Theologie des Paulus, Dunn entfaltet auf über 730 Seiten „Die Theologie“ des Paulus und Schnelle stellt „Leben und Denken“ des Paulus auf ebenfalls über 700 Seiten dar. Für Bultmann war die Theologie des Paulus, der ihm als „Begründer einer christlichen Theologie“ galt, aufgrund ihrer begrifflich entfalteten Anthropologie durchaus so etwas wie die Mitte des Neuen 1 S. o. 45 (gr. Ioudaismos). 2 Jung, Erfahrung und Religion, 14.
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Christusereignis
Paulus interpretationen
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Die Schrift
Testaments.3 Räisänen gibt seiner religionsgeschichtlich orientierten Darstellung, möglicherweise ungewollt, einen paulinischen Anstrich, indem er seine Ausführungen zur Entstehung der christlichen Glaubensvorstellungen so strukturiert, dass er mit Gott und Eschatologie einsetzt und dann die Themen Tod, Sünde und Erlösung behandelt.4 Diese besondere Bedeutung der Theologie des Paulus für das Verständnis des frühen Christentums hat eine ihrer Ursachen auch darin, dass Paulus seine Theologie sowohl in Beziehung zur „Schrift“ (Altes Testament) als auch in interpretierender Aufnahme von symbolischen Ausdrucksformen der Gemeinde wie Gottesprädikationen (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1: „der Jesus aus den Toten auferweckt hat“), bekenntnisartigen Aussagen (1Kor 15,3–5) und liturgischen Wendungen (Röm 8,15; 1Kor 11,23–26; Gal 4,6: aram. abba; Vater; 1Kor 16,22: aram. maranatha; Herr komm) formuliert. Immer wieder macht er deutlich, dass die Ereignisse um Christus und insbesondere der Inhalt seiner Verkündigung von der „Schrift“ (gr. graphe; γραφή) bzw. von „Moses und den Propheten“ bestätigt werden. Die Schrift insgesamt berichtet nach Ansicht des Paulus nicht in erster Linie von vergangenen Ereignissen, sondern das, was sie schreibt, ist um der Gegenwart der Gemeinde willen geschrieben („um unseretwillen“): Röm 1,2: Evangelium Gottes, das er vorher verheißen hat durch seine Propheten in den heiligen Schriften […] Röm 4,23 f.: Es ist aber nicht allein seinetwegen (d. i. Abraham) geschrieben […] sondern auch unseretwegen. Röm 15,4: Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und den Trost der Schriften Hoffnung haben. 1Kor 9,10: Denn es steht unseretwegen geschrieben. Gal 3,8: Die Schrift hat vorausgesehen […]
Paulus legt die ganze Schrift gegenwarts- und gemeindebezogen aus. Er folgt bei der Schriftauslegung einer „ekklesiozentrischen Hermeneutik“ und findet deswegen in der Schrift die Gemeinde Gottes präfiguriert.5 Schließlich sind bei Paulus auch Einflüsse der Popularphiloso3 Bultmann, Theologie, 184. 4 Vgl. die Überschriften der Kp. 4–10 bei Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 79–282. 5 Hays, Echoes of Scripture, 86.
Einführung
phie seiner Zeit festzustellen. Am offensichtlichsten ist das in einigen Passagen der Paulusbriefe zu fassen, in denen er gemäß des rhetorischen Stils der Stoa das Vorbild des unterhaltsamen Lehrvortrags, der sog. Diatribe, nachahmt, der durch anschauliche Sprache, drastische Ausdrucksweise und die Integration möglicher Einwände der Gegner und deren Beantwortung charakterisiert ist (Röm 3,1–8.27–31; 5,9–11 u. ö.).6 Auch in seinen ethischen Anschauungen steht Paulus der Stoa recht nahe, wenn er z. B. die Freiheit des Apostels trotz widriger Umstände betont (z. B. Phil 4,10–12).7 Die Theologie des Paulus steht demnach in einer besonderen Weise in Beziehung zu wichtigen Überzeugungen seiner Zeit und gibt dem heutigen Interpreten die Möglichkeit, über sie einen profilierten Einblick in das theologizing/Theologisieren seiner Zeit zu wählen – und für die Gegenwart theologisch in Anspruch zu nehmen. Letzteres gilt besonders dann, wenn er etwa die Erfahrung von Dunn teilen kann, dem die Theologie des Paulus nicht erscheint „wie erkaltete und versteinerte Reste eines Vulkanausbruchs, der vor einigen Jahrhunderten geschah, sondern als fließende Lava, die noch heiß und in Bewegung ist, noch fähig zu verbrennen und zu entzünden“.8 Obwohl also bereits andere sehr viel umfangreicher die Theologie des Paulus dargestellt haben, wird diese im Folgenden auf etwa 50 Seiten dargestellt. Die oben genannten, umfangreicheren Darstellungen gehen jeweils ausführlich auf biographische und historische Fragen ein und referieren zudem auch bibelkundliches Wissen. Die beiden folgenden Kapitel konzentrieren sich hingegen auf die im engeren Sinne theologische Konzeption des Paulus, indem sie das für seine Theologie charakteristische dynamische und relationale Gottesverständnis (Kp. 4) und dessen zentrales Konzept der Relationalität, den Glauben (Kp. 5) behandeln.
Popularphilosophie
theologizing
Die Theologie des Paulus bringt die Überzeugung der ersten Christen angesichts der römischen Herrschaftspropaganda, der hellenistischen Popularphilosophie und der pharisäischen Auffassung vom Judentum zum Ausdruck: Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist der von Gott aus den Toten auferweckte Sohn Gottes. Paulus verkündigt diese Botschaft als Evangelium für die nichtjüdischen Völker und hält dabei daran fest, dass genau dieses Evangelium von der Schrift aus Gesetz und Propheten angekündigt ist und dem Schöpferwillen des Gottes Israels entspricht.
6 Lohse, Theologische Ethik, 20 f. u. 58. 7 Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, 100–103; Schnelle, Paulus und Epiktet, 137–158. 8 Dunn, New Testament Theology, 16; ähnlich Schnelle, Paulus, 132: Er beschreibt den Beginn der eigenständigen Mission des Paulus mit den Worten: „Der Vulkan bricht aus“.
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
4.2 Theologie des vorchristlichen Paulus
Ioudaismos
Rechtsanspruch Gottes
Der Paulus, der uns in den Briefen des Neuen Testaments entgegentritt, verstand sich vor allem als Apostel der nichtjüdischen Völker (Röm 1,5; 15,16; 16,4; Gal 1,16; 2,2.8 f.). Vor dieser Zeit als Völkerapostel setzte er sich bewusst für eine Religionspraxis im Judentum ein, die die Einhaltung der Tora forderte und bereit war, gegenüber Abweichlern religiös motivierte Gewalt anzuwenden und „Eifer“ zu zeigen.9 Diese Haltung war Teil einer umfassenden theologischen Weltsicht, aus der das Orientierungswissen für das aktive Eintreten für ein bestimmtes Verständnis von Judentum (Ioudaismos) abgeleitet wurde. Diese grundsätzlichen Überzeugungen lassen sich aus den Abschnitten der Paulusbriefe rekonstruieren, in denen Paulus auf seine vorchristliche Existenz zurückblickt. Neben biographischen Notizen (Gal 1,13 f.; Phil 3,4b–6; 2Kor 11,22–24; Röm 9,3; vgl. Röm 7,7–25) äußert er in diesen und anderen Zusammenhängen auch grundlegende theologische Überzeugungen, die er in dieser Lebensphase vertreten hatte. Besondere Bedeutung haben die umfassende schöpfungstheologische Polemik in Röm 1,18–32, die missionstheologische Zusammenfassung in 1Thess 1,9 f. und die Darstellung der besonderen Gaben Gottes an Israel in Röm 9,1–5. In Röm 1,18–3,20 entfaltet er eine Sicht Gottes als Schöpfer, die nicht die Fürsorge in den Mittelpunkt stellt,10 sondern den Anspruch, den der Schöpfer an seine Geschöpfe richtet. Zwischen Gott und Welt hat sich ein verhängnisvolles Drama der zunehmenden Schuldverstrickung zugetragen. Obwohl die Menschen „Gott kannten“, haben sie sich wie „Narren, die sich für Weise hielten“ der „Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes“ entgegengestellt, indem sie an deren Stelle die Abbildungen seiner Geschöpfe, nämlich „Menschen, Vögel, Vierfüßler und Kriechtiere“, stellten (Röm 1,23). Diese Welt, die sich der Schöpfung entgegenstellt, ist „dahingegeben“, wie Paulus dreimal variierend ausführt (Röm 1,24.26.28), und das heißt „des Todes schuldig“ (Röm 1,32). Dieses Todesurteil galt in der Tradition der Heiden- und Götzenpolemik von Deuterojesaja bis zur Weisheit Salomos ganz bestimmt für die Nichtjuden. Paulus’ Sicht der Nichtjuden wird in einem Text deutlich, in dem er der Gemeinde in Thessaloniki die Stellung ihrer nichtjüdischen Mitglieder, bevor sie zur Gemeinde Gottes gehörten, erläutert:
9 S. o. 50–52 (Eifer und Götzenpolemik). 10 S. o. 90 (Fürsorge Gottes).
Theologie des vorchristlichen Paulus
1Thess 1,9 f.: Wie ihr euch gewendet habt hin zu Gott, weg von den Götzen (gr. eidolon; εἴδωλον), um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (10) und seinen Sohn aus dem Himmel zu erwarten, den er aus den Toten auferweckt hat, Jesus, der uns rettet vor dem kommenden Zorn.
Lässt man die christologische Aussage zur Rettung vor dem Zorn erst einmal außen vor, dann findet sich hier die gleiche Sicht auf die Nichtjuden wie in Röm 1,18–32: Sie haben sich den Götzen zugewendet und stehen deswegen unter dem „Zorn“ Gottes. Der Zorn bezeichnet hier nicht eine emotionale Haltung, sondern die Durchsetzung der göttlichen Rechtsforderung gegen seine Schöpfung, die sich von ihm, dem wahren Gott, abgewendet hat. Der Zorn ist die Bezeichnung für ein umfassendes Vernichtungsgericht, das keine Unterschiede mehr macht. So wie die Schöpfung sich zu ihrem Schöpfer verhalten hat, kann ein gerechtes Urteil nur Todesstrafe und Vernichtung lauten. Dieser Gott war für Paulus in Übereinstimmung mit dem Bekenntnis Israels in Dtn 6,4 der eine und einzige Gott (1Kor 8,4–6). Die Hinwendung zu diesem Gott galt auch dem vorchristlichen Paulus als der einzige Weg, auf dem Nichtjuden gerettet werden konnten. Paulus kennt auch Relativierungen dieser Ablehnung der Nichtjuden, wie die Aussagen, dass Nichtjuden die Tora „von Natur“ befolgen könnten (Röm 2,14 f.) oder dass die körperliche Beschneidung alleine nicht ausreiche (Röm 2,28 f.). Insgesamt aber dominiert die Vorstellung von den zum Tod verurteilten und dem Vernichtungsgericht ausgelieferten Götzenverehrern. Die Vorstellung vom Recht des Schöpfergottes und die Forderung nach der Abwendung von den Götzen muss im antiken Judentum nicht so scharf formuliert werden, wie das Paulus überwiegend macht. In Apg 14,15–17 wird den Nichtjuden in Lystra erklärt, was der Gott Israels als Schöpfer auch den Nichtjuden Gutes getan hat. Eine solche maßvolle Sichtweise findet sich in den Paulusbriefen nicht. Vielmehr ist der vorchristliche Paulus überzeugt, dass sich Gottes Erbarmen auf Israel konzentriert. Das wird in Röm 9,1–5 deutlich zum Ausdruck gebracht. Nur das Volk Israel ist ein angemessenes Gegenüber des Schöpfers, der auch Herr der Geschichte ist. Er eröffnete Israel die Vater-Kind Beziehung (Kindschaft), gab Israel Anteil an seiner glänzenden Herrlichkeit, machte Zusagen, gab die Tora, den Kult und die Verheißungen, die Patriarchen. Aus diesem Gottesvolk stammte auch der „Messias dem Fleische nach“ (Röm 9,4 f.), wobei „Fleisch“ bei Paulus als anthropologische Kategorie den Menschen unter den empirischen Bedingungen seiner Existenz bezeichnet. In Röm 7,7–15 thematisiert Paulus diese Sichtweise erneut aus einer Ich-Perspektive bzw. Erste-Person-Perspektive. In dem dort verwendeten „Ich“ vermischen sich biographische
Zorn Gottes
Götzen
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Tora
Elemente, Vorstellungen der Adamstypologie mit Stilmerkmalen der Prosopopoeia (theatralisches Maskenspiel).11 Die Tora ist dem sprechenden Ich „heilig, gerecht und gut“ (7,12), kann aber die Herrschaft der „Sünde“ als willensbestimmende Macht über das „Fleisch“, den Menschen in all seinen Lebensvollzügen, nicht brechen (7,14.23). Ist dieser durch die Sünde fremdbestimmte Mensch nun Jude oder etwa ein Nichtjude, der „einst ohne Gesetz“ (7,9) war? Paulus lässt die Aussage aufgrund seiner komplexen literarischen Gestaltungsabsicht bedeutungs- und damit deutungsoffen. Er reflektiert die Frage, ob die Tora es vermag, die Herrschaft lebensfeindlicher Mächte, insbesondere die der Sünde, über den Menschen zu überwinden – und verneint sie. Diese Anschauung, dass die Tora zwar die Zugehörigkeit zu Israel zum Ausdruck bringt, nicht aber lebensfeindliche Mächte zu besiegen versteht, spiegelt sich auch in den Passagen wider, in denen Paulus über den spottet, „der sich Jude nennt“ (Röm 2,17) und es doch nur „äußerlich“ (Röm 2,28) ist. Die Texte des Yahad, etwa die Danklieder (Hodayot) und die Sektenregel, schildern ebenfalls die Bedrängnisse der menschlichen Existenz und die Angewiesenheit auf das Erbarmen Gottes (z. B. 1QH 3,23–28; 4,35–37; 6,9 f.; 1QS 11,9–16). Deswegen wird man folgern können, dass die untadelige Torabefolgung und das aggressive Eintreten für die Befolgung der Tora gegenüber anderen Juden einerseits und die Erfahrung von der Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz trotz Torabefolgung andererseits bereits Bestandteil der religiösen Erfahrung und theologischen Reflexion des vorchristlichen Paulus waren.12 Diese Spannung war Teil der Beziehung zum Gott Israels, der seinem Volk seine Barmherzigkeit und Treue zugesagt hat. Sanders hat diesen Sachverhalt mit der These vom Bundesnomismus erfasst: Der Bund Gottes mit Israel, d. h. die Erwählung, sei die tragende Grundkonstante des Judentums als Religion (getting-in), die Torabefolgung hingegen gewährleiste die bleibende Zugehörigkeit (staying-in).13 Die besondere Stellung Israels gilt für Paulus auch nach seiner Hinwendung zu Christus, daher ist es umso wahrscheinlicher, dass er diese positive Sichtweise auch in seiner vorchristlichen Zeit vertreten hat. Manche Exegeten meinen, Paulus habe sich wegen seines Festhaltens an der Hochschätzung Israels in Widersprüche verwickelt, sei theologisch „gescheitert“ oder inkonsequent geblieben.14 Dieser wichtige Einwand wird später noch zu diskutieren sein. 11 Dodd, Paul’s Paradigmatic „I“, 234. 12 Lichtenberger, Das Ich Adams, 173–177. 13 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 400–402. 14 Wolter, Paulus, 435; Schnelle, Theologie, 334.
Theologie des Paulus „in Christus“
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Der vorchristliche Paulus vertrat die konsequente Unterscheidung von Juden und Nichtjuden, die durch die Erwählung Israels begründet und durch die religiös-ethnischen Regelungen der Tora, konkret Abstammung, Beschneidung und Speise- sowie Reinheitstora, bestätigt wurden. Die Integrität Israels als Gottesvolk war durch exklusive Gaben Gottes an sein Volk dokumentiert. Diese ermöglichten vielfältige und tragfähige Relationen zu Gott, die von der gemeinsamen Abstammung von den Patriarchen über Tora und Kult bis hin zu den endzeitlichen Verheißungen für Israel reichten. Alle diese Vorzüge Israels beruhten auf der Barmherzigkeit und Treue Gottes gegenüber seinem Volk. Die Nichtjuden hingegen haben sich durch die tätige Ablehnung des Schöpfers mittels der Götzenverehrung selbst das Todesurteil gesprochen und erwarten nichts anderes als das Vernichtungsgericht.
4.3 Theologie des Paulus „in Christus“ Paulus verwendet nicht das Wort „Christ“ (gr. christianos; Χριστιανός). Diese Bezeichnung für diejenigen, die sich der religiösen Sondergruppe der Christusanhänger zugehörig fühlen, kommt im gesamten Neuen Testament nur dreimal vor und zwar in Apg 11,26; 26,28 und 1Petr 4,16. Die Apostelgeschichte stellt sich allerdings vor, dass das Wort „Christ“ etwa ab den vierziger Jahren des 1. Jh. in Antiochien in Gebrauch kam (Apg 11,26) und zur Zeit des Paulus auch von Außenstehenden verwendet wurde (Apg 26,28). Tatsächlich findet sich diese Bezeichnung, die zur Abgrenzung gegenüber „Juden“ und „Griechen“, „Heiden“ und „Barbaren“ dient, bei Paulus nicht. Um die Christusanhänger im Unterschied zu denjenigen zu bezeichnen, die Christus nicht als Herrn bekennen, verwendet Paulus die Formel „in Christus“ (gr. en Christo; ἐν Χριστῷ), Wortverbindungen wie die Anrede an die Gemeinde „ihr, die Berufenen Jesu Christi“ (Röm 1,6) und ähnliche attributive und präpositionale Wendungen. Für Paulus gibt es demnach eine distinkte Sondergruppe „Christi“, aber keine gegenüber dem Judentum autonome Religion der Christen. Diese Sondergruppe versteht sich noch als innerhalb der Grenzen der Mehrheitsreligion Judentum befindlich und bringt das auch durch bestimmte religiöse Praktiken zum Ausdruck, wie etwa den Besuch des Jerusalemer Tempels, die Auslegung der Tora oder die Berücksichtigung bestimmter Verhaltensweisen von Nichtjuden, die mit Juden Umgang haben (Apg 15,20.29; 21,25). Im Zuge der Verfolgung der Gemeinde erwarb Paulus einiges Wissen über die ersten Christusanhänger. Die Neustrukturierung
Christusanhänger
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Berufung
Kinder Gottes
zur Rechten Gottes
seiner theologischen Überzeugungen führt er allerdings auf eine Offenbarung zurück (Gal 1,15 f.). In dieser habe ihm Gott „seinen Sohn“ offenbart und ihn, Paulus, mit der Evangeliumsverkündigung an Nichtjuden beauftragt. Die in der Offenbarung gewonnene Einsicht war demnach zugleich eine Berufung zum Dienst als Apostel der Nichtjuden. Die umfassende Neuorientierung, vom Verfolger zum Apostel, ist als Damaskuserlebnis oder in der an die Apostelgeschichte angelehnten Wendung „vom Saulus zum Paulus“ geradezu sprichwörtlich geworden. Tatsächlich schildert Paulus in Gal 1,11–17 nicht nur eine biographische Wendung, sondern formuliert auch paradigmatisch eine Erfahrung aller Christusanhänger, nämlich die umfassende Neustrukturierung ihrer Lebensorientierung, ihres Selbstverständnisses und ihres Weltbildes.15 Die grundlegende Bedeutung dieses Konversionsberichts wird auch dadurch deutlich, dass Paulus ihn im Zusammenhang einer Kontroverse um ein „anderes Evangelium“ (Gal 1,6) mehrere Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignissen berichtet. In diesen skizzierten Rahmen der theologischen Überzeugungen des vorchristlichen Paulus wird nun die Figur Jesu gestellt. Dieser wird für Paulus nicht als der Verkündiger der Gottesherrschaft relevant, sondern als „Sohn Gottes“. Die Rede von Gott als Vater ist eine Metapher, die in einer natürlichen Weiterführung weitere Bedeutungen freisetzt: Er ist Vater und hat demnach auch „Kinder“. Diese „Kinder“ stehen in besonders enger und exklusiver Beziehung zum Vater. Die Kinder Gottes sind zum einen die Angehörigen Israels (Weish 12,7). Dieser irdischen Wirklichkeit der Kinder Gottes korrespondiert in biblischer Tradition aber auch noch eine himmlische Wirklichkeit. Die „Söhne des Höchsten“ (Ps 82,6) treten im nächsten Umfeld Gottes, in seinem Thronraum, auf (Hi 1,6; 2,1). Sie sind Teil der himmlischen Wirklichkeit und die Vorstellung von ihnen wirkt an der Dezentrierung und Dynamisierung der Gottesvorstellung mit. Die Konzeption des Thronraums als sinnbildende Raumkonfiguration sagt viel über Gott, seine Eigenschaften und die besonderen Kennzeichen seines Handelns aus. In der Offenbarung Gottes sieht Paulus nun Jesus, den Gekreuzigten, den er als „Fluch“ in größter Gottesferne wähnte (Gal 3,13), im Zentrum der göttlichen Selbstinszenierung als Sohn Gottes in privilegierter Relation zu Gott und in privilegierter sinnbildender Raumkonfiguration „zur Rechten Gottes“ (Röm 8,34). Die Position zur Rechten verweist auf die Macht und die Kraft des rechten Armes Gottes (Ps 108,7; 118,15 u .ö.), die nun auf seinen Mandatsträger „zur Rechten“ übergehen. Der zur Rechten Gottes erhöhte Gekreuzigte ist 15 Gaventa, Galatians, 326.
Theologie des Paulus „in Christus“
nun der singuläre privilegierte Mittler und Mandatsträger des göttlichen Willens und der göttlichen Macht. Die aus seiner Position „zur Rechten“ resultierende ungeheure Macht des Sohnes und die dennoch bleibende Unterordnung unter den Vater bringt Paulus zum Ausdruck, wenn er die Schilderung der kosmischen Herrschaft des Sohnes in 1Kor 15,24–28 mit deren Ziel abschließt: „damit Gott herrscht über alles und in allem“ (1Kor 15,28). Neben dieser grundlegenden Neukonstituierung der Relationalität und der Dynamik der Gottesvorstellung, in der nun Christus, der Sohn, eine zentrale Position eingenommen hat, ist nun noch zu bedenken, wieso Paulus daraus nicht nur den Schluss zieht, in die Gemeinde der Christusanhänger einzutreten, sondern sich auch explizit für die Evangeliumsverkündigung an die Nichtjuden entscheidet. Selbst wenn man biographisch argumentiert und unterstellt, Paulus habe zwei zeitlich auseinanderliegende Einsichten in der literarischen Darstellung miteinander verbunden, so wird man doch zu bedenken haben, worin Paulus die sachliche, d. h. theologische Berechtigung dafür sieht. Mit der Anerkennung Jesu als privilegierten exklusiven Mittler und Mandatsträger Gottes war für Paulus unmittelbar die Hinwendung Gottes zu den Nichtjuden verbunden. Am ehesten wird man dafür die Überlegungen in Gal 3,13 f. heranziehen können:
Mittler Gottes
Gal 3,13 f.: Christus hat uns aus dem Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist – denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holze hängt“ (Dtn 21,23) –, (14) damit der Segen Abrahams durch Christus Jesus zu den Nichtjuden hingelange, damit wir die Verheißung des Geistes durch den Glauben empfangen.
Die Offenbarung des Sohnes durch Gott hat Paulus die Einsicht vermittelt, dass der Gekreuzigte, der nach dem vorchristlichen Verständnis des Paulus in unüberwindbarer und aktiver Gottesferne als „Verfluchter“ existierte, nun in unaufhebbarer und aktiver Gottesnähe als „Sohn“ Gottes „zur Rechten“ platziert ist. Diese Wandlung von Fluch in Segen in Christus bewirkt die Wandlung von Fluch und Segen gegenüber den Nichtjuden. Das ist das Evangelium, die gute Botschaft, die Paulus an Nichtjuden verkündet: Gottesferne ist in Gottesnähe gewandelt. Diese Botschaft ist mit der Teilhabe am Segen Abrahams verbunden, der im „Geist“ und „durch den Glauben“ (gr. dia pisteos; διὰ πίστεως) von Juden wie Nichtjuden empfangen wird (Röm 3,21 f.). Diese Dimension der Teilhabe, der Glaube, wird in Kp. 5 näher behandelt. Zunächst soll der Gottesgedanke des Paulus, dessen Grundstrukturen aufgrund seiner Aussagen über sein Damaskuserlebnis erläutert wurden, weiter entfaltet werden.
Evangelium
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Die Offenbarung des Gekreuzigten als auferweckter und in den Thronraum Gottes erhöhter Herr und schließlich seine Einsetzung in die herrscherliche Mandatsposition als Sohn zur Rechten Gottes löst in Paulus die Überzeugung aus, dass er an diesem Geschehen „in Christus“ teilhaben soll, indem er als Apostel Jesu Christi diese Neukonstituierung der Relationalität des Gottes Israels im Evangelium an die Nichtjuden verkündigt.
4.4 Heilswende in Christus: Kreuz und Auferstehung
Traditionsstücke
Kontroversen
Die grundlegende Neuordnung der Dynamik der Gottesvorstellung durch die Integration Jesu als Sohn zur Rechten Gottes bringt inhaltliche Bestimmungen mit sich, die Gegenstand vertiefter theologischer Reflexion sind. Paulus greift dabei auf Vorstellungen zurück, die die Gemeinde vor ihm in Bekenntnis, Liturgie und Verkündigung bereits entfaltet hat. An manchen Stellen macht Paulus zudem ausdrücklich auf solche Traditionsstücke aufmerksam, wenn er sie mit Wendungen einleitet wie „Ich habe übergeben, was ich empfangen habe“ (1Kor 15,3; vgl. 11,2.23) oder sie direkt auf den „Herrn“ zurückführt (1Kor 7,10; 9,14; 11,23; 14,37; 1Thess 4,15). Historisch wird man die erste Phase dieser verstehenden Artikulation des Handelns Gottes in Christus in den Gemeinden von Damaskus (Gal 1,17; Apg 9,19b) und Antiochien (Gal 2,11–21; Apg 11,26) einerseits und in den teilweise kontroversen Gesprächen mit der Jerusalemer Gemeinde (Gal 1,18; 2,1–10; Apg 15,4–29) andererseits verorten. Die zweite Phase ist mit der unabhängigen Evangeliumsverkündigung des Paulus verbunden, die in den Paulusbriefen dokumentiert ist. Es entwickelten sich dabei jeweils Kontroversen, die zu einer Vertiefung und zugleich Konkretisierung der Theologie des Paulus führten. Zumindest zwei dieser Kontroversen entwickelten sich zu grundsätzlichen Krisen, in denen die Akzeptanz der paulinischen Theologie durch die Gemeinde zur Debatte stand: Die galatische Krise um die Bedeutung der Beschneidung und die korinthische Krise um die Wirkung des Geistes. Von ähnlich grundlegender Bedeutung war jedoch auch die Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem („Kollekte“), die neben den materiellen Effekten vor allem eine symbolische Bedeutung hatte, nämlich die Einheit der Gemeinden des Paulus mit der Gemeinde in Jerusalem zu bestätigen (Gal 2,10; 1Kor 16,1–4; 2Kor 8 f.; Röm 15,25–28.31). Die Kollekte hatte nach Paulus das Ziel, die Einheit von Juden und Nichtjuden zum Ausdruck zu bringen (Röm 15,27).
Heilswende in Christus
Paulus knüpft damit an die Artikulation der religiösen Erfahrung der ersten Gemeinden an. Er bringt dabei seine eigene Konversionserfahrung, aber auch die theologische Kompetenz, die er im aktiven Eintreten für sein Verständnis des Judentums erworben hat, ein. In der religionspraktischen und theologischen Auseinandersetzung werden weitere Metaphern und konzeptuelle Vorstellungen wie „Sühne“, „Versöhnung“, „Erhöhung“ bzw. „Erniedrigung“ wichtig. Mit ihnen wird das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch verstehend artikuliert und mit Eigenschaften verbunden, die die Signifikanz der Überzeugungen des frühen Christentums ausmachen. Es ist dieser Vorgang, der von Anfang an eine erstaunliche Vielfalt und Divergenz der Anschauungen zum Vorschein bringt. Gerade die Auseinandersetzung mit der paulinischen Theologie und mit den Kontroversen, aus denen sie hervorging, zeigt, dass die Vielfalt des Christentums kein Ergebnis einer langen Entwicklung ist, sondern von Anfang an existierte. Besondere Aufmerksamkeit verdient die formelhafte Aussage über die Auferstehung Jesu in 1Kor 15,3–5, die vermutlich sehr bald nach den ersten Berichten der Auferstehung entstanden ist und von Paulus übernommen wurde. Sie gehört demnach in die frühen 30er Jahre.16 An ihr lässt sich zeigen, wie unmittelbar mit dem Erlebnis der Erscheinungen des Auferstandenen die verstehende Artikulation einsetzt. Am Anfang steht der Auferstehungsruf:
Vielfalt und Divergenz
Auferstehungsformel
Lk 24,34b: „Der Herr ist tatsächlich auferweckt worden und dem Simon (d. i. Petrus) erschienen!“
Dieses Wort stimmt in der Wendung „dem Simon erschienen“ mit 1Kor 15,5 „dem Kephas (d. i. Simon Petrus) erschienen“ überein. Die ältere Forschung war sicher zu optimistisch, aus diesen knappen Wendungen eine kurze „Erscheinungsformel“ im Wortlaut bestimmen zu können, etwa „Der Herr ist dem Kephas erschienen“. Vermutlich wurde das Erlebnis der Erscheinung von Anfang an mit der konzeptuellen Annahme verbunden, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Diese Aussage ist in zahlreichen Varianten belegt, etwa 1Thess 4,14a: „Jesus ist gestorben und auferstanden“. Die zum Faktum verdichtete Tat der Auferstehung wird als Eigenschaft Gottes verstanden. In Anknüpfung an traditionelle attributive Partizipialwendungen wie z. B. „der die Herzen erforscht“ (Röm 8,27; vgl. Ps 7,10; 26,2.) wird nun von diesem Gott auch gesagt: „der Jesus (bzw. Christus oder den Herrn) von den Toten erweckt hat“ (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1). 16 Zeller, Der erste Brief an die Korinther, 468.
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Erscheinungen
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
In der weiteren theologischen Reflexion der Erscheinung vor Petrus und deren Verständnis als Auferweckung von den Toten durch Gott wird die Kontinuität dieses neuen Handelns Gottes mit der Grundlinie seiner Willensbekundungen in 1Kor 15,3–5 zum Ausdruck gebracht, indem zweimal ergänzt wird „nach den Schriften“: 3a Denn ich habe euch in den Anfängen überliefert, was auch ich empfangen habe, 3b dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften, 4a und dass er begraben wurde, 4b und dass er auferweckt ist am dritten Tage nach den Schriften, 5 und dass er dem Kephas erschien dann den Zwölfen
Auferstehung und Schrift
Heilsbedeutung des Todes Jesu
Das zweifache „nach den Schriften“ macht deutlich, dass Tod und Auferstehung Christi mit der grundlegenden Geschichte Israels und den an das Gottesvolk ergangenen Verheißungen in Übereinstimmung stehen. Ob damit auf bestimmte Schriftstellen angespielt wird, ist letztlich aber unklar, denn weder die stellvertretende Lebenshingabe durch den Tod des Messias noch die Auferstehung des Messias am dritten Tag ist als solche in den Schriften thematisiert. Manche Exegeten sehen dennoch einen engeren Schriftbezug der Wendung. Für die Sündenvergebung wird auf Jes 53,4 f.12 („unsere/ihre Sünden“) verwiesen und bezüglich der Auferstehung am dritten Tag auf Hos 6,2 („am dritten Tag werden wir auferstehen“) oder auf Jona 2,1 (vgl. Q 11,29 f.). Allerdings macht der Ausgangstext 1Kor 15,3–5 nicht auf diese möglichen expliziten Bezüge aufmerksam, sodass die allgemeinere Deutung, die Wendung „nach den Schriften“ bezeichne das Schriftzeugnis als Ganzes, zutreffender sein dürfte (vgl. Lk 24,27.32).17 In der verstehenden Ausdrucksbildung wird nun mit Tod und Auferstehung die Für-Struktur des Todes Jesu als Übernahme der aus den Sünden resultierenden Strafschuld, die eigentlich die Gruppe der Bekenner („unsere Sünden“) hätte treffen müssen, in Übereinstimmung mit den Willensbekundungen Gottes in der Schrift an sein Volk formuliert. Der Tod Jesu ist demnach ein für die bekennende Gemeinde wirksames Heilsereignis. Während die Bedeutung des Todes Jesu als Übernahme der Sündenschuld deutlich zum Ausdruck gebracht ist, bleibt die Bedeutung der Auferstehung etwas im Unklaren. Die Reihe der Verben (gestorben, begraben, auferweckt, erschienen) betont die Tatsächlichkeit des Geschehenen. Der Verweis auf die Zeugen, Petrus und die Zwölf, unterstreicht die Glaubwürdigkeit. Die Auferstehung Jesu wird interpretiert als exklusive und 17 Schrage, Der erste Brief an die Korinther, 25.
Heilswende in Christus
singuläre Aufweckung des einen Mittlers, die der allgemeinen Totenauferstehung vorangegangen ist. Sie proklamiert den Tod des Mittlers als stellvertretende Lebenshingabe für die durch Sündentaten bewirkte Strafschuld der Gemeinde. Durch die Auferstehung Jesu, demonstriert in den Erscheinungen, wird für die Gemeinde erkennbar, dass die Macht des Todes zugleich überwunden wurde, der Tod Jesu demnach kein Fluchtod ist, sondern ein Heilstod. Die Bedeutung des Todes Jesu steht im Mittelpunkt der Abendmahlsparadosis, den Einsetzungsworten. Dieser Text ist einer der wenigen, die in weitgehend übereinstimmendem Wortlaut in den synoptischen Evangelien und bei Paulus überliefert ist (vgl. noch Lk 16,18 mit 1Kor 7,10 f.). Die Abendmahlsparadosis liegt in zwei Rezensionen vor, nämlich in der Mk-Mt-Variante und der Paulus-LkFassung. Eine älteste Fassung kann hypothetisch rekonstruiert werden. Das Brotwort ist vermutlich als Teil einer prophetischen Zeichenhandlung auf Jesus selbst zurückzuführen.18 Im Folgenden geht es allerdings nur um die Variante, die Paulus mit der Traditionsformel einleitet: „Denn ich selbst habe vom Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe“. 1 Kor 11,23–26 23b Der Herr Jesus nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, 24a sprach den Segen, brach es und sprach: 24b Dies ist mein Leib, der (ist) für euch. 24c Dies tut zu meinem Gedächtnis. 25a Ebenso (nahm er) den Kelch nach dem Mahl und sprach: 25b Dieser Becher ist der neue Bund durch mein Blut. 25c Dies tut, sooft ihr es auch immer trinkt, zu meinem Gedächtnis. 26a Denn, sooft ihr auch immer dieses Brot esst und den Becher trinkt, 26b verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Paulus zitiert die Abendmahlsparadosis im Rahmen seiner Schilderung der Konflikte um das gemeinsame Mahl in Korinth. Nur hier spricht er ausdrücklich vom „Herrenmahl“ (gr. kyriakon deipnon; κυριακὸν δεῖπνον). Man brachte in Korinth sein eigenes Essen mit, bildete gesonderte Kleingruppen, fing mit dem Essen an, wie man wollte, einige hungerten, andere waren übersatt oder gar betrunken (1Kor 11,21). Den Korinthern ist es nicht gelungen, das Zusammenkommen zum Mahl so zu gestalten, dass darin die Einheit der Gemeinde erlebt werden konnte.19 Im Kontext des Briefes hat die 18 S. o. 112 (Brotbrechen als Symbolhandlung). 19 Bormann, Abendmahl, 724 f.
Abendmahl
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Leib und Blut
Erinnerung
Mitteilung der Abendmahlsparadosis demnach die Funktion, das Bewusstsein des Abendmahls als Inszenierung der Bedeutung des Todes Jesu für die Gemeinde zu stärken. Der „Tod des Herrn“ soll mit Blick auf sein Wiederkommen „verkündet“ werden (V. 26b) und ist demnach ein wichtiger Bestandteil des paulinischen Evangeliums. Die Worte „Leib“ (gr. soma; σῶμα) und „Blut“ (gr. haima; αἷμα) stehen jeweils für das Leben Jesu in seiner Ganzheit. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass das „Leben“ von Tier und Mensch im „Blut“ ist und deswegen das Blut der Lebewesen nicht verzehrt werden darf, sondern in die Erde zurückzugeben ist (Lev 17,10–14; vgl. Gen 1,29 f.; 9,4). Paulus teilt demnach die Anschauung, dass der Tod Jesu als eine bewusste ganzheitliche Lebenshingabe „für euch“ geschehen ist. Eine genauere Bestimmung dessen, was mit dem „für“ ausgedrückt ist, ermöglicht der knappe Text nicht. Die Mk-Fassung enthält in 14,24 mit der Wendung „für die vielen“ (gr. hyper pollon; ὑπὲρ πολλῶν) möglicherweise einen Verweis auf das vierte EbedJHWH-Lied, genauer auf Jes 53,11. In 1Kor 11 fehlen diese Worte. Die paulinische Version stellt mit der Aussage zum „neuen Bund“ (gr. kaine diatheke; καινὴ διαθήκη) Assoziationen zum Sinaibund her, der mit dem „Blut des Bundes“ geschlossen wurde (Ex 24,8). Die Hingabe des „Blutes“, d. h. des Lebens Jesu, begründet diesen „neuen“ Bund, eine Wendung aus Jer 31,31, nach der Gott einen neuen Bund bilden wolle, der anders als der Sinaibund in die „Herzen“ geschrieben sein werde (vgl. 2Kor 3,2 f.). Die Aufforderung zur Erinnerung greift eine Wendung aus der Gründungserzählung des Passahfestes auf (Ex 12,14). Diese zahlreichen Bezüge zu identitätsbildenden Ereignissen der Geschichte Israels, die im antiken Judentum zur Zeit des Paulus zudem kultisch inszeniert und eschatologisch interpretiert wurden, zeigen, dass der Tod Jesu von Paulus ebenfalls in die Reihe dieser grundstürzenden Ereignisse der Geschichte Israels gestellt und eben auch eschatologisch auf den Tag der Wiederkunft Christi, den Tag des Herrn bzw. Christi ausgerichtet wurde (1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1Thess 5,2; vgl. Röm 13,11–14). Eine genauere Festlegung auf spezielle Bedeutungsübernahmen aus den Vorstellungszusammenhängen des Passah, des Bundeschlusses am Sinai oder des sühnenden Opfers oder gar auf ein Verständnis des Todes Jesu als deren Vollendung, Überbietung und Ersetzung, kann aus diesen Textbezügen nicht gefolgert werden. Sie zeigen aber, dass die Lebenshingabe Jesu für Paulus eine entscheidende Station in der Geschichte Gottes mit seinem Volk ist, die in der Mahlgemeinschaft immer wieder erinnert und mit Blick auf die eschatologische Wiederkunft des Herrn verkündigt wird. Paulus hebt die Vollzüge des Erinnerns und des Erwartens, die Beziehung der Gemeinschaft
Heilswende in Christus
zu ihrer Herkunft und zu ihrer Zukunft hervor. In dem in alltäglichen Formen gefeierten Mahl der Gemeinde werden ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem Kyrios, dem Herrn, verbunden. Es entsteht so eine spannungsvolle christuszentrierte Weltwahrnehmung der Gemeinde, die sich zum Tod Jesu bekennt. Eine vertiefte Deutung des Todes Jesu findet sich in Röm 3,23–26. Auch hier spricht einiges dafür, dass Paulus, vermutlich in V. 25, eine ältere Vorgabe aufgreift und umgestaltet.20 Wieder steht das „Blut“ Jesu im Mittelpunkt, wird nun aber deutlicher mit der Vorstellung der stellvertretenden Sühne für Schuldstrafen verbunden. Eine Übersetzung der durch zahlreiche bedeutungsreiche präpositionale Wendungen und Appositionen semantisch überladenen Verse ist nicht ganz einfach. Der nachfolgende Vorschlag nimmt die genannte quellensprachliche Problematik auf und verzichtet weitgehend auf Glättungen.
Blut Jesu
Röm 3,23–26 23: Denn alle haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes, 24 dennoch sind sie geschenkweise nach seiner Gnade gerechtfertigt durch die Erlösung, die in Christus Jesus (ist), 25: den hat Gott aufgestellt als Sühne (altern.: zu einem Sühneort) durch den Glauben in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit wegen der Vergebung der vorher geschehenen Sünden 26 unter der Nachsicht Gottes, zum Erweis seiner Gerechtigkeit in dieser Zeit, auf dass er gerecht sei und gerecht mache den aus dem Glauben Jesu Christi.
Das griechische Wort für „Sühne“ (gr. hilasterion; ἱλαστήριον) ist in seiner Bedeutung umstritten. Es wird in der griechischen Übersetzung von Lev 16,13 f. für hebr. kapporet; כּפרת, den Deckel der Bundeslade, der am Versöhnungstag mit Opferblut besprengt wird, verwendet. Mit dieser Interpretation, die den Tod Jesu in den Sinnhorizont des Versöhnungstags stellt, werden weitreichende Folgerungen bis hin zur Vorstellung von der Substitution des Jerusalemer Tempelkults durch den Tod Jesu verbunden.21 Wenn aber Christus mit dem Deckel der Bundeslade verglichen werden soll, dann wäre das Bild unpassend, denn Christus wird am Kreuz nicht mit seinem Blut besprengt. Darüber hinaus gibt es weitere zahlreiche Inkongruenzen zwischen den 20 Rekonstruktion bei Lohse, Römer, 133. 21 Stuhlmacher, Biblische Theologie 1, 297: Röm 3,25–26a spreche „antitypisch zum höchsten jüdischen Sühnebegängnis am großen Versöhnungstag von der alle kultische Sühne überbietenden und hinfort erübrigenden öffentlichen Einsetzung Jesu zum ἱλαστήριον ( )כּפרתauf Golgatha“.
Sühnetod
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Schuldtilgung
Märtyrertod
Aussagen in Röm 3,24–26 und den komplexen und mehrfachen Blutund Sühneriten mit drei Opfertieren, die in der Schilderung des Versöhnungstags in Lev 16 genannt werden.22 Schließlich wird man auch zu bedenken haben, dass zur Zeit des Paulus weder eine Bundeslade noch ein kapporet im Tempel war und der genannte Ritus vemutlich an einem „Stein“ vollzogen wurde (mJoma 5,2; bJoma 53b). Der Versöhnungstag war zudem für diejenigen, die nicht am Tempelritus beteiligt waren der „Tag des Fastens“ (CD 6,19) und ein „Fest (oder Sabbat) des Ruhens“ (1QpHab 11,6–8). All diese Schwierigkeiten im Nachweis, dass hinter hilasterion bzw. kapporet der Versöhnungsstag steht, werden auch nicht dadurch gelöst, dass man behauptet, das Wort sei als eine „sekundäre Metapher“ oder „Funktionsmetapher“ gebraucht, die abstrakt und analog auf die „Entfernung der Sünden“ verweise.23 Wenn das die Funktion der Metapher ist, verweist sie eben nicht prägnant auf den Versöhnungstag, sondern auf alle Praktiken der Sündentilgung. Stellt der Text eine Verbindung zum vierten Ebed-JHWH-Lied her? In Jes 53,10 bietet der hebräische Text mit Blick auf das Leiden des Gerechten die Wendung „wenn/ob er sein Leben als Schuldtilgung (hebr. ascham; )אשםgibt“. Gott blickt auf den Gerechten und sagt ihm für seine Lebenshingabe die Auferstehung zu. Die griechische Übersetzung bietet aber bereits eine deutlich andere Fassung (Jes 53,10 LXX: „wenn ihr gebt für die Sünden“). Nicht der leidende Gerechte, sondern eine Gruppe wird aufgefordert „für die Sünden“ zu geben und ihnen wird dafür Lohn verheißen. „Für die Sünden“ könnte wohl eine Übersetzung für „Schuldtilgung“ oder für „Sündopfer“ (Lev 5,7) sein. Gleichwohl lässt sich keine klare Verbindung von Jes 53,10 zu Röm 3,25 oder zu den Einsetzungsworten als Repräsentanten einer expliziten Weiterführung der Tradition der Jerusalemer Sühnetheologie herstellen. Es ist demnach eher an eine Vorstellung zu denken, wie sie im 4. Makkabäerbuch überliefert ist. Die sieben Brüder und ihre Mutter weigerten sich, die Tora zu übertreten, blieben standhaft unter der Folter und starben als Märtyrer. Damit leisteten sie nach 4Makk 17,21 eine „Ersatzleistung für die Sünden des Volkes“ und zwar durch ihre Lebenshingabe als Sühne.
22 Vgl. die von Lev 16 abweichende Schilderung des Versöhnungstags in 11Q25,10–27 und die komplexe rabbinische Debatte um die Anzahl und Reihenfolge der Opfertiere in bYom 70a–71b. 23 Wolter, Paulus, 106 f.
Heilswende in Christus
4Makk 17,22: Durch das Blut jener Frommen und ihren sühnenden Tod (gr. hilasterion thanatou; ἱλαστηρίον θανάτου) hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer heimgesuchte Israel gerettet.24
Paulus deutete den Tod Jesu als Sühne. Seine besonderen Akzente setzt er aber auch in Röm 3,24–26 gerade nicht durch eine Weiterführung bereits vertrauter Sühnevorstellungen, sondern vielmehr durch Modalwendungen, die die Qualität des Handelns Gottes näher beschreiben: „geschenkweise“, „nach seiner Gnade“, „durch den Glauben“. Im Tod Jesu handelt Gott an den Menschen „geschenkweise“ oder „umsonst“, d. h. ohne Einforderung einer Ersatzleistung, „aus Gnade“, d. h. in einem Akt der fürsorglichen und lebensfördernden Zuwendung, die seinen Eigenschaften als barmherzigem und gnädigem Gott (Ps 145,8) entspricht. Die Teilhabe an diesem Geschehen wird schließlich „durch den Glauben“ gewährleistet, nicht aber durch die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Religion. Es treten bei Paulus weitere Deutungen des Todes Jesu neben die Sühnevorstellung (Röm 3,25; 5,9; 8,3): Die Heilsbedeutung des Todes Jesu wird a) als Erlangung der Freiheit (gr. eleutheria; ἐλευθερία) im Sinne des Herrschaftswechsels oder gar des Sklavenloskaufs (Gal 4,4–7; 5,1; 2Kor 3,17; Röm 6,17 f.; 8,2.20 f.), b) als Stellvertretung im Sinne des Handelns an Stelle eines anderen, d. h. als Ersatzhandlung (Röm 5,6–8 vgl. Röm 5,18 f.; 1Kor 15,22; 2Kor 5,15), c) als Versöhnung (gr. katallage; καταλλάγη) im Sinne einer durch diplomatische Verhandlungen erreichten Einigung (Röm 5,10 f.; 2Kor 5,18–20) und d) als Gerechtmachung bzw. Rechtfertigung (gr. dikaioun; δικαιοῦν) in gerichtlichen (forensischen) Vorstellungen (Röm 3,21–24) verstanden.
Gnade
Deutungen
Für das Verständnis der paulinischen Theologie ist nicht die tiefgründige Ausdeutung jeder einzelnen Vorstellung, in der die Bedeutung des Todes Jesu zum Ausdruck gebracht wird, entscheidend. Ebenso wenig sollte man die Vielfalt der Aussagen zur Bedeutung des Todes Jesu vage als Hinweis auf dessen Unausdeutbarkeit verstehen. Vielmehr sind in den genannten Vorstellungszusammenhängen eine gemeinsame Qualität und ein bestimmter Modus des Geschehens festzuhalten. Diese Qualität besteht in der gnadenhaften fürsorglichen und rettenden Zuwendung Gottes zu den Menschen als Ausdruck seiner Eigenschaften der Gnade und Barmherzigkeit. Der Modus ist geprägt durch eine Inklusivität, die Befreiung und Erlösung für alle Menschen intendiert.
24 Zu den textlichen Problemen s. Klauck, 4. Makkabäerbuch, 753, Anm. 22.
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
4.5 Folgen der Heilswende in Christus: Gemeinde, Taufe und Geist
ekklesia
Auf der Grundlage des Bekenntnisses zu Jesus als Christus und Kyrios hatten die Jünger der Nachfolgegemeinschaft Jesu und einige Mitglieder der Familie Jesu Gemeinschaften gebildet, die sich als „Versammlung“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία) bezeichneten. Die Septuaginta gibt das hebr. qahal ( )קהלmit gr. ekklesia wieder. Der Begriff bezeichnet die gottesdienstliche Versammlung, die zum Opfer versammelte Mahlgemeinschaft oder in der Tradition der biblischen Armenfrömmigkeit auch die Gemeinschaft der Heiligen oder die Gemeinschaft der Frommen (Ps 22,23; 26,12; 89,6; 149,1). Paulus knüpft daran an und spricht von der „Gemeinde Gottes“ und nennt ihre Mitglieder „auserwählte Heilige“ oder auch einfach „Heilige“ (gr. hagioi; ἅγιοι). Der Begriff hat aber auch einen griechisch-hellenistischen Bedeutungshintergrund. In den griechischen Stadtstaaten wird die Volksversammlung als ekklesia bezeichnet. Dort verhandeln die freien Bürger die öffentlichen Angelegenheiten.
In beiden Bereichen, im Judentum und im Hellenismus, meint die ekklesia eine nicht-hierarchische und inklusive Zusammenkunft Gleichberechtigter zur Wahrnehmung gemeinsamer religiöser oder politischer Anliegen. Auch die gemeinschaftlichen Versammlungen der ersten Christen orientieren sich am Vorbild dieser gemeinschaftlichen Praxis. Sie verstehen sich als „Versammlung Gottes“ und kommen zusammen, um Gott zu loben, die Auferweckung Jesu durch Gott zu feiern und die Wiederkunft Jesu ihres Herrn zu erwarten.
Gemeinde als Leib Christi
Paulus nimmt dieses Verständnis von Gemeinde oder Versammlung auf, entwickelt es aber in 1Kor 12,12–31 und Röm 12,4–8 auf besondere Weise weiter, indem er ihm eine christologische Deutung gibt: Die Gemeinde ist „Leib Christi“ (gr. soma Christou; σῶμα Χριστοῦ). Paulus greift mit „Leib“ eine in der Antike geläufige Metapher für Gemeinschaft auf (z. B. Menenius Agrippa nach Liv. 2,37). 1Kor 12,27: Ihr aber seid Leib Christi und je für sich ein Glied. Röm 12,5: So bilden wir vielen einen einzigen Leib in Christus, dann aber auch einander einer des anderen Glied.
Paulus betont die Einheit der Gemeinde als „Leib Christi“ und den Respekt, der jedem einzelnen „Glied“ entgegengebracht werden soll.
Folgen der Heilswende in Christus
Er setzt im ersten Korintherbrief noch einen besonderen Akzent, indem er ausdrücklich die scheinbar unehrenhaften und verachteten Glieder hervorhebt. 1Kor 12,24: Aber Gott hat den Leib zusammengefügt, dem geringeren (Glied) hat er mehr Ehre gegeben.
In Röm 12,6–8 werden vor allem die unterschiedlichen Funktionen in der Gemeinde thematisiert. Paulus setzt auch hier einen charakteristischen Akzent, indem er nicht von „Ämtern“ spricht, sondern von Charismen (gr. charismata; χαρίσματα) bzw. Gnadengaben. Die Funktionen in der Gemeinde werden aufgrund dieser Wortbildung mit dem paulinischen Signalwort Gnade (gr. charis; χάρις) verbunden.25 Paulus zählt auf: Prophezeiungen, Diakonie, Lehre, Trost, Liebeshandeln, Gemeindeleitung und Fürsorge. In 1Kor 12,28 f. deutet er eine gewisse Rangfolge an, an deren Spitze Apostel, Lehrer und Propheten stehen. Die Exegese interpretierte dies bisweilen als „Ämtertrias“ und nutzte diese Aussagen, in denen Paulus angesichts der Spaltungen und Unordnung der korinthischen Gemeinde auf eine gewisse Ordnung drängte, um Paulus ein hierarchisches und autoritäres Kirchen- und Apostolatsverständnis nachzuweisen. Davon kann aber keine Rede sein, wie unter anderem seine Beschreibung der aktiven Teilhabe aller an der Gemeindeversammlung belegt:
Charismen
1Kor 14,26: Wenn ihr zusammenkommt, dann hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Offenbarung, hat eine Zungenrede, hat eine Auslegung, alles geschehe zur Erbauung.
Bei der Wahrnehmung dieser Funktionen wirken sich allerdings vorgängige Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis aus, was zu Konflikten führt. Paulus selbst positioniert sich in dieser Frage widersprüchlich. Er sieht das Geschlechterverhältnis als aufgehoben, etwa in Gal 3,28: „da ist nicht männlich und weiblich, denn ihr seid alle eins in Christus“. Andererseits entstehen Konflikte in den Gemeinden um selbstbewusste Frauen, die im Gemeindegottesdienst beten und prophezeien (1Kor 11,5), sodass Paulus meint, die Überordnung des Mannes über die Frau begründen zu müssen (1Kor 11,3 f.8–10). In einer Glosse zu 1Kor 14 wird sogar ein Schweigebot für die Frau überliefert (1Kor 14,34 f.). Frauen, die hervorragende Positionen in den Gemeinden einnahmen, waren zahlreich, werden aber eher beiläufig 25 Zeller, Χάρις bei Philon und Paulus, 185–189; Bormann, Art. Gnade, 222 f.
Geschlechter verhältnis
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erwähnt: Phoebe (Röm 16,1 f.), Priska (16,3), Junia (16,7); Euodia und Syntyche (Phil 4,2), die Ehefrauen der Apostel (1Kor 9,5). Das Gemeindeverständnis des Paulus ist durch demokratische, inklusive und statusaufhebende Vorstellungen geprägt. Die Gemeinde ist Leib Christi (gr. soma Christou; σῶμα Χριστοῦ), zusammengefügt aus Gliedern, die Gott selbst zum Leib gebildet und dabei den schwachen und unehrenhaften Gliedern besondere Bedeutung beigemessen hat. Die Gemeindeglieder haben den Geist und durch diesen Charismen (d. i. Gnadengaben) empfangen, mit denen sie partizipatorisch in der Gemeinde wirken, indem sie diese für alle konstruktiv („zur Erbauung“) wirksam werden lassen.
Taufe
Die Zugehörigkeit zur Gemeinde setzt die Überzeugung voraus, dass Jesus durch die Auferstehung zum Kyrios zur Rechten Gottes erhöht wurde. Die Übereinstimmung mit dem Bekenntnis der Gemeinde wird in einem symbolischen Akt vollzogen: der Taufe (gr. baptisma; βαπτίσμα) auf bzw. in Christus (Gal 3,27). Auch dieses Ritual findet Paulus in der Gemeinde vor. Es hat sein direktes Vorbild in der Johannestaufe (Mk 1,4 f.). Zudem sind verwandte religiöse Praktiken zu nennen: das zur Konversion zum Judentum („Eintritt in den Bund“) geforderte Proselytentauchbad (bKer 9a: „durch Beschneidung, Untertauchen und Opfer“) und der gruppenorientierte Reinigungsritus der jüdischen Sondergruppen des Yahad (1QS 3,9; 5,13: Wasser, Heiligung, Reinheit).26 Die Paulusbriefe überliefern Texte, die vermutlich als Taufformeln oder als erläuternde Unterweisung (Katechese) zur Taufe verwendet wurden (1Kor 12,13; Gal 3,26–28; vgl. Kol 3,11). Aus ihnen lässt sich eine älteste Taufzusage rekonstruieren, die vermutlich die Taufe in der Gewandmetaphorik des Überkleidens zum Ausdruck bringt: Christus habt ihr als Kleid angezogen, da gibt es weder Jude noch Grieche, da gibt es weder Sklave noch Freigeborenen, da ist nicht Mann und Frau.27
Statusumkehr
Die Taufzusage thematisiert die Überwindung der religiös-ethnischen, personenrechtlich-sozialen und der geschlechtlichen Statusunterschiede. Die genannten Statusaufhebungen sind im antiken Umfeld revolutionär. Es bleibt allerdings unklar und ist deswegen in der For26 Sänger, Taufe, 228–235. 27 Vgl. Boer, Galatians, 245–247.
Folgen der Heilswende in Christus
schung umstritten, welche konkreten sozialen Folgen die Aufhebung der Statusunterschiede mit sich brachte. Man wird jedenfalls damit rechnen können, dass sie die Haltung gegenüber Frauen und Sklaven und deren Stellung in der Gemeinde verändert hat. So geht Paulus vom Recht der Frau auf Scheidung aus (1Kor 7,10–16) und erwartet, dass Onesimus von seinem Sklavenbesitzer Philemon „nicht länger wie ein Sklave, sondern mehr als ein Sklave, als geliebter Bruder“ behandelt werden wird (Phlm 16). Die völlige rechtliche Gleichstellung der Frau und die Ablehnung der Sklaverei haben diese Äußerungen allerdings nicht bewirkt. Die hohe Bedeutung der Taufe und der Zugehörigkeit zur Gemeinde werden von Paulus dadurch unterstrichen, dass er sie zumindest in Hinblick auf die Nichtjuden als „neue Schöpfung“ bezeichnet. Im Taufgeschehen wirke Gott mit der gleichen Kraft wie in seinem ursprünglichen (creatio prima) und beständigen (creatio continua) Handeln an der Schöpfung.
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neue Schöpfung
Gal 6,15: Denn weder Beschneidung noch Unbeschnittensein gilt etwas, sondern eine neue Schöpfung. 2Kor 5,16 f.: Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleisch. Wenn wir Christus auch nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so. (17) Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Die Taufe erfolgte demnach auf den Namen Christi (1Kor 1,13). Sie verlieh den Geist Christi oder Gottes, trennte symbolisch zwischen „alt“ und „neu“ und integrierte in die Einheit der Christusgemeinschaft (Gal 3,27 f.; 1Kor 12,13; Kol 3,9–11). Sie verstand sich zumindest gegenüber Nichtjuden als Konversionstaufe und Akt der neuen Schöpfung (Gal 6,15; 2Kor 5,17). Das alles übernimmt Paulus von der ersten Gemeinde. Er vertieft nun aber auch die mit der Taufe verbundenen Überzeugungen auf eine besondere Weise, indem er in der Taufe jeder einzelnen Frau und jedes einzelnen Mannes das Christusschicksal abgebildet sieht.28 Röm 6,3 f.: Wisst ihr nicht, dass wir, die wir getauft worden sind auf Christus Jesus, auf seinen Tod getauft worden sind? (4) Wir sind mit ihm durch die Taufe in den Tod begraben, damit wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters aus den Toten auferweckt wurde, so auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln werden. 28 Bormann, Das autobiographische „Ich“ des Paulus, 226–236.
Konversionstaufe
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Theologie des Paulus (Gott und Christus)
Sterben mit
Geist und Fleisch
In Röm 6 diskutiert Paulus die Bedeutung der Taufe. Er greift dabei die Vorstellung auf, die auch aus den Mysterienreligionen bekannt ist. Der Initiant (Täufling) erlebt das Schicksal der Gottheit, die dem Mysterium zu Grunde liegt, am eigenen Leibe nach. So verbindet er die Taufe mit dem „Sterben“ und „Begraben werden“. In dieser Hinsicht ist das Schicksal der Glaubenden mit dem Schicksal Christi verbunden. So wie der Tod Christi dem Willen Gottes entsprach, so entspricht die Taufe als Integration in die Gemeinde seinem Willen. Das Christusgeschehen erlebt nun die Kraft Gottes zu dem Zeitpunkt des Todes, der Schwachheit und der Erniedrigung als „Herrlichkeit“ (gr. doxa; δόξα), d. h. als die empirisch erfahrbare Zuwendung Gottes, die die Auferstehung aus den Toten bewirkt. Für die Getauften steht dieser Teil des Geschehens, die Auferstehung, noch aus. Die Taufe führt in eine Haltung, die im Christusgeschehen das eigene Schicksal vorgebildet sieht, dessen wirkmächtige Vollendung aber erst in der Zukunft erwartet wird. Obwohl es auch exegetische Interpretationen gibt, die die „Neuheit des Lebens“, von der Paulus spricht, bereits als gegenwärtige Möglichkeit christlichen Lebens verstehen, spricht doch nach wie vor mehr dafür, dass Paulus hier tatsächlich einen eschatologischen Vorbehalt formuliert, der darauf zielt, die christliche Existenz in der Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ zu charakterisieren. Die Gegenwart steht im Horizont des bereits angebrochenen endzeitlichen Geschehens und der Mensch, der sich diesem Geschehen im Glauben anschließt, tritt in die eschatologische Existenz. Zwischen der Heilswende in Kreuz und Auferstehung Christi und der Vollendung der christlichen Existenz in der Wiederkunft Christi (gr. parousia; παρουσία: 1Kor 15,23; 1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23) steht die Gegenwart der Christusanhänger. Diese ist geprägt von der Wirkung des „Geistes“ (gr. pneuma; πνεῦμα). Der Geist hat eine wichtige Funktion in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Er wirkt als eine den Menschen bestimmende Willensmacht, die im Widerstreit mit anderen Μächten, insbesondere dem „Fleisch“ (gr. sarx; σάρξ), liegt. Im Begriff „Fleisch“ sind alle Antriebskräfte des menschlichen Lebens zusammengefasst: Das Streben nach Anerkennung, Sicherheit, Macht und Besitz. Paulus denkt auch an die zerstörerischen Wirkkräfte, die mit der Sexualität zusammenhängen, nicht aber vorrangig oder gar ausschließlich an diese, sondern ihm gilt all das als „fleischlich“, was den Menschen in seiner inneren Willensentscheidung von dem, was Gott erwartet und was demnach „geistlich“ ist, abbringt. Dagegen wirkt der Geist, der heiliger Geist (gr. pneuma hagion; πνεῦμα ἅγιον), Geist Gottes (gr. pneuma theou; πνεῦμα θεοῦ) oder Geist Christi (gr. pneuma Christou; πνεῦμα Χριστοῦ) genannt wird und in zahlreichen weiteren Verbindungen, die charakteristisch für
Folgen der Heilswende in Christus
die Sprachkraft des Paulus sind, wie „Geist des Lebens“ (Röm 8,2), „Geist der Kindschaft“ (Röm 8,15) u. a. begegnet. Der Geist Gottes und der Geist Christi werden von Paulus nicht unterschieden, sondern als eine und diesselbe Wirkkraft verstanden: Röm 8,9: Ihr aber seid nicht im Fleisch (gr. en sarki; ἐν σαρκί), sondern im Geist (gr. en pneumati; ἐν πνεύματι), wenn denn der Geist Gottes in euch wohnt. Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, der ist nicht der Seine.
Der Geist ist die von Gott und Christus ausgehende Wirkkraft, die den Glaubenden durchdringt. Paulus bestimmt die besondere Qualität dieses Geistes im Unterschied zu anderen Geistkräften, etwa dem „Geist der Versklavung“, als befreiende und lebensfördernde Kraft: Röm 8,15 f.: Denn ihr habt nicht einen Geist der Versklavung erneut zur Furcht empfangen, sondern einen Geist der Kindschaft habt ihr empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater! (16) Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.
Der Geist steht gegen „Versklavung“ und „Furcht“. Er verleiht die Gabe, Gott wie einen Vater anzurufen, d. h. zu ihm in der unauflöslichen Beziehung der Kindschaft zu stehen. Die ist nun eben keine analoge Versklavung unter Gott, sondern vielmehr „Freiheit“ (Gal 5,1–6,13). 2Kor 3,17: Der Herr aber ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit.
Der Geist wirkt im Menschen nun allerdings nicht als fremdbestimmende Wirkmacht, sondern führt in die Freiheit der Lebensgestaltung in Analogie zu den Eigenschaften Gottes: Barmherzigkeit, Gnade, Langmut und Güte. Der Geist wird zu dem Prinzip des Handelns: Gal 5,22 f.25: Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Frieden, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, (23) Sanftmut, Enthaltsamkeit. […]. (25) Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.
Christliche Existenz ist für Paulus demnach Lebensgestaltung unter der Wirkkraft des Geistes Gottes, der den Glaubenden befreit und für das Gute öffnet. Diese positive Ausrichtung der paulinischen Pneumatologie (d. i. Lehre vom Geist) bedeutet aber nicht, dass sie weltfremd ist. Paulus versteht die christliche Existenz ebenso als Nachahmung des
Nachahmung
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Christusschicksals. Die Terminologie der Nachahmung (gr. mimesis; μίμησις) tritt bei Paulus an die Stelle der Vorstellung von der Nachfolge, die in der synoptischen Tradition dominiert. Paulus bringt mehrfach zum Ausdruck, dass seine eigene Existenz exemplarisch mit der Christi verschmilzt: Er sei der Welt gekreuzigt (Gal 6,14), trage die Zeichen Christi am Leib (Gal 6,17), habe die Schwachheit Christi erfahren. 2Kor 4,10 f.: Allezeit tragen wir das Sterben Jesu in unserem Körper, damit auch das Leben Jesu in unserem Körper offenbar werde […]. 2Kor 12,9: So werde ich mich eher rühmen in meinen Schwachheiten, damit in mir die Kraft Christi wohne. 1Kor 11,1: Werdet meine Nachahmer, wie auch ich Christi (Nachahmer bin).
imitatio Christi
Paulus lebt diese Imitatio Christi in seiner apostolischen Existenz vor und fordert die Christusanhänger auf, ihn in dieser Hinsicht nachzuahmen, wie er Christus nachahme. Diese Aufforderung des Paulus dient nicht dazu, ihn selbst in eine Machtposition zu bringen, aus der heraus er die Identitäten der Gemeindemitglieder dominieren könne.29 Nachahmung ist in der Antike seit Aristoteles weder als penible Wiederholung noch identische Abbildung verstanden worden.30 Für Paulus ist Nachahmung Christi demnach die kreative Neugestaltung des Christusschicksals im unverwechselbaren Leben jeder einzelnen Frau und jedes einzelnen Mannes (1Thess 1,6; 2,14; 1Kor 11,1).31
Paulus ergänzt die Taufvorstellung durch ihre Bindung an den Tod Jesu. In der Taufe wirkt die gleiche überfließende Willenskraft des Schöpfers, die durch Tod und Grab hindurch Leben und Auferstehung bewirkt. Die Taufe inszeniert die Integration in diese Willensrichtung Gottes und bringt zugleich zum Ausdruck, dass die Gegenwart der Getauften durch den eschatologischen Vorbehalt bestimmt ist: Die Getauften stehen bereits im Heilsgeschehen, erwarten dessen Vollendung aber in der Zukunft. Diese Überzeugung einer eschatologischen und christusförmigen Existenz wird zugleich mit der Vorstellung von der Nachahmung Christi zum Ausdruck gebracht.
29 So die Kritik von Castelli, Imitating Paul, 119: „Das Auslöschen der Unterschiede durch die Aufforderung zur Imitation ist ein pragmatischer und konzeptueller Bestandteil der Konsolidierung der Macht des Paulus.“ 30 Aristot. poet. 1448b. 31 Bormann, Reflexionen, 313 f.
Literatur
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5 Theologie des Paulus 2: Mensch
Abb. 5: Gerichtliches Verhör unter Folter auf dem Forum von Pompeji, Pompeji 1. Jh. n. Chr.
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Theologie des Paulus (Mensch)
5.1 Glaube
Auspeitschung
Folterungen des Paulus
In den Jahren zwischen 62 und 79 n. Chr. ließ Julia Felix, die wohlhabende Besitzerin eines umfangreichen Gebäudekomplexes in Pompeji, die Wände eines ihrer Häuser unter anderem mit diesem Wandgemälde neu schmücken. Zwei Männer packen eine nackte dritte Person so, dass sie sich nicht bewegen kann. Auf sie schlägt eine vierte mit Ruten ein, während eine fünfte Person, nur skizzenhaft erkennbar, ebenfalls die Hand mit einem Gegenstand erhebt. Sichtlich entspannter ist die Haltung der anderen Personengruppe. Drei von ihnen sitzen mit Schriftstücken ausgestattet bereit und fünf weitere stehen in lockerer Ordnung um sie herum. Möglicherweise wird hier ein Sklave unter Folter zu einer Aussage gezwungen. Die Folterszene gehört zu einem Zyklus von Darstellungen des städtischen Lebens Pompejis, das Marktszenen u. a. umfasst. Sie wurde demnach zu den als darstellenswert empfundenen interessanten Details des Alltags einer römischen Stadt gezählt. Mancher Betrachter, mit Sicherheit aber die Hausbesitzerin und Auftraggeberin des Gemäldes, wird sich mit dem verhörenden Kollegium identifiziert haben und mit Abneigung auf den nackten Sklaven geblickt und dabei vielleicht Genugtuung über seine Bestrafung empfunden haben. Jesus, Paulus und diejenigen aus den ersten Gemeinden, die selbst Folter erfahren haben, wären wohl mit ihren Gedanken eher bei dem Gefolterten gewesen und hätten mit gemischten Gefühlen an ihre eigenen Gewalterfahrungen gedacht. Folter, Auspeitschung und Gefängnishaft waren Paulus nicht fremd. Die Apostelgeschichte schildert, wie Paulus auf dem Forum von Philippi vor den städtischen Amtsträgern, nachdem ihm seine Kleider heruntergerissen worden waren, ausgepeitscht, in Ketten gelegt und in den Block geschlossen wurde (Apg 16,22–24). Paulus selbst schildert im Rückblick die Misshandlungen, die er dort von einer vermeintlich legitimen behördlichen Obrigkeit erfahren hat (1Thess 2,2). Im zweiten Korintherbrief fasst er in rhetorischer Zuspitzung eine Reihe derartiger Erlebnisse zusammen: 2Kor 11,23b–25a: in Gefängnissen übermäßig oft, unter Schlägen unzählig, in Todesgefahren vielmals, (24) von Juden habe ich fünfmal die (synagogale Auspeitschungsstrafe) Vierzig-weniger-einen erhalten, (25) dreimal erfuhr ich die (öffentliche) Auspeitschung, einmal wurde ich gesteinigt […].
Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus diese Strafen direkt für seine Glaubensüberzeugungen erhielt. Vielmehr bewirkte sein Festhalten am Glauben Verhaltensweisen, die von seiner sozialen und politischen
Glaube
Umwelt, der Synagoge und den Stadt- und Provinzialverwaltungen des römischen Reiches, als Bruch strafrechtlicher Normen verstanden wurden. Die Verkündigung des Evangeliums führte zur Gründung von Gemeinden, die aus Juden und Nichtjuden, Männern und Frauen, Sklaven und freien Bürgern zusammengesetzt waren (Gal 3,28; vgl. 1Kor 12,13b; Kol 3,11). Die Zusammenkünfte einer solch heterogen Gemeinschaft weckten Argwohn und provozierten Straf- und Verfolgungsmaßnahmen (Apg 16,20 f.). Gerade diese gegenläufigen Erfahrungen waren es aber, die Paulus als Bestätigung seiner Überzeugung auffasste: Der Glaube, der den Zugang zu Gott öffnet, ist notwendig mit Widerständen und Bestreitungen verbunden. Der Glaube (gr. pistis; πίστις) ist bei Paulus die zentrale und exklusive Bezeichnung für das Verhältnis des Menschen zu Gott. Für das Verständnis der Wortgruppe ist ihre Verwendung im antiken Judentum aufschlussreich. Die Septuaginta übersetzt das Verb hebr. aman; אמןfür „vertrauen“ überwiegend mit der Wortgruppe des Stammes gr. pist- (πιστ-), die Substantivformen bisweilen auch mit gr. aleth(ἀληθ-) für „wahr“, „zuverlässig“.1 Der Begriff war auch im religiösen Schrifttum des antiken Judentums geläufig und bezeichnet dort das Vertrauen auf die heilsgeschichtliche Fürsorge Gottes für Israel. Diese ist insbesondere dann lobenswert und gilt als Tugend, wenn es ein Vertrauen gegen Widerstand, Anfechtung und Infragestellung ist.2 Als Vorbild und „Vater“ des Vertrauens/Glaubens gilt der Erzvater Abraham, der sich allein auf die Verheißung Gottes verließ, aus seinem Heimatland aufbrach, dabei auch auf die Nachkommens- und Landverheißung vertraute und im Gehorsam gegenüber Gott sogar bereit war, seinen Sohn Isaak für das Opfer zu binden (Gen 22). Lührmann fasst die Bedeutung Abrahams für den Diskurs um Glauben im 1. Jh. mit den Worten zusammen: „An der Deutung Abrahams mußte sich ausweisen, wer immer im Judentum und im frühen Christentum von Glaube redete.“3 Philo von Alexandrien bezeichnet Abraham als den „ersten“, der an Gott glaubte, und legt die Wendung „und Abraham glaubte Gott“ aus dem auch für Paulus wichtigen Vers Gen 15,6 (Röm 4,3; Gal 3,6) als Wende vom Unglauben zum Glauben aus.4 Abraham gilt Philo als Vorbild der Konvertiten zum Judentum, der sogenannten Proselyten. Philo hebt hervor, Abraham habe pistis im Sinne von Vertrauen und Glauben bewiesen, als er den von Menschen gemachten und sicht1 2 3 4
Lührmann, Pistis im Judentum, 227 f. Lührmann, Glaube, 39–45, hier 39: „widersprechende konkrete Welterfahrung“. Lührmann, Glaube, 46. Philo Virt. 216–219; Her. 94 f.
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Strafmaßnahmen
pistis, Glaube
Abraham
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Theologie des Paulus (Mensch)
baren Dinge – damit ist der Götzendienst gemeint – zu misstrauen begann und sich entschieden habe, „allein“ Gott zu vertrauen (gr. pisteuein; πιστεύειν). Bei Philo ist demnach ein Verständnis von Glaube vorzufinden, das für die Hebräische Bibel, das antike Judentum und das Neue Testament grundlegend ist und im Kern das Vertrauen auf die Zusage Gottes angesichts von gegenläufigen Erfahrungen und Anfechtungen meint. Das Wortfeld Glaube bzw. Vertrauen zur Bezeichnung der Gottesbeziehung war Paulus sowohl in der Theologie und Schriftauslegung des antiken Judentums als auch in seiner Verwendung durch die ersten Gemeinden der Christusanhänger in Jerusalem und Antiochien vorgegeben. Die ältere Forschung war zuversichtlich, eine sogenannte Pistis-Formel im Sinne einer Urformel des Glaubens der ersten Gemeinden, aus der sich die weitere Entwicklung erklären lasse, im Wortlaut rekonstruieren zu können. Tatsächlich ist es aber plausibler mit einer Vielfalt sprachlicher Ausdrucksformen von Anfang an und der beständigen Wechselbeziehung mit jüdischen Anschauungen von Glaube und Vertrauen zu rechnen. Das Verständnis von Glaube (gr. pistis) im Neuen Testament und bei Paulus beruht nicht alleine auf Kreuz und Auferstehung Jesu, sondern knüpft an Überzeugungen des antiken Judentums an, die insbesondere mit der Abrahamstradition verbunden sind und die zusammengefasst werden können mit: Vertrauen auf Gott angesichts von Widerständen.
Paulus gibt gelegentlich einen Hinweis darauf, dass er auf Aussagen zum Glauben zurückgreift, die zuvor bei seinen Adressaten bekannt waren. In 1Thess 4,14a erinnert Paulus die Thessalonicher an die gemeinsame Überzeugung: 1Thess 4,14a: Denn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist.
Glaube im Zentrum
Auf ähnliche Weise wird in 1Kor 15,1 f. die von Paulus übernommene bekenntnisartige Aussage der Verse 3–5 mit einem rhetorischen Verweis auf den Glauben eingeleitet:5 Wenn die Adressaten dies, was Paulus selbst empfangen und verkündigt hat, nicht teilen würden, dann wären sie „vergeblich zum Glauben gekommen“. Für Paulus hat der Glaube demnach zentrale Bedeutung für die Beziehung zwischen Gott und Mensch, in deren Mitte das Christusereignis, d. h. Kreuz 5 S. o. 130 (1Kor 15,3–5 im Wortlaut).
Glaube
und Auferstehung Jesu, steht. Glaube meint die feste Überzeugung und die willensbestimmende Haltung, die darauf vertraut, dass Gott durch sein Handeln in Christus die religiöse und soziale Wirklichkeit verändert hat. Glaube ist demnach durch die Abrahamstradition in der Bedeutung von „Vertrauen auf Gott angesichts von Widerständen“ bestimmt und wird zu dem Zentralbegriff, in dem das Selbstverständnis der Christusanhänger zum Ausdruck kommt: „Vertrauen auf das Handeln Gottes in Christus angesichts von Widerständen“.
Durch diese Neufüllung des semantischen Gehalts von Glauben entwickelt sich das Wort für die ersten Christusanhänger von einem bedeutsamen Begriff, der er bereits im antiken Judentum war, zum Zentralbegriff des eigenen Selbstverständnisses. Sein Verständnis ist für die Theologie des Paulus sowie für die Theologie des Neuen Testaments von entscheidender Bedeutung. Um dieser Bedeutung in seiner ganzen Vielfalt gerecht zu werden, sollen im Folgenden die Positionen von Wolter, Schnelle, Räisänen und Dunn zum paulinischen Glaubensbegriff diskutiert werden. Wolter vertritt ein strukturell-formales Verständnis von Glauben. Er bezeichnet Glaube als eine „Wirklichkeitsgewissheit“ und als „symbolische Sinnwelt“, die der „Wirklichkeit der Alltagswelt“ gegenübersteht und diese unangetastet lässt.6 In einem solchen Verständnis von Glauben bleiben wichtige Aspekte dessen, was Glaube für das antike Judentum und für Paulus bedeutet, unberücksichtigt. Insbesondere das Verhältnis des Glaubens zur widerständigen sozialen und politischen Wirklichkeit und seine gemeindebildenden Wirkungen bleiben in dieser Sichtweise unbeachtet. Weltwirklichkeit und Glaubenswirklichkeit stehen sich geradezu beziehungslos einander gegenüber und bleiben unter Wahrung der jeweils autonomen Systembedingungen eigengesetzlich organisiert. Der Glaube hat aber bei Paulus gerade nicht nur eine kognitive Funktion, die es ihm ermöglicht eine alternative Sinnwelt zum Alltag zu entwerfen, sondern Paulus ist überzeugt, dass der Glaube eine willensbestimmende Macht ist, die auf die eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Schöpfers und des Gottes Israels, ausgerichtet ist. Der Glaube befreit den Glaubenden im Akt einer radikalen Neukonstitution zu einer neuen Haltung gegenüber der Welt und schafft Gemeinschaft. Für die Gemeinde der Glaubenden sind die Machtfaktoren der Welt unwirklich und unwirksam 6 Wolter, Paulus, 86–95.
symbolische Sinnwelt
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irrationales Vertrauen
Neuqualifikation des Ichs
geworden (Röm 12,2; 1Kor 2,12). Der Glaube wird für die Christusanhänger gerade deswegen so wichtig, weil er ihnen eine radikal abweichende Weltsicht vermittelt, die die Wirklichkeit eben nicht unangetastet lässt. Räisänen greift den Aspekt der Radikalität des Glaubens auf und ordnet ihn in eine nicht-theologische und empiristisch orientierte Weltwahrnehmung ein. Er stellt heraus, dass für die Christen Glaube deswegen zentral sei, weil ihre Annahmen so schwer zu glauben seien, ja geradezu ein „irrationales Vertrauen“ erforderten.7 Räisänen wird damit anders als Wolter dem Bedeutungsgehalt von Glaube angesichts von widerständigen Wirklichkeitserfahrungen gerecht, verzeichnet aber den Konflikt, indem er ihn als „irrational“ charakterisiert. Die Welterfahrung des Paulus und der ersten Christen lässt es doch vielmehr als rational erscheinen, dass sie sich einer Welt, die nicht mehr erkennen lässt, dass sie Gottes Schöpfung ist, entgegenstellen. Schnelle versteht Glaube bei Paulus vor allem als Teilhabe am Heilshandeln Gottes: „Im Glauben tritt der Mensch ein in Gottes Zuwendung zur Welt, der Glaube ist eine Neuqualifikation des Ich.“8 Durch diese Teilhabe an der Zuwendung Gottes erfolge eine auf das Individuum konzentrierte Wandlung, die ein persönliches Verhältnis begründe. Der Glaube gründe im Liebeshandeln Gottes und habe Jesus Christus als Inhalt. Schnelle betont die Unverfügbarkeit des Glaubens. Dieser sei durch den Geist Gottes bzw. Christi bewirkt und stelle eine kreative Tat Gottes dar, die dem Glaubenden keine Distanz oder Neutralität erlaube. Gegen diese Sichtweise ist zunächst einzuwenden, dass Paulus den Glauben gerade nicht als Wirkung des Geistes versteht. Vielmehr folgt der Geist erst auf den Glauben, in der Regel in der Reihenfolge Glaube, Taufe und dann Geistempfang, wobei die Reihenfolge nicht absolut festgelegt ist, insbesondere was das Verhältnis von Taufe und Geistempfang betrifft (Gal 3,2.5.26 f.; 1Kor 12,13). Der erstanfängliche Glaube ist nach Paulus demnach nicht Wirkung des Geistes, sondern eine Folge der Macht des Evangeliums und damit der Evangeliumsverkündigung (Röm 1,16 f.). Das Evangelium enthält auch die Aussage, dass diese Welt als Schöpfung Gottes zu gelten habe und zu Unrecht in die Hände derjenigen gelangt ist, die den Schöpfer nicht anerkennen. Die stark individualistisch geprägte Interpretation des paulinischen Glaubensverständnisses, die Schnelle vorschlägt, ist doch recht weit von dem entfernt, was Paulus vor Augen steht, wenn er vom Glauben spricht.
7 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 177. 8 Schnelle, Paulus, 598.
Glaube
Dunn geht einen anderen Weg, um das Verständnis von Glauben bei Paulus zu analysieren.9 Er setzt bei der Interpretation ein, die Paulus in Auslegung von Gen 15,6 in Röm 4 dem Glauben Abrahams gibt: Abraham wurde vor der Beschneidung „aus Glauben gerecht gesprochen“, weil er trotz seines Alters der Sohnesverheißung „geglaubt“, auf sie vertraut habe. Die Grundannahme des Paulus sei demnach, dass die Beziehung zwischen Gott und den Menschen auf bedingungslosem Vertrauen beruhe. Der besondere paulinische Akzent des Glaubensverständnisses beruhe darauf, dass Paulus energisch dafür eingetreten sei, den Glauben nicht von weiteren Sachverhalten oder Begleitumständen abhängig sein zu lassen. Gegen jede dieser weiteren externen Qualifizierungen des Glaubens sei Paulus entschieden aufgetreten. In der Interpretation von Dunn hat sich zwischen dem Glaubensverständnis des antiken Judentums und dem des Paulus nur der Stellenwert des Glaubens im Verhältnis zwischen Gott und Mensch, nicht aber sein Gehalt und seine Struktur verändert. Diese Deutung greift zu Recht den Glaubensbegriff des antiken Judentums auf. Sie berücksichtigt allerdings die umstürzenden Veränderungen, die Paulus durch den Glauben bewirkt sieht, wie etwa die Rettung der Nichtjuden und die Rechtfertigung der Sünder und Gottlosen, nicht ausreichend. Für Paulus ist nicht nur wichtig, dass der Glaube uneingeschränkt in der Mitte der Beziehung zwischen Gott und Mensch steht, sondern dass er auch und vor allem diejenigen erreicht, die bisher außerhalb des Heilsbereichs Gottes standen. Zusammengefasst lassen sich die Analysen des paulinischen Verständnisses von Glaube so darstellen: Wolter wählt eine Näherbestimmung, die die kognitive Funktion von Glaube formal beschreibt. Glaube konstruiere eine „symbolische Sinnwelt“. Räisänen hebt den Gegensatz zwischen Glauben und einer rationalen Weltsicht hervor. Schnelle geht stärker auf die Akteure dieses Prozesses ein. Glaube beruhe auf dem Handeln Gottes und ermögliche die Teilhabe des Individuums an diesem von Liebe geprägten Geschehen. Dunn setzt biblischer an und bezieht die Abrahamstradition mit ein. Er folgt der Interpretation, die Paulus und das antike Judentum Abraham als Vater des Glaubens gegeben haben. Der paulinische Akzent liegt darauf, dass das Vertrauen auf Gott, d. h. der Glaube, keinerlei Bedingungen, wie etwa der Beschneidung, unterworfen sein darf. Den kognitivistischen (Wolter, Räisänen) und individualistischen (Schnelle) Engführungen ist mit Dunn entgegenzuhalten, dass Glaube in der Tradition Abrahams auf den Gott Israels und den Schöpfer der Welt vertraut. Die Auseinandersetzung mit der widerständigen Weltwirklichkeit, die 9 Dunn, Theology of Paul, 371–379.
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Glaube allein
Glaube angesichts von Widerständen
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weder Israel noch die Schöpfung respektiert, ist somit Bestandteil des paulinischen Glaubensverständnisses. Glaube bezeichnet das Vertrauen auf die Zusage Gottes trotz gegenläufiger Welterfahrungen. Dieses Vertrauen besteht in der lebensbestimmenden Annahme, dass der Gott Israels und Schöpfer der Welt alleine dieses Vertrauen verdient und in Christus seine Treue erwiesen hat. Die dadurch konstituierte Wahrnehmung der Welt als Wirklichkeit Gottes ist eine Ich-Erfahrung, die als persönliche Beziehung des Glaubenden zu Gott zum Ausdruck gebracht wird und die keiner weiteren Bedingung oder Voraussetzung unterliegt. Sie führt in die Gemeinschaft derjenigen, die auf das Handeln Gottes in Christus angesichts von Widerständen vertrauen.
pistis Christou
Der Gehalt des Glaubens, seine materiale Bestimmtheit ist bei Paulus geradezu unauflöslich mit Christus verbunden. Das belegen die häufige Genitivverbindung „Glaube Christi/Jesu“ (gr. pistis Christou/ Jesou; πίστις Χριστοῦ/Ιησοῦ) und die Wendungen „glauben/vertrauen an/auf Jesus Christus“ (Gal 2,16; vgl. Röm 3,22).10 Allerdings ist insbesondere die Interpretation der Genitivwendung „Glaube Christi/ Jesu“ in der neutestamentlichen Wissenschaft umstritten. Das übliche Verständnis als Genitivus objectivus im Sinne von „Glaube an Christus“ wird mit dem Vorschlag, hier einen Genitivus subjectivus mit der Bedeutung „die Treue/der Glaube des Christus“ zu identifizieren, infragegestellt. Paulus meine mit pistis Christou nicht den Glauben des Menschen an Christus, sondern die gehorsame Treue Christi gegenüber Gott. Für letztere Möglichkeit wird auf Röm 4,12.16 verwiesen, wo eine solche Genitivverbindung eindeutig die „Treue (unseres Vaters) Abrahams gegenüber Gott“ und nicht etwa den „Glauben an Abraham“ bezeichnet. Eine solche Interpretation von pistis Christou hätte weitreichende Folgen für das Verständnis der paulinischen Soteriologie, da mit dieser Wendung dann nicht mehr ein die Glaubenden betreffender Sachverhalt, sondern das Geschehen zwischen Gott und dem gehorsamen Christus unabhängig von den Glaubenden gemeint wäre. Zugleich würde dann pistis Christou nicht mehr die Unterscheidung zwischen Menschen, die an Christus glauben, und denen, die es nicht tun, ermöglichen, da der Begriff alleine die Treue Christi bezeichne und nicht den Glauben an Christus. Schließlich verspricht man sich von einer solchen Deutung auch, dass das Verhältnis von Juden und Christen auf der Basis dieser Interpretation weniger kontrovers bestimmt werden kann. Da aber im Neuen Testament 10 Röm 3,22.26; Gal 2,16.20; 3,22; Phil 3,9.
Glaube
Christus nie als Subjekt des Verbs „glauben“ genannt wird, mehrfach aber von Menschen, die an Christus glauben (z. B. Phil 1,29; Gal 2,16), die Rede ist, wird man sich an den oben genannten Stellen für die Übersetzung mit „Glaube/Vertrauen an/auf Christus“ zu entscheiden haben.11 Diese Interpretation von pistis Christou wird auch durch die weiteren bekenntnisartigen Aussagen bei Paulus gestützt, während ein Verständnis im Sinne der „Treue Christi“ beständig zu Widersprüchen im weiteren Kontext der paulinischen Aussagen führt. Bereits die Bezeichnung „Jesus Christus“ trägt ein Bekenntnismoment zu Jesus als Christus in sich, insofern Jesus damit Messias genannt wird. Hebräisch-jüdische Schriften vermeiden deswegen dieses Wort und verwenden bis heute „Nazarener“ (hebr. nozrim; )נוצריםfür Christus oder Christen. In Phil 2,11 findet sich zudem eine etwas erweiterte bekenntnisartige Aussage, die mit der Messianität Jesu noch die Erhöhung zum „Herrn“ verbindet: „damit jede Zunge bekenne, dass Herr (ist) Jesus Christus zur Ehre Gottes, des Vaters“. Paulus nimmt das Bekenntnis zu Christus als erhöhten Herrn auf und entfaltet es in der rhetorischen Form, die ihm in den jeweiligen Briefkorrespondenzen angemessen erscheint. Nicht immer sind der Tod Jesu und Erhöhung miteinander verbunden wie in Phil 2,8 f., nicht immer ist sowohl von Tod und Auferstehung die Rede wie in 1Kor 15,3–5, sodass eine synthetische Zusammenschau des Christusgeschehens sich nur auf wenige Aussagen des Paulus berufen kann, wie etwa Röm 10,8 f.:
Jesus, der Christus
Röm 10,8b9: Dies ist das Wort des Glaubens, das wir verkündigen: (9) Wenn du bekennst mit deinem Mund, dass Jesus der Herr ist, und (wenn) du glaubst in deinem Herzen, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.
Paulus knüpft mit dieser Aussage an Dtn 30,14 an, einem Wort, das von der Festigung des Toragehorsams Israels vor dem Einzug in das gelobte Land spricht und in dem die Nähe und Vertrautheit der Tora zum Ausdruck gebracht wird. Paulus greift diesen semantischen Kontext der Gesetzesfrömmigkeit im Deuteronomium auf, setzt aber anstelle des Gesetzes das „Wort des Glaubens“, die Verkündigung, ein. Die Nähe des Wortes des Glaubens wird damit zum Ausdruck gebracht, dass es sowohl im „Mund“ als auch im „Herzen“ ist. Nach biblischer Anthropologie ist der Mund das Organ der Kommunikation und der Wendung nach 11 So Dunn, Theology of Paul, 379–385; Schnelle, Paulus, 600 f.; vgl. Wolter, Paulus, 76–78: Es handele sich um einen Genitivus qualitatis mit der Bedeutung: „exklusive Bestimmtheit des Glaubens durch seine Ausrichtung auf Jesus Christus“.
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Bekenntnis
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außen. Das Herz hingegen ist der Sitz der Entscheidung und des Willens. Es ist verborgen und nach innen gerichtet. Die Wendung „Mund und Herz“ bezeichnet demnach den ganzen Menschen in seiner willentlichen Lebensorientierung. Das Bekenntnis des Glaubens wird von Paulus nun kommunikativ öffentlich, „im Mund“, wie auch willentlich innerlich, „im Herz“, verortet. Der soziale Mensch und seine innere Selbstreflexion stimmen im Glauben überein, dass im Mittelpunkt des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch nun Jesus Christus als Herr steht. Dieser Status Jesu als „Herr“ impliziert seine Erhöhung zur Rechten Gottes und ist nicht zu trennen von seinem Tod und seiner Auferweckung. So wie Jesus nun „Herr“ ist, so wird Gott nun auch als der bekannt, der „Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1). Paulus kann Teile dieser Metaphorik auf das Verhältnis zur Welt ausweiten, wenn er sagt, dass „mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt“ (Gal 6,14). Der Glaube bringt demnach zugleich eine Distanz zur Welt mit sich, die die Relativierung des Christusbekenntnisses durch die widerläufigen Welterfahrungen wie Verfolgung, Folter, Haft und Hinrichtung abwehren soll. Röm 10,17: So (kommt nun) der Glaube aus der gehörten Verkündigung, die gehörte Verkündigung aber (geschieht) durch das Wort Christi.
Kreuz und Auferstehung
Der Glaube, dass Gott in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gehandelt hat, und das Vertrauen darauf, dass die daraus zu ziehenden Folgerungen dem Willen des Gottes Israels entsprechen, setzen die Verkündigung des Evangeliums voraus. Die Evangeliumsverkündigung stellt jeden Menschen vor die Wahl, die bereits Abraham zu treffen hatte: Vertraut er auf die Zusage Gottes oder verharrt er in den Bezügen, die die Welt um ihn gesponnen hat? Die paulinischen Aussagen zu Kreuz und Auferstehung sind nicht einheitlich und werden jeweils kontextuell und rhetorisch variiert. Diese Varianten sind notwendig, um den Sinn des Christusgeschehens für die jeweilige Kommunikationssituation deutlich zu machen.12 Die Verse in Röm 3,24–26 (Erlösung, Sühne, Blut) sprechen anders über das Handeln Gottes in Christus als Phil 2,6–11 (Erniedrigung, Kreuz und Erhöhung) oder 1Kor 1,18–26 (Kreuz und Weisheit). Man kann aus diesen variierenden Aussagen auch nicht einfach eine Schnittmenge bilden. Dies würde die Aussagenvielfalt des Paulus allzu sehr auf einige Stichworte reduzieren. Deswegen ist es sinnvoll, eine Zusammenfassung vorzuschlagen, die die Variationsbreite der Aussagen und ihre Vorstellungs- und Kommunikationszusammenhänge berücksichtigt:13 12 Dunn, New Testament Theology, 9. 13 Bultmann, Theologie, 1.
Glaubensgerechtigkeit und Rechtfertigung
Für Paulus trifft demnach zu, was Bultmann als den Gehalt des christlichen Glaubens bezeichnet: das „Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen“.13 Im Mittelpunkt des Glaubens steht das Christusgeschehen als Tat Gottes, das das Lebensschicksal Jesu als Gehorsam bis zum Tod und seine Auferstehung als Erhöhung zur Rechten Gottes umfasst. In dieser privilegierten Position wirkt Christus als Herr, d. h. als Mandatar und Mittler des Willens und der Macht Gottes. Von dieser Struktur, die die Machtverhältnisse von Gott und Christus her neu definiert, wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes bestimmt und werden die damit verbundenen Konsequenzen für die Welt gezogen.
5.2 Gerechtigkeit aus Glauben und Rechtfertigung der Gottlosen Paulus ist aufgrund des Christusgeschehens zu der Einsicht gelangt, dass der Glaube unbedingt und uneingeschränkt die Beziehung zwischen Gott und Mensch bestimmt. Diese Unbedingtheit des Glaubens ist für ihn eine direkte Folge aus dem Charakter des Christusgeschehens: Einer, der als Verbrecher durch die Kreuzesstrafe hingerichtet wurde und am Kreuz hängend nach der Tora als Fluch, d. h. als absolut im Gegensatz zu Gott stehend, zu gelten hatte, wurde von Gott erhöht und als sein Sohn offenbart, d. h. in die Funktion als exklusiver und privilegierter Mandatar und Mittler Gottes eingesetzt (Gal 3,13 f.). Diese Interpretation des Kreuzestodes Jesu lässt nach Paulus keine andere Begründung, Bestätigung oder Beglaubigung der Beziehung zu Gott zu als die eine, dass Gott in Christus für die Menschen gehandelt hat. Die Hervorhebung des „Handeln-für“ ist eine Besonderheit der paulinischen Theologie. In ihr drückt sich das besondere Interesse an der Rettung und Erlösung der Menschen, d. h. an der Soteriologie, aus. Paulus teilte mit dem frühen Christentum die Ansicht, dass das Heilshandeln Gottes im Gekreuzigten Statusumkehr, Universalität und Inklusivität mit sich bringt. Phil 2,6–11 berichtet von Verzicht, Gehorsam, Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz und von der überaus reichlichen Erhöhung dessen, der Sklavengestalt angenommen hatte, in den Thronraum Gottes, wo alle bekennen: Herr (ist) Jesus Christus. Statusumkehr, Universalität und Inklusivität werden zu Kennzeichen der Theologie des Paulus. Der Sohn Gottes ist ein verachteter Gekreuzigter (Statusumkehr), das Handeln Gottes an diesem Jesus gilt
Soteriologie
Erhöhung
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Statusaufhebung
allen Menschen (Universalität), Unterschiede zwischen diesen Menschen sind für das Heilsgeschehen nicht relevant (Inklusivität). Für Paulus als Theologen stellte sich die Frage, wie das Handeln Gottes in Christus so zum Ausdruck zu bringen ist, dass diese Charakteristika des Handelns Gottes in Christus theologisch, exegetisch, sakramental und eschatologisch angemessen berücksichtigt sind. Das Handeln Gottes an Christus war in der Kommunikation und in den Auseinandersetzungen mit den Gemeinden so zu entfalten, dass die Statusaufhebung in der Taufe zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Sklaven und Freigeborenen und zwischen Frauen und Männern deutlich wurde (Gal 3,27 f.; 1Kor 12,13). Es war so zu entfalten, dass der universale Anspruch des Evangeliums für Juden und Nichtjuden erfasst wurde. Und schließlich sollten die grundsätzlich inklusive Struktur der Gemeinde und ihre Bereitschaft, alle Menschen aufzunehmen, gestärkt werden. Röm 10,12: Denn es gibt keinen Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe ist der Herr aller und er macht reich alle, die ihn anrufen.
Gerechtigkeit
Ein wichtiger Bereich, in dem Paulus die Charakteristika des Christusgeschehens theologisch umsetzt, ist die Vorstellung von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott. Paulus greift damit ein Thema auf, das im antiken Judentum breit diskutiert wurde. In diesem Zusammenhang spielte die Abrahamtradition und die Rezeption von Gen 15,6 eine hervorgehobene Rolle.14 Um die Besonderheit des paulinischen Verständnisses zu verdeutlichen, ist nun auf das Verhältnis von Glaube und Gerechtigkeit einzugehen. In Gen 15,6 heißt es, Abraham wurde „aus Glauben gerecht gesprochen“. Philo interpretiert die Aussage so, dass der Glaube Abrahams eine „gerechte Sache“ sei. Aber wie konnte Abraham ein Gerechter sein, obwohl die Tora erst am Sinai, also historisch und heilsgeschichtlich lange nach dem Tod von Abraham, gegeben wurde? Philo löst das Problem, indem er die Ansicht vertritt, dass Abraham, Isaak und Jakob „Urbilder des Gesetzes“ gewesen seien und in ihren Lebensführungen das „ungeschriebene Gesetz“ abbildeten (Abr. 3–5). Auch das Jubiläenbuch scheint sich zu fragen, wie Abraham ohne Sinaitora gerecht sein konnte, und berichtet deswegen, Abraham habe die „Bücher der Väter“ abgeschrieben und auswendig gelernt (12,26 f.). Die Rabbinen diskutierten, ob Abraham nur einige Gebote der Tora, etwa das der Beschneidung, oder die ganze Tora kannte. Man kommt zu dem Ergebnis, dass Abraham die schriftliche und die mündliche Tora kannte und ihr vollständig gefolgt sei (bSota 14a; bJoma 28b). 14 S. o. 147 (Philos Interpretation von Gen 15,6).
Glaubensgerechtigkeit und Rechtfertigung
Die genannten Repräsentanten der jüdischen Tradition konnten sich nicht vorstellen, dass Abraham ohne Tora „gerecht“ gewesen sein könnte, und lösten das exegetische und theologische Problem über die Annahme einer himmlischen oder ungeschriebenen Tora, die bereits vor dem Sinai, im Grunde aber schon „ewig“, existiert habe. Die Psalmen Salomos thematisieren die enge Bindung von Tora und Gerechtigkeit in Hinsicht auf Israel. Die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott wird dort ausschließlich an der Befolgung der Gebote Gottes gemessen (PsSal 14,1–3). Als „Glaube“ gilt den Psalmen Salomos die Treue Gottes bzw. des Messias zu Israel (8,28; 17,40). Bei Philo hingegen ist die Bindung von Glaube und Tora etwas lockerer. Er versteht den Glauben als eine Haltung des Menschen, die zunächst unabhängig von der Erfüllung der Gebote sei. Er sah aber ebenso wenig wie die Psalmen Salomos einen Gegensatz zwischen Glaube und Toragehorsam. Beide sind auch für Philo gleichermaßen Möglichkeiten für den Erweis des Gehorsams gegenüber Gott, die aber auf etwas Drittes, Bedeutenderes verweisen: die Vernunft. Die Befolgung der Gesetze, selbst der scheinbar materiellsten wie das blutige Opfer, seien Zeichen des „logischen Geistes“ (gr. logikon pneuma; λογικὸν πνεῦμα), der nach „der urbildlichen Gestalt des göttlichen Vorbilds“ geformt sei.15 Paulus hingegen – und das ist charakteristisch für seine Denkweise – formuliert keine vernünftigen und maßvollen Synthesen aus Glaube und Tora, sondern entwickelt seine Überzeugung in Antithesen. Er lehnte es ab, dass in der Beziehung zu Gott etwas anderes als der Glaube von Bedeutung sei. Er griff das Verständnis von Gerechtigkeit als Bezeichnung der Relation zwischen Gott und Mensch auf, um zu zeigen, dass in dieser Relation nur der Glaube, nicht aber die Tora relevant sei. Gerechtigkeit meint in diesem Zusammenhang nicht die moralische Qualität menschlichen Handelns, sondern eine Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der der Mensch den Rechtsanspruch Gottes anerkennt und so als „Gerechter“ gilt. „Gerechtigkeit“ in diesem Sinn ist eine relationale Kategorie und bezeichnet die Beziehung zwischen Gott und seinen Gerechten. Rechtfertigen (gr. dikaioun, δικαιοῦν) ist das Handeln, das dem Gegenüber diese Gerechtigkeit zuspricht. Gott rechtfertigt diejenigen, die, so die Psalmen Salomos, „in der Gerechtigkeit seiner Gebote wandeln“ (14,2). Wenn die Gerechten diese verletzen, werden sie gezüchtigt, aber nicht verurteilt oder gar wie die Sünder und Gesetzlosen vernichtet (13,5–12). Diese Vorstellungen waren auch im frühen Christentum lebendig. Die Bestrafung des Sünders und die Belohnung des Gerechten waren und sind schließlich plausible Annahmen. Paulus hingegen meinte, 15 Philo Spec. 1,171.
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Glaube und Tora
relationale Gerechtigkeit
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Gerechtigtkeit als Gabe
dass die Charakteristika des Christusgeschehens und diese Vorstellung von der Beziehung Gottes zu den Menschen nicht zusammenpassten. Er meinte aus dem Christusgeschehen weitere Schlussfolgerungen ziehen zu müssen. Für ihn sind Gerechtigkeit im Sinne der Beziehung zu Gott „aus Gnade“ (gr. chariti; χάριτι) und „geschenkweise“ (gr. dorean; δωρεάν) gegeben (Röm 3,24). Diese Ansicht wurde auch vom qumranischen Yahad vertreten. In dessen Texten findet sich die Vorstellung von der barmherzigen und gnadenhaften Zuwendung Gottes zum Sünder (1QH 3,23–28; 4,35–37; 1QS 11,9–15). Diese Gemeinschaft vertrat aber auch die Ansicht, dass der durch Gott begnadigte und ermutigte Sünder, seinen Geboten noch aufrechter und konsequenter folgen werde (1QH 15,12; 16,13). Paulus sieht auch diese Synthese von Glaube und Gesetz als unangemessen an. Er stellt das gesamte Gerichtsszenario und dessen Vorstellung von der Rechtfertigung des Sünders auf den Kopf, indem er das „Gesetz“, das doch Grundlage der Rechtsprechung ist, in einen Gegensatz zur Gerechtigkeit bringt: Röm 3,21 f.: Nun aber ist ohne das Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbar geworden, bezeugt vom Gesetz und Propheten, (22) die Gerechtigkeit Gottes aber durch den Glauben Jesu Christi für alle, die glauben. Röm 3,28: Denn wir urteilen, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes.
allein aus Glauben
Werke des Gesetzes
Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott, seine Anerkennung als das in der Schöpfung gewollte Gegenüber und Abbild des gerechten und barmherzigen Gottes, erfolgt „ohne Gesetz“ und „ohne Werke des Gesetzes“, sondern vielmehr „durch den Glauben“. Luther hat in seiner Übersetzung hier die Exklusivpartikel „allein“ gesetzt und die paulinische Aussage noch einmal deutlicher hervorgehoben, indem er die wechselseitige Ausschließlichkeit betont hat: „Das ist aber die Art unsrer deutschen Sprache, wenn sie von zwei Dingen redet, deren man eines bejaht und das andere verneinet, so braucht man des Worts solum ‚allein‘ neben dem Wort ‚nicht‘ oder ‚kein‘.“16 Deswegen übersetze er in Röm 3,28 congenial: „allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke“. Der Wortlaut von 3,21–31 ist deutlich: Der Glaube wird dem Gesetz und den Werken des Gesetzes gegenübergestellt. Auch die Ausführungen zu Abraham in Röm 4,4 f., zum Verhältnis von Juden und Sündern in Gal 2,16 oder zum Gesetz als Zuchtmeister und dem Glauben zur Gerechtigkeit in Gal 3,23 f. oder zum Gegensatz zwischen „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ und „Gerechtigkeit durch Glaube“ in 16 Luther WA 30, 2, 632–646.
Glaubensgerechtigkeit und Rechtfertigung
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Phil 3,9 weisen in die gleiche Richtung: Paulus möchte die Bedeutung des Glaubens dadurch hervorheben, dass er diesen in einen Gegensatz zur „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ (Phil 3,9; vgl. Gal 2,16) und zu den „Werken des Gesetzes“ (Röm 3,20.28; 4,2.6; 9,12.32; Gal 2,16; 3,2.5.10) bringt. Der Befund scheint eindeutig: Paulus sieht die Beziehung zu Gott durch die Glaubensgerechtigkeit bestimmt, durch die Gesetzesgerechtigkeit hingegen verhindert. Nun sind gegen diese am Wortlaut der entsprechenden Aussagen orientierten Interpretationen der Glaubensgerechtigkeit als ausschließenden Gegensatz zur Gesetzesgerechtigkeit auch paulinische Aussagen, die dazu im Widerspruch zu stehen scheinen, zu berücksichtigen. In Röm 2,13 f. hält Paulus fest, dass diejenigen, „die das Gesetz tun, gerecht gesprochen werden“. Dies gelte sogar für Nichtjuden, die „von Natur aus tun, was das Gesetz gebietet“. Diese Aussagen erscheinen im Kontext von Röm 1–3, einem Abschnitt, der wiederum mit der Feststellung endet: 3,20: Deswegen wird aus Werken des Gesetzes kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt, denn durch das Gesetz (kommt) Erkenntnis der Sünde.
Hält man daran fest, dass Paulus im Römerbrief einen sinnvollen Argumentationsgang präsentiert, dann wird man bei der Interpretation dieser und weiterer scheinbar gegensätzlicher Aussagen einige Unterscheidungen beachten müssen:17 1. Es macht einen Unterschied, ob Paulus vom „Gesetz“ redet oder von den „Werken des Gesetzes“. 2. „Gesetz“ meint nicht immer die Tora, sondern kann auch andere Bedeutungen annehmen, z. B. abstrakte Norm, Gesetzmäßigkeit (Röm 3,27; 8,2; Gal 6,2) oder die fünf Bücher Mose (Röm 3,19a.21; 1Kor 9,8 f.; 14,21). 3. Für das Verständnis der Begriffe kommt es sehr auf den argumentativen und rhetorischen Kontext an, in dem sie eingesetzt werden. Zum Gesetz im Sinne von Tora als ethnisch-religiöse Ordnung des Judentums äußert sich Paulus immer wieder auch sehr positiv: Röm 3,31: Schaffen wir das Gesetz ab durch den Glauben? Keineswegs! Sondern wir bestätigen das Gesetz. Röm 7,12.14: Daher ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut. […] Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist […]. 17 Anders Räisänen, Paul and the Law, 264: „Des Paulus Überlegungen zum Gesetz sind voller Schwierigkeiten und Widersprüche […] während Paulus manche dieser Schwierigkeiten mit anderen frühchristlichen Autoren gemeinsam hatte, verwickelte sich doch kein anderer in so viele und drastische Probleme.“
Gesetz bei Paulus
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Theologie des Paulus (Mensch)
Funktionen der Tora
neue Paulusperspektive
identity markers
Insbesondere die Aussage in Röm 7,12.14, dass das Gesetz heilig, gerecht, gut und geistlich sei, macht unmissverständlich deutlich, dass die Tora nach Paulus auf die Seite Gottes gehört und Teil seines Heilswirkens ist. Es kann also nicht darum gehen, in der Tora ein widergöttliches Prinzip zu sehen, wie es manche scharf gesetzeskritische Paulusinterpretationen in der lutherischen Tradition getan haben. Paulus schränkt allerdings die Reichweite der Heilswirkung, die soteriologische Funktion der Tora, ein. In welcher Hinsicht aber? Die ältere Forschung löste dieses Problem, indem sie zwischen der heilsgeschichtlichen, der ethischen, der rituellen und der soteriologischen Funktion der Tora unterschied. Demnach schätzte Paulus die heilsgeschichtliche Funktion der schriftlichen Tora als auf die Gemeinde ausgerichtete, d. h. ekklesiozentrische, Verheißung sehr hoch. Er achtete die ethische Funktion der Tora, aber relativierte sie angesichts der Wirkmacht des Geistes und der zentralen Bedeutung des Liebesgebots als Zusammenfassung und Erfüllung aller „Gebote“ bzw. des „ganzen Gesetzes“ (Röm 13,9 f.; Gal 5,14). Er lehnte die rituelle Funktion, d. h. Speise- und Reinheitsgebote sowie Beschneidung, für seine Gemeinden ab, und wies schließlich scharf und grundsätzlich die soteriologische Funktion der Tora, d. h. ihre rechtfertigende Wirkung gegenüber Gott, zurück. Dieser weitgehende Konsens wurde ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend infrage gestellt. Insbesondere das Verhältnis von ritueller und soteriologischer Funktion der Tora wurde neu bestimmt. An dieser Frage entzündet sich die Debatte zwischen zwei Auslegungslinien, die vereinfacht unter den Schlagworten „lutherische“ Paulusperspektive und „neue“ Paulusperspektive“ zusammengefasst werden. Die Diskussion dieser Fragen ist inzwischen sehr detailliert und bekommt ihre besondere Brisanz und Anziehungskraft dadurch, dass in der Gesetzesfrage auch Fragen behandelt werden, die das Verhältnis von Christentum und Judentum betreffen. Die neue Paulusperspektive vertritt die Ansicht, Paulus kritisiere nicht die Tora als solche, sondern nur bestimmte Regelungen der Tora („Werke des Gesetzes“). Er wende sich insbesondere gegen diejenigen Regelungen, die zur Abgrenzung zwischen Juden und Nichtjuden führten, d. h. Beschneidung, Speise- und Reinheitsgebote. Diese seien nicht theologisch, sondern vor allem soziologisch relevant, da sie, den Gesetzen der Gruppensoziologie folgend, die Grenzen („boundary“), die zur Sicherung der Gruppenidentität notwendig seien, definierten („identity markers“). Wer beschnitten sei, die Speisegebote und die Reinheitsvorschriften einhalte, der zeige durch diese „identity markers“ an, dass er dazugehöre und werde in die Gruppenaktivitäten miteinbezogen. Wer dies nicht tue, von denen grenze sich die
Glaubensgerechtigkeit und Rechtfertigung
Gruppe ab. Nur genau diese soziologische Funktion der Tora, nämlich zur Gruppenkonstitution des Volkes Gottes durch Abgrenzung beizutragen, lehne Paulus ab. Er argumentiere dafür, dass die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden, die sich zu Christus bekennen, aufgehoben sein sollen, und kritisiere deswegen einige Regeln der Tora, die dieser Abgrenzung dienten. Die Diskussion um Glaube und Gesetz stelle deswegen keine grundsätzliche Kritik des Gesetzes oder gar des Judentums dar, sondern thematisiere die Bedeutung von Beschneidung, Speise- und Reinheitsgeboten für das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusanhängern. Sie sei zudem nicht grundsätzlich theologisch motiviert, sondern vor allem ekklesiologisch und missionstheologisch bedingt. Paulus wolle sein Evangelium an Nichtjuden verkündigen und müsse deswegen für die Gemeinden Klarheit in der Frage derjenigen Regeln der Tora schaffen, die die soziologische Funktion der Abgrenzung hätten.Diese Sichtweise führt sicher zu einer differenzierteren Interpretation der Aussagen des Paulus zum Gesetz im Rahmen der Gesetzesvorstellungen des antiken Judentums. Sie kann für sich als Argument auch die Beobachtung anführen, dass sich Paulus nur in einigen Abschnitten im Römer-, Galater- und Philipperbrief mit dem Gesetz und der Rechtfertigung befasst, während die Korintherkorrespondenz und der Thessalonicherbrief ganz ohne Gesetzesdiskurs auskommen. Paulus kann demnach sein Evangelium auch ohne Gesetzeskritik und ohne Aussagen zur Rechtfertigung verkündigen. Es sind wohl vor allem Konfliktsituationen, in denen Paulus seine Interpretation um Gesetz, Gnade, Glaube und Gerechtigkeit verdeutlicht. Im Galaterund Philipperbrief muss er die Beschneidungsforderung abwehren (Gal 6,12 f.; Phil 3,2 f.) und im Römerbrief will er seine Haltung zur Tora klären, um Informationen, die über ihn im Umlauf sind, zu korrigieren (Röm 3,8). In diesen Fällen geht es Paulus aber auch um die Auseinandersetzung um Grundsätzliches. Im Galaterbrief wendet er sich gegen ein „anderes Evangelium“ (1,6), im Philipperbrief gegen „böse Arbeiter“ (Gegenmissionare; 3,2) und im Römerbrief legt er sein Evangelium aus, um Unterstützung für die Mission in Spanien zu bekommen (15,23 f.). Man kann den Wortlaut seiner Argumentation nicht anders verstehen, als dass es ihm genau dort, wo die genannten Konflikte aufbrechen, um die grundsätzliche Einsicht geht, dass der Glaube ohne Tora gerecht mache. Die wissenschaftliche Diskussion um die Frage der Tora bei Paulus geht beständig weiter und differenziert sich. Eine gewisse Annäherung zwischen den beiden Sichtweisen deutet sich an, wenn etwa Dunn die Unterscheidung zwischen einer Rechtfertigung („righteousness“)
Gesetzeskritik
Gerechtigkeit und Bund
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Theologie des Paulus (Mensch)
unabhängig von der Tora und einer an die identitätsbestimmenden Abgrenzungskriterien der Tora gebundenen bundesorientierten Gerechtigkeit („covenant righteousness“) einführt. Paulus habe sich in seiner Gesetzeskritik „nur“ gegen ihre Funktion für die bundesorientierte Gerechtigkeit und ihre Forderung nach Abgrenzung von Nichtjuden gewendet, nicht aber die Tora als solche aus dem Rechtfertigungsgeschehen ausgeschlossen.18 Diese Diskussion geht weiter und wird angesichts der spannungsvollen Aussagen des Paulus lebendig bleiben.19 Im Ergebnis wird man sagen können, dass der Glaube für Paulus im Zentrum des Rechtfertigungsgeschehens und der Evangeliumsverkündigung steht. Im Gegensatz dazu wird die Tora von Paulus in ein ambivalentes Licht gestellt, da er sich sowohl sehr positiv wie auch sehr kritisch über die Tora äußern kann. Die heilsgeschichtliche und die ethische Funktion der Tora stehen für ihn außer Frage. Die Regelungen der Tora, die eine ethnisch-religiöse Abgrenzung zwischen Juden und Nichtjuden bewirken, lehnt er durchweg ab. Seine Aussagen aber über die Notwendigkeit, Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Erfüllung der Tora und über ihre Funktion im Gericht sind zumindest spannungsvoll, wenn nicht gar widersprüchlich.19
Rechtfertigung des Gottlosen
Wenden wir uns aber noch einmal der Rechtfertigungskonzeption des Paulus zu. Die Rechtfertigungsaussagen verstehen die Gerechtmachung als Sündenvergebung. Wenn im biblisch-jüdischen Kontext von Sünde die Rede ist, meint das die grundsätzliche Verkehrtheit des menschlichen Wollens und Tuns. So sind die Rechtfertigungsaussagen auf den ganzen Menschen ausgerichtet, der gerecht gemacht wird, und d. h. in das rechte Verhältnis zu Gott gebracht wird. Paulus geht hier wieder bis an die Grenze des Erträglichen, wenn er in dieses Rechtfertigungsgeschehen ausdrücklich auch die „Gottlosen“ miteinbezieht. Der Gottlose (gr. asebes; ἀσεβής; hebr. raschah; )רשעverdient nach allgemein antiker und auch jüdischer Anschauung das Gericht: Ps 57,11 LXX: Der Gerechte wird sich freuen, wenn er die Vergeltung an den Gottlosen sieht. Er wird seine Hände mit dem Blut des Sünders waschen.
Gegen diese im frühen Christentum und im antiken Judentum weit verbreitete Ansicht richtet Paulus die Spitzenaussagen seiner Rechfer18 Dunn, Theology of Paul, 359 f.; vgl. auch Dunn, New Perspective, 157–182. 19 Dunn, New Perspective, 176–182.
Kreuzestheologie
tigungstheologie: Gott macht den Gottlosen gerecht (Röm 4,5) und Christus ist für die Gottlosen gestorben (Röm 5,6). Paulus spricht demnach nicht nur von der Rechtfertigung der Sünder, sondern explizit von der Rechtfertigung der „Gottlosen“, derjenigen, die ohne Respekt gegenüber Gott sind. Die paulinische Proklamation der Rechtfertigung der Gottlosen (lat. iustificatio impii) ist die Spitzenaussage über die Rechtfertigung des Sünders aus Glauben, geschenkweise und durch die Gnade Gottes, aber ohne Werke des Gesetzes und ohne Verdienst.
5.3 Kreuzestheologie Paulus entwickelt seine Überlegungen zur Glaubensgerechtigkeit in antithetischen Ausführungen zu Glaube und Gesetz und spitzt sie in der These von der Rechtfertigung des Gottlosen zu. Ähnlich intensiv reflektiert er die Bedeutung des Todes Jesu. Wie Philo, der die Ansicht vertritt, dass nicht der Tod an sich, sondern die „Weise“ (gr. tropos; τρόπος) des Todes bedeutsam sei (Jos 23), befasst sich Paulus mit der Weise des Todes Jesu als Sterben am Hinrichtungspfahl. Die Bedeutung des Todes Jesu sieht Paulus in der Rede vom „Tod am Kreuz“ am klarsten zum Ausdruck gebracht. Die Wortgruppe „Pfahl/Kreuz“ (gr. stauros; σταυρός) und „pfählen/ kreuzigen“ (gr. stauroun; σταυροῦν) begegnet bei Paulus auffällig häufig und zwar in theologisch aussagekräftigen Wendungen. Das gilt vor allem für den Ersten Korinther-, den Philipper- und den Galaterbrief. In 1Kor 1,23; 2,2 und Gal 3,1 nennt Paulus seine Evangeliumsverkündigung ausdrücklich Verkündigung Christi, des Gekreuzigten (gr. Christos estauromenos; Χριστὸς ἐσταυρωμένος). Sie hat den Gekreuzigten oder einfach das „Kreuz Christi/des Herrn“ als zentralen Inhalt (1Kor 1,17; Gal 6,14). Das Evangelium ist für Paulus „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,18). Paulus bringt die Spannung zwischen dem tiefgreifenden Anspruch des Evangeliums „Kraft Gottes“ (Röm 1,16; 1Kor 1,18) zu sein und der wenig eindrucksvollen Realität der Verkündigung und der Gemeindewirklichkeit zum Ausdruck, indem er den Widerspruch zwischen Kraft und Schwachheit oder zwischen Weisheit und Torheit als nicht nur tatsächliche, sondern auch als notwendige Eigenschaft des Evangeliums in Analogie zum Kreuz hervorhebt. Das, was der Welt als Weisheit und als Kraft erscheint, wird durch die Kreuzeserfahrung den Glaubenden als Torheit und Schwachheit erwiesen (1Kor 1,18–25; 2,1–5). Umgekehrt ist durch den Gekreuzigten
Erfahrung des Kreuzes
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Theologie des Paulus (Mensch)
Ärgernis des Kreuzes
Kreuzesstrafe
die Kraft Gottes gerade in dem präsent, was der Welt als Schwachheit und Torheit gilt (2Kor 13,4). Diese Betonung des Kreuzes Christi ist unter den ersten Christusanhängern nicht unumstritten. Paulus verweist mehrfach auf Apostel, die das Kreuz verleugnen. Den konkurrierenden Apostel erscheint das Kreuz als „Ärgernis“ (Gal 5,11). Sie wollen die Verfolgung vermeiden, die durch die Kreuzespredigt ausgelöst wird (Gal 6,12), ja Paulus kann sie als „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) bezeichnen. Die Identifikation des Paulus mit dem Kreuzesgeschehen geht so weit, dass er davon sprechen kann, dass er selbst der Welt „gekreuzigt“ sei (Gal 6,14) und die „Zeichen Jesu“ am Leib trage (6,17). Paulus versteht die Aussage über den Kreuzestod als Konkretion dessen, was der Tod Jesu bedeutet: Das Heilshandeln Gottes reicht nicht nur an die Schwelle von biologischem Leben zu biologischem Tod, sondern bis zur äußersten Erniedrigung, Schwachheit und Unehre. Für Paulus ist es nicht der Tod alleine, der theologisch relevant ist, sondern die Charakteristika des schmählichen Kreuzestodes sind es, die das Handeln Gottes in Christus auszeichnen. In Phil 2,8 ergänzt Paulus die Aussage über den Tiefpunkt der Erniedrigung Christi als Folge seines Gehorsams mit der Parenthese „ja, gehorsam bis zum Tode am Kreuz“. Obwohl keine der Kreuzesaussagen in den Paulusbriefen explizit thematisiert, dass die Kreuzesstrafe als besonders schändliche Hinrichtungsart galt, kann man das Verständnis, dass die Kreuzesstrafe sozial entehrt, als selbstverständlich voraussetzen. Ihre Anwendung auf zur Hinrichtung verurteilte römische Bürger war untersagt. Die Kreuzigung wurde ausschließlich an Sklaven, Kriegsgefangenen oder anderen Entrechteten ausgeführt. In einigen Fällen sind allerdings auch Kreuzigungen römischer Bürger belegt, die dann aber ausdrücklich als rechtswidrig und missbräuchlich bezeichnet werden.20 Im Kreuz sind die Schwachheit und die Verachtung des Gottessohnes offenbar und doch wirkt gerade an diesem Ort der Schwachheit und der Schande die „Kraft Gottes“. Die Schwachheit und die Verachtung, die die Gemeinde und die Apostel erfahren, dürfen nun als Zeichen der Kraft Gottes gelten.
Die Kreuzestheologie (lat. theologia crucis) des Paulus bringt die theologische Überzeugung zum Ausdruck, dass Gott gerade da präsent, nahe und in Gemeinschaft mit den Menschen ist, wo Schwachheit, Niederlagen, Ausgrenzung und Entrechtung in Analogie zum Kreuzestod Christi erfahren werden.
20 Cicero Verr. 2,5,162.
Eschatologie
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5.4 Eschatologie Nach Räisänen sind das Denken und das Weltbild des frühen Christentums insgesamt von der Erwartung geprägt, dass Gott in die Geschichte der Menschheit konkret eingreifen und ihr eine entscheidende Wende geben werde.21 Das gilt auch für Paulus. Von Bedeutung ist nun aber, dass Paulus diesen großen Bogen von der Schöpfung bis zur endzeitlichen Erlösung in besonderer Weise definiert. Er zeichnet einerseits in dieses endzeitliche Geschehen Kreuz und Auferstehung Christi als Wendepunkt ein und definiert von daher die Art und Weise, in der Gott in die Geschicke seiner Schöpfung, verstanden als das komplexe Miteinander von menschlicher Geschichte und göttlichem Plan, eingreift. Paulus nimmt dabei einerseits Vorstellungen auf, die sich bereits in den vorpaulinischen Gemeinden ausgebildet haben, und bleibt andererseits durchgehend beeinflusst von Sichtweisen, die er aus dem antiken Judentum kennt. Es wird sich zwar zeigen, dass sich die paulinischen Aussagen zum endzeitlichen Geschehen nicht zu einem völlig einheitlichen Gesamtbild oder zu einem Fahrplan der Abläufe zusammenfügen lassen, aber einige zentrale Elemente, die immer wieder aufgegriffen werden oder im Hintergrund stehen, können benannt werden: 1. Gott erhebt als Schöpfer einen Rechtsanspruch gegen seine Schöpfung, 2. Die irdischen Verhältnisse sind so geartet, dass sie als beständige Verletzung des göttlichen Rechtsanspruchs zu gelten haben, 3. Deswegen wird Gott mit der gleichen Energie wie bei der erstanfänglichen Schöpfung erneut eingreifen und eine „neue“ Schöpfung errichten. Diese Grundachse der Ereignisse wird nun konkretisiert durch ihnen zugeordnete Vorstellungen. Das Eingreifen Gottes wird am „Tag Gottes“, der auch einfach nur „dieser Tag“ genannt werden kann, erfolgen und sich in Form einer Wiederherstellung des göttlichen Rechts ereignen, d. h. als Zorngericht mit starken Vernichtungselementen oder als ein Gericht nach Werken, das die Taten der Menschen berücksichtigt. Die jeweiligen konkreten Ausführungen dieses Szenarios haben zur Zeit des Paulus hoch komplexe Reflexionsstufen erreicht, die die geschichtstheologischen Traditionen der Hebräischen Bibel und die große Vielfalt der in der apokalyptischen Literatur repräsentierten Vorstellungen berücksichtigen (z. B. Himmelsreise in 2Kor 12,2–5). Die Traditionen und Vorstellungen werden auf die Gegenwart der religiösen Trägergruppe bezogen und die Gegenwart wird im Lichte dieser Traditionen und im Blick auf die erwarteten endzeitlichen Ereignisse gedeutet. Der Blick auf die Endzeit gibt der Gegenwart eine erhöhte Bedeutung, weil nun 21 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 111–113.
Erwartung der großen Wende
Anspruch Gottes
Zorngericht
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Theologie des Paulus (Mensch)
Frist
Auferstehung der Toten
unausweichlich die Entscheidungen zu treffen sind, die im endzeitlichen Eingreifen Gottes unwiderrufliche Folgen haben werden. Die Gegenwart ist durch diese Setzung des Endes eine gedrängte Zeit im Sinne von „Frist“.22 Die Zeit der Gegenwart gilt demnach als knappes Gut und als herausgehoben bedeutsam und stellt jeden einzelnen unausweichlich vor die Forderung, sich jetzt so zu verhalten, wie es gegenüber den erwarteten endzeitlichen Ereignissen angemessen ist. In diese grob skizzierte Grundstruktur des Zeit- und Geschehenshorizontes der Endzeit wird nun das Geschehen um Kreuz, Auferstehung und Erhöhung Jesu und seine gegenwärtige Machtposition als „Herr“ im Thronraum zur Rechten Gottes als ein bestimmendes Ereignis eingezeichnet. Diejenigen, die Jesus als ihren „Herrn“ bekennen, erkennen den für den göttlichen Heilsplan grundlegenden Sachverhalt an, dass sich nun in der knappen Frist bis zur Parusie am Verhältnis zu Christus als dem erhöhten Herrn alles entscheidet. Paulus stellt Christus als die singulär privilegierte Mittlerfigur in das Zentrum der Endzeit und strukturiert die traditionellen Vorstellungen, die mit der Endzeit verbunden sind, etwa Endzeitwehen, allgemeine Totenauferstehung und Endgericht, neu. Das kann man sehr gut an der Auferstehungsvorstellung beobachten. Zur Zeit des Paulus vertraten Teile des Judentums, etwa die Pharisäer, die Vorstellung, dass vor dem Anbruch der zukünftigen Welt eine allgemeine Totenauferstehung erfolge. Die Ereignisse um Jesus Christus werden nun von Paulus vor diesem Hintergrund einer allgemeinen Totenauferstehung so interpretiert, dass Gott an Jesus eine individuelle, vorweggenommene und damit privilegierte Totenauferweckung vorgenommen habe. In 1Kor 15 bringt Paulus das zum Ausdruck, indem er sagt: Christus sei als „Erstling“ (1Kor 15,20.23: gr. aparche; ἀπαρχή) der Verstorbenen, also als erster einer Abfolge von weiteren Auferstehungen, nämlich der allgemeinen Totenauferstehung, auferweckt worden. Nicht die Auferweckung als solche ist demnach überraschend, sondern dass Gott eine individuelle Auferweckung, die der allgemeinen Totenauferstehung vorausgeht, vorgenommen hat. Die eine vorzeitige Auferstehung Jesu bricht mit den gängigen endzeitlichen Vorstellungen. Es entsteht zudem eine besondere Zeitstruktur, nach der das entscheidende Ereignis, das Christusgeschehen, für die Christusanhänger in der Vergangenheit liegt. In diesem Christusereignis ist bereits der Charakter des göttlichen Eingreifens unveränderlich bestimmt und den Christusanhängern bekannt gemacht. Die Endzeit ist demnach bereits mit dem Kreuzesgeschehen angebrochen. Die Gegenwart ist eschatologische Gegenwart. 22 Taubes, Politische Theologie, 9.
Eschatologie
Aus der Perspektive des Paulus ist demnach die Evangelienverkündigung ein aufgrund seiner eschatologischen Befristung drängender Auftrag. Das nächste Ereignis von eschatologischer Qualität ist für ihn die erneute Präsenz Christi, seine Wiederkunft oder Parusie (gr. parousia; παρουσία; 1Kor 15,23; 1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,21). Paulus erwartet die erneute Präsenz des Herrn Jesus Christus und den Beginn der abschließenden endzeitlichen Ereignisse innerhalb einer Generation. Paulus lebt in der konkreten Naherwartung der Wiederkunft Christi:
Parusie Christi
1Thess 4,15: Denn dies sagen wir euch durch einen Spruch des Herrn: Wir aber, die wir leben und übrig geblieben sind, wir werden in der Wiederkunft des Herrn den Entschlafenen (Verstorbenen) nicht zuvorkommen. 1Kor 15,51: Siehe, ein Geheimnis sage ich euch: Wir werden nicht alle entschlafen.
Paulus spielt an vielen Stellen in seinen Briefen auf die Endzeitereignisse an. Es genügt in der Regel eine prägnante Wendung, um den Vorstellungszusammenhang abzurufen. Der Aufruf „Der Herr ist nah“ (Phil 4,5) oder die Wendung „der Tag des Herrn/Christi“ (1Kor 1,8; 5,5; Phil 1,6), stellen die paulinischen Aussagen in den Horizont seiner eschatologischen Erwartungen. Paulus geht nur gelegentlich und aus besonderem Anlass ausführlicher auf die Endzeitereignisse ein. In 1Thess 4,13–18 und 1Kor 15,20–28 stellt er den „Herrn Christus“ in das Zentrum des endzeitlichen Geschehens, das mit den traditionellen Elementen allgemeine Auferstehung der Toten, Gericht und endzeitliche Gemeinschaft mit Gott verbunden wird. Die Darstellungen bei Paulus sind allerdings nicht einheitlich. Hier wirkt sich besonders die Briefform aus, in der die paulinische Theologie überliefert ist. Auch die Ausführungen der Eschatologie werden durch die jeweilige Gesprächssituation mit der jeweiligen Gemeinde geprägt. Im ersten Thessalonicherbrief lautet die Ausgangsfrage der Thessalonicher: Was geschieht mit den Gemeindegliedern, die bereits verstorben sind? Im ersten Korintherbrief hingegen muss sich Paulus mit Auferstehungsleugnern auseinandersetzen. Sie behaupten offensichtlich, dass es gar keine allgemeine Totenauferstehung gebe (1Kor 15,12): 1Thess 4,13: Wir wollen euch, Brüder und Schwestern, nicht in Unkenntnis lassen über die Entschlafenen … 1Kor 15,12: Wie können einige von euch sagen: Es gibt keine Auferstehung der Toten?
uneinheitliche Eschatologie
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Theologie des Paulus (Mensch)
die Entschlafenen
Verwandlung des Leibes
individuelle Eschatologie
Im ersten Thessalonicherbrief schildert Paulus die endzeitlichen Ereignisse unter dem Gesichtspunkt des chronologischen Ablaufs. Mit der Parusie Christi erfolgt unter dem Posaunenschall die Auferstehung der verstorbenen Christusanhänger, die dann von Christus gemeinsam mit den „Übriggebliebenen“, d. h. noch lebenden Gemeindegliedern, zur endzeitlichen Gemeinschaft mit dem Herrn entrückt werden. Paulus will herausstellen, dass die verstorbenen Christen zuerst mit Christus gerettet werden. Das Ziel des Geschehens ist es, „allezeit mit dem Herrn“ zu sein (1Thess 4,17). Im ersten Korintherbrief hingegen wird im Rahmen des Handlungsablaufs der endzeitlichen Ereignisse vor allem die Frage nach der allgemeinen Totenauferstehung und nach dem „Wie“, d. h. nach der leiblichen Auferstehung, gestellt. Paulus möchte klar machen, dass es eine allgemeine Totenauferstehung gibt und dass die leibliche Auferstehung durch die Wandlung des Leibes in einen geistlichen Leib (1Kor 15,44: gr. soma pneumatikon; σῶμα πνευματικόν) weitergeführt wird. Nach 1Thess 4,16 erfolgen beim Schall der Posaune die Auferstehung der verstorbenen Christusanhänger und deren Entrückung gemeinsam mit den anderen Christen. Nach 1Kor 15,52 hingegen ereignet sich bei diesem Posaunenschall eine Verwandlung der Verstorbenen und der noch lebenden Christen in eine unvergängliche Gestalt.23 Mit einem solchen „geistlichen“ Leib treten dann die Christusanhänger in die endzeitliche Gemeinschaft mit dem Herrn und mit Gott. In beiden Fällen bearbeitet Paulus die Spannungen zwischen den traditionellen Vorstellungen und dem nun neu zu entfaltenden Geschehen, in dem Christus im Mittelpunkt steht. Er geht auf die Fragen der Gemeinde ein und beantwortet sie in einer Weise, die jeweils ihren endzeitlichen Fortbestand betont. Die Gemeinschaft der Verstorbenen mit den Noch-Lebenden bleibt auch in der Parusie aufrecht erhalten. Die Vorstellungen in 1Thess 4 und 1Kor 15 liegen noch relativ nahe beieinander. Sie berichten beide von einem kollektiven endzeitlichen Geschehen, nach dem verstorbene Christen zunächst im Grab liegen, d. h. realistisch-biologisch tot sind, und erst dann alle gemeinsam auferstehen werden. Paulus äußert sich allerdings in Phil 1,19–26 deutlich anders über seine Todeserwartungen. Er spricht angesichts seines möglichen individuellen Todes von einer ebenso individuellen Endzeiterwartung. Dabei geht er davon aus, dass ihn der Tod unmittelbar in die Gemeinschaft mit Christus führt. Angesichts der Aussicht auf das „Mit-Christus-Sein“ wägt Paulus sogar ab, ob für ihn das Sterben und 23 Ein Vergleich von 1Thess 4,15–17 und 1Kor 15,51–53 bei Zeller, Der erste Brief an die Korinther, 520–522.
Ethik
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die Gemeinschaft mit Christus oder das Überleben und die Gemeinschaft mit der Gemeinde das Bessere sei. Er formuliert: Phil 1,23 f.: Ich hänge an beidem: Ich habe das Verlangen zu sterben und mit Christus zu sein, um wieviel besser (wäre das)! (24) Das Verbleiben im Fleisch wäre um euretwillen das Notwendigere.
Die Spannungen zwischen den kollektiven Vorstellungen in 1Thess 4 und 1Kor 15 einerseits und der individuellen Eschatologie in Phil 1 sind erheblich. Als eine Erklärung für diese Diskrepanz wird vorgeschlagen, dass sich das Denken des Paulus gewandelt habe. Eine plausible Einschätzung einer solchen Wandlung setzt allerdings auch voraus, dass der Philipperbrief nach den beiden anderen Schreiben verfasst wurde. Allerdings ist die zeitliche Reihenfolge der Briefe nicht unumstritten, sodass eine solche Überlegung nicht wirklich weiter hilft. Zum Teil lassen sich die genannten Differenzen in der paulinischen Eschatologie mit der Beobachtung erklären, dass eschatologische Aussagen in den Schriften des antiken Judentums grundsätzlich systematische Geschlossenheit vermissen lassen.24 Paulus stellt da keine Ausnahme dar. Im Ergebnis kann man immerhin festhalten, dass im Zentrum der endzeitlichen Vorstellungen des Paulus die Gemeinschaft mit Christus, dem Herrn, steht.
Differenzen in der Eschatologie
Das Ziel der endzeitlichen Ereignisse ist die Gemeinschaft mit Christus und mit Gott. Paulus kann das in Form einer kollektiven Totenauferstehung, verbunden mit der Entrückung der lebenden Christusanhänger, oder aber als individuelle Eschatologie nach dem Sterben eines einzelnen Menschen ausdrücken. Die Bedeutung der „Gemeinschaft“ und des „Mit-Seins“ für die Endzeit unterstreicht noch einmal, wie sehr die Gegenwart der Gemeinde und der Glaubenden bereits als endzeitliche Existenz verstanden werden. Weder der individuelle Tod noch die endzeitlichen Ereignisse gefährden die Gemeinschaft der Gemeinde mit dem Herrn und mit Gott, sondern sie führen das weiter, was bereits jetzt die Gegenwart der Gemeinde bestimmt.
5.5 Ethik Paulus hatte auch die Frage zu beantworten, was das Gute ist, das die Christusanhänger tun sollen. Die ethische Frage bekommt im Horizont der paulinischen Theologie eine Intensität, die aus der eschatologischen Erwartung und deren Neustrukturierung durch das 24 Dunn, New Testament Theology, 95.
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Theologie des Paulus (Mensch)
ethische Grenzen
Christusereignis hervorgeht. Die Bedeutung des richtigen Verhaltens bleibt allerdings derjenigen der Zugehörigkeit zur Gemeinde durch den Glauben an Christus untergeordnet. Diese Zugehörigkeit, nicht aber ein bestimmtes ethisches Verhalten, ermöglicht die Teilhabe am eschatologischen Rettungshandeln des Christus. Paulus thematisiert aber auch Konflikte, die aus ethisch falschem Verhalten resultieren: 1Kor 6,9b.10: Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Verweichlichte (gr. malakoi; μαλακοί : verm. männliche Prostituierte) noch Mannbeschläfer (gr. arsenokoitai; ἀρσενοκοῖται , vgl. Lev 20,13) (10) noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden die Königsherrschaft Gottes erben.
Die bei Paulus seltene Wendung, „die Königsherrschaft Gottes erben“, verweist auf die eschatologische Teilhabe (vgl. Gal 5,21). Diese wird zwar nicht durch gutes Verhalten ermöglicht, allerdings durch das Tun des Bösen verhindert. Ursächlich ist für diesen Gedanken auch die Vorstellung des Paulus, dass diejenigen, die ethisch verwerflich handeln, aus der Gemeinde auszuschließen sind. Sie verlieren die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft derjenigen, die in der Parusie mit Christus gerettet werden. 1Kor 5,11: Wenn einer sich Bruder nennt, aber ein Unzüchtiger oder Habgieriger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder Räuber ist, (dann gilt es) mit einem solchen nicht gemeinsam zu essen.
Gemeinde als Tempel
In einem Fall erläutert Paulus das Verfahren zum Gemeindeausschluss, einen Vorgang, den er mit den Worten, „dem Satan übergeben“, umschreibt (1Kor 5,5). In Gal 4,30 impliziert er einen solchen Ausschluss durch das Zitat aus Gen 21,10: „Verstoße die Sklavin und ihren Sohn!“ Die Gemeinde gilt ihm als „Tempel Gottes“ (1Kor 3,16 f.), so wie jedes einzelne Gemeindeglied ein „Tempel“ ist, der dem „Geist“ Wohnung gewährt (1Kor 6,19).25 Für die Gemeinde und jedes einzelne ihrer Glieder gelten somit die ethischen Verhaltenstabus mit der gleichen Konsequenz wie die Verbote, die das Tempelgebäude gegen Missbrauch, Raub und Verunreinigung schützen. Die Tat eines Einzelnen schädigt damit auch die Gemeinschaft. In diesem eschatologischen und ekklesiologischen Rahmen ist die Ethik des Paulus zu interpretieren. Der Glaube, die Taufe und die Zugehörigkeit zur Gemeinde vermitteln den Besitz des „heiligen Geistes“, der als willensbestimmende 25 S. o. 67 (Metaphorisiserung des Kultbegriffe).
Ethik
Macht den Menschen in all seinen Lebensäußerungen bestimmt. Da aber der Machtantritt Christi zwar angebrochen ist, sich aber erst mit der Parusie vollständig durchsetzen wird, sind die Gemeinde und jedes einzelne ihrer Glieder nach wie vor gefährdet. Die Macht der Sünde widerstreitet dem Geist und der Kampfplatz ist der Einzelne. Paulus beschränkt sich nun nicht darauf, vor der Macht der Sünde zu warnen oder Rückfälle zu beklagen, sondern formuliert auch immer wieder ethische Imperative. In diesen ist so etwas wie eine materiale Ethik, d. h. konkrete Aussagen über Gut und Böse, zu fassen. In den Tugend- und Lasterkatalogen greift Paulus eine traditionelle sprachliche Form auf (vgl. Mk 7,21 f.).26 In ihnen zählt er ethisch wünschenswerte bzw. unerwünschte Eigenschaften und Handlungen auf. Hier findet sich nur wenig Überraschendes, denn Diebstahl, Mord und Gier (Röm 1,29–31; 13,13; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f.; 2Kor 12,20 f.; Gal 5,19–21) sind bis heute eher unerwünscht, während Liebe, Treue und Barmherzigkeit (Gal 5,22 f.; 2Kor 6,6; Phil 4,8) geradezu zeitlos positiv bewertet werden. An der Spitze der negativen Eigenschaften stehen Götzendienst und Unzucht (d. i. sozial schädliches Sexualverhalten), während unter den positiven Eigenschaften Liebe und Treue/ Glaube hervorragen. Allerdings legt Paulus jeweils Wert darauf, zahlreiche Eigenschaften in seinen Katalogen aufzuführen (bis zu 15), vermutlich um insbesondere die nichtjüdischen Gemeindeglieder, denen viele Gehalte der für Paulus selbstverständlichen synagogalen Ethik nicht vertraut waren, zu beeindrucken. Die gegenläufige Tendenz zur Konzentration und damit Abstraktion ist bei den Aussagen zu den Torageboten, dem Dekalog und dem Liebesgebot festzustellen. Den Dekalog kann er mit einer Wendung aus dem Zehnten Gebot auf die zentrale Forderung reduzieren: „Du sollst nicht begehren!“ (Röm 7,7). In diesen Worten definiert Paulus die ethische Frage als Konflikt zwischen dem guten Willen und tatsächlichem Handeln. Den Dekalog oder gar die „ganze Tora“ sieht Paulus zusammengefasst im Liebesgebot (Röm 13,8–10; Gal 5,13 f.). Gal 5,14: Denn das ganze Gesetz ist in einem (einzigen) Wort erfüllt, in dem: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Röm 13,9 f.: Denn das: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren, und wenn noch irgendein anderes Gebot (existiert), es ist in diesem Wort zusammengefasst: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. (10) Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Erfüllung des Gesetzes die Liebe. 26 Bormann, Ethik und Politik, 325–327.
Tugenden und Laster
Dekalog
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Theologie des Paulus (Mensch)
agape/Liebe
In Röm 12,9–21 führt er eine altruistische Haltung gegenüber Gegnern in einer Weise aus, die der jesuanischen Forderung der Feindesliebe nahe steht. Die Überlegungen des Paulus zur „Liebe“ (gr. agape; ἀγαπή) gipfeln in dem Aufruf: „Besiege das Böse durch das Gute!“. In 1Kor 4,11–13 schildert er, was es heißt, dem Bösen mit Gutem zu begegnen: „als Geschmähte segnen wir, als Verfolgte dulden wir; als Verleumdete reden wir Gutes“. Diese an der Liebe orientierte altruistische Haltung, der Verzicht auf Vergeltung, das Festhalten am Guten, steht wohl auch hinter der Aussage, die als einzige die Wendung „Gesetz Christi“ bietet: Gal 6,2: Traget einander die Lasten, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Indikativ und Imperativ
Die Hochschätzung, die Paulus dem Dekalog wie der ethischen Funktion der Tora überhaupt entgegenbringt, erlaubt es nicht, den Begriff „Gesetz Christi“ in einen Gegensatz zur Tora zu bringen. Paulus steht ganz in der Tradition der altruistischen Ethik der Synagoge, die er jetzt allerdings auch gegenüber Christusanhängern plausibel machen muss, die diese jüdische Ethik kaum oder gar nicht kennen. So erklären sich die teilweise pedantische Aufzählung guter und böser Eigenschaften in den Tugend- und Lasterkatalogen, die Tendenz dazu, die ethische Forderung im Liebesgebot zusammenzufassen, und schließlich auch das Insistieren darauf, dem Götzendienst fern zu bleiben, aus der Notwendigkeit, zentrale Inhalte jüdischer Ethik erst einmal zu vermitteln. Diese sieht er im Liebesgebot, manchmal auch nur im Begriff „Liebe“ selbst (1Kor 13,1–13), zusammengefasst, das demnach seine zentrale Stellung nicht einem Gegensatz zur Tora verdankt, sondern vielmehr als Ausdruck der fortdauernden Kontinuität von Tora, Dekalog und Liebesgebot zu verstehen ist. Abstrahiert man die paulinischen Aussagen zur Ethik von dieser historischen Konstellation, fällt eine systematische Spannung auf, die die Paulusinterpretation bis heute intensiv beschäftigt. Ein Grundproblem wird unter der Frage von Indikativ (Ist-Zustand) und Imperativ (SollZustand, ethische Forderung) diskutiert. Einerseits ist Paulus überzeugt, dass der Christusanhänger durch Glaube und Taufe Anteil am Geist Gottes hat und damit von der Macht der Sünde als beherrschender Macht befreit ist (Heilsindikativ), andererseits ermahnt Paulus dennoch genau diese vom Geist bestimmten Christusanhänger, das Gute zu tun (Heilsimperativ). Diese Spannung zwischen Indikativ und Imperativ wird in einem Wort des Paulus aus dem Galaterbrief fassbar: Gal 5,25: Wenn wir im Geist leben, so lasst uns (auch) im Geist wandeln.
Ethik
Der Indikativ des Lebens im Geist (Ist-Zustand) wird durch die Forderung, auch diesem Geist gemäß zu leben, bestätigt. Das „Du sollst“ des Imperativs wird nur durch das „Du bist“ des Indikativs möglich. Theologisch gesprochen: Das Evangelium oder der Zuspruch (Indikativ) geht dem Gesetz oder dem Anspruch (Imperativ) voraus. Allerdings erscheint diese Erklärung der paulinischen Ethik seltsam abstrakt und formalistisch. Sie wird jedenfalls nicht der paulinischen Vorstellung der Umwandlung des Menschen durch das Christusverhältnis gerecht, die er als „neue Schöpfung“ bezeichnet (2Kor 5,17; Gal 6,15).27 Eine weitere Herausforderung stellt der Sachverhalt dar, dass die ethischen Forderungen, die Paulus erhebt, nicht gerade originell sind. Sie entsprechen nicht nur der Ethik der hellenistischen Synagoge, sondern unterscheiden sich auch nur wenig von der allgemeinen Popularethik der stoisch-kynischen Diatribe zur Zeit des Paulus. Wenn also Glaube und Geist den Menschen aus dem Herrschaftsbereich der Sünde herausreißen und unter die Macht des Evangeliums stellen, wieso wird von diesen Menschen nichts anderes als das, was ohnehin als ethisch geboten gilt, verlangt? Gibt es nicht doch eine Beziehung zwischen dem Empfang des Heils im Glauben und dem Tun des Guten? Paulus rechnet jedenfalls damit, dass es einen Rückfall zur Sünde geben kann, dem er mit seinen ethischen Imperativen entgegenwirken möchte. Wolter hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass Äußerungen über ethische Fragen, jenseits ihres Beitrags zur ethischen Debatte, auch die Funktion haben, das Gruppenethos zu klären, die Gruppenidentität zu stärken und „christliche Identität darzustellen“.28 Allerdings sollte man auf dieser funktionalen Ebene auch die konkreten ethischen Mahnungen ernst nehmen. Paulus musste gegenüber den neuen Christusanhängern, insbesondere gegenüber denjenigen aus dem Heidentum, elementare ethische Forderungen nicht nur „darstellen“ oder in Erinnerung rufen, sondern angesichts von Fehlverhalten energisch einschärfen (1Kor 5,1; 12,2). Eine Sonderstellung in der paulinischen Ethik nimmt der Abschnitt Röm 13,1–7 ein. Angesichts einer ausufernden Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Textes, insbesondere in der lutherischen Tradition der Zwei-Reiche-Lehre, ist es sinnvoll darauf hinzuweisen, dass der Zielpunkt der Ausführungen vergleichsweise bescheiden ist: Gebt Steuern, zahlt Zoll (13,7). Dieses bescheidene Ergebnis erreicht Paulus allerdings durch eine Argumentation, die sich im Gestus des Grundsätzlichen präsentiert: 27 Blischke, Begründung der Ethik bei Paulus, 457. 28 Wolter, Paulus, 315.
Popularethik
Gehorsam
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Theologie des Paulus (Mensch)
Röm 13,1.5: Jeder Mensch ordne sich unter […] denn es ist keine öffentliche Gewalt ohne Gott […] (5) deswegen ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht nur wegen des Zorns, sondern auch wegen des Gewissens […].
Es ist deswegen nicht ganz abwegig, diesen Abschnitt als eine „Loyalitätsparänese“ zu bezeichnen.29 Allerdings fällt auch auf, dass Paulus darauf verzichtet, eine konkrete Macht zu benennen, deren Loyalitätsforderung erfüllt werden soll, so dass Elliott zu Recht anmerkt, dass genau diese Distanz zur Ideologie des römischen Staates aufmerksam machen müsse.30 Weder der römische Kaiser noch die provinziale Obrigkeit werden erwähnt oder auch nur angespielt, vielmehr scheint Paulus eher einerseits Gott selbst und andererseits alltagsweltliche Steuerbedienstete, Zollbeamte und Polizisten im Blick zu haben. Im Ergebnis wird man bei der Auslegung von Röm 13,1–7 Lohse in der Einschätzung folgen, dass Paulus nur einfordere, dass sich Christen „wie alle anderen Bürger gegenüber den staatlichen Behörden korrekt zu verhalten“ hätten.31 Die paulinische Ethik knüpft an die altruistische Ethik des antiken Judentums an, indem sie die Liebe (gr. agape) bzw. das Liebesgebot als Zusammenfassung des ethischen Teils des Dekalogs in den Mittelpunkt stellt. Die materialethischen Gehalte zeigen diese Bindung an das Judentum etwa durch die Forderungen, vom Götzendienst Abstand zu halten und sozial schädliches Sexualverhalten zu unterlassen. Die Zusage, dass die Christusanhänger von der Versklavung durch die Macht der Sünde befreit sind, ist die Voraussetzung dafür, dass sie nun das Gute nicht nur erkennen, sondern auch vollbringen können.
Literatur Bergmeier, Roland: Die Loyalitätsparänese Röm 13,1–7 im Rahmen von Römer 12 und 13, in: ders., Das Gesetz im Römerbrief und andere Studien zum Neuen Testament, Tübingen 2000 (WUNT 2/121), 144–160. Blischke, Folker: Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, Leipzig 2007 (ABIG 25). Bormann, Lukas: Ethik und Politik, in: ders. (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 315–336. 29 Bergmeier, Loyalitätsparänese, 158–160. 30 Elliott, Romans 13, 201. 31 Lohse, Theologische Ethik, 211.
Literatur
Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1980. Dunn, James D.G.: A New Perspective on the New Persepctive on Paul, in: Early Christianity 4 (2013), 157–182. Ders.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009 (Library of Biblical Theology 4). Ders.: The Theology of Paul the Apostle, Cambridge 1998. Elliott, Neil: Romans 13:1–7 in the Context of Imperial Propaganda, in: Richard A. Horsley (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997, 184–204. Lohse, Eduard: Theologische Ethik im Römerbrief des Apostels Paulus, Göttingen 2004 (NAWG.PH 2004,6). Lührmann, Dieter: Glaube im frühen Christentum, Gütersloh 1976. Ders.: Pistis im Judentum, in: ders., Theologische Exegese im Horizont von Text und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Egbert Schlarb, Leipzig 2014 (MThS 120), 227–243. Luther, Martin: Sendschreiben vom Dolmetschen 1530, WA 30,2, 632–646. Räisänen, Heikki: Paul and the Law, Tübingen ²1987 (WUNT 29). Ders.: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010. Schnelle, Udo: Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York ²2014. Taubes, Jacob: Die politische Theologie des Paulus, München 2003. Wolter, Michael: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011. Zeller, Dieter: Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 2010 (KEK 5).
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6 Paulustradition
Abb. 6: Städte und Regionen Kleinasiens im 1. Jh. mit Ephesus, dem Mäandertal, Kolossai, der Insel Patmos und den sieben Städten der Apokalypse (neben Ephesus noch: Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodikeia).
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Paulustradition
6.1 Einführung
Netzwerk des Paulus
Die Theologie des Paulus entfaltete ausgehend von der Metropole Ephesus (1Kor 15,32; 16,8; 1Tim 1,3; 2Tim 1,18; 4,12; Apg 19,1–10) besonders in Kleinasien Wirkung. Über ein Netzwerk von Mitarbeitern und Unterstützern wurde das paulinische Evangelium von der Glaubensgerechtigkeit verbreitet, lebendig gehalten und weiterentwickelt. Es entstanden auch lokale Netzwerke wie etwa im Städtedreieck von Hierapolis, Laodikeia und Kolossai, die wiederum mit Ephesus, dem Zentrum der paulinischen Theologie, verbunden waren. Diese lokale und personale Vernetzung bot die logistische Basis für die Weitergabe der Paulusbriefe. Zudem wurden weitere Briefe unter dem Namen des Paulus abgefasst. Die in diesem Abschnitt behandelten Schriften der Paulustradition sind durchweg pseudonyme bzw. pseudepigraphe (fälschlich einem Autor zugeschriebene) Briefe. Die Briefe des Paulus hatten von Anfang an eine solch hohe Bedeutung, dass ihre Inhalte Gegenstand für weiterführende Beschäftigung waren. Die erste explizite Aussage über den Umgang mit Paulusbriefen findet sich im Kolosserbrief: Kol 4,16: Wenn der Brief bei euch vorgelesen worden ist, tragt Sorge, dass er auch in der Gemeinde der Laodizener vorgelesen wird, und den (Brief) aus Laodikeia, dass auch ihr (ihn) vorlest.
Verlesung der Briefe
Die unscheinbare, aber aufschlussreiche Notiz macht deutlich, dass die Briefe des Paulus in der Gemeinde von Kolossai vorgelesen wurden, vermutlich in der Gemeindeversammlung. Danach sollte das Schreiben auch anderen Gemeinden, hier der Nachbargemeinde von Laodikeia in ca. 15 km Entfernung, zur Verlesung zugänglich gemacht werden. Es liegt nahe, dass sich an das Verlesen des Briefes eine Aussprache anschloss, in der die im Schreiben angesprochenen Probleme diskutiert und Entscheidungen getroffen wurden, in Korinth etwa über die Forderung des Paulus, ein Gemeindemitglied auszuschließen (1Kor 5,4 f.) oder in den galatischen Gemeinden zu seiner Kritik am Umgang mit der Beschneidung und dem Einhalten von Festtagen (Gal 4,10; 6,13). Selbstverständlich wurden seine Anweisungen zur Durchführung des Abendmahls in Korinth (1Kor 11,17–34) ebenso diskutiert wie seine Kritik an der Evangeliumsverkündigung in Philippi (Phil 3,2 f.). Gelegentlich macht Paulus selbst deutlich, dass er von solchen Diskussionen über seine Briefe weiß, ja sogar die Meinungen der Gegner im Wortlaut zitieren kann: 2Kor 10,10: Die Briefe (des Paulus) sind zwar, sagen sie, gewichtig und kraftvoll, die Präsenz hingegen schwach und die Rede ist nichtig.
Einführung
Es ging in diesen textbezogenen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen auch um theologische Grundfragen, wie besonders klar aus Äußerungen hervorgeht, in denen Paulus seinen Adressaten vorwirft, dass ein „anderes Evangelium“ oder gar ein „anderer Jesus“ bei ihnen verkündigt werde (Gal 1,6; 2Kor 11,4). Angesichts der Komplexität, des Spannungsreichtums und aufgrund einer gewissen Widersprüchlichkeit der paulinischen Theologie gab es mit Sicherheit von Anfang an auch unterschiedliche und divergierende Meinungen zu dem, was der Apostel eigentlich meinte. Je mehr Zeit nach der Abfassung des Schreibens verstrich, desto größer wurden sowohl die Notwendigkeit wie auch die Spielräume für Interpretationen. Ein Beispiel für diesen Sachverhalt ist der zweite Thessalonicherbrief. Das Schreiben verfolgt das Ziel, die Interpretation der paulinischen Eschatologie zu korrigieren, indem es die im ersten Thessalonicherbrief ausgeführte Naherwartung und die dort genannte Abfolge der Endzeitereignisse neu definiert: Die Abfolge der Endzeitereignisse bis zum „Tag des Herrn“, wie sie Paulus in 1Thess 4 f. geschildert habe, werde durch eine „aufhaltende“ Kraft verzögert (2Thess 2,6 f.: gr. to katechon; τὸ κατέχον). Eine solche Vorstellung findet sich in den unumstrittenen Paulusbriefen hingegen nicht. Mehrfach verweist der zweite Thessalonicherbrief auf Streitpunkte, die sich aus der Interpretation von Briefen und anderen Schriftstücken ergeben (2Thess 2,2.15; 3,14.17):
divergierende Interpretationen
2Thess 2,2: Auf dass ihr euch nicht so leicht in der Einsicht wankend machen oder verschrecken lasst, weder durch einen Geist noch durch ein Wort noch durch einen Brief, sei er auch von uns, als ob (gesagt wäre): Der Tag des Herrn ist da!
Der Briefautor stellt hier demnach sogar Paulusbriefe bzw. deren Interpretation in Frage, wenn er schreibt, man solle sich nicht durch einen Paulusbrief verwirren lassen, wenn es um den Tag des Herrn gehe. Er selbst wirkt durch die Abfassung eines pseudepigraphen Paulusschreibens an der Rezeption und Neuinterpretation der paulinischen Theologie mit und weist zugleich Interpretationen, die sich auf echte Paulusbriefe stützen, zurück. Die Vielfalt der Auseinandersetzungen und kontroversen Überlegungen, die sich rund um die paulinische Theologie entwickelt haben, wird auch durch eine merkwürdig ambivalente Aussage zu den Paulusbriefen im zweiten Petrusbrief belegt: 2Petr 3,15 f.: Bewertet die Langmut unseres Herrn als Erlösung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus gemäß der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat, (16) wie er es auch in allen Briefen, in denen er
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Kontroversen
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Paulustradition
über diese Dinge (schreibt), sagt, in denen einiges Unverständliches (geschrieben ist), was die Unkundigen und Unsicheren verdrehen wie (sie) auch die übrigen Schriften (verdrehen) zu ihrem eigenen Verderben.
Paulusbrief sammlung
Geheimnis
Der Verfasser des zweiten Petrusbriefs blickt bereits auf „alle Briefe“ des Paulus zurück. Er diskutiert demnach die Ansichten des Paulus auf der Basis mehrerer Briefe, wenn nicht gar auf der Basis einer Paulusbriefsammlung.1 Paulus selbst war nicht mehr als Gesprächspartner erreichbar – vermutlich war er bereits tot – seine Briefe und deren Interpretationen traten an seine Stelle. Das Zitat aus dem zweiten Petrusbrief belegt zudem, dass sich die Interpreten der Paulusbriefe auf unterschiedliche, ja wechselseitig ausschließende Weise auf deren Inhalte beriefen. Dieser Prozess der Paulusinterpretation hat nach 2Petr 3,15 f. ein solch erhebliches theologisches Gewicht, dass die richtige Auslegung zur „Erlösung“, eine falsche aber zum „Verderben“ beitrage. Schließlich geht aus diesem Zitat auch hervor, dass neben den Paulusbriefen auch weitere Schriften kontrovers interpretiert, „verdreht“, wurden. Man wird hier sowohl an die Evangelien als auch an alttestamentliche Schriften denken müssen. Die Theologie des Paulus war demnach bereits zu dessen Lebzeiten Gegenstand lebhafter und zum Teil scharf geführter Diskussionen, die auch nach seinem Tod weitergeführt wurden. Diese Auseinandersetzungen wurden teilweise mit ihm persönlich, zunehmend aber in der Form von Auslegungen seiner Briefe geführt. Der Wunsch, genau festzuhalten, was Paulus in seinen Briefen gemeint hatte, brachte divergierende Ansichten hervor. Zu dieser Ambivalenz trug auch der Apostel selbst erheblich bei. Manche seiner Äußerungen wurden von ihm als „Geheimnis“ (gr. mysterion; μυστήριον; Röm 11,25; 1Kor 15,51) bezeichnet. Er nennt sich „Verwalter der Geheimnisse Gottes“ (1Kor 4,1) und deutet zudem an, dass er Teile seines tiefen Wissens für „Vollkommene“ zurückhalte (1Kor 2,6), anderen aber wie Säuglingen nicht feste Speise, sondern nur „Milch“ reiche (1Kor 3,1 f.) und schließlich berichtet er sogar von „unaussprechlichen Worten“ (2Kor 12,4), die er auf einer Himmelsreise erfahren habe. Vor diesem Hintergrund ist es gut nachvollziehbar, dass Schriften entstanden sind, die im Namen des Paulus abgefasst wurden, in denen der Begriff „Geheimnis“ eine große Rolle spielt (z. B. Eph 1,9; Kol 1,26; 2Thess 2,7; 1Tim 3,9) und zudem synonym mit Evangelium verwendet wird (z. B. Kol 2,2; 4,3). Diese Schreiben verfolgten das Ziel, Klarheit über die Theologie des Paulus zu schaffen, sei es, weil manche seiner Äußerungen von Anfang an erklärungsbedürftig 1 Frey, Judas und zweiter Petrus, 357.
Einführung
waren, sei es weil veränderte Bedingungen diese in einem neuen Licht erscheinen ließen. Solche unter dem Namen des Paulus abgefassten pseudepigraphe Schreiben sind auf der einen Seite die Deuteropaulinen, der Kolosser-, Epheser- und zweite Thessalonicherbrief, und auf der anderen Seite die Pastoralbriefe, Schreiben an Einzelpersonen im Amt eines „Bischofs“ (gr. episkopos; ἐπίσκοπος; 1Tim 3,2; Tit 1,7), zwei Briefe an Timotheus und ein Brief an Titus. Während der Kolosserbrief vor allem die universale Bedeutung der Christologie des Paulus, der Epheser das Kirchenverständnis und der zweite Thessalonicher die Endzeitvorstellungen weiterentwickeln, thematisieren die Pastoralbriefe überwiegend Fragen der gemeindlichen Ordnung und der Lebensführung. Da die Abfassungsverhältnisse keines der genannten Schreiben auch nur annähernd sicher bestimmt werden können, sind sie als Texte zu interpretieren, die vor allem das Ziel verfolgen, die Theologie des Paulus weiterzuführen und angesichts neuer Herausforderungen in der Tradition des Paulus „Theologie zu treiben“. Sie sind damit die ersten innerneutestamentlichen Beispiel für die Haltung, die Dunn für eine Theologie des Neuen Testaments insgesamt vorschlägt: „theologizing with the New Testament“.2 Die genannten pseudepigraphen Paulusbriefe setzen sich unter veränderten Bedingungen mit Fragen auseinander, die sich durch die Theologie des Paulus stellen. Diese Form des Theologisierens lässt sich aber noch näher bestimmen. Der zweite Thessalonicherbrief nutzt den ersten Thessalonicherbrief und der Epheserbrief den Kolosserbrief als strukturelle Vorlage, um dessen Aussagen weiterzuführen, zu interpretieren oder zu korrigieren. Ohne hier näher auf die Details der Textbeziehungen eingehen zu können, zeigt sich, dass die Paulustradition Ausdruck einer sogenannten „Textgemeinschaft“ („textual community“) ist. Es handelt sich um eine religiöse Gemeinschaft, deren religiöse Praxis sehr stark durch den Umgang mit Texten und Textinterpretationen, die durch eine charismatische Persönlichkeit wie Paulus eingeführt wurden, bestimmt ist.3 Die Gemeinschaft verständigt sich beständig über diese Texte und Textinterpretationen, wiederholt diese Texte paraphrasierend, lernt sie auswendig, spricht und verliest sie gemeinschaftlich. Die Identität dieser Textgemeinschaften beruht auf dem gemeinschaftlichen Umgang mit bestimmten, ausgewählten, aber nicht vollständig kanonisch abgegrenzten Texten.
2 Dunn, New Testament Theology, 12. 3 Stock, Implications, 88–92.
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Pseudepigraphie
Textgemeinschaft
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Paulustradition
Die Deuteropaulinen und die Pastoralbriefe stehen in der Tradition des Paulus. Sie greifen aber nicht auf amtliche oder personelle Konstellationen einer institutionalisierten „Paulus-Schule“ zurück, sondern führen die Praktiken der paulinischen Gemeinden als Textgemeinschaften weiter. Sie diskutieren, lesen und verbreiten Texte des Paulus. Darüber hinaus verfassen sie in seinem Namen weitere Schriften. In diesem kreativen Prozess des theologizing/Theologisierens halten sie nicht einfach an der Theologie des Paulus fest, sondern blicken auf diese zurück, um den theologischen Herausforderungen, die sie in ihrer Gegenwart wahrnehmen, gerecht zu werden.
6.2 Kolosser-, Epheser- und zweiter Thessalonicherbrief (Deuteropaulinen)
Paulusrezeption
Die Theologie der Deuteropaulinen ist in besonderer Weise zeitgebunden. Sie reagieren nicht direkt auf Kreuz und Auferstehung Jesu, sondern beziehen sich auf die theologische Interpretation, die Paulus diesem Ereignis gegeben hat, und auf die Schlussfolgerungen, die er für viele theologisch relevante Gebiete gezogen hat. Keines dieser Schreiben deckt aber auch nur annährend das Spektrum der paulinischen Theologie ab. Jedes für sich nimmt manches aus der Theologie des Paulus auf, übergeht anderes und konzentriert sich auf ein oder zwei bestimmte Gesichtspunkte, die es im Horizont der paulinischen Theologie korrigieren oder neu definieren möchte. Man kann grob sagen, dass der Kolosserbrief vor allem die Christologie des Paulus weiterentwickelt, indem er sie deutlicher und direkter mit der Schöpfung verbindet als Paulus es getan hat. Der Epheserbrief knüpft an der Christologie des Kolosserbriefs an, interessiert sich aber vor allem für die Frage nach der Bedeutung der Kirche als Leib Christi für den Heilsplan, den Gott mit seinem Mittler Jesus Christus verfolgt. Der zweite Thessalonicherbrief hingegen fragt sich, wie die realistische Erwartung der Endzeitereignisse mit der Enttäuschung der Naherwartung und dem Ausbleiben der Parusie Christi zu vereinbaren ist. Die besonderen Akzente, die diese Schreiben in der Christologie, Ekklesiologie und Eschatologie setzen, haben dann aber auch wiederum Auswirkungen auf die Entfaltung der weiteren theologisch und ethisch relevanten Themen. Historisch gesehen haben die pseudepigraphen Briefe, die bis zum Beginn der kritischen Forschung im 19. Jahrhundert als echt paulinisch galten, das Gesamtverständnis der paulinischen Theologie stark beeinflusst, weil man in ihnen definitive Klärungen offener Fragen durch Paulus selbst zu finden glaubte.
Deuteropaulinen
6.2.1 Gemeinde – Kirche Das Gemeindeverständnis, das in den Deuteropaulinen zu fassen ist, knüpft zunächst eng an den paulinischen Vorgaben an. Die Gemeinde ist zunächst Versammlung (gr. ekklesia; ἐκκλησία), ihre Mitglieder werden als „Heilige“ im Sinne von „für (Gott) geheiligt“ bezeichnet (gr. hagioi; ἅγιοι), womit der Sprachgebrauch der Hebräischen Bibel aufgegriffen wird, die auch von einer „Versammlung der Heiligen“ spricht (vgl. Ps 34,10; 89,6: gr. en ekklesia hagion; ἐν ἐκκλησίᾳ ἁγίων). Der Begriff ekklesia findet sich in 2Thess zweimal (1,1.4), in Kol viermal (1,18.24; 4,15 f.), und in Eph zehnmal (1,22; 3,10.21; 5,23–25.27.29.32). Die häufige Verwendung im Epheser deutet bereits auf die besondere Stellung des Themas Kirche in diesem Schreiben hin. Die Anrede „Heilige“ verwenden nun aber der zweite Thessalonicherbrief in 1,10 auch für „Engel“ und der Kolosser- und Epheserbrief für Gemeindeglieder und „Engel“ (Kol 1,2.4.12.22.26; 3,12; Eph 1,1.4.15.18; 2,19; 3,8.18; 4,12; 5,3; 6,18). Ähnlich wie in den Sabbatopfergesängen aus Qumran haben wir in diesen Briefen die Vorstellung einer Gemeinschaft von „himmlischen“ und „irdischen“ Wesen, die beide als „für (Gott) geheiligte“ Wesen Gott verehren.4 Daneben verwenden die Schreiben die Anrede „Brüder (und Schwestern)“ (gr. adelphoi; ἀδελφοί) unterschiedlich häufig: 2Thess achtmal (1,3; 2,1.13.15; 3,1.6.13.15); Kol zweimal (1,2; 4,15); Eph einmal (6,23). Die Verteilung des Vorkommens dieser Anrede zeigt, dass der zweite Thessalonicherbrief intensiv die Empfängergemeinde ansprechen will, während der Epheserbrief geradezu distanziert wirkt. Dieser Sachverhalt hat zu der Einschätzung beigetragen, dass der Epheserbrief gar kein eigentlicher Brief, sondern vielmehr ein Traktat oder bestenfalls eine Art Rundschreiben sei.5 Für den Kolosserbrief wird man in Rechnung stellen müssen, dass er zahlreiche Gemeindemitglieder namentlich anspricht oder erwähnt, so dass die Zurückhaltung im Gebrauch der Anrede mit „Brüder und Schwestern“ sich auch daraus erklärt. Der Kolosserbrief bildet wie der zweite Thessalonicherbrief eine lebendige Kommunikationssituation ab. Der zweite Thessalonicherbrief wendet sich an eine Gemeinde, die verfolgt wird (1,4) und die auf das Gericht Gottes hofft, in dem die Verfolger und diejenigen, „die Gott nicht kennen“, verurteilt werden (1,5– 10). Die Gemeinde ist hier zunächst die Personengemeinschaft der Glaubenden. Eine ausgearbeitete Lehre von der Kirche als Heilsgemeinschaft (Ekklesiologie) ist nicht zu erkennen. Das sieht im Kolosserbrief schon anders aus. Der Verfasser erwähnt die Gemeinde von Laodikeia (4,16) 4 S. o. 76 (Sabbatopferlieder). 5 Sellin, Epheser, 52–57.
Gemeinde und Engel
Regeln der Gemeinde
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Paulustradition
Philosophie
und die Hausgemeinde der Nympha (4,15). Die Bedeutung der Taufe (2,11 f.), des gemeinsamen Essens, der Feiertage (2,16) und des Gottesdienstes (3,16) werden ausgeführt und gegen Missverständnisse abgegrenzt. Der Kolosserbrief befasst sich demnach mit den wesentlichen religiösen Praktiken der Gemeinde. Darüber hinaus entwickelt er das Kirchenverständnis weiter, indem er die paulinische Konzeption von der Gemeinde als „Leib Christi“ (1Kor 12,27; Röm 12,5) aufgreift und ihr einen neuen Akzent gibt: Christus ist das Haupt, die Kirche der Leib (Kol 1,18). Die Metapher ordnet Christus der Kirche über und schafft damit die Voraussetzungen für ein hierarchisches Kirchenverständnis. Der Autor selbst hat aber mit dieser Variation der paulinischen Leibmetapher ein anderes Ziel verfolgt. Die Körpermetaphorik bringt die besondere Form der Zusammengehörigkeit zum Ausdruck: Kopf und Leib sind untrennbar miteinander verbunden bzw. nur um den Preis ihrer Lebensfähigkeit voneinander zu trennen. Diese Vorstellung der festen Zusammengehörigkeit betont der Autor mehrfach, indem er das Körperbild noch um die Erwähnung von „Sehnen und Bändern“ (2,19), die alles zusammenhalten, ergänzt. Der Verfasser des Epheserbriefs hat „umfassende Kenntnisse der paulinischen Briefe und ihrer Theologie, der jüdisch-hellenistischen Theologie und der antiken Philosophie“, vor allem aber benutzt er den Kolosserbrief als Strukturvorlage.6 Für ihn ist das griechische Wort ekklesia nicht mehr die Bezeichnung für eine konkrete Gemeinde, sondern für die Kirche als Heilsgemeinschaft. Eph 1,22 f.: Und er (Gott) hat […] ihn (Christus) der Kirche (gr. ekklesia) als das Haupt gegeben, das über allem ist. (23) Sie ist sein Leib, der die Fülle dessen ist, der alles für alle erfüllt.
Christus, das Haupt
Im Epheserbrief ist nicht Christus die „Fülle“ (gr. pleroma; πλήρωμα) wie noch im Kolosser, sondern vielmehr die Kirche. Sie gilt damit als Ort der Präsenz des göttlichen Heilswillens und als ewige Heilsgemeinschaft. Christus und die Kirche werden in einem Atemzug genannt und stehen geradezu auf einer Stufe (3,21; 5,32). Die Kirche selbst ist Offenbarungsträger der Weisheit Gottes und stellt sich der Auseinandersetzung mit den „Mächten und Gewalten im Himmel“ (3,10). Das Verhältnis von Christus und Kirche wird in 5,22–32 übertragen auf das Verhältnis von Ehemann (Haupt, Christus) zur Ehefrau (Leib, Kirche). Die Ehefrau ordne sich unter, sei ohne „Flecken und Falten“ – der Ehemann liebe und ernähre seine Frau („sein eigenes Fleisch“). Die Ehemetapher wirkt aber auch wieder zurück auf das, was der Verfasser über das Verhältnis 6 Sellin, Epheser, 57; Kooten, Cosmic Christology, 202 f.
Deuteropaulinen
von Christus und Kirche sagen will, wenn er die Wendung „und die zwei werden ein Fleisch sein“ (Gen 2,24) auf das Verhältnis von Kirche und Christus bezieht und den dort zum Ausdruck gebrachten Vorgang des Eins-Werdens als ein „großes Geheimnis“ bezeichnet (5,31 f.). Der Epheserbrief nimmt die paulinische Ämtertrias aus 1Kor 12,28 auf, verzichtet aber darauf, eine Ämterhierarchie in der Kirche zu entwickeln (Eph 4,11; vgl. Eph 2,20). Die hohe Vorstellung von der Kirche als überörtliche, metaphysisch-eschatologische Heilsgemeinschaft hat vor allem die Aufgabe, die Widerstandskraft der Glaubenden gegen die widergöttlichen Mächte zu stärken (2,2; 6,11 f.), nicht aber nach innen eine Ordnungsstruktur zu entwickeln, wie das in den Pastoralbriefen geschieht. Die Christen bilden eine kämpfende Kirche (lat. ecclesia militans), deren Waffen allerdings niemanden körperlich verletzen oder gar Blut vergießen, sondern auf den Willen der Gegner wirken sollen. Eph 6,11 f.: Zieht die Waffenrüstung Gottes an, auf dass ihr den (listigen) Plänen des Teufels widerstehen könnt! (12) Denn unser Kampf geht nicht gegen Blut und Fleisch, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Schlechtigkeit in den himmlischen (Bereichen). Die Deuteropaulinen führen das paulinische Verständnis der Gemeinde als „Leib Christi“ weiter. Im Kolosser- und im Epheserbrief wird Christus als das Haupt der Kirche eng mit der Kirche als Leib verbunden. Dadurch ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Kirche als Mittlerin zwischen Gott und Mensch wirken kann und somit selbst soteriologische Bedeutung bekommt.
6.2.2 Gott und Mensch Die Deuteropaulinen knüpfen an der Vielfalt des Gottesverständnisses des antiken Judentums an, nach dem Gott als Schöpfer und Richter das Geschick der Seinen („Volk Gottes“) je nach Gehorsam und Ungehorsam bestraft oder belohnt. Das wichtigste Gottesattribut in allen drei Briefen ist jedoch die Vorstellung vom barmherzigen Schöpfer. Die Deuteropaulinen greifen dabei auf die zentralen Aussagen im Gottesverständnis des antiken Judentums zurück: das Bekenntnis zum Verschonungswillen des Gottes Israels (Ex 34,6; Ps 145,8).7 In diesem werden vier bzw. fünf Eigenschaften Gottes genannt, die sein Wesen und seinen Willen bestimmen: 7 S. o. 50 (Eigenschaften Gottes).
Barmherzigkeit Gottes
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Paulustradition
Gott ist barmherzig, liebevoll, langsam im Zorn, voll Gnade und treu bzw. wahrhaftig. Diese zuwendenden Eigenschaften Gottes fasst die Paulustradition in dem Wort „Gnade“ (gr. charis; χάρις) zusammen (Eph 12x; Kol 5x; 2Thess 4x). Die Septuaginta übersetzt das hebr. Wortfeld von chanun, „liebevoll“ überwiegend mit gr. charis „Gnade“. Charis kennzeichnet die positive Qualität einer Beziehung mit der wechselseitigen Ausrichtung von „Gnade finden“ im Sinne von „Wohlgefallen finden“ oder „Gnade geben/erhalten“ im Sinne von „Ansehen schenken/erhalten“.8 Diese Form der Zuwendung bringt das Verb „gnadenvoll schenken“ im Sinne von „vergeben“ (gr. charizomai; χαρίζομαι) noch deutlicher zum Ausdruck (Eph 4,32; Kol 2,13; 3,13). Die Eigenschaften und die Haltung Gottes sind zugleich die Richtlinie zur Gestaltung des Miteinanders in der Gemeinde. Eph 4,32 formuliert in Abhängigkeit von Kol 3,13: Eph 4,32: Vergebt einander, wie Gott euch in Christus vergeben hat. Tugenden
Den zwei fünfgliedrigen Reihen der Laster des „alten Menschen“ in Kol 3,5 und 3,8 wird eine ebenfalls fünfgliedrige Reihe der Tugenden des „neuen Menschen“ in 3,12 entgegengestellt, die sich an den Eigenschaften Gottes orientieren.9 Kol 3,12–14: Zieht nun als von Gott auserwählte Heilige und (von ihm) Geliebte aus dem Inneren kommendes Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut und Geduld an, (13) ertragt einander und beschenkt euch mit der Vergebung in dem Fall, dass einer gegen einen anderen eine Beschwerde hat. Wie auch der Herr euch mit Vergebung beschenkt hat, so (tut es) auch ihr. (14) Über alle diese (zieht) aber die (tätige) Liebe (an), das ist das Band der Vollkommenheit.
Gericht
Angesichts dieser positiven Grundstimmung verwundert es nicht, dass der Gerichtsgedanke im Kolosserbrief nur entfernt anklingt (Kol 1,22.28; 3,24 f.) und im Epheserbrief auf die Gegner des Evangeliums beschränkt ist (Eph 5,5 f.; 6,10–17). Im zweiten Thessalonicherbrief hingegen bildet der Gerichtsgedanke das Zentrum der Überlegungen.10 Dieser löst die Spannung von vergebender Barmherzigkeit und strafender Gerechtigkeit in Gott angesichts der Verfolgung der Gemeinde (2Thess 1,3–10) in Richtung auf das Recht schaffende und gerecht strafende Handeln Gottes auf. Das Gericht wird als Rache- oder Vergeltungsgericht über die Ungläubigen und als Lohngericht für die Glaubenden vorgestellt 8 Bormann, Art. Gnade, 221–223. 9 Bormann, Kolosser, 168–170. 10 Luz, Neutestamentliche Lichtblicke, 260–266.
Deuteropaulinen
(1,8 f.). Diese Ausführungen zum Rachegericht (gr. ekdikesis; ἐκδίκησις) stehen den Vorstellungen der Johannesapokalypse nahe (Apk 6,10; 19,2: gr. ekdikeo; ἐκδικέω). In diesem Gerichtsgeschehen ist nicht Gott, sondern Christus der Richter. Er straft diejenigen, die die Gemeinde verfolgen und dem Evangelium ungehorsam waren. Das Szenario ist anschaulich ausgemalt. Christus tritt im Gericht auf mit „loderndem Feuer“ (2Thess 1,8), seinen Widersacher vernichtet er mit dem „Hauch seines Mundes“ (2,8). Im Gerichtsgeschehen ist demnach Gott ganz hinter Christus zurückgetreten. Er wahrt seine Transzendenz, während sein Beauftragter, der Messias, den Kampf führt. Im Epheser- und Kolosserbrief ist es nicht die Aufgabe des Messias, Gericht zu halten. Er ist vielmehr der „Mittler“ durch den Gott sein „Geheimnis“ (gr. mysterion; μυστήριον) offenbart: die Versöhnung im Sinne der Integration aller, auch der Nichtjuden in die Heilsgemeinschaft (Kol 1,28; 3,11; Eph 2,11–13; 3,1.8). Im Epheserbrief tritt die Kirche nahezu gleichberechtigt neben Christus. Sie steht in einem unmittelbaren, nicht mehr nur durch Christus vermittelten Verhältnis zu Gott: Gott hat die Gemeinde „vor der Grundlegung des Kosmos “ auserwählt (1,4). Sie ist es auch, die im beständigen Kampf gegen die Mächte der Finsternis das Gerichtshandeln vollzieht (6,12 f.). In allen drei Schreiben bleibt Gott im Hintergrund. Die ausgeprägte Transzendenz Gottes verstärkt die Notwendigkeit von Vermittlungen, die seinen Verehrern die Möglichkeit geben, zu ihm in Kontakt zu kommen. Im antiken Judentum übernehmen Erzengel und Engel diese Aufgabe und werden dabei vom Satan und von den Dämonen behindert. In diese Welt der Mittlerwesen treten nun Christus als Haupt der Kirche und die Kirche als sein Leib (Kol 1,18.24; Eph 1,23; 4,12; 5,23) bzw. Christus als endzeitlicher Messias und Gegenspieler des vom Satan beauftragten Gesetzlosen (2Thess 2,3 f.8). Sie stellen zum einen für die Glaubenden die Beziehung zu Gott her und führen zum anderen die Auseinandersetzung mit den genannten widergöttlichen Wesen.
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Heilsgemeinschaft
Mittlerwesen
Die Deuteropaulinen orientieren sich in den Tugend- und Lasterkatalogen an den Eigenschaften Gottes. Das Verhältnis von Gott und Mensch ist allerdings isngesamt von einer größeren Distanz geprägt als bei Paulus. Ein transzendenter Gott tritt über den Mittler Christus in Beziehung zu den Menschen. Im Zwischenraum zwischen Gott und Mensch wirken weitere Mittlerwesen, Engel, Erzengel, der „Gesetzlose“ und der Satan. Während der Kolosserbrief davon ausgeht, dass diese Mächte Christus untergeordnet und ungefährlich sind (Kol 1,16 f.), thematisiert der Epheserbrief den Kampf zwischen der Kirche und den widergöttlichen Mächten des Zwischenraums (Eph 2,2; 3,10; 6,11 f.). Der zweite Thessalonicherbrief konzentriert sich auf den Konflikt der Endzeit zwischen Christus und dem Gesetzlosen (2Thess 2,1–12).
188
Paulustradition
6.2.3 Zentralität und Vielfalt der Christologie
Vielfalt der Christologie
hohe Christologie
Ebenbild Gottes
Die Christologie ist in allen drei deuteropaulinischen Briefen zentral. Wie in der gesamten Paulustradition spielt die Evangelienüberlieferung vom Leben Jesu keine Rolle. Im Epheser- und Kolosserbrief ist Christus der gekreuzigte, auferstandene und zur Rechten Gottes erhöhte „Herr“ (Kol 1,20; 3,1; Eph 1,20; 2,16). Der zweite Thessalonicherbrief erwähnt Kreuz und Auferstehung nicht, sondern stellt die in 1Thess 1,10 und 4,16 ausgesprochene Erwartung der Parusie Jesu „vom Himmel“ in den Mittelpunkt (2Thess 1,7; 2,1). Sie wird mit dem gegenüber Paulus neuen, mit Blick auf das antike Judentum hingegen traditionellen Vorstellungszusammenhang vom endzeitlichen Kampf verbunden. In diesem Kampf tritt ein „Widersacher“ auf, der sich im Tempel niederlässt und sich „wie Gott“ gebärdet (2,3–12). Der Parusiechristus besiegt und vernichtet ihn. Im zweiten Thessalonicherbrief ist die Christologie ganz den Vorstellungen von den endzeitlichen Ereignissen zugeordnet. Das Schreiben formuliert eine apokalyptische Christologie, die an Dan 11,36 und Jes 11,4 anknüpft und der kriegerischen Messiaskonzeption der Psalmen Salomos nahesteht. Diese Vorstellungen werden im Abschnitt Eschatologie (6.2.4) weiter ausgeführt. Der Kolosserbrief hingegen konzentriert sich auf die Weiterführung der soteriologischen Ausrichtung der paulinischen Christologie. Er behandelt allerdings das Heilshandeln (Soteriologie) losgelöst von den Themen „Sünde“ und „Sündenschuld“, die für Paulus zentral sind.11 In Aufnahme der paulinischen Aussagen, dass Christus „Ebenbild Gottes“ (2Kor 4,4) und „Weisheit Gottes“ (1Kor 1,24; 2,7) ist, wird die Nähe und Übereinstimmung Christi mit Gott hervorgehoben. Die Aussagen zu Christus, die der Kolosserbrief formuliert, wurden in der Alten Kirche als Brücke zur hohen johanneischen Christologie verstanden und gelten als die höchsten christologischen Aussagen, die die Paulustradition kennt.12 Es ist wohl das soteriologische Interesse, das den Kolosserbrief dazu bringt, den Gedanken der Präexistenz und der Schöpfungsmittlerschaft aus der jüdischen Weisheitstradition (Sir 24; Weish 6,12–20; 7,22–8,1; vgl. Spr 8,22–31; Hiob 28) mit Christus zu verbinden. Wenn das Erlösungshandeln Christi die ganze Welt erfassen sollte, dann musste eine Beziehung zwischen Christus und allem Geschaffenen bestehen. Diese Beziehung war durch die Überzeugung gegeben, dass alles „durch ihn und auf ihn hin“ geschaffen worden war (Kol 1,16). 11 S. o. 130 (Sühnetod Jesu). 12 Wilson, Commentary on Colossians, 124 f.
Deuteropaulinen
Die Vorstellungen von Christus als präexistentem Schöpfungsmittler und als das „Ebenbild Gottes“ (1,15) sind die Voraussetzungen dafür, dass er zum Wohnort der „Fülle“ und Weisheit Gottes werden kann (1,19; 2,2 f.). Ermächtigt durch diese dem Schöpfer analoge Verbindung mit allem Seienden kann er als Versöhner des „Alls“ am Kreuz (1,20; 2,14) wirken. Dieses Heil gibt er in der Taufe weiter (2,11–14) und als „Haupt der Kirche“ (1,18; vgl. 2,19) gewährt er es gegenwärtig für seinen „Leib“, die Kirche. Der Epheserbrief nimmt die christologischen Aussagen des Kolossers weitgehend auf, gibt ihnen aber in zweierlei Hinsicht eine etwas andere Ausrichtung: 1. Die Heilsbedeutung der Verbindung von Haupt und Leib, Christus und Kirche wird hervorgehoben. Christus wird als in der Kirche und durch die Kirche gegenwärtig verstanden (1,22 f.; 3,10 f.). 2. Es wird deutlicher als im Kolosserbrief herausgestellt, dass das Versöhnungshandeln Christi die Nichtjuden in das Volk Gottes integriert, ihnen das „Bürgerrecht Israels“ verleiht (2,12) und damit die Aufhebung der Grenzen Israels gegenüber den Nichtjuden bewirkt (2,11–13; 3,6), ohne dass Israel dadurch etwas verlieren würde. 6.2.4 Eschatologie In der Eschatologie gehen wiederum Epheser- und Kolosserbrief auf der einen und der zweite Thessalonicherbrief auf der anderen Seite eigene Wege. Es wurde bereits erwähnt, dass die Vorstellung der realistisch-futurischen Eschatologie und der Gerichtsgedanke für den zweiten Thessalonicherbrief zentrale Bedeutung haben, im Kolosserund Epheserbrief aber kaum wahrnehmbar im Hintergrund stehen. Im Verhältnis zur paulinischen Theologie haben die beiden letztgenannten Briefe zudem den sogenannten eschatologischen Vorbehalt aufgegeben. Während Paulus das Erlösungsgeschehen zwar im Christusereignis und in der Teilhabe der Gemeinde am Geist durch den Glauben bereits gegenwärtig sieht, macht er doch jeweils deutlich, dass wichtige Ereignisse noch ausstehen: die Parusie Christi, die Auferstehung der Toten, die Sammlung der Gemeinde um Christus, das Gericht. Im Unterschied dazu ist für den Kolosserbrief die Versöhnung und Erlösung in der Gegenwart der Gemeinde bereits nahezu vollkommen erreicht. Die Glaubenden haben bereits das „Erbteil der Heiligen im Licht“ empfangen und stehen nun in der „Königsherrschaft seines geliebten Sohnes“ (Kol 1,12 f.). Die Gegenüberstellung der Aussagen über die Teilhabe an Tod und Auferstehung Jesu in der Taufe soll den Unterschied zwischen Paulus und der deuteropaulinischen Theologie des Kolosserbriefs verdeutlichen:
präsentische Eschatologie
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Paulustradition
Röm 6,4 f.8: Wir wurden nun mit ihm durch die Taufe in den Tod begraben, damit, wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln. (5) Denn wenn wir verbunden sind mit dem Abbild seines Todes, so werden wir es auch mit dem seiner Auferstehung sein […] (8) Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Kol 2,12: … da ihr mit ihm begraben worden seid in der Taufe. In ihm seid ihr auch mit auferweckt worden durch das Vertrauen in die Wirkmacht Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat.
eschatologischer Vorbehalt
Die Übereinstimmungen im Wortlaut zwischen diesen beiden Texten, besonders die unübliche Wendung „mit begraben sein mit ihm in/durch die Taufe“, die im Neuen Testament nur an diesen beiden Stellen vorkommt, weist darauf hin, dass Kol 2,12 die Aussage von Röm 6,4–8 aufnimmt und charakteristisch abwandelt. Röm 6,3–11 versteht die Taufe als Teilhabe am Sterben Christi, die Teilhabe an der in der Auferstehung Christi wirksamen „Herrlichkeit“ und endzeitlichen Schöpfermacht Gottes hingegen bleibt ein zukünftiges Ereignis. Kol 2,12 hebt diesen eschatologischen Vorbehalt auf und spricht nun von der vollständigen Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi und damit an der Schöpfermacht Gottes, die sich in diesen Taten erwiesen hat. Diese Vorstellung gründet in der kosmologischen Christologie des Kolosserbriefs. Sie sieht in Christus, dem präexistenten „Ebenbild Gottes“, den uranfänglichen Mittler und das Ziel der ganzen Schöpfung. Für ihn ist die Versöhnung und Erlösung durch Christus bereits gegenwärtige Realität in der Taufe und im „Leib“ der Kirche. Der Epheserbrief entwickelt die Vorstellung von der vollständigen Präsenz der Wirkmacht Gottes in der Kirche noch weiter, indem er die Kirche, nicht Gott oder Christus, als Akteur der endzeitlichen Ereignisse versteht (Eph 6,10–17). Einige wenige Wendungen, wie etwa „Vergeltung mit dem Erbe“ (Kol 3,24) oder „der böse Tag“ (Eph 6,13), tragen noch futurische Vorstellungen mit sich, die aber nicht weiter ausformuliert werden und somit keine weitere gedankliche Wirkung auf das theologische Gesamtkonzept entfalten. Kolosser- und Epheserbrief vertreten im Wesentlichen eine präsentische Eschatologie. Der Heilswille Gottes ist jetzt in der versöhnten Welt (Kol) bzw. in der Kirche (Eph) wirksam. Gott, Welt und Mensch sind durch Christus in einer unverbrüchlich guten Weise aufeinander bezogen. Der zweite Thessalonicherbrief hingegen greift vor allem die futurischen Elemente der paulinischen Theologie auf, genauer gesagt die Eschatologie, wie sie im ersten Thessalonicherbrief entfaltet wird. Es
Deuteropaulinen
ist nicht erkennbar, dass weitere Paulusbriefe herangezogen wurden. Die zentrale These ist überschrieben mit: „Über die Parusie unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm“ (2Thess 2,1). Die Überschrift nimmt direkt Bezug auf die Aussagen zur „Parusie“ (1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23) und die Erwartung, vom auferstandenen Christus gerettet zu werden und dann „allezeit mit dem Herrn“ zu sein (1Thess 4,17; vgl. 1,9 f.). Angesichts der konkreten Naherwartung, die Paulus im ersten Thessalonicherbrief geäußert hatte und den Verfolgungen, denen sie ausgesetzt zu sein scheinen (2Thess 1,4.6 f.), haben einige unter den Briefempfängern unter Berufung auf Schriften, darunter auch Paulusbriefe, die These aufgestellt: „Der Tag des Herrn ist schon da“ (2Thess 2,2).13 Dem begegnet nun ein Argumentationsgang, der ebenfalls auf prophetische und apokalyptische Texte der Hebräischen Bibel, vermittelt durch die griechische Übersetzung, die Septuaginta, zurückgreift und zwei für die Paulustradition neue Gedanken in das apokalyptische Szenario einfügt: 1. Der durch Satan ermächtigte Widersacher, der auch „Sohn des Verderbens“ und „Gesetzloser“ genannt wird. Diese Figur wird oft auch vereinfacht als Antichrist bezeichnet, obwohl der Terminus nicht im zweiten Thessalonicherbrief verwendet wird (vgl. 1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 1,7). 2. Eine den Ablauf aufhaltende Macht (gr. to katechon; τὸ κατέχον), ein bis heute „rätselhafter Begriff “.14 Die Aussagen aus Dan 11,36 und Jes 11,4 bilden den Rahmen der Überlegungen. Es trete jemand auf, der „gegen den Gott der Götter unerhörte Reden führt“ (Dan 11,36; vgl. 2Thess 2,4). Der „Spross“ (d. i. der Messias) aber werde „mit dem Hauch durch die Lippen den Gottlosen töten“ (Jes 11,4; vgl. 2Thess 2,8). Dieses Grundgeschehen aus Auftreten des Widersachers und seiner Vernichtung durch den Messias wird durch eine aufhaltende Macht in seinem Ablauf verzögert. Der Widersacher ist da, aber noch nicht als solcher für alle offensichtlich zu erkennen (2,3.6 f.). Auch diese Offenbarung wird von einer aufhaltenden Macht bzw. von dem Aufhaltenden (gr. ho katechon; ὁ κατέχων) verzögert bis zu dem „für ihn bestimmten Zeitpunkt“ (2,6 f.). Wenn dieser dann gekommen ist, wird das Treiben des Widersachers geradezu unerträglich. Er nimmt im Tempel Gottes Platz und behauptet, selbst Gott zu sein (2,4). Er verletzt damit auf das Brutalste das Recht Gottes. Der endzeitliche Messias tritt dann auf und vernichtet den Gottlosen (2,8). Die hier geschilderten Vorstellungen gehen weit über die endzeitlichen Aussagen hinaus, die wir von Paulus kennen. Nach Paulus 13 S. o. 167 (Naherwartung in 1Thess). 14 Metzger, Katechon, 47.
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Endkampf Christi
Gesetzloser
Aufhaltender
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Paulustradition
Zwischenzeit
kommt der Tag des Herrn „wie ein Dieb in der Nacht“ (1Thess 5,2), also nicht vorhersehbar und auch nicht als Teil eines apokalyptischen Fahrplans, der eine bestimmte kontrollierbare Ereignisfolge enthält. Genau einen solchen Fahrplan legt aber der zweite Thessalonicherbrief seinen Ausführungen zugrunde. Er spricht zudem von einer geheimnisvollen Zwischenzeit, die durch das Aufhalten der Parusie entsteht. Diese Vorstellung hat zu zahlreichen Interpretationen geführt, die von den Kirchenvätern bis Carl Schmitt und Dietrich Bonhoeffer reichen und nach denen das Imperium Romanum bzw. der römische Kaiser oder der Staat überhaupt das Hereinbrechen der Parusie aufhalte. Wen der Verfasser des zweiten Thessalonicherbriefs als das Katechon angesehen hat, ist nicht ganz deutlich. Vorgeschlagen werden: Paulus, der römische Kaiser oder Gott selbst. Es spricht vieles dafür, dass das Katechon den göttlichen Heilswillen repräsentiert und demnach Gott selbst der Hervorbringer der aufhaltenden Macht sein soll. 6.2.5 Ethik
Ethik der Ordnung
Tugend- und Lasterkataloge
So kreativ der zweite Thessalonicherbrief in der Entfaltung eines apokalyptischen Fahrplans ist, so traditionell argumentiert das Schreiben in seinen ethischen Passagen (3,6–15). Diese nehmen die Stichworte für die ethischen Weisungen aus dem ersten Thessalonicherbrief auf: „Nachahmer“, „Vorbild“, „Tag und Nacht arbeiten“, „unordentlich“ (1Thess 1,6 f.; 2,9; 5,14 vgl. 2Thess 3,6 f.; 3,7–9; 3,10–12). Neu sind hier die Aufforderung, mit unordentlichen Gemeindemitgliedern keinen Umgang zu haben, und die Betonung der Lohnarbeit in der sprichwörtlich gewordenen Sentenz: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!“ (2Thess 3,10). Die Ethik richtet sich vor allem darauf, dass kein Gemeindeglied eine anstößige Lebensführung an den Tag legen soll. Diejenigen, die das dennoch tun, sollen vom sozialen Miteinander isoliert werden. Kolosser- und Epheserbrief erweisen sich in ihren ethischen Ausführungen als durchaus innovativ gegenüber den paulinischen Vorgaben. Die vergleichsweise konkreten, um nicht zu sagen derben Lasterkataloge des Paulus (z. B. 1Kor 5,10 f.; 6,9 f.), werden besser durchdacht und erhalten einen theologisch und philosophisch reflektierten Inhalt (Eph 4,31; 5,3–5; Kol 3,5.8).15 Kol 3,5 und Eph 5,3 heben die „Habgier“ (gr. pleonexia; πλεονεξία), eine in der Antike allgemein verachtete Haltung, hervor und ordnen diese in die jüdische Perspektive ein, indem sie sie mit Götzendienst bzw. Unreinheit auf eine Stufe stellen. Der Kolosserbrief stellt zwei Fünferreihungen der Las15 S. o. 171 (Lasterkataloge).
Deuteropaulinen
ter des alten Menschen eine Fünferreihe von Tugenden des neuen Menschen entgegen. Die Tugenden sind zudem an den Eigenschaften Gottes orientiert: Barmherzigkeit und Langmut. Dieser Bezug findet sich auch in Eph 4,2.32 und 5,8.16 Wie im Neuen Testament durchweg gilt die „Liebe“ als die Zusammenfassung aller ethisch guten und altruistischen Verhaltensnormen (Kol 3,14; Eph 5,2). Die auffallendste Neuerung im ethischen Diskurs des Neuen Testaments stellen die Reihungen reziproker Verhaltensnormen dar, die traditionell als Haustafeln bezeichnet werden (Kol 3,18–4,1; Eph 5,22–6,9). Während sich Paulus an die Gemeindeglieder als „Heilige“ oder „Auserwählte“ wendet und diese auf die Folgen ihres Tuns aufmerksam macht, richten sich die Haustafeln an Träger sozialer Rollen, die in jedem antiken Haushalt existieren: Ehemänner und Ehefrauen, Eltern und Kinder, Sklaven und Sklavenbesitzer. Die geforderten Verhaltensweisen, die im Wesentlichen aus dem Gehorsam der Untergebenen und der Fürsorge der Übergeordneten bestehen, werden theologisch und christologisch legitimiert, indem sie mehrfach auf den „Herrn“ in Wendungen wie „um der Furcht des Herrn“ willen oder „wie es dem Herrn angemessen ist“ zurückgeführt werden (Kol 3,20.22). Der Epheserbrief ergänzt die christologische Begründung des Kolosserbriefs durch weitere theologische Argumentationen. Er verbindet die Haustafel mit der Ethik der Synagoge, indem er die Eheparänese der Schöpfungserzählung (Gen 2,24 in Eph 5,31) und das Elterngebot des Dekalogs (Ex 20,12 in Eph 6,2) integriert, und mit der Ekklesiologie, indem er die Innigkeit des rechten Verhaltens in der Ehe mit der unauflöslichen Bindung von Kirche und Christus gleichstellt (5,22–32). Die ethischen Forderungen der Haustafeln erhalten so ein besonderes Gewicht, was zu ihrer langen Wirkungsgeschichte im Christentum erheblich beigetragen hat. Diese Wirkungsgeschichte ist ohne Zweifel eine Geschichte der Unterdrückung von Frauen, Kindern und Sklaven. Von diesen wird eine christologisch legitimierte, bedingungslose Unterordnung in „allen Angelegenheiten“ (Kol 3,20.22) gefordert. Demgegenüber ist immerhin festzuhalten, dass der Epheserbrief diese absolute Forderung nicht aufnimmt. Die ethischen Mahnungen der Haustafeln sind im Imperativ der 2. Person Plural direkt an die Beteiligten („Ihr Frauen …, Ihr Kinder …, Ihr Sklaven …“) gerichtet und drücken damit Respekt und Reziprozität aus. Die höhergestellten Partner der Sozialbeziehungen werden ebenso vermahnt. Die Sklaven werden durch die Teilhabe am eschatologischen Erbe wie Freie angesprochen (Kol 3,24) bzw. Sklavenbesitzer und Sklaven unabhängig von ihrem personenrechtlichen Sta16 S. o. 186 (Zitat von Eph 4,32).
Haustafeln
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Paulustradition
tus mit der gleichen ethischen Norm konfrontiert (Eph 6,8). Diese egalitären Momente in den Haustafeln wiegen allerdings die fatalen Unterordnungsforderungen und deren Wirkungsgeschichte nicht auf. 6.2.6 Paulusbild
Biographisierung des Paulus
Die Deuteropaulinen verfestigen ein Paulusbild, in dem er als selbstloser und unermüdlicher Verkündiger erscheint. Epheser- und Kolosserbrief betonen zudem das Gefangenschaftsmotiv als zentrale Kategorie der apostolischen Existenz (Eph 3,1; 4,1; 6,20; Kol 4,3.18). Paulus wird als märtyrerhaft Leidender vorgestellt, der das Evangelium der gesamten Kirche authentisch verkündigt. Die Leiden des Paulus beseitigen den „Mangel der Bedrängnisse Christi“, werden so zum Teil des Versöhnungsgeschehens (Kol 1,24) und wirken „für euch“, d. h. für die Kirche (Eph 3,13). Die Biographie des Paulus wird auf die Darstellung eines vorbildlichen Apostels konzentriert: „Paulus hat damit für alle späteren Christen eine zugleich exemplarische und unerreichbare Stellung erlangt.“17 In den Deuteropaulinen setzt die Ausbildung eines kanonischen Paulusbildes ein. Paulus wird als jemand dargestellt, der konservative Ansichten gegenüber einer liberal oder egalitär ausgerichteten Mehrheitsmeinung vertritt. Dieses Paulusbild verfestigt sich dann in den Pastoralbriefen weiter. Paulus wird zum neo-konservativen Mahner.18 6.3 Erster und zweiter Timotheusund Titusbrief (Pastoralbriefe)
Hirtenbriefe
Die Pastoralbriefe (1/2Tim; Tit) sind fiktive Schreiben an Einzelpersonen, denen der Briefautor „Paulus“ Anweisungen und Ratschläge für die Führung des Hirtenamts, d. h. des Bischofsamts, gibt. Die drei Briefe haben so viele Übereinstimmungen, dass man sie als ein eigenes Briefcorpus behandeln kann.19 Die Praeskripte, die Motiventwicklung und die thematischen Zusammenhänge verweisen darauf, dass die Schreiben vermutlich in der Reihenfolge Tit, 1Tim und 2Tim, sicher jedenfalls mit 2Tim als Abschluss, gelesen werden sollten.20 Jeder Brief hat jedoch auch sein eigenes Profil.21 Der Titusbrief und der erste 17 18 19 20 21
Schmeller, Schulen im Neuen Testament, 199. Vgl. Labahn, Multikausale Konstruktion, 294. Theobald, Israel-Vergessenheit, 36. Theobald, Israel-Vergessenheit, 40–42. Vgl. Engelmann, Unzertrennliche Drillinge?, 598–600.
Pastoralbriefe
Timotheusbrief zeigen Paulus als freien Apostel mit umfangreichen Plänen zur Mission, der zweite Timotheusbrief gibt an, von Paulus aus der Gefangenschaft geschrieben zu sein, thematisiert Sterben und Tod des Apostels und stellt so etwas wie ein Testament des Paulus dar (4,6–8). Diese Informationen zu den Abfassungsverhältnissen sind Teil eines fiktiven Arrangements und deswegen nicht historisch zufällig, sondern theologisch bedeutsam.22 Die Pastoralbriefe knüpfen einerseits an der paulinischen Theologie an, indem sie besonders an der Vorstellung der Rechtfertigung aus Gnade festhalten (1Tim 2,5 f.; 2Tim 1,9 f.; Tit 3,4–7), verwenden aber andererseits auch neue Begriffe mit zentraler Bedeutung für ihre eigene Theologie. Hervorzuheben sind: „Lehre“ (gr. didaskalia; διδασκαλία), „Frömmigkeit“ (gr. eusebeia; εὐσέβεια), Gott und Christus als „Retter“ (gr. soter, σωτήρ) und die „Erscheinung“ (gr. epiphaneia; ἐπιφάνεια) Christi bzw. Gottes. Die Pastoralbriefe thematisieren eine zur „Lehre“ verfestigte Verkündigung. Der Begriff didaskalia begegnet bei Paulus selbst nur am Rande (Röm 12,7; 15,4). Für alle drei Pastoralbriefe ist er hingegen ein Zentralbegriff (1Tim achtmal; 2Tim dreimal; Tit viermal), an dem sich die Zugehörigkeit zur Gemeinde als Heilsgemeinschaft entscheidet. So verwundert es auch nicht, dass Paulus nur in den Pastoralbriefen ausdrücklich als „Lehrer“ bezeichnet wird (1Tim 2,7; 2Tim 1,11; vgl. 1Kor 4,21). Im Mittelpunkt des Gottesverhältnisses steht nun nicht mehr allein der Glaube (gr. pistis; πίστις), sondern auch die „Frömmigkeit“ (1Tim 2,2; 3,16; 4,7 f.; 6,3.5 f.11; 2Tim 3,5; Tit 1,1). Christus und Gott werden, abweichend von Paulus, auffällig häufig als „Retter“, die irdische Präsenz und die Wiederkunft Christi als „Epiphanie“ bezeichnet. Fragen der Gemeindeordnung werden ausführlich diskutiert, um zum einen Ämter und Funktionen genauer zu definieren und zum anderen unerwünschte Mitglieder aus der Gemeinde auszugrenzen bzw. als „Irrlehrer“ zu bekämpfen. 6.3.1 Lehre Die Lehre steht im Mittelpunkt des theologischen und ethischen Koordinatenkreuzes der Pastoralbriefe. Es gibt einerseits eine „gute“ und „gesunde Lehre“ (1Tim 1,10; 4,6.13.16; 5,17; 6,1.3; 2Tim 3,10.16; 4,3; Tit 1,9; 2,1.7.10; vgl. 2Tim 1,13), andererseits aber auch eine „andere“, „schlechte“, ja sogar eine „Lehre der Dämonen“ (1Tim 4,1). Timotheus und Titus sollen die richtige, gesunde und gute Lehre gegen allerlei ausschließlich abwertend dargestellte Lehren, Schrift22 Glaser, Paulus als Briefroman erzählt, 306–321.
die Lehre
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gesunde Lehre
Frömmigkeit
Gericht
auslegungen, Fabeln und Genealogien, die zudem von als fragwürdig charakterisierten Subjekten („Irrlehrer“) vorgebracht werden, verteidigen. Die gesunde Lehre ist eine „Wahrheit“ (gr. aletheia; ἀλήθεια), an der man festhalten und von der man sich nicht abwenden soll (1Tim 2,4; 3,15; 4,3; 6,5; 2Tim 2,15.18.25; 3,8; 4,4; Tit 1,1.14). Der Gehalt der Lehre bleibt allerdings formelhaft und ihre Darstellung in den Pastoralbriefen unterscheidet sich deutlich von der antithetischen und dialektischen Evangeliumsverkündigung des Paulus. Einige für Paulus wichtige Begriffe fehlen völlig, z. B. Gerechtigkeit Gottes, Kreuz, Offenbarung, Leib Christi. Der Begriff Glaube (gr. pistis; πίστις) wird zwar in den Pastoralbriefen häufig verwendet (33 Mal), er hat aber nicht mehr diese eigenständige Zentralfunktion wie in den unumstrittenen Paulinen mit Ausstrahlung auf Anthropologie, Soteriologie und Ekklesiologie. Vielmehr begegnet er in den Pastoralbriefen häufig in Zusammenstellungen mit Wahrheit, Liebe und Lehre und bezeichnet dort eher die richtige, feste und treue Glaubensüberzeugung im Gegensatz zur falschen Lehre. Die gute Lehre wird zudem nicht ausschließlich aus dem Christusereignis gewonnen, sondern orientiert sich an der „Frömmigkeit“ (1Tim 6,3). Diese Wortgruppe begegnet bei Paulus gar nicht. In den Pastoralbriefen hat sie hingegen eine tragende Funktion. Eusebeia meint im hellenistischen Umfeld des Neuen Testaments das angemessene Verhalten des Menschen gegenüber den Erwartungen der Götter bzw. des Kultes. In den Pastoralbriefen konzentriert sich diese Haltung auf die „Lehre“ von Gott und Christus und deren Folgen für die eigene Lebensgestaltung (Tit 2,11–14). In der Übernahme des Begriffs drückt sich eine Anpassung an die Erwartungen der Umwelt aus. Die „Frömmigkeit“ der Christusanhänger ist eine ebenso achtenswerte Form der Religionsausübung wie die der Mehrheitsgesellschaft. Dennoch bleibt die Bindung an den monotheistischen Gott und an Christus zentral und markiert einen deutlichen Unterschied dieser Form der Frömmigkeit zu den religiösen Normen der Umwelt, was nach wie vor Verfolgungen mit sich bringt (2Tim 3,12). Gleichzeitig grenzt sich diese Frömmigkeit von der äußerlichen und damit falschen Frömmigkeit derjenigen ab, die nicht der Lehre folgen (2Tim 3,5). Angesichts der nach wie vor spannungsvollen Existenz der Christusanhänger mit weiterhin bestehenden Reibungspunkten mit der Umwelt erscheinen Gott und Christus vor allem als „Retter“ oder „Erlöser“. Bei der zukünftigen Erscheinung Christi werden diejenigen, die der gesunden Lehre folgen, einem barmherzigen Gericht ausgesetzt werden (2Tim 4,1.7.18), die anderen verfallen dem „Gericht des Teufels“ (1Tim 3,6; vgl. 1,20). Die Pastoralbriefe ordnen ihre Gerichtsvorstellung der Glaubensgerechtigkeit unter, indem sie festhalten, dass
Pastoralbriefe
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die Rettung bzw. Gerechtmachung auf Gottes Erbarmen beruht und nicht aufgrund von Werken erfolgt (2Tim 1,9; Tit 3,5). Die „guten Werke“ sollen ebenfalls der „Frömmigkeit“ entsprechen (1Tim 2,10). Zahlreiche Mahnungen und Lasterkataloge (1Tim 1,9 f.; 2Tim 3,2–5; Tit 3,3) sowie Tugendkataloge (1Tim 4,12; 6,11; 2Tim 2,22; 3,10) weisen auf eine ethische Haltung hin, die weitgehend mit den Sichtweisen der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmt. Das geforderte Verhalten soll ein „gutes“ bzw. „reines Gewissen“ vermitteln (1Tim 1,5.19; 3,9; vgl. 4,2) und verhindern, dass die Gemeinde und mit ihr Gott und die „Lehre“ in Verruf geraten (1Tim 6,1). 6.3.2 Theologische und christologische Zentralaussagen Die Pastoralbriefe entfalten ihre theologischen Überzeugungen nicht argumentativ, sondern setzen ihren Gehalt als in der „Lehre“ fassbar und abgeschlossen voraus. Es ist deswegen kein Zufall, dass die wenigen theologischen Aussagen, die die Pastoralbriefe enthalten, in geformter Sprache gehalten sind und bisweilen geradezu hymnenartig erscheinen. Diese hymnen- bzw. liturgieartigen Stücke berichten von einer Grunderzählung des von Gott ausgehenden Mittlers Christus. Die Erscheinung Christi ist der Ausdruck des Erbarmens und der Gnade Gottes gegenüber den Menschen. Sie werden aufgrund des Wirkens des Mittlers nicht nach Werken, sondern aus Gnade gerettet und erlöst werden (1Tim 2,5 f.; 2Tim 1,9 f.; Tit 3,4–7). In gehobener Sprache wird von Gott ausgesagt, er existiere im Bereich eines unzugänglichen Lichtes und sei noch von niemandem gesehen worden (1Tim 6,15 f.). An anderer Stelle wird Gott ausdrücklich als der „unvergängliche, unsichtbare und einzige Gott“ gepriesen (1Tim 1,17). Diese Vorstellungen greifen Elemente der mittelplatonischen Gotteslehre auf. Diese fordert, dass der ewige und wahre Gott „unsichtbar“ sein müsse, da er nur in einer nicht-empirischen, d. h. einer den Sinnen nicht zugänglichen Existenz, der ewige Gott sein könne.23 Besondere Aufmerksamkeit verdient ein hymnisches Stück über Christus als das „Geheimnis der Frömmigkeit“: 1Tim 3,16: […] der offenbart wurde im Fleisch, gerecht gesprochen im Geist, erschienen den Engeln, verkündet bei den Völkern, vertraut in der Welt, angenommen in Herrlichkeit.
Christus, das Geheimnis, wird in der himmlischen Welt durch den Geist und die Engel in Herrlichkeit an- und wahrgenommen. Im irdi23 Plato Tim. 28a; Philo Opif. 31 u. 69.
Erscheinung Christi
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Paulustradition
Christus
Retter
schen Bereich bewirkt er durch seine Offenbarung und Verkündigung Vertrauen bzw. Glauben. Der Hymnus orientiert sich demnach an der Mittlerfunktion Christi zwischen Gott und Menschen, zwischen der himmlischen Welt und der irdischen Welt.24 Das ist die Aufgabe, die er durch seine Erscheinung zu erfüllen und zu bewirken hat. In seiner Vermittlung gibt er denen, die sich an ihn halten, Anteil an der Gnade und am Erbarmen Gottes, ohne dafür Werke in Rechnung zu stellen. Christus wird zum klarsten Ausdruck der „Menschenliebe“ Gottes (gr. philanthropia; φιλανθρωπία: Tit 3,4). Die Grundzüge der paulinischen Vorstellung von der Rechtfertigung sind demnach aufgenommen. Die umstürzende Dynamik der paulinischen Glaubensgerechtigkeit als Herrschaftswechsel und als Befreiung von der versklavenden Macht der Sünde hingegen wird nicht thematisiert. Ebenso wenig kennen die Pastoralbriefe die antithetische Gegenüberstellung von Gesetz und Glaube. Vielmehr gilt das Gesetz den Pastoralbriefen in seiner ethischen Funktion einfach als „gut“, in seinen übrigen Bedeutungen spielt es keine Rolle mehr bzw. wird von den Vertretern der falschen Lehre für ihre Zwecke verdreht (1Tim 1,7–11). Die wichtigste Bezeichnung für Gott und Christus ist „Retter“ (gr. soter; σωτήρ: 1Tim 1,1; 2,3; 4,10; 2Tim 1,10; Tit 1,3 f.; 2,10.13; 3,4.6). Durch diese identische Bezeichnung rücken Gott und Christus sehr eng zusammen.25 Gott ist „Vater“, während Jesus in den Pastoralbriefen nie Sohn Gottes, sondern „unser Herr“ oder „unser Retter“ genannt wird (1Tim 1,2; 2Tim 1,2; Tit 1,4). Die Pastoralbriefe vertreten demnach eine theozentrische Christologie, die wenig Raum für die Entfaltung einer dramatischen soteriologischen oder kreuzestheologischen Christologie lässt, wie wir sie von Paulus kennen.26 Die irdische Existenz Jesu wird ebenso wie seine Wiederkunft als „Erscheinung“ (gr. epiphaneia; ἐπιφάνεια: 1Τim 6,14; 2Tim 1,10; 4,1.8; Tit 2,13) verstanden. Die Gemeinde wird durch die „gesunde Lehre“ auf die zweite Erscheinung des Retters Christus vorbereitet, um im dann ergehenden Gericht zu bestehen (2Tim 4,1). Das Wort „Parusie“ hingegen wird nicht verwendet. An eine Erscheinung Christi zu Lebzeiten der Briefempfänger wird nicht gedacht. Die Pastoralbriefe lassen keine Naherwartung erkennen.
24 Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 190–210. 25 Stettler, Christologie, 332. 26 S. o. 163 (Kreuzestheologie des Paulus).
Pastoralbriefe
199
In den Pastoralbriefen bleibt die paulinische Theologie zwar in Grundzügen erkennbar, ihre Spitzenaussagen werden aber nicht mehr weitergeführt. Die soteriologische Handlungseinheit von Gott und Christus bewirkt souverän und undramatisch die Rechtfertigung des Menschen. Der in seiner Transzendenz gesteigerte „unsichtbare“ und ewige Gott bedient sich des gottgleichen Mittlers, der in der empirisch wahrnehmbaren und vergänglichen irdischen Welt „erscheint“ und durch seine Hingabe, die in den Pastoralbriefen niemals mit der Wortgruppe Kreuz/ kreuzigen zum Ausdruck gebracht wird, die Verkündigung der Gerechtmachung aus Gnade ermöglicht. Die wenigen theologischen Aussagen in den Pastoralbriefen zeigen deutlich, dass die biblische Überzeugung von einem in der Geschichte handelnden Gott hinter die Vorstellung des für sich seienden, ewigen und unsichtbaren Gottes zurücktritt.
6.3.3 Gemeinde, Amt und Ethik Die Pastoralbriefe erwähnen weder Jerusalem noch Caesarea oder Judäa. Vielmehr liegt der Fokus der fiktiven Raumkonstellation der Pastoralbriefe auf dem östlichen Mittelmeerraum. Als Abfassungsund Adressatenorte werden Ephesus, Makedonien, Kreta, Nikopolis und Rom genannt. Der zweite Timotheusbrief erwähnt noch Ikonium, Lystra, Thessaloniki, Troas, Korinth, Milet und die Provinzen Asien, Galatien und Dalmatien. Diese sinnbildende Raumkonfiguration spiegelt eine Konzentration auf nichtjüdische Christusanhänger und auf das Diasporajudentum wider. Theobald schließt u. a. aus diesen Raumvorstellungen auf eine Jerusalem- bzw. Israel-Vergessenheit der Pastoralbriefe und auf eine Rom-Zentrierung des Gesamtkorpus.27 Der Charakter der Briefe als Schreiben an Einzelpersonen erklärt nur teilweise, warum die Begriffe „Gemeinde“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία; 1Tim 3,5.15; 5,16) und „Auserwählte“ (gr. eklektoi; ἐκλεκτοί; 2Tim 2,10; Tit 1,1; vgl. 1Tim 5,21 für Engel) als Bezeichnung für die Gemeindemitglieder ebenso selten verwendet werden wie die Anrede mit „Brüder [und Schwestern]“ (gr. adelphoi; ἀδελφοί; 1Tim 4,6; 6,2; 2Tim 4,21 vgl. 1Tim 5,1 f.). Die direkte Anrede der Gemeinde in der 2. Person Plural, die die paulinischen Gemeindebriefe so lebendig macht, fehlt. Es ist vielmehr so, dass die Gemeinde als Personengemeinschaft in den Pastoralbriefen nur indirekt als Adressaten der von Paulus an seine Schüler und Bischöfe, Timotheus und Titus, vermittelten Lehre in den Blick kommt. 27 Theobald, Israel-Vergessenheit, 117 f.
Rom-Zentrierung
Gemeinde verständnis
200
Paulustradition
Haus Gottes
Die Gemeinde wird nie als „Leib Christi“ bezeichnet. Sie wird vielmehr vom Briefautor als „Haus Gottes“ (1Tim 3,15) verstanden, dessen Ordnung sich am antiken Oikosmodell orientiert. Dieses beruht einerseits auf dem Prinzip der Reziprozität als wechselseitige Fürsorge und Verpflichtung, wie sie in den Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefs zum Ausdruck kommt,28 und andererseits auf der patriarchalen Ordnung- und Unterordnungsvorstellung. Die Ekklesiologie der Pastoralbriefe folgt dem Modell des Hauses und beschreibt die „Ordnung des Hauses Gottes“. Diese wird nun nicht etwa direkt der Gemeinde als gute Ordnung vorgestellt, sondern den Bischöfen als eine Kirchenordnung, die sie durchzusetzen haben, kommuniziert. 1Tim 3,5: Wenn aber einer seinem eigenen Haus nicht vorzustehen vermag, wie kann er dann für die Gemeinde Gottes Sorge tragen?
vorbildliche Schüler
Gegner
Diese Ordnung ist klar hierarchisch ausgerichtet. Die verschiedenen Gemeindegruppen werden nicht mehr, wie in den Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefs, direkt auf ihre wechselseitige Verantwortung angesprochen, sondern vermittelt über den Bischof in der dritten Person angewiesen. Die Anweisungen des Paulus an Timotheus als „Schüler par excellence“ stehen paradigmatisch für Regeln der Gemeindeleitung.29 Wie sich Männer, Frauen, Bischöfe, Diakone, Witwen, Älteste und Sklaven verhalten sollen, wird nicht mehr diskutiert, sondern angeordnet. Bei Abweichungen von dieser Ordnung erfolgt der Ausschluss aus der Gemeinde (1Tim 1,20; 5,15). Der spezifische Ort christlichen Lebens ist das „Haus“ (gr. oikos; οἶκος; 1Tim 3,4 f.12.15; 5,4), nicht der „Leib Christi“ wie bei Paulus. Von den Häusern der Gemeindeglieder sind nach Meinung der Pastoralbriefe diejenigen fern zu halten, die gegen die hierarchische Verengung und theologische Formalisierung, die die Pastoralbriefe durchsetzen wollen, opponieren. Traditionell spricht man von „Irrlehrern“. Man wird diesem Personenkreis allerdings eher gerecht, wenn man sie als Vertreter von abweichenden Ansichten versteht. Das Wirken der Gegner wird in den Pastoralbriefen als Gefährdung der „gesunden Lehre“ dargestellt (1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1). Ihre Ansichten bleiben undeutlich. Sie lehren „anderes“, berufen sich dabei auf „Lügengeschichten“, „Geschlechtsregister“, „leere Reden“ und „Lehren von Dämonen“ (1Tim 1,3 f.6; 4,1 f.7; 6,3–5; 2Tim 2,16). Sie werden, wenn auch mit verzerrenden und abwertenden 28 S. o. 193 (Ethik der Haustafeln). 29 Schmeller, Schulen im Neuen Testament?, 233.
Pastoralbriefe
Bezeichnungen, als im Umgang mit religiösen Schriften geschult dargestellt. Diese Opponenten erheben auch asketische Forderungen und lehnen die Ehe ab (1Tim 4,1–5.8). Sie verstehen sich selbst als schriftgelehrte Torainterpreten (1Tim 1,7) und Lehrer der „Erkenntnis“ (gr. gnosis; γνῶσις: 1Tim 6,20 f.), „schleichen sich in die Häuser ein“, sollen aber zurückgewiesen werden (2 Tim 3,6; vgl. 4,3). Eine genauere religionsgeschichtliche Identifikation dieser Opponenten ist angesichts des polemischen Charakters der Aussagen in den Pastoralbriefen nahezu unmöglich. Am ehesten wird man an gnostisch inspirierte judenchristliche Gruppierungen denken müssen, die aufgrund ihres überlegenen Umgangs mit der Schrift und mit anderen religiösen Traditionen eine gewisse Anziehungskraft entfaltet haben.30 In welcher Beziehung diese Irrlehrer zu Frauen stehen, die zwar lernen, aber weder lehren noch sich dem Mann überordnen dürfen (1Tim 2,11 f.), und zu den „jungen Witwen“, die ebenfalls lernen und „dem Satan folgen“, lässt sich nicht sicher entscheiden (1Tim 5,13.15; 2Tim 3,6 f.). Religiös kundige, schriftgelehrte und gebildete (Irr-)Lehrer und Frauen sind jedenfalls die Hauptgegner der Pastoralbriefe. Eine wichtige Funktion für die hierarchische Ordnung des Hauses Gottes hat das in den Pastoralbriefen ausgebildete Amtsverständnis. Es knüpft an die in der paulinischen Ämtertrias genannten Funktionen der Apostel, Propheten und Lehrer an (1Kor 12,28), lässt die Propheten allerdings fallen und beschränkt die beiden anderen Ämter auf den Paulus der Pastoralbriefe (1Tim 2,7; 2Tim 1,11). Dieser instruiert nun als „Apostel und Lehrer“ seine Schüler, Timotheus und Titus, über die Presbyterialverfassung aus Bischof, Presbyter und Diakonen. Die Amtsträger werden dadurch hervorgehoben, dass der „Geist“ (gr. pneuma; πνεῦμα) und die „Gnadengaben“ (gr. charisma; χάρισμα) vor allem auf sie wirken und nicht wie in den echten Paulinen auf alle Getauften (1Tim 4,14; 2Tim 1,6 f.14). Die Gemeinde soll durch einen „Bischof “ (gr. episkopos; ἐπίσκοπος) geleitet werden. Die Gemeinde bestimmt die Diakone. Ein Kollegium von Presbytern setzt durch Beschluss und Handauflegung den Bischof in sein Amt ein (1Tim 4,14). Nach 2Tim 1,6 hat aber Paulus dem Timotheus durch Handauflegung die „Gnadengabe Gottes“ verliehen. Die Befugnisse von Bischof und Presbyterkollegium bei der Einsetzung eines Bischofs bzw. von Presbytern durch Handauflegung konkurrieren noch etwas. Jedenfalls beruft auch der Bischof durch „Handauflegung“ zu einem Amt (1Tim 5,22).
30 Wolter, Pastoralbriefe, 256–267.
201
Frauen
Amtsverständnis
Bischof und Presbyter
202
Paulustradition
Presbyterial verfassung
Stellung der Frau
Das Konzept des Amtes setzt eine Trennung von Person und Funktion voraus, die dazu führt, dass nicht mehr Timotheus als Person etwas sagt, sondern der Bischof. Das Amt als Institution gibt dem Amtsinhaber unabhängig von seinem persönlichen Einfluss Macht. Die Pastoralbriefe wollen eine solche auf Institution und Amt beruhende Machtstruktur einrichten. Sie repräsentieren einen ekklesiologisch konservativen Flügel der Paulustradition, dem auch vehement widersprochen wird.31 Die Pastoralbriefe interessieren sich für Ämter, die unumstrittenen Paulusbriefe hingegen für konkrete Gemeindesituationen. Die Pastoralbriefe wollen den Bischof an die Spitze des Presbyterkollegiums stellen (1Tim 3,1 f.; Tit 1,7). Tatsächlich aber sind die Presbyterialverfassung und das Bischofamt noch nicht vollständig aufeinander abgeglichen. Von allen Amtsträgern wird erwartet, dass sie als Familienoberhäupter ein unanstößiges Leben führen und ihre Frauen kontrollieren (1Tim 2,12; 3,2.11 f.). Möglicherweise fungieren auch Frauen als Diakone (1Tim 3,11), vielleicht auch als Presbyter (5,1 f.17; Tit 2,3). Die Pastoralbriefe selbst machen jedoch deutlich, dass sie Frauen von den Machtstrukturen der Gemeinde als hierarchisch und patriarchal geordnetes „Haus Gottes“ fernhalten wollen. Die in den Pastoralbriefen geschilderten Konflikte um Frauen verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie die Weichen für jahrhundertelange Diskriminierungen von Frauen im Christentum stellen (1Tim 2,9–15; 3,11 f., 5,3–16; 2Tim 3,6 f.; Tit 2,3–5). Wie im Fall der Opponenten ist es angesichts der polemischen Verzerrungen nicht leicht ein klares Bild zu gewinnen. Deutlich ist jedenfalls, dass die Pastoralbriefe gegen eine Situation polemisieren, in der Frauen selbstbestimmt und machtbewusst auftreten. Diesen Frauen bieten die Pastoralbriefe nur Gehorsam, Unterordnung und Verzicht. Frauen wird verboten, Schmuck zu tragen (1Tim 2,9 f.), Männer zu belehren (2,12), ein ausschweifendes Leben zu führen (5,6) und bereits als junge, heiratsfähige Frauen in den Stand der „Witwen“ einzutreten (5,11). Andauernde Unangepasstheit soll zum Ausschluss oder zur Abwendung von der Gemeinde führen (1Tim 5,8.11.15).
31 Merz, Fiktive Selbstauslegung, 386 f.
Pastoralbriefe
Die zahlreichen Anweisungen zur Unterdrückung der Frauen weisen im Umkehrschluss darauf hin, dass Frauen erheblichen Einfluss hatten und sich frei von den patriarchalen Vorstellungen der Pastoralbriefe verhielten. Insbesondere zeigten sie kein Interesse an Kindern und an der Ehe (1Tim 2,15; 5,14). Sie definierten sich nicht über die Sozialbeziehung zu einem Mann (Ehemann, Vater, Bruder, Vormund) und zogen somit die Polemik der Pastoralbriefe auf sich. Der theologische Tiefpunkt dieser frauenfeindlichen Polemik ist die Behauptung, dass Eva Adam zur Sünde verführt hätte und deswegen alle Frauen sich durch das Kindergebären retten müssten.
203
Polemik gegen Frauen
1Tim 2,13–15: Denn Adam wurde zuerst gebildet, dann Eva. (14) Adam wurde nicht verführt, sondern Eva war es, die zur Übertretung verführt worden war. (15) (Die Frau) wird aber durch das Kindergebären gerettet werden, wenn sie im Glauben, in der Liebe und Heiligung mit Besonnenheit verharrt.
Die Ethik der Pastoralbriefe reflektiert das richtige Verhalten nicht im Horizont des Kreuzesgeschehens oder mit dem Blick auf das Reich Gottes, sondern mit dem Wunsch, ein ruhiges und beschauliches Leben in dieser Welt führen zu können. Deswegen soll die Gemeinde für die weltlichen Machthaber beten (1Tim 2,2; Tit 3,1 f.). Die christliche Existenz orientiert sich an einer „Frömmigkeit“, die nicht in ihrer Begründung, aber doch in ihren praktischen Formen mit den Erwartungen der Umwelt übereinstimmt: Auch und gerade christliche Sklaven sollen ihren Besitzern gehorchen (1Tim 6,1 f.; Tit 2,9 f.), Frauen sich unterordnen, wie überhaupt alles in guter Ordnung und gutem Gewissen zu geschehen habe (1Tim 1,5.19; 3,9; vgl. 4,2). Die sozialen Beziehungen sollen sich an den in Tugend- und Lasterkatalogen entfalteten Verhaltenstabus und altruistischen Werten orientieren, unter denen die Liebe hervorgehoben wird (1Tim 6,4 f.11; 2Tim 2,22 f.; 3,10 f.). Die Verhaltensanweisungen orientieren sich an den antiken Idealen konservativ-patriarchaler Prägung. Die Pastoralbriefe betonen, dass das Erbarmen Gottes nicht an die Werke gebunden ist (2Tim 1,9; Tit 3,5), sondern allein aus Erbarmen gewährt wird (Tit 3,7). Christus ist gekommen, um Sünder zu retten (1Tim 1,15). Der Gerichtsgedanke bleibt zurückhaltend und wird kaum paränetisch eingesetzt (2Tim 4,1). Die Vorstellungen von einem allgemeinen Endgericht und von der individuellen Vergeltung direkt nach dem Tod stehen nebeneinander (2Tim 4,1.8). Zumindest in Hinsicht auf die Rechtfertigung des Menschen aus Gnade durch den barmherzigen Gott halten die Pastoralbriefe an einer wichtigen theologischen Einsicht des Paulus fest.
Ethik der Ordnung
204
Paulustradition
Die Pastoralbriefe verstehen Kirche nach dem Vorbild der antiken Hausgemeinschaft (Oikos), die als autarke und patriarchal geordnete Lebens- und Verfügungsgemeinschaft einem Hausvater unterstellt ist. Dieses Kirchenverständnis ist noch längst nicht verwirklicht und muss noch durchgesetzt werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei ethische Konzeptionen, die die Unterordnung gemeindlicher Personengruppen unter die Amtsträger legitimieren sollen. Diese Unterordnung dient aber nicht in erster Linie der besseren Organisation des gemeindlichen Lebens oder der Verkündigung, sondern orientiert sich vor allem an den Erwartungen, die die nichtchristliche Umwelt an das Verhalten von Kindern, Frauen und Sklaven hat. Insofern ist die Ethik der Pastoralbriefe nicht in erster Linie theologisch motiviert, sondern stellt eine Anpassungsleistung an die nichtchristliche Umwelt dar.
Literatur Bieberstein, Klaus/Bormann, Lukas: Art. Gnade, in: Frank Crüsemann (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 220–223. Bormann, Lukas: Biographie und Rhetorik. Das Paulusbild der Deuteropaulinen, in: Jens Schröter/Simon Butticaz/Andreas Dettwiler (Hg.), Paulusrezeptionen im frühen Christentum – Receptions of Paul in Early Christ� ianity, Berlin 2018 (BZNW 240). Ders.: Der Brief des Paulus an die Kolosser, Leipzig 2012 (THKNT 10/1). Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009. Engelmann, Michaela: Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe, Berlin 2012 (BZNW 192). Frey, Jörg: Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus, Leipzig 2015 (THKNT 15,2). Glaser, Timo: Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen, Göttingen 2009 (NTOA/StUNT 76). Kooten, George H. van: Cosmic Christology in Paul and the Pauline School. Colossians and Ephesians in the Context of Graeco-Roman Cosmology with a New Synopsis of the Greek Texts, Tübingen 2003 (WUNT 2/171). Labahn, Michael: Die multikausale Konstruktion neo-konservativer Frauenrollen durch den „Paulus der Pastoralbriefe“, in: Manfred Lang (Hg.): Paulus und Paulusbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation. Leipzig 2013 (ABIG 31), 277–318. Luz, Ulrich: Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsausagen der Paulustradition, in: Magdalene L. Frettlöh (Hg.), Gott wahrnehmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 257–275.
Literatur
Marguerat, Daniel, Paul après Paul. Une histoire de réception, in: NTS 54 (2008), 317–337. Merz, Annette: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe, Göttingen 2004 (NTO/ StUNT 52). Metzger, Paul: Katechon. II Thess 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens, Berlin 2005 (BZNW 135). Roloff, Jürgen: Der erste Brief an Timotheus, Neukirchen 1988 (EKK 15). Sellin, Gerhard: Der Brief an die Epheser, Göttingen 2008 (KEK 8). Schmeller, Thomas: Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit, Freiburg 2001 (HBS 30). Stettler, Hanna: Die Christologie der Pastoralbriefe, Tübingen, 1998 (WUNT 2/ 105). Stock, Brian: The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983. Theobald, Michael: Israel-Vergessenheit in den Pastoralbriefen. Ein neuer Vorschlag zu ihrer historisch-theologischen Verortung im 2. Jahrhundert n. Chr. unter besonderer Berücksichtigung der Ignatiusbriefe, Stuttgart 2016 (SBS 229). Wilson, Robert McL., A Critical and Exegetical Commentary on Colossians and Philemon, London/New York 2005 (ICC). Wolter, Michael: Die Pastoralbriefe als Paulustradition, Göttingen 1988 (FRLANT 146).
205
207
7 Logienquelle
Abb. 7: Subscriptio des Thomasevangeliums, Nag Hammadi Codex II,2 (fol. 32) mit den Worten: koptisch peuaggelion pkata Thomas; „Das Evangelium des Thomas“.
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Logienquelle
7.1 Einführung Die oben abgebildete Subscriptio enthält den Titel einer Schrift, die zwar bereits fragmentarisch auf Griechisch bekannt war, aber erst nach den Textfunden in Nag Hammadi 1945 vollständig in einer koptischen Fassung vorlag: das apokryphe Thomasevangelium. Es leitet seine Sammlung von Jesuslogien mit den Worten ein: pOxy 654.1–5: Dies sind die verborgenen Worte (gr. logoi; λόγοι; kopt.: ϣαϫε), die der lebendige Jesus sprach.
Spruchsammlungen
Theologie der Logienquelle
Das Thomasevangelium beruht überwiegend auf der synoptischen Jesustradition und hat viele der von ihm überlieferten Jesusworte aus ihren jeweiligen narrativen Zusammenhängen isoliert. Es ist demnach kaum eine Sammlung besonders ursprünglicher Jesusüberlieferung, sondern eine sekundäre Bildung. Dennoch belegt es, dass die Zusammenstellung von Jesusworten zu Spruchsammlungen eine mögliche Form der Jesusüberlieferung darstellte. Eine solche Spruchsammlung, die zudem gewisse narrative Züge umfasste, war aller Wahrscheinlichkeit nach die Logienquelle, die auch als Spruchquelle oder einfach mit „Q“ für Quelle bezeichnet wird. Die neueren Theologien des Neuen Testaments behandeln ganz selbstverständlich die Logienquelle als eigenständigen Repräsentanten neutestamentlicher Theologie.1 Unter historisch-philologischen Gesichtspunkten erscheint das insofern plausibel, als die Forschung zur Logienquelle inzwischen die literarische und theologische Gesamtkonzeption näher beleuchtet hat und eine Theologie der Logienquelle rekonstruiert werden kann. Dennoch ist zu beachten, dass die Logienquelle ausschließlich durch ihre Rezeption in den synoptischen Evangelien und nicht als eigenständige Schrift überliefert wurde. Mit diesem literarischen und historischen Sachverhalt ist auch ein theologisches Urteil verbunden: Das frühe Christentum sah seine theologischen Überzeugungen in der Logienquelle nicht angemessen zum Ausdruck gebracht. Womöglich lag diese Ablehnung an den auffälligen Sachverhalten, dass die Logienquelle im Gegensatz zu fast allen neutestamentlichen Schriften Jesus niemals als den Christus, d. h. als Messias, bezeichnet und sowohl Passion als auch Auferstehung unerwähnt lässt.2 1 Schnelle, Theologie, 349–368; Wilckens, Theologie 1/4, 1–18; vgl. Dunn, New Testament Theology, 6. 2 Die Bezeichnung „Christus“ fehlt sonst nur noch in der kürzesten neutestamentlichen Schrift, dem dritten Johannesbrief.
Einführung
Bevor die Theologie der Logienquelle näher erörtert wird, soll die historische Problematik dieser hypothetischen Schrift kurz behandelt werden. Trotz einer florierenden Forschung zur Logienquelle, die deren Existenz als geradezu selbstverständlich voraussetzt, wird diese nach wie vor auch infrage gestellt.3 Die Logienquelle ist keine neutestamentliche Schrift. Vielmehr sind unter diesem Titel Texte der ältesten Jesusüberlieferung zusammengefasst, deren Kernbestand aus den Übereinstimmungen zwischen dem Matthäus- und dem Lukasevangelium an den Stellen rekonstruiert wird, an denen beide Evangelien vom Markusevangelium unabhängig sind (sog. Nicht-Markus-Stoff). Zu den wichtigen Inhalten von Q gehören die Verkündigung des Täufers und die Redekompositionen über die Feindesliebe, über die Aussendung der Jünger, über das Sorgen und über den Tag des Menschensohns. Die Forschung zur Logienquelle war nicht zuletzt durch das altkirchliche Zeugnis des Papias von Hierapolis (ca. 60–120 n. Chr.) angeregt, der selbst ein verschollenes Werk über die „Auslegung der Herrenworte“ (Worte Jesu) abgefasst hatte. Papias berichtet zudem von Jesu „Reden“ (gr. logia; λόγια), die auf Hebräisch überliefert und von Matthäus zusammengestellt worden seien. Er, Papias, habe vom Presbyter erfahren: Eusebius Hist. Eccl. 3,39,16: Matthäus nun hat in hebräischer Sprache (gr. Hebraidi dialekto;῾Εβραΐδι διαλέκτῳ) die Reden zusammengestellt; jeder übersetzte aber dieselben, wie er konnte.
Auch wenn die Logienquelle nicht mit den von Papias genannten Texten identifiziert werden kann, liegt jedoch mit diesem Hinweis ein externer Beleg für die Existenz von Sammlungen der Worte Jesu vor. Schließlich spricht auch die Zusammenstellung der Jesuslogien im Thomasevangelium dafür, dass es solche Formen der Jesusüberlieferung gab. Diese Quellenbelege erzeugen allerdings nur eine gewisse Plausibilität für die Existenz der Logienquelle. Angesichts der komplizierten Überlieferungsgeschichte des Textes der synoptischen Evangelien und der sich aus dem Textbefund ergebenden Wechselbeziehungen zwischen ihnen lässt sich ein von den synoptischen Evangelien unabhängiger Text, der den Namen Logienquelle zu Recht trägt, nur wahrscheinlich machen, nicht aber definitiv beweisen. So fehlt es denn auch nicht an zahlreichen konkurrierenden Hypothesen zu den Textbeziehungen im synoptischen 3 Hengel, Vier Evangelien, 350–353; Watson, Gospel Writing, 117–155; Wright, Ursprünge des Christentums 2, 75 f.
Hypothese
209
210
Logienquelle synoptisches Problem
Redaktion von Q
Material. Einige von ihnen bestreiten rundweg die Existenz einer Logienquelle und erklären den Textbefund durch eine Benutzungshypothese. Allerdings fallen die Lösungen verschieden aus, Goodacre und Watson etwa rechnen mit der gleichzeitigen und kreativ-interpretierenden Benutzung des Matthäus- und Markusevangeliums durch den Verfasser des Lukasevangeliums. Hengel vermutet umgekehrt, Matthäus hätte Markus benutzt und gelegentlich auf das Lukasevangelium zurückgegriffen.4 Die genannten Gesichtspunkte sollten immer im Sinn sein, wenn man der Hauptlinie der internationalen Forschung folgt und die Existenz der Logienquelle für wahrscheinlich hält. Die vertiefte Forschung zur Logienquelle hat über die bloße Existenz hinaus auch weitgehende Hypothesen zu verschiedenen Schichten und Redaktionen der Schrift, zu ihrer Entstehung und zu ihrer Trägergruppe hervorgebracht.5 Bei der vertieften Interpretation des rekonstruierten Q-Textes wird häufig zwischen einer weisheitlichen Schicht, einer prophetisch-apokalyptischen Schicht und einer Israel-kritischen Redaktion unterschieden. Das wird weiter unten noch näher erläutert werden. In diesen Fragen kann aber angesichts des hoch hypothetischen Charakters kaum Einigkeit erzielt werden. Die verschiedenen Schichten bleiben deswegen bei der Analyse der Theologie der Logienquelle eher im Hintergrund. Die rekonstruierte Endfassung der Logienquelle vereinigt die genannten unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Traditionen, sodass sie gleichermaßen zu berücksichtigen sind.6
Die Logienquelle ist eine hypothetisch rekonstruierte Schrift, die Gott, Welt und Mensch in einer reflektierten Weise zueinander in Beziehung setzt und deswegen in einer Theologie des Neuen Testaments berücksichtig werden muss.
7.2 Inhalt und Aufbau der Logienquelle Die Logienquelle ist nicht einfach eine Sammlung von Jesusworten, sondern vielmehr eine bewusste Komposition, die sowohl eine thematische Entwicklung erkennen lässt als auch narrative Elemente ent4 Goodacre, Case against Q, 15; Hengel, Vier Evangelien, 350 f.; Watson, Gospel Writing, 118; vgl. die kritische Bewertung der genannten Hypothesen bei Lindemann, Neuere Literatur, 225–239. 5 Vgl. Dunn, Jesus Remembered, 147–160. 6 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 88 f.
Inhalt und Aufbau
hält. Die narrativen Züge bestehen oftmals aus einleitenden Sätzen, die eine Gesprächsszene entstehen lassen, wie Q 3,7: „Er (Johannes) sagte zu der Volksmenge, die kam, um sich taufen zu lassen“ oder Q 6,20: „Und er richtete seine Augen auf seine Jünger und sprach“. Es gibt aber darüber hinaus ganze Erzählpassagen, wie die Versuchungsgeschichte (Q 4,1–13) oder die Erzählung von der Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapernaum (Q 7,1–9). Zieht man diese narrativen Aussagen zusammen, entsteht durchaus eine gewisse Erzählstruktur, die aus szenischen Abfolgen besteht. Einige neuere Arbeiten zur Logienquelle legen ihrer Interpretation von Q eine rekonstruierte „Q-Narration“ zugrunde, die sie als eine „schlüssige Erzählung von Jesus und seinem Wirken für seine Nachfolge“ beurteilen.7 Angesichts der Fragmentarität des rekonstruierten Textes lassen sich die narrativen Elemente aber nur begrenzt auswerten, da wichtige Details wie Zeit- und Ortsangaben sowie Kommunikationspartner unsicher bleiben. An die Rekonstruktion der Narration sollte auch die kritische Rückfrage gestellt werden, in welchem Maße die Kenntnis der späteren Evangelientradition auf die Rekonstruktion einer vermeintlich schlüssigen Q-Narration einwirkt. Es ist demnach methodisch angemessener, die Q-Narration nicht nach modernen neuzeitlichen narratologischen Konzepten, sondern vor dem Hintergrund jüdischer Geschichtsdeutungen und Erzählstrategien zu interpretieren, wie es im Folgenden durchgeführt werden wird. Zunächst sollen der Inhalt und der Aufbau der Logienquelle vergegenwärtigt werden. Hoffmann/Heil ordnen die Logienquelle in sieben größere thematische Abschnitte und geben diesen inhaltsbezogene Überschriften, die im Folgenden weitgehend übernommen werden.8 Nur für 5, „Die Krisis Israels“ (13,24–14,23), wird die alternative Überschrift „Entscheidung“ gewählt, da die Begriffe „Israel“ (7,9; 22,30) und „Krisis“ (10,14; 11,31 f.42) zwar mehrfach in Q, nicht aber in diesem Abschnitt vorkommen. 1. Johannes der Täufer und Jesus (3,2–7,35) 2. Die Boten des Menschensohns (9,57–11,13) 3. Jesus im Konflikt mit „dieser Generation“ (11,14–52) 4. Die Jünger in Erwartung des Menschensohns (12,2–13,21) 5. Die Entscheidung (13,24–14,23) 6. Die Jünger in der Nachfolge Jesu (14,26–17,21) 7. Das bevorstehende Ende (17,23–22,30)
7 Bork, Raumsemantik, 314 f.; ähnlich Labahn, Gekommene, 117–119. 8 Hoffmann/Heil, Spruchquelle Q, 14 f.
narrative Züge
Gliederung
211
212
Logienquelle
Es ist zu erkennen, dass die Logienquelle in Übereinstimmung mit der gesamten kanonischen Evangelienüberlieferung mit dem Täufer einsetzt, vermutlich auch die Taufe Jesu berichtet. Dann folgen die Versuchungsgeschichte und die Rede über die Feindesliebe als Grundsatzrede Jesu an seine Jünger, nach der wiederum von der Heilung in Kapernaum als dem die Verkündigung begleitenden machtvollen Wunder berichtet wird. Dieser Eingangsteil (Q 3,2–7,35) hat auch die Aufgabe, Jesus als einen Lehrer und Wundertäter, der vom Täufer bestätigt wird und diesen zugleich überragt, darzustellen. Kirk sieht diese Stoffe in einer chiastischen Struktur geordnet:9 A (3,7–9.16–17.21–22): Der Täufer und Jesus, Jesus ist der „Kommende“ B (4,1–11): Versuchung Jesu, Legitimation des Weisheitslehrers als Schriftgelehrter C (6,20–49): Die Antrittspredigt Jesu, die Lehre an seine Jünger B‘ (7,1–10): Heilung, Legitimation Jesu durch die Unterordnung des Höhergestellten A‘ (7,18–23.24–28.31–35): Der Täufer und Jesus: Vergleich zwischen Jesus und dem Täufer Redekomposition
Nachfolge
Die zentrale Aussage ist C, die Lehre Jesu, die eine unkonventionelle Ethik, gruppiert um die zentrale Forderung der Feindesliebe (Q 6,27), vertritt. Die Lehre Jesu wird durch variierende Sequenzen A und A' über das Verhältnis des Täufers zu Jesus und B und B' zur Legitimation Jesu gerahmt. Die Eröffnungssequenz stellt Jesus als Lehrer und seine Lehre als eine Ethik des liebevollen Verzichts auf Vergeltung, Gewalt sowie Besitz- und Rechtsansprüche dar. Am Ende dieser positiven, auf Jesus als herausragende Figur ausgerichteten Eröffnung verdunkelt sich der Erzählbogen deutlich, wenn zum ersten Mal „diese Generation“ erwähnt und mit Kindern, die sich dem Spiel verweigern, verglichen wird (Q 7,31 f.). Diejenigen aber, die der Lehre Jesu folgen, werden abschließend als Kinder der Weisheit hervorgehoben (Q 7,35). Die zweite thematische Sequenz wendet sich nun folgerichtig der Nachfolgegemeinschaft, den Boten des Menschensohns, zu (9,57–11,13). Die Texte, die hier zusammengestellt sind, können als Missionsinstruktion verstanden werden. Sie behandeln die radikale Nachfolgeforderung (9,57–60), Verhaltensanweisungen für die Missionare der Königsherrschaft (10,5–12) und die Zusicherung der Fürsorge Gottes (11,13). Es werden aber auch in diesem Abschnitt Erfahrungen von Zurückweisung und Ablehnung thematisiert (10,10–12). 9 Kirk, Composition, 365 f.
Inhalt und Aufbau
Die dritte Sequenz wendet sich ausführlich dem großen Thema der Logienquelle zu: Die Zurückweisung von Jesu Verkündigung durch „diese Generation“ (7,31; 11,29–32; 11,50). Dieses Motiv rahmt die Weherufe gegen Schriftgelehrte und Pharisäer, in denen die Inhalte des Konflikts weiter konkretisiert werden (11,39–48): Pharisäer und Schriftgelehrte stellen sich der Botschaft Jesu entgegen und verhindern die Ausbreitung der Königsherrschaft Gottes, indem sie den Zugang zu ihr durch ihre falsche Lehre „verschließen“ (11,52). Angesichts dieser Konfliktlage bestärkt die vierte Textsequenz das Vertrauen der Jünger in die Lehre Jesu. Das, was jetzt verhüllt (12,2 f.) bzw. unscheinbar wie ein Senfkorn oder eine kleine Menge Sauerteig ist, wird unaufhaltsam große Wirkung zeigen und die Königsherrschaft Gottes hervorbringen (13,18–21). Deswegen können die Jünger auf das Sich-Sorgen verzichten (12,22–31). Als Teil der Erwartung der kommenden Königsherrschaft Gottes wird nun die Figur des endzeitlichen Menschensohns eingeführt (12,8–10), dessen Kommen so unberechenbar wie das eines Diebes in der Nacht ist (12,39 f.). Hoffmann/Heil geben dem fünften Abschnitt die Überschrift „Die Krisis in Israel“. Da das Wort „Israel“ dort nicht fällt, verwundert diese Überschrift. Die hier zusammengestellten Texte befassen sich mit den unausweichlichen Folgen, die sich aus der Zurückweisung der Verkündigung Jesu ergeben. Die pauschale Anrede derjenigen, die die Botschaft Jesu zurückweisen, in der 2. Pers. Pl. erlaubt es nicht, diese als Israel im Sinne des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit zu verstehen. Gerade das abschließende Gleichnis vom Gastmahl unterstreicht hingegen, dass trotz aller Ablehnung die Einladung letztlich angenommen und das „Haus voll“ werden wird (14,23). Es geht demnach darum, die Notwendigkeit der „Entscheidung“ gegenüber der Einladung hervorzuheben. Deswegen ist hier als Überschrift dieser Begriff gewählt. Diejenigen, die sich für die Nachfolge entschieden haben, rücken im sechsten Abschnitt wieder in den Mittelpunkt. Die radikale Nachfolgeforderung wird konkretisiert als Abwendung von der Familie (14,26) und vom „Mammon“ (16,13). Zudem sollen diejenigen, die in die Nachfolge treten, das Gesetz beachten und keinen Ehebruch begehen (16,17 f.). Sie machen die Erfahrung, dass die Königsherrschaft bereits mitten unter ihnen ist (17,20). Der Schlussabschnitt knüpft wieder an die Gerichtspredigt des Täufers an und verbindet die Gerichtserwartung mit dem endzeitlichen Auftreten des eschatologischen Menschensohns an seinem „Tag“. Dieser Tag wird unübersehbar wie die Helligkeit des Blitzes sein (17,24). Ein besonderes Augenmerk wird auf die Jünger im Gericht gelegt. Das zeigt das Gleichnis von dem anvertrauten Geld. An dessen Ende wird festgehalten, dass derjenige Sklave, der das anvertraute Geld vergraben
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Konflikte
Entscheidung
Familie
Tag des Menschensohns
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Logienquelle
hat, um es sicher zu verwahren, auch dieses verlieren wird (19,12–26). Wer von den Jüngern die anvertraute Botschaft nur bewahrt, nicht aber verbreitet hat, wird im Gericht nicht bestehen. Das wichtige, leider nicht ganz sicher zu rekonstruierende Schlusslogion bildet dann den Höhepunkt der Schrift: Q 22,28.30: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, ihr werdet auf Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu richten.
Wiederherstellung Israels
Die Logienquelle knüpft an der Hoffnung auf die Zusammenführung der zwölf Stämme Israels in der Endzeit an. Das Gericht hat demnach auch eine positive Bedeutung. Es dient der Wiederherstellung Israels in seiner ganzen Fülle der zwölf Stämme. Die Jünger werden dann die zwölf Throne als Richterstühle einnehmen, um Gericht zu halten. Die Zwölfzahl ist aus der Zahl der Stämme Israels abgeleitet, nicht aber aus einem der Logienquelle unbekannten Zwölferkreis der Jünger (Mk 3,14; Apg 1,26; 6,2; 1Kor 15,5). Die Nachfolge wird mit einer herausgehobenen Funktion im endzeitlichen Geschehen belohnt. Die narrative Gestaltung und die thematische Ordnung der Logienquelle sind somit stark von einer Gerichtsvorstellung geprägt.
Die thematische Konzeption der hypothetisch rekonstruierten Logienquelle wählt als ihren Ausgangs- und Zielpunkt die Ankündigung des endzeitlichen Gerichts als die Wiederherstellung Israels (3,8; 22,30). Im Rahmen dieser Konzeption wird eine Spannung zwischen der verkündigenden Nachfolgegemeinschaft („Kinder der Weisheit“) und der Mehrheit der Adressaten ihrer Botschaft („diese Generation“) aufgebaut. Das zentrale Ereignis in diesem Spannungsbogen ist der „Tag des Menschensohns“. Dieser wird in ein Gerichtsgeschehen münden, an dem die Nachfolgenden als Richter über das wiederhergestellte Israel richten werden.
7.3 Gottesbild Der zuvor geschilderte zentrale Spannungsbogen kommt weitgehend ohne die Erwähnung Gottes aus. Die Aussagen zum Gericht sind entweder unpersönlich gehalten (Q 3,9: „die Axt ist schon angelegt“) oder stellen den Menschensohn und die Jünger in den Mittelpunkt (12,8 f.; 22,28.30). Die Rahmenkonzeption der Logienquelle belässt Gott im Hintergrund und vermittelt somit eine gesteigerte Transzendenz Gottes gegenüber dem aktuellen Geschehen in der Welt.
Gottesbild
Diese gesteigerte Transzendenz Gottes bringt es mit sich, dass Mittlerfiguren wie z. B. Engel, Dämonen und der Geist wichtiger werden, um die Beziehung zwischen Gott und den Seinen aufrechtzuerhalten. In der Logienquelle werden die genannten Mittlerwesen tatsächlich ausführlich thematisiert, etwa in der Kontroverse um das Reich der Dämonen (11,14–20), im Zeugnis des Menschensohns „vor den Engeln“ (12,8 f.) oder im Wort über die „Sünde wider den heiligen Geist“ (12,10). Diese Worte transportieren wohl vor allem religionsgeschichtliche Vorstellungen, die die Logienquelle mit der älteren Jesusüberlieferung und der Verkündigung Jesu teilte. Eigene Akzente setzt die Logienquelle aber durch ihren Umgang mit den Aussagen der Jesusüberlieferung zur „Weisheit“ (gr. sophia; σοφία) und zum kommenden „Menschensohn“.10 Die Weisheit gilt als weibliche Personifikation, die die durch Gott der Schöpfung zugrunde gelegte gute Ordnung repräsentiert. In Spr 8,22 wird die mythische Vorstellung der präexistenten Schöpfungsmittlerin Weisheit formuliert. Die Weisheitstraditionen in Jesus Sirach und der Weisheit Salomos entwickeln die Vorstellung von der den Menschen lehrend zugewandten und zugleich von Gott begünstigten Weisheit weiter. Die Logienquelle greift nun zusätzlich die Vorstellung auf, dass es eine besondere Gruppe von Menschen gibt, die sich um die Weisheit scharen: Die „Kinder“ der Weisheit (7,35) und die von der Weisheit ausgesendeten „Propheten“ (11,49). Auch Jesus ist ein Repräsentant dieser Weisheit. So wie die „Königin des Südens“ (d. i. Äthiopien) eine weite Reise antrat, um die Weisheit Salomos zu sehen, so sollten nun alle zu Jesus strömen, denn „siehe, hier ist mehr als Salomo“ (11,31). Diese Vorstellungen sind in der Logienquelle nun aber ganz eingebunden in das übergreifende Thema des Gerichts über „diese Generation“. Eine Forschungsrichtung zur Logienquelle knüpft an der besonderen Stellung der Weisheit in dieser Schrift an. Sie unterscheidet eine ältere weisheitliche Grundschicht Q1 aus Mahnreden mit rhetorisch- argumentativem Charakter von einer redaktionellen Schicht Q2, die die Gerichtsvorstellung, den Tag des Menschensohns und eine bestimmte Geschichtstheologie in den Gesamttext integriert.11 Des Weiteren werden eine Redaktion von Q2 als Q2R und eine biographisierende Schicht Q3, die die Erzähltexte über die Versuchung Jesu und den Hauptmann von Kapernaum ergänzt habe, rekonstruiert.12 Auf Basis der Texte der Grundschicht wird die These vertreten, Jesus sei vor allem ein gegen-
10 S. o. 109 (Menschensohnvorstellung). 11 Kloppenborg, Excavating Q, 145 f. 12 Kloppenborg, Synoptic Problems, 315–321.
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Transzendenz Gottes
Weisheit
Weisheitslehrer
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Logienquelle
Geschichtstheologie
Schicksal der Propheten
wartsbezogener Weisheitslehrer gewesen.13 Diese Schichtenanalyse beruht auf Kriterien, die nachvollziehbar sind, aber angesichts des ohnehin hypothetischen Charakters des Wortbestandes von Q auf unsicherem Grund stehen und deswegen umstritten bleiben müssen.14 Für eine Theologie der Logienquelle sind die genannten Mittlerfiguren für sich weniger wichtig, als die wirkmächtige übergreifende geschichtstheologische Konzeption, in die sie eingebunden sind. Nach dieser Konzeption vollzieht sich das Verhältnis von Gott und seinem Volk als zyklische Abfolge von Rettung und Strafe durch Gott auf der einen Seite und von Gehorsam und Übertretung durch das Volk Gottes auf der anderen.15 In seiner besonderen Fassung der deuteronomistischen Geschichtstheologie wird das geschichtliche Ergehen Israels als Folge göttlicher Fürsorge, Geduld oder eben auch Strafe verstanden. Die Fremdvölker werden ebenso zu Werkzeugen der durch Gott dominierten Geschichte wie die von Gott zur Läuterung und zur Gerichtsankündigung gesandten Propheten und Gottesmänner. Die deuteronomistische Geschichtstheologie der Königsbücher nennt als wichtigste Schuldursache Israels die Verletzung des Gebots der Monolatrie, d. h. den Götzendienst (2Kön 17,7–12). Das Jeremiabuch hingegen verweist auf Verstöße gegen soziale Forderungen, wie den Schutz der Witwen und Waisen, und gegen das Recht, indem „unschuldiges Blut“ vergossen wird, als Ursachen für das geschichtlich vermittelte Strafhandeln Gottes (Jer 2,34; 7,5–7). Sowohl die Deuteronomisten der Königsbücher als auch des Jeremiabuches kennen das Motiv, nach dem Gott Propheten zur Läuterung des Volkes sendet (2Kön17,13; Jer 7,25; 25,4). Besonders im Jeremiabuch wird überliefert, dass diese wahren Propheten Gottes verfolgt, verurteilt und getötet werden (Jer 26,8–11). Diese Vorstellung wurde durch das chronistische Geschichtswerk noch vertieft und entwickelte sich zu einem Bestandteil der Geschichtstheologie des Judentums des Zweiten Tempels. Der älteste Beleg dafür, dass in dieses zyklische Geschehen zwischen Gott und Israel auch das Motiv des gewaltsamen Geschicks der Propheten integriert wurde, findet sich im geschichtlichen Rückblick des Bußgebets aus Nehemia 9,6–37. Neh 9,26 (Übers. Schunck): Aber sie (die Israeliten) benahmen sich widerspenstig und lehnten sich auf gegen dich und kehrten deinem Gesetz den Rücken. Und sie töteten deine Propheten, die sie ermahnten, um sie zu dir zurückzuführen. 13 Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer, 426–430. 14 Joseph, Jesus, Q, and the Dead Sea Scrolls, 64–70. 15 S. o. 57 (Geschichtskonzeptionen).
Gottesbild
Auffällig ist, dass die Tötungen von Propheten nur aus der Königszeit überliefert sind. Die Behauptung eines sich immer wiederholenden gewaltsamen Geschicks der Propheten hat hingegen keine historische Basis. Die Hervorhebung des Prophetenschicksals als Teil der zyklischen biblischen Geschichtstheologie ist vielmehr das Ergebnis eines theologischen Interesses, das den Ungehorsam des Gottesvolkes rhetorisch zu einer aktiven Gewalthandlung gegen die Boten Gottes steigert, um durch den Verweis auf das drohende Straf- oder gar Vernichtungsgericht den Aufruf zu Umkehr und Rettung Israels zu unterstreichen.16 Die theologische Leistung der Logienquelle ist es nun, diese einflussreiche theologische Grundkonzeption für die Ereignisse um die Verkündigung der Königsherrschaft Gottes durch Jesus in Anspruch zu nehmen. Der Täufer und Jesus, dann aber auch die Nachfolgegemeinschaft selbst werden von Gott gesendet, zurückgewiesen, verfolgt und getötet. Es werden zwar weder der Tod des Täufers noch der Tod Jesu ausdrücklich erzählt, aber der Tod steht in der Logienquelle nicht für ein in sich heilswirkendes Geschehen wie etwa die stellvertretende Lebenshingabe im Sühnetod, sondern für die ultimative Form der Zurückweisung eines Gesandten Gottes. Der Täufer und Jesus erfahren die Zurückweisung zunächst im Vorwurf, dass sie ihre Macht Dämonen verdanken und nicht Gott (7,33; 11,15). Der Täufer wird ausdrücklich „ein Prophet, ja mehr als ein Prophet“ genannt (7,26). Der Tod Jesu ist wohl vorausgesetzt und als Schicksal eines Propheten gedeutet (6,22 f.; 11,49–51; 13,34 f.). Auch die Verfolgungen, die die Nachfolgegemeinschaft erleidet, gelten als Zurückweisung der Gesandten Gottes (6,22 f.; 10,10 f.; 12,11 f.). Der Täufer, Jesus und die auf ihn folgenden Boten der Königsherrschaft Gottes stehen im gleichen Handlungszusammenhang, der von Gott bzw. der Weisheit her in Gang gesetzt ist, denn „so erging es den Propheten“ (6,23; vgl. 10,24). Diese wurden bereits von den „Vätern dieser Generation“ getötet (11,47 f.). Auch dieses Schicksal der Propheten ist Teil der geschichtstheologischen Deutung, denn ihr Tod ist Teil des zyklischen Geschehens zwischen Israel und seinem Gott: Q 11,49–51: Deswegen sprach die Weisheit: Ich werde zu ihnen Propheten und Weise aussenden, und sie werden aus ihnen einige töten und verfolgen. (50) Es wird das Blut aller Propheten, das von der Grundlegung der Welt an vergossen wurde, von dieser Generation eingefordert werden, (51) vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der in der Mitte zwischen Altar und dem (Tempel-)haus getötet worden ist. Ja, ich sage euch, es wird von dieser Generation eingefordert werden. 16 Steck, Geschick der Propheten, 319.
Boten Gottes
Täufer
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Logienquelle
unschuldiges Blut
Gott der Geschichte
In dieser Sicht erscheint die Geschichte Israels von Anfang an als eine Abfolge von Verfehlungen Israels gegenüber Gott und seinen Gesandten. Die Liste derjenigen Gesandten Gottes, deren unschuldiges Blut vergossen worden sei, reiche von Abel, dem unschuldigen Opfer Kains, bis zu Sacharja, womit vermutlich der Priester gemeint ist, der nach 2Chr 24,20–22 im Vorhof des Tempels gesteinigt wurde. Die geschichtstheologische Aussage wird in einer polemischen Rhetorik vorgetragen, die Übertreibungen nicht scheut, wenn sie die Urgeschichte (Gen 1–11) als Teil der Unheils- und Heilsgeschichte Israels heranzieht. Der geschichtsmächtige Gott, der sich dieser Generation im Horizont seiner Schöpfermacht erneut durch seine Boten zuwendet, wird abgewiesen, was unweigerlich ein Strafhandeln im Gericht herausfordert. Gott selbst bleibt allerdings im Hintergrund. Diesem Gott der Geschichte werden in der Logienquelle aber auch die Attribute des fürsorglichen Schöpfers und „Vaters“ an die Seite gestellt (6,36; 11,2.13; 12,30). Das Gottesbild der Logienquelle bleibt demnach trotz der Betonung des Gerichtsgedankens im Kern rückgebunden an das biblische Gottesbild, wie es im Bekenntnis zum Verschonungswillen Gottes ausgedrückt ist (Ex 34,6; Ps 145,8). Der fürsorgliche und barmherzige „Vater“ ist dann auch das Vorbild für die unkonventionelle Ethik, die die Logienquelle aus der Jesusüberlieferung übernimmt: Q 6,36: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Vaterunser
Gott soll auch in dem Gebet, das Jesus seiner Nachfolgegemeinschaft mitgibt, als fürsorglicher Vater angesprochen werden. Das Vaterunser nach Q 11,2–4 ist in einer mnemotechnisch günstigen Abfolge der Worte (1–2–3) gestaltet: eine Gottesanrede (Vater), zwei Segensbitten in der 2. Pers. Sg., die sich an die Majestät Gottes richten (Heiligkeit, Herrschaft), und drei Bitten in der 1. Pers. Pl., die die Gemeinschaft betreffen (Brot, Schulden, Versuchung). Die Vateranrede gilt manchem als besonderes Kennzeichen des intimen Gottesverhältnisses Jesu, das im Vaterunser auch den Jüngern eröffnet wird.17 Allerdings findet sich die Vateranrede auch in anderen Texten des antiken Judentums. Sie drückt eine Verbindung von Macht und Fürsorge aus, für die auch weitere Familienmetaphern, wie die der „Mutter“, verwendet werden können: Weish 14,3: Deine Vorsehung, Vater, steuert (das Schiff; V. 1), auch im Meer zeigst du den Kurs und in den Wellen eine sichere Straße. 1QH 9,35 f.: Denn du bist ein Vater für alle Kinder deiner Wahrheit und 17 Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 45; vgl. Böttrich, Rede von Gott, 66–68.
Gericht und Menschensohn
freust dich über sie wie eine Mutter über ihren Säugling, und wie ein Pfleger versorgst du im Schoß alle deine Geschöpfe. Die Gottesvorstellung der Logienquelle ist bestimmt von der geschichtstheologischen Konzeption, nach der Gott und die Weisheit immer wieder Menschen als Propheten und Weise zur Läuterung des Gottesvolkes aussenden. Diese werden aber regelmäßig zurückgewiesen, verfolgt und getötet. Dieses paradoxe Geschehen erreicht mit dem Täufer, Jesus und seiner Nachfolgegemeinschaft eine endgültige und endzeitliche Dimension, aber selbst im endzeitlichen Strafgericht bleibt Gott weiterhin in seine Transzendenz zurückgezogen. Als fürsorglicher Vater erweist er sich hingegen gegenüber Jesus und seiner Nachfolgegemeinschaft.
7.4 Gericht und Menschensohn Nach dem Verständnis des antiken Judentums können Israel oder zumindest die durch ihr Verhalten bewährten Gruppen innerhalb Israels, d. h. die Gerechten und Frommen, auf das Erbarmen Gottes hoffen. Diese Tradition wird in der Logienquelle aufgenommen, aber auf die Nachfolgegemeinschaft Jesu beschränkt. Das Strafhandeln Gottes wird insgesamt in einer polarisierenden Rhetorik vorgetragen, die die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes für diejenigen, die die Botschaft Jesu, des Menschensohns, zurückweisen, ausschließt. In den Gerichtsschilderungen wird auf grundlegende biblische Vorstellungen zurückgegriffen. Sowohl biblische Figuren (Abel, Abraham, Isaak, Jakob, Elia, Satan, Noah, Salomo, Königin von Saba, Jona, Zacharias) als auch bedeutsame Orte (Tempel, Jerusalem, Sodom, Ninive, Tyrus, Sidon), die im antiken Judentum zu Kristallisationspunkten für komplexe religiöse und theologische Überlegungen geworden sind, werden für die theologische Konzeption der Logienquelle herangezogen. Sie integriert diese identitätsbildenden Figuren und zentralen Orte in die große Geschichtserzählung von Schuld und Strafe zwischen Gott und seinem Volk und verbindet sie mit endzeitlichen Vorstellungen vom Gericht am Tag des Menschensohns (Höllenpfuhl, endzeitliches Mahl, Gerichtsszenario).
Strafe und Barmherzigkeit
Der Rückgriff auf grundlegende biblische Konzeptionen stellt eine wichtige theologische Leistung dar, die in Teilen selbst auf Jesus zurückgeht. Erst die Logienquelle allerdings gibt ihnen eine zentrale Bedeutung für das Gesamtverständnis des Auftretens Jesu, indem sie sie mit der deuteronomistischen Geschichtstheologie verbindet und apokalyptisch auf den Tag des Menschensohns ausrichtet.
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Logienquelle
nichtjüdische Welt
Ein wesentliches Motiv der Gerichtsvorstellungen der Logienquelle ist die Statusaufwertung der Repräsentanten der nichtjüdischen Welt und der nichtjüdischen Völker. Die nichtjüdischen Städte Ninive, Tyrus und Sidon werden zu den jüdischen Städten in Galiläa Kapernaum, Bethsaida und Chorazin in Beziehung gesetzt. Ebenso wird die Personengruppe, die mit „dieser Generation“ angesprochen wird, mit fernen, teilweise als nichtjüdisch charakterisierten Menschen verglichen. So wird von einer jüdischen Stadt, die die Boten des Menschensohns zurückweist, gesagt: 10,12: Sodom wird es an jenem Tag angenehmer ergehen als jener Stadt.
diese Generation
Polemik gegen Galiläa
Ähnliche Aussagen finden sich im Verhältnis von Tyrus und Sidon zu den galiläischen Städten Chorazin, Bethsaida und besonders polemisch zu Kapernaum (10,13–15). „Diese Generation“ wird den Niniviten untergeordnet, die sich durch die Gerichtsankündigung zur Umkehr entschlossen haben (11,29–32). „Diese Generation“ wird für die unschuldig getöteten Boten Gottes die Verantwortung übernehmen müssen (11,49–51). Aus dem endzeitlichen Mahl mit den Erzvätern werden sie aber ausgeschlossen und dem Strafgericht überantwortet werden (13,28 f.). Dieser Gerichtstag wird überraschend und vernichtend wie die Sintflut über die große Mehrheit der Menschen kommen (17,26–30). In der Forschung wird bisweilen aus diesen rhetorischen Gerichtstexten auf eine sogenannte Heilsumkehr zwischen Judentum und Heidentum und auf die Trennung von Israel geschlossen.18 Tatsächlich werden aus jüdischer Perspektive symbolische Orte der nichtjüdischen Welt mit einer umfassenden biblischen Interpretationsgeschichte, wie Ninive, Tyrus und Sidon, ausgewählt, die in scheinbar überraschender Umkehrung der Erwartung als Gerechtfertigte oder sogar als Richter in der Endzeit auftreten werden.19 Alle genannten Orte sind bereits in der prophetischen Überlieferung Gegenstand von komplexen Heils- und Unheilsaussagen (Jes 23,1–18; Jer 25,22; Ez 26–28; Joel 4,4; Jona 1,2; 3,1–4,11), sodass sich ihre Wahl als eine rhetorisch und theologisch paradoxe Anknüpfung an biblisch geschulte Hörererwartungen erklärt. Ihnen stehen aber keine gleichfalls bedeutsamen symbolischen Orte des Judentums wie Jerusalem, der Tempel, Mamre, Hebron, Bethlehem oder der Sinai gegenüber, sondern die heilsgeschichtlich unbedeutenden Städte Chorazin, Bethsaida und Kapernaum. Nur in Q 13,35 wird davon 18 Schnelle, Theologie, 351 f. u. 366. 19 Vgl. aber bereits die Rettung Ninives im Jonabuch.
Gericht und Menschensohn
gesprochen, dass der Tempel für einige Zeit ungenutzt bleiben wird. Die identitätsstiftenden Orte, Personen und Traditionen des Judentums bleiben insgesamt unangetastet. Daraus ist zu schließen, dass man diese Aussagen als rhetorische Tropen mit einer textpragmatischen Ausrichtung auf konkrete Gruppen innerhalb der jüdischen Adressatengruppe, die „diese Generation“ genannt wird, zu werten hat.20 Nähere Konkretisierungen für diese Gruppierungen könnten die Repräsentanten der genannten galiläisch-jüdischen Städte sein, explizit werden auch Pharisäer und Schriftgelehrte genannt (Q 11,39–48). Die scharfe Polemik gegen diese jüdischen Gruppierungen ist abzuwägen gegenüber der grundlegenden Ablehnung, die Nichtjuden erfahren. In 12,30 werden das materielle Bestreben der nichtjüdischen Nationen oder in 6,34 die ungenügende Ethik der Nichtjuden als negative Beispiele vorgestellt, von denen sich die Adressaten der Logienquelle abzugrenzen haben. Die Logienquelle bewegt sich mit der Unterscheidung zwischen einer Gruppierung, die den Willen Gottes vorbildlich für das Judentum erfüllt, und einer Mehrheit des Judentums, die dies versäumt, innerhalb der Kriterien für eine religiöse Sondergruppe des Judentums dieser Zeit.21 Neben der Inanspruchnahme der deuteronomistischen Geschichtstheologie für das Ergehen der eigenen Gruppierung stellt die Identifikation Jesu mit dem „Kommenden“, genauer dem „kommenden Menschensohn“ eine bedeutende theologische Leistung der Logienquelle dar. Die Bezeichnung „Menschensohn“ ruft keinen festen Vorstellungszusammenhang oder gar bestimmte titulare Assoziationen auf.22 Sie markiert vielmehr, dass die so benannte Figur einer näheren Identifikation bedarf, die sich erst aus dem Kontext der Verwendung der Bezeichnung ergibt.23 Welche Handlungen und Aussagen werden in der Logienquelle mit dem „Menschensohn“ verknüpft? Der Menschensohn ist zunächst Jesus, der in seine beschwerliche Nachfolge ruft (9,58). Die Menschen, die dann „um des Menschensohns willen“ geschmäht und verfolgt werden, sind selig zu preisen, d. h. sie handeln in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen Gottes (6,22). Sich zum Menschensohn Halten bedeutet, sich mit allen Folgen für das eigene Ergehen zu Jesus und zu seinen Worten „vor den Menschen zu bekennen“ (12,8 f.). Dies ist die Voraussetzung dafür, dass man auf die Fürsprache des Menschensohns im endzeitlichen Gericht „vor den Engeln“ vertrauen kann (12,8 f.). Dennoch ist eine ablehnende Sprachhandlung gegen 20 Heil, Zukunft Israels, 195 f. 21 S. o. 71 f. (Religiöse Sondergruppen im Judentum). 22 S. o. 109 (Menschensohnvorstellung). 23 Böttrich, Konturen des Menschensohns, 88.
theologische Leistung
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Logienquelle
kommender Menschensohn
Bekenntnis zu Jesus
den Menschensohn nicht so schwerwiegend wie eine solche gegen den Geist Gottes (12,10). Im Konzept der Logienquelle ist die Vorstellung des „Kommenden“ (3,16b; 7,19; 12,40; 13,35) von großer Bedeutung für die Verschmelzung des zukünftigen und kommenden Meschensohns mit Jesus. Nach 3,16b und 7,19 wird Jesus als der Kommende vorgestellt. Als dieser verkündet er seine Worte. Aus Perspektive der Logienquelle wird er aber nicht zu dem, der bereits gekommen ist, sondern bleibt nach wie vor der „Kommende“ im Sinne des endzeitlichen Mittlers. Er kommt zu unbekannter Stunde „wie ein Dieb“ (12,39 f.), an seinem „Tag“ unübersehbar wie ein „Blitz“(17,24) und mit den gleichen gewaltigen Folgen für die gesamte Schöpfung wie die „Sintflut“ (17, 26 f.). Die Aussagen zum Tag des Menschensohns entnehmen ihre Bildwelt und ihre Überzeugungskraft aus den Erwartungen, die mit dem biblischen Motiv vom „Tag Gottes“ verbunden sind (z. B. Obadja 15). Die Identifikation Jesu mit dem Menschensohn ermöglicht die Zusammenführung der deuteronomistisch-biblischen Geschichtstheologie mit Jesus von Nazareth zu einer Menschensohnchristologie, d. h. zu der Überzeugung, dass Jesus die zentrale Stellung in der Vermittlung zwischen dem Willen Gottes und seiner Schöpfung einnimmt. Seine Lehre führt in die Königsherrschaft Gottes. Die Verfolgungen, die die Mitglieder seiner Nachfolgegemeinschaft wie zuvor Abel und die anderen Boten Gottes erleiden, entsprechen dem Willen Gottes. Das folgenreiche Bekenntnis zu Jesus sichert das Ergehen in dem unausweichlichen und umfassenden Gericht am „Tag des Menschensohns“ (17,24). An diesem Tag werden diejenigen, die Jesus in dieser Weise nachgefolgt sind, die zum Gericht wieder zusammengeführten zwölf Stämme Israels richten.
Die Menschensohnchristologie der Logienquelle kennt keine stellvertretende Lebenshingabe, kein Sühnegeschehen, weder Präexistenz noch Schöpfungsmittlerschaft. Sie konzentriert sich auf die Bestätigung der Nachfolgegemeinschaft Jesu als religiöse Sondergruppe im antiken Judentum, die die Botschaft Jesu von der Königsherrschaft Gottes und ihre Ethik der Gewaltlosigkeit und des Verzichts auf Besitz, Vergeltung und Rechtsforderungen verkündet (6,27–38).
Diese skizzierte Grundlinie einer Menschensohnchristologie, die eingebunden wird in eine endzeitlich ausgerichtete geschichtstheologische Konzeption, wird ergänzt von einigen Aussagen über Jesus, die bereits die Integration weiterer Vorstellungen andeuten. Es sind vor
Gericht und Menschensohn
allem zu nennen: 1. Die Identifikation Jesu mit dem „Stärkeren“, der auf den Täufer folgen wird (3,16), 2. Die Aussagen zum „Sohn Gottes“ in der Versuchungsgeschichte (4,1–13) und evtl. in der Taufe (3,22), 3. Die Antwort auf die Täuferfrage nach dem „Kommenden“ (7,18–23), 4. Die jesuanische Selbstaussage „hier ist mehr als Salomo“ (11,31). Diese und andere Aussagen der Logienquelle interpretiert Schnelle als Beleg dafür, dass die Logienquelle als „Proto-Evangelium“ bereits eine voll ausgebildete Christologie vertrete, für die der Sohn-Gottes-Titel zentral sei.24 Jesus sei nach der Logienquelle eine „einzigartige endzeitliche Heilsgestalt“.25 Bei diesem weitgreifenden Urteil lässt Schnelle allerdings die tragende Bedeutung der geschichtstheologischen Grundkonzeption außer Acht, nach der Jesus vor allem als funktionaler Mittler des von der Schöpfung bis zur Endzeit gültigen Heilswillens Gottes und nicht als eigenständige „Heilsgestalt“ auftritt. Tatsächlich weisen auch einige Aussagen der Logienquelle zu Jesus über die oben ausgeführte Interpretation einer Menschensohnchristologie hinaus und stellen Verbindungen zu anderen christologischen Konzeptionen her. Dies verweist erneut auf den für die theologische Interpretation des Neuen Testaments wichtigen Sachverhalt, dass die Vielfalt der theologischen Sinndimensionen und Deutungsmöglichkeiten nicht erst Ergebnis der neutestamentlichen Traditionsbildung ist, sondern bereits an ihrem Anfang steht.26 Jesus wird in der Täuferpredigt nicht nur mit dem „Kommenden“, sondern auch mit dem „Stärkeren“ (gr. ischyroteros; ἰσχυρότερος) identifiziert. Derjenige, der die Königsherrschaft Gottes als der „Kommende“ verkündigt, ist nach dieser Aussage zugleich derjenige, der sie als der „Stärkere“ machtvoll durchsetzt (3,16). Die Bedeutung Jesu für die Königsherrschaft wird demnach auf dessen Realisierung ausgeweitet. Die Versuchungsgeschichte wird von Kloppenborg literarkritisch einer späten Stufe der Logienquelle, der biographisierenden Redaktion (Q³), zugewiesen und damit an den Rand der Interpretation gedrängt.27 Konzentriert man sich aber auf die Endgestalt der Logienquelle, stellt sich die Frage, ob es sich nicht doch eher, wie Räisänen meint, um einen „programmatischen Prolog“ handelt.28 Auch Schnelle stellt diese Perikope ins Zentrum seiner christozentrischen Q-Interpretation. Er verbindet die Wendung „Sohn Gottes“ mit anderen Sohnesaussagen 24 Schnelle, Theologie, 352–358. 25 Schnelle, Theologie, 358. 26 S. o. 129 (Vielfalt des frühen Christentums). 27 Kloppenborg, Excavating Q, 152 u. 212 f. 28 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 389 Anm. 70.
223
Proto-Evangelium
der Kommende und der Stärkere
Sohn Gottes in Q
224
Logienquelle
wie 10,21 f. und kommt zu dem Ergebnis, Jesus habe in der Logienquelle „den Status des Sohnes Gottes“.29 Es ist allerdings in Q 4,1–13 wahrscheinlicher, dass die in eine konditionale Frage integrierte SohnGottes-Bezeichnung alles andere als zentral ist. Vielmehr zielt die Perikope auf die Unterordnung Jesu unter den Teufel (V. 13) und es entsteht an keiner Stelle der Eindruck, dass an einen Sohn Gottes im Sinne des privilegierten und machtvollen Mittlers Gottes zu denken ist. Vielmehr zielt die Frage, „Wenn du ein Sohn Gottes bist?“, darauf, ob Jesus ein exemplarischer Gerechter ist, der den Geboten Gottes und vor allem der Schrift folgt. Dieses Verständnis eines Sohnes Gottes belegt etwa die parodierende Paraphrase des vierten Gottesknechtliedes (Jes 52,13–53,12) in der Weisheit Salomos. Dort spottet die Wir-Gruppe über den Knecht Gottes: Weish 2,18: Wenn der Gerechte ein Sohn Gottes ist, wird er (d. i. Gott) sich seiner annehmen!30
Versuchung
Nach Ansicht der Logienquelle ist Jesus ein solcher Gerechter, der wie ein Weisheitslehrer mit Schriftzitaten antwortet und unter Beweis stellt, dass er sich keiner Macht beugt, indem er die Verehrung des Teufels ablehnt. In Q 6,35 f. wird formuliert, dass alle Nachfolgenden „Söhne eures Vaters“ werden, wenn sie durch die Praxis der Feindesliebe die Barmherzigkeit des Schöpfers imitieren. In Lk 20,36b sind die „Söhne Gottes“ diejenigen, die an der kommenden Heilszeit („an jenem Äon“) Anteil haben. Erst im Zusammenhang der ausgeprägten Sohn-Gottes-Christologie der synoptischen Evangelien erhält die Versuchungsgeschichte die Funktion, die Vorstellung des einen und einzigen Sohnes Gottes zu bestätigen. In der Logienquelle hingegen bleibt die Aussage über den Sohn Gottes isoliert und wird nicht in die theologische Gesamtkonzeption vom Auftreten des Menschensohns und seinem endzeitlichen Wirken integriert. Die Programmatik der Versuchungsgeschichte liegt vielmehr in der schriftgebundenen Standhaftigkeit Jesu, die zum Vorbild für die Nachfolgegemeinschaft wird. Die Täuferanfrage, „Bist du der Kommende“, wird mit einem Mischzitat aus Jes 61,1; 29,18; 35,5 f., 42,18 und 26,19 beantwortet. Q 7,22: Geht, berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Gehörlose hören, Tote werden auferweckt und Armen wird eine gute Botschaft verkündigt. 29 Schnelle, Theologie, 355. 30 Vgl. Weish 5,5; 18,13.
Ergebnis
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Eine ähnliche Zusammenstellung ist als Aussage über Gott selbst in einem Fragment der 4. Qumranhöhle 4Q521 zu finden: 4Q521 frg. 2 II 8 +12 (Übers. Maier): 8 Gebundene löst (Er, der Herr), blinde (Augen) öffnet, Gebeugte aufrichtet (…) 12 Dann heilt Er Durchbohrte und Tote belebt Er. Armen (Demütigen) verkündet Er (Gutes), 13 und Niedrige (?) wird er sättigen, Verlassene (?) wird Er leiten und Hungernde reich machen (?).
Das Auftreten Gottes und die Errichtung seiner Königsherrschaft werden von der Wiederherstellung des guten Schöpfungswillens begleitet: Körperliche, soziale, politische und anthropologische Mängel und Beschränkungen menschlicher Existenz werden beseitigt. Diese nach 4Q 521 in der Jesajatradition an das Kommen der Gottesherrschaft gerichteten Erwartungen sind nach Ansicht der Logienquelle im Auftreten Jesu erfüllt. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Jesus an Gottes Stelle getreten sei, sondern dass mit seiner Verkündigung die Königsherrschaft Gottes angebrochen ist (17,20 f.). Schließlich ist das Gerichtswort über diese Generation zu nennen, in dem Jesus in Bezug auf sich selbst feststellt „hier ist mehr als Salomo“ (11,31). Die rhetorische Wendung begegnet bereits ähnlich im Wort Jesu über den Täufer, in dem es heißt, dieser sei „mehr als ein Prophet“ (7,26). Beide Aussagen unterstreichen, dass mit dem Täufer und Jesus Boten Gottes aufgetreten sind, deren Bedeutung eine endund letztgültige ist und die wegen ihres endzeitlichen Charakters jene der Propheten und der weisen Männer, für die Salomo steht, übertrifft.
Königsherrschaft
7.5 Ergebnis Eine Schrift, die Jesus nicht als Christus bezeichnet, seine Passion zwar andeutet, aber nicht als exklusive Lebenshingabe des einen Mittlers versteht und schließlich kein Wort zur Auferstehung verliert, hatte im Überlieferungsprozess des frühen Christentums wenig Chancen. Die Logienquelle repräsentiert eine Entwicklungslinie der theologischen Sinnbildung, die nur über die Integration in die Gesamtentwürfe der Evangelien weiterwirken konnte. Ihre Grundidee, dass der Täufer und Jesus in der Tradition der Boten Gottes auftraten und nach dem Vorbild des Geschicks der Propheten in der deuteronomistischen Geschichtstheologie zurückgewiesen, ja getötet wurden, ist eine erhebliche theologische Reflexionsleistung. Sie deutete den tödlichen Ausgang des Geschicks Jesu und die Zurückweisung seiner Botschaft von der Königsherrschaft Gottes als Bestandteil des geschichtlichen
theologische Sinnbildung
226
Logienquelle
Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk. Gerade dies ermöglichte die Weiterführung der Verkündigung Jesu durch die Nachfolgegemeinschaft. So wie die biblischen Propheten zurückgewiesen wurden, so ergeht es nun auch den Boten der Königsherrschaft, die die Verkündigung Jesu weiterführen. Der Misserfolg der Verkündigung ist Teil dieses geschichtlichen Geschehens, das nun in seiner end- und letztgültigen Phase auf das Gericht des wiederhergestellten Israels am Tag des Menschensohns zuläuft. In diesem Gericht wird das Urteil danach ausfallen, wie sich der zu Beurteilende gegenüber den Worten Jesu und seiner Person verhalten hat (12,8 f.). Hat er ihn verleugnet, wird er in diesem Gericht ohne Verteidigung sein, hat er sich zu ihm bekannt, wird Jesus als der Menschensohn im Gericht als sein Fürsprecher auftreten. Dieses für die Logienquelle zentrale Gerichtsszenario rückt in der Evangelientradition eher an den Rand bzw. übernimmt überwiegend paränetische Funktionen. Literatur Böttrich, Christfried: Konturen des „Menschensohns“ in äthHen 37–71, in: Dieter Sänger (Hg.), Gottessohn und Menschensohn. Exegetische Studien zu zwei Paradigmen biblischer Intertextualität, Neukirchen 2004 (BThSt 67), 53–90. Ders.: Die neutestamentliche Rede von Gott im Spiegel der Gottesprädikationen, in: BThZ 16 (1999) 59–80. Bork, Arne: Die Raumsemantik und Figurensemantik der Logienquelle, Tübingen 2015 (WUNT 2/404). Dunn, James D.G.: Jesus Remembered. Christianity in the Making 1, Grand Rapids 2003. Ders.: New Testament Theology: An Introduction (Library of Biblical Theo�logy 4), Nashville 2009. Ebner, Martin: Jesus – ein Weisheitslehrer. Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, Freiburg 1998. Goodacre, Mark S.: The Case against Q. Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Ders.: (Hg.): Questioning Q. A Multidimensional Critique, Downers Grove 2004. Heil, Christoph: Die Zukunft Israels in der lukanischen Redaktion von Q, in: Markus Tiwald (Hg.), Q in Context 1, Bonn 2015 (BBB 172), 185–199. Hengel, Martin: Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung, Tübingen 2008 (WUNT 224). Hoffmann, Paul/Heil, Christoph: Die Spruchquelle Q, Darmstadt ³2009. Jeremias, Joachim: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh ⁴1979.
Literatur
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227
8 Markusevangelium
Abb. 8: V. Carpaccio (1425–1525): Der Löwe des Markus (1516) mit der Inschrift: pax tibi Marce evangelista meus (Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist).
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Markusevangelium
8.1 Einführung
Symbol Löwe
Die Alte Kirche hat den vier Evangelisten in Anlehnung an die viergesichtigen Cheruben des Thronwagens Gottes im Ezechielbuch (Ez 1,10; 10,14) und an die Himmelsgestalten der Thronvision der Johannesoffenbarung (Apk 4,7) als Erkennungszeichen Löwe, Stier, Mensch und Adler zugeordnet. Markus galt als der Löwe. Der auf dem Bild von Carpaccio niedergeschriebene Friedenswunsch ist der Legende nach von einem Engel gegenüber dem Evangelisten ausgesprochen worden. Er habe Markus mit diesen Worten in der Lagune Venedigs empfangen und damit zugleich die spätere Überführung seiner Gebeine nach Venedig vorausgesagt. Markus gilt als Apostel Ägyptens und hat sein Martyrium in Alexandria erlitten. Seine Gebeine wurden allerdings im 9. Jh. von Alexandria nach Venedig überführt und in der dortigen Markuskirche aufgebahrt. Der Markus-Löwe wurde auch zum Wahrzeichen Venedigs. Das älteste Zeugnis zum Markusevangelium findet sich bei Papias von Hierapolis und lässt sich etwa auf das Jahr 120 n. Chr. datieren. Papias beruft sich dabei auf den Presbyter Johannes aus Ephesus, der selbst die Apostel noch gekannt und gesprochen habe. Der Presbyter habe gesagt: Eusebius Hist. Eccl. 3,39,15: Markus, der ein Dolmetscher des Petrus war, schrieb genau auf, wessen er sich erinnerte, allerdings nicht in der Ordnung, in der es vom Herrn gesagt und getan worden war. Denn er hatte weder den Herrn gehört noch war er ihm nachgefolgt, freilich aber, wie man sagt, dem Petrus. Dieser gestaltete seine Lehrvorträge nach den Notwendigkeiten, nicht aber indem er eine Zusammenstellung der Reden des Herrn gemacht hätte.
Kritik
Die Beziehung des Markus zu Petrus wird durch die Erwähnung eines weiteren Markus in 1Petr 5,13 vermeintlich gestützt. Tatsächlich aber lässt die Evangelienschrift selbst keine engere Beziehung zu einer Petrustradition erkennen, sodass man von einem unabhängigen Verfasser ausgehen muss. Aus dem Zeugnis des Presbyters erklärt sich leicht, warum das Markusevangelium nie das Ansehen des Matthäusoder des Johannesevangeliums erreichen konnte. Der Verfasser galt als ein Apostelschüler, nicht aber als ein Apostel und Jünger Jesu wie Matthäus und Johannes. Zugleich wird mit diesem Hinweis auf die Autorenschaft ein literarischer Mangel, den man in der Alten Kirche empfand, genannt: Man könne diesem Evangelium keine geordnete und umfassende Darstellung der Worte und Taten des Herrn entnehmen. Zu einem solchen Urteil muss ein Leser kommen, der etwa die Bergpredigt des Matthäusevangeliums (Mt 5–7) oder die Offenbarungsreden Jesu aus dem Johannesevangelium (z. B. Joh 6,43–51)
Theologie als Biographie
kennt. Das Markusevangelium bietet wenig an Aussagen, die die Herrlichkeit der Präsenz des Sohnes Gottes zum Ausdruck bringen. In der neutestamentlichen Wissenschaft wird das Markusevangelium hingegen weit positiver beurteilt. Es gilt als das älteste Evangelium und ist somit zunächst einmal die Grundlage für die Rekonstruktion der geschichtlichen Ereignisse rund um Jesus von Nazareth. Gerade seine Zurückhaltung im Umgang mit der gehobenen Bedeutung Jesu als Sohn Gottes und Messias stützt die Annahme seiner besonderen historischen Glaubwürdigkeit. Es erzählt zudem von einem Jesus von Nazareth, der seine Messianität als ein Geheimnis behandelt. Die neutestamentliche Forschung hat für diesen besonderen Charakter der Verhüllung der Messianität Jesu den Begriff „Messiasgeheimnis“ gebildet.1 Mit diesem Begriff soll eine Reihe von Eigentümlichkeiten der markinischen Jesuserzählung erfasst werden, die allesamt den Effekt haben, Jesu Messianität als eine verhüllte und nicht offenbare, ja sogar geheim zu haltende darzustellen. Neben diesem Begriff wird eine zweite Charakterisierung dieses Evangeliums immer wieder zitiert, diskutiert und als Ausgangsbasis weiterer Überlegungen gewählt. Das Evangelium sei eine „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“.2 Drei Leidensankündigungen, die in die Erzählung integriert sind, richten sie frühzeitig auf Jesu Passion und Tod aus (Mk 8,31; 9,31; 10,33 f.). Die Auferstehung wird zwar ebenfalls angekündigt, die Erscheinungen des Auferstandenen sind aber nicht Bestandteil der Erzählung, sondern ereignen sich außerhalb der erzählten Geschichte (14,28; 16,7).
Messiasgeheimnis
Passionsgeschichte
Das Markusevangelium bietet eine Jesuserzählung, die den Leser an einem geheimnisvollen Geschehen, dessen Sinn sich nicht unmittelbar erschließt, teilhaben lässt. Sie stellt die Frage nach der Bedeutung Jesu auf besondere Weise, indem sie ihn einerseits von einem „Messiasgeheimnis“ umgeben sein lässt und andererseits sein Leben auf den leidvollen Tod am Kreuz ausrichtet.
8.2 Theologie als Biographie Die Forschung zum Markusevangelium hat sich etwa in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts neu orientiert. Zuvor stand die Frage im Mittelpunkt, welcher der im Markusevangelium verwendeten 1 Wrede, Messiasgeheimnis, 222–229. 2 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 60. Die Aussage trifft Kähler über alle Evangelien, exemplifiziert sie aber eingehender am Markusevangelium.
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Markusevangelium
christologische Hoheitstitel
Jesuserzählung
Schlüsselszenen
christologischen Hoheitstitel, Sohn Davids, Menschensohn, Sohn Gottes oder Christus/Messias, die christologische Anschauung des Autors der Schrift am klarsten ausdrücke.3 Man fragte nach dem Titel, mit dem Jesus im Markusevangelium identifiziert und damit definiert werde (argumentatio). Es wurde aber deutlich, dass keinem dieser Titel gegenüber den anderen eine führende Rolle zukommt, sondern dass sie sich vielmehr wechselseitig ergänzend interpretieren. Um zu klären, in welcher Weise diese Titel aufeinander bezogen sind, wurde der Kontext ihrer jeweiligen Verwendung wichtig. Man fing nun an, nach der erzählerischen Konzeption der Schrift zu fragen und aus der narrativen Gestaltung der Jesuserzählung darauf zu schließen, wer Jesus für diese Schrift sei, d. h. wie er erzählerisch in Szene gesetzt werde und welche Rezeption sich der Autor von seinen Lesern erwarte (narratio). Beide Zugangsweisen, die definierende argumentatio und die erzählende narratio, haben Anhalt am Markusevangelium selbst. Es enthält definitorische Aussagen und Sätze über Jesus, z. B. Mk 8,29: „Du bist der Christus!“ oder 15,39: „Dieser Mensch war wahrhaft Gottes Sohn!“ Die neuere Forschung betont aber, dass auch diese definitorischen Sätze in ihrer narrativen Gestaltung als Teil einer erzählten Szene zu interpretieren seien und es deswegen von höchster Bedeutung sei, dass in einem Fall Petrus in der Nähe eines Zentrums der Verehrung des römischen Kaisers, nämlich Caesarea Philippi, und im anderen Fall ein nichtjüdischer Hauptmann angesichts des Kreuzestodes Jesu spreche. Die narrative Gestaltung, also die Frage danach, wer zu wem, wann, wo und in welcher Position der Handlungssequenz spricht oder schweigt, handelt oder passiv bleibt, stellt die definitorische christologische Aussage in einen literarischen Kontext und bestimmt ihre Bedeutung und Rezeption entscheidend mit. Beide Blickrichtungen sind aufeinander zu beziehen. Zum einen verdichten sich in den Hoheitstiteln komplexe religionsgeschichtliche Konzepte, deren Bedeutungen nicht ignoriert werden können, zum anderen erfahren diese Konzepte jeweils eine narrative Aktualisierung und Neuinterpretation durch ihre Positionierung in ein mehrdeutiges, bisweilen konflikthaftes narratives Geschehen. Zunächst lenkt das Markusevangelium selbst den Blick auf eine definierende Aussage. Es setzt mit einem thesenartigen Behauptungssatz ein: 3 Sohn Davids: gr. hyios David; υἱὸς Δαυίδ in Mk 10,47 f.; 12,35. Menschensohn: gr. hyios tou anthropou; υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in Mk 2,10.28; 8,31.38; 9,9.12.31; 10,33 f.45; 13,26; 14,21.41.62. Sohn (Gottes): gr. hyios theou; υἱὸς θεοῦ in Mk 1,1.11; 3,11; 5,7; 9,7; 14,61; 15,39. Christus/Messias: gr. christos; χριστός in Mk 1,1; 8,29; 9,41; 12,35; 13,21 f.; 14,61; 15,32.
Theologie als Biographie
Mk 1,1: Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, des Sohnes Gottes.4
Der Autor definiert den Inhalt seiner Schrift als „Evangelium“ und bestimmt Jesus als Christus und Sohn Gottes. Bei Paulus bezeichnet „Evangelium“ den Inhalt der Verkündigung des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus. Bei Markus bekommt der Begriff Evangelium den speziellen Sinn: Die Worte Jesu, die Verkündigung Jesu von der Königsherrschaft Gottes (1,1.14 f.; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). Mit dieser Bedeutungsverschiebung geht einher, dass nun unter Evangelium auch eine literarische Gattung verstanden wird: Die Jesuserzählung als gute Botschaft. Markus gilt als Schöpfer der Gattung Evangelium im Sinne einer biographischen Jesuserzählung. Die zweite definitorische Aussage bezieht sich auf Jesus. Er ist der Christus, der Gesalbte (gr. christos; χριστός von gr. chrio; χρίω, einreiben, salben). Das Wort hat aber im Griechischen einen merkwürdigen und keinesfalls würdigen Klang. Erst der alttestamentlich-jüdische Hintergrund erschließt seine tiefere Bedeutung. Es steht für den Messias (hebr. meschiach; )משיח, den Gesalbten Gottes. In der Hebräischen Bibel werden Priester (Lev 8,12; 16,32), Propheten (1Kön 19,15 f.; Jes 61,1) und vor allem Könige (Ri 9,8; 1Sam 10,1; 16,12 f.; 1Kön 1,39; 2Kön 9,3; 11,12; 23,30) gesalbt. Psalm 2, ein sogenannter Königspsalm, schildert das Verhältnis zwischen Gott und seinem Gesalbten, zwischen JHWH und seinem Messias. Dieser steht mit Gott in einer Handlungsgemeinschaft, die vom Berg Zion her die revoltierenden Könige der nichtjüdischen Völker beherrscht. Der Messias wird in diesem für die christologische Entwicklung bedeutsamen Psalm auch „König“ (V. 6) und „Sohn Gottes“ (V. 7) genannt. Der Königspsalm Ps 2 steht, gemeinsam mit der messianischen Redaktion des Psalters und dem Messiaskonzept der Psalmen Salomos (PsSal 17,21.32), für die Vorstellung, dass der Messias eine königliche, herrscherliche Gestalt ist. Diese steht in der Nachfolge des Königs David und wird die souveräne Herrschaft über Israel, die die Dominanz über die nichtjüdischen Nachbar- und Fremdvölker miteinschließt, erlangen. Diese vermeintlich klaren Züge des Messiasverständnisses werden allerdings in der Hebräischen Bibel selbst bereits durch zahlreiche Alternativen variiert. Auch der Perserkönig Kyros, der die Israeliten 4 Die Worte „des Sohnes Gottes“ fehlen in einigen Handschriften, finden sich aber z. B. im sonst zuverlässigen Codex Vaticanus. Collins (Mark, 130) hält eine sekundäre Ergänzung für wahrscheinlicher als eine spätere Kürzung und plädiert für den kürzeren Text. Lührmann (Markus, 33) hingegen sieht im kürzeren Text eine sekundäre Angleichung an den üblichen Sprachgebrauch „Evangelium Christi“ (Röm 15,9; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12 u. ö.). Der gut bezeugte längere Text ist demnach der wahrscheinlichere.
Evangelium
der Christus
Messias
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Markusevangelium
aus dem babylonischen Exil zurückkehren ließ, wird in Jes 45,1 von Gott „mein Gesalbter“ genannt. Ihm, dem Perser, hat Gott die Herrschaft über die Völker verliehen, damit er Israel befreien kann. Weitere Texte unterstreichen die Offenheit des Messiasverständnisses: Der Prophet Sacharja schildert in seinen Nachtgesichten, dass er rechts und links von einem Leuchter zwei Ölbäume sieht. Von diesen Ölbäumen fließt über Olivenzweige Öl. Der das Nachtgesicht interpretierende Engel (lat. angelus interpres) identifiziert auf Nachfrage die Ölbäume als „die beiden Söhne des Öls“, d. h. die beiden Gesalbten (Sach 4,13 f.). Zeitgeschichtlich spielt der Text wohl auf den Hohepriester Josua und den Statthalter Serubbabel an. Allerdings fehlen die Namen. Gerade dadurch wiederum ermöglicht der Text eine Deutung, nach der grundsätzlich eine Handlungsgemeinschaft aus einem priesterlichen und einem königlichen Gesalbten für Israel auftreten müsse. Einige Qumrantexte stützen die Annahme, dass zwei Messiasse für Israel erwartet werden, indem sie von einem (priesterlichen) Messias Aarons und einem (königlichen) Messias Israels sprechen. 1 QS IX 9–11 (Übers. Lohse): Und von keinem Rat des Gesetzes sollen sie abweichen, um in aller Verstocktheit ihres Herzens zu wandeln, sondern sie sollen nach den früheren Bestimmungen gerichtet werden, durch welche im Anfang die Männer der Gemeinschaft in Zucht gehalten worden sind, bis dass der Prophet und die Gesalbten Aarons und Israels kommen.
Sohn Gottes
Bereits hier fällt auf, dass ein „Prophet“ gleichberechtigt neben die beiden Messiasse tritt. Es wird also auch hier deutlich, dass im antiken Judentum weniger feste Konzepte als vielmehr eine recht breite Variabilität der am endzeitlichen Geschehen beteiligten Figuren und Vorstellungen festzustellen ist. Der Begriff Messias ist recht offen, bezeichnet aber jedenfalls eine Figur, die in besonderer Übereinstimmung mit dem endzeitlichen Willen Gottes für ganz Israel handelt. Die Ergänzung des Messiastitels mit „Sohn Gottes“ ist in Mk 1,1 textkritisch etwas unsicher.5 Die Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes ist aber durch Mk 1,11; 9,7; 14,61 und 15,39 sicher belegt. Das Markusevangelium berichtet demnach vom Evangelium Jesu des Messias und des Sohnes Gottes. Die Zusammenstellung der Titel verwundert nicht, da dies bereits in Ps 2 vorgegeben ist.6
5 S. o. Anm. 4 (Textkritik von Mk 1,1). 6 Rowe, God’s Kingdom, 258.
Theologie als Biographie
Zur Zeit des Markusevangeliums ist aber neben dem Bedeutungshintergrund dieser Aussagen im antiken Judentum auch die hellenistisch-römische Kultur zu berücksichtigen. Der Titel „Sohn Gottes“ wie auch der Begriff Evangelium werden im ersten Jahrhundert in der römischen Kaiserpropaganda verwendet. Evangelium bezeichnet dort die „Freudenbotschaft“ aus dem Kaiserhaus, die Heil und Wohlergehen für die ganze Welt bedeutet: OGIS 458,40 (Priene, 9 v. Chr.): Der Geburtstag des Gottkaisers eröffnete der Welt die Reihe der um seinetwillen ergehenden Freudenbotschaften.
In dieser Bedeutung, Freudenbotschaft aus dem Kaiserhaus, wird Evangelium ebenfalls sowohl von Josephus als auch von Philo verwendet.7 Das Substantiv „Evangelium“ hat demgegenüber keinen direkten biblischen Hintergrund. Das Wort kommt in der Septuaginta zwar vor, bezeichnet dort aber nur die Mitteilung, die ein Bote überbringt (2Sam 18,19–27). Bei Deuterojesaja wird allerdings das Verb, „frohe Botschaft verkünden“ (gr. euangelisasthai; εὐαγγελίσασθαι), verwendet, um die Verkündigung des heilvollen Willens Gottes zum Ausdruck zu bringen. Jes 52,7 LXX: Wie Blütezeit auf den Bergen, wie die Füße des Verkünders froher Botschaft vom Klang des Friedens, wie er frohe Botschaft guter Dinge verkündet, dass zum Gehör kommt: „Ich schaffe Dir Heil“, spricht zu Zion: „Dein Gott herrscht als König.“ Jes 61,1 LXX: Der Geist des Herrn (ist) auf mir, weil er mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu verkündigen, zu heilen, die im Herzen zerbrochen sind, zu proklamieren, Freilassung den Gefangenen und Wiederherstellung der Sehkraft den Blinden.
Das Verb wiederum fehlt allerdings im Markusevangelium. Mit ihm lassen sich weder die Wortbildung noch der Gebrauch des Substantivs „Evangelium“ im Markusevangelium erklären. Die formale Bedeutung, frohe Botschaft, erhält aber erst einen theologischen Sinn durch die biblische Tradition. Evangelium ist die Botschaft vom heilvollen Wirken des Willens Gottes. Etwas anders liegen die Dinge im Falle der Bezeichnung als Sohn Gottes. Sie lässt sich, wie oben gesehen, leicht aus den messianischen Vorstellungen des antiken Judentums ableiten. Dennoch ist auch hier zu beachten, dass der Begriff einen Resonanzraum und eine 7 Jos. Bell. 4,618.656; vgl. Philo Gai. 231 f.
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Kaiserpropaganda
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Markusevangelium Sohn des Vergöttlichten
Konfrontationen
Bedeutungsentwicklung in der hellenistisch-römischen Kultur hat. Der Kaiser selbst bezeichnet sich im Rahmen einer festen, amtlichen Titulatur auf Lateinisch als divi filius („Sohn des Vergöttlichten“) und auf den amtlichen Übersetzungen ins Griechische in der Regel als „Sohn des Gottes N.N.“ (gr. theou hyios; θεοῦ ὑιός). Octavian/Augustus nennt sich in einem amtlichen Dokument aus dem Jahr 31 v. Chr. „Alleinherrscher Caesar Sohn des Gottes Julius“ (gr. autokrator Kaisar theou Iouliou hyios; αὐτοκράτωρ Καῖσαρ θεοῦ Ἰουλίου υἱός) und 27 v. Chr. ohne erneute Namensnennung des Gottes einfach „Sohn Gottes“.8 Nero verwendet im Jahr 58/59 n. Chr. die offizielle Titulatur „Nero Klaudius des Gottes Klaudius Sohn“.9 Die titulare Verwendung der Bezeichnung als „Sohn Gottes“ und die Verwendung von Evangelium in der Kaiserpropaganda wirken auf die Bedeutung und die Rezeption der Terminologie des Markus ein. Jesus von Nazareth tritt damit im Markusevangelium in eine semantische Beziehung zu den römischen Kaisern, von denen in der politischen Propaganda das „Evangelium“ verkündigt wird, sie brächten Wohlergehen und Frieden. Wie bewusst oder wie intentional diese sprachliche Beziehung von den neutestamentlichen Autoren angestrebt wurde, ist in der neutestamentlichen Exegese umstritten. Für Schnelle ist die Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes „eine massive Infragestellung des Kaiserkultes als politische Religion, denn nicht der Kaiser, sondern ein von den Römern Gekreuzigter ist der Sohn Gottes!“10 Wright versteht sie als „implizite Konfrontation mit dem Kaiser“.11 Sicherlich ist im Markus evangelium und bei Paulus diese Konfrontation deutlicher zu fassen als in den anderen synoptischen Evangelien (Mk 5,9; 8,27; 10,42; 15,39). Matthäus und Lukas jedenfalls vermeiden den Begriff Evangelium und bieten an keiner Stelle eine vollständige Titulatur wie sie in Mk 1,1 überliefert ist (vgl. Mk 5,7/Lk 8,28/Mt 8,29; vgl. Joh 20,31). Bei Paulus hingegen ist der Begriff „Evangelium“ zentral und auch die Bezeichnung „Sohn Gottes“ wird titular gebraucht. In Röm 1,4 wird geradezu eine Inthronisation geschildert: „den er (Gott) eingesetzt hat als Sohn Gottes […] Jesus Christus unseren Herrn“. Markus und Paulus formulieren demnach ihr Evangelium in einem Kontrast zur römischen Herrscherpropaganda.
8 Sherk, Roman Documents, Nr. 60 f. 9 CIL III/1 346. 10 Schnelle, Theologie, 377 f. 11 Wright, Ursprünge des Christentums 3, 880.
Theologie als Biographie
Das Markusevangelium versteht unter Evangelium die Präsenz des Heilswillens Gottes in den Worten Jesu zur Königsherrschaft Gottes (1,15), die in Konkurrenz zur römischen politischen Herrscherpropaganda steht. Durch dieses Evangelium werden die Machtverhältnisse zwischen Gott und der Welt als Königsherrschaft Gottes neu begründet. Der Träger dieses Evangeliums ist der Sohn des einzigen und wahren Gottes, der die Söhne von anderen Göttern als nichtig erweist.
Das Markusevangelium definiert Jesus von Nazareth von Anfang an als Messias und Sohn Gottes. Auf diesen begrifflich definierenden Anfang des Evangeliums folgt eine Erzählung, deren Struktur in den letzten zwanzig Jahren große Aufmerksamkeit gefunden hat. Die ältere Forschung und auch die kirchliche Tradition hatte wenig Respekt vor dem Markusevangelium. In kirchlicher Perspektive gab es in Markus nichts, was nicht Matthäus auch und sogar besser zum Ausdruck gebracht habe. Die Forschung sah im Verfasser lange einen literarisch wenig begabten Sammler der Jesusüberlieferung. Diese Geringschätzung ist längst einer besonderen Aufmerksamkeit für die Theologie des Markus gewichen. Es handelt sich dabei um eine Theologie, die ihre Aussagen mit den Mitteln des Erzählens vorbringt. Zahlreiche Spezialstudien folgen dem Paradigma des Erzählers Markus, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Es finden sich explizit narrativ-theologische (du Toit), narrativ-rezeptionsästhetische (Rose) und narrativ-kulturwissenschaftliche Interpretationen (Hübenthal).12 Das Markusevangelium wird in diesen Arbeiten als theologisch-narrative Reflexion auf eine Krisenerfahrung verstanden, durch die die markinische Gemeinschaft zu einer „Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft“ geformt werde.13 Einen wichtigen Hinweis darauf, wie sein Evangelium gelesen werden soll, gibt der Autor des Evangeliums durch das Signalwort „plötzlich“ (gr. euthys; εὐθύς).14 In deutschen Übersetzungen geht die Wirkung dieser Partikel dadurch verloren, dass mehrere verschiedene deutsche Äquivalente gewählt werden wie „alsbald“, „sogleich“ usw. Mit euthys erweckt der Autor den Eindruck einer schnellen Szenenfolge. Damit lässt sich keine plausible zeitliche Strukturierung der Erzählung erreichen, aber das Wort ist ein „Signal für eine Schnittstelle zwischen zwei Einstellungen“, wie Zwick in Analogie zur Filmtechnik 12 Z. B. du Toit, Der abwesende Herr; Hübenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis; Rose, Theologie als Erzählung. 13 Hübenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 453. 14 Εὐθύς: Mk 1,10.12.18.20.21.23.28–30.42 f.; 2,8.12; 3,6; 4,5.15–17.29; 5,2.29 f.42; 6,25.27.45.50.54; 7,25; 8,10; 9,15.20.24; 10,52; 11,2 f.; 14,43.45.72; 15,1.
Markus, der Sammler
Signalwort
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Markusevangelium
erläutert.15 Der Leser soll bei seiner vorstellungsbildenden Lektüre immer wieder zu Einstellungswechseln angeregt werden. Das Markusevangelium besteht aus einfachen Kurzerzählungen, die in szenischer Folge aneinander gereiht sind, aber nicht wirklich einen chronologischen, geographischen oder logischen Fortschritt ergeben. Es handelt sich eher um die Abfolge einzelner Bilder, die durch kurze situative oder chronologische Bemerkungen, nicht aber durch die Mitwirkung an einem sich entwickelnden Handlungsstrang der Gesamtschrift aufeinander bezogen sind.
Der Autor erfüllt mit diesem Episodenstil die Erwartungen, die an eine antike Biographie gestellt werden. Plutarch (ca. 45–120 n. Chr.), einer der großen antiken Biographen, erläutert sein Verständnis dieser Textgattung im Eingang seiner Lebensbeschreibung Alexanders des Großen mit den folgenden Worten: Plut. Alex. 1: Denn ich schreibe keine Geschichte (gr. historia; ἱστορία), sondern Lebensbeschreibungen (gr. bios; βίος), weil in den bekanntesten Taten die Tugenden und Laster nicht immer offenbar sind, sondern die unscheinbare Tat, ein Ausspruch oder ein Scherz den Charakter (gr. ethos; ἦθος) oftmals deutlicher offenbaren als Schlachten mit Tausenden von Gefallenen, gewaltigste Rüstungsanstrengungen und Belagerungen von Städten.
Episodenstil
Die unscheinbare Tat, der Ausspruch oder der Scherz werden zu ausdrucksstarken Szenen geformt. In ihnen soll dargestellt werden, inwiefern die zentrale Figur einer Biographie die Forderungen des Sittengesetzes in seiner Lebensführung (Ethos) verwirklicht oder missachtet und in seinen Taten und Worten Tugend oder Laster hervorbringt.16 Im Markusevangelium tritt an die Stelle des antiken Sittengesetzes als Maßstab für die Bewertung einer biographischen Figur der Wille Gottes selbst. Die Abfolge der Szenen soll zum Ausdruck bringen, inwiefern die Lebensführung Jesu dem Willen des einen und einzigen Gottes in einer so unnachahmlichen Weise entspricht, dass er mit Recht als Messias, Sohn Gottes und Menschensohn gelten darf. Obwohl die einleitende Überschrift bereits Jesus als den Christus und Gottessohn bezeichnet, ist die Frage nach Jesus von Nazareth mit diesem Behauptungssatz noch nicht beantwortet. Die Antwort wird in sechs 15 Zwick, Montage im Markusevangelium, 573. 16 Vgl. Wördemann, Charakterbild im bíos nach Plutarch, 42–51.
Theologie als Biographie
christologischen Schlüsselszenen gegeben bzw. narrativ erörtert: 1. Taufe Jesu (1,9–11), 2. Messiasbekenntnis des Petrus (8,27–30), 3. Verklärung Jesu (9,2–10), 4. Prozess Jesu (14,55–64), 5. Kreuzigung (15,33–39), 6. Das leere Grab (16,1–8). Im Rahmen der Taufe durch Johannes verkündet eine Himmelsstimme: „Du bist mein geliebter Sohn“ (1,11). Im Messiasbekenntnis des Petrus heißt es: „Du bist der Christus“ (8,29). In der Verklärungsszene wird die Aussage aus der Taufszene erneut durch eine Himmelstimme vor Moses und Elia proklamiert: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (9,7). Im Rahmen des Prozesses Jesu vor dem Synhedrion werden drei Titel ausgesprochen. Der Hohepriester fragt: „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ (14,61), Jesus antwortet in Anlehnung an Dan 7,13: „Ich bin es. Ihr werden den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen sehen und mit den Wolken des Himmels kommen“ (14,62). Aus der Perspektive der Leser des Evangeliums wird im Prozess gegen Jesus auf paradoxe Weise das Bekenntnis der Gemeinde, dass Jesus Messias, Sohn Gottes und Menschensohn sei, gerichtlich bestätigt. Über diesen Höhepunkt der christologischen Begriffsbildung hinaus lenkt das Markusevangelium aber die Aufmerksamkeit der Leser in charakteristischer Weise auf das Kreuz. Im Rahmen der Kreuzigung werden die Dabeistehenden näher charakterisiert (15,29–39). Der Spott der Hohepriester formuliert erneut das Bekenntnis der Gemeinde: „Der Messias, der König Israel steige nun vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben werden“ (15,32). Die Szene schließt mit dem Wort eines „Zenturios“ (gr. kenturion; κεντυρίων). Der nichtjüdische Hauptmann der römischen Armee spricht ebenfalls das Bekenntnis der Gemeinde aus: „Wahrhaft, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (15,39). Diese Hervorhebung der Kreuzigung wird dann in der letzten Szene des Evangeliums aufgenommen. Im leeren Grab (16,1–8) ist ein in weiß gekleideter Jüngling, der durch diese Farbe als dem Himmel zugehörig dargestellt wird und als ein Engel gelten kann. Er sagt: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier“ (16,6). In diesen Schlüsselszenen werden die zentralen christologischen Aussagen jeweils in einer bestimmten Hinsicht, durch bewusst ausgewählte Sprecher und vor einer reflektiert konstruierten Zuhörerschaft, profiliert. Die christologischen Hoheitstitel sind für den Autor selbst nicht umstritten. Er weiß aber um die Konflikte, die sie auslösen, und bringt diese in seinem Evangelium zur Sprache. Obwohl also im begrifflich-logischen Satz in der Form Subjekt (Dieser), Kopula (ist), Prädikat (der Sohn Gottes) alles über Jesus von Nazareth gesagt zu sein scheint, wird in den Erzählungen jeweils neu und aus verschiedenen Perspektiven der Blick der Leser auf diesen Jesus gelenkt. Es ist aber kein einfacher Blick, der sich im ober-
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sechs Schlüsselszenen
Hauptmann am Kreuz
Perspektivwechsel
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Markusevangelium
der Herr/Kyrios
flächlichen Bild der Szenen erschöpfen könnte. Die einzelnen Episoden fordern den Leser heraus, die begriffliche Eindeutigkeit der Titel Christus oder Sohn Gottes in Frage zu stellen. Nach der Taufe wird von der Versuchung durch den Satan berich tet (1,12 f.), nach dem Christusbekenntnis des Petrus wird Petrus als Satan bezeichnet (8,33), die Verklärung endet mit dem Befehl, niemandem davon zu erzählen (9,9), der Prozess Jesu führt zu Folter und Tod, die am Kreuz Versammelten spotten seiner (15,29–32), das Bekenntnis des Hauptmanns erfolgt nach dem Kreuzestod. Schließlich bleibt der Schluss des Evangeliums in 16,8 – der sogenannte lange Markusschluss in 16,9–20 ist sekundär ergänzt – merkwürdig offen. Die Frauen entdecken das leere Grab, hören die Botschaft, dass der Gekreuzigte auferstanden sei, sie reagieren aber verschreckt (16,8). Auf der narrativen Ebene werden die Schlüsselszenen mit ihren begrifflich gefassten Bekenntnissen immer wieder relativiert. Sie gelten dem Evangelienverfasser als nicht ausreichend für das Verständnis Jesu. Diese Sicht ist wohl auch der innere Antrieb, überhaupt eine Jesuserzählung zu schreiben: Das Bekenntnis genügt nicht. Die begriffliche Aussage „Jesus Christus ist der Kyrios“ (Phil 2,11) bedarf der Ausführung durch narrative Texte, um in ihrem Spannungsreichtum und ihrer Lebendigkeit verstanden werden zu können. Der innere Gehalt des Bekenntnisses wird literarisch an das Leben Jesu von Nazareth zurückgebunden und in Schlüsselszenen entfaltet. Bereits Bultmann hat diesen Sachverhalt im Rahmen der hermeneutischen Voraussetzungen seiner Zeit erkannt und ausgesprochen: „Eben damit ist die Absicht des Verfassers (des Mk) bezeichnet: die Vereinigung des hellenistischen Kerygma von Christus, dessen wesentlicher Inhalt der Christusmythos ist, wie wir ihn aus Paulus kennen (bes. Phil 2,6 ff.; Röm 3,24), mit der Tradition über die Geschichte Jesu.“17
Kreuz und Auferstehung
Die Ausrichtung der markinischen Jesuserzählung auf Leiden und Kreuz wie die Aussage, dass es nach Mk 16,6 ausdrücklich der „Gekreuzigte“ (gr. estauromenos; ἐσταυρωμένος) ist, der auferstanden sei, verbindet die Theologie des Markus mit der des Paulus. Bultmann hat aber nicht gesehen, dass die Verbindung des Bekenntnisses zu Kreuz und Auferstehung Jesu mit der Überlieferung von Jesu Wirken in Galiläa und Judäa selbst einem theologischen Interesse folgt. Es werden eben nicht nur Bekenntnis und geschichtliche Jesustradition verbunden, sondern vor allem wird das begrifflich gefasste Bekenntnis narrativ entfaltet, um die inneren Spannungen der Jesustradition thematisieren zu können, 17 Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 372–373.
Theologie als Biographie
die mit dem, was Bultmann „Christusmythos“ nennt, nicht beantwortet sind. Diese inneren Spannungen bestehen u. a. in dem unvereinbar erscheinenden Gegensatz zwischen der hoheitlichen Christustitulatur, die von der Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes als machtvollem Kyrios spricht, und der Verfolgungssituation der markinischen Gemeinde, zwischen dem Evangeliumsanspruch des Christusgeschehens und dem Evangeliumsanspruch der politischen Propaganda Roms, zwischen der Proklamation der Gottessohnschaft Jesu durch Gott selbst und der Zurückweisung der Wahrheit dieser Proklamation durch den größten Teil des Judentums. Markus entscheidet sich dafür, diese und andere innere Gegensätze im Modus der Evangelienerzählung zu reflektieren. Er greift auf die Erzählung zurück, weil es dieser Sprachform gelingt, Gegensätze in einer gemeinsamen Welt auftreten zu lassen, ohne dazu gezwungen zu sein, diese Gegensätze in einem argumentativen Verfahren aufzulösen oder einen der Spannungspole auszuschließen. Dalferth charakterisiert die der Erzählung eigenen Sinndimensionen: „Während sich begriffliches Denken in diskursivem Nacheinander und alternativen Argumentationen bewegt, vermag narratives Darstellen seine Text-Welt durch das kopräsente Beieinander solcher Gegensätze und ihre Kombination zu semantischen Kontrasten eines einheitlichen Sinnzusammenhangs zu strukturieren.“18
Das Markusevangelium verbindet also nicht einfach das Bekenntnis der Gemeinde mit einigen biographischen Erinnerungen an Jesus von Nazareth, sondern bringt in der Erzählung die Spannungsmomente des christlichen Bekenntnisses zur Erscheinung. Es konzentriert sich dabei ganz auf den irdischen und geschichtlichen Jesus und verzichtet auf eine allzu deutliche Darstellung seiner Göttlichkeit. Die innertextlich von den Jüngern nach der Sturmstillung gestellte Frage aus Mk 4,41: „Wer ist dieser?“ ist zugleich die Frage, die das Evangelium seinen Lesern beantworten möchte.
Bekenntnis
Das Markusevangelium verknüpft das Christusereignis in Kreuz und Auferstehung mit dem Leben Jesu und erschafft dadurch die Evangelienschrift, eine Gattung sui generis. Seine Theologie kann weder aus einzelnen begrifflichen und bekenntnisartigen Äußerungen noch durch die Erhellung der religionsgeschichtlichen Herkunft der sogenannten Hoheitstitel erschlossen werden. Es ist vielmehr die Interpretation der narrativen Gestaltung des Textes, die das Verständnis der Theologie des Markus ermöglicht. 18 Dalferth, Gott, 242.
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Markusevangelium
8.3 Narrative Theologie des Markus
szenische Gestaltung
Markus verfasste eine Biographie Jesu, um damit theologische Aussagen über Gott und den vom diesem als Messias und Sohn Gottes beauftragten Jesus von Nazareth zu machen. In den genannten sechs christologischen Schlüsselszenen werden jeweils definierende Sätze über Jesus formuliert, die ihn als Messias, Sohn Gottes und Menschensohn identifizieren. Diese Identifikationen werden in literarischen Szenen ausgeführt. Sie sind Teil konfliktreicher, mehrdimensionaler und kontroverser Gesprächssituationen. Ihre Sprecher sind neben Jesus selbst sowohl Unterstützer (Himmelsstimme, Petrus) als auch Gegner Jesu (Hohepriester, Schriftgelehrte, römischer Hauptmann). Die Grenzziehungen zwischen diesen beiden Gruppen sind allerdings fließend. Auch Petrus wird zurückgewiesen, während der Hauptmann, der an Jesu Hinrichtung beteiligt war, ausspricht, was das Evangelium als Ganzes mitteilen möchte. Diese Ambivalenzen führt das Evangelium sowohl in seinen Figurenkonstellationen als auch in seinen Erzählstrategien weiter aus. Das Messiasgeheimnis ist eine dieser Erzählstrategien, daneben sind weitere retardierende Erzählelemente zu berücksichtigen, die die Botschaft des Evangeliums von der Präsenz des Heilswillens Gottes im Leben Jesu eindrucksvoll in eine erzählte Welt voller Spannungen und Widersprüche stellt. 8.3.1 Figurenkonstellationen
Frauen
Bei den narrativ bewusst gestalteten Figurenkonstellationen sollen im Folgenden drei markante Beispiele näher analysiert werden: die Frauen, die Jünger und Gott. Frauen spielen im Markusevangelium eine besondere Rolle. Die Frauen am Grab stehen am Ende des Evangeliums und haben den Auftrag, die Ankündigung der Erscheinung Jesu in Galiläa an die Jünger weiterzugeben (Mk 16,6 f.). Es wird allerdings nicht erzählt, ob und wie die Frauen dies ausgeführt haben. Sie sind dennoch die Hauptfiguren des offenen Schlusses und ziehen die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Schottroff und Schüssler Fiorenza haben mit unterschiedlichen Akzentsetzungen auf die tragende Rolle der Frauenfiguren für die Passionserzählung des Markus verwiesen. Schottroff rekonstruiert die vormarkinische Überlieferung und schließt auf den historischen Sachverhalt, „dass eine Gruppe von galiläischen Frauen nach dem Tode Jesu in Jerusalem entscheidende Schritte getan hat, die zur Wiederherstellung der durch die Hinrichtung Jesu aufgelösten Jesusbewegung in Galiläa führten“.19 Schüss19 Schottroff, Maria Magdalena, 158.
Narrative Theologie
ler Fiorenza hingegen interpretiert die Aussagen über die Frauen in der Nachfolge auf der literarischen Ebene und sieht sie im Markusevangelium als „Paradigmen wahrer Nachfolge“, die einen Kontrast zu den „eher kritisch und beinahe negativ“ dargestellten Jüngern bildeten.20 Die „Frau“, die Jesus das Haupt mit kostbarem Nardenöl salbt (14,3–9), wird von Jesus gegen Anfeindungen geschützt, indem er darauf verweist, sie habe ihn „zum Begräbnis“ gesalbt (14,8). Diese Aussage verweist auf die unausgeführte Absicht der Frauen, die am Ostermorgen zum Grab gehen, um den Leichnam Jesu zu salben (16,1). Die Erwähnungen der Salbungen bilden eine Klammer (Inklusion) um die Passionsgeschichte. Die Jünger fliehen alle (14,50–52). Das erzählerische Moment der Jüngerflucht wird noch dadurch hervorgehoben, dass die Flucht des letzten Jüngers anstößig und anschaulich zugleich geschildert wird: „Er aber ließ sein Untergewand fahren und floh nackt“ (14,52). Die Berichte vom Verrat des Judas und der Verleugnung des Petrus unterstreichen ebenfalls das Versagen der Jünger. Die Frauen hingegen beobachten die Kreuzigung und werden in einer auffällig ausführlichen Notiz, die zudem auf das gesamte Wirken von Frauen in der Nachfolge von Galiläa nach Jerusalem zurückblickt, aufgelistet (15,40 f.). Zwei aus diesem Kreis der Frauen werden namentlich als diejenigen genannt, die den Ort der Grablegung beobachtet hätten (15,47). Nur so war es möglich, dass die Frauen am Ostermorgen den Ort kannten, an dem sie den Leichnam Jesu auffinden wollten (16,1). Diese Frauen erhalten dann von dem weißgekleideten Jüngling am Grab die Anweisung, den Jüngern und Petrus mitzuteilen, dass Jesus ihnen in Galiläa erscheinen werde (16,7). Es sind demnach die Frauen, die der Passionsgeschichte erzählerische Plausibilität verleihen. Sie bilden einen Kontrast zum Verhalten der Jünger, besonders des Judas und des Petrus. Die auffällig detaillierten Nennungen von Namen einiger Frauen erwecken den Eindruck von Authentizität. Sie bestätigen die Ergebnisse der Analyse Schottroffs, dass sich hinter Frauen wie „Maria, die Mutter des kleinen Jakobus und des Joses,“ (15,40) nicht nur erzählerische Gestaltung, sondern auch historische Erinnerung verbirgt. Diese Frauen waren für die Nachfolgegemeinschaft historisch wichtig und werden von Markus literarisch in dieser Rolle dargestellt. An eine geschlechtlich definierte Höherwertung der Frau an sich oder gar an eine grundsätzliche Patriarchatskritik ist nicht gedacht, wenn Frauen diese besondere Rolle übernehmen. Das zeigen die nicht wenigen verstörenden Frauenfiguren, von denen das Markusevangelium auch berichtet: Herodias und deren Tochter, die gemeinsam für 20 Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, 384–393, Zitate 388 u. 393.
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am leeren Grab
Patriarchatskritik?
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Markusevangelium
den Tod des Täufers verantwortlich gemacht werden (6,17–29), die Syrophönizierin, die Jesus mutig widerspricht, sich ihm aber auch bescheiden unterordnet (7,24–30), oder die Sklavin, die Petrus in Lebensgefahr bringt, indem sie ihn im Hof der Residenz des Hohepriesters zur Rede stellt (14,66–72).21 Es ist gerade diese Spannung zwischen den eher negativ bewerteten und den eher positiv dargestellten Frauenfiguren, die eine Identifikation der Leserinnen mit den Frauen in der Kreuzes- und Leidensnachfolge ermöglicht. Auch die Hörerinnen und Leserinnen des Markusevangeliums schwanken zwischen Rückzug, Unsichtbarkeit oder gar Gegnerschaft einerseits und Nachfolge und Verkündigung andererseits.
die Jünger
Auch die Jünger werden als Identifikationsfiguren präsentiert. Es findet sich eine Reihe positiver Erwähnungen: die Jüngerberufung (1,16–20), die Jüngerbelehrungen (z. B. 4,34), der bei Markus hervorgehobene Zwölferkreis (3,16–18; 4,10; 6,7; 9,35; 10,32; 11,11; 14,17) und schließlich ein engster Kreis von drei bzw. vier Jüngern um Jesus, meist Petrus und die Zebedaiden Jakobus und Johannes, manchmal ergänzt um Andreas, den Bruder des Petrus (1,29; 5,37; 9,2; 13,3; 14,33). Dieser offensichtlichen Nähe der Jünger in der Nachfolgegemeinschaft um Jesus, die sich zudem in konzentrischen Kreisen der Vertrautheit zu einer geradezu esoterischen Gemeinschaft im Gegensatz zu „denen draußen“ (4,11) verdichtet, stehen die gegenläufigen Momente des Verrats durch Judas, „einen der Zwölf “ (14,10.20.43), und der Verleugnung Jesu durch Petrus (14,71) ebenso wie die bereits erwähnte vollständige Flucht aller Jünger entgegen (14,50–52). Sowohl der Verrat des Judas als auch die Verleugnung des Petrus werden durch die Aufteilung in Ankündigung (14,10 f.26–31) und Geschehen (14,43–52.66–72) zu erzählerischen Klammern, die der Passionsgeschichte gemeinsam mit der Inklusion, die durch die salbende Frau und die Frauen am Grab hergestellt wird, ihre Geschlossenheit verleihen. Gleichzeitig reflektieren sich in diesen Erzählfiguren Gemeindeerfahrungen mit Verrat, der mit Tod und Ausschluss verbunden wird, und Verleugnung, die die Möglichkeit zur Reintegration in die Gemeinde offen lässt. Es ist durchaus bemerkenswert, dass die Evangelienüberlieferung der dunklen Figur des Judas nicht einfach eine helle Figur des Petrus entgegenstellt, sondern auch Petrus als einen Menschen zeichnet, der den Herausforderungen, die das Bekenntnis zu Jesus mit sich bringt, nicht gewachsen ist. 21 Dannemann, Frauen im Markusevangelium, 75 f.
Narrative Theologie
Neben diesen facettenreichen und zur Auseinandersetzung einladenden Erzählfiguren ist eine weitere zu erwähnen, die als Teil der narrativen Komposition des Markusevangeliums oftmals übersehen wird: Gott. Er ist auf eine andere Weise als die bereits genannten Erzählfiguren präsent. Seine Transzendenz wird gewahrt und doch ist auch Gott unter dem Aspekt der Erzähltechnik eine Figur dieser Schrift. Bevor allerdings die narrativen Aspekte der markinischen Gottesvorstellung näher analysiert werden können, müssen auch in diesem Fall zunächst einige explizite Aussagen über Gott, die das Markusevangelium enthält, reflektiert werden. Hahn erläutert das Gottesbild des Markusevangeliums nur knapp: „Der Evangelist entfaltet keine ausführliche Gotteslehre. Er setzt den Glauben an den einen Gott im Sinn des Alten Testaments voraus.“22 Dieser Satz ist so richtig wie unspezifisch und gilt letztlich für jede neutestamentliche Schrift gleichermaßen. Natürlich findet sich bei Markus keine Gotteslehre im Sinne einer dogmatischen Abhandlung und ebenso selbstverständlich wird der Glaube an den einen und einzigen Gott vorausgesetzt. Die Hinwendung zur narrativen Interpretation öffnet auch den Blick für die Art und Weise, in der Gott in die markinische Jesuserzählung integriert wird. Guttenberger hat darauf aufmerksam gemacht, dass die ältere Forschung die Evangelien einseitig nach ihren Aussagen über Jesus als den Sohn Gottes befragt und die Bedeutung des Gottesverständnisses für das Verständnis der Evangelien nur wenig berücksichtigt hat.23 Der Forschungsstand hat sich inzwischen deutlich verändert. Dechow betont den Vorrang der wirklichkeitsbestimmenden Macht Gottes vor Jesu Verkündigung der Königsherrschaft: „Nicht exklusiv das Wirken Jesu bringt diese neue Wirklichkeit, sondern umgekehrt ermöglicht Gottes Wirklichkeit dieses Wirken Jesu und aller Glaubenden.“24 Auch Räisänen hält fest, dass im Markusevangelium „Jesus seine Würde voll und ganz der Macht Gottes verdankt, die den Tod überwindet.“25 Allerdings ist das Gottesbild des Markusevangeliums nicht auf eine Formel zu reduzieren, wie das Guttenberger tut, wenn sie festhält, dass sich Gott „der Herrscher der Welt als Herr des Lebens“ und „der Lenker der Geschichte als der gute Gott ausweist“.26 Tatsächlich antwortet Jesus auf die Anrede als „guter Lehrer“ mit der Zurückweisung, dass „allein Gott gut“ sei (10,17 f.), aber 22 Hahn, Theologie 1, 496. 23 Guttenberger, Gottesvorstellung, 5. 24 Dechow, Gottessohn, 293. 25 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 206. 26 Guttenberger, Gottesvorstellung, 344 f.
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Gott
Gottesvorstellung
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Markusevangelium
die Schrift
Ausführungen zur Liebe, Barmherzigkeit und Gnade Gottes fehlen im Markusevangelium. Gott wird zwar viermal als Vater bezeichnet (8,38; 11,25; 13,32; 14,36), die Anrede wird aber nur an einer Stelle mit einem Possessivpronomen wie „unser“, „euer“ oder „mein“ in eine besondere Beziehung zu den Menschen gesetzt (11,25). Darin unterscheidet sich das Gottesverständnis des Markusevangeliums deutlich von dem der Logienquelle und dem der beiden anderen synoptischen Evangelien. Aufschlussreich für das Gottesverständnis ist zunächst die Rezeption des Alten Testaments. Mk 12,26 zitiert die Offenbarung des Gottesnamens nach Ex 3,6 und Mk 12,29 f. das Schema Israel nach Dtn 6,4 f. Es werden also zwei für das biblische Gottesverständnis zentrale Texte herangezogen. Im Gespräch über das höchste Gebot stimmen der Schriftgelehrte und Jesus darin überein, dass das Schema Israel, das Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott (gr. heis theos; εἷς θεός), in seiner Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 den Kern der zeitgenössischen jüdischen Frömmigkeit als Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe darstellt. Die Befolgung dieses Doppelgebots führt in die Nähe des Reiches Gottes, wie Jesus dem Schriftgelehrten bestätigt (12,34). In Mk 12,11 wird Ps 118,22 f. und in Mk 12,36 f. Ps 110,1 zitiert. Nach Ps 118,22 f. ist das im Gleichnis von den bösen Winzern abgebildete Schicksal Jesu von Gott her bestimmt und die Interpretation von Ps 110,1 stellt heraus, dass es bei Gott, dem „Herrn“ (gr. kyrios; κύριος), einen weiteren „Herrn“ „zu seiner Rechten“ gibt. Jesus ist der von der Führung Israels verworfene, aber von Gott ausersehene „Eckstein“ (Ps 118,22 f.). Er ist zur Rechten Gottes und hat Anteil an der Macht Gottes (Ps 110,1). Während Mk 12 das Verhältnis von Gott und Jesus bestimmt, bricht in Mk 13 das machtvolle Wesen Gottes als Schöpfer und Richter seiner Welt durch. In der Rede Jesu wird die Endzeit in Anlehnung an Dan 12,1 im Kontrast zur Erschaffung der Welt geschildert: Mk 13,19 f.: Denn es werden jene Tage eine Bedrängnis sein, wie eine solche nicht von Anbeginn der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, bis in die Gegenwart nicht gewesen ist und nicht sein wird. 20 Und wenn nicht der Herr die Tage verkürzt hätte, würde kein Fleisch gerettet werden. Doch um der Auserwählten willen, die er auserwählt hat, hat er die Tage verkürzt.
Apokalyptik
In diesen Worten wird die uranfängliche Schöpfermacht Gottes mit der Gewalt seines endzeitlichen Eingreifens gleich gesetzt. Die Schöpfung begründet den Rechtsanspruch Gottes über die Welt und „alles Fleisch“, womit alle Kreatur gemeint ist (vgl. Ps 145,21 u. ö.). Der von
Narrative Theologie
Gott gesetzte Anfang fordert auch ein Ende. Das sind die Tage der Endzeit, die Bedrängnis und das Gericht. In diesen Worten dringt ein apokalyptisches Gottesverständnis durch: Der in seinem Recht verletzte Schöpfer wird die Schöpfung mit großer Macht vernichten. Im endzeitlichen Zerstörungsprozess aber werden die Auserwählten, die um das Recht Gottes wissen und es achten, gerettet. Dieses machtvolle Gottesbild bewirkt die Zurückhaltung, die die narrativen Passagen Gott gegenüber an den Tag legen. Es setzt die Transzendenz und die Freiheit Gottes gegenüber seiner Schöpfung voraus, die ihn dazu in den Stand versetzt, Neues zu schaffen, wie es „bis in die Gegenwart nicht gewesen ist und nicht sein wird“ (Mk 13,19). Im Markusevangelium wird die Transzendenz Gottes einerseits gewahrt, andererseits durch die Vermittlung einer Himmelsstimme überwunden. In der Taufe (1,9–11) und der Verklärung Jesu (9,2–8) ertönt „eine Stimme aus dem Himmel“ bzw. „aus der Wolke“. Durch sie greift Gott in die Szene ein und erklärt Jesus zu seinem „geliebten Sohn“. Damit wird Gott Teil der narrativen Konstruktion des Markusevangeliums.27 Neben diesen Szenen der Nähe Gottes zu Jesus wird auch von deren Gefährdung gesprochen. In der Gethsemaneszene stimmt Jesus in den Willen Gottes ein (14,36). Im Rahmen des Prozesses wird Jesus vom Hohepriester gefragt (14,61): „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“. Die Frage führt Jesus in den Konflikt zwischen Wahrheit, die zur Verurteilung führt, und Leugnung, die das Überleben ermöglichen würde. Seine Antwort ist eindeutig und überwindet die Gefährdung der Nähe Gottes: „Ich bin es“ (14,62). Mk 15,34 berichtet, Jesus habe am Kreuz mit gewaltiger Stimme ausgerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ (Ps 22,2). Jesus selbst bringt durch diese Worte die Distanz zu Gott zur Sprache.28 Viele Exegeten haben aus diesen Worten auf eine absolute und unaufhebbare Gottesferne geschlossen. Andererseits handelt es sich um ein Psalmwort, die Anfangszeile von Ps 22. Die erste Zeile eines Psalms wurde zugleich als Zitat des gesamten Psalms verwendet.29 In Psalm 22 kommt es bekanntlich in V. 22 f. zur Wende. Der Beter erklärt in V. 25: „Als er zu ihm schrie, hat er ihn erhört!“
27 Bosenius, Literarischer Raum, 21–90. 28 Blumenthal, Gott im Markusevangelium, 144–156. 29 So wird z. B. Ps 145 im Talmud mit seinen ersten beiden Worten „Loblied Davids“ zitiert. Sein Rezitieren hat soteriologische Funktion, bBer 4b (Übers. Goldschmidt): „R. Eleazar sagte im Namen R. Abinas: Jeder der dreimal täglich (den Psalm) „Loblied Davids“ liest, sei dessen sicher, dass er ein Kind der zukünftigen Welt (d. i. das Himmelreich) ist.“
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Tanszendenz Gottes
Prozess Jesu
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Markusevangelium
Wort am Kreuz
Will Mk 15,34 andeuten, Jesus habe den ganzen Psalm gesprochen und damit sein Vertrauen in Gottes Eingreifen zum Ausdruck gebracht? Die schrecklichen körperlichen Folgen dieser Hinrichtungsart lassen es als wenig wahrscheinlich erscheinen, dass ein Gekreuzigter in der Lage war, laut und artikuliert zu sprechen, geschweige denn einen ganzen Psalm zu rezitieren.30 Wie stellt sich das Markusevangelium die Szene vor? Es berichtet von einer Wende, und zwar von einer Wende in der Wahrnehmung des Gekreuzigten von den Spöttern (15,35 f.) hin zum Bekenntnis des nichtjüdischen Hauptmanns zur Gottessohnschaft Jesu (15,39). Ps 22 gibt demnach die narrative Struktur der Kreuzesszene vor, die von der Überwindung der Gottesferne unter Wahrung der Transzendenz Gottes berichtet. In Weiterführung dieses Gottesverständnisses wird dann auch in der Schlussszene des Evangeliums festgehalten, dass der Gekreuzigte „auferweckt worden ist“ (16,6). Das Subjekt der passivischen Wendung bleibt ungenannt, aber es ist als passivum divinum zu verstehen.31
Im Markusevangelium ist Gott der eine Gott und der machtvolle Schöpfer. Er ist derjenige, der die Welt durch seinen Sohn zur Verantwortung ruft. Die Kreuzigung kündigt die Wende im Schicksal Jesu an, die Gott bewirkt, indem er ihn aus dem Tod ins Leben erweckt.
8.3.2 Retardierende Erzählmotive
Messiasgeheimnis
Im Markusevangelium begegenen immer wieder Erzählmotive, die die Entfaltung der Narration hemmen und den Leser zur Reflexion zwingen. Zu nennen sind vor allem die Leidensankündigungen, die Schweigegebote, die Parabeltheorie und das Jüngerunverständnis. In ihrer Gesamtheit verstärken sie den Eindruck, dass das Markusevangelium eine geheimnisvolle Botschaft hat. Die auffällige Ambivalenz zwischen Hoheitsaussagen über Jesus und deren Verhüllung in der markinischen Jesusdarstellung hat als erster William Wrede (1859–1906) im ausgehenden 19. Jahrhundert untersucht. Einerseits wird Jesus von Anfang an als Sohn Gottes und Messias vorgestellt, andererseits werden öffentliche Aussagen zur besonderen Stellung Jesu unterdrückt. Die Dämonen und „unreinen Geister“ nennen ihn „Heiliger Gottes“ (1,24), „Sohn Gottes“ (3,11) und „Sohn des Höchsten“ (5,7). Sie werden aber im Zuge der Exorzismen zum Verstummen gebracht und gemeinsam mit den Umstehenden 30 Cook, Crucifixion, 448. 31 Bosenius, Literarischer Raum, 89.
Narrative Theologie
durch ein ausdrückliches Schweigegebot (3,12; vgl. 1,44 f.) zurückgewiesen. Die Jünger hingegen erfahren von Jesus nicht, wer er ist, und erhalten keine direkte Antwort auf die Frage „Wer ist dieser?“ (4,41). Als Petrus bekennt: „Du bist der Christus/Messias!“, fordert Jesus von ihm und den anderen Jüngern, dass sie „niemandem etwas über ihn sagen sollen“ (8,29 f.). Wrede begründete diese richtig beobachtete Ambivalenz mit einer etwas abenteuerlichen historischen Theorie: Die Jünger hätten die Erfahrung, dass ihre Behauptung, Jesus sei der Messias, von Israel abgelehnt worden sei, in ihre Jesuserzählung rückprojiziert. Sie wollten damit den Eindruck erwecken, dass die Ablehnung von Jesus selbst intendiert gewesen sei. Tatsächlich habe sich Jesus gar nicht als Messias ausgegeben.32 Die Jünger stellten Jesus als geheimnisvoll und seine Messianität als verborgen dar, um den Misserfolg ihrer Verkündigung damit zu erklären, dass es der Absicht Jesu entspreche, seine Zuhörer zu verstocken. Diese historistische Erklärung greift einerseits viel zu kurz, weil sie die literarische und narrative Bedeutung des sogenannten Messiasgeheimnisses nicht beachtet, und andererseits zu weit, weil sie eine spekulative historische Erklärung ohne Quellenbeleg vorschlägt. In der Forschung nach Wrede wurde mehr Aufmerksamkeit auf das schrittweise Offenbarwerden der Messianität Jesu im Evangelium gelegt. Vielhauer sah hinter dem Erzählverlauf des Evangeliums ein altorientalisches Königsritual, das die Inthronisation des Königs in den Schritten Adoption, Proklamation und Akklamation vollziehe.33 Markus nehme dieses Formular auf und berichte von drei christologischen Höhepunkten. Die Taufe stelle die Adoption des Königs als Gottessohn durch Gott dar (1,9–11). Die Verklärungsszene vor Moses und Elia sei die Proklamation der Gottessohnschaft (9,7). Das Bekenntnis durch den Hauptmann unter dem Kreuz trete an die Stelle der Akklamation durch das Volk (15,39). Insgesamt werde im Markusevangelium die dreistufige Inthronisation Jesu zum Sohn Gottes erzählt. Dieser christologische Titel stehe demnach im Mittelpunkt und entspreche der Ansicht des Autors des Markusevangeliums über Jesus. Allerdings hat sich ein solches altorientalisches Königsritual nicht nachweisen lassen und die Unterscheidung der Szenen nach Adoption, Proklamation und Akklamation wirkt künstlich, da bei genauerer Betrachtung jeweils alle drei Elemente in jeder der drei herausgehobenen Szenen vorliegen. Vor allem die theologische Absicht, den Sohn-Gottes-Titel für das Markusevangelium als führend zu erweisen, 32 Wrede, Messiasgeheimnis, 228. 33 Vielhauer, Geschichte, 343–345.
Jüngertheorie
Sohn Gottes
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Markusevangelium
Tat Gottes
Leidensankündigungen
Schweigegebote
wird den übrigen Befunden am Markusevangelium, insbesondere seiner narrativen Gestaltung, nicht gerecht. Vielhauer hat aber richtig gesehen, dass die Erkenntnis Jesu im Markusevangelium selbst schrittweise mit dem Fortgang des Evangeliums verbunden ist. Erst vom Ende des Evangeliums her wird sich der Leser in Kenntnis der gesamten Jesusgeschichte zu diesem Jesus von Nazareth als Sohn Gottes, Menschensohn und Messias bekennen können. Eine theologische Gesamtdeutung des Markusevangeliums sollte möglichst viele der zahlreichen narrativen Elemente des Textes miteinbeziehen und sich nicht auf einige wenige vermeintlich prägnante Texte beschränken. Eine solche Gesamtdeutung der narrativen Theologie des Markusevangeliums soll im Folgenden skizziert werden. Jesus wird im Markusevangelium von Anfang an und unmissverständlich als Messias und Sohn Gottes bezeichnet (1,1.11). Der Höhepunkt der christologischen Aussage ist demnach vorweggenommen. Auf ihn folgen jedoch zahlreiche Ambivalenzen in der narrativen Gestaltung, die als retardierende Momente zu interpretieren sind. Sie zögern den Zielpunkt der Erzählung, die Proklamation von Kreuz und Auferstehung Jesu als Tat Gottes (15,39; 16,6), heraus und bereiten ihn zugleich vor. Sie haben die Aufgabe, deutlich zu machen, dass das Verständnis Jesu als Messias, Sohn Gottes, Menschensohn und Sohn Davids nur unter Einbeziehung von Kreuz und Auferstehung vollständig ist und dass die herkömmlichen, eher hoheitlichen Bedeutungen dieser Titel durch das Leiden und Sterben zu ergänzen und neu zu interpretieren sind. Als retardierende Momente sind zu nennen: 1. Die Leidensankündigungen (8,31; 9,31; 10,33 f.; vgl. auch 9,9–13), 2. das Schweigegebot (1,23–25; 1,34; 1,44 f.; 3,11 f.; 5,43; 7,36; 8,30; 9,9), 3. die Parabeltheorie (4,10–12; 4,33 f.; 7,14–18), 4. das Jüngerunverständnis (4,13; 4,40; 6,35–38; 6,49; 7,17 f.; 8,4; 8,17–21; 8,32 f.; 9,19; 10,13; 10,41–45; 14,4 f.; 14,29–31.37–41.50; 16,8). Die Leidensankündigungen thematisieren den ungewöhnlichen Sachverhalt, dass eine hoheitliche Person wie der Menschensohn leiden und sterben muss, und doch auferstehen wird. Die drei Leidensankündigungen sind sogenannte vaticinia ex eventu, Prophezeiungen nach Eintritt des prophezeiten Ereignisses, und setzen an der Stelle der markinischen Jesuserzählung ein, an der sich Jesus auf den Weg nach Jerusalem macht. So wird der Zug des Messias nach Jerusalem zu einem Weg in das Leiden und zum Kreuz. Jesus bewirkt Heilungen und Exorzismen, in deren Vollzug er immer wieder Schweigegebote ausspricht. Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen sind messianische Symbolhandlungen, die seine Verkündigung des Geheimnisses der Königsherrschaft Gottes
Narrative Theologie
begleiten. Oft aber gebietet Jesus den Dämonen, seinen Namen zu verschweigen, oder aber den Geheilten und Umherstehenden, seine Tat nicht bekannt zu machen, z. B. Mk 3,12: „Er bedrohte sie eindringlich, dass sie ihn nicht offenbar machen sollten.“ Besonders befremdlich sind Aussagen, in denen Jesus selbst die Verständlichkeit seiner Verkündigung durch eine Parabeltheorie in Frage stellt. Er spreche in Gleichnissen, um seine Botschaft zu verschlüsseln und ihr Verständnis ohne Belehrung durch ihn unmöglich zu machen. Die Gleichnisse sollen vielmehr „verstocken“, Umkehr und Sündenvergebung verhindern, wie er in Aufnahme von Jes 6,9 f. zum Ausdruck bringt:
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Parabeltheorie
Mk 4,10–12: Und als er allein war, fragten ihn, die mit den Zwölfen um ihn waren, nach den Gleichnissen. (11) Und er sagte ihnen: „Euch ist das Geheimnis der Königsherrschaft Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen mitgeteilt, (12) damit die Sehenden sehen und nicht wahrnehmen und die Hörenden hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.“
Die Gleichnisse werden nur dem engsten Jüngerkreis ausgelegt. Nur ihnen wird das Geheimnis von der unaufhaltsamen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes offenbart, das in den Gleichnissen verborgen ist. Das vierte retardierende Element ist das Jüngerunverständnis. Immer wieder wird berichtet, dass die Jünger die Intention Jesu missverstehen. Sie widersprechen ihm, geben bisweilen unverschämte Antworten oder stellen Fragen, die unangemessen sind und ihr Unverständnis offenlegen. Jesus spricht das aus, indem er sagt: „Seid auch ihr so unverständig?“ (7,18) oder „Begreift ihr noch nicht und versteht ihr nicht?“ (8,17). Nimmt man noch die erzählerischen Motive des Verrats des Judas, der Flucht der Jünger und schließlich der Verleugnung des Petrus hinzu, dann entsteht ein Bild der Jünger, das von Unverständnis und Versagen geprägt ist. Diese vier retardierenden Momente, formuliert vor dem Hintergrund einer expliziten hoheitlichen Christologie, sollen verdeutlichen, dass es zur Bedeutung Jesu als Repräsentant des Willens Gottes keinen unmittelbaren, spontanen Zugang gibt. Erst der Durchgang durch die Lebensgeschichte Jesu unter Einschluss von Leiden und Kreuz ermöglicht es, im Rückblick den besonderen Charakter seiner Messianität auch in den Heilungen, Exorzismen sowie in seiner Gleichnisverkündigung zu erfassen. Das Markusevangelium bindet die christologischen Hoheitsaussagen an die narrative Entfaltung der Biographie Jesu zurück.
Jüngerunverständnis
Leidensgeschichte
252
Markusevangelium
Das Markusevangelium erzählt eine Jesusgeschichte, die zwischen begrifflicher Definition – Jesus ist der Messias, der Sohn Gottes und der Menschensohn – und narrativer Unausdeutbarkeit schwankt. Es überlässt den christologischen Hoheitstiteln nicht die Führung, sondern interpretiert diese mit der Erzählung des Schicksals Jesu neu. Teil dieser Interpretation sind die retardierenden Momente, nach denen Jesus seinen Zuhörern und sogar den Jüngern so lange verborgen bleibt, wie sie die Passion und die aus ihr resultierende Leidensnachfolge nicht als Teil ihres Bekenntnisses zu Jesus als den Christus akzeptieren.
8.4 Theologisieren mit Markus
Distanz Gottes
Gleichnisse
Die Verborgenheit der hoheitlichen Funktionen Jesu, wie sie im Stichwort Messiageheimnis zusammengefasst sind, korrespondiert mit der betonten Transzendenz Gottes. Die Distanz Gottes zur Jesuserzählung und zur Welt, der Verzicht auf die Nennung der fürsorglichen Eigenschaften Gottes wie Liebe, Barmherzigkeit und Gnade und die Konzentration auf Gott als Schöpfer, der uranfänglich und endzeitlich handelt, nicht aber in der Gegenwart, sind die wichtigsten theologischen Kennzeichen des Markusevangeliums. Erst die Zukunft wird eine Klärung über das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch bringen. In der Zwischenzeit werden in der markinischen Erzählgemeinschaft Gleichnisse von der Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes erzählt (4,1–34), die in der (vor-)markinischen Gleichnissammlung zusammengestellt sind: Von Saat und Ernte bzw. vom viererlei Acker (4,3–8) und dessen paradigmatische Auslegung (4,13–20), von der selbstwachsenden Saat (4,26–29) und vom Senfkorn (4,30–32). Im Gleichnis vom „viererlei Acker“ zeigt sich, dass die Verkündigung der Königsherrschaft trotz Ablehnung und Misserfolg am Ende bei einem Teil („guter Boden“) überwältigenden Erfolg haben wird. Die „selbstwachsende Saat“ bringt zum Ausdruck, dass sich die Gottesherrschaft (Saat) trotz der Passivität des Menschen durchsetzt und in der Endzeit (zur Zeit der Ernte) ihren Erfolg unter Beweis stellt. Das „Senfkorn“ wiederum unterstreicht, dass trotz unscheinbarer Anfänge (Senfkorn) die Gottesherrschaft größer als alles andere, eine einladende Zuflucht und ein geradezu paradiesischer Schutzraum sein wird. Die Gemeinde weiß, dass die Gottesherrschaft „nahe“ ist. Sie „wacht“ und verkündigt das Evangelium, zu dem auch die Gleichnisse Jesu gehören, allen Völkern (13,10; 14,9).
Theologisieren mit Markus
Diese Gottesherrschaft identifiziert das Markusevangelium mit der Parusie Christi, ohne allerdings diesen Gedanken näher auszuführen und in Beziehung zu den in Mk 13 geäußerten endzeitlichen Erwartungen zu setzen. Dieses Kapitel nimmt eine Schlüsselstellung für das Verständnis der Theologie des gesamten Evangeliums ein. Die Wende zur narrativen Interpretation hat dazu geführt, dass die expliziten theologischen Aussagen dieses Kapitels oftmals nicht genügend berücksichtigt werden, weil sie nicht Teil des Handlungsablaufs der Jesuserzählung sind. Die expliziten Aussagen über Gott, Welt und Mensch im Markusevangelium sollten aber nicht unbeachtet bleiben, denn immerhin enthält Mk 13,5–37 die umfangreichste zusammenhängende Rede Jesu im ganzen Evangelium. Die narrative Einbettung der apokalyptischen Rede Jesu unterstreicht ihre herausgehobene Bedeutung. Die Zuhörerschaft besteht aus dem engsten Jüngerkreis, d. h. den beiden Brüderpaaren Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes (13,3). Die Aufforderung in V. 37 richtet sich aber ausdrücklich über den Jüngerkreis hinaus an „alle“, d. h. an die markinische Gemeinde: „Das, was ich euch sage, sage ich allen: Wachet!“. Mk 13 ist eine Reflexion der Gemeinde auf ihre gegenwärtige Situation, die sie nach du Toit als eine „Zwischenzeit“, die durch die „Abwesenheit“ des Herrn gekennzeichnet ist, interpretiert.34 Es ist eine Zeit der Gefährdung, die auf die Zeit Jesu als Heilszeit zurück- und auf die Parusie Jesu vorausblickt. Die Rede Jesu findet am dritten Tag des Aufenthalts Jesu in Jerusalem statt und folgt auf die Lehr- und Streitgespräche im Tempel (11,20–12,44). Jesus verlässt den Tempel, gelangt zum Ölberg und hält angeregt durch die Frage des Petrus, wann Jesu Ankündigung der Zerstörung des Tempels in Erfüllung gehen werde (13,2), die apokalyptische Rede. Nach dieser Rede beginnt mit 14,1 die in sich geschlossene Handlungsfolge der Passionsereignisse, die sich bis zum Ende des Evangeliums erstrecken. Der sich durchgehend wiederholende Aufmerksamkeitsruf (13,5.9.23.33) unterstreicht die Intensität der textpragmatischen Funktion der Rede. Was hier gesagt ist, gilt nicht nur für die erzählte Welt, sondern vor allem für die Adressaten des Markusevangeliums. Sie fragen nach dem „Ende“ (gr. telos; τέλος: 13,7.13; vgl. 13,4). Dieses wird durch die endzeitlichen schmerzhaften „Wehen“ eingeleitet, die das Auftreten von Irrlehrern, Kriege, Hungersnöte, Verfolgung der Gemeinde, Bedrängnisse und falsche Propheten und Messiasse umfasst (13,5–23). Schließlich werden sich an jenen Tagen Sonne und Mond verfinstern und Sterne vom Himmel herabstürzen. Darin 34 Du Toit, Der abwesende Herr, 113–229.
Endzeitrede
Zuhörer
Tempel
Ende/telos
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254
Markusevangelium
die Auserwählten
Erbarmen Gottes
Synergismus
zeigt sich die endzeitliche Macht des Schöpfers, der nun neu und wie noch nie zuvor handelt (13,19). Gott bleibt in diesem zentralen Kapitel auf Distanz zu seiner Schöpfung, die er einem umfassenden Vernichtungsgeschehen ausliefert. In diesen drangvollen Ereignissen hat sich eine Gruppe von Menschen zu bewähren, die als die „Auserwählten“ (gr. eklektoi; ἐκλεκτοί: 13,20.22.27) angesprochen werden. Sie sind Verfolgungen und Gerichtsverhandlungen ausgesetzt, bleiben aber nicht ohne Schutz, denn der „heilige Geist“ (gr. pneuma hagion; πνεῦμα ἅγιον) wird für sie sprechen (13,11). Sie sollen am Endzeitgeschehen durch die Verkündigung des Evangeliums mitwirken, denn „erst muss allen Völkern das Evangelium verkündet werden“ (13,10), bevor nämlich „jene Tage“ eintreten werden. In der Schilderung des endzeitlichen Geschehens liegt die ganze Konzentration auf diesen Auserwählten, das Ergehen der anderen wird nicht thematisiert. Am ehesten ist an deren Vernichtung zu denken, da nur von der Gruppe der Auserwählten explizit gesagt wird, dass sie „gerettet“ werden sollen (13,13). Diese Rettung wird durch den Menschensohn und seine Engel erfolgen. In paraphrasierender Aufnahme von Dan 7,13 in Mk 13,26 f. wird der Menschensohn als endzeitlicher Beauftragter (Mandatar) Gottes dargestellt, der die Auserwählten durch seine Engel sammelt (13,27).35 Die Konstellation ist somit deutlich: Der Schöpfer löst ein apokalyptisches Vernichtungsgeschehen aus, die Gemeinde bewährt sich in diesem durch die unerschrockene weltweite Evangeliumsverkündigung und wirkt daran mit, dass das „Ende“ kommen kann. Die Transzendenz Gottes wird durch die Mittler, den Menschensohn und seine Engel, überbrückt, nicht aber aufgehoben. Das Erbarmen Gottes beschränkt sich auf die Verkürzung der Tage der Bedrängnis, um den Auserwählten das Überleben zu ermöglichen (13,20). Gott allein kennt den Zeitpunkt des Endes. In der Rede selbst wird der Menschensohn nicht ausdrücklich mit Jesus identifiziert. Im Gesamtzusammenhang des Markusevangeliums wird aber deutlich, dass Jesus dieser kommende Menschensohn ist (8,34–38). Gott, Welt und Mensch sind in Mk 13 so aufeinander bezogen, dass dem Menschen ein bedeutender Anteil am Geschehen zukommt. In der Verfolgung bewährt sich die Gemeinde. Durch die Evangeliumsverkündigung wirkt sie am endzeitlichen Geschehen mit. In diesem synergistischen Modell der apokalyptischen Ereignisse steht der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens, obwohl er im Gegensatz zum Schöpfer und zum Menschensohn mit wenig Macht ausgestattet ist. Während aber Gott und der Menschensohn in ein apokalyptisches 35 Collins, Mark, 705.
Theologisieren mit Markus
255
Schema gezwängt bleiben, öffnet sich für die Gemeinde die Zeit der Evangeliumsverkündigung als ein Handlungsraum. Das Handeln der Jesusanhänger rückt in den Mittelpunkt, sodass Schöpfung und Evangeliumsverkündigung sich zu einem mächtigen Wirkzusammenhang verbinden. Unter diesem Gesichtspunkt bekommt auch die Überschrift in Mk 1,1 einen tieferen Sinn: Anfang des Evangeliums. Sie markiert weniger den faktischen Anfang einer Schrift als vielmehr den Beginn der endzeitlichen Geschehnisse, die durch die Handlungsgemeinschaft von Gott, Menschensohn, heiligem Geist und den Auserwählten der Gemeinde vollendet werden. Mk 13,5–37 enthält die umfangreichste zusammenhängende Rede Jesu des Markusvangeliums. In dieser Rede wird die Perspektive der markinischen Gemeinde fassbar: Die endzeitliche apokalyptische Gemeinschaft der „Auserwählten“ erfährt in der Gegenwart Verfolgungen, verkündet aber dennoch das Evangelium unter den nichtjüdischen Völkern und erwartet die Rettung durch Jesus, den Menschensohn, als Teil des endzeitlichen Eingreifens Gottes.
Angesichts dieser endzeitlichen Ausrichtung ist es naheliegend, dass auch Fragen der Lebensführung und der Ethik auf diese ausgerichtet sind. Tatsächlich werden Nachfolge und Verkündigung als Leidens- und Kreuzesnachfolge um des „Evangeliums“ willen verstanden (8,34 f.). Für das endzeitliche Geschehen ist vor allem die Treue zu Jesus und zu seinen Worten relevant. Der Menschensohn wird nur für diejenigen eintreten, die sich zu Jesus bekannt haben (8,38). Es werden im Markusevangelium jedoch auch einige explizit ethische Themen behandelt. Die Ausführungen dazu sind in 10,1–45 zusammengestellt und narrativ auf dem Weg nach Jerusalem positioniert. Der Umgang mit Ehe und Ehescheidung nimmt die älteste Jesusüberlieferung auf, nach der die Unauflösbarkeit der Ehe auf dem in Gen 2,24 festgehaltenen Schöpferwillen Gottes beruht (10,1–12). Das Markusevangelium geht allerdings in seiner Erörterung des Scheidungsverbots davon aus, dass auch Frauen das Recht haben sich scheiden zu lassen (10,11 f.). Nach jüdischem Recht ist nur der Ehemann zur Scheidung durch die Erstellung eines Scheidebriefs (hebr. get; גט: bGit 85b) berechtigt. Die Instruktionen für die Nachfolgegemeinschaft in Mk 10 spiegeln jedoch eine andere, die hellenistische Rechtspraxis, wider. Die Stellung von Kindern (10,13–16), der Umgang mit Besitz und Familie (10,17–31) und die Machtverteilung in der Nachfolgegemeinschaft (10,35–45) orientieren sich an der jesuanischen Verkündigung, die jeweils den Vorrang der Königsherrschaft Gottes vor anderen Bindungen heraus-
Leidensnachfolge
Ethik
256
Markusevangelium
Eigenschaften Gottes
Biographie Jesu
stellt. Die ethischen Aussagen des Markusevangeliums sind im Vergleich zu den anderen synoptischen Evangelien knapp. Die Ausführungen zum Doppelgebot der Liebe zeigen jedoch (12,28–34), dass das Markusevangelium die Grundlagen der jüdischen Ethik teilt. Im Zitat des Gebots der Gottesliebe wird im monotheistischen Bekenntnis Israels, dem Schema Israel (Dtn 6,4 f.), die erste Tafel des Dekalogs und im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) die zweite Tafel des Dekalogs zusammengefasst (vgl. Philo, Decal. 50 f.). Die Ethik bleibt aber in ihrer Bedeutung derjenigen des erwarteten apokalyptischen Geschehens nachgeordnet. Abschließend sollen diese Überlegungen zu Mk 13 mit denen zur narrativen Theologie der markinischen Jesuserzählung zu einer Skizze der Theologie des Evangeliums zusammengeführt werden. Das Markusevangelium hat ein Gottesverständnis, das die Transzendenz Gottes und seine Distanz zur Welt hervorhebt. Die göttlichen Eigenschaften der Fürsorge und Zuwendung, wie sie im Bekenntnis zum Verschonungswillen Gottes (Ex 34,6; Ps 145,8) festgehalten sind, finden im Markusevangelium keine Beachtung. Der distanzierte Gott bedarf der Vermittlung. In den Schlüsselszenen übernimmt diese Vermittlung eine „Stimme vom Himmel/aus der Wolke“ (1,11; 9,7), im endzeitlichen Geschehen tritt der Menschensohn mit den Engeln als Beauftragter Gottes auf. Gott ist der Schöpfer, der im endzeitlichen Geschehen mit einer noch nicht dagewesenen Energie erneut an der Welt wirkt. Aus diesem endzeitlichen Geschehen, dem telos, Ende, rettet der Menschensohn die „Auserwählten“ (13,13.26 f.). Diese sind diejenigen, die sich zu Jesus und seinen Worten bekannt haben (8,38): die Nachfolgegemeinschaft. Sie haben die Verfolgung und die Lebensgefahr auf sich genommen, die aus ihrer Zugehörigkeit zu Jesus resultiert (13,9). Ihre Nachfolge ist vor allem Leidens- und Kreuzesnachfolge (8,34–37). In dieser Nachfolge verkünden sie das Evangelium, die Worte Jesu, an alle Völker, um so am endzeitlichen Geschehen mitzuwirken (13,10). Der Menschensohn aber ist kein anderer als Jesus, dessen Biographie ihn als Sohn Gottes, Messias und Davids Sohn erweist. Er steht in einer bevorzugten Nähe zu Gott und ist „der geliebte Sohn“ (1,11; 9,7). Darin überbietet er auch den römischen Kaiser, der sich selbst als Sohn Gottes bzw. als Sohn eines vergöttlichten Kaisers versteht. In seinem Auftreten (Exorzismen, Heilungen, Mahlgemeinschaften) nimmt Jesus den endzeitlichen Sieg Gottes über die widergöttlichen Mächte vorweg. Die Biographie Jesu jedoch ist durchzogen von Ambivalenzen, die die Forschung unter dem Begriff des Messiasgeheimnisses, konkretisiert in den Schweigegeboten, der Parabeltheorie und dem Jüngerunverständnis, zu fassen versucht. Diese erzählerischen Motive weisen
Theologisieren mit Markus
alle auf den einen Sachverhalt hin, dass Jesus nämlich als Sohn Gottes und Messias nicht die vorgängigen Erwartungen an eine königliche und herrscherliche Gestalt erfüllt, sondern gerade als leidender Gerechter am Kreuz der von Gott geliebte Sohn ist (15,39). Das Markusevangelium knüpft an der antiken Biographie an, hat aber mit der Evangelienschrift eine Gattung sui generis geschaffen. Es erweitert das begriffliche Bekenntnis zu Jesus als Christus und Sohn Gottes, indem es ihm eine narrative Gestalt gibt. In der Narration lassen sich dann auch die lebendigen Gegensätze oder gar Paradoxien, die das Bekenntnis der Nachfolgegemeinschaft hervorruft, zum Ausdruck bringen. Die widergöttlichen Mächte und der göttliche Schöpferwille bleiben so aufeinander bezogen, dass die Nachfolgegemeinschaft den Handlungsraum erhält, der ihr die Mitwirkung am endzeitlichen Geschehen durch die universale Evangeliumsverkündigung in der Leidensnachfolge eröffnet.
Gattung sui generis
Das Markusevangelium teilt die Grundüberzeugungen der Ethik des antiken Judentums. Diese wird allerdings teilweise an die neue Situation der endzeitlichen Gemeinde aus Juden und Nichtjuden angepasst, indem u. a. die Speisegebote relativiert und das Scheidungsverbot verschärft wird. Das Gottesverständnis ist durch die Apokalyptik beeinflusst und verzichtet auf Aussagen zur Barmherzigkeit Gottes und zu seiner Bereitschaft zur Strafverschonung. Dennoch wird auch im Markusevangelium der Anbruch der Königsherrschaft Gottes als heilvolles Ereignis erwartet. Die Spannung zwischen dem transzendenten Gott und seiner den Menschen zugewandten Königsherrschaft wird in der narrativen Umsetzung des Evangeliums aufgenommen, deren Lösung liegt aber für den Autor und seine Gemeinde in der Zukunft.
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Markusevangelium
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9 Matthäusevangelium
Abb. 9: Rekonstruktion der Synagoge von Kiryat Sefer, verm. 1. Jh. n. Chr.
260
Matthäusevangelium
9.1 Einführung
Synagoge
der Verfasser
Die oben abgebildete Synagoge von Kiryat Sefer stammt vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. Sie steht für den gemeinschaftsorientierten Baustil der antiken Synagoge, der durch eine von Sitzbänken und Säulen umsäumte viereckige Fläche charakterisiert ist: „Ein Arrangement, das gemeinschaftliche Partizipation an politischen, religiösen oder sozialen Angelegenheiten ermöglicht.“1 Die Rekonstruktion der Synagoge kann einen Eindruck davon vermitteln, an welche Raumkonfigurationen der Verfasser des Matthäusevangeliums dachte, wenn er in seinen Texten von Synagogen spricht. In Synagogen verkündet Jesus das „Evangelium von der Gottesherrschaft“ (Mt 4,23; 9,35). Dort trifft er aber auch auf Menschen, die ihm als „Heuchler“ gelten (6,2.5; vgl. 23,6). Schließlich ist auch davon die Rede, dass diejenigen, die sich in Synagogen versammeln, die Anhänger der Botschaft Jesu foltern und töten werden (10,17; 23,34). Die Synagoge ist einer der Orte, an denen die ambivalente Nähe, die das Matthäusevangelium zum Judentum sucht, deutlich wird. Dieses Anliegen führt auch zu polemischen Auseinandersetzungen mit religiösen Gruppierungen des Judentums, wie den „Schriftgelehrten und Pharisäern“ (23,13–36). Die antike Synagoge bot den Raum, in dem sich derartige kontroverse Begegnungen ereignen konnten. Das Matthäusevangelium fand in der Alten Kirche neben dem Johannesevangelium die höchste Anerkennung unter den Evangelienschriften. Nicht nur, dass es der Legende nach von einem Jünger Jesu namens Matthäus geschrieben worden sei, verlieh ihm Autorität, sondern vor allem die Bergpredigt (Mt 5–7) und die eschatologische Gerichtsrede (25) galten als grundlegend für das Verständnis der Lehre Jesu und des endzeitlichen Gerichts. Die römische Kirche beruft sich bis heute auf die einzigartigen Aussagen, die das Matthäusevangelium über Petrus, seine Löse- und Bindegewalt und seine Bedeutung als „Fels“ für die Kirche macht (16,17–19). Mit diesen begründet sie ihren Primat (lat. primatus; Vorrang), den Anspruch auf die Führung der gesamten Christenheit durch den Bischof von Rom als Stellvertreter Christi. Die reformatorischen Kirchen schätzten das Evangelium ebenfalls wegen der in ihm enthaltenen Verkündigung Jesu. Die unmissverständlichen ethischen Imperative und der Lohngedanke, die etwa in der Bergpredigt enthalten sind, oder die Vorstellung vom Gericht nach Werken wurden aber auch als Widerspruch zur Rechtfertigung ohne Werke allein aus Glauben empfunden. Die Forderungen der Bergpredigt galten dem Luthertum als unerfüllbare Anweisungen 1 Levine, Ancient Synagogue, 75.
Einführung
(Gesetz), die das Sündersein des Menschen und seine Angewiesenheit auf die gnädige Rechtfertigung allein aus Glauben (Evangelium) unterstreichen würden.2 Diese besondere Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums im Christentum überrascht zunächst, da seine Inhalte und Sichtweisen, etwa zur Frage des Gesetzes (5,17–20; 23,3), tief im antiken Judentum verwurzelt sind. Das zeigt auch die Rezeption des Evangeliums in der Alten Kirche. Irenäus von Lyon (135–200 n. Chr.) berichtet, dass die judenchristliche Sondergruppe der Ebioniten (aram. ebionim; die Armen) von den Evangelien nur das des Matthäus benutzte. Sie hätten die Paulusbriefe vollständig abgelehnt und deren Verfasser als Abtrünnigen von der Tora betrachtet. Die Ebioniten hätten hingegen vor allem die prophetischen Schriften ausgelegt, die Beschneidung beibehalten, ein toragemäßes Leben geführt und geglaubt, dass Jerusalem der Wohnort Gottes sei.3 Die Ebioniten waren demnach davon überzeugt, dass ihre Ansichten und Praktiken mit dem Inhalt des Matthäusevangeliums, nicht aber mit dem der Paulusbriefe vereinbar seien. Die enge Beziehung zum Judentum belegen auch die ältesten externen Zeugnisse über das Evangelium. Papias gibt an, den Presbyter zu zitieren, wenn er mitteilt, Matthäus habe die Reden Jesu in hebräischer Sprache zusammengestellt.4 Irenäus, der von Papias abhängig ist, weitet diese Bemerkung über die hebräische Sprache noch aus, indem er behauptet, Matthäus habe sein Evangelium „unter den Hebräern“, d. h. in Palästina, geschrieben.5 Diese Angaben über die Sprache und den Entstehungsort sind kaum zutreffend. Sie spiegeln allerdings die Wahrnehmung wider, dass dieses Evangelium besonders eng mit Fragen des antiken Judentums, insbesondere nach der Geltung der Tora, aus einer Perspektive befasst ist, die der heidenchristlichen Kirche des 2. Jh. als „hebräisch“ galt, d. h. in religiöser wie ethnisch-kultureller Hinsicht als jüdisch empfunden wurde. Das hohe Ansehen des Matthäusevangeliums wird nicht zuletzt durch eine Besonderheit der Schrift, die die Autorschaft durch einen Jünger Jesu zu stützen scheint, nahegelegt. In Mt 9,9 und 10,2–4 finden sich im Vergleich zur jeweiligen Markusvorlage in 2,14 und 3,16– 19 auffällige Veränderungen. Der Zöllner, der von Jesus zur Nachfolge berufen wird, heißt nach Mt 9,9 Matthäus, nicht Levi, Sohn des Alphäus, wie in Mk 2,14. In der Jüngerliste Mt 10,3 wiederum wird ein „Matthäus der Zöllner“ genannt, den Mk 3,18 nur mit diesem 2 3 4 5
Mtata, To All the Nations, 12. Irenäus Haer. 1,26,2. S. o. 209 (Papiaszitat im Wortlaut). Irenäus Haer. 3,1,1 f. u. 3,33,4.
Ebioniten
Hebräisch?
Zöllner
261
262
Matthäusevangelium
Namen, aber ohne die Berufsbezeichnung aufführt. Der Autor hat die markinische Vorlage überarbeitet, um zu zeigen, dass der Zöllner, den Jesus berief, der Jünger Matthäus gewesen sei. Diese Besonderheit des Textes bewirkte die sekundäre Autorenzuschreibung des ursprünglich anonymen Werkes auf einen Verfasser namens Matthäus, im Sinne von: Das Evangelium mit der Besonderheit bezüglich des Matthäus. Dies wurde dann schließlich als Verfasserschaft durch den Jünger Jesu namens Matthäus gedeutet. Die Alte Kirche führte das Matthäusevangelium auf einen Jünger Jesu zurück. Diese unzutreffende Verfasserzuschreibung war durch die auffällige Identifizierung des Matthäus der Jüngerliste mit dem von Jesus selbst berufenen Zöllner nahegelegt. Die besondere Wertschätzung verdankt sich aber vor allem dem Eindruck, dass in diesem Evangelium die Lehre Jesu, des Herrn der Kirche, besonders vollständig und überzeugend zusammengestellt sei.
Der Verfasser aber, dessen Namen wir nicht kennen, portraitiert sich selbst durch eine andere Aussage: Mt 13,52: Deswegen ist jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleich einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.
Jünger der Königsherrschaft Judenchristentum
Der Autor sieht sich als Schriftgelehrten und Jünger der Königsherrschaft Gottes, der die Überlieferungen des Volkes Gottes interpretiert und weiterentwickelt. Diese Aussage und der Umgang mit der Schrift machen die „Existenz einer judenchristlichen Gruppe von Schriftgelehrten in der matthäischen Gemeinde“ wahrscheinlich.6 Die Bezeichnung „judenchristlich“ ist eher eine Verlegenheitslösung, da der Begriff nicht präzise zu definieren ist. In der älteren Forschung war judenchristlich die Bezeichnung für eine christliche Häresie wie die der oben genannten Ebioniten, die an der Geltung der kultischen und rituellen Forderungen der Tora festhielt und gleichzeitig Jesus als den Messias bekannte. Die häresiologischen Erörterungen aus dem 2. Jh., auf die diese Informationen zurückgehen, setzen aber bereits eine dominante heidenchristliche Kirche voraus und werden deswegen den Verhältnissen in neutestamentlicher Zeit nicht gerecht.7 Bezieht sich die Bezeichnung aber auf die ethnisch-religiöse Herkunft, dann 6 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 268. 7 Justin Dialog 47; Irenäus Haer. 1,26,2.
Einführung
263
hätten Paulus und Matthäus, aber natürlich auch alle Jünger Jesu als judenchristlich zu gelten. Nimmt man hingegen als Kriterium das Festhalten am jüdischen Religionsgesetz, der Tora, dann wäre noch näher zu definieren, in welcher Hinsicht Toraobservanz als Ausweis von Judenchristlichkeit zu gelten habe. Ist das Festhalten an der Ethik der Tora, am Dekalog und am exklusiven Monotheismus weniger judenchristlich als die Forderung nach der Beschneidung jüdischer Jesusanhänger? Andere Versuche den Begriff zu definieren, etwa mit „jüdische Christusgläubige“ oder „toraobservante Jesusanhänger“, bringen auch keinen Fortschritt. Angesichts der Vielfalt innerhalb des antiken Judentums muss das Jüdische, das zur Bezeichnung „judenchristlich“ führt, in jedem Einzelfall gesondert benannt werden. Das Matthäusevangelium als judenchristlich zu bezeichnen, meint demnach zunächst nur so viel, dass diese Schrift ein klares Bekenntnis zu Jesus als Christus/Messias (1,17) mit einer Theologie verbindet, die ihre Fragestellungen und Kontroverspunkte dem innerjüdischen Diskurs entnimmt (23,3) und die der Tora eine hohe normative Bedeutung für die Gestaltung des Lebens zuweist (5,17–20). Das Matthäusevangelium hält an der Bedeutung der Tora für die Lebensführung der Glaubenden und ihr Ergehen im göttlichen Gericht fest. Es gilt deswegen als ein judenchristliches Evangelium, das die Bedeutung der Lehre Jesu besonders im Blick auf das antike Judentum und seine zahlreichen Sondergruppen reflektiert.
Die neuere Forschung sieht im Verfasser des Evangeliums einen zurückhaltenden, konservativen Redaktor, der seine Quellen vor allem ordnet und strukturiert. Er folgt dem Aufriss des Markusevangeliums in der Handlungsfolge und den geographischen Angaben, die von der Verkündigung Jesu in Galiläa und Judäa zur Passion in Jerusalem und zur Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa führen. Die wichtigsten eigenen Akzente setzt der Autor in Mt 1–13 durch Umstellungen und Ergänzungen, während er danach der Makrostruktur des Markusevangeliums wieder recht eng folgt. So gestaltet er jeweils an den Stellen des Markusaufrisses umfangreichere Gleichniskompositionen, an denen auch das Markusevangelium bereits Gleichnisse bot.8 Die Behauptung Dooles, das Matthäusevangelium sei nichts weiter als eine „Neuauflage des Markusevangeliums“,9 erweist sich allerdings bereits angesichts des umfangreichen Textbestands von 52,5 %, der 8 Mk 4/Mt 13,1–52; Mk 12,1–12/Mt 21,28–22,14; Mk 13,33–37/Mt 24,32–25,46. 9 Doole, What was Mark for Matthew?, 196.
Verhältnis zu Mk
Neuauflage oder Gegenentwurf?
264
Matthäusevangelium
die Reden
nicht aus dem Markusevangelium übernommen wurde, als unangemessen. Blickt man auf die theologische Konzeption des Matthäus, wird man die Differenzen zu Markus in Fragen der Tora, der davidischen Messianität Jesu und im Jüngerverständnis zu beachten haben, aus denen Konradt wiederum den Schluss zieht, dass das Matthäusevangelium geradezu ein „judenchristlicher Gegenentwurf zum Markusevangelium“ sei.10 Man sieht an diesen beiden stark divergierenden Urteilen, dass ein einfacher Vergleich zwischen Markus und Matthäus die Gefahr birgt, zu überzogenen Urteilen zu gelangen. Bettet man beide Evangelien in den größeren Zusammenhang der theologiegeschichtlichen Entwicklung ein, wird man sowohl die enge Bindung des Matthäusevangeliums an die Vorgaben des Markus und die grundsätzliche Übereinstimmung mit dessen Christologie als auch die Unterschiede in der Haltung zur Tora und zum endzeitlichen Gericht berücksichtigen müssen. Das Matthäusevangelium ist demnach weder eine einfache Neuauflage noch ein Gegenentwurf zum Markusevangelium. Es behandelt auf der Basis weitgehender Übereinstimmungen einige Themen, die Markus nicht explizit erörtert, und vertieft andere durch Schriftinterpretationen und durch die über Markus hinausgehende Jesusüberlieferung. Durch diese Gestaltungselemente entsteht ein eigenständiger theologischer Entwurf in der Form einer Jesuserzählung, die aufgrund dieser Erweiterungen und Vertiefungen de facto das Markusevangelium in seinen Schatten stellte. Für Matthäus ist Jesus nicht wie im Markusevangelium von einem Messiasgeheimnis umgeben. Jesus tritt vielmehr als vollmächtiger Lehrer auf, dessen Worte sich textintern an die Jünger richten, textextern jedoch die gesamte Nachfolgegemeinschaft zu allen Zeiten direkt ansprechen. Die Lehre Jesu gilt dem Verfasser des Evangeliums als alleiniger Maßstab.11 Ihre Darstellung erfolgt besonders in den fünf bzw. sechs Reden: Jesu große Rede, die Bergpredigt (Mt 5–7), die Rede an die Jünger (10), die Gleichnisrede (13), die Gemeinderede (18), die Rede gegen die Pharisäer (23) und direkt daran anschließend die Rede über die Endzeit (24 f.). Ob sich das Evangelium vorrangig an Christusanhänger, die bereits Heiden missionieren (28,19), wendet oder aber an Juden, um diese von der Berechtigung oder gar Notwendigkeit der Heidenmission zu überzeugen, wird in der Forschung intensiv unter den Stichworten „von Israel zur Kirche“ oder „von der Synagoge zur ecclesia“ diskutiert.12 In dieser Debatte werden zudem 10 Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, 66. 11 Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 250. 12 Carlston, From Synagogue to Ecclesia, 481–483; Konradt, Israel, Kirche und die Völker, 404; Luz, Spaltung in Israel, 299 f.
Besonderheiten
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oft die Ausdrücke lat. intra muros für „innerhalb der Stadtmauern/ Grenzen“ des antiken Judentums und extra muros für „außerhalb der Stadtmauern/Grenzen“ verwendet.13 Das Matthäusevangelium nimmt unter den kanonischen Evangelien eine hervorragende Stellung ein, da es die Lehre Jesu in Reden und Gleichnissen in den Mittelpunkt stellt. Es folgt weitgehend der Makrostruktur des Markusevangeliums, geht aber theologisch im Verständnis der Tora, in der Christologie und im Gerichtsverständnis eigene Wege. Es setzt sich zudem in besonderer Weise mit der Frage auseinander, was die Hinwendung zu den Nichtjuden für das Gottesvolk Israel bedeutet.
9.2 Besonderheiten der matthäischen Jesuserzählung Das Matthäusevangelium zeigt im Umgang mit der Markusvorlage und bei der Ergänzung der von dieser übernommenen Erzählstruktur durch Sondergut eine deutliche Vorliebe für Sprachformen, hermeneutische Konzepte und Argumentationen, die eine enge Bindung an das antike Judentum dokumentieren. Unter den Sprachformen sind vor allem zu nennen: 1. die Genealogie, 2. der Schriftbeweis, 3. der halachische Diskurs und 4. die Frömmigkeitslegende. Die Jesuserzählung des Matthäus setzt mit einer Genealogie ein. Der Stammbaum Jesu wird als „Buch der Abstammung“ (gr. biblos geneseos; βίβλος γενέσεως) bezeichnet. Matthäus spielt damit auf den Schöpfungsbericht (Gen 2,4a), die Toledot-Formel zur Einleitung der Geschlechterfolgen der Genesis (Gen 5,1; 6,9 u. ö.) und die Stammeslisten in der sogenannten genealogischen Vorhalle der Chronikbücher (1Chr 1–9) an. Jesus Christus wird zudem als „Sohn Davids und Sohn Abrahams“ (in dieser Reihenfolge!) bezeichnet. Der Titel „Sohn Davids“ ist für das Matthäusevangelium von herausgehobener Bedeutung (1,1; 9,27; 12,23; 15,22; 20,30; 21,9.15; vgl. 1,20; 22,42). Man kann mit einigem Recht von einer besonderen Davidsohn-Christologie sprechen. Die Genealogien werden als Teil der geschichtlich gewachsenen Ordnungen Israels, die zugleich normative Bedeutung für die Gegenwart des Gottesvolkes haben, verstanden. Es fällt auf, dass im Stammbaum Jesu vier Frauen genannt sind: Tamar, Rahab, Ruth und „die Frau des Uria“, Bathseba. Für die Interpretation dieses Sachverhalts ist zunächst zu beachten, dass nicht die Erzmütter Sara, Rebekka, Lea oder Rahel erwähnt werden, sondern eher weniger bekannte biblische 13 Repschinski, The Controversy Stories, 61.
neue Sprachformen
Schöpfung
Frauen im Stammbaum
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Matthäusevangelium
apokalyptische Genealogie
Frauen. In allen vier Fällen spielt die Gefährdung der Nachkommenschaft für Israel eine gewisse Rolle. Drei der vier Frauen entstammen nach der biblischen Darstellung offensichtlich nichtjüdischen Ethnien, bei Tamar fehlt eine solche Information in der Hebräischen Bibel. Allerdings erwähnt Philo, dass sie palästinische Syrerin gewesen sei (Philo Virt. 221 f.). Alle vier Frauen verbindet demnach aus der Sicht des Matthäus ihre nichtjüdische Herkunft und ihre Integration in das Volk Israel. Matthäus hat sie vermutlich als Proselytinnen verstanden.14 Die Aussagen zu den Frauen in der Genealogie sind demnach ein Hinweis auf die Integration von Nichtjuden in die Genealogie des Davidsohns Jesus und zugleich ein vorwegnehmender Verweis auf die Hinwendung zu den nichtjüdischen Völkern, die in 28,18–20 explizit formuliert wird. Das Buch der Entstehung (d. i. Stammbaum) strukturiert die Geschichte Israels genealogisch in dreimal vierzehn Generationen, von Abraham bis David, von David bis zum babylonischen Exil, vom Exil bis Christus (1,17). Diese 3 × 14 Generationen deuten eine Vorstellung an, die in der apokalyptischen Literatur überliefert ist. Dort wird die Schöpfung aus dem Blickwinkel der Endzeit oftmals in Weltwochen oder Jahrwochen eingeteilt. Möglicherweise denkt Matthäus in Analogie dazu an 6 × 7 Generationen, die der siebten endzeitlichen Generation vorausgehen. Nach dieser Deutung würde Christus die sechste Geschlechterfolge abschließen und die siebte, die endzeitliche Generation, eröffnen.
Für das Matthäusevangelium ist Jesus Christus ein Sohn Davids und damit ein legitimer königlicher Messias. Die Strukturierung der Geschlechterfolgen von Abraham über David und das Exil stellen Jesus, den königlichen Sohn Davids und Messias, an den Beginn des endzeitlichen Geschehens, in dem sich die Königsherrschaft Gottes im Vollzug des Gerichts endgültig durchsetzen wird.
Schrifthermeneutik
Neben der genealogischen Akzentuierung der Endzeit unterstreichen auch zahlreiche Schriftzitate, dass das Geschehen um Jesus, den Messias und Davidsohn, als die endzeitliche Erfüllung der Verheißung Gottes durch die Propheten anzusehen ist. Im Zusammenhang mit der Gefangennahme Jesu reflektiert der Autor seine Schrifthermeneutik einerseits mit den Worten Jesu, die an den gerichtet sind, der mit dem Schwert die Verhaftung Jesu verhindern möchte (26,54), und andererseits mit seinen eigenen, die im Rückblick auf das Leben Jesu darauf verweisen, dass „alles“ zur Erfüllung der Schriften geschehen ist (26,56): 14 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 30; Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 133–136.
Besonderheiten
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Mt 26,52.54.56: Jesus aber sagte (zu dem, der das Schwert gezogen und zugeschlagen hatte): „[…] (54) Wie nun sollten die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss?“ […] (56) Dies alles ist geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden.
Diese explizite Reflexion auf die Bedeutung des Geschehens um Jesus als Schrifterfüllung blickt zugleich auf die erste Zitateinleitung des Evangeliums zurück, indem es dessen Wortlaut aufnimmt (1,22 f.). Diese besondere Form des Umgangs mit der Schrift nennt man Erfüllungszitat (1,22 f.; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,14 f.35; 21,4 f.; 27,9 f.). Einige wenige weitere Schriftzitate verzichten auf das Wort „erfüllen“, folgen aber einer sehr ähnlichen Struktur (2,5 f.; 3,3; 11,10), sodass die Gesamtheit dieser eingeleiteten Schriftzitate etwas treffender als Reflexionszitate zu bezeichnen ist. Sie blicken auf eine Erzählepisode zurück und deuten das Berichtete (z. B. die Gefangennahme Jesu in 26,56) oder eine Einzelheit der Erzählung (z. B. die dreißig Silberlinge in 27,9 f.) als Erfüllung der Schrift und damit als in Übereinstimmung mit dem endzeitlichen Heilswillen Gottes. Die Reflexionszitate verteilen sich ungleich über das Evangelium. Sie sind besonders häufig in der Vorgeschichte (1+2) und in der Passionsgeschichte (26+27) zu finden. Matthäus greift hier womöglich auf eine Zitatensammlung zurück, die für diesen Zweck zusammengestellt wurde. Vorbilder für thematische Sammlungen von Schriftzitaten finden sich in den Qumrantexten. Besonders eindringlich ist das Beispiel 4Q Testimonia (4Q175 5–8), eine Sammlung biblischer und parabiblischer Belegstellen aus hasmonäischer Zeit. Die Handschrift der Zitatensammlung ist vom gleichen Schreiber verfasst wie die qumranische Gemeinderegel (1QS). Die Zitate und Paraphrasen dieses Handzettels sollen womöglich die Aussage in 1QS 9,11, „bis der Prophet und die Gesalbten Aarons und Israels kommen“, erläutern, indem sie das Auftreten dieser endzeitlichen Figuren jeweils belegen und näher ausführen. Im Fall des Matthäusevangeliums ist allerdings eine solche unab hängige Belegstellensammlung nicht erhalten. Das oben zitierte Wort über den Schriftgelehrten und Jünger des Reiches Gottes (13,52) weist eher darauf hin, dass der Autor oder eine mit ihm verbundene Gruppe die Jesuserzählung um diese Zitate ergänzt hat. Es fällt zudem auf, dass bei geographischen und ethnischen Angaben auf eine anachronistische Weise Bezeichnungen der Hebräischen Bibel bevorzugt werden. Die geschilderten Begebenheiten ereignen sich im „Land Juda“ (2,6) und im „Land Israel“ (2,20; 2,21) oder gar „in den Gebieten (der Stämme) Sebulon und Naphthali“ (4,13.15). Die nichtjüdische Frau, die sich Jesus in der Gegend von Tyros nähert und nach
Erfüllungszitat
Reflexionszitat
Testimonia?
Ethno-Geographie
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Matthäusevangelium
Israel
Mk 7,26 eine „Griechin, eine Syrophönizierin“ genannt wird, ist für Mt 15,22 eine „Kanaanäerin“. Das Matthäusevangelium vertritt eine anachronistische Ethno-Geographie des biblischen Landes, die einer jüdisch-biblischen Sichtweise folgt. In der genannten Perikope findet sich auch die Aussage über die Beschränkung der Verkündigung Jesu auf die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (15,24; vgl. 10,5 f.), die nur das Matthäusevangelium überliefert. Es wird der Eindruck erweckt, dass die Verkündigung der Gottesherrschaft zu Lebzeiten Jesu exklusiv auf Israel beschränkt gewesen sei. Erst nach der Auferstehung Jesu erhalten die Jünger den Auftrag, „alle Völker“ zu Jüngern zu machen (28,19). Die Verkündigung an Nichtjuden wird demnach nicht auf Jesus selbst zurückgeführt, sondern erst auf den erhöhten Herrn. Die damit verbundenen Fragen werden weiter unten in 9.6 vertieft behandelt.
Die Betonung der Davidsohnschaft, der Gebrauch von Reflexionszitaten, die anachronistische biblische Geographie und die Verwendung eher im antiken Judentum verankerter Sprachformen belegen die enge Bindung des Evangeliums an das Judentum. Diese Besonderheiten der Jesuserzählung unterstreichen, dass es für das Verständnis der Theologie des Matthäusevangeliums von entscheidender Bedeutung ist zu klären, welche Position sie innerhalb der weiten Grenzen des antiken Judentums einnimmt.
halachische Diskurse
Im Matthäusevangelium ist eine Reihe von Texten enthalten, in denen Fragen der Lebensgestaltung unter dem Aspekt der göttlichen Weisung, der Tora, erörtert werden. In der Forschung spricht man von halachischen Diskursen.15 Halacha kommt von hebr. halach ()הלך, wörtl. „einen Weg gehen“, und bedeutet toragemäße Weisung. Die rabbinische Literatur kreist zu großen Teilen um halachische Fragen, die sich aus der Konkretisierung der Gebote der Tora für die jeweilige Lebenswirklichkeit ergeben. So müssen etwa die Regelungen zum Arbeitsverbot am Sabbat oder das Verbot der Götzenverehrung in Zeiten, in denen die Berührung mit nichtjüdischen Kulturen enger geworden ist, auf neue Fälle bezogen und näher bestimmt werden. Bereits das Markusevangelium bietet eine Sammlung von sog. Streitund Schulgesprächen (Mk 11,27–12,44), die solche Fragen erörtern. Sie werden von Markus in den Teil des Wirkens Jesu in Jerusalem integriert und ereignen sich seiner Erzählung nach im Tempelgebiet. Daube hat auf die enge Verwandtschaft dieser Texte mit rabbinischen halachischen 15 Vahrenhorst, Matthäus im halachischen Diskurs, 412.
Besonderheiten
Traditionen aufmerksam gemacht.16 Auch wenn nicht jede seiner Herleitungen überzeugt, so hat er doch nachgewiesen, dass hier eine Diskursform vorliegt, die in der Tradition der rabbinischen Unterweisung steht. Zahlreiche neuere Untersuchungen sind der Frage nach dem Verhältnis von Rabbinismus, Pharisäismus und dem Judentum des 1. Jh. insgesamt zum Matthäusevangelium gewidmet.17 Matthäus nimmt alle markinischen Texte dieses Abschnitts auf und erweitert diese Passage der lehrenden Tätigkeit Jesu um weitere Gleichnisse und Einzelworte. Er lässt nun Jesus aber an vielen weiteren Stellen als einen Lehrer auftreten, der sich mit Argumenten Anerkennung verschafft. Hier ist die formelhafte Wendung: „Ich aber sage euch“ (gr. ego de lego hymin; ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν) besonders bedeutsam. Das Syntagma findet sich sechsmal im Matthäusevangelium und zwar ausschließlich in den Antithesen (Mt 5,21–48).18 Diese Einleitung einer Aussage Jesu markiert den Redeakt eines Lehrers, der den bisherigen traditionellen Aussagen der rabbinischen Autoritäten eine weitere, nämlich seine eigene, entgegenstellt. Auch wenn Rückübersetzungen in das Hebräische oder Aramäische möglicherweise diesen Gegensatz relativieren und Wengst als Übersetzung vorschlägt „Ich lege das so aus“,19 so ist doch im Griechischen der Gebrauch des Personalpronomens ego mit dem adversativen Partikel de nicht anders zu verstehen als „Ich (im Gegensatz zu anderen) aber sage euch“. Das „Ich-aber-sage-euch“ ist allerdings keine implizite christologische Hoheitsaussage des Gottessohnes und Messias, wie etwa Schnelle und Wright nahelegen, sondern eine diskursive Redeformel des Lehrdisputs.20 Sie leitet die Lehrmeinung Jesu ein, die in den Antithesen ohne direkten Rückgriff auf die Hebräische Bibel, aber in Aufnahme von Debatten um Regelungen der Tora vorgetragen wird. Das halachische Denken des Matthäusevangeliums lässt sich auch in seinem Umgang mit dem Markus-Stoff beobachten. Die Perikope von der Sabbatheilung des Mannes mit einer erstorbenen Hand 16 Daube, New Testament and Rabbinic Judaism, 158–163. 17 Z. B. Dennert, John the Baptist and the Jewish Setting of Matthew, 2–7; Neudecker, Moses Interpreted by the Pharisees and Jesus, 129. 18 Vgl. Q 3,8 (Täufer); Mt 21,27/Lk 20,8; Lk 18,14. Ohne Personalpronomen ego, „Ich sage euch“: Mt 10,27; 11,22.24; 21,43; „Amen, ich sage euch“: 13,17; 16,28; 18,13.19; 19,23.28; 21,31; 24,34.47; 26,21. 19 Wengst, Regierungsprogramm, 78–80. 20 Schnelle, Theologie, 120: „Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „Ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er (kursiv i. O.) sagt.“ Wright, Ursprünge des Christentums 2, 342: „Jesus beansprucht eine interpretative Hoheit: Es ist seine (kursiv i. O.) Interpretation der Berufung und des Schicksals Israels“. Zurückhaltender Dunn, Jesus Remembered, 579 f.
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Jesus, der Lehrer
Ich aber sage euch!
Sabbat
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Matthäusevangelium
(Mt 12,9–14; Mk 3,1–6; Lk 6,6–11) ist dafür ein gutes Beispiel. Während Mk 3,4 Jesus sehr grundsätzlich fragen lässt, ob es erlaubt sei, „am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Menschenleben zu retten oder zu töten?“, reduziert Mt 12,10 die Problematik im Stil des halachischen Diskurses auf die eigentliche Handlung: „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?“. Diese Frage wird in einem Analogieschluss erörtert: „Welcher Mensch ist unter euch, der ein Schaf hat und, wenn es am Sabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreift und herauszieht? Wieviel mehr wert ist nun ein Mensch als ein Schaf? Somit darf man am Sabbat Gutes tun.“ Jesus klärt den Streitfall durch eine Argumentation, die vom Kleineren auf das Größere schließt. Dieser sogenannte kal-wachomer-Schluss bzw. lat. a minori ad maius, vom Leichten/ Unbedeutenden auf das Schwere/Bedeutende, wird in der späteren rabbinischen Tradition zu den sieben von Hillel eingeführten Beweisverfahren gezählt (ein Beispiel in bKet 111b). Er meint hier: Wenn bereits so etwas Unbedeutendes wie ein Schaf am Sabbat aus einer Grube gezogen werden darf, um wieviel mehr ist es berechtigt, so etwas Bedeutendes wie einen Menschen zu heilen? Eine solche Argumentation fehlt bei Markus, der auf die suggestive Wirkung der Frage nach der Erlaubnis zum Guten am Sabbat setzt. Ähnlich motivierte Eingriffe in die Vorlagen aus Markusevangelium und Logienquelle finden sich ebenso zahlreich im Matthäusevangelium wie ähnlich strukturierte Sonderguttexte (3,14 f.; 9,13; 11,14; 12,5–7; 15,13 f.; 16,17–19; 17,24–27; 18,3 f.; 19,9.10–12; 21,14–16). Dabei werden alttestamentliche Zitate eher illustrierend als argumentativ herangezogen. Besonders Hos 6,6 bekommt die Funktion, auf die ethische Orientierung an der Barmherzigkeit hinzuweisen (Mt 9,13; 12,7; vgl. 23,23). Mt 9,13 mit Hos 6,6: Geht aber hin und lernt, was das ist: Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer. Jesus wird im Matthäusevangelium immer wieder als ein Lehrer vorgestellt, der halachische Anfragen überzeugend beantwortet. An diesem Ideal werden die Lehrer Israels, Schriftgelehrte und Pharisäer, und die Lehrer der Gemeinde gemessen.
Legenden
Neben den genannten Textsorten fallen bei Matthäus eine Reihe narrativer Texte, Ergänzungen und Motive auf, die den Frömmigkeitslegenden, etwa den Danielerzählungen (Dan 3–6) oder den Büchern Esther, Judith und Tobit nahestehen. Diese Texte haben die Selbstbehauptung des Judentums in feindseliger Umwelt zum Thema und ihre Protagonisten bewähren sich in der Treue zur jüdischen Lebens-
Besonderheiten
weise. Beliebte Motive dieser Textsorte begegnen auch bei Matthäus, wie etwa der „Engel des Herrn“ (1,20.24; 2,13.19; 28,2) und die Offenbarung im Traum (1,20; 2,12 f.19; 27,19). Die jüdischen Frömmigkeitslegenden enthalten oft auch polemische Zuspitzungen gegen die nichtjüdische Umwelt. So verwundert es nicht, dass auch die matthäischen Texte nicht vornehmlich der Erbauung dienen, sondern vielmehr Teil einer polemischen Auseinandersetzung sind, zu deren Rahmenmotiven Ehebruch, Mord, Lüge und Betrug gehören. Eine Übersicht über diese Texte macht das deutlich: Geburts- und Kindheitsgeschichte: 1,18–2,23 Tod des Judas: 27,3–10 Traum der Frau des Pilatus: 27,19 Unschuld des Pilatus: 27,24 Selbstverfluchung des Volkes: 27,25 Totenauferstehung beim Tod Jesu: 27,51–53 Die Wächter am Grabe: 27,62–66 (28,4) Betrug der Hohepriester: 28,11–15
Die matthäischen Legenden befassen sich auch mit Vorwürfen gegen Jesus und seine Anhänger: Jesus sei aus einem vorehelichen Geschlechtsverkehr der Maria hervorgegangen (1,18–20), die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen (28,13). Diese Vorwürfe sind sowohl in der heidnischen Kritik des Christentums durch Celsus (2. Jh.) als auch fragmentarisch im Talmud und in den polemischen jüdischen Jesusbiographien, den sogenannten Toledot Jeschu, überliefert.21 Die Legenden wenden sich überwiegend gegen ähnliche Vorwürfe und Gerüchte. Die Rückkehr nach Judäa, genauer nach Bethlehem, wird etwas bemüht erläutert (2,21–23). Die Umstände der Selbsttötung des Judas werden detailliert erzählt und stellen alle Beteiligten in ein schlechtes Licht (27,3–10). Die knappen Einfügungen in den Prozessbericht 27,19.24.25 verdeutlichen die Unschuld Jesu, betonen die Zurückhaltung des Pilatus und erhöhen die Verantwortung der Jerusalemer Judenschaft für die Kreuzigung Jesu. Die beiden Erzählungen von den Wächtern am Grab und dem Betrug der Priesterschaft setzen sich mit dem Vorwurf auseinander, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen. Mordabsichten, Betrügereien und Lügen sind demnach Gegenstand der legendarischen Ergänzungen. Sie dienen „der polemischen und apologetischen Auseinandersetzung mit Juden“.22 In der Wirkungsgeschichte haben sich gerade diese Texte als 21 Schäfer, Jesus im Talmud, 37–46. 22 Paul, „Untypische“ Texte im Matthäusevangelium, 333.
Apologetik und Polemik
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272
Matthäusevangelium
höchst problematisch erwiesen. Besonders die Selbstverfluchung des „ganzen Volkes“ mit dem Wort „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ in Mt 27,25 wurde immer wieder, nachdem das Christentum zur Mehrheits- und Staatsreligion geworden war, rechtfertigend für Verfolgungen und Übergriffe gegen die jüdische Minderheit in Anspruch genommen. Zur Zeit der Entstehung dieser Texte handelte es sich allerdings um literarische Polemik. Matthäus greift die abwertende Kritik der Gegner der Jesusgemeinschaft auf und versucht, sich mit Gegenerzählungen gegen diese Angriffe zu behaupten. Das Matthäusevangelium greift literarische Formen auf, die aus dem antiken Judentum stammen: die Genealogie, der Schriftbeweis, der halachische Diskurs und die Frömmigkeitslegende. Diese Wahl unterstreicht die besondere Bindung des Evangeliums an die Welt des Judentums.
9.3 Gott, der Vater im Himmel
Himmelreich
Das Wort „Gott“ (gr. theos; θεός) ist im Matthäusevangelium mit 51 Mal im Vergleich zum Lukasevangelium mit 122 Mal nicht allzu häufig gebraucht. Das erklärt sich aber aus der Besonderheit, dass die Gottesbezeichnung häufig umschrieben wird. So nennt Matthäus das Reich Gottes, fast durchgängig „Himmelreich“ (gr. basileia ton ouranon; βασιλεία τῶν οὑρανῶν) statt „Reich Gottes“.23 Auch in anderen Zusammenhängen wird für „Gott“ gerne eine Umschreibung gewählt. Im Mittelpunkt steht dabei die Bezeichnung Gottes als „Vater“ (gr. pater; πατήρ) und zwar als „Vater im Himmel“ (ca. sechsmal: 5,16; 6,1.9; 7,11.21; 16,17), „himmlischer Vater“ (ca. siebenmal: 5,48; 6,14.26.32; 15,13; 18,35; 23,9), oder einfach „Vater“ (z. B. 6,4.6.18; 11,26f). Insgesamt wird somit etwa 45 Mal „Vater“ als Gottesbezeichnung verwendet,24 während sich diese bei Markus nur fünfmal und bei Lukas etwa 17 Mal findet. Die Umschreibung Gottes und die besonders häufige Verwendung der Vateranrede können als Charakteristikum des Matthäusevangeliums gelten. Eine gewisse Besonderheit ist im Gebrauch der Gottesbezeichnung „Herr“ (gr. kyrios; κύριος), die im Griechischen in der Regel für das Tetragramm JHWH steht, festzustellen. Als Gottesbezeichnung bzw. Gottesanrede wird „Herr“ im Matthäusevangelium fast ausschließlich in alttestamentlichen Zitaten 23 Ca. 27 Mal: 3,2; 4,17; 5,3.10.20; 7,21; 8,11; 10,7; 11,11.12; 13,11.24.31.52; 16,19; 18,1.3.4.20.23; 19,12.14.19.23; 22,2; 23,13; 25,1. 24 Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 70.
Gott, der Vater im Himmel
(4,7.10; 5,33; 21,42; 22,37.44; 27,10) oder zu deren Einleitung (1,22; 2,15) und schließlich einmal im Gebet Jesu (11,25) verwendet. Die Heiligkeit und Unverfügbarkeit Gottes, wie sie in der griechischen Übertragung des Tetragramms mit „Herr“ noch mitschwingt, tritt bei Matthäus etwas in den Hintergrund. Gott ist vor allem „Vater“. Die Übertragung der Vateranrede als Familienmetapher auf Gott findet sich bereits in der ältesten Jesusüberlieferung und im antiken Judentum.25 Sie steht für „Erbarmen, Treue, Verlässlichkeit, Hilfe, Rettung, affektive Liebe, Fürsorge“.26 Im Matthäusevangelium wird die Bezeichnung als Vater zur zentralen Aussage über Gott. Er steht zu den Seinen, den Kindern Gottes (5,9; 5,45; vgl. 5,48), wie ein Vater. Diese relationale Aussage wird auch auf das Verhältnis Gottes zur Schöpfung übertragen. In der Antike ist die Vorstellung vom Vater nicht unmittelbar mit liebevoller Fürsorge assoziiert, sondern vor allem mit sozialer und rechtlicher Dominanz. Der römische pater familias, der griechische Vater, der auch Herr über die Hausgemeinschaft ist, und der Vater (hebr. ab; )אבeiner jüdischen Sippe sind Garanten der herkömmlichen Sitte und haben weitgehende Verfügungsgewalt über die Angehörigen der Gemeinschaft und deren materielle Besitztümer. Angesichts dieser Macht des Vaters entsteht auch die soziale Erwartung an seine Fürsorge und Barmherzigkeit. Die Vateranrede bezeichnet eine einflussreiche Figur des sozialen Lebens im Nahbereich, der seine Stellung zum Wohl der Gemeinschaft einsetzt. Das Matthäusevangelium verbindet anders als das Lukasevangelium, das auch das einfache „Vater“ (z. B. Lk 11,2) verwendet, fast durchweg mit den Possessivpronomen „mein/euer/unser Vater“, wodurch nochmals der Beziehungsaspekt zwischen dem Vater und seiner Familie hervorgehoben wird. Die nähere Charakterisierung dieser Beziehung ist dann aus dem Kontext zu entnehmen. Von zentraler Bedeutung für das Gottesverständnis ist zunächst die Aufnahme von Jes 66,1 in einer Aussage, die wahrscheinlich auf Jesus zurückzuführen ist, in dieser Form aber nur in der vierten Antithese der Bergpredigt überliefert ist: Mt 5,34 f.: Ich aber sage euch: Schwört gar nicht, weder beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, (35) noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs (Gott).
25 S. o. 218 (Vateranrede). 26 Strotmann, Mein Vater bist du, 379.
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Vateranrede
Vater in der Antike
mein/unser Vater
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Matthäusevangelium
Gott ist König
Barmherzigkeit Gottes
Hier wird Gott in seinen majestätischen Eigenschaften und mit herrscherlichen Attributen dargestellt. Er ist der Großkönig, der König aller Könige, sitzt auf einem „Thron“ und seine Herrschaft umfasst das ganze geschöpfliche Sein, Himmel und Erde (vgl. 23,22).27 Gott ist demnach zunächst Herrscher. Das Moment des Herrschers wird in den matthäischen Gleichnissen weiter, wenn auch indirekt, ausgeführt. In ihnen begegnen immer wieder machtvolle zentrale Handlungsträger, wie der „Hausdespot“ bzw. Verwalter (13,27; 20,1.11; 21,33: gr. oikodespotes; οἰκοδεσπότης), der „Besitzer des Weinbergs“ (21,40) oder explizit der „König“ (22,2.7.11.13). Diese unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Rollen verbindet in der Darstellung des Matthäusevangeliums vor allem eines: uneingeschränkte Verfügung über Menschen und Besitz. Diese Macht wird in einigen Gleichnissen auf für den heutigen Leser verstörende Weise scheinbar selbstherrlich oder gar gewaltsam ausgeübt. Der Weinbergbesitzer weist die nachvollziehbare Forderung nach mehr Lohn souverän zurück: „Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu tun, was ich will?“ (20,15). Der „König“ sendet seine Truppen aus, um die Mörder und deren Stadt zu vernichten (22,7). Er befiehlt zudem, den Hochzeitgast, der keine festliche Kleidung trägt, „an Händen und Füßen zu binden“ und ihn nach draußen in die „Finsternis“ zu werfen (22,13). Die genannten Figuren der Gleichnisse sind als feste Metaphern für Gott zu verstehen. Die Verwalter, der Besitzer des Weinbergs und die Könige in den Gleichnissen stehen für den unbestritten machtvollen und souveränen Gott, der zugleich „vollkommen“ und „euer Vater im Himmel“ ist (5,48). Das Gottesverständnis im Matthäusevangelium verbindet die Majestät und die Herrschaft Gottes als König mit seiner Fürsorge und Barmherzigkeit als Vater. In dieser nicht aufgehobenen Spannung zwischen machtvoller Gerechtigkeit und strafverschonender Barmherzigkeit knüpft das Matthäusevangelium deutlicher als die übrigen Schriften des Neuen Testaments am Gottesbild des antiken Judentums an, wie es in Psalm 145 als Kompendium der Theologie des Psalters festgehalten ist und zudem als Kennzeichen des biblischen Gottes überhaupt gelten kann.28 Nach Jeremias ist die Verhältnisbestimmung von Gottes Zorn und seiner Güte „die Grundlage des gewichtigsten Bekenntnisses im Alten Testament“, der Gnadenformel (Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö.): „Im Zentrum dieser Wesensdefinition Gottes steht die spannungsreiche Beziehung zwischen Zorn und Güte Gottes“.29 27 S. o. 87 (Zitate von Jes 66,1 und Mt 5,34 f.). 28 Bormann, Gerechtigkeitskonzeptionen, 72 f. S. o. 88 (Eigenschaften Gottes). 29 Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 290 f.
Gott, der Vater im Himmel
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Ein besonderes Kennzeichen des Matthäusevangeliums ist die Bezeichnung Gottes als „Vater“ mit Possesivpronomen und der häufigen Ergänzung mit „himmlisch“ oder „im Himmel“. Gott als „Vater“ wird zugleich als mächtig und barmherzig vorgestellt. Dieses Gottesverständnis knüpft an den biblischen Vorgaben in Ps 145 und in der Gnadenformel (Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö.) an, die davon ausgehen, dass Gott als machtvoller Herrscher zugleich fürsorglicher Schöpfer und barmherziger und gütiger Vater ist.
Die Bezeichnung Gottes als Vater hebt die sorgende Zuwendung Gottes, seine Güte, hervor, die die Nähe des Menschen sucht. Der Ort dieser Nähe wird anthropologisch als das „Herz“ (5,8.28; 6,21), der Sitz des Willens und der Vernunft, und sozial als das „Verborgene“ (6,4.6.18), der soziale Raum, den die Sanktionspraktiken der sozialen Gemeinschaft nicht erreichen, bezeichnet. Die matthäische Sondertradition greift hier jesuanische Aussagen über die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf. Der Mensch, der der Tora Jesu willentlich und entschieden, d. h. „im Herzen“, folgt, kann darauf vertrauen, dass Gott dies wahrnimmt, weil dieser ja ins „Verborgene“ schaut und demnach das individuelle Gebet „in der Kammer“ ebenso sieht wie die „verborgen“ gegebenen Almosen und das nicht öffentlich zur Schau gestellte Fasten. Zorn und Güte Gottes entscheiden sich demnach an dem inneren Willensentscheid des Menschen für das Tun des Guten, das der Güte Gottes entspricht, und der Verwirklichung dieser Taten ohne dabei auf Anerkennung durch die soziale Gemeinschaft und auf Statusgewinn zu achten. Das Verhältnis von Gott als Vater zu seinen Kindern ereignet sich in der Willensübereinstimmung, die Matthäus sich „vollkommen“ wünscht:
das Verborgene
Mt 5,44 f.48: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, (45) so dass ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. […] (48) Seid nun ihr vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
Jenseits dieser inneren Welt des Willens begegnet Gott eher vermittelt. Er spricht durch den „Mund“ der Propheten, sein geschichtliches Handeln legt er in die Hände des Engels des Herrn (1,20.24; 2,13.19; 28,2) oder lässt es im Traum mitteilen (1,20; 2,12 f.19; 27,19). Seine Willensbekundung in der Tora bedarf der Weitergabe und der Auslegung durch Lehrer. Diese, die Schriftgelehrten und Pharisäer, haben die Aufgabe, seinen Willen zu proklamieren und fallbezogen anzu-
Wille Gottes
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Matthäusevangelium
wenden (23,2f). So nahe Gott als Vater ist, so distanziert begegnet sein Wille, nämlich in der Tora, die als Wille Gottes der Lehre, der Auslegung und des Tuns durch Menschen bedarf. Gott als Vater ist den Menschen nahe. Er kennt ihren Willen und ihre Überlegungen („Herz“), und bewertet ihr Verhalten unabhängig von sozialer Anerkennung („im Verborgenen“). Sein Wille, festgehalten in der schriftlichen und mündlichen Tora, bedarf der Vermittlung und Auslegung durch Lehrer. Diese Lehrer sind die „Schriftgelehrten und Pharisäer“, deren Toraauslegung wird im Matthäusevangelium die Lehre Jesu entgegengestellt.
9.4 Jesus Christus, der Sohn Davids und Sohn Gottes
David und Abraham
Proselyten
Die erste Zeile des Evangeliums fasst in einer Art Überschrift zusammen, dass es von „Jesus Christus, Sohn Davids, Sohn Abrahams“ handelt. Jesus wird demnach von Anfang an mit zwei Schlüsseltraditionen des Judentums verbunden: Die Vorstellung vom Messias als Sohn Davids und die Überzeugung, dass Abraham Vater des Glaubens Israels ist. Die Aussage zu Abraham wird außerhalb der Genealogie nur dort wieder aufgenommen, wo Material aus der Logienquelle und Markus verarbeitet wird (3,9; 8,11; 22,32). Das Interesse des Matthäusevangeliums an Abraham ist demnach beschränkt. In der Genealogie werden Abraham, David und das babylonische Exil zur Strukturierung herangezogen. Die Geschlechterfolge wird dadurch zu einer Darstellung der Geschichte Israels. Abraham steht für den Anfang und für die vorstaatliche Zeit. Die Hervorhebung Abrahams in der Genealogie steht auch für die Integration der Proselyten, eine Interpretation, die durch die ungewöhnliche Nennung der vier nichtjüdischen Frauen, Tamar, Rahab, Ruth und die Frau des Uria nahegelegt wird (1,3.5 f.). Im antiken Judentum steht Abraham als Vorbild für Glauben, Loyalität und Treue, während Jakob/Israel und dessen zwölf Söhne, die zu den Namensgebern der zwölf Stämme Israels werden, die biologische Abstammung stärker hervorheben. In der Genealogie wird das Gegenüber von Abraham und Jakob zudem reflektiert, indem abweichend von den sonst stereotypen Wendungen, in der die Ahnenfolge formuliert wird, über Jakob heißt: „er zeugte Juda und seine Brüder“ (1,2c; vgl. V. 11). Es wird somit daran erinnert, dass die Grundlage für den Zwölfstämmebund erst in der dritten Generation nach Abraham gebildet wird.
Jesus Christus, der Sohn
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Im Matthäusevangelium steht Abraham, der Proselyt, und nicht Jakob/ Israel und seine Söhne als eponyme Gründer der zwöf Stämme Israels am Anfang der Genealogie Jesu. Abraham leitet die vordavidische Epoche der Geschichte Israels ein.
Die zweite Aussage, dass Jesus der Sohn Davids ist, hat für Matthäus eine deutlich höhere Bedeutung als der Verweis auf Abraham (1,1; 9,27; 12,23; 15,22; 20,30 f.; vgl 1,20; 21,9.15). In der Jesuserzählung des Matthäus wird weit häufiger positiv auf die Davidsohnschaft Jesu verwiesen als in der übrigen Evangelienüberlieferung, die sich zudem über die Ambivalenz dieser Aussage bewusst ist (Mk 12,35–37). Die Position des Matthäus ist, dass Jesus Sohn Davids und Sohn Gottes ist (Mt 22,41–46).30 Die Davidsohnschaft ist die Legitimation dafür, Jesus den Messias nennen zu dürfen. Sie wird zudem in besonderer Weise mit Heilungen und Exorzismen verknüpft. Immer wieder kommen Menschen auf Jesus zu, erwarten Heilung und verbinden diese Erwartung mit der Anrede „Sohn Davids (erbarme dich)“ (9,27; 12,23; 15,22; 20,30 f.; 21,14 f.). Es fällt zudem auf, dass vor allem Blinde in dieser Weise an Jesus herantreten. Matthäus belässt diesen Hinweis allerdings auf der Ebene der Narration und führt anders als das Johannesevangelium (Joh 9,39) nicht weiter aus, ob und auf welche Weise die Blindheit symbolisch zu verstehen ist. Möglicherweise wirken hier Vorstellungen von Salomon, dem Sohn Davids, als Exorzist und Heiler, auf die Darstellung des Matthäus ein (12,42).31 Die dritte titulare Angabe in Mt 1,1 ist das Wort „Christus“. In der matthäischen Jesuserzählung wird immer wieder thematisiert, wie andere den „Christus“ sehen. Herodes fragt „alle Hohepriester und Schriftgelehrten, wo der Christus geboren werden solle“ (2,4). Petrus bekennt für die Jüngergemeinschaft: „Du bist der Christus, der Sohn Gottes“ (16,16). Die Pharisäer äußern sich gegenüber Jesus zur Frage „Was haltet ihr von dem Christus?“ (22,42). Wie selbstverständlich für Matthäus die Aussage, Jesus ist der Christus, geworden ist, zeigt sich auch daran, dass er ihn in den erzählenden Teilen im Gegensatz zur übrigen Evangelienüberlieferung einfach als „der Christus“ bezeichnet (Mt 11,2). In der Wendung „Jesus Christus“ ist die titulare Bedeutung von „Christus“ bzw. Messias bereits zu einem Namensbestandteil abgeblasst. 30 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 351–353. 31 Dvořáček, The Son of David, 208–214.
Sohn Davids
Blindheit
Christusbekenntnis
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Matthäusevangelium
Sohn Gottes
Kinder Gottes
Genauso wichtig wie der Messiastitel ist für Matthäus die Aussage, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Die markinischen Aussagen zu dem Sohn Gottes in den Berichten über die Taufe, die Heilung des besessenen Geraseners, die Verklärung, den Prozess Jesu und die Kreuzigung werden ebenso aufgenommen wie diejenigen in der Perikope der Versuchung Jesu aus der Logienquelle (Mt 3,17; 4,3.6; 8,29; 17,5; 26,63; 27,54). Darüber hinaus bringt Mt 2,15 mit einem Erfüllungszitat aus Hos 11,1 zum Ausdruck, dass Jesus der Sohn Gottes ist. In Mt 16,16 wird das Petrusbekenntnis von Mk 8,29: „Du bist der Christus“ um das für Matthäus wichtige Attribut erweitert: „der Sohn des lebendigen Gottes“. Infolge der Sturmstillung bekennen die Geretteten: „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ (Mt 14,33). In der Lästerungsszene am Kreuz wird die Bezeichnung Sohn Gottes hervorgehoben (27,40.43). Für das Matthäusevangelium ist dieser Titel mehrfach inhaltlich bestimmt. Er greift die Erwartung des davidischen Messias auf, der als König Israels (2,2; 21,5 [Zitat von Sach 9,9]; 25,34.40; vgl. 27,11.29.37.42) in besonderer Weise der Sohn Gottes ist (Ps 2,7; 2Sam 7,14). In ihm konzentrieren sich aber auch die Erwartungen, die an alle Kinder (wörtl. Söhne) Gottes, wie sie in Mt 5,9.45 ausgedrückt sind, gleichermaßen gerichtet sind. Kinder Gottes ist eine Bezeichnung für diejenigen, die in einer uneingeschränkt positiven Beziehung zu Gott stehen. Es ist eine relationale, keine essentialistische, d. h. wesenhafte Aussage. Kinder Gottes sind diejenigen, die den Willen Gottes tun. Der eine messianische und davidische Sohn Gottes besitzt die Sohnschaft nicht aufgrund von Abstammung, sondern durch die „Adoption“ von Gott selbst (Mt 1,16; 2,15).
Die matthäische Christologie stellt heraus, dass Jesus Sohn Davids und damit zugleich königlicher Messias und Sohn Gottes ist. Die Davidsohnschaft wird in der matthäischen Jesuserzählung auch als Beauftragung und besondere Befähigung zur Heilung von Blindheit und zur Dämonenaustreibung verstanden. Die Aussage zur Abrahamkindschaft ist als Hinweis auf den Proselyten Abraham und damit als Relativierung der Bedeutung der Abstammung von Jakob/Israel zu verstehen.
Tora
Die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ist allerdings eine komplexe Angelegenheit. Die Tora hält den Willen Gottes fest. Sie besteht aber aus einer schriftlichen Tora, die in den gesetzlichen Regelungen des Pentateuchs festgehalten ist, und einer mündlichen, die durch die Lehrer Israels, Priester und Schriftgelehrte, gelehrt und angewendet wird. Die Tora ist demnach keine fixe Größe, wie die
Jesus Christus, der Sohn
spätere rabbinische Tradition von den 613 Ge- und Verboten nahelegt.32 Die Tora ist Gegenstand von Interpretation, Auslegung und Anwendung auf den besonderen Fall. Für die Argumentation mit der Tora ist bis heute charakteristisch, dass der Einzelfall und seine Wertung im Mittelpunkt stehen, nicht aber zuallererst abstrakte Grundprinzipien des Rechts in Anwendung gebracht werden. Die Gerechtigkeit im Partikularen ist ihre Stärke, nicht aber die Berücksichtigung universaler Kategorien. Mit dieser Sachlage setzt sich das Matthäusevangelium auseinander. Es hält an der Geltung der Tora unzweifelhaft fest (5,17–20), bietet aber eine Auslegung und Anwendung, die nicht leicht einzuordnen ist. Diese Ambivalenz der matthäischen Tora Jesu konzentriert sich exegetisch in der Frage, ob die programmatische Aussage in 5,17–20, nach der Jesus fordert, die ganze Tora ohne Abstriche zu erfüllen, mit den Aussagen der Antithesen, die mit der programmatischen Wendung „ich aber sage euch“ eigenständige und unkonventionelle Aussagen über das Verständnis und die Anwendung der Tora formulieren, in Übereinstimmung zu bringen ist. Der jüdische Religionswissenschaftler Neusner urteilt jedenfalls, dass Jesus seine Aussage aus Mt 5,17 f. nicht einhalte.33 Diese Problematik konkretisiert sich in den Fragen: Ist die Tora Jesu tatsächlich noch Tora in den Grenzen des Judentums, wenn sie etwa den get, den Scheidebrief (Dtn 24,1), der bis heute grundlegend für das jüdische Eherecht ist, infrage stellt (Mt 5,31 f.), das Schwören, das einen festen Platz in der Tora hat (Lev 19,12; Num 30,3; Dtn 23,22–24), untersagt, oder aber das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) über die üblichen Grenzen auf die Feinde ausweitet (Mt 5,43 f.)? Luz und Räisänen halten daran fest, dass hier ein Widerspruch oder zumindest eine Ambivalenz vorliege. Während Luz diese Differenz auf den Gegensatz zwischen dem matthäischen Toraverständnis und der jesuanischen Torakritik zurückführt,34 sieht Räisänen bei Matthäus ein „flexibles“ Verständnis von „erfüllen“ vorliegen, nach dem dieses „beachten, missachten und reinterpretieren“ umfasse.35 In jedem Fall verfolge Matthäus die Vorstellung, man könne eine Essenz der Tora, nämlich Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe, verwirklichen, dabei Toragebote infrage stellen und dies gleichzeitig als Erfüllung der Essenz der Tora verstehen. Konradt hingegen sieht die Antithesen als Teil des ethischen Diskurses des antiken Judentums, innerhalb dessen all 32 S. o. 62 (Zitat von bMak 23b). 33 Neusner, Ein Rabbi spricht mit Jesus, 51. 34 Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 320–324. 35 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 267.
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Ambivalenz
Essenz der Tora
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Matthäusevangelium
die genannten Anschauungen des matthäischen Jesus bereits auf die eine oder andere Weise diskutiert worden seien. Jesus wende sich im Matthäusevangelium nicht gegen die Tora, sondern gegen ihre Auslegung durch konkurrierende jüdische Gruppen: „Die Antithesen stellen also nicht Jesu Wort über oder gegen das Wort der Tora, sondern Jesu Auslegung des in der Tora offenbarten Willens Gottes gegen die Auslegung von Schriftgelehrten und Pharisäern.“36
Angesichts der besprochenen Problemstellung wird man sagen können, dass die matthäische Auffassung von Tora voller Ambivalenzen und Spannungen ist, und letztlich als ein Selbstmissverständnis erscheint. Die Tora auf eine so konsequente Weise an die Lehre des Messias Jesus zu binden und zugleich den Gehalt der Tora von den Grundprinzipien Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe her zu bestimmen, ist Ausdruck des Denkens einer jüdischen Sondergruppe, die bereit ist, die weiten Grenzen des antiken Judentums zu überschreiten. Die Tora Jesu ist nach Matthäus Erfüllung der Tora Gottes, aber zugleich auch Relativierung, Neuinterpretation und schließlich auch Ablehnung der von „Schriftgelehrten und Pharisäern“ vertretenen Tora. Die Spannung zwischen dem Selbstverständnis, dass die Tora Jesu den Willen Gottes voll und ganz erfülle und kein „Jota“ übergehe (5,17 f.), und den Aussagen der Antithesen zum Scheidebrief, zum Schwören und zur Nächstenliebe als Feindesliebe sind erheblich, auch wenn die matthäische Gemeinde dies womöglich so nicht empfunden hat.
Eschatologie
Die Tora Jesu ist die Form, in der der Wille Gottes von der matthäischen Gemeinde zu erfüllen ist. Die präsentische Zusage, dass man sich dann als Kinder Gottes und als vollkommen verstehen darf, steht allerdings im Horizont der endzeitlichen Wiederkunft Jesu als endzeitlicher Richter. Innerhalb der matthäischen Jesuserzählung wird bereits beim Einzug in den Tempel die eschatologische Dimension des Wirkens Jesu zum Ausdruck gebracht. Die Öffnung des Tempels für die Nichtjuden, die Markus vorschwebt, wird zurückgenommen (vgl. Mk 11,16 f./Mt 21,12 f.), aber das Auftreten Jesu wird als Beginn der eschatologischen Wende dargestellt. Der messianische Ausruf „Hosianna, Sohn Davids“ (21,9.15), die Heilung der Lahmen und Blinden im Tempel und die Bekundung der endzeitlichen Wahrheit durch den Mund der Kinder verweisen alle gemeinsam darauf, dass 36 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 79.
Die „bessere“ Gerechtigkeit
nun der Messias das Haus Gottes betreten hat.37 Das Auftreten des königlichen Messias und Sohn Davids wird aber nun nicht begleitet von Macht und Gewalt, sondern folgt der Vorstellung von Sach 9,9: Mt 21,5 (Sach 9,9): Sagt der Tochter Zions: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und auf einer Eselin sitzend und auf einem Eselsfüllen, dem Jungen eines Lasttiers.
Der Messias wird erst als endzeitlicher Menschensohn, Richter und König mit Macht und Gewalt ausgestattet sein (28,18). Erst der erhöhte Christus hat „alle Gewalt im Himmel und auf der Erde“. Er fordert zur universalen Mission auf. Die Taufe auf eine triadische Formel und die Verpflichtung auf die Lehre Jesu charakterisieren die neue Gemeinschaft. Diese erwartet ein endzeitliches Gericht, in dem der Messias der Richter sein wird. Gott bleibt im Gerichtsgeschehen ganz im Hintergrund und überlässt den Thron des Königs (25,34.40) dem Messias. Das Matthäusevangelium verwirklicht die hoheitlichen Erwartungen an den Messias, wie sie etwa in PsSal 17 ausgedrückt sind, indem es den Auferstandenen als den erhöhten Herrn und endzeitlichen Richter ganz in die Mitte des eschatologischen Geschehens stellt.
Mission
Jesus ist von Anfang an Sohn Abrahams, Sohn Davids, Christus/Messias, König und Sohn Gottes. Er ist vor allem der Lehrer der endzeitlichmessianischen Tora und bringt die eschatologische Wende im Tempel und damit in Israel. Als erhöhter Herr hat er alle Macht, die Ausbreitung seiner Gemeinschaft der Jünger durch Taufe und Lehre in die ganze Welt zu unterstützen. Als endzeitlicher messianischer Richterkönig richtet er alle Völker. Der erhöhte Herr dominiert das endzeitliche Geschehen, während Gott im Hintergrund bleibt.
9.5 Die „bessere“ Gerechtigkeit und das Gericht Es wurde bereits festgehalten, dass für das Matthäusevangelium die Lehre Jesu der alleinige Maßstab ist. Diese steht nicht im Gegensatz zur Tora, sondern ist deren Erfüllung und damit Wille Gottes. Genauso wird auch die Schrift durch die Taten Jesu und die im Evangelium berichteten Geschehnisse „erfüllt“ (gr. pleroun; πληροῦν; 16 Mal in Mt). Das Leben 37 Lahmen und Blinden war das Betreten des Tempels verboten: 2Sam 5,8; 1Q28 (=11QSa) 2,5–7; 1QM 7,4; 11Q19 (=11QT) 45,12b–14. Zu den Kindern vgl. Mal 3,23 f.; Jub 23,26–29.
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Matthäusevangelium
Ethik
gegen Heiden und Heuchler
scharfe Kritik
Gericht
Jesu, seine Worte und Taten, stehen demnach ganz im Mittelpunkt des Evangeliums und seiner Theologie. Das gilt auch für die Ethik, die ausschließlich auf Jesus zurückgeführt wird, wenn auch mit dem besonderen Anspruch, dass diese Lehre dem Willen des „Vaters im Himmel“ voll und ganz entspricht und deswegen uneingeschränkte Gültigkeit hat. Das ethische Konzept des Matthäusevangeliums ist trotz seiner apodiktischen Präsentation Teil eines Diskurses. Diejenigen, die in die soziale Welt der Ethik Jesu miteinbezogen werden, gelten als „Brüder“ bzw. Geschwister (5,22–24; 7,3–5; 25,40). Die Anrede als „Bruder/ Schwester“ war innerhalb des Judentums üblich, wurde aber auch in antiken Vereinen verwendet. Sie verweist auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer durch ethnische, religiöse oder andere Gemeinsamkeiten miteinander verbundenen Gemeinschaft. Es ist naheliegend, dass Matthäus bei einem Bruder oder einer Schwester sowohl an Juden überhaupt als auch an die nichtjüdischen Angehörigen seiner Gemeinschaft denkt. Diesen Brüdern und Schwestern gilt die Tora Jesu, die nichts anderes ist als der Wille Gottes. Wie umstritten die ethische Lehre Jesu ist und auf welche Weise sie sich als Teil eines Diskurses versteht, wird deutlich, wenn auf Personengruppen verwiesen wird, die sich anders verhalten, wie etwa die „Heiden“ (5,47; 6,7.32; vgl. 7,6) oder diejenigen Lehrer des Judentums, die „eines der geringsten Gebote auflösen“ wollen (5,19). Am deutlichsten jedoch werden diejenigen angeklagt, die zwar die Gebote kennen, diese aber nicht tun, nicht ausreichend erfüllen, nur vorgeben, sie zu befolgen, oder sie gar vorwiegend um des öffentlichen Ansehens willen, d. h. demonstrativ, erfüllen: die „Heuchler“ (6,2.5.16; 7,5), daneben aber auch „Falschpropheten“ (7,15) und diejenigen, die Jesus als ihren Herrn bekennen, und doch nicht der Tora folgen (7,21–23). Die genannten Abgrenzungen gegenüber den Nichtjuden entsprechen dem allgemeinen Selbstbewusstsein des antiken Judentums von seiner ethischen Überlegenheit. Die Abgrenzungen nach innen gegenüber denjenigen, die die Tora nicht angemessen, nicht mit ganzem Herzen oder zu ihrem eigenen sozialen Prestige befolgen, ist eine Kritik, die ebenfalls innerhalb des antiken Judentums immer wieder einmal aufkommt. Die Schärfe, die diese Kritik nach innen im Matthäusevangelium erreicht, ist allerdings ungewöhnlich. Sowohl die Gruppen innerhalb des Judentums als auch diejenigen innerhalb der Jesusgemeinschaft, die der Tora Jesu nicht folgen, werden durch teilweise drastische Gerichtsdrohungen ermahnt. Ihnen droht die Verbringung an den Ort der Strafe, der immer wieder mit „Finsternis“ (8,12; 22,13) oder mit „Heulen und Zähneklappern“ (8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30) oder „ewiges Feuer“ (25,41; vgl. V. 46) umschrieben wird. Dort werden die „Heuchler“ sein (24,51). Die Schärfe dieser Wen-
Die „bessere“ Gerechtigkeit
dungen steigert sich noch in den Äußerungen gegenüber denjenigen, die dem Matthäusevangelium in besonderer Weise als „Heuchler“ gelten: den Pharisäern. Die rhetorisch eindrucksvoll gestaltete Pharisäerrede in Mt 23 ist in ihrer Rezeption immer wieder als mutige und scharfe Kritik gegenüber den Herrschenden verstanden worden. Sie hat aber auch in der langen Geschichte der Judenfeindschaft einen zentralen Platz erlangt und hat zur Verfestigung antisemitischer Stereotype beigetragen. Sie entfaltet ihre rhetorische Kraft, indem sie auf Karikierungen zurückgreift, die heutige Leser eher unangenehm berührt. Luz und Räisänen beziehen die Aussagen der Pharisäerrede auf das Gebot der Feindesliebe und urteilen, dass Matthäus mit diesen Worten dieses Gebot selbst übertreten habe.38 Konradt schlägt vor, dass der polemische Text vor dem Hintergrund eines scharfen Konflikts zu interpretieren sei, in dem „die Konfliktparteien nicht zu einem fairen Umgang miteinander in der Lage waren“.39 In der Pharisäerrede wird die Ambivalenz der matthäischen Konzeption offensichtlich: Um das Tun des Guten einzuschärfen und um die Notwendigkeit der Erfüllung der Tora Jesu zu unterstreichen, greift der Autor auf plakative und verzerrende Gegenüberstellungen zurück, die auch sonst sein Evangelium insbesondere in den Gerichtstexten und Sondergutgleichnissen prägen. Es ist unangemessen, der Pharisäerrede besonders kritisch zu begegnen, die übrigen polemischen Passagen des Matthäusevangeliums aber außen vor zu lassen. Es stellt sich demnach die ethische Frage, wie weit man um des Besseren willen die Vertreter der Gegenposition verzerrt darstellen darf. Diese ethische Frage geht unmittelbar in die politische über, insofern im Matthäusevangelium auch die Fragen der Machtverteilung, der Elitenkritik und der Elitenkonkurrenz gestellt sind. Inwiefern ist es legitim, die sozial und materiell Privilegierten sowie die Herrschenden und ihr Handeln abzuwerten, um ihre Machtstellung zu kritisieren? In ethischer wie politischer Hinsicht geht das Matthäusevangelium in seinen Antworten sehr weit. Die Kritik an den Pharisäern verwundert aber nicht nur wegen ihrer Schärfe, sondern auch wegen der Spannung, in der sie zu der positiven Aussage über die Lehre der Pharisäer steht: Mt 23,2f: Auf den Lehrstuhl Moses haben sich die Schriftgelehrten und die Pharisäer gesetzt. (3) Alles nun, was sie euch sagen, tut und haltet, nach ihren Werken aber handelt nicht, denn sie sagen es und tun es nicht. 38 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 268; Luz, Evangelium nach Matthäus 3, 352. 39 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 353–366, Zitat 366.
Pharisäerrede
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Matthäusevangelium
Manche Exegeten wählen dieses Wort als Ausgangspunkt der Interpretation und behaupten, Matthäus wollte die Lehre der Pharisäer nur ergänzen oder bestenfalls das mangelnde Tun der Pharisäer kritisieren.40 Allerdings weisen die Antithesen, und die Kritik an den Pharisäern in Mt 23 in eine andere Richtung. Es spricht doch einiges dafür, dass die in den Antithesen zurückgewiesenen Thesen, eingeleitet mit „ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt worden ist“, halachische Lehrsätze der gleichen Pharisäer und Schriftgelehrten sind, die in Mt 23 angesprochen werden.41 Man wird also festhalten müssen, dass neben positiven Aussagen zur Lehre auch deren Kritik steht und schließlich vor allem von den Jüngern eine bessere Gerechtigkeit gefordert wird. 5,20: Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit über die der Schriftgelehrten und Pharisäer hinausgeht, dann werdet ihr nicht in das Himmelreich gelangen. bessere Gerechtigkeit
Die bessere Gerechtigkeit ist zunächst durch das quantitative Moment des „Mehr“ gekennzeichnet. Es wäre aber ein Missverständnis zu meinen, dass es allein um die Häufigkeit und den Umfang des Tuns des Guten geht. Die Antithesen, deren Form zwar auf Matthäus, deren Gehalt aber doch mit einiger Sicherheit auf Jesus selbst zurückgeht, machen deutlich, dass sich die bessere Gerechtigkeit im Vorfeld des Toragebotes verwirklicht.42 Der Willensentschluss „im Herzen“ des Menschen ist der Ort (5,28), an dem sich Gerechtigkeit verwirklicht. Diese wird aber nicht im Sinne der kantischen Überlegung, dass nur der gute Wille es verdient, gut genannt zu werden, verstanden. Vielmehr ist ein Willensentschluss gemeint, der den Willensdurchbruch zur Tat und damit die Tat selbst bereits miteinschließt. In diesem Bereich des Vorfelds der Entscheidung zur Tat, ihrer Vorbereitung oder auch Ermöglichung setzen die Forderungen an: Nicht nur der Verzicht auf das Töten erfüllt den Willen Gottes, sondern vor allem der Entschluss, bereits das Zürnen oder Herabwürdigen zu unterlassen. Die Gestaltung dieses Vorfelds macht das „Mehr“ an Gerechtigkeit aus, das die Bergpredigt fordert. Das lässt sich in Analogie weiterführen: Ehebruch soll nicht sein, das „Mehr“ liegt aber darin, bereits das willentliche Begehren zu unterlassen. Nicht nur im Schwören soll die Wahrheit beachtet sein, sondern in jeglicher Aussage. Nicht nur der Verzicht auf Rache ist gerecht, sondern der Verzicht auf jegliche Widervergeltung macht das „Mehr“ aus. Nicht nur die fürsorgliche 40 Fiedler, Matthäusevangelium, 106. 41 Konradt, Evangelium nach Matthäus, 78 f. 42 S. o. 99 (Toraverständnis Jesu).
Die „bessere“ Gerechtigkeit
Respektierung des Nächsten ist gerecht, sondern erst die Liebe gegenüber dem Feind lässt die geforderte Gerechtigkeit über die der Pharisäer und Schriftgelehrten hinausgehen. Die Antithesen führen demnach die ethische Forderung Jesu weiter und stellen sie bewusst der Lehre und vor allem dem mangelnden Tun der Gerechtigkeit von Schriftgelehrten und Pharisäern gegenüber. Der Begriff „Gerechtigkeit“ geht weder auf Markus noch auf die Logienquelle zurück (Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32).43 Er wird von Matthäus gewählt, um den kontroversen Diskurs um die Geltung der Tora mit Pharisäern und Schriftgelehrten zu führen. Er bezeichnet sowohl den Inhalt als auch die Substanz der Tora und schließlich auch die Essenz des göttlichen Willens. Im Rahmen des kontroversen ethischen Diskurses mit Heiden, Heuchlern, Schriftgelehrten und Pharisäern erscheint die sogenannte „goldene Regel“ als eine vergleichsweise rationale und konsensfähige Maxime. Die matthäische Fassung erweitert die Version der Logienquelle Q 6,31 um die Voranstellung des „alles“ und um das Urteil, dass genau dies dem „Gesetz und den Propheten“ entspricht.
Gerechtigkeit
7,12: Alles nun, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun sollen, das tut auch ihr ihnen. Denn das ist das Gesetz und die Propheten.
Die Voranstellung des „alles“ macht deutlich, dass diese Anweisung gleichzeitig Zusammenfassung der Ethik der Bergpredigt wie auch Ausblick auf die Gestaltung nicht näher erörterter ethischer Konflikte bieten soll.44 Im Vergleich zu bShab 31a ist die positive Perspektive, der Blick auf das Gute und nicht auf das zu vermeidende Schlechte durchaus bedeutsam.45 Auch die goldene Regel eröffnet dadurch die Wahrnehmung des Vorfeldes des Liebeshandelns, indem sie auf den Aspekt des Wünschenswerten und Fürsorglichen aufmerksam macht. Im Kontext der Bergpredigt heißt das dann, dass Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit den Horizont des Wünschenswerten bestimmen. Die Erwartung, dass auf die gute Tat auch ein gutes Ergehen folgt, ist nicht ausgeprochen. Die Sicherung der Reziprozität durch die solidarische Gemeinschaft, die grundlegend für die konnektive Gerechtigkeit ist, ist nur in der Weise der Antizipation des Guten und Gerechten zu erreichen. Die Reziprozität ist aber nicht die erwartete Folge der goldenen Regel, die demnach weder ein do ut des (lat. „ich gebe, damit du gibst“) noch einen naiven Egoismus zum Ausdruck bringt. Auch 43 Bormann, Gerechtigkeitskonzeptionen, 79–83. 44 Luz, Evangelium nach Matthäus 1, 505–513; Fiedler, Matthäusevangelium 188 f. 45 S. o. 62 (Zitat von bShab 31a).
reziproke Ethik
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Matthäusevangelium
Feindesliebe
die goldene Regel bekommt ihr ethisches Gewicht in der voraussetzungslosen Entscheidung desjenigen, der das für sich Wünschenswerte erwägt und daraus die Entscheidung über die Art und Weise seines Handelns gegenüber dem Nächsten bestimmt. Das Tun dieser Gerechtigkeit ist nach Matthäus die Tora Jesu und der Wille Gottes. Deswegen fordert er es von den Menschen ohne Ausnahme ein. Die Gerichtsvorstellungen setzen an der Forderung des Tuns ein. Sie sind funktional auf das Tun der Gerechtigkeit im Sinne der Bergpredigt bezogen, insofern sie dessen Unausweichlichkeit demonstrieren. Der Gleichniszyklus zum Gericht (24,32–25,46) schärft ein, dass die Heuchler ebenso an den Ort der Strafe gelangen (24,51) wie diejenigen, deren Tun nicht der Forderung des uneigennützigen Liebeshandelns an den „Geringsten“ entspricht (25,40.45). Das matthäische Verständnis von Liebe und Gerechtigkeit ist eine Herausforderung. Um das Tun der Liebe in der anspruchsvollsten Form der Feindesliebe zu erwirken, greift er zu sprachlichen Mitteln und zu Vorstellungen von Strafe und Drohung, die dem Hörer und Leser keinen Spielraum zum eigenen Abwägen belassen. Die Kreativität, die das Matthäusevangelium fordert, ist keine Kreativität des klugen Denkens und Empfindens, sondern die Kreativität der guten Tat, die der Willensrichtung des Evangeliums entspricht. Diese Kreativität erkennt den „Geringsten“ und dessen Not, ob es Hunger, Durst, Blöße, Krankheit, Fremdheit, Obdachlosigkeit oder Gefangenschaft ist (25,35–37), und entscheidet sich dazu, diesen Nöten Abhilfe zu schaffen.
Das „Mehr“ an Gerechtigkeit, die „bessere Gerechtigkeit“ besteht darin, die Tora Jesu zu erfüllen. Sie bezieht das Vorfeld der Gebote ein, um Verhaltens- und Sichtweisen bereits im Ansatz zu verhindern, die zum Bruch der Gebote führen könnten. Die Tora Jesu wird im Personenzentrum des Menschen („Herz“) angesiedelt. Ihre Erfüllung soll von der sozialen Welt unbeeinflusst sein („im Verborgenen“). Ihr Tun verwirklicht Barmherzigkeit und Liebe und spiegelt dadurch die Eigenschaften Gottes wider. Die Gerichtsvorstellungen sind ganz darauf ausgerichtet, das Tun der Tora Jesu einzuschärfen.
9.6 Von Israel zur weltweiten Mission Innerhalb der Evangelienüberlieferung verwendet nur das Matthäusevangelium den Begriff ekklesia (ἐκκλησία) zur Bezeichnung der Jesusgemeinschaft (16,18; 18,17). Das Wort ist bei Paulus und in der Apostelgeschichte häufig und bezeichnet die Gemeinde, späterhin die Kirche
Von Israel zur Mission
als Ganzes (z. B. Kol 1,18.24; Eph 1,22). Da für Matthäus nur das Gültigkeit hat, was auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann, berichtet er von der Gründung der ekklesia durch Jesus im Petruswort (16,18) und von der Einsetzung von Regeln des Gemeindelebens in der Gemeinderede (18). Dieser ekklesia steht die Synagoge gegenüber (4,23; 6,2.5; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54; 23,6.34), die wenig vorteilhaft dargestellt wird. Es wird festgehalten, dass Jesus in „ihren“ Synagogen verkündigte und lehrte (9,35; vgl. 12,9; 13,54). In den Synagogen haben aber die „Heuchler“ das Sagen und dort werden auch die Jünger gefoltert werden (12,9; 23,34). Das Verhältnis von ekklesia und Synagoge ist aus Sicht des Matthäusevangeliums demnach durchaus feindselig. In der exegetischen Diskussion herrschte lange die Sichtweise vor, dass das Matthäusevangelium den Bruch der ekklesia mit dem Judentum thematisiere. In der älteren Exegese wurde dieser Bruch als theologisch notwendige Grenzziehung zwischen Christentum und Judentum, Kirche und Synagoge selbstbewusst vorgetragen und positiv bewertet. Der Wandel in der Behandlung der Frage des Verhältnisses von Judentum und Christentum seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts führte dazu, dass man sich mit der These des Bruches nicht mehr zufrieden gab. Steht das Matthäusevangelium dem Judentum nicht doch so nahe, dass man es als eine Auseinandersetzung, als einen Diskurs mit dem antiken Judentum verstehen müsse, ja sogar als einen an das antike Judentum gerichteten Appell, die matthäische Jesusgemeinschaft und deren Integration von Nichtjuden innerhalb der Grenzen des Judentums zu akzeptieren?46 Tatsächlich gestehen neuere Interpretationen aus dezidiert jüdischer Perspektive dem Matthäusevangelium aufgrund seiner Hochschätzung der Tora zwar die größte Nähe unter den Evangelien zum Judentum zu, wenden aber ebenso deutlich ein, dass auch dieses Evangelium zahlreiche Gesichtspunkte vermissen lässt, die von einer aus jüdischer Sicht angemessenen Torainterpretation zu erwarten sind: Die Aufmerksamkeit für das Land Israel, die Liebe zum Volk Israel als dem erwählten Volk und eine Toralehre, die nicht nur den einzelnen anspricht, sondern das gesamte Volk in seiner sozialen und politischen Verfasstheit.47 Auf die Frage, ob das Matthäusevangelium eher für Nähe oder Distanz zum Judentum stehen könne, ist keine einfache Antwort möglich. Zunächst ist zu beachten, dass das Verhältnis der matthäischen Jesusgemeinschaft zu Israel immer nur gebrochen durch die narrative 46 Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, 203. 47 Neusner, Ein Rabbi spricht mit Jesus, 52 f.; Basser, The Gospel of Matthew and Judaic Traditions, 19.
287
Kirche und Israel
Integration der Nichtjuden
jüdische Perspektive
288
Matthäusevangelium
Kritik an Israel
Konzeption des Evangeliums als Jesuserzählung zur Sprache kommt. Da aber dieses Evangelium die Lehre der Jesusanhänger aller Zeiten auf die Verkündigung Jesu zurückführt, können die Aussagen Jesu im Evangelium als bleibend gültig verstanden werden. Etwas komplexer ist allerdings die Problematik, mit welchem Gewicht man die Erzählzüge des Evangeliums auswerten kann. Ist etwa die Aussage in Mt 27,25, dass das „ganze Volk“ die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu übernehme, als grundsätzliche Aussage zur Schuld Israels zu verstehen oder meint die Wendung eben nur diejenigen Angehörigen des Volkes, die in der Erzählszene gerade vor Pilatus stehen, etwa die „Bewohner Jerusalems“?48 Luz versteht die Aussage dieses Verses als die Proklamation der vollständigen Schuldzuweisung an Israel und des grundsätzlichen Bruchs der matthäischen Jesusgemeinschaft mit Israel.49 Dieser Einschnitt erkläre die Spannung zwischen den Aussagen Jesu in 10,5 f. und 15,24 einerseits, die die exklusive Hinwendung Jesu und der Jünger zu Israel forderten, und seinem Missionsbefehl in 28,19 andererseits, der die Jünger wiederum anweist, sich aufzumachen und „alle Völker“ (gr. panta ta ethne; πάντα τὰ ἔθνη) zu Jüngern zu machen. Mt 10,5 f.: Jesus sandte diese Zwölf aus und wies sie an, indem er sagte: Weicht nicht ab auf einen Weg der (nichtjüdischen) Völker und geht nicht in eine Stadt der Samaritaner. (6) Geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Mt 15,24: Der (Jesus) aber antwortete und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
Sonderstellung Israels
Diese ursprüngliche Sendung zu Israel sei durch die schuldhafte Zurückweisung des Messias Jesus und seiner Jünger durch Israel gescheitert. Deswegen habe sich die matthäische Gemeinde nach Ostern den nichtjüdischen Völkern zugewendet und die universale Mission in den Mittelpunkt gestellt (28,19). Demgegenüber macht Konradt geltend, dass beide Aussagen, die Restitution Israels und die Mission der nichtjüdischen Völker, in der Christologie des Matthäusevangeliums gleichursprünglich verankert seien. Es könne deswegen von einem Bruch der matthäischen Gemeinde mit Israel keine Rede sein. Vielmehr werde das Nacheinander der beiden divergierenden Missionsbefehle in der Jesuserzählung nicht als Ablösung des einen durch den anderen, sondern als die Verwirklichung der Davidsohnschaft Jesu für Israel und der 48 Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, 133. 49 Luz, Evangelium nach Matthäus 4, 276–281.
Die „bessere“ Gerechtigkeit
Abrahamsohnschaft Jesu für die nichtjüdische Welt realisiert: „Matthäus hat seine Neuerzählung der Jesusgeschichte durch ein christologisches Erzählkonzept strukturiert, das die Betonung der heilsgeschichtlich begründeten Sonderstellung Israels und die Universalität des Heils in Christus miteinander vermittelt.“50 Diese integrative Interpretation ist allerdings darauf angewiesen, die scharfen Polemiken des Matthäus gegen „Schriftgelehrte und Pharisäer“ als eine gruppenbezogene Kontroverse zu interpretieren, in der nicht die Sonderstellung Israels gegenüber Gott, sondern ausschließlich die Frage der Führung in Israel Gegenstand des unversöhnlichen Streits sei. Tatsächlich sind die Polemiken, etwa in der Gleichniskomposition von Mt 21,28–22,14, die der feindseligen Pharisäerrede vorangestellt sind, zunächst gegen die führenden Gruppen in Israel gerichtet. Diese lassen sich aber nicht so einfach in der Weise von Israel trennen, dass das Volk und seine Autoritäten voneinander losgelöst betrachtet werden können. Forschungen zum antiken Verständnis von Ethnizität weisen darauf hin, dass zum Selbstverständnis einer Ethnie auch das Einverständnis über die Frage, wer als Elite den Führungsanspruch in Politik, Wirtschaft, Recht und Religion ausüben soll, gehört. Es ist insbesondere fester Bestandteil des Selbstverständnisses Israels, dass es von einer Elite aus kundigen Schriftgelehrten und edlen Angehörigen der Priestergeschlechter geführt wird. Wenn diese Führung so abgrundtief schlecht ist, wie es das Matthäusevangelium ausdrückt, dann bleibt davon auch Israel als Ganzes nicht unberührt. Abgesehen von diesem sozialgeschichtlichen Einwand aus der Ethnizitätsforschung ist es zudem alles andere als deutlich, dass das Matthäusevangelium auch nur annähernd konsequent eine positive Sicht auf das Volk Israel von einer negativen Sicht der „Schriftgelehrten und Pharisäer“ trennt, wie das für die oben vorgestellte integrative Interpretation nötig wäre. Das zeigen neben der Zustimmung des Volkes zur Hinrichtung Jesu und der Schuldübernahme in 27,25 auch zahlreiche matthäische Ergänzungen, etwa wenn der Glaube des römischen Hauptmanns von Kapernaum nicht nur als einer gelobt wird, wie man ihn „in Israel“ nicht findet, sondern zudem ausgesagt wird, dass die „Kinder des Reichs“ vom endzeitlichen Mahl ausgestoßen werden (8,12) oder wenn im Gleichnis von den bösen Winzern in 21,43 die Aussage ergänzt wird, nach der „das Reich Gottes weggenommen und einem Volk gegeben werden wird, das Frucht bringt“. Selbst wenn man diese Aussagen nicht stringent als Ablösung des Gottesvolkes Israel interpretiert, wird man aber in ihnen keine scharfe Unterscheidung von Volk und Führung finden, die einzig 50 Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, 118.
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Elite Israels
Glaube in Israel?
Ablösung des Gottesvolkes?
290
Matthäusevangelium
zum Ausdruck bringen möchte, dass das Volk Israel eine neue Führung bekommen muss, um dann Frucht zu bringen bzw. die Tora besser, gerecht und vollkommen zu erfüllen. Vielmehr hält die matthäische Jesuserzählung an den Ambivalenzen einer Kritik fest, die sich gegenüber den „Schriftgelehrten und Pharisäern“ vernichtend negativ äußert, das Volk in dieser Kritik mitbetroffen sieht und daraus die Hinwendung zu den nichtjüdischen Völkern ableitet. Es stellt sich schließlich die Frage, worin die Sonderstellung Israels noch bestehen soll, wenn ihre Führung als „Kinder der Hölle“ bezeichnet werden (23,15; vgl. V. 33) und alle übrigen Angehörigen des Volkes Israel nach den gleichen Regeln gerichtet werden wie die nichtjüdischen Völker (25,31–46). Die genannten Gesichtspunkte weisen daraufhin, dass Matthäus die Sonderstellung Israels als heilsgeschichtliches Faktum der Vergangenheit, nicht aber als bleibende Notwendigkeit ansieht. Ekklesia und Synagoge stehen einander gegenüber. Die ekklesia ist Gemeinschaft derjenigen, die die Tora Jesu tun. Die Synagoge ist der Ort, an dem Jesus zwar gelehrt hat, die aber jetzt fest in der Hand der Gegner der matthäischen Gemeinde ist. Diese Gegner, „Schriftgelehrte und Pharisäer“, werden nicht nur scharf kritisiert, sondern als gottfeindliche Autoritäten dargestellt. Diese Kritik an denjenigen, die Israel führen, stellt auch das Selbstverständnis des Gottesvolkes, das dieser Führung vertraut, infrage. Es ist allerdings nicht deutlich, ob und in welcher Hinsicht das Matthäusevangelium nach der Auferstehung Christi und der Forderung, die nichtjüdischen Völker die Tora Jesu zu lehren, weiterhin von einer Sonderstellung Israels ausgeht.
Literatur Basser, Herbert W.: The Gospel of Matthew and Judaic Traditions. A Relevance-based Commentary, Leiden 2015 (The Brill reference library of ancient Judaism 46). Bormann, Lukas: Gerechtigkeitskonzeptionen im Neuen Testament, in: Markus Witte (Hg.), Gerechtigkeit, Tübingen 2012 (TdT 6), 69–97. Carlston, Charles E./Evans, Craig A.: From Synagogue to Ecclesia. Matthew’s Community at the Crossroads, Tübingen 2014 (WUNT 334). Daube, David: The New Testament and Rabbinic Judaism, London 1956 (JLCR 1952). Dennert, Brian C.: John the Baptist and the Jewish Setting of Matthew, Tübingen 2015 (WUNT 2/403). Doole, J. Andrew: What was Mark for Matthew?. An Examination of Matt�hew’s Relationship and Attitude to his Primary Source, Tübingen 2013 (WUNT 2/344).
Literatur
Dunn, James D.G.: Jesus Remembered. Christianity in the Making 1, Grand Rapids 2003. Dvořáček, Jiří: The Son of David in Matthew’s Gospel in the Light of the Solomon as Exorcist Tradition, Tübingen 2016 (WUNT 2/415). Fiedler, Peter: Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006 (ThKNT). Jeremias, Jörg: Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015. Konradt, Matthias: Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015 (NTD 5,1). Ders.: Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, Tübingen 2007 (WUNT 215). Ders.: Studien zum Matthäusevangelium, Tübingen 2016 (WUNT 358). Levine, Lee I.: The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven/ London ²2005. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, 4 Bd., Neukirchen-Vluyn Bd. 1 ⁵2002, Bd. 2 ⁵2013, Bd. 3 ²2012, Bd. 4 2002 (EKK 1,1–4). Ders.: Spaltung in Israel. Ein Gespräch mit Matthias Konradt, in: Christfried Böttrich (Hg.), Evangelium ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche, Frankfurt am Main 2009, 285–301. Mtata, Kenneth (Hg.): To All the Nations. Lutheran Hermeneutics and the Gospel of Matthew, Leipzig 2015. Neudecker, Reinhard: Moses Interpreted by the Pharisees and Jesus. Matthew’s Antitheses in the Light of Early Rabbinic Literature, Rom 2012. Neusner, Jacob: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog, München 1997. Paul, Dagmar J.: „Untypische“ Texte im Matthäusevangelium? Studien zu Charakter, Funktion und Bedeutung einer Textgruppe des matthäischen Sonderguts, Münster 2005 (NTA 50). Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010. Repschinski, Boris: The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form und Relevance for the Relationship between the Matthean Community and Formative Judaism, Göttingen 2000 (FRLANT 189). Saldarini, Anthony J.: Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago/London 1994 (CSHJ). Schäfer, Peter: Jesus im Talmud, Tübingen ²2010. Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014. Strotmann, Angelika: „Mein Vater bist du!“ (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt 1991 (FTS 39). Vahrenhorst, Martin: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, Neukirchen-Vluyn 2002 (WMANT 95). Wengst, Klaus: Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010. Wright, Nicholas T.: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott 2. Jesus und der Sieg Gottes, Marburg 2013.
291
10 Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Abb. 10: Die Provinzen des Imperium Romanum im östlichen Mittelmeerraum (27 v. Chr.–211 n. Chr.).
294
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
10.1 Einführung
von Jerusalem nach Rom
Prolog
„Wie in Jerusalem […] so auch in Rom“ (Apg 23,11): Zwischen diesen beiden antiken Metropolen liegt der geographische, kulturelle, religiöse und politische Raum, über den sich die Gesamterzählung des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte erstreckt. Die beiden neutestamentlichen Schriften stammen vom gleichen Autor und bilden das lukanische Doppelwerk. Es umfasst mehr als ein Viertel des neutestamentlichen Kanons (ca. 27,5 %) und erhebt dadurch, dass es sowohl eine Biographie Jesu als auch eine Geschichte des Urchristentums enthält, einen geradezu umfassenden Anspruch auf die Darstellung des Beginns des Christentums. Die obige Karte zeigt dieses geographische Gebiet, aber der aufmerksame Betrachter entdeckt, dass Jerusalem gar nicht eingetragen ist. Tatsächlich hat Jerusalem zur Abfassungszeit des lukanischen Doppelwerks (ca. 80–90 n. Chr.) aufgrund der Zerstörung des Tempels und der Stadt im Jahr 70 n. Chr. erheblich an Ausstrahlungskraft und Bedeutung verloren. In Hinsicht auf Jerusalem, die Stadt des Heiligtums, blickt der Autor demnach auf eine vergangene Größe zurück. In Rom jedoch steht ihm das politische Zentrum des Imperium Romanum und damit der gesamten Mittelmeerwelt vor Augen. Rom ist demnach folgerichtig das Ziel der lukanischen Gesamterzählung und die Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten der römischen Weltherrschaft gehört zu ihren wichtigen Themen, deren narrative Bearbeitung sich von den Nennungen der Kaiser Augustus und Tiberius am Anfang des Evangeliums (Lk 2,1; 3,1) bis zur Haft des Paulus in Rom erstreckt (Apg 28,16). In den Vorworten zu beiden Werken legt der Autor im Stil einer Selbstvorstellung Rechenschaft über seine Absichten ab (Lk 1,1–4; Apg 1,1 f.). Er habe im Evangelium angestrebt, genau und der Reihe der Geschehnisse nach eine zuverlässige „Erzählung“ (gr. diegesis; διήγησις) der Jesusgeschichte abzufassen. Das Vorwort der Apostelgeschichte blickt darauf nochmals zurück und spricht vom „ersten Bericht“ (gr. protos logos; πρῶτος λόγος). Beide Bände sind dem „edlen Theophilus“ gewidmet. Von diesem „Freund Gottes“ ist sonst nichts bekannt. In der Antike war die soziale Konvention der Widmung an einen Höhergestellten verbreitet und zielte auf dessen Mäzenatentum (Jos. Ant. 1,8; Ap. 1,1). Mit dieser Widmung an einen „edlen“ Leser (gr. kratistos; κράτιστος) positionieren sich Autor und Werk in der sozialen Welt der Wohlhabenden und Wissbegierigen. Lukas nutzt diese literarische Konvention demnach, um den Status seines Werkes und der in ihm berichteten Ereignisse zu heben. Dieses Interesse des Autors an einer Statushebung zeigt sich auch an weiteren literarischen Besonderheiten seiner Schriften, wie weiter unten noch näher erläutert werden wird (10.2). Aus dem Werk des Josephus
Einführung
wissen wir um das Interesse der Nichtjuden am Judentum (Ant. 1,8 f.), Lukas deutet mit der Widmung an, dass auch das entstehende Christentum die Aufmerksamkeit gebildeter Römer und Griechen wecken sollte. Der Autor nennt seinen Namen nicht. Irenäus, Eusebius von Caesarea und der Kanon Muratori greifen für dessen Identifikation auf die Notizen in Phlm 24 („Mitarbeiter“), Kol 4,14 („Arzt“) und 2Tim 4,11 (bei Paulus in Rom) zurück, die einen Lukas nennen. Sie verbinden diese Informationen mit der Beobachtung, dass der Verfasser in den sogenannten „Wir-Berichten“ der Apostelgeschichte (Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16) die 1. Pers. Pl. wählt und damit seine Anwesenheit andeutet. Der Autor des Doppelwerks sei demnach Lukas, ein Reisebegleiter des Paulus, ein „gebildeter Mann“ und von Beruf Arzt, gewesen.1 Da aber weder die Identität der in Phlm 24; Kol 4,14 und 2Tim 4,11 genannten Personen, die den Namen „Lukas“ tragen, mit dem Verfasser der lukanischen Schriften noch die Verbindung irgendeines „Lukas“ oder des Autors mit dem „Wir“ in der Apostelgeschichte nachgewiesen werden kann, hält nur eines der drei genannten Merkmale einer kritischen Prüfung stand: Der Verfasser des lukanischen Schrifttums muss über eine gewisse Bildung und eine schriftstellerische Schulung verfügt haben. Es liegen demnach keine zuverlässigen textexternen Informationen über den Autor des lukanischen Doppelwerks vor. Um etwas über den „Erzähler“, wenn auch als „Papierwesen“ (Roland Barthes), zu erfahren, müssen die Hinweise in den beiden Schriften ausgewertet werden.2 Sie zeigen, dass Lukas sich als ein Vertreter der dritten Generation der Jesusgemeinschaft vorstellt. Sein Bericht beruht auf „Augenzeugen“ (1. Generation) und „späteren Dienern des Wortes“ (2. Generation). Er gibt zudem an, er habe bereits „viele“ weitere schriftliche Berichte über Jesus ausgewertet. Aufgrund von umfangreichen wörtlichen Übereinstimmungen mit der synoptischen Überlieferung ist die Nutzung des Markusevangeliums und der Logienquelle belegt. Aus den Forschungen des Lukas sind das umfangreichste Evangelium und die einzige Apostelgeschichte des neutestamentlichen Kanons hervorgegangen. Inhaltlich sind sowohl die Jesuserzählung als auch das Wirken des Petrus und des Paulus enthalten. Geographisch gesehen reicht sein Bericht von Jerusalem bis Rom. Den Umfang und die geographische Ausrichtung reflektiert der Verfasser selbst (Apg. 1,1 f.; 23,11). Angesichts dieser inhaltlichen, historischen und geographischen Reichweite seiner Schriften lässt sich darauf schließen, dass der Autor eine Art 1 Irenäus Haer. 1,1,1; 3,1; vgl. Eusebius Hist. Eccl. 2,24,7.15; 5,8,3; Kanon Muratori (ca. 200 n. Chr.). 2 Schmid, Narratologie (2. Aufl.), 74.
295
Verfasser
dritte Generation
296
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Erzähler
neutestamentlichen Kanon aus einer Feder, ein „erstes Neues Testament“,3 zusammenstellen wollte, als er sich entschloss so gründlich, umfangreich und entschieden den Bericht von der Ankündigung der Geburt des Täufers im Jerusalemer Tempel bis zur Gefangenschaft des Paulus in einer Mietswohnung in Rom abzufassen. Durch diese historisch-narrative Ausrichtung des lukanischen Schrifttums sind der Rekonstruktion der Theologie des Evangeliums besondere Grenzen gesetzt. Während die übrigen Evangelien das Ziel verfolgen, in ihren Texten das zu formulieren, was für den Glauben aller Jesusanhänger als grundlegend gelten soll, d. h. das Evangelium vom Reich (Mk), die Tora Jesu (Mt) oder die Sendung des Logos (Joh), verfasst Lukas eine „Erzählung“ (Lk 1,1) und verfolgt das Ziel, all das zu berichten, was man über die Jesusgemeinschaft wissen sollte. In diesem Unterschied kommt ein Sachverhalt zum Ausdruck, der zu beachten ist: Der Verfasser und seine Schriften zielen weniger darauf, das Bekenntnis und seine Inhalte als solche darzustellen, als vielmehr von deren Entstehung plausibel und umfassend zu berichten. Die übrigen Evangelien wollen im emphatischen Sinn selbst Evangelium sein, das Lukasevangelium hingegen wählt eine historisierende Erzählperspektive. Der Verfasser erläutert im Vorwort den Prozess der Verschriftlichung und signalisiert damit, dass es sich um einen zu lesenden Text handelt. Die Jesusgeschichte und ihre Folgen werden bei Lukas zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums zu einem Erzählgegenstand, der weder das Einverständnis noch eine besondere Identifikation des Lesers mit dem Inhalt voraussetzt.
Das lukanische Schrifttum aus Evangelium und Apostelgeschichte erhebt einen umfassenden Anspruch auf die Darstellung der für das Christentum grundlegenden Geschehnisse. Die Ereignisse um Jesus von Nazareth und um die Apostel der ersten Gemeinden, allen voran Petrus und Paulus, sollen zuverlässig präsentiert werden. Die Kombination von Jesuserzählung und apostolischer Predigt strebt eine Gesamtdarstellung an, die als eine Art erster neutestamentlicher Kanon auftritt.
10.2 Sprache
Stil und Inhalt
Lukas verfügt über ein gutes und vielseitiges Ausdrucksvermögen. Eine seiner großen Stärken ist die Anpassung seines Stils an den Inhalt. Er gebraucht jeweils die Terminologien und Redewendungen, die 3 Barrett, First New Testament, 103.
Sprache
dem beschriebenen Sachverhalt besonders angemessen sind. Er verwendet politische Fachterminologie, wo es um politische Sachverhalte geht, Verwaltungsbegriffe, wo es um Verwaltung geht, medizinische Begriffe, wo es um Krankheit und Gesundheit geht. Diese sprachliche Gewandtheit führte in der Forschung auch zu Fehlschlüssen. Harnack folgerte aus einigen medizinischen Termini, dass Lukas tatsächlich Arzt gewesen sei.4 Radl wiederum war von den juristischen Fachbegriffen so beeindruckt, dass er einen Juristen als Verfasser für wahrscheinlich hielt.5 Richtig ist daran allenfalls, dass der Autor im sprachlichen Ausdruck ausgebildet gewesen sein muss. Ihm gelingt es, eine Vielfalt sachlich angemessener oder durch die Erzählinhalte gebotener Ausdrucksweisen bis hin zur Fachterminologie aus Recht, Politik, Religion, Medizin und Seefahrt zu verwenden, ohne dass ein Bereich so dominieren würde, dass man daraus Schlussfolgerungen auf seinen Beruf oder seine fachliche Ausbildung ziehen könnte. Er vereinigt dabei das Vermögen, erzählerische Dramatik gestalten zu können, mit einem Gespür für sprachliche Form und Ausdruck. Das versetzt ihn in die Lage, sowohl im Stil des Markus zu schreiben als auch die hellenistische Geschichtsschreibung nachzuahmen. Er vermag den Stil der griechischen Übersetzung des Alten Testaments zu imitieren, ist aber auch bereit, der jesuanischen Überlieferung, die er aus der Logienquelle und Markus übernimmt, ihre Eigenart, die von agrarisch-dörflichen Verhältnissen geprägt ist, zu belassen. Heininger ist überzeugt, dass einige Erzählstücke zudem Vertrautheit mit der Gesamtheit der griechisch-hellenistischen Literatur verraten und bewertet die rhetorische Kompetenz des Lukas ausgesprochen hoch: „Es fragt sich dann aber, woher Lukas diese wahrlich profunden Kenntnisse hatte, denn Historiographie, Roman, Komödie, Symposienliteratur, Kontroversien und Deklamationen, schließlich äsopische Fabeln sind ein weites Feld. […] Lukas muß über eine rhetorische Ausbildung verfügt haben. […] Lukas ist ein rhetorisch geschulter Schriftsteller.”6
Insgesamt sind es aber nur wenige Beispiele, die die Annahme einer formalen rhetorisch geschulten Ausbildung stützen, etwa die inneren Monologe in den Sondergutgleichnissen (Lk 12,17–19; 15,17–19; 16,3 f.; 18,4 f.; 20,13) und einige rhetorische Wendungen in der Apostelgeschichte (z. B. 26,2 f.). Der Vergleich mit dem zeitgenössischen jüdischen Autor Flavius Josephus zeigt wiederum, wie selten und zurück4 Harnack, Lukas der Arzt, 9–13. 5 Radl, Paulus und Jesus, 336, Anm. 4. 6 Heininger, Metaphorik, 226 (im Orig. teils kursiv).
297
298
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Rewritten Bible
antiker Roman
dramatischer Schriftsteller
Umgang mit Quellen
haltend der Einsatz schultypischer sprachlicher Mittel bei Lukas ist.7 Die oben geschilderte Vielfalt der Ausdrucksformen und deren Nähe sowohl zur biblischen Überlieferung als auch zum jüdischen religiösen Schrifttum weisen eher darauf hin, dass Lukas in der Tradition des „Rewritten Bible“, der Fort- und Neuschreibung biblischer Texte und Themen, geschult wurde, und sich daraus seine besondere Kreativität und Unabhängigkeit im schriftlichen Ausdruck und in der erzählerischen Gestaltung erklären.8 Zieht man die Apostelgeschichte mit heran, erweitert sich die Bandbreite des sprachlichen Ausdrucks zusätzlich. Lukas kann in der Apostelgeschichte freier formulieren und gestalten, da er dort nicht in gleicher Weise an Quellen gebunden ist wie im Evangelium. Dort sind die wichtigsten Motive des antiken Romans aufgenommen: Gerichtszenen, Gefängnisszenen, Reiseberichte und Seefahrtgeschichten. Es zeigt sich noch deutlicher, dass Lukas ein bewusster Erzähler ist, der die Aufmerksamkeit des Lesers wecken und erhalten möchte. Pervo fasst das mit den Worten zusammen: „Als ein dramatischer Schriftsteller wendet er (Lukas, LB) große Sorgfalt darauf an, Erstaunen hervorzurufen und Spannung zu erzeugen. Er nutzt die Mittel anderer dramatischer Autoren wie das Zurückhalten der Identität, die Verlangsamung des Erzählablaufs, Unterbrechungen und plötzliche Umkehr des Erzählverlaufs in der letzten Minute. Seine bemerkenswerten literarischen Fähigkeiten und seine Begabung werden dafür eingesetzt, einer möglicherweise langatmigen Erzählung Abwechslung zu verleihen.“9
Lukas ist vor allem Erzähler. In seinen Erzählungen treten nicht einfach mehrere Erzählfiguren auf, die eine Handlungsfolge konstituieren, sondern es werden auch die Sichtweisen der verschiedenen Erzählfiguren thematisiert (z. B. Lk 24,18–21). Die lukanischen Erzählungen erhalten so eine Mehrperspektivität, die sonst im Neuen Testament nicht begegnet. Dem Erzähler Lukas sind nun aber auch, wie bereits angedeutet, durch die Formen der synoptischen Überlieferung Grenzen gesetzt, die er weitgehend akzeptiert. Das synoptische Material aus der Logienquelle und aus dem Markusevangelium gestaltet er maßvoll um. Die Wortüberlieferung Jesu, die er aus der Logienquelle übernimmt, lässt er weitgehend unangetastet. Im Erzählstoff greift er etwas stärker ein. 7 Moule, Idiom Book of New Testament Greek, 2. 8 Bormann, Rewritten Prophecy in Luke-Acts, 121–124. 9 Pervo, Profit with Delight, 135.
Sprache
Er ersetzt ungebräuchliche Worte und gestaltet den erzählerischen Plot klarer, indem er meist in der Einleitung Aussagen über Zeit, Ort und handelnde Figuren präzisiert. Seine literarische Kreativität scheint vor allem in den Sonderguttexten auf, auch wenn nur selten sicher entschieden werden kann, was auf Lukas und was auf seine Vorlagen zurückgeht. Die lukanische Vorgeschichte (Lk 1 f.), die großen Parabeln vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) und vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), seine Erzählungen von Maria und Martha (Lk 10,38–42) und von den Emmausjüngern (Lk 24,13–35) gehen in ihrer bewussten Vielschichtigkeit und gestalteten Mehrperspektivität weit über das hinaus, was wir sonst in den Evangelien antreffen.
Kreativität
Die schriftstellerische Vielfalt und die stilistische Variabilität des Lukas sind die wichtigsten Merkmale seines Schreibens. Er ordnet sich damit einerseits in die hellenistische Gebrauchsprosa und andererseits in die Tradition des „Rewritten Bible“, der Fort- und Neuschreibung biblischer Texte und Themen, ein. Innerhalb dieses Rahmens integriert er aber die älteren Formen der Jesusüberlieferung, ohne deren Sprachgestalt im Kern zu verändern.
In keiner anderen Schrift des Neuen Testaments sind Wortwahl, Stil und Darstellungsform so bewusst und so variabel gewählt wie im lukanischen Schrifttum. Die Berücksichtigung der sprachlichen Form und des Stils ist demnach für das Verständnis der lukanischen Theologie von besonderer Bedeutung. Deswegen soll im Folgenden eine erste narrative Interpretation unter theologischen Gesichtspunkten vorgestellt werden. Sie folgt den sechs Kriterien, die Schmid für eine narratologische Analyse der Darstellung eines Erzählers entwickelt hat:10 1. Auswahl: Lukas wählt aus dem Geschehen diejenigen Momente aus, die die Entwicklung vom Täufer über Jesus hin zur weltweiten Kirche unterstützen. Die gegenläufigen Tendenzen (Ablehnung, Verhaftungen, Verfolgungen, Hinrichtungen) werden erzählerisch als ungewollte Unterstützungen dargestellt. So führt etwa die gewaltsame Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde nach Lukas nicht zu Enttäuschung und Lethargie, sondern bewirkt im Gegenteil die Verbreitung des Evangeliums (Apg 8,4). 2. Art der Konkretisierung und Detaillierung: Die Widmung an den „edlen Theophilus“ (Lk 1,3) ist ein Detail, das den gehobenen sozialen Status der intendierten Autor-Leserkommunikation konkretisiert. Lukas stellt zudem die Protagonisten seiner Erzählung so 10 Schmid, Narratologie, 71 f.
Narratologie
Auswahl
Details
299
300
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Erzählordnung
3.
Präsentation
4.
Bewertung
5.
„Einmischungen“
6.
oft wie möglich als sozial geachtete Personen dar und hebt ihren Status auffällig an. Im Evangelium wird diese Statushebung der Erzählfiguren um Jesus noch eher zurückhaltend durchgeführt, indem kleine Ergänzungen vorgenommen werden, z. B. die mit einem „Verwalter des Herodes“ verheiratete Frau unter den Frauen um Jesus (Lk 8,3; vgl. Mk 15,40 f.), der Synagogenvorsteher (13,14), der „Oberzöllner“ Zachäus (19,2), die „Ersten des Volkes“ (19,47) und die Begegnung mit Herodes Antipas (23,6–12). In der Apostelgeschichte verstärkt sich diese Tendenz zur Statushebung. Es werden zahlreiche Episoden erzählt, in denen Paulus mit Vertretern der jeweiligen örtlichen und der provinzialrömischen Elite zusammentrifft (z. B. Apg 13,6 f. u. ö.). Komposition des Erzähltextes zu einer bestimmten Ordnung: Für Lukas ist das Evangelium von Jesus ein Teil der Geschichte des Gottesvolkes, die von den Erzvätern an, über die Könige und Propheten Israels, schließlich auch über die jesuanische Nachfolgegemeinschaft hin zur weltweiten Kirche führt. Sprachliche Präsentation: Die gewählte Sprache des Lukas dient der Selbstpräsentation des Autors, die ihn als zuverlässigen und glaubwürdigen Berichterstatter darstellt (z. B. Lk 1,1–4; Apg 1,1 f.). Besonders die Datierungen im Stil des Synchronismus unterstreichen die Historizität des Geschilderten (z. B. Lk 2,1 f.; 3,1 f.). Bewertung der ausgewählten Momente: In seinen Bewertungen der ausgewählten Momente der Erzählungen betont der Autor die Erwartungen der Frommen in Israel (2,25; 24,21), die Freude am Geschehenen, das Gelingen und den Erfolg (13,17; 15,7 u. ö.) sowie die Übereinstimmung mit der „Schrift“, insbesondere mit „allen“ Propheten (13,28; vgl. 18,31). Letztlich gilt alles, was als berichtenswert ausgewählt wird, als in Übereinstimmung mit dem Plan Gottes. „Einmischungen“, d. h. Reflexionen, Kommentare, Generalisierungen: Auf der Ebene der expliziten Kommentare ist Lukas zurückhaltend. Kommentarartige Einschübe sind sehr selten (vgl. Lk 7,29 f.). Lukas drückt sich als Theologe überwiegend im Modus des Erzählens aus. Theologisch gewendet lassen sich diese narratologischen Beobachtungen so zusammenfassen:
Das Lukasevangelium ist eine reflektierte Erzählung von der Erfüllung der Hoffnungen des Gottesvolkes, die mit dem Täufer beginnt, in Jesus ihre bestimmende Mitte hat (Lk) und unmittelbar in die Verkündigung der Jesusgemeinschaft übergeht (Apg). Diese verkündigt nun die Auferstehung Jesu, die von allen Propheten angekündigt ist und dem Plan Gottes entspricht, als Teil der Geschichte des Gottesvolkes.
Gott, Herr der Geschichte
301
10.3 Gott, Herr der Geschichte Das Gottesverständnis des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte ist eng mit der in diesen Schriften entfalteten Geschichtstheologie verbunden. In dieser Hinsicht knüpft das lukanische Schrifttum an der Geschichtsschreibung des antiken Judentums an, die nach Sterling besonders durch die Annahme gekennzeichnet ist, dass der Gott Israels die Geschichte des jüdischen Volkes bestimme.11 Diese beiden Sachverhalte, die zentrale Bedeutung des Gottesvolkes und die Kontrolle Gottes über dessen Geschichte, zeichnen auch die Geschichtsschreibung und das Gottesverständnis des Lukas aus. Dieser Gott ist vor allem Herr der Geschichte seines Volkes. Lukas muss sich demnach mit der Frage auseinandersetzen, in welcher Weise die Jesusgemeinschaft als Volk Gottes zu gelten hat und in welcher Beziehung sie zu dem Gottesvolk der Bibel steht. Nach Jervell kommt Lukas zu dem Ergebnis: „Die Geschichte Israels hört nie auf, sondern geht geradlinig in der Kirche weiter, nämlich als Geschichte des einen Gottesvolkes.“12 Im Rahmen der genannten Voraussetzungen muss Gott derjenige sein, der diese Entwicklung entschieden, bestimmt, ja geplant hat. Nun bedeutet aber die Integration von Nichtjuden in das Gottesvolk einen erheblichen Einschnitt, der nicht alleine in Kategorien der Kontinuität und als Folge einer geradlinigen Entwicklung ausgedrückt werden kann. Die Gesamtkonzeption des lukanischen Schrifttums möchte einerseits diese ungebrochene Entwicklung zum Ausdruck bringen, muss aber andererseits Konflikte, Krisen und gegenläufige Entwicklungen ebenfalls berücksichtigen und als Teil des Handelns Gottes an seinem Volk integrieren. Je eindringlicher und tiefgreifender diese Konflikte und Krisen sind, desto schwieriger wird es, sie als durch Gott gelenkte Geschichte darzustellen. Das betrifft den Zustand Israels unter der Fremdherrschaft, die Passion und die Kreuzigung Jesu und schließlich auch die Ablehnung des Evangeliums und die Verfolgung der Gemeinde. Um all diese kritischen Momente als Teil der von Gott gelenkten Geschichte des Gottesvolkes veranschaulichen zu können, stellt Lukas Gott als einen vergleichsweise distanzierten oder transzendenten Gott dar, der vor allem durch Vermittlungsinstanzen wie die Schrift, Moses, die Propheten, den Engel des Herrn und schließlich den Täufer, Jesus, die Apostel und den heiligen Geist zu seinem Volk in Beziehung tritt. 11 Sterling, Jewish Appropriation of Hellenistic Historiography, 241 f. S. o. 57 (Zitat Sterling). 12 Jervell, Apostelgeschichte, 92 f.
Geschichtstheologie
Kontinuität
302
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
theos/Gott
transzendenter Lenker
Diese Vorstellung eines transzendenten Gottes, der als Herr der Geschichte Distanz zu den Einzelheiten der Geschehnisse zu wahren hat, drückt sich auch in den Gottesbezeichnungen aus, die Lukas wählt. Es dominiert im Evangelium mit 122 Belegen das einfache „Gott“ (gr. theos; θεός), dann wird etwa 37 Mal die Bezeichnung „Herr“ (gr. kyrios; κύριος) verwendet, während „Vater“ (gr. pater; πατήρ) nur 17 Mal und dabei ausgesprochen selten mit den die Relationalität unterstreichenden Possessivpronomen gewählt wird.13 Die betonte Verwendung der vergleichsweise neutralen Bezeichnung „Gott“ macht es Lukas zudem möglich, Elemente der hellenistischen Gottesspekulation zu integrieren. Der transzendente Lenker der Geschichte des Gottesvolkes ist zugleich auch Schöpfer und Lenker des Alls, wie es auch die griechisch-hellenistische Philosophie der Stoa (gr. stoa; στοά, „Säulenhalle“, Treffpunkt des Begründers der Schule mit seinen Schülern, vgl. Apg 5,12) versteht. Der Zeushymnus des Kleanthes (331–232 v. Chr.), der Zeus als den einen Lenker des Alls darstellt, belegt diese Nähe zum lukanischen Gottesverständnis: Des Kleanthes Hymnus an Zeus, Z. 1–8.1514 Edelster der Unsterblichen, Vielnamiger, ewig allherrschend, Zeus, Herrscher der Natur, der du alles lenkst nach dem Gesetz, sei gegrüßt, denn gesetztes Recht ist es, dass du von allen Sterblichen angerufen wirst, denn aus dir haben wir unser Geschlecht und besitzen Abbilder Gottes, wir alleine von dem, was lebt und sich regt an Sterblichem auf der Erde. Dafür will ich dich preisen und deine Herrschaft ewig loben. Dir aber folgt der ganze Kosmos, der um das Irdische sich bewegt, den du führst, und willig lässt er sich von dir beherrschen. […] Nicht irgendein Werk geschieht auf Erden ohne dich, Gott […].
hellenistisches Gottesverständnis
Der Hymnus preist den obersten Gott, Zeus, als den planmäßigen Lenker und Herrscher über die Natur und über das Ergehen der Menschen. Lukas integriert dieses allgemein hellenistische Gottesverständnis in das biblische Gottesbild und verbindet es mit der Geschichtlichkeit des biblischen Gottes, der seinen Plan mit seinem Volk zu verwirklichen sucht. Die Gottesbezeichnungen und die Vielfalt der Namen Gottes verlieren damit für Lukas teilweise ihre biblisch-jüdische Prägnanz. Das verdeutlicht die von Lukas gestaltete Rede des Paulus am 13 Herr, kyrios: Lk 1,6.9.11.15.16.17.25.28.32.38.45 f.58.66.68.76 (evtl. Jesus); 2,9 [2x]; 2,15.22.23 [2x]; 2,24.26.39; 3,4; 4,8.12.18 f.; 5,17; 10,21.27; 13,35; 19,38; 20,37.42a. Vater, pater: Lk 2,49; 6,36; 9,26; 10,21 f. [5x]; 11,2.13; 12,30.32; 22,29.42; 23,46; 24,49. 14 Nach dem griechischen Text in: Thom, Cleanthes’ „Hymn to Zeus“, 34–41.
Gott, Herr der Geschichte
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Athener Areopag (Apg 17,22–31). Sie berührt sich in der Wendung „denn seines Geschlechts sind wir“ (V. 28) eng mit dem Zeushymnus. In der Rede wird zudem der dort verehrte „unbekannte Gott“ (gr. agnostos theos; ἄγνωστος θεός) mit dem einen unverwechselbaren biblischen Gott identifiziert. Apg 17,23: Denn als ich umherging und eure Heiligtümer betrachtete, fand ich auch einen Altar, auf dem aufgeschrieben war: Einem unbekannten Gott. Was ihr nun verehrt, ohne es zu kennen, dieses verkündige ich euch.
Die Reichweite dieser Aussage ist natürlich durch die szenische Einbindung begrenzt. Die Rede ist in diesem Fall an Nichtjuden, die weder Kenntnisse noch Sympathien für das Judentum mitbringen, gerichtet. Diese „echten Heiden“ werden bei Lukas sorgfältig von den vielen Freunden und Sympathisanten des Judentums unterschieden, die nach Lukas als Gottesfürchtige bereits Interesse am Monotheismus, an der Schrift und am Synagogengottesdienst entwickelt haben (z. B. Lk 7,3–5; Apg 8,27 f.; 13,43). Den uninformierten Nichtjuden stellt Lukas den biblischen Gott als Schöpfer und Herr der Geschichte aller Völker dar: Der universale Gott von Juden und Nichtjuden überließ die nichtjüdischen Völker zwar bisher ihrem Schicksal, sorgte aber als Schöpfer immerhin dafür, dass sie an seinem fürsorglichen Handeln in der Schöpfung Teil hatten. In einer Rede an wiederum „echte Heiden“ in Lystra, die Barnabas und Paulus für Zeus und Hermes halten und sie nun als Götter verehren wollen, führt der lukanische Paulus das mit den Worten aus:
„echte Heiden“
Apg 14,15–17: Männer, warum tut ihr diese Dinge? Auch wir sind Menschen, die das Gleiche empfinden wie ihr, und wir verkündigen, dass ihr euch von diesen nichtigen Dingen abwenden sollt hin zu dem lebendigen Gott, der den Himmel und die Erde und das Meer gemacht hat und alles, was in ihnen ist. (16) Er ließ es zu, dass in den vergangenen Generationen alle (nichtjüdischen) Völker auf ihren eigenen Wegen gingen. (17) Und doch hat er sich nicht unbezeugt gelassen, indem er Gutes tat: Er gab euch vom Himmel her Regen und fruchtbringende Zeiten, er erfüllte euch mit Nahrung und eure Herzen mit Frohsinn.
Lukas hat sich womöglich nicht eigenständig oder gar eindringlich mit den populären philosophischen Anschauungen seiner Zeit auseinandergesetzt. Er knüpft vielmehr mit diesen inklusiv werbenden Argumentationen an die Lehre der Diasporasynagoge an, die eine gemäßigte natürliche Theologie vertritt: Der Gott Israels ist als Schöpfer und Herr der Geschichte zugleich der eine monotheistische und universale Gott der
Diasporasynagoge
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Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Eigenschaften Gottes
Vateranrede
gesamten Menschheit, wie ihn die griechische Philosophie kennt und der durch seine Werke durchaus auch allen Nichtjuden vertraut ist.15 Dieses Interesse an Vermittlung und Kommunikation des biblischen Gottes in die Welt der Gottesanschauungen seiner Zeit bedeutet aber nicht, dass für Lukas die Charakteristika des biblischen Gottes, sein Eigenname als Gott Israels und die Eigenschaften, wie sie in seiner Wesensdefinition als gnädiger, barmherziger, geduldiger, liebevoller und gerechter Gott festgehalten sind (Ex 34,6; Ps 145,8), unbedeutend wären. Lukas weiß um die besondere Bedeutung der Gottesbezeichnung kyrios als Äquivalent für das Tetragramm und die damit verbundenen Heiligkeitsvorstellung. Dieses Wissen setzt er erzählerisch und theologisch bewusst ein. In der lukanischen Vorgeschichte, die in Jerusalem und Judäa angesiedelt ist, wird die Gottesbezeichnung kyrios besonders häufig, insgesamt 25 Mal verwendet.16 Die Erzählung ist geprägt von der Welt jüdischer Frömmigkeit, vom Gesetz des Herrn, dem Tempel des Herrn, dem Engel des Herrn usw. In diesem Kontext wird auch Jesus zweimal als kyrios proklamiert (1,43; 2,11). Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird dann Jesus ganz selbstverständlich im Erzähltext als „der Herr“ bezeichnet,17 während kyrios für Gott überwiegend in alttestamentlichen Zitaten verwendet wird sowie an einigen wenigen Stellen, an denen Lukas den jüdischen Frömmigkeitskontext berücksichtigen möchte (5,17; 10,21). Die Vateranrede bei Lukas ist deutlich seltener als bei Matthäus.18 Die Wendung „Vater im Himmel“ begegnet nur einmal (11,13). Charakteristisch ist zudem, dass im Vaterunser nur das einfache „Vater“ vorkommt. Selbst im Gebet in Gethsemane, das bei Lukas dramatisch ausgestaltet wird, wendet sich Jesus einfach an den „Vater“ (22,42), während Mk 14,36 „Abba, Vater“ und Mt 22,39 „mein Vater“ als Gebetseröffnung Jesu nennen. Die besondere Nähe zwischen Gott und Jesus, aber auch zwischen Gott und Mensch wird von Lukas nicht vorrangig durch den metaphorischen Gebrauch von Familienbeziehungen zum Ausdruck gebracht. Vielmehr stellt Lukas die Barmherzigkeit als zentrale Eigenschaft des biblischen Gottes in den Mittelpunkt. Diese wird mit den Motiven der Sünderannahme und der Freude über die Sünderumkehr als offene Hinwendung Gottes zu denen, die am Rand stehen, konkretisiert. Buße und Umkehr sind nicht nur gefordert, sie sind „im Himmel“ ersehnt und ihr Vollzug löst Freude aus: 15 Frede. Monotheism and Pagan Philosophy, 55. 16 S. o. Anm. 13. 17 Lk 1,43; 2,11; 7,13.19;10,1.39.41; 11,39; 12,42; 13,15; 17,5 f.; 18,6; 19,8.31.34; 22,61 [2×]; 24,3.34. 18 S. o. 218 u. 272 (Vateranrede).
Gott, Herr der Geschichte
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Lk 15,7: Derart wird die Freude im Himmel über einen einzigen Sünder, der umkehrt (gr. metanoein; μετανοεῖν).
In den Gleichnissen vom Verlorenen, die Lukas in Kp. 15 zusammenstellt und mit einer interpretierenden Rahmung versieht, wird dies deutlich zum Ausdruck gebracht. Das verlorene Schaf ist eines von hundert, und doch ist die Freude groß, der verlorene Groschen ist einer von zehn und die Nachbarschaft wird freudig zusammengerufen. Der verlorene Sohn aber ist einer von nur zweien, die Freude sollte groß sein und dennoch wird der Bruder zornig. Seiner Ablehnung der Sünderumkehr wird aber vom Vater durch eine Einladung begegnet:
Freude
Lk 15,32: Es muss aber doch so sein, dass wir feiern und uns freuen, denn dieser, dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, er war verloren und wurde gefunden.
Im Erzählrahmen des Gleichnisses richtet sich dieser Appell an die in 15,2 genannten „Pharisäer und Schriftgelehrten“, die sich über die Gemeinschaft Jesu mit den Marginalisierten des Gottesvolkes empören und sich damit gegen die Sünderannahme aussprechen.19 Der offene Schluss verweist aber darauf, dass Lukas auch die Leser dazu auffordert, der Sünderannahme mit Freude und nicht mit Missgunst zu begegnen. Die Sünderumkehr ist ein Teil der Absicht Gottes, durch die Taten Jesu das Gottesvolk wiederherzustellen. Die Kinder Abrahams werden eingeladen, in das Gottesvolk zurückzukehren. Lukas zeigt das bewusst, womöglich in Anspielung auf die Erschaffung des Menschen als „Mann und Frau“ in Gen 1,27, je einmal an einem Mann und an einer Frau, weil für ihn das Handeln Gottes nicht abstrakt am Menschen erfolgt (13,16; 19,9).20 Die Integration der Töchter und Söhne Abrahams in das Gottesvolk führt im einen Fall dazu, dass sich das „ganze Volk“ freut (13,17), im anderen Fall löst diese Art der Freude auch Empörung aus (19,6–9). Beides, Freude und Empörung, stellen das Ziel, die Sünderannahme und die Freude über die Sünderumkehr, als Teil der von Gott gewollten und von Jesus erwirkten heilvollen „Rettung“ (gr. soteria; σωτηρία), nur noch deutlicher heraus.21 Jesus ist nach Lukas der heilvolle Mittler von Buße, Umkehr und Sünderannahme. Die jesuanische Reich-Gottes-Verkündigung wandelt er charakteristisch um. In seinen Erzähltexten verwendet er immer wieder eine Konstruktion aus 19 Wolter, Lukasevangelium, 542. 20 Dieser Gesichtspunkt ist auch bei den Totenauferweckungen in Lk berücksichtigt: die Tochter des Jairus (8,40–42.49–56) und der Sohn der Witwe zu Nain (7,11–17). 21 Klein, Lukasevangelium, 519–534 u. 597–603.
Sünderannahme
Frau und Mann
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Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Sünderumkehr
einem Verb des Sagens und Meinens (verbum dicendi) in Bezug auf die Königsherrschaft Gottes. Nach Lukas ist es die Aufgabe Jesu, der Jünger und der Kirche, die Königsherrschaft zu „verkündigen“ oder zu „lehren“ (z. B. Lk 8,1; 9,2.60; 16,16; Apg 28,31; vgl. Lk 4,15). Diese Königsherrschaft beinhaltet für Lukas ein Bündel von Vorstellungen, besonders wichtig ist ihm, dass ihre Verkündigung die Barmherzigkeit Gottes, konkretisiert durch die Vergebung der Sünden und damit die Sünderannahme sowie die Freude über die Sünderumkehr, einschließt (Apg 5,31; 8,12). Die Ambivalenzen, die mit der Verwirklichung von Barmherzigkeit und Rettung verbunden sind, formuliert Lukas in einer seiner wenigen kommentarartigen Einmischungen: Lk 7,29 f.: Und das gesamte Volk hörte es und die Zöllner gaben Gott Recht, indem sie sich taufen ließen mit der Taufe des Johannes. (30) Die Pharisäer aber und die Gesetzesgelehrten verwarfen für sich den Beschluss Gottes (gr. boule tou theou; βουλὴ τοῦ θεοῦ), indem sie sich nicht taufen ließen.
Plan Gottes
In diesem Wort verwendet Lukas zum ersten Mal in seinem Doppelwerk einen Begriff, der in der neueren Lukasforschung als zentral für seine Theologie gilt: der „Beschluss Gottes“ oder der „Plan Gottes“.22 Das griechische Wort boule bezeichnet in der Regel einen Beschluss einer Ratsversammlung, der rechtsverbindlich ist.23 In diesem Sinn hat Gott seinen Ratsbeschluss bereits getroffen und verwirklicht diesen nun in der Geschichte des Gottesvolkes. Das Wort wird in den übrigen Evangelien nicht verwendet. Im lukanischen Schrifttum kommt die Wendung „Ratschluss Gottes“ mehrfach vor (Lk 7,30; Apg 2,23; 13,36; 20,27). Lukas ist kein Autor, der konsequent begrifflich denkt, sodass man nicht erwarten darf, dass er beständig auf die Wendung zurückgreift, um diese zu verdeutlichen. Er bringt vielmehr die planmäßige Umsetzung des göttlichen Heilswillens in der Geschichte des Gottesvolkes narrativ zum Ausdruck. Green fasst das zusammen: „Die Absicht des Lukas ist es nicht, eine Geschichte Jesu zu schreiben und auf diese eine Geschichte der frühen Kirche folgen zu lassen […]. Es geht ihm vielmehr darum die Geschichte der Fortdauer und der Erfüllung des Projektes Gottes zu schreiben. […] Vom Anfang bis zum Ende bringt das lukanische Schrifttum ein narratives Ziel zum Ausdruck: das eine Ziel Gottes.“24 22 Vgl. Squires, The Plan of God in Luke-Acts. 23 Bormann, Religion, Recht und Gerechtigkeit, 255. 24 Green, Theology of the Gospel of Luke, 47.
Jesus, Prophet, kyrios
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Diesen Beschluss Gottes verwerfen in Lk 7,30 ausgerechnet die „Pharisäer und Rechtsgelehrten“, während das „gesamte Volk“ und sogar die Zöllner ihn als rechtmäßig und wirksam betrachten. Lukas stellt somit die innere Zerrissenheit des Gottesvolkes angesichts der Verwirklichung des göttlichen Heilswillens deutlich heraus. Die Gottesvorstellung, die dem lukanischen Schrifttum zugrunde liegt, verbindet die Vorstellungen vom Gott Israels, der die Geschichte seines Volkes bestimmt, mit Eigenschaften des biblischen Gottes, die an populäre hellenistische Anschauungen über den einen monotheistischen Gott anknüpfen können. Gott ist der Lenker der Geschichte Israels. Die nichtjüdischen Völker hat er bisher weitgehend ihrem Schicksal überlassen und nur so weit Einfluss genommen, wie er als Schöpfer die Ernährung und das Wohlergehen aller Menschen absicherte. In der Schnittmenge zwischen dem Gott Israels und dem universalen Schöpfer liegt die zentrale Eigenschaft des Gottes Israels: die Barmherzigkeit. So wie er als transzendenter Gott durch seine Mittler die marginalisierten Töchter und Söhne Abrahams in das Gottesvolk integriert, die Sünder annimmt und darüber Freude empfindet, so gewährt er auch den Nichtjuden aus Barmherzigkeit ein gutes und gelingendes Leben.
10.4 Jesus, Prophet, kyrios und „Sohn des Höchsten“ Das lukanische Schrifttum kennt eine Fülle christologischer Titel: Jesus ist Sohn Davids, Prophet, Messias, König, Retter, Herrscher, Gerechter, Sohn Gottes, Menschensohn und im Erzähltext bereits einfach „der Herr“. Diese Vielzahl der Bezeichnungen Jesu wird zudem so in die Narration eingebracht, dass nicht unmittelbar entschieden werden kann, welche dieser Bezeichnungen Jesu besondere Geltung beanspruchen darf. Es ist vielmehr so, dass die vielen verschiedenen Attribute, die Jesus beigelegt werden, gemeinsam zum Ausdruck bringen sollen, dass in Jesus alle Erwartungen Israels erfüllt sind. Dies ist Lukas so wichtig, dass er, um dieses Ziel zu erreichen, Jesus eng mit dem Täufer verbindet. Sie wirken nach Lukas als Handlungsgemeinschaft: Jesus ist der „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32) und der Täufer ist der „Prophet des Höchsten“ (1,76). Der Täufer hat den Auftrag von Gott, „Befreiung“ und „Rettung“ zu bringen (1,68.71). Jesus ist der „Rettende“ (2,30) und bringt die Befreiung Jerusalems (2,38). Möglicherweise steht hinter der parallelen Beauftragung des Täufers und Jesu die Vorstellung vom gemeinsamen Wirken zweier Messiasse: eines priesterlichen Messias und eines königlichen Messias.25 25 S. o. 234 (Messias Aarons und Israels).
alle Erwartungen erfüllt
Täufer und Jesus
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Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Für Lukas jedenfalls sind der Täufer und Jesus keine Konkurrenten, sondern wirken in „concordia“ für Israel.26 Lukas kombiniert gelegentlich christologische Bezeichnungen, um die Heilserwartungen möglichst umfassend in seine Erzählung zu integrieren. So wird den Hirten nach der Geburt Jesu von den Engeln mitgeteilt: Lk 2,11: Denn euch ist heute geboren der Retter, der ist Christus der Herr.
soter/Retter
kyrios/Herr
Der Retter (gr. soter; σωτήρ) ist ein königlicher Ehrentitel des Hellenismus, der sonst in der synoptischen Tradition nicht für Jesus verwendet wird (vgl. Joh 4,42; Phil 3,20; 1Tim 1,1; 2,3 u. ö.). Dieser Retter ist zugleich Messias und wird schon vor seiner Geburt mit dem Ehrennahmen „Herr“ angekündigt, den er nach Paulus erst im Zuge seiner Erhöhung in den Thronsaal Gottes erhalten hat (Phil 2,9–11).27 Lukas kennt natürlich auch die Erhöhungsaussagen und hält fest, dass Jesus als „Herrscher und Retter“ zur Rechten Gottes erhöht wurde (Apg 5,31; vgl. 13,23). Auch die für das Neue Testament ungewöhnliche Bezeichnung „Herrscher“ (gr. archegos; ἀρχηγός; vgl. Hebr 2,10; 12,2) kommt wie auch „Retter“ aus der Sphäre der antiken Herrscherverehrung und verweist auf die kritische Vertrautheit des Autors mit der politischen Propaganda seiner Zeit (Apg 3,15; 5,31). Bei Lukas ist Jesus ganz selbstverständlich bereits im Erzähltext des Evangeliums der „Herr“.28 Als „Herr“ ist Jesus überlegen, durchschaut die Gesprächspartner und ahnt die innere Motivation derer, die ihm begegnen. Diese Tendenz der gehobenen Darstellung Jesu als „Herr“ wird oftmals in Stücken, die Lukas aus der markinischen Vorlage übernommen und überarbeitet hat, vor allem aber in den Sonderguterzählungen deutlich. Die Bekehrung des Petrus (Lk 5,1–11), die Auferweckung des Jünglings zu Nain (7,11–17), die Salbung durch die Sünderin (7,36–50), Maria und Martha (10,38– 42) und die beiden lukanischen Sabbatheilungen (13,10–17; 14,1–6) sind davon geprägt, dass nun der „Herr“ in die Mitte tritt und Heilung, Befreiung und Erlösung bringt. Diese Erzählungen bekommen dadurch ein besonderes Gepräge. Es ist der „Herr“, der zu Maria und Martha kommt, sodass sich die Regeln des Umgangs im Haus der beiden Frauen diesem besonderen Besuch anzupassen haben (10,38–42). Die Geschäftigkeit der Martha, die im Alltag wertvoll ist, ist nun weniger angemessen als die Aufmerksamkeit für die Lehre Jesu, die Maria 26 Bovon, Evangelium nach Lukas 1, 48. 27 S. o. 153 (Zitat von Phil 2,6–11). 28 S. o. Anm. 17.
Jesus, Prophet, kyrios
aufbringt.29 In Jesus als dem „Herrn“ vollzieht sich somit der „Besuch“ Gottes als die freud- und heilvolle Präsenz Gottes und seines rettenden und barmherzigen Heilswillens durch Jesus in Israel (1,68.78; 7,16). Im jüdischen Milieu der Vorgeschichte (Lk 1 f.) und im Schlusskapitel (24) steht die Bezeichnung Christus (d. i. Messias) im Mittelpunkt (2,11.26; 24,26.46). Sie ist eng auf das Konzept des königlichen davidischen Messias bezogen. Im Bericht vom Einzug des königlichen Messias in Jerusalem wird dieser Akzent auch dadurch unterstrichen, dass das Zitat von Ps 118,26 in Lk 19,38 um das Wort „König“ (gr. basileus; βασιλεύς) erweitert wird:
Christus
Lk 19,38: Gelobt sei, der da kommt, der König im Namen des Herrn.
Als Sohn Gottes ist Jesus für Lukas vor allem der königliche Sohn Davids (Lk 1,32.35). Mit ihm sind Erwartungen auf die politische Befreiung Israels verbunden, die Lukas in aller Klarheit ausspricht, ohne aber deutlich zu machen, inwiefern mit Jesus, dem Sohn Gottes und Sohn Davids, die Befreiung Israels und die Herrschaft eines königlichen Messias erreicht sei (1,32 f.52–54.69.71; 2,11.30–32.38). Noch am Ende der Apostelgeschichte knüpft Lukas an diese Erwartungen an, wenn er Paulus aussprechen lässt, dass dieser seine Ketten „um der Hoffnung Israels willen“ trage (28,20). Der Titel „Sohn Gottes“ ist bei Lukas demnach von großer Bedeutung. Dennoch wird das Wort des Hauptmanns am Kreuz von Lukas christologisch reduziert. Mk 15,39 und Mt 27,54 lassen diesen Jesus als „Sohn Gottes“ bekennen, Lk 23,47 notiert hingegen: „Dieser Mensch war wahrhaft ein Gerechter!“ Natürlich will Lukas damit nicht die Aussage, Jesus sei Gottes Sohn, abwerten. Ihm geht es vielmehr darum, Jesus auch mit all den guten Erwartungen und traditionellen Vorstellungen zu verbinden, die mit der Gerechtigkeit und mit dem Leiden des Gerechten in jüdischer Tradition verbunden sind. Sein Sterben am Kreuz möchte Lukas durch die Bezeichnung „Gerechter“ mit den Martyrien der Gerechten Israels in Beziehung setzen, wie sie im 2Makk 6,18–7,42 und in 4Makk beschrieben sind. Jesus ist auch auf hervorgehobene Weise „Prophet“. Er wird nur bei Lukas ausdrücklich als „einer der alten Propheten“ bezeichnet (Lk 9,8.19) und die Emmausjünger nennen ihn ebenfalls einen „Propheten, machtvoll in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk“ (24,19). Die ältere Exegese hat in der Bezeichnung Jesu als Prophet eine vorchristologische Selbstbezeichnung des historischen Jesus gesehen. Der Gebrauch bei Lukas ist aber offensichtlich Teil seines narrativen 29 Bovon, Evangelium nach Lukas 2, 101–111.
Sohn Gottes
Gerechter
Prophet
309
310
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Ambivalenzen
Konzepts.30 Für Lukas ist Jesus derjenige, der gemeinsam mit dem Täufer, dem „Propheten des Höchsten (Gottes)“ (1,76), und mit der Prophetin Hanna (2,36), die im Tempel gemeinsam mit anderen die „Befreiung Israels“ (2,38) erwartet, die Heilszeit der große Propheten Israels wieder aufleben lässt. Man findet bei Lukas keinen Hinweis darauf, dass er die Bezeichnung Jesu als Prophet als gering oder unpassend für den Sohn Gottes und Messias eingestuft habe, wie etwa Wolter behauptet.31 Vielmehr identifiziert er Jesus in Apg 3,21–26 mit dem in Dtn 18,15 verheißenen „Prophet wie Moses“, der in Israel auftreten soll. Jesus ist für Lukas auch der „Prophet wie Moses“ und damit derjenige, der „alle“ mit der Prophetie Israels verbundenen Hoffnungen erfüllt (Lk 24,27; Apg 3,24; 10,43; vgl. Lk 1,70; 18,31). Lukas bedient sich des christologischen Titels, der ihm im jeweiligen narrativen Kontext theologisch geeignet erscheint. Seine Absicht ist es, die Hoffnungen, die aus den Schriften und Traditionen Israels zu entnehmen sind, auf diesen Jesus zu richten. Lukas löst dadurch allerdings auch Ambivalenzen aus, die sich auf der Basis seiner Erzählung nicht einfach auflösen lassen, etwa die Frage, inwiefern Israel durch Jesus tatsächlich befreit ist oder ob das erst ein Ereignis der Zukunft sein wird (Lk 21,28). Dadurch verliert die lukanische Christologie im Vergleich zu Paulus, Johannes, aber auch zu Markus und Matthäus etwas an Profil.
Die lukanische Christologie ist von dem Gedanken bestimmt, dass in Jesus, dem „Herrn“, die Fülle des barmherzigen Heilswillens Gottes präsent ist. Um diese Fülle zum Ausdruck zu bringen, greift Lukas die soteriologisch relevanten Erwartungen Israels auf und bezieht sie auf Jesus und sein Auftreten, ohne sie allerdings systematisch zu strukturieren. Die Christologie des lukanischen Schrifttums fasst demnach eine Vielzahl von Vorstellungen zusammen, um sie gemeinsam wirksam werden zu lassen.
Unschuld Jesu
Es ist bereits erwähnt worden, dass nach Lukas der Hauptmann am Kreuz Jesus einen „wahrhaft Gerechten“ nennt (23,47). Mit dieser Bezeichnung greift er einerseits die Vorstellung vom leidenden Gerechten, der trotz seines Gehorsams gegenüber Gott von seinen Mitmenschen verachtet, bestraft und getötet wird (Jes 52,13–53,12; Weish 2,10–20), auf und nimmt andererseits Stellung zu der juristischen Problematik, dass Jesus als ein Verbrecher hingerichtet wurde. In seiner Passionserzählung erwähnt Lukas zudem dreimal ausdrücklich, dass Jesus in den Augen 30 Bormann, Rewritten Prophecy in Luke-Acts, 129–137. 31 Wolter, Lukasevangelium, 779 f.
Volk Gottes und heiliger Geist
des Pilatus wie auch des Herodes Antipas nicht die Todesstrafe verdient habe und unschuldig sei (23,4.14 f.22). In der Apostelgeschichte wird dann der Vorwurf festgehalten, dass die Jerusalemer Juden für die ungerechtfertigte Hinrichtung Jesu verantwortlich seien (Apg 3,14 f.; 5,30; 7,52; 10,39; 13,28 u. ö.). Für Lukas ist es wichtig herauszustellen, dass Jesus unschuldig und als Gerechter hingerichtet wurde. Er geht allerdings nicht auf die Vorstellung ein, dass mit dem Tod Jesu eine Sühnewirkung für die Sündenschuld der Menschen verbunden sei. Vielmehr ist die Vergebung der Sünden bei Lukas an Buße und Umkehr, die auf der willentlichen Entscheidung des Menschen beruhen, gebunden. Diese „Umkehr“ (gr. metanoia; μετάνοια) sollen die Jünger allen Menschen verkündigen (24,47). Die theologische Frage nach der Heilsbedeutung des Todes Jesu lässt Lukas weitgehend unbeantwortet. Der Tod Jesu soll bei Lukas die Glaubwürdigkeit der Botschaft Jesu (Märtyrertod) unterstreichen und ist nicht als stellvertretende Übernahme der Sündenschuld, die andere auf sich geladen haben, gedacht (Sühnetod). Das letzte Wort Jesu am Kreuz ist ein Zitat aus Ps 31,6 und bringt das Einverständnis Jesu mit seinem vom Vater bestimmten Schicksal zum Ausdruck (23,46: „In deine Hände übergebe ich meinen Geist“). Die ungerechtfertigte Hinrichtung des gerechten Jesus ist für Lukas die notwendige Voraussetzung für seine Erhöhung zur Rechten Gottes. Der Tod Jesu hat demnach die Bedeutung eines Märtyrertodes. In seinem Sterben beglaubigt Jesus die Wahrheit seiner Botschaft, dass nach dem Ratschluss Gottes allen Menschen Befreiung und Erlösung gebracht werden wird.32 Am Ende des irdischen Wirkens Jesu stehen weder Kreuzestod noch die Auferstehung, sondern die Himmelfahrt. Lukas beendet den heilvollen Besuch Gottes durch Jesus unter den Menschen mit einem Abschied, der mit Jesu Erhöhung in den Thronraum Gottes zu seiner Rechten schließt (Lk 24,51; Apg 7,56). 10.5 Geschichte des Volkes Gottes und „heiliger Geist“ Lukas bemüht sich darum, in seinen Berichten vom Wirken Jesu und von der Entstehung der Kirche möglichst viele Traditionen des antiken Judentums einzubinden. Seine Erzählungen sind bedeutungsvoll und vielschichtig. Literaturwissenschaftlich gesprochen sind seine Texte übercodiert, d. h. sie enthalten eine Vielzahl von Bedeutungen, die den Leser zu einer anspruchsvollen Interpretationsleistung nötigen. 32 Eine „heilsgeschichtlich-soteriologische“ Bedeutung des Todes Jesu bei Lukas sieht Wilson, Saving Cross of the Suffering Christ, 191 f.
Märtyrertod
Besuch Gottes
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312
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
offener Schluss
Periodisierung
Es ist deutlich, dass Lukas die eine Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählen möchte. Es ist aber andererseits nicht ganz offensichtlich, wie er diese Geschichte strukturiert. Zu dieser Unklarheit trägt insbesondere der offene Schluss des Doppelwerkes bei, der zwar die Haft des Paulus, nicht aber den angekündigten Prozess und den angedeuteten Tod (Apg 20,25) schildert. Es verwundert deswegen nicht, dass in der Exegese zahlreiche konkurrierende Interpretationen der Struktur der lukanischen Erzählung und der mit dieser verbundenen Absicht diskutiert werden. Ein einflussreicher Vorschlag zu der Frage, wie Lukas sein Doppelwerk verstanden wissen wollte, geht auf Conzelmann zurück. Er setzte bei einem Jesuswort an, das eine gewisse Periodisierung der Heilsgeschichte zum Ausdruck bringt: Lk 16,16: Das Gesetz und die Propheten bis auf Johannes, von da an wird die Königsherrschaft Gottes verkündigt, und jeder wird hineingedrängt.
Mitte der Zeit
Krisen
Anhand dieses Verses und aufgrund weiterer Überlegungen schlug Conzelmann vor, drei Perioden zu unterscheiden: [ Die „Zeit Israels“, die die Zeit des Gesetzes bis Johannes umfasse, die „Zeit des Wirkens Jesu“, die als Heilszeit die „Mitte der Zeit“ sei, und schließlich die „Zeit der Kirche“, mit der sich die Apostelgeschichte befasse.33 Offen bleibt, inwieweit diese Perioden in sich abgeschlossen sind oder ob Übergänge und Verbindungen zwischen diesen Perioden existieren, d. h. welche Diskontinuitäten und Kontinuitäten Lukas zum Ausdruck bringen wollte. Lukas selbst macht z. B. in 16,17 unmittelbar klar, dass das Gesetz nicht nur „bis Johannes“, sondern nach wie vor in voller Gültigkeit ist. Ebenso bezeichnet er auch Jesus uneingeschränkt als „Prophet“, sodass für Lukas weder das Gesetz noch die Propheten nur bis Johannes Geltung hatten, sondern darüber hinaus bis in die Gegenwart der Gemeinde wirken. Schon diese ersten Beobachtungen zeigen, dass es Lukas selbst vor allem um die Kontinuität Jesu mit der Geschichte Israels geht. Jervell betont dies, indem er das lukanische Doppelwerk als „die Geschichte des einen Gottesvolkes“ bezeichnet.34 Allerdings erzählt Lukas eine Geschichte, die von Krisen, Misserfolgen und von der Zurückweisung Jesu und des Evangeliums berichten muss. Insbesondere hat diese eine Geschichte des Gottesvolkes die Ausweitung der damit bezeichneten Personen von den Frommen Israels auf die nichtjüdischen Jesusanhänger zu erzählen und somit eine aus jüdischer Perspektive einschneidende Dis33 Conzelmann, Mitte der Zeit, 9. 34 Jervell, Apostelgeschichte, 92 f. S. o. 301 (Zitat Jervell).
Volk Gottes und heiliger Geist
kontinuität zu verarbeiten. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass Lukas in seinem Bestreben, so viele hoffnungsvolle Traditionen Israels wie möglich in seine Erzählung zu integrieren, notwendigerweise nicht allen gleichermaßen gerecht werden kann und im Verlauf seiner Erzählung einige zurücklassen, andere hinzunehmen muss. Wolter versucht diese Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität mit dem Konzept einer Epochengeschichte aus der Perspektive einer endgültig heidenchristlich gewordenen Kirche zu erklären.35 Lukas betone den Zusammenhang der von ihm berichteten Ereignisse als „Geschichte Israels“ und blicke auf sie als „Geschichte einer einzigen Epoche“ zurück, die für ihn selbst Vergangenheit ist.36 So gelinge es ihm das Problem zu lösen, dass sich die von der Synagoge getrennten heidenchristlichen Gemeinden auf eine Herkunft berufen müssten, die ausschließlich von Juden und deren Traditionen geprägt sei. Diese nichtjüdischen Jesusanhänger hätten nun mit dem lukanischen Doppelwerk eine identitätsbildende Geschichte, die vor allem von der Zurückweisung Jesu und des Evangeliums durch Juden berichte. Aus dieser Geschichte der Zurückweisung seien die heidenchristlichen Gemeinden hervorgegangen, die nun auf den abgeschlossenen Prozess „der verweigerten Einsicht in diese Kontinuität der Geschichte Israels“ zurückblickten und diesen als Erklärung für ihre alleinige Prägung vom Judentum bei gleichzeitiger Trennung vom Judentum verstünden.37 Lukas schreibe demnach eine Epochengeschichte, um das Nebeneinander von Judentum und Christentum bei gleichzeitiger Prägung des Christentums durch das Judentum in einer Weise zu erklären, die für heidenchristliche Jesusanhänger nachvollziehbar sei. Es gibt zahlreiche weitere Versuche, den Aufbau und die Struktur des lukanischen Doppelwerks und der in ihr erzählten Geschichte aus der Perspektive einer bestimmten Gruppierung oder aus Konflikten innerhalb der Jesusanhängerschaft besonders plausibel zu machen, etwa aus der Perspektive mit dem Judentum sympathisierender Nichtjuden. Es ist aber sinnvoller, den Text selbst auf das zu befragen, was er als bleibend, als überwunden und als ambivalent beschreibt, ohne dabei wie Wolter u. a. eine konstruierte textexterne Gruppe zum hermeneutischen Schlüssel zu erklären. Unbestritten ist, dass Lukas in der Tradition der jüdischen Geschichtsschreibung das Gottesvolk in den Mittelpunkt stellt und Gott als denjenigen betrachtet, der diese Geschichte seines Volkes 35 Wolter, Lukanisches Doppelwerk als Epochengeschichte, 261–289. 36 Wolter, a. a. O., 267. 37 Wolter, a. a. O., 289.
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Epochengeschichte
Leserperspektiven
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Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Israel
Gesetz
Schrift
Juden
Kontinuität und Diskontinuität
bestimmt.38 Es ist ebenso deutlich, dass Lukas als Theologe der Heilsgeschichte die Kontinuität des Handelns Gottes in der Geschichte des Gottesvolkes herausstellen möchte. Diese Kontinuitäten und Diskontinuitäten sollen im Folgenden an vier Begriffen, die im lukanischen Doppelwerk eine hervorgehobene Bedeutung haben, diskutiert werden: 1. Der Begriff „Israel“ hat von Lk 1,16 bis Apg 28,20 eine zentrale Bedeutung und ist mit den Vorstellungen von „Rettung“ (gr. soteria; σωτηρία) und „Befreiung“ (gr. apolytrosis; ἀπολύτρωσις) verbunden, die am Ende des Werkes als zukünftig vorgestellt werden (Apg 28,20). 2. Das „Gesetz“ (gr. nomos; νόμος) wird von der Vorgeschichte (Lk 2,22) bis zum Prozess des Paulus (Apg 25,8) als unbestritten gültig dargestellt. Das Aposteldekret regelt auch das Verhalten der nichtjüdischen Jesusanhänger im Sinne des Gesetzes (Apg 15,20.29; 21,25). 3. Die Schrift (gr. graphe; γραφή) ist in dieser Bezeichnung vom ersten öffentlichen Auftreten Jesu in der Synagoge von Nazareth bis zur Lehre des Apollos in der Synagoge von Ephesus (Apg 18,28) Gegenstand der Erzählung und steht in Form eines Zitats von Jes 6,9 f. am Ende des Werkes (Apg 28,26 f.). 4. Die Juden sind von Priester Zacharias (Lk 1,5) bis zu den Vertretern der römischen Judenschaft, die das Gespräch mit Paulus suchen, präsent (Apg 28,17). Hier ist allerdings ein terminologischer Bruch festzuhalten. Im Evangelium wird kaum ausdrücklich von den Juden als kollektivem Subjekt der Erzählung gesprochen (vgl. Lk 7,3; 23,51). In der Apostelgeschichte hingegen treten beständig „die Juden“ (gr. hoi Ioudaioi; οἱ Ἰουδαῖοι) als Gruppe auf (Apg 2,5; 9,22 u. ö.). An diesem vierten Sachverhalt, den Juden, kann nun das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität vertieft analysiert werden. Israel, das Gesetz und die Schrift repräsentieren das Judentum und bleiben durchweg positiv bestimmt. Sie sind nicht Vergangenheit. Die Gruppierung, die Lukas „die Juden“ nennt, agiert nach anfänglicher Aufgeschlossenheit gegenüber der Verkündigung der Apostel letztlich überwiegend feindselig. Ihre Darstellung gleitet zudem oft ins Polemische ab, indem ihnen Lüge, Betrug und perfide Mordabsichten unterstellt werden (9,23 u. ö.). Die Apostelgeschichte differenziert zwar bisweilen zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen, wertet einzelne Juden positiv, zeichnet aber doch ein ganz überwiegend 38 S. o. 57 (Grundannahmen jüdischer Geschichtsschreibung).
Volk Gottes und heiliger Geist
negatives Bild „der Juden“. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen der Hochschätzung der religiösen und kulturellen Symbole des Judentums und der Herabwürdigung derjenigen, die als „die Juden“ auftreten. Die Interpretation dieses Gegensatzes führt zu sehr divergierenden Urteilen, nach denen das lukanische Schrifttum das projüdischste wie auch eines der antijüdischsten Werke des Neuen Testaments sei.39 Diese Ambivalenz ist allerdings durch den Autor selbst angelegt, der die Zurückweisung der Evangeliumsverkündigung durch die Synagoge zu einem zentralen Thema macht. Das ist für ihn so wichtig, dass er diese Ablehnung anachronistisch bereits in das Wirken Jesu zurückverlegt. Die vielschichtige Komposition von Jesu Auftreten in der Synagoge von Nazareth nimmt die Erzählungen der Apostelgeschichte vorweg (Lk 4,16–30): Jesus legt in der Synagoge die Schrift aus. Im Wechselgespräch wird deutlich, dass er zurückgewiesen wird und dies zur Zurückweisung Israels durch Gott wie zu Elias Zeiten führen wird. Die in der Synagoge Anwesenden wollen Jesus sogar töten. Lukas arbeitet das Thema der Zurückweisung des Evangeliums durch Juden nicht weiter aus. Deshalb bleiben viele Unklarheiten im Detail, etwa zur Stellung der jüdischen Jesusanhänger, der Gottesfürchtigen, der oben genannten „echten Heiden“ und der Juden im Rahmen der Evangeliumsverkündigung. Im Ergebnis ist aber deutlich, dass der Theologe der Heilsgeschichte, der von der Gültigkeit des Ratschlusses Gottes überzeugt ist, in Israel, dem Gesetz und der Schrift tragende Kontinuitäten, im Verhältnis zur Mehrheit „der Juden“ hingegen eine tiefgreifende Diskontinuität sieht. Allerdings befindet sich dieses Verhältnis zur Zeit der Abfassung des lukanischen Doppelwerkes noch in einem unabgeschlossenen Stadium und blickt nicht wie der heutige Exeget auf eine zweitausendjährige Trennungsgeschichte zurück. Am Ende der Apostelgeschichte stehen sich die Jesusanhänger, repräsentiert in Paulus, und das Judentum, verkörpert in den Ältesten der römischen Synagogen, gegenüber und fragen gemeinsam nach der „Hoffnung Israels“ (28,20). Dieser Diskontinuität stellt er ein Gegengewicht entgegen, um die Kontinuität des Plans Gottes aufrecht zu erhalten. Dieses Gegengewicht ist der „heilige Geist“. Im Lukasevangelium spielt der „(heilige) Geist“ bereits eine gewisse Rolle. Der Täufer wird als jemand angekündigt, der „vom heiligen Geist“ erfüllt sein werde (1,15). Auch in Elisabeth, Zacharias und Simeon wirkt der „heilige Geist“ (1,41.67; 2,25–27). Den Jüngern wird die Gabe des Geistes angekündigt (11,13). Jesus fordert die Jünger auf, in Jerusalem zu bleiben und auf die Kraft 39 Tyson, Jews and Judaism in Luke–Acts, 19–22; Sanders, Jews in Luke-Acts, 304–317.
315
Synagoge
Gottesfürchtige
Geistkonzeption
316
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
aus der Höhe zu warten, die er ihnen geben will (24,49). Nach Pfingsten wird deutlich, dass diese Kraft an der Verwirklichung des Ratschlusses Gottes mitwirkt. Apg 2,4: Und alle wurden mit heiligem Geist erfüllt und begannen zu reden in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen es eingab auszusprechen.
Handauflegung
Der Geist wird zum führenden Akteur der Geschichte des Gottesvolkes. (Apg 10,19.44; 13,2.4 u. ö.). Er ist nun aber auch auf eine geordnete Weise in die Hand der Kirche gegeben. Die Konzeption sieht so aus: Die Jünger erhalten an Pfingsten den heiligen Geist aus dem Himmel (Apg 2,1–4). Durch Handauflegung in der Taufe oder bisweilen auch unabhängig von der Handauflegung vor der Taufe wird der heilige Geist weitergegeben. In Apg 19 berichtet Lukas von der Begegnung des Paulus mit Jüngern des Täufers in Ephesus. Diese kennen zwar die Bußtaufe des Johannes, haben aber vom heiligen Geist noch nichts gehört. Erst die Taufe durch Paulus auf den Namen Jesu lässt sie den heiligen Geist empfangen. Der heilige Geist vermittelt einige besondere Fähigkeiten, etwa das Sprechen in Sprachen und die Fähigkeit zur Prophetie. Die Geistteilhabe des einzelnen verbindet ihn mit dem heiligen Geist als treibender Kraft der Ausbreitung des Evangeliums. Der Geist wird zu einer selbständigen Macht, indem er als Mittler des göttlichen Willens auftritt, während Gott selbst im Hintergrund verbleiben kann. Dieser heilige Geist wirkt nun sehr handfest auf die Jünger ein, indem er ihnen z. B. Anweisungen gibt und sie führt (bes. 8,29; 10,19; 11,12; 13,2 u. ö.). Sein Ziel ist die Verbreitung des Evangeliums. Die Apostelgeschichte ist unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte des heiligen Geistes, die unmittelbar in der Gegenwart der intendierten Leser des lukanischen Doppelwerks weitergeführt wird.
Lukas erzählt die Geschichte des Gottesvolkes als Verwirklichung des Ratschlusses Gottes. Er setzt sich dabei mit der Frage auseinander, warum die Kirche, die auf den Traditionen des Judentums beruht, dennoch neben und weitgehend isoliert von den jüdischen Gemeinschaften existiert. Die Zurückweisung des Evangeliums durch die Mehrheit der Juden stellt die Kontinuität im Handeln Gottes infrage. Diese wird aber umso energischer dadurch gesichert, dass der heilige Geist nach der Erhöhung Jesu im himmlischen Thronrat als wichtigster Akteur der Geschichte der Jesusanhänger auftritt und ihre Übereinstimmung mit dem Ratschluss Gottes garantiert.
Ethik und Politik
317
10.6 Ethik und Politik: Armut und Besitz, Rettung und Befreiung Die Aussagen des Doppelwerks, die für eine Ethik des Lukas ausgewertet werden können, berühren häufig unmittelbar politische Fragen. Seine Ausführungen zum Umgang mit Besitz, zur Bedeutung von Armut und Reichtum und zur Stellung der Frau gehen über Regelungen, die sich nur auf den sozialen Nahbereich beziehen, hinaus. Zugleich bezieht sich Lukas oft auf Vorstellungen, die eine lange Vorgeschichte im antiken Judentum haben. An erster Stelle ist die Armenfrömmigkeit zu nennen. Bereits in den hymnischen Texten der lukanischen Vorgeschichte, dem Benedictus und dem Magnificat (Lk 1,46–55.68–79), wird deutlich, wie eng die lukanische Sichtweise der „Armen“ an diese biblische Tradition anschließt. Auch in der biblischen Armenfrömmigkeit ist der Übergang zwischen ethischen Anschauungen und politischen Forderungen, aber auch zwischen der Vorstellung einer religiösen Armut im Sinne der Demut vor Gott und der materiellen Armut fließend. Kein Zweifel kann aber darin bestehen, dass Gott für die Armen Partei ergreift:
Armenfrömmigkeit
Ps 11,6 LXX: Wegen des Elends der Armen (gr. ptochoi; πτωχοί) und wegen des Seufzens der Bedürftigen will ich nun aufstehen, spricht der Herr, ich werde Rettung schaffen.40
Der für Lukas wichtige Begriff der „Rettung“ (gr. soteria; σωτηρία) meint hier das machtvolle und damit politisch wirksame Eingreifen Gottes in das Geschehen dieser Welt zugunsten der Armen. Darauf berufen sich die Aussagen in Benedictus und Magnificat, die in Terminologie und Stil eng an biblische Vorbilder in 1Sam 1–3 und Ps 146–150 anknüpfen. Nach Ps 146,3 ist das Vertrauen auf die Einsicht der Herrschenden falsch, da diese keine „Rettung“ bringen. Es ist der barmherzige Gott, auf den sich die „Hoffnung“ (gr. elpis; ἐλπίς) richten soll (V. 5). Er wird das Recht der Unterdrückten, die Befreiung der Gefangenen und die Fürsorge für die Armen durchsetzen (V. 7). Diese Sichtweise teilt nach Lukas die torafromme Bevölkerung Judäas und Galiläas, unter ihnen Zacharias, Elisabeth, Simeon, Hanna und die Frommen im Tempel. Sie erwarten vom Täufer und von Jesus „Rettung“ (1,47.69.71.77; 2,11; vgl. 2,30) und „Befreiung“ (vgl. 1,68; 2,38; 21,28; 24,21). Die Verbindung dieser Erwartungen mit der Entmachtung der Herrschenden und Enteignung der Besitzenden (1,52 f.) unterstreicht die politische Dimension dieser Vorstellungen. Ihre Erfüllung wird in Lk 21,28 mit den endzeitlichen Ereignissen verbunden. Nach Lk 24,21 ist Israel noch nicht befreit 40 Vgl. Ps 9,19; 10,2.9; 40,18.
Rettung
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Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Terminologie des Heils
und auch Paulus blickt in die Zukunft, wenn er sagt, dass er „um der Hoffnung Israels willen“ gefangen sei (Apg 28,20). Diese Terminologie des Heils (Rettung, Befreiung, Hoffnung) drückt demnach eine eschatologische Erwartung aus, deren politische Realisierung von jedem erhofft wird, der in der Nachfolge Jesu steht. Nach Bovon versteht Lukas unter diesem Heil „die persönliche und soziale Befreiung, die Erneuerung von Leib und Seele, das Ende der Ungerechtigkeiten und der Unterdrückungen, die Errichtung von Gerechtigkeit und Frieden, sowie die Umkehrung der Verhältnisse“.41 Die durch diese eschatologische Erwartung gewonnene Selbstsicherheit der Jesusanhänger ermöglicht es ihnen, den anerkannten Autoritäten zu widerstehen. Als Petrus, ein galiläischer Fischer, vor dem Synhedrium steht und ihn der Hohepriester, der höchste Repräsentant der gesellschaftlichen und religiösen Elite Judäas, auf die Missachtung des gegen ihn ausgesprochenen Lehrverbots anspricht (Apg 4,18–21), sagt Petrus: Apg 5,29: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
staatliche Macht
Nicht-Elite
Täufer
Die in der Apostelgeschichte geschilderten Konflikte mit dem jeweiligen Repräsentanten staatlicher Macht erscheinen angesichts des optimistischen Erzählstils des Lukas harmloser als sie es sind. Nur ein Beispiel: In Philippi werden Paulus und Silas schwer gefoltert und in Ketten gelegt (16,22–24).42 Die narrative Rahmung, insbesondere die wunderbare Rettung aus der Haft durch ein Erdbeben, führt dazu, dass diese brutale Seite der Konflikte Bestandteil einer wunderbaren Rettungserzählung wird und zumindest bei dem heutigen Leser dadurch in den Hintergrund tritt, wenn nicht gar in Vergessenheit gerät. Das Evangelium gibt einige Antworten auf die Bandbreite der ethischen und politischen Orientierungen, die mit diesen Erwartungen der Rettung und Befreiung vereinbar sind. Diese Aussagen bilden allerdings kein geschlossenes politisches Konzept, was angesichts des Ausschlusses der Nicht-Elite von der Teilhabe an der politischen Macht und der Beschränkungen, denen jegliche kritisch-rationale Selbstreflexion antiker Gesellschaften unterlag, auch nicht zu erwarten ist.43 Allerdings entwickelt Lukas innerhalb dieser Beschränkungen eine beachtliche Tiefe der intellektuellen Durchdringung der sozialen und politischen Welt, innerhalb derer sich die von ihm berichteten Geschehnisse ereigneten. Der Täufer und Jesus bilden nach Lukas auch in Bezug auf ihre ethische Verkündigung eine Handlungsgemeinschaft. In Lk 3,10–14 wendet 41 Bovon, Evangelium nach Lukas 4, 191. 42 S. o. 145–147 mit Abb. 5 (Foltererfahrungen des Paulus). 43 S. o. 95 (Elite und Nicht-Elite im Imperium Romanum).
Ethik und Politik
sich der Täufer an das „Volk“ und fordert demnach alle auf, Kleidung und Speise mit demjenigen zu teilen, der Mangel hat. Zöllner und Soldaten werden ebenfalls in ihre Schranken verwiesen. Der Täufer vertritt eine Ethik des Ausgleichs und der Selbstbescheidung. Zugleich übt er scharfe Kritik an den politisch Mächtigen (Lk 3,19 f.). Diese gruppenbezogene Sozialethik („Ständepredigt“) unterstreicht erneut, dass Lukas nicht mehr nur den Nahbereich des Dorfes und der Familie reflektiert, sondern an gesellschaftliche Gruppen spezifische Forderungen hat. In der Feldrede Jesu wird der gesellschaftliche Gegensatz noch etwas weiter zugespitzt (6,20–49). Die Seligpreisungen richten sich uneingeschränkt an die Armen, die Hungernden, die Weinenden und an diejenigen, die Verfolgungen ausgesetzt sind (6,20–22). Nur im Lukasevangelium sind diesen Zusagen an die Marginalisierten auch prophetische Weheworte an die Privilegierten symmetrisch zugeordnet (6,24–26). Den Reichen, Satten, Lachenden und den sozial Wohlangesehenen wird nun all das abgesprochen, was den Armen zugesagt wurde. Die lukanische Fassung von Seligpreisungen und Weherufen spricht erneut das aus, was in Lk 1,52 f. über den Sturz der Mächtigen und die Erhöhung der Niedrigen, die Sättigung der Hungernden und die Enteignung der Reichen gesagt wurde. Die Konzentration der lukanischen Aussagen auf einfache Gegensätze wird aus heutiger Sicht als verzerrend empfunden. Nur zwei gesellschaftliche Gruppen stehen sich gegenüber. Zwischentöne, Graubereiche, z. B. eine Mittelklasse, werden nicht in die Überlegungen miteinbezogen. Lukas folgt damit aber einer Selbstwahrnehmung antiker Gesellschaften, die nur selten über ein solches bipolares Gesellschaftsmodell, das einfach zwischen Arm und Reich, Elite und Nicht-Elite unterschied, hinausging. Das geforderte ethische Verhalten wird angesichts des Gegenübers von Arm und Reich in Anknüpfung an die jesuanische Ethik in der Feldrede weiter ausgeführt. Auch der lukanische Jesus fordert Besitzverzicht, Rechtsverzicht und Gewaltverzicht als Konkretisierung der Feindesliebe (6,27–30). Im lukanischen Kontext dienen diese Verhaltensweisen der Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, die der Täufer und Jesus festgestellt haben. Während der Täufer angesichts der Zerrissenheit der Gesellschaft in Judäa und Galiläa eine Ethik des Ausgleichs vorschlägt, fordert Jesus eine Ethik des Verzichts, die auf radikale Weise die goldene Regel erfüllt (6,31). Angesichts des Bruches in der Gesellschaft soll der Verzicht auf eine positive Wiedervergeltung als sich ausbreitende Verhaltensweise diese Gemeinschaft der Reziprozität, die iustitia connectiva, wieder herstellen.44 44 S. o. 101 (iustitia connectiva).
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Jesus
bipolares Gesellschaftsmodell
Feindesliebe
320
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Besitzverzicht
Die vom Täufer und Jesus reflektierte soziale Dimension von Reichtum und Armut wird auch von individualethischen Forderungen begleitet. In Lk 18,22 verlangt Jesus von einem „führenden Mann“ (gr. archon; ἄρχων), d. h. einem Mitglied der Elite, er solle „alles“, was er hat, verkaufen und den Armen geben. Auch die Jünger werden aufgefordert, ihren Besitz zu verkaufen und den Armen zu geben (12,33 f.). Die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (12,16–21) und vom armen Lazarus (16,19–31) sowie das Verhalten des reichen Zachäus (19,8) unterstreichen, dass die Fürsorge für die Armen das Beste, ja vielleicht das einzig Gute ist, das man mit Besitz und Reichtum tun kann. Die Apostelgeschichte führt diese Überlegungen weiter, indem sie für die Jerusalemer Urgemeinde die Besitzgemeinschaft unterstellt (Apg 4,32–35). Im Fall der übrigen in der Apostelgeschichte erwähnten Gemeinden ist allerdings nicht mehr von einer solchen Gütergemeinschaft die Rede. In der Exegese des Lukasevangeliums wird immer wieder von einer Spannung gesprochen, die zwischen einem radikalen Besitzverzicht und den Aussagen zum angemessenen Umgang mit Besitz bestünde. Pokorný notiert etwas entmutigt: „Er (Lukas; LB) muß eine Vorstellung gehabt haben, wie man die Widersprüche begreifen soll, die wir auf der literarischen Oberfläche feststellen.“45 Tatsächlich ist zunächst nur festzuhalten, dass die Ausrichtung auf die Armen unbestritten ist, die Situation der Reichen und die Besitzverhältnisse aber nicht konsequent durchdacht werden.
Lukas geht von der biblischen Armenfrömmigkeit aus, die mit der Umkehr der gesellschaftlichen Ordnung zwischen Reich und Arm, Privilegierten und Marginalisierten, Mächtigen und Machtlosen rechnet. Der Ausgangspunkt dafür ist die Vorstellung vom Gott Israels, der als Befreier und Retter der „Armen“ und „Niedrigen“ auftritt. Der Täufer fordert eine Ethik des Ausgleichs und der Selbstbescheidung, während Jesus in den Seligpreisungen und Weherufen die Umkehr von Arm und Reich, angesehen und missachtet proklamiert. Die lukanische Besitzethik bleibt flexibel und umfasst Besitzausgleich, Besitzverzicht und gemeinschaftliche Teilhabe am Besitz.
Gericht
Der Gerichtsgedanke nimmt im lukanischen Schrifttum eher eine Nebenrolle ein. Die Verkündigung der heilvollen Präsenz Gottes in Jesus und durch den heiligen Geist steht im Mittelpunkt.46 Die Gerichtsvorstellung erfährt zudem angesichts der geschichtstheologischen Orientierung des lukanischen Schrifttums eine deutliche Wandlung. Das 45 Pokorný, Theologie, 186. 46 Gillner, Gericht bei Lukas, 306–308.
Ethik und Politik
Gericht vollzieht sich im geschichtlichen und individuellen Ergehen und wird nur selten nach dem Vorbild der apokalyptischen Traditionen als ein universales endzeitliches Ereignis, das alle betrifft, dargestellt. Die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (12,16–21) und vom armen Lazarus (16,19–31) stellen mit unterschiedlichen Akzentuierungen ein individuelles Ergehen vor. Im Lazarusgleichnis ist zudem die Umkehr von Arm und Reich, die in der Ethik des Lukas eine zentrale Stellung einnimmt, Maßstab des vergeltenden endzeitlichen Geschehens. Nach dem Tod ereignet sich auf der Ebene des Individuums die Umkehr: Lk 16,25: Gedenke, was du an Gütern in deinem Leben empfangen hast und Lazarus an Übeln. Nun aber wird er hier getröstet, während du Qualen erleidest.
Aber auch im Lazarusgleichnis ist jenseits dieser harten Worte ein Dialog zur Belehrung derjenigen, die auf der Erde leben, enthalten, damit ihnen dieses Schicksal erspart bleibt (16,27–31). Diejenigen, die der Jesusgemeinschaft angehören, erfahren ebenfalls dieses individuelle postmortale Schicksal. In Lk 12,11 f. und 21,12–19 werden Verfolgung und Bestrafung der Jesusanhänger geschildert. Sie können in ihren irdischen Verhören und Prozessen auf den Beistand des heiligen Geistes vertrauen. Wenn sie standhalten, werden sie „ihre Leben gewinnen“ (21,19). Das bezieht sich zum einen auf das Überleben und Überstehen der Verfolgungen, schließt aber auch das individuelle Ergehen nach dem biologischen Tod, der das Leben im biblischen Sinn nach Lukas nicht tangiert, ein. Das Leben der Verfolgten ist hier wie dort durch die Geschehnisse unantastbar. Für Lukas steht die individuelle Eschatologie, das Schicksal des Einzelnen, ganz im Mittelpunkt. Der Gerichtsgedanke spielt demnach für die Vorstellung der zukünftigen Ereignisse wie auch in seiner paränetischen Funktion, die Dringlichkeit des Tuns des Guten zu unterstreichen, eine vergleichsweise geringe Rolle. Lukas nimmt aber auch die Tradition vom endzeitlichen Geschehen auf. In Lk 17,22–37 schildert er nach einer Vorlage aus der Logienquelle den „Tag des Menschensohns“, der für Lukas der Tag der Wiederkunft Christi ist. Wieder wird davon ausgegangen, dass es in diesem Geschehen, das als Scheidung und Vernichtung vorgestellt wird, möglich ist, sein Leben zu „bewahren“ (17,33). Eine deutlichere lukanische Handschrift zeigt der Abschnitt über die endzeitlichen Geschehnisse in 21,5–36. Auch hier greift Lukas auf eine Vorlage zurück: Die apokalyptische Rede aus Mk 13. Bereits diese Vorlage lehnt sich bei der Schilderung der Endereignisse an geschichtliche Vorgänge an. Lukas vertieft diese Parallelisierung von endzeitlichem Geschehen und historischen Ereignissen. Die Periodisierung
nach dem Tod
Parusie Christi
Endzeit
321
322
Lukasevangelium und Apostelgeschichte
Befreiung
wird verdeutlicht, die Zeitabschnitte werden gedehnt. Von besonderer Bedeutung ist für Lukas, dass die Zerstörung des Tempels und Jerusalems als Teil dieses von Jesus vorausgesagten Geschehens deutlich erkennbar wird (21,5–7.20–24). Die Belagerung und Vernichtung der Stadt ist nach Lukas unmittelbare Folge der Zurückweisung Jesu, weil nicht erkannt wurde, was „zum Frieden dient“ (14,31 f.; 19,41–44). An diese Ereignisse schließt sich nach Lk 21,24 f. „die Zeit der nichtjüdischen Völker“ an, die eine Zeit der „Ratlosigkeit“ (gr. aporia; ἀπορία) ist. Das ist die Gegenwart der lukanischen Gemeinde. Sie blickt auf die Zerstörung des Tempels zurück, erlebt die Gegenwart als die Erfüllung des Planes Gottes und erwartet die Parusie Christi in einer Welt, die als orientierungslos gilt. Die Wiederkunft Christi wird von Lukas durch das Wort „Befreiung“, das zur charakteristischen Terminologie des Heils gehört, mit den in Lk 1 f. sowie in 24 formulierten Erwartungen von „Befreiung“ und „Rettung“ verbunden. Lk 21,28: Sobald aber diese (Ereignisse) beginnen zu geschehen, blickt auf und erhebt eure Köpfe, weil eure Befreiung naht.
Die Jesusanhänger aber sind durch die Lehre Jesu, die Verkündigung der Königsherrschaft und das Wissen um die Barmherzigkeit Gottes gut gerüstet, um im individuellen Schicksal des einzelnen wie im kollektiven Ergehen am Tag des Menschensohns ihre Leben zu bewahren (17,33; 21,19). Lukas rechnet sowohl mit einer individuellen Eschatologie als auch mit einem kollektiven Geschehen bei der Parusie Christi. In der Parusie ereignet sich für die Jesusanhänger nichts anderes als im individuellen postmortalen Ergehen. Beides erwarten die Jesusanhänger mit der Zuversicht, ihr Leben vor Gott bewahren zu können. Die Parusie liegt in einer unbestimmten Zukunft. Lukas rechnet mit der dauerhaften Existenz der Kirche in Zeiten der „Ratlosigkeit“, die für die Jesusanhänger jedoch die Zeiten der Verwirklichung des Planes Gottes sind. Deswegen hat die individuelle Eschatologie für Lukas die größere Relevanz.
Literatur Barrett, Charles K.: The First New Testament, in: NT 38 (1996), 94–104. Bormann, Lukas: Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium, Göttingen 2001 (StUNT 24). Ders.: Rewritten Prophecy in Luke-Acts, in: Mogens Müller/Jesper Tang Nielsen (Hg.), Luke’s Literary Creativity, London 2016 (LNTS 550), 121–139.
Literatur
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323
11 Johannesevangelium
Entstehungsorte des Johannesev.: 1. Panias (Gaulanitis, Batanaea) 2. Antiochien 3. Ephesus
Abb. 11: Die möglichen Entstehungsorte des Johannesevangeliums: Ephesus, Antiochien und die Region Batanäa.
326
Johannesevangelium
11.1 Einführung
Autor
wir – ihr
Leserintegration
Die kirchliche Tradition berichtet von der Entstehung des Johannesevangeliums in Ephesus.1 Die Abfassungszeit liegt in den Jahren zwischen 90 und 100 n. Chr. Da sich verschiedene literarische Schichten der Schrift bestimmen lassen und für diese jeweils unterschiedliche historische Entstehungsorte wahrscheinlich sind, wird auch in Erwägung gezogen, dass Teile des Evangeliums deutlich früher in Syrien, d. h. in Antiochien, oder in der Landschaft Batanäa entstanden sein könnten. Das Johannesevangelium gebraucht mehrfach die 1. Person und erweckt demnach wie sonst nur der Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1–4) den Eindruck, dass in diesen Aussagen der Autor selbst zu Wort kommt. Anders als Lukas, der zwar angibt, Augenzeugenberichte ausgewertet zu haben, für sich selbst aber keine Augenzeugenschaft in Anspruch nimmt, deutet das Johannesevangelium dreimal an, dass diese Jesuserzählung auf der Augenzeugenschaft des Autors beruhe. In 1,14 wird festgehalten: „und wir schauten seine (Christi) Herrlichkeit“. In 19,35 wird im Rahmen des Berichts vom Tod Jesu notiert: „Der es gesehen hat, bezeugt es, und sein Zeugnis ist wahr, damit auch ihr glaubt.“ In 21,24 wird abschließend hervorgehoben: „Dieser („der Jünger, den Jesus liebte“; V. 20) ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“. In diesen Kommentaren spricht aber keiner der angesprochenen Augenzeugen, sondern ein weiterer Sprecher, der mit der 1. Pers. Pl. („wir“) zum Ausdruck bringt, dass er sich mit einer Gruppierung verbunden sieht, die er in der 2. Pers. Pl. mit „ihr“ anspricht und die letztlich auch die Leser miteinschließt (vgl. 1Joh 1,1–3). Der Leser wird demnach darauf aufmerksam gemacht, dass eine Reihe von Zeugen für die Wahrheit des Evangeliums eintritt, dass ihn ein letzter Kommentator über diesen Sachverhalt informiert und dieser für eine Gemeinschaft steht, in die er, der Leser, mithineingenommen werden soll. Diese literarische Konstruktion von Augenzeugen, vermittelnden Zeugen, kommentierendem Gesamtüberblick, inklusivem „wir“ und einladendem „ihr“ bietet eine komplexe Lektürehaltung an und weist darauf hin, dass das Johannesevangelium den Leser in das von ihm formulierte Sinnangebot integrieren möchte. Nimmt man noch hinzu, dass der in 21,24 genannte Augenzeuge nach V. 20 der „Jünger, den Jesus liebte“ ist, dann verstärkt sich noch der Eindruck von einer intensiven Leserbeziehung, die diese Schrift explizit konstruiert. Der namenlos bleibende „Lieblingsjünger“ fungiert als Identifikations1 Eusebius Hist. Eccl. 3,39,4–6.
Einführung
figur für den Leser und zwar als „Modell-Jünger“.2 Den Effekt, der durch diese literarische Konstruktion bei den Lesern erreicht werden soll, formuliert Culpepper zutreffend und knapp: „Die Leser sollen sehen, was sie sahen.“3 Das vierte Evangelium erwartet demnach eine Lektürehaltung des Einverständnisses mit der mitgeteilten Botschaft. Dieses Einverständnis ist aus Sicht der Schrift dann erreicht, wenn der Leser „glaubt“ und bekennt, dass Jesus der vom Vater gesandte Sohn Gottes ist. Theologisch bedeutet das, dass die Zustimmung des Lesers zum christologischen Monotheismus des Johannesevangeliums angestrebt wird.4
Zustimmung
Das Johannesevangelium tritt als Zeugenaussage/Zeugnis auf. Dieses bezieht sich aber anders als im lukanischen Doppelwerk nicht auf die historische Zuverlässigkeit der berichteten Ereignisse, sondern auf die Wahrheit der zentralen Botschaft des Evangeliums: die Sendung des Sohnes. Die Leser sollen durch die Lektüre des Johannesevangeliums vom christologischen Monotheismus überzeugt werden.
11.1.1 Sprache Das Johannesevangelium unterscheidet sich in der sprachlichen Gestalt und in den gewählten sprachlichen Formen erheblich von den synoptischen Evangelien.5 Die Exegese verweist seit dem 19. Jh. immer wieder auf die sogenannte „Simplizität der johanneischen Sprache“.6 Die Wortstatistik belegt, dass das umfangreiche Evangelium (15.416 Wörter) im Vergleich zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments den kleinsten Wortschatz hat.7 Es fällt besonders die geringe Anzahl der verwendeten Substantive im Verhältnis zum Gesamtwortschatz auf.8 Dieser Befund erklärt sich aus der stilistischen Eigenart des Johannesevangeliums, dass einzelne Wörter beständig wiederholt werden (z. B. in Joh 17 allein 17 Mal „geben“; gr. didonai; διδόναι) und dass darauf verzichtet wird, Substantive durch Pronomen 2 Schnelle, Evangelium nach Johannes, 287; vgl. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte, 429–435; Waetjen, The Gospel of the Beloved Disciple,15–28. 3 Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 98. 4 Zumstein, Johannesevangelium, 60. 5 Zumstein, Johannesevangelium, 47 f. 6 Frey, Johanneische Eschatologie 2, 60. 7 Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, 27. 8 Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, 164: Joh 335 Substantive bei einem Wortumfang von 15.416; Mt 574 zu 18.012; Mk 449 zu 11.078; Lk 664 zu 19.287.
Simplizität der Sprache
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Johannesevangelium
geringer Wortschatz
Dualismus
zu ersetzen (z. B. sechsmal „Licht“ in 1,4–9, gr. phos; φῶς). Diese Eigenart bewirkt eine Konzentration des Textes und seiner Lektüre auf zentrale Sachverhalte, die theologisch hervorgehoben werden sollen. So wird etwa in Joh 17, dem sogenannten hohepriesterlichen Gebet Jesu, unterstrichen, dass Gott „alles“ dem Sohn „gegeben“ hat und Jesus nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in Beziehung zum Vater, „Gott“ ist. Eine weitere stilistische Besonderheit stellen die antithetischen Formulierungen dar. Immer wieder entwickelt das Evangelium seine Gedanken, indem es polare Begriffspaare bildet: Licht–Finsternis (1,4 f.; 3,19–21; 8,12; 11,9 f.; 12,35.46), Fleisch–Geist (3,5 f.), Himmlisches – Irdisches (3,12; 3,31), Leben –Tod (5,24; 11,25 f.), oben–unten (8,23), Freier–Knecht (8,33–36), Lüge –Wahrheit (8,44 f.), Teufel–Gott (8,44) und aus der Welt – nicht aus der Welt (15,18–25; 17,14–16). Bultmann spricht vom „johanneischen Dualismus“, der kein kosmisch-ontologischer, sondern ein „Entscheidungsdualismus“ sei.9 Dieser Sprachgebrauch repräsentiere ein (gnostisch-)dualistisches Weltbild, das die materielle Welt ablehne und dieser eine Lichtwelt gegenüberstelle. Inzwischen belegen die Qumrantexte, dass sich ein dualistisches Denken auch in der biblisch-jüdischen Traditionslinie entwickeln konnte. Die religionsgeschichtliche Ableitung der antithetischen Formulierungen im Johannesevangelium ist demnach weit komplexer und hat die wechselseitige Beeinflussung von Judentum und Hellenismus seit dem 2. Jh. v. Chr. zu berücksichtigen. Die antithetischen Formulierungen verfolgen jedenfalls eine rhetorische Strategie: Der Leser soll durch sie zur Teilhabe und zum Festhalten an der positiven Aussagenreihe (Licht, Leben, Wahrheit, Gott) angeleitet werden, die im Johannesevangelium mit dem Glauben identifiziert wird, während die negative Aussagenreihe (Finsternis, Tod, Lüge, Teufel) mit dem Unglauben in Verbindung steht. 11.1.2 Narrativität
Erzählung und Dialoge
Das Johannesevangelium wählt zwar die Form einer biographischen Erzählung, um sein theologisches Anliegen vorzubringen, hält sich aber nur bedingt an die Regeln des kohärenten Erzählens. Die Erzählung wird durchbrochen von umfangreichen Dialogen, die zudem regelmäßig in Monologe Jesu übergehen. In den Abschiedsreden (Joh 14–16) und schließlich im hohepriesterlichen Gebet Jesu (Joh 17) dominiert die Rede Jesu. Zudem ist die narrative Konstruktion in den Aussagen über Zeit, Ort und die beteiligten Personen lückenhaft, sprunghaft und 9 Bultmann, Theologie, 361–367.
Einführung
unter narrativen Gesichtspunkten nicht vollständig ausgeführt, z. B. ist die Erzählfolge in Joh 4–7 (bes. 6,1) und nach 14,31 (die Aufforderung „lasst uns fortgehen!“ wird erst in 18,1 ausgeführt) unter zeitlichen und topographischen Gesichtspunkten widersprüchlich. Die erzählerischen Spannungen sind aber noch tiefer verankert. Eine Erzählung definiert sich über die narrative Konstruktion der erzählten Welt, die durch die Entscheidungen des Erzählers über Raum, Zeit, Handlungsfolge und Handlungsfiguren näher bestimmt wird. Erzählen ist eine Aussage über die Objekte der Welt in subjektiver Perspektive.10 Jede Erzählung bringt ein inneres Paradox mit sich, das Bal als „Spannungsverhältnis zwischen der sozial zugänglichen Objektivität und der charakteristischen Subjektivität der Erzählung“ definiert.11 Das Johannesevangelium betont oftmals die Objektivität der Erzählung, indem es Details mitteilt, die bei den Synoptikern fehlen, etwa den Namen des Knechts des Hohepriesters, „Malchus“, dem „Petrus“ (Synoptiker: „einer“) das Ohr abschlägt (18,10). Diese gelegentliche Präzision steht in Spannung zu der vom Johannesevangelium gewählten subjektiven, besser theologischen Erzählperspektive, die herausstellt, dass Jesus von Anfang an der vom Vater gesandte Sohn sei. Diese Spannung wiederholt sich immer wieder, etwa wenn die Hauptfigur der Erzählung, Jesus, ausdrücklich als galiläischer Jude dargestellt und mehrfach als „Sohn des Josef “ (1,45; 6,42; vgl. 7,41 f.) bezeichnet wird, der wie Tausende andere galiläische Juden im Rhythmus der Pilgerfeste nach Jerusalem zieht. Dieser Jesus ist aber zugleich der Logos („Wort“; gr. λόγος), der Fleisch geworden und als Sohn Gottes vom Vater, dem einzigen wahren Gott, in die Welt und zu den Seinen gesandt worden ist. Die Jesuserzählung des Johannesevangeliums ist von der Spannung zwischen einem erzählerischen Realismus und einer spekulativen Theologie geprägt. Was Bal als paradoxe Beziehung von Objektivität und Subjektivität bezeichnet, tritt im Johannesevangelium textlich als Spannung zwischen Welt und Gott auf. Diese Spannung findet sich auch in einem charakteristischen Strukturprinzip der johanneischen Erzählung wieder: der Rhythmus des jüdischen Festkalenders. Alle Evangelien erwähnen das Passahfest, aber nur das Johannesevangelium berichtet auch davon, dass Jesus das „Laubhüttenfest“ (7,2.10) und das Tempelweihfest/Chanukka (10,22) besucht. Diese Feste und ihre Abfolge sind einerseits objektiv vorgegeben, anderereits dienen sie im Johannesevangelium in besonderer Weise dem Ausdruck einer subjektiven Überzeugung, nämlich der Offenbarung des Sohnes Gottes. Die Erzählungen von den Aufenthalten Jesu in Jerusalem 10 Bal, Kulturanalyse, 117. 11 Bal, Kulturanalyse, 119.
Paradox der Erzählung
Feste
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Johannesevangelium
heilige Zeit
heben jeweils den Tempel als Ort des Wirkens Jesu hervor (2,14; 5,14; 7,14; 8,20; 10,23; vgl. 18,20). Die heilige Zeit des Sabbats und der Feste sowie der heilige Ort des Tempels determinieren den erzählerischen Gestaltungsrahmen, indem sie die mit den Festen und dem Tempel gegebenen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsverbote in die erzählte Welt des Evangeliums integrieren. Das Fest beruht auf dem Gebot Gottes, nach dem sich zu diesen Zeiten ganz Israel in Jerusalem versammeln soll. Mit dem Fest ist zudem die Zusage der Präsenz Gottes im Tempel verbunden. Zu diesem Gott hin bewegen sich das Volk Gottes und auch Jesus selbst (2,13; 7,10; 11,55; 12,12), um an diesem heiligen Ort und zu dieser heiligen Zeit die Bedeutung Jesu als Sohn Gottes profiliert und kontrastreich zu erfahren. Narrative Bewegung und theologische Sinndimension verschmelzen in diesem Prozess so miteinander, dass der Eindruck entsteht, die Feste und der Tempel dienten letztlich der Verkündigung Jesu als Sohn Gottes. Die Hauptfigur der Erzählung, Jesus, wird immer wieder in seiner geschichtlichen Konkretion als galiläischer Jude und in seiner theologischen Bedeutung als von Gott Gesandter vorgestellt (1,45 f.; 7,41 f.). In Joh 6 werden diese Aussagen direkt aufeinander bezogen: 6,42: Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josephs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie nun sagt er: Ich bin aus dem Himmel herabgestiegen?
Sendung des Sohnes
Bruch der Logik
Das Auftreten Jesu wird in einer theologischen Perspektive gezeichnet, die sich von der sozial zugänglichen Welt der Objekte löst: Er kommt in die Welt (3,17) von oben (3,31), ist vom Vater gesandt (5,36). Er ist der Messias (1,41), der Christus (11,27), der Sohn Gottes (11,27), ja auf eine besondere Weise Gott selbst (20,28). In einigen Erzählungen verschmilzt die theologische Perspektive mit der geschichtlichen so eng, dass die Gottessohnschaft Jesu die Handlungsfolge auf unwahrscheinliche Weise bestimmt, etwa wenn die schwerbewaffneten Soldaten unter Führung ihres Militärtribuns (18,3.12), die in Stärke einer Kohorte (ca. 200 Mann) angerückt sind, um Jesus gefangen zu nehmen, bei seinen Worten „Ich bin es!“ (gr. ego eimi; ἐγώ εἰμί) zurückweichen und zu Boden fallen (18,5 f.). Die Episode verdeutlicht, auf welche Weise das Johannesevangelium narratives und argumentierendes Sprechen ineinander überführt. Die Logik des erzählenden Berichts (Gefangennahme) wird um die Logik der begrifflichen Definition („Ich bin der Sohn Gottes“) ergänzt. Beide Sichtweisen brechen sich gegenseitig, indem einerseits die militärisch überlegenen Soldaten vor dem unbewaffneten und wehrlosen Jesus auf den Boden fallen und andererseits kein Geringerer als der Sohn Gottes sich dann doch von diesen Soldaten binden lässt.
Einführung
331
Die narrative Konstruktion des Evangeliums konfrontiert immer wieder die Objektivität der allen Menschen gleichermaßen zugänglichen Wirklichkeit mit der Subjektivität der Überzeugung, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Diese beiden Sinnlinien werden mit der Überzeugung aufeinander zu geführt, dass die Wahrheit der Sendung des Sohnes nicht durch die scheinbar gegenläufigen Ereignisse in der Wirklichkeit der Welt infragegestellt wird.
Das Aufeinandertreffen zweier Sinnlinien findet sich auch im sogenannten johanneischen Missverständnis. Dort wird der wörtliche oder alltägliche Sinn einer Aussage Jesu mit dem Sinn konfrontiert, den das Evangelium als den wirklichen oder offenbarungstheologischen versteht. Letzterer gilt als Ausdruck der von Gott eröffneten Beziehung des Sohnes Gottes zu den Seinen. Das soll an einem von vielen Beispielen gezeigt werden:12
Missverständnis
3,3–5: Jesuswort: 3 Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben neu geboren wird, vermag er das Reich Gottes nicht zu schauen. Wörtlicher Sinn: 4 Spricht zu ihm Nikodemus: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er etwa ein zweites Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden? Wirklicher Sinn: 5 Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen.
Das Jesuswort konstatiert das Neugeborenwerden als eine Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes. Nikodemus thematisiert den wörtlichen Sinn, indem er realistisch das Problem schildert, das dadurch entsteht, dass ein erwachsener Mensch noch einmal geboren werden soll. Die Antwort Jesu verweist in traditioneller urchristlicher Sprache auf die Taufe als den Akt des Neuwerdens und als Bedingung für den Zugang zum Reich Gottes. Dieser Wechsel vom wörtlichen zum wirklichen Verständnis eines Jesuswortes verfolgt das Ziel, den Leser vom wirklichen Verständnis zu überzeugen. Diese Verstehensbewegung, die den Leser immer wieder in den Erkenntnisvorgang miteinbezieht, prägt das Johannesevangelium durchgehend. Besonders in den Dialogen bewegen sich Rede und 12 Joh 1,47–51; 2,19 f.; 4,10–15; 4,31–35 u. ö.
wörtlich versus wirklich
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Johannesevangelium
semeia/Zeichen
Gegenrede Schritt für Schritt vom wörtlich-alltäglichen Sinn einer Aussage hin zu ihrer wirklich-offenbarungstheologischen Bedeutung. Ähnlich wie im johanneischen Missverständnis werden auch in den Wunderhandlungen Jesu, die im Johannesevangelium „Zeichen“ (gr. semeion; σημεῖον) genannt werden, realistischer und wirklicher Sinn der Wunderhandlung einander gegenübergestellt. Auf die sieben Zeichenhandlungen – die Zählung ist im Johannesevangelium nur angedeutet (2,11; 4,54; vgl. 20,30) – folgen ab dem dritten Zeichen zunehmend ausführlichere Dialoge und Reden, in deren Verlauf dann auch ab dem fünften Zeichen, der Brotmehrung, die Ich-bin-Worte Jesu mitgeteilt werden. Während das Weinwunder zu Kana (2,1–11) und die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten (4,46–54) noch nicht zu vertieften Erörterungen führen, folgt auf die Heilung eines Gelähmten (5,1–9) eine ausführliche Dialogsequenz über den Sabbat. Die miteinander verbundenen Zeichen der Speisung der 5.000 (6,1–15) und des Seewandels (6,16–21) gehen in einen langen Dialog über, der um die Frage des Brotes, das für die biologisch notwendige Ernährung steht, kreist (6,22–71). Im Zentrum des Abschnitts steht das erste Ich-bin-Wort: 6,35: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.
ego eimi/Ich bin
Auf die Heilung des Blindgeborenen (9,1–7) folgt ein Dialog (9,8– 10,38), in dem zwei Ich-bin-Worte enthalten sind (10,9.11). Das letzte Zeichen, die Auferweckung des Lazarus (11,1–44), ist von Anfang an verwoben mit Redewechseln und zielt letztlich auf das zentrale Ichbin-Wort: 11,25: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, wenn er auch stirbt.
Dialog, Monolog
Es fällt im Vergleich zu den Synoptikern auf, dass unter den johanneischen Zeichen weder Dämonenaustreibungen noch Befreiungen von Unreinheit erwähnt werden, ohne dass dafür explizit ein Grund angegeben wird. Vermutlich passen Begegnungen mit torafernen und widergöttlichen Mächten nicht in die johanneische Vorstellung von dem in Jesus präsenten Heilswillen. Nicht nur im Falle der Zeichenhandlungen entwickeln sich aus der Erzählung heraus Gesprächsszenen. Auch die übrigen Erzählabschnitte dienen zunehmend als Ausgangspunkt für Dialoge, die regelmäßig in Reden Jesu übergehen. Der Umfang dieser Gesprächsund Redeanteile nimmt zu und auch ihre innere Struktur wandelt sich
Einführung
zunehmend vom Dialog zum Monolog. Die Abfolge Erzählung, Dialog und Rede Jesu findet ihren Höhepunkt in den sieben Ich-bin-Worten. Diese verdichten die Aussagen über die Bedeutung Jesu: 6,35 (Brot), 8,12 (Licht), 10,9 (Tür), 10,11 (Hirte), 11,25 f. (Auferstehung und Leben), 14,6 (Weg, Wahrheit und Leben) und 15,1 f. (Weinstock). Sie verbinden zudem den ersten Hauptteil des Evangeliums (1–12), in dem die Zeichenhandlungen enthalten sind, mit dem zweiten, der die ausführlichen Reden Jesu (14–17) überliefert. Thyen verweist zu Recht darauf, dass man die Ich-bin-Worte nicht aus dem Kontext isolieren sollte.13 Wenn sie ohne den narrativen Anlass und die dialogische Entwicklung ausgesprochen werden, dann erscheinen sie als eng definierende Sätze, die mit dem Verlust des dialogischen Rahmens auch einen Verlust an Plausibilität erleiden. Es handelt sich nämlich nicht um Definitionen des Wesens Jesu, sondern um Antworten auf Fragen, deren Gegenstand und Bedeutung erst in den Dialogen entwickelt werden. Die Ich-bin-Worte beginnen mit der Präsentation des Sprechers als die Verkörperung dessen, was die Fragenden suchen (Brot, Licht usw.). Diese wird in einem bildhaften Ausdruck mit vorangestelltem Artikel („das Brot des Lebens“, „das Licht der Welt“) formuliert. Daran schließt sich in der Regel eine bedingte Einladung („wer kommt“) mit einem Zuspruch bzw. einer Verheißung an („nie mehr hungern“). In welchem Sinn Jesus „das Brot des Lebens“ ist, erschließt sich aus dem Dialog um das Brot (6,22–71). Das johanneische Missverständnis, die Zeichen und die Ich-bin-Worte öffnen den Leser für ein Verstehen, das die Suchbewegungen der menschlichen Existenz auf die Beziehung von Gott zu Jesus, vom Vater zum Sohn ausrichtet. In dieses Verstehen wird auch der Leser durch eine besondere Zeitstruktur der johanneischen Aussagen miteinbezogen, die ihn zu einer durch den Text vermittelten Begegnung mit Jesus führen soll. In zahlreichen Aussagen des Johannesevangeliums wird der Zeitpunkt eines Geschehens gedoppelt, z. B. „die Stunde kommt und ist jetzt da“ (4,23; 5,25; 16,32). Diese bi-temporalen Aussagen erscheinen zunächst paradox. Sie sollen aber die Bedeutung der Präsenz Jesu auf zumindest zwei Zeit- und Sinnebenen zum Ausdruck bringen. In der erzählten Welt der johanneischen Jesuserzählung ist „die Stunde“ der Präsenz Jesu schon da und sie weiß auch bereits davon, dass sie für die Leser kommen wird. Zugleich kann der Leser im Rückblick feststellen, dass die Präsenz Jesu bereits Wirklichkeit geworden und nun auch für ihn gekommen ist. Dadurch macht das Johannesevangelium deutlich, dass die erzählte Begegnung der Jünger mit Jesus und die 13 Thyen, Johannesevangelium, 354.
Kontext
Zeitstruktur
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Johannesevangelium
krisis/Gericht
glaubende Begegnung des Lesers mit ihm durch den Text von gleicher Qualität sind. So wie die Menschen in der erzählten Begegnung mit Jesus das Gericht, das nicht in einer unbestimmten Zukunft, sondern in der Begegnung mit dem Sohn Gottes geschieht, erfahren, so erfahren es auf gleiche Weise die Leser in der Begegnung mit den Aussagen des Johannesevangeliums. In diesem „Gericht“ (gr. krisis; κρίσις), das nun nur noch auf bildhafte Weise als Gericht anzusehen ist, entscheiden Glaube an Jesus als den Sohn Gottes oder Unglaube über das Urteil.14 Das Gericht vollzieht sich demnach in der Gegenwart des Glaubenden und ist kein zukünftiges Ereignis. Diese Gerichtsaussagen sind zumindest für die glaubende Gemeinde vor allem Heilsaussagen. Im Johannesevangelium dominiert, trotz einiger weniger futurischer Aussagen, die präsentische Eschatologie, die die Erfahrung des Heils in der Gegenwart des Glaubens verortet. Nicht erst in einem zukünftigen Gericht wird das Heil zugeteilt, sondern in der Existenzmöglichkeit des Glaubens ist es bereits voll und ganz realisiert.
Die johanneische Konzeption der Leserkommunikation setzt ihre sprachlichen Mittel dazu ein, den Leser in die Konstruktion der Überzeugungen des Evangeliums einzubeziehen. Die Missverständnisse, die Zeichen, die Ich-bin-Worte und die Zeitstruktur der bitemporalen Sätze gestalten das verstehende Lesen der Schrift so, dass es den Leser in die Beziehung zwischen Gott, Welt und Mensch, wie sie das Johannesevangelium versteht, hineinnimmt. Die Fragen seiner Existenz werden in der lesenden Erschließung der Beziehung von Gott zu Jesus, vom Vater zum Sohn beantwortet.
11.2 Jesuserzählung als Inszenierung der Herrlichkeit (Doxa)
doxa, kabod
Als Zentralbegriff der johanneischen Theologie fungiert „Herrlichkeit“ (gr. doxa; δόξα). Der johanneische Gebrauch des Wortes ist bestimmt von der biblischen Vorstellung von der majestätischen Präsenz Gottes (hebr. kabod; )כבוד, die mit ihm zum Ausdruck gebracht wird.15 Doxa bzw. kabod bezeichnen die Qualität der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk bzw. seiner Gemeinde und damit zwischen Gott und Mensch. Die Übersetzung des griechischen Wortes Doxa mit „Herr14 Ruschmann, Maria von Magdala im Johannesevangelium, 21. 15 Z. B. Jes 6,1–3; Ez 10,4.18 f.; 11,22; 43,4 f.
Inszenierung der Herrlichkeit
lichkeit“ kann nach wie vor als die angemessenste Übertragung ins Deutsche gelten, da die in der Exegese diskutierten Alternativen wie „Klarheit“ oder „Ehre“ das Bedeutungsspektrum verengen und der auch im Deutschen erklärungsbedürftige Begriff „Herrlichkeit“ eine sinnvolle Offenheit bewahrt.16 Doxa ist ein relationaler Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass sich Gott in den genannten Beziehungen erfahrbar und wahrnehmbar macht.17 Die von Gott gewirkte Qualität einer solchen Beziehungserfahrung wird als Herrlichkeit bezeichnet. Sie zeigt an, dass das Sein Gottes als herrschaftliche Majestät und sein Heilswillen als Nähe und Heil stiftender Willensvollzug seinem Gegenüber, dem Volk Gottes und der jesuanischen Gemeinde erfahrbar geworden sind.18 Die Hebräische Bibel nennt eine Reihe von Geschehnissen und sich wiederholenden Handlungsvollzügen, in denen die Herrlichkeit Gottes in besonderer Weise präsent war und ist. Der semantische Hintergrund des Begriffs wird durch die hervorragenden Orte seiner Inszenierung in der Geschichte Israels und seiner Beziehung zu Gott definiert: Rettung am Schilfmeer (Ex 14,17 f.; 15,1.6.11.21), Wüstenwanderung (Ex 16,7.10), Sinai (Ex 24,16; 33,18–22), Zelt der Begegnung (Ex 40,34 f.), Opfer (Lev 9,6.23), Tempel (Jes 6,1–3; Ez 10,4.18 f.; 11,22; 43,4 f.) und prophetische Verkündigung (Jes 35,2; 40,5; 66,18 f.). Das Judentum des Zweiten Tempels erweiterte diesen semantischen Hintergrund durch die Übertragung der DoxaErfahrung als Begegnungserfahrung auf den Festzyklus, den Sabbat und auf das Tun der Tora als gute Lebensordnung Gottes für Israel. Diese biblischen Sinn- und Erfahrungsdimensionen werden im Johannesevangelium auf Jesus, den Sohn Gottes, ausgerichtet und als in ihm präsent vorgestellt. Chibici-Revneanu fasst diesen Prozess mit den Worten zusammen: „Innerhalb dieses Beziehungsgeschehens erscheinen δόξα–Kommunikation und δόξα–Hoffnung auf Christus konzentriert, aus dem Bereich des Judentums übernommene Vorstellungen werden gewissermaßen auf Christus ‚kanalisiert‘.“19 Die johanneische Theologie knüpft an den Manifestationen der Doxa-Erfahrung Israels an, indem sie die Jesuserzählung auf besondere Weise mit dem Jerusalemer Festzyklus, dem Sabbat und der Beschneidung in Beziehung setzt und auch Jesus selbst mit dem Zeugnis Abrahams, Moses und Jesajas verbindet.
16 Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten, 633–640. 17 Schwindt, Gesichte der Herrlichkeit, 21. 18 Zumstein, Johannesevangelium, 85. 19 Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten,464.
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Qualität der Gottesbeziehung
Inszenierung der Gottesnähe
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Johannesevangelium
Die biblische Überzeugung, dass die Herrlichkeit Gottes, die Doxa bzw. der kabod im Sinn von Schwere und Majestät der Präsenz Gottes, die den Menschen zugewandte und empirisch wahrnehmbare Seite Gottes darstellt, wird im Johannesevangelium aufgenommen und zum zentralen Thema bestimmt. Die Grundthese des Evangeliums lautet: Gott ist in Jesus, der Vater im Sohn präsent.
11.2.1 Doxa in Joh 1–12
positive Aussagen
Wissen des Lesers
Im Prolog wird die Grundlage der Qualität der Doxa-Erfahrung in der Sendung des göttlichen Logos zu den Seinen in der Welt gesehen. Die Sendung trifft einerseits auf Widerstand und Ablehnung (1,11), andererseits gibt es Menschen, die den Logos, das „wahre Licht“, „annehmen“ (1,9.12). Sie werden dadurch zu Partnern der Doxa, nämlich „Kinder Gottes“ (1,12). Die Doxa-Erfahrung ist demnach unabhängig von Herkunft und Zugehörigkeit der Adressaten. Sie richtet sich an „jeden Menschen“ (1,9). Mit ihr ist bereits im Prolog eine positive Aussagenreihe verbunden: Leben, Licht, Wahrheit, Vollmacht, Gnade und Fülle. Diese Qualitäten sind und bleiben an die Doxa, die nun mit dem „eingeborenen Gott“ in die Welt gekommen ist, gebunden (1,18).20 In seinem ersten Teil (1–12) erschließt und thematisiert das Evangelium diese Doxa-Erfahrung in Beziehung zur Biographie Jesu. Die einzelnen Textsequenzen berichten, auf welche Weise die mit Jesus verbundene Doxa das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch neu bestimmt. Die Leser gehen aus jeder dieser Episoden verändert hervor, da sie in die Konstellation der Texte aufgenommen und ihre Einstellungen und Sichtweisen thematisiert und gewandelt werden. Das Weinwunder zu Kana (2,1–11) ist das erste Zeichen. Es vermittelt die Doxa-Erfahrung als Festerfahrung (Hochzeit), in der der Wandel von Wasser zu Wein als Wandel zur Fülle und zur Lebensfreude inszeniert wird. Die Leser werden in 2,9 durch die Reflexion über das Nichtwissen des Trinkmeisters und das Wissen der Diener ebenfalls als Wissende in den Text integriert. Nicht das Wunder schafft die Doxa, sondern das Wunder ist erfahrbarer Ausdruck der durch Jesus vermittelten Doxa-Erfahrung (2,11): „Er offenbarte seine Herrlichkeit.“ Dennoch wird hier zum ersten Mal der Hinweis gegeben, dass der von Gott bestimmte Zeitpunkt, die „Stunde“, „noch nicht“ gekommen sei (2,4; 7,30; 8,20). Mit ihm öffnet sich der Spannungsbogen von dieser ersten Offenbarung der Herrlichkeit bis zum Kreuzestod Jesu: Das Passionsgeschehen ist das von Gott bestimmte 20 Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten, 464.
Inszenierung der Herrlichkeit
Ereignis der Verherrlichung, d. h. die „Stunde“ (13,1), und der Tod am Kreuz ist die Offenbarung der Herrlichkeit (12,23.27 f.; 13,1; 17,1).21 Die Heilung am Sabbat in Jerusalem (Joh 5) als zweites Zeichen führt zu einem Streit, in dem es um Leben und Tod geht. Die DoxaErfahrung mit Jesus bleibt im Rahmen des biblischen Monotheismus: Sie ist „Doxa vom einzigen Gott“ (5,44). Sie wird der anthropologisch-sozialen Doxa-Erfahrung, der „Doxa von Menschen“ oder der „Doxa voneinander“ (5,41.44), gegenübergestellt. Obwohl Jerusalem als Stadt Gottes, der Tempel als Haus Gottes und der Sabbat als der heilvolle Ruhetag für Gott und Israel die Doxa Gottes in Jesus stützen, wird diese von den Jerusalemer Juden zurückgewiesen und als todeswürdiger Sabbatbruch beurteilt. Die Doxa Gottes in Jesus wird zum Gegenstand eines Rechtsstreits, in dem die Streitparteien Argumente austauschen.22 Der Täufer, die Werke Jesu, die Schriften und Moses bezeugen, dass die Doxa in Jesus kein Sabbatgebot bricht, sondern dass sie in ihm ein höheres Gebot repräsentiert (5,22.36.39.45–47). Am Laubhüttenfest (7) begibt sich Jesus wieder nach Jerusalem und „lehrt(e) im Tempel“ (7,14). Der lebensgefährliche Streit um den Sabbat, der bereits in Joh 5 geführt wurde, wird wieder aufgenommen (7,22 f.). Jesus knüpft an der Toraregelung an, nach der die Beschneidung am Sabbat erlaubt ist. Die von Jesus durch die Heilung des Lahmen (5,1– 9) vermittelte Doxa-Erfahrung sei der Beschneidung als heilvolles Bundeszeichen gleichrangig oder gar überlegen, weil die Heilung den „ganzen Menschen“ betreffe (7,23). Deswegen sei die Heilung am Sabbat erlaubt und breche nicht das Gesetz. Wieder wird der Streit als Konflikt zwischen der negativ bewerteten anthropologisch-sozialen „eigenen Doxa“, nach der die Gegner Jesu streben, und der „Doxa von dem, der mich gesandt hat“ (7,18), d. h. der Doxa Gottes, geführt. Joh 7,39 hält fest, dass Jesus am Laubhüttenfest „noch nicht“ verherrlicht worden sei. An dieser Stelle wird zum ersten Mal im Johannesevangelium das Verb „verherrlichen“ (gr. doxazein; δοξάζειν) für wörtlich „Doxa hervorbringen“ verwendet. Das Verb tritt nun zunehmend an die Stelle des Substantivs „Herrlichkeit“ und wird in Joh 12–17 das Substantiv fast völlig verdrängen.23 Durch den Gebrauch des Verbs wird die Dynamik des Doxa-Geschehens zwischen dem Vater und dem Sohn hervorgehoben. Der Streit um die Legitimität der Doxa-Erfahrung in und durch Jesus spitzt sich im Kapitel 8 weiter zu. Jesus ist im Tempel und führt erneut ein Streitgespräch (8,59; vgl. die Aussage in der sekundären 21 Einige Handschriften, z. B. der Codex Alexandrinus, notieren statt „Gott“ „Sohn“. 22 Nielsen, Kognitive Dimension des Kreuzes, 132–136. 23 Asiedu-Peprah, Johannine Sabbath Conflicts, 115 f.
Herrlichkeit versus Ehre
Sabbat
Laubhüttenfest
Tempel
337
338
Johannesevangelium
Finsternis
„die Juden“
Judäer/Juden
Ergänzung 8,2). Die Menschen im Tempel sehen in Jesus einen Häretiker („Samaritaner“) und jemanden, der von widergöttlichen Mächten beherrscht ist (8,48). Die Doxa Jesu, jetzt mit dem Verb zum Ausdruck gebracht (8,54), geht weder auf Dämonen noch auf Jesus selbst zurück. Sie ist auch nicht Ausdruck einer unabhängigen Göttlichkeit Jesu, sondern sie beruht auf Gott selbst. Der Vorwurf des Ditheismus, der gegen Jesus mehrfach vorgebracht wird (5,18; 10,33; 19,7), ist unberechtigt, weil Jesus alles vom Vater empfängt und nichts aus sich selbst hat. Jesus bleibt auf Gott angewiesen. Diejenigen, die Jesus ablehnen, sagen zwar, sie würden Gott kennen, kennen ihn aber in Wirklichkeit nicht (8,54 f.). Jesus antwortet auf seine Ablehnung mit zunehmend schärfer werdenden Gegenanklagen. Die Debatten führen zu einem antithetischen Gegenüber zweier sich wechselseitig ausschließender Sichtweisen. Die Doxa-Erfahrung mit Jesus wird dem Wunsch, Doxa-Erfahrungen mit Menschen zu machen, gegenübergestellt. Das sind aber Erfahrungen mit Finsternis, Lüge und Tod, die diejenigen, die den Teufel zum Vater haben (8,44), machen. Diese werden im Johannesevangelium an dieser Stelle mit „den Juden“ (8,22.48) identifiziert. Die stereotypisierende Wendung „die Juden“ (gr. hoi Ioudaioi; οἱ Ἰουδαῖοι) wird immerhin 69 Mal verwendet. Für das Verständnis der Bezeichnung ist auch zu berücksichtigen, dass die deutsche Übersetzung mit „Juden“ die religiöse Komponente überbetont. Das griechische Ioudaioi kann unter Berücksichtigung der ethnischen und geographischen Bedeutung auch angemessen mit Judäer, Bewohner Judäas, übersetzt werden.24 Die Judäer bzw. Juden begegnen ganz überwiegend auf der Erzählebene des Evangeliums. Niemals wendet sich Jesus in seinen Worten ausdrücklich auf diese stereotypisierende Weise und in direkter Rede an „die Judäer/Juden“ (vgl. 13,33; 18,36), wie es etwa in Mt 23,13–36 gegenüber den Pharisäern geschieht („Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler!“). Vielmehr ist es die „Welt“ (gr. kosmos; κόσμος), die in den Worten Jesu als das negative Gegenüber zu den Jüngern angesprochen wird (bes. 15,18 f.; 17,14–16.25). Inwieweit die Wendung eine gruppenbezogene Menschenfeindschaft zum Ausdruck bringt, ist weit weniger eindeutig zu beantworten, als es die deutsche Übersetzung mit „die Juden“ und das heutige Sprachgefühl erscheinen lassen. Es gibt zudem weitere stereotypisierend angesprochene Menschengruppen: Pharisäer (1,24 u. ö.), Hohepriester (7,32 u. ö.) und die Volksmenge (5,13). In 8,30 f. wird auch gesagt, dass „viele“ an Jesus glaubten und sich Jesus an „die Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren,“ wandte 24 Doxa/δόξα in Joh 12–17: 12,41.43 [2x]; 17,5.22.24; doxazein/δοξάζειν: 7,39; 8,54 [2x]; 11,4; 12,16.23.28[2x]; 13,31[2x].32[3x]; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1[2x].4 f.10; 21,19.
Inszenierung der Herrlichkeit
(vgl. 10,42; 11,45; 12,11 u. ö.). Jesus selbst gilt unzweifelhaft als Judäer/ Jude (4,9) und sagt: „Das Heil kommt von den Juden!“ (4,22). Die lange dominierende Interpretation Bultmanns, die „Juden“ seien durch ihre Feindschaft gegen Jesus zugleich Feinde des Lebens und der Wahrheit und somit die Repräsentanten des Unglaubens schlechthin, ist demnach unzutreffend.25 Dennoch ist deutlich, dass das Johannesevangelium an vielen Stellen die Menschen, die es als „die Juden“ bezeichnet, in einem Gegensatz zu den „Kindern Gottes“ sieht (1,12) und besonders in Joh 5–11 negativ als Gegner Jesu zeichnet.26 In der Interpretation der Wendung „die Juden“ ist zu beachten: 1. Es handelt sich um eine literarische Konstruktion des Johannesevangeliums. 2. Die Wendung ist auf ihre Funktion innerhalb des Evangeliums zu interpretieren. 3. Historische oder hermeneutische Identifikationen mit ethnisch oder kulturell definierten Menschengruppen, etwa mit dem Judentum, entsprechen nicht der johanneischen Intention, die Menschen allein unter dem Kriterium des Glaubens voneinander unterscheidet. Am Ende des ersten Hauptteils (Joh 1–12) wird festgehalten, dass die Zeichenhandlungen nicht zum Glauben führen. Die Doxa-Erfahrung wurde trotz der Zeichen zurückgewiesen. Diese Ablehnung ist letztlich Verstockung. Abraham, Moses und Jesaja wussten von der Doxa-Erfahrung in Jesus, da sie den präexistenten Logos, der von Anfang an bei Gott war, in den Offenbarungen der Doxa Gottes gesehen und erkannt hatten (5,46; 8,56; 12,37–43). Der Verstockungsauftrag an den Propheten Jesaja in Jes 6,10 wird im Johannesevangelium so verstanden, dass diese Verstockung auch die Zurückweisung der Doxa-Erfahrung in Jesus umfasst (12,41).27 Die Zurückweisung ist der Höhepunkt der Verstockung derjenigen, die die sozial-anthropologische Doxa (Ehre) der Menschen gegenüber der Doxa Gottes (Herrlichkeit) vorziehen (12,43).
Ablehnung
Der vom Vater in die Welt gesandte Sohn ermöglicht gerade zu den Zeiten und an den Orten, die im antiken Judentum mit der Vorstellung von der Präsenz Gottes verbunden sind (Sabbat, Feste, Tempel), die Begegnung mit ihm als Erfahrung der Herrlichkeit Gottes. Ihre Zurückweisung stellt seinen Anspruch zwar infrage, in den Dialogen überzeugt er aber die Leser der Gemeinde davon, dass diese Zurückweisung einerseits durch die Bindung an die Welt in ihrer Vorfindlichkeit bewirkt ist (sozial-anthropologische Doxa: Ehre) und andererseits Ausdruck der in der Schrift belegten Verstockung Israels durch Gott ist.
25 Esler/Piper, Lazarus, Mary and Martha, 159–164. 26 Bultmann, Evangelium des Johannes, 238–246. 27 Vgl. zum Antijudaismus in Joh 8: Schnelle, Evangelium nach Johannes, 214–217; Zumstein, Johannesevangelium, 353 f.
339
340
Johannesevangelium
11.2.2 Zwischenbilanz zu Joh 1–12
Sprachereignis
Offenbarung
Prolog
Das Johannesevangelium ist ein literarischer Text, der nicht nur von der Präsenz der Herrlichkeit Gottes berichtet, sondern diese auch im Prozess der Lektüre hervorbringen möchte. In seiner literarischen Konstruktion verfolgt das Evangelium das Ziel, die Herrlichkeit Gottes als Sprachereignis zu realisieren, d. h. es stellt dem Leser und Hörer des Textes die Neukonstitution des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in der Sendung des Sohnes vom Vater vor Augen. Diese Neubestimmung wird durch die konzentrische Mitte getragen, nach der die Doxa des Gottes Israels durch den Sohn trotz des Widerstands der „Welt“ uneingeschränkt vermittelt wird. Das Johannesevangelium zieht seine Leser in diese Geschichte der Doxa hinein, indem es die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ganz unter dem Aspekt der heilvollen Doxa-Erfahrung als Heilsfaktizität, Heilsgegenwart und Heilszukunft versteht. Es bezieht die Erzählperspektive und die Leserperspektive so aufeinander, dass die Heilsgegenwart in der Leserperspektive, die auch die Perspektive der johanneischen Gemeinde ist, dominiert. Dem Johannesevangelium geht es um die Gegenwart des Heils. Es vertritt eine vorwiegend präsentisch orientierte Eschatologie. Doxa bezeichnet im Johannesevangelium eine besondere Qualität der Beziehung zwischen Gott und seinem Gegenüber. Dieses Verständnis von Herrlichkeit orientiert sich an den herausragenden Stationen und Institutionen der Beziehung Israels zu Gott vom Schilfmeerwunder bis zum Tempel und zur Tora.28 Doxa ist ein relationaler Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass sich Gott in der genannten Beziehung in besonderer Weise und mit gehobener Offenbarungsqualität in seiner Majestät als Grund und Ziel der Schöpfung erfahrbar macht. In dieser Beziehungserfahrung, deren von Gott gewirkte Qualität als Doxa bezeichnet wird, werden das Sein Gottes als herrschaftliche Majestät und der Wille Gottes als Nähe und Heil stiftende Wirkkraft seinem Gegenüber, dem Volk Gottes und der Gemeinde fassbar. Diese Qualität der Beziehung wird im Johannesevangelium Schritt für Schritt entfaltet und vertieft. Der Prolog nennt die Doxa (1,14), die der „fleischgewordene Logos“ vermittelt, „Gnade und Wahrheit“ und hebt damit die Mitteilung im Sinne von Kommunikation („wir schauten seine Herrlichkeit“) hervor. Diese Mitteilung als „Offenbarung“ wiederholt sich auf eine vertiefende und klärende Weise im Verlauf des Evangeliums vor der „Welt“ (Joh 1–12). Jesus ist der vom Vater gesandte Sohn, dessen „Zeichen“ Manifestationen der 28 Brendsel, The Use of Isaiah 52–53 in John 12, 95–97.
Inszenierung der Herrlichkeit
Doxa-Erfahrung sind (2,1–11; 11,4). Er vermittelt in der Heilung des Lahmen eine vertiefte Doxa-Erfahrung, die wie die Beschneidung das Sabbatgebot bricht, d. h. wichtiger als das Ruhegebot des Sabbats ist (Joh 5 und 7). Die von Jesus vermittelte Doxa ist aber nicht aus ihm, nicht seine eigene, sondern die des Vaters (7,18; 8,49 f.54; 12,41; 17,5.22.24). Die „Welt“ nimmt aber diese nicht an. Sie hält an der eigenen, der sozial-anthropologischen Doxa („Ehre“) fest, die sich Menschen wechselseitig erweisen (5,41.44; 7,18; 12,43). Die von Jesus vermittelte Doxa bewerten die Menschen um Jesus, die „Juden/ Judäer“, die Pharisäer, die Sadduzäer und die Hohepriester und damit die „Welt“, als Anmaßung „größer“ zu sein als Abraham und die Propheten (8,53), als todeswürdigen Sabbatbruch und als ebenso todeswürdigen Bruch der monotheistischen Forderung des ersten Gebots (5,18; 10,33; 19,7), d. h. als Ditheismus und Gotteslästerung. Sie nennen Jesus deswegen einen „Samaritaner“, worunter die Jerusalemer Juden einen juden- und tempelfeindlichen Häretiker verstehen (8,48). Die in Jesus vermittelte Doxa-Erfahrung wird mit der häufig vorgebrachten Behauptung, Jesus sei von einem Dämon besessen (7,20; 8,48 f.52; 10,20 f.) und „vom Wahn getrieben“ (10,20), scharf zurückgewiesen.
kosmos/Welt
11.2.3 Doxa in Joh 13–21 Als die „Stunde“ gekommen ist, konzentriert sich Jesus auf „die Seinen“ (13,1). Diese wenden sich aufgrund der Lehre des vom Vater gesandten Sohns von der „Ehre“ der Welt, d. h. von der sozialanthropologischen Doxa, ab, um an der „Herrlichkeit“, die Jesus in der Gemeinde hervorbringt, teilzuhaben. Das Hervorbringen der Doxa-Erfahrung wird nun wichtiger als die Konstatierung ihrer Manifestationen in den Taten und Worten Jesu, d. h. in der Präsenz Jesu, was sich auch in der zunehmenden Häufigkeit des Verbs „verherrlichen“ bzw. „Herrlichkeit hervorbringen“ gegenüber dem Nomen in Joh 13–17 zeigt. Das Hervorbringen vollzieht sich in der Anerkenntnis Gottes und seines Beauftragten. Diese will der Sohn den Seinen, die nun „Freunde“ genannt werden (15,13–15), ermöglichen. Sie beinhaltet die Praxis der Geschwisterliebe (13,34 f.; 15,12 f.), die sich trotz des Hasses der Welt in der Gemeinde bewährt (15,18 f.). Weder die Androhung des Ausschlusses aus der Synagoge (9,22; 12,42; 16,2) noch die Furcht vor denjenigen Menschen, die „die Juden“ genannt werden (7,13; 9,22; 19,38; 20,19), können die Gemeinde überwältigen. Die Gemeinde bleibt der Ort der Liebe und Freundschaft, an dem die Welt durch die Bereitschaft zur Lebenshingabe (15,13) und durch die Ablehnung der weltlichen Doxa überwunden wird (17,22 f.). Die Gemeinde ist als offene Gemeinschaft der Ort, an dem der tröstende
Herrlichkeit hervorbringen
Paraklet
341
342
Johannesevangelium
die Stunde
Gott und Christus
Geist (gr. parakletos; παράκλητος) nach dem Weggang die Doxa in gleicher Qualität wie Jesus selbst vermittelt (16,7–15). Im hohepriesterlichen Gebet Jesu (Joh 17) bittet der Sohn den Vater, die Gemeinde teilhaben zu lassen an der höchsten Qualität der Doxa-Erfahrung, die in der Einheit von Sohn und Vater (17,22) besteht. Der Sohn möchte diese Erfahrung des Eins-seins in Analogie zum Eins-sein von Vater und Sohn auch der Gemeinde ermöglichen. Dieses Eins-sein bedeutet „Gott kennen“, seinen „Namen wissen“ und die Liebe (gr. agape; ἀγάπη), mit der der Vater den Sohn liebt, zu erfahren (17,22–26). In 13,1 und 17,1 ist ausgesprochen, dass die für die Verherrlichung Jesu bestimmte Zeit („Stunde“) gekommen ist. Dennoch wird auf die Terminologie selbst in der Schilderung des Passionsgeschehens nicht eigens zurückgegriffen. Allerdings ist in der narrativen Ausgestaltung zu erkennen, dass sie das Geschehen als Einbrechen der Transzendenz in die Immanenz, Gottes in die Welt, und damit als Verherrlichung versteht. Einige Beispiele: Die Gefangennahme lässt die militärisch überlegenen Häscher zu Boden stürzen als Jesus sich durch das einfache „Ich bin es!“ zu erkennen gibt.29 Das Passionsgeschehen wird mehrfach durch den Hinweis, dass darin die „Schrift“ erfüllt ist, kommentiert (19,24.28.36 f.). Jesu letztes Wort am Kreuz ist als hoheitliche Aussage zu verstehen, die zum Ausdruck bringt, dass er bis zuletzt die Initiative behält: „Es ist vollbracht!“ (19,30).30 Das Passionsgeschehen ist das von Gott bestimmte Ereignis der Verherrlichung, die „Stunde“ (13,1), und der Tod am Kreuz ist die Offenbarung der Herrlichkeit (12,23.27 f.; 13,1; 17,1). Das Johannesevangelium konzentriert sich zunächst auf die Beziehung zwischen Gott und Christus, dem Vater und dem Sohn. Obwohl Jesus im Johannesevangelium als „Gott“ bezeichnet wird (1,18; 20,28), bleibt er in jeder Hinsicht auf den Vater angewiesen. Dieser ist der „allein wahre Gott“ (17,3), von dem Jesus Vollmacht, die Seinen, das Werk, die Worte, seinen Namen und schließlich auch seine Herrlichkeit empfangen hat (17,22.24).31 In diese Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn werden die Jünger, die der Vater dem Sohn „gegeben“ hat (17,2.6.9.22.24), integriert. Sie haben die Herrlichkeit vom Sohn empfangen (17,22). Sie soll zur Doxa-Qualität der Glaubenden in der Gemeinde werden, indem sie „eins“ sind, wie der Vater und der Sohn „eins“ sind (17,20–23), und indem sie untereinander die „Liebe“ üben, die zwischen Vater und Sohn besteht (17,23.26). 29 S. o. 335 (Gefangennahme Jesu in Joh 18). 30 Thyen, Johannesevangelium, 744. 31 In Joh 17 wird die Wendung „den/die du/er mir/ihm gegeben ha(s)t“ 13 Mal verwendet.
Christologischer Monotheismus
Der vom Vater gesandte Sohn bindet nun „die Freunde“, ein Begriff, in dem die Jünger der Evangelienerzählung mit den Lesern des Johannesevangeliums verschmelzen, in seine Beziehung zum Vater ein. Die bevorzugende und unersetzliche Beziehung zwischen Vater und Sohn („Liebe“) wird auf die Gemeinde ausgeweitet, die diese in der Geschwisterliebe gestaltet und vollzieht. Zu dem von Gott bestimmten Zeitpunkt („die Stunde“) wird die Schrift erfüllt und der Weg des Sohnes zum Vater am Kreuz vollendet.
11.3 Christologischer Monotheismus Das Johannesevangelium konzentriert sich auf den in Jesus präsenten Heilswillen Gottes und fokussiert die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf Christus. Jesus ist demnach nicht nur als funktionaler Mittler, der im Auftrag Gottes handelt, vorgestellt, wie es etwa in der Messiasvorstellung des antiken Judentums zum Ausdruck kommt (z. B. PsSal 17). Er gilt vielmehr als die geradezu vollkommene Realisierung der Präsenz Gottes selbst. Er vermittelt nicht das Heil, sondern ist selbst das Heil.32 Dieses Verständnis von Jesus als Sohn Gottes gerät in Spannung zum biblisch-jüdischen Monotheismus und löst Konflikte aus, die auf der Erzählebene des Evangeliums in den Kontroversen zwischen Jesus und den Menschen seiner Zeit ausgetragen werden. Dabei ist das Ziel der literarischen Präsentation nach Zumstein klar: „Der Leser wird aufgefordert, sich vom atl.-jüdischen Monotheismus zum christologischen Monotheismus zu bewegen.“33 Die Gesprächspartner werfen Jesus vor, er mache „sich Gott gleich“ (5,18) oder mache sich gar „zu Gott“ (10,33; 19,7). Diese Anklagen erwachsen jeweils aus Situationen, in denen das Handeln Jesu als Bruch der Tora verstanden werden kann: Die Heilung am Sabbat mit der Aufforderung an den Geheilten, seine Matte mitzunehmen (5,8), verletzt das Ruhegebot und die Aussage, dass Jesus, der Sohn, und Gott, der Vater, „eins“ seien, wird als Gotteslästerung interpretiert (10,30). Beides, der willentliche Bruch des Sabbatgebots und die Lästerung Gottes, ist in der biblischen und in der rabbinischen Überlieferung als todeswürdiges Verbrechen genannt (Ex 20,8–11; Num 15,32–36; mSanh 7,4 f.). Der Streitpunkt in diesen Kontroversen ist demnach zunächst nicht eine wie immer geartete göttliche Beschaffenheit Jesu, sondern die Frage, ob Jesus grundlegende Gebote 32 Bultmann, Theologie, 421. 33 Zumstein, Johannesevangelium, 60.
Präsenz Gottes
Gottheit Jesu
343
344
Johannesevangelium
der Tora, deren Übertretung mit der Todesstrafe geahndet werden, verletzt habe. Die kontroversen Dialoge, die sich um diese Frage entwickeln, sind durch zwei gegenläufige Argumentationslinien gekennzeichnet. Der johanneische Jesus verteidigt jeweils sein Verhalten auf eine Weise, die seine grundsätzliche Anerkenntnis des Sabbats, der Beschneidung wie auch der Tora und der Schrift zum Ausdruck bringt.34 Allerdings wird diese Anerkenntnis durch das Selbstverständnis Jesu als vollkommene Personifizierung des Heilswillens Gottes eingeschränkt. Die Präsenz Gottes in Jesus wird so umfassend und uneingeschränkt vorgestellt, dass sein Auftreten und sein Handeln als Erfüllung des göttlichen Willens, in der Welt und in der Geschichte präsent zu sein und Gemeinschaft zu stiften, erscheint. Dies geschieht in einer Weise, die die bestehenden Formen der Präsenz und der Gemeinschaft, wie sie durch den Tempel, den Sabbat, die Feste und die Beschneidung für das Volk Gottes fassbar sind, ergänzen oder gar ersetzen wird. Ob der Gedanke der „Ersetzung“ (Substitution) der jüdischen Tora und der von ihr geregelten zentralen Formen der Gottesbeziehung im Tempel, am Sabbat, in der Beschneidung und in der Beachtung der Festzeiten bereits im Johannesevangelium selbst gedacht und von der johanneischen Gemeinde vollzogen wurde, ist umstritten. Die Äußerungen bleiben ambivalent. Jesus erklärt gegenüber der Samaritanerin in Bezug auf den Garizim, den heiligen Berg der Samaritaner: 4,21: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, da ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.
Jerusalemer Judentum
Hebt Jesus hiermit nur die Trennung zwischen Samaritanern und Jerusalemer Juden auf? Ist es nicht vielmehr so, dass er an die Stelle des an kultische Orte gebundenen Gebets ein Gebet „in Geist und Wahrheit“ stellt (V. 23), das Kennzeichen der „wahren Beter“ ist? Die Tragweite der Aussage bleibt unklar, da das Evangelium selbst bereits auf die Zerstörung des Tempels zurückblickt, und somit komplexe kritische Aussagen zu einem Tempel, der gar nicht mehr existiert, nicht einfach als Ersetzung oder Überbietung der jüdischen Religion durch den christlichen Glauben interpretiert werden können (2,19; 11,48).35 Es geht auch hier vielmehr darum, unter voller Anerkenntnis der heilvollen Gaben Gottes an sein Volk Israel die neue Realisierung dieses Heilswillens Gottes in Jesus als Sohn Gottes zum Ausdruck zu bringen. Diese wird nun allerdings in aller Deutlichkeit formuliert. 34 Felsch, Feste im Johannesevangelium, 89. 35 Vgl. Schnelle, Evangelium nach Johannes, 126.
Christologischer Monotheismus
Der Prolog, der als Zusammenfassung der Theologie des Evangeliums gelten kann, hebt hervor, dass Jesus aufs Engste mit Gott verbunden ist. Er setzt damit ein, dass er das präexistente „Wort“ (gr. logos; λόγος) als „Gott“ (gr. theos; θεός) und Schöpfungsmittler bezeichnet:
345
logos/Wort
1,1–3: Am Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos. (2) Dieser war im Anfang bei Gott. (3) Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn wurde nicht ein einziges, was geworden ist.
Logos bezeichnet hier eine selbständige und als Person vorgestellte Entität, d. h. eine Hypostase (d. i. die Personifizierung einer Eigenschaft), die von Gott unterschieden wird, aber doch zu ihm in einer besonders tiefen Beziehung steht. Eine solche Verwendung von Logos findet seine nächsten Analogien in der jüdischen Weisheitstradition. Die Weisheit (gr. sophia; σοφία) gilt als Gegenüber Gottes und als Schöpfungsmittler (Spr 8,22–31; Hiob 28; Weish 6,12; 7,21; 9,1–4.9 f.; Sir 24). In der Weisheit Salomos werden zudem die griechischen Begriffe Logos und Sophia parallel zueinander verwendet:
sophia/Weisheit
Weish 9,1–2a: Gott der Väter und Herr des Erbarmens, der du das All durch dein Wort (logos) gemacht hast 2: und durch die Weisheit (sophia) den Menschen gebildet hast.
In dieser Tradition stehen auch die mittelplatonisch inspirierten exegetischen Spekulationen Philos, in denen er ebenfalls Logos und Sophia miteinander identifiziert (Leg. All. 1,65: „die Sophia Gottes, die ist der Logos Gottes“). Philo sieht allerdings die Sophia als dem Logos insgesamt eher übergeordnet an (Somn. 2.242: „denn der göttliche Logos entspringt aus der Sophia wie ein Fluss aus der Quelle“). Der Begriff Logos eröffnet zahlreiche Beziehungen zur hellenistischen Philosophie, die ihn in vielfältiger Bedeutung verwendet hat, z. B. Rede, Erklärung, Begründung, (kosmisches) Prinzip, Gedanke, Vernunft.36 Logos wird in diesem christologischen Sinn nur im Prolog, nicht aber im weiteren Evangelium verwendet. Der Prolog spricht es nicht aus, setzt aber voraus, dass dieser Logos Jesus ist. Im Unterschied zu den paulinischen Aussagen zu Christus als „Ebenbild Gottes“ (2Kor 4,4) und „Weisheit Gottes“ (1Kor 1,24; 2,7) wird im Johannesevangelium ausdrücklich das Nomen „Gott“ auf den Logos und damit auf Jesus angewendet.37 Paulus kann auch 36 Frey, Between Torah and Stoa, 202–209. 37 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 217 f.
Johannes versus Paulus
346
Johannesevangelium
von der Sendung des Sohnes sprechen, hält aber in Gal 4,4 ausdrücklich daran fest, dass dieser „von einer Frau geboren“ wurde. Er erwartet zudem die endzeitliche Unterwerfung des Sohns unter Gott, „damit Gott herrscht über alles und in allem“ (1Kor 15,28). Im Johannesevangelium reichen die Aussagen zur Göttlichkeit Jesu weiter als bei Paulus. Es beschreibt zudem das Verhältnis von Vater und Sohn nicht in der von Paulus verwendeten, politisch konnotierten Machtsprache, sondern als Beziehung, in deren Mitte das „Eins-sein“ und die „Liebe“ stehen. An dieser Beziehung wird den Menschen Anteil gegeben, indem der göttliche Logos in die Welt kommt, zu den Seinen gelangt oder wie es der zentrale Vers des Prologs formuliert: 1,14: Und der Logos ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie (die des) Einziggeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
Inkarnation
Vater und Sohn
Die Inkarnation des präexistenten göttlichen Logos in Jesus wird im übrigen Neuen Testament bestenfalls angedeutet, etwa in 1Tim 3,16 („offenbart im Fleisch“). Das Johannesevangelium formuliert in aller Deutlichkeit, wie sehr Gott in Jesus sinnlich wahrnehmbar geworden und von welch besonderer Qualität die Erfahrung mit diesem fleischgewordenen Logos ist: In ihm sieht man die Präsenz Gottes in hervorragender Weise, nämlich voll „Gnade und Wahrheit“. Die letztgenannte Wendung, „Gnade und Wahrheit“, spielt auf die Gnadenformel bzw. die Wesensdefinition Gottes aus Ex 34,6 u. ö. an und eröffnet zugleich den Blick auf das eschatologische Heil, das in Jesus, dem fleischgewordenen Logos, erwartet wird.38 Dieser ist der „einziggeborene Gott“ (1,18), der vom Vater kommt, um Kunde vom Heilswillen Gottes zu geben. Diese Betonung der Göttlichkeit Jesu drängt die menschlichen Aspekte seiner Existenz zurück.39 Das, was den christologischen Monotheismus ausmacht, ist demnach bereits im Prolog festgehalten. Die dem Menschen zugängliche Seite Gottes, seine Herrlichkeit, wird voll und ganz in Jesus erfahrbar. Dieser ist derjenige, der als Sohn dem Vater zugeordnet bleibt, aber dennoch in besonderer Weise den Zugang zu Gott eröffnet. Viele Formulierungen im Johannesevangelium versuchen diese Spannung zwischen der Göttlichkeit des Sohnes und seiner unlöslichen Bindung an Gott zu bewältigen. Zu Beginn der Abschiedsreden (14,1–11) betont Jesus, wie sehr er und der Vater für die Glaubenden identisch sind: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (14,9). Seinen 38 S. o. 50 (Gnadenformel). 39 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 218–220.
Christologischer Monotheismus
Höhepunkt findet die Rückbindung an Gott im hohepriesterlichen Gebet Jesu, in dem er immer wieder ausspricht, dass ihm der Vater alles gegeben hat.40 Im johanneischen Denken liegt die Betonung auf beidem: Der Sohn hat tatsächlich „alles“, was Gott zu Gott macht, aber er hat dieses vom Vater empfangen. Der christologische Monotheismus des Johannesevangeliums besteht genau in dieser unauflöslichen Beziehung des Empfangens vom Vater und des Repräsentierens durch den Sohn. In diese Bindung des Sohnes an den Vater wird nun auch die Gemeinde aufgenommen (14,20): „Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich in euch.“ Der Garant für die Aufrechterhaltung dieser Beziehung ist der tröstende Geist, der als „Fürsprecher“ (gr. parakletos; παράκλητος) der Gemeinde über Gott und Jesus Zeugnis ablegen und Kunde geben wird (14,16 f.26; 15,26 f.; 16,7b–11.13–15). Nach der Erhöhung Jesu wird die Beziehung zwischen Gott und der Gemeinde durch diesen Fürsprecher, der auch als „Geist der Wahrheit“ (14,17; 16,13) bezeichnet wird, gesichert. Das Johannesevangelium vertritt ein reflektiertes Geistkonzept und entfaltet eine eigenständige Pneumatologie. Der in den Abschiedsreden angekündigte „Fürsprecher“ tritt nach der Erhöhung Jesu am Kreuz an dessen Stelle. Narrativ ist das durch die Notiz „und er gab den Geist hin“ (19,30b) ausgedrückt. Die Wendung ist als Bezeichnung des biologischen Sterbens ungewöhnlich und soll zumindest doppeldeutig verstanden werden: In der Verherrlichung am Kreuz gibt Jesus den Seinen Anteil am Geist (vgl. 7,39) und ermöglicht so das Wirken des „Fürsprechers“.
Geist
Der christologische Monotheismus des Johannesevangeliums knüpft im Prolog an Vorstellungen der Weisheit als gottnahe und der Schöpfung vorgeordnete Entität an. Der Begriff Sophia wird aber nicht aufgenommen, sondern die christologischen Aussagen werden mit Hilfe des Begriffs und der Vorstellung vom Logos formuliert. Das Johannesevangelium betont einerseits, dass Jesus Gott ist, es hält andererseits aber daran fest, dass die Gottheit Jesu keine unabhängige Eigenschaft ist, sondern nur in der Beziehung des Sohnes zum Vater realisiert wird. Es weist deswegen den Vorwurf des Ditheismus zurück und expliziert ein relationales Gottesverständnis.
40 S. o. 327 („Geben“ in Joh 17).
347
348
Johannesevangelium
11.4 Liebesgebot
Ethik
agape/Liebe
Das Johannesevangelium ist in seinen ethischen Aussagen äußerst zurückhaltend. Direkte Anweisungen, die sich auf das soziale Verhalten der Menschen untereinander, etwa auf Ehe (Joh 7,53–8,11 ist sekundär), Besitz oder Rechtsfragen beziehen, fehlen ganz. Die sogenannte materiale Ethik liegt außerhalb des Interesses der Schrift. Auch die Figur Jesu wird im Evangelium bezüglich seiner sozialen Verhaltensweisen nicht gerade als vorbildlich gezeichnet, jedenfalls wenn man das Gebot der Feindesliebe, die sich als Rechts-, Gewalt- und Besitzverzicht konkretisiert (Mt 5,38–47; Lk 6,27–36), zum Maßstab erhebt: Jesus weist seine Mutter stereotypisierend mit der Wendung „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?!“ (2,4) zurück, ist bereit, bei der Tempelaustreibung Gewalt anzuwenden (2,15), und gibt nach außen auch aggressive Emotionen zu erkennen (11,33.38). Als ethische Orientierung im Sinne eines sozialen Rollenmodells dient das Verhalten Jesu demnach nicht. Dies gilt in gleicher Weise für die Jünger und sogar für den „Lieblingsjünger“. Keine Figur im Evangelium ist in einem herkömmlichen Sinn als ethisches Modell dargestellt. In der Frage der Ethik ist man ganz auf die Aussagen zum Liebesgebot verwiesen. Es begegnet im Johannesevangelium nicht als Nächsten-, Fremden- oder Feindesliebe, sondern ist als Gebot der wechselseitigen Liebe (gr. agapate allelous; ἀγαπᾶτε ἀλλήλους) in der Gemeinde, der Geschwisterliebe bzw. Bruderliebe, formuliert (13,34 f.). Es wird narrativ durch den Bericht von der Fußwaschung in Joh 13,3–17 vorbereitet. Jesus übernimmt gegen den Protest des Petrus den niedrigen Dienst der Fußwaschung. Aus den Antworten Jesu auf die Einwände des Petrus entwickelt sich eine Rede Jesu an die Jünger, in der er festhält, dass er mit der Fußwaschung ein „Beispiel“ für das Verhalten der Jünger gegeben habe und diese demnach „sich einander die Füße waschen“ sollen (13,14 f.). Diese vorweggenommene symbolische und biographische Konkretion des Liebesgebots ist deswegen von besonderem Gewicht, weil die johanneische Fassung des Liebesgebots in der Gefahr steht als abstraktes Prinzip missverstanden zu werden, etwa wenn Schnelle in der johanneischen Liebe „das Grundprinzip allen Seins“ zu entdecken meint.41 Das johanneische Liebesgebot greift zwar deutlich auf Lev 19,17 f. zurück, wandelt das Gebot der Nächstenliebe aber charakteristisch um: Die Jünger, die für die Mitglieder der johanneischen Gemeinde stehen, treten an die Stelle des Nächsten als Ziel der Liebe: 41 Schnelle, Evangelium nach Johannes, 298.
Liebesgebot
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13,34 f.: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. (35) Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr untereinander Liebe habt.
Das Liebesgebot wird zum Erkennungszeichen der Gemeinde und zugleich zur Bedingung für die Zugehörigkeit zu ihr. Die Sozialgestalt des Liebesgebots ist demnach mit Wengst als die „Gemeinde solidarischer Geschwister“ zu bestimmen.42 Die Praxis der Liebe wird zunächst nicht weiter ethisch konkretisiert. Die Aufnahme des Liebesgebots mit der Wendung „dass ihr einander liebt“ verdeutlicht allerdings, welche Funktion es für die johanneische Gemeinde einnimmt. Die erneute Thematisierung des Liebesgebots in 15,12–17 ist gerahmt von Reflexionen über das Ich-bin-Wort vom Weinstock und den Reben (15,1–11) und durch Überlegungen zum Hass und der Verfolgung, die der Vater, der Sohn und die Gemeinde durch die Welt erfahren (15,18–25). Das Bildwort vom Weinstock und den Reben bringt das Verhältnis von Vater, Sohn und Gemeinde symbolisch als „Bleiben“ (gr. menein; μένειν) in einer fruchtbaren Verbindung zum Ausdruck:
solidarische Gemeinde
15,1.5: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner. […] (5) Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
Während sich die Aussage über das Fruchtbringen kongruent im natürlichen Bildbereich von Weinstock und Reben bewegt, bricht die Forderung des „Bleibens“ mit dem durch das Bild gesetzten Rahmen. Gerade dadurch ist es betont und für die Interpretation zentral. Die folgenden Ausführungen zum Liebesgebot knüpfen daran an, indem sie das „einander lieben“ (15,12.17) einerseits als „Bleiben“ in der Liebe zwischen Vater und Sohn und andererseits als Freundschaft (gr. philia; φιλία) zwischen den Gemeindegliedern konkretisieren. Diese wechselseitige Bindung in der Liebe soll sich angesichts einer Welt, die „hasst“ und „verfolgt“, bewähren (15,18–23). Das Liebesgebot im Johannesevangelium ist nicht in dem Sinne ethisch, dass es das alltägliche Sozialverhalten und das Rechtsbewusstsein in Konflikten an einem Verständnis von Gerechtigkeit ausrichtet. Es zielt vielmehr auf die Bewährung der Gemeinde angesichts einer feindlichen Welt, die auch in der Gemeinde Hass und Verrat bewirken 42 Wengst, Johannesevangelium 2, 122.
philia/Freundschaft
350
Johannesevangelium
möchte.43 Die Befolgung des Liebesgebots erweist sich demnach im Festhalten an der Zugehörigkeit zur Gemeinde angesichts von Verfolgung und Verrat: 15,13: Eine Liebe größer als diese hat keiner, dass einer sein Leben hingibt für seine Freunde. Die johanneische Ethik beschränkt sich auf die Gemeinde. In dieser sind „Freunde“ versammelt, die bereit sind füreinander stellvertretend einzustehen. Das Gebot der Geschwisterliebe nimmt den Diskurs um das biblische Liebesgebot auf, richtet diesen aber einseitig auf die Gemeinde aus. Die Welt gilt als feindlich und wird deswegen nicht als eine ethische Herausforderung begriffen, wie das etwa in der jesuanischen Forderung der Feindesliebe der Fall ist.
11.5 Höhepunkt des Neuen Testaments?
gleiche Storyline?
hohe Christologie
Realitätsbezug
Eine theologische Interpretation des Johannesevangeliums hat seine Stellung innerhalb des Neuen Testaments und die Besonderheiten seiner theologischen Konzeption näher zu bestimmen. Wright urteilt, dass diese neutestamentliche Schrift im Wesentlichen nichts anderes zum Ausdruck bringe als die übrigen: „Johannes teilt also in Umrissen dieselbe Storyline, dieselbe narrative Welt, wie Paulus, der Hebräerbrief und die Synoptiker.“44 Ein solcher Verweis auf nur konturenhaft benannte Übereinstimmungen reicht aber nicht aus, um die Stellung des Johannesevangeliums zu bestimmen. Das besondere Interesse an der Präexistenz, der Schöpfungsmittlerschaft, der engen Verbindung von Sohn und Vater bis hin zur Vorstellung, dass Gott nur durch den Sohn erkannt werden könne, unterscheiden sich grundlegend von den Sichtweisen der meisten anderen neutestamentlichen Schriften. Insbesondere hebt sich die theologisch geschlossene Gesamtkonzeption des Evangeliums trotz gelegentlicher und punktueller Nähen, etwa zur Christologie des Kolosserbriefs, weit von den Sichtweisen der übrigen Schriften ab. Diese exklusive theologische Geschlossenheit wirft auch die Frage auf, ob nicht wichtige Anliegen anderer neutestamentlicher Schriften im Johannesevangelium fehlen bzw. unausgesprochen bleiben. Oben ist bereits angesprochen worden, dass die johanneische Theologie 43 Augenstein, Liebesgebot im Johannesevangelium, 183–185. 44 Wright, Ursprünge des Christentums 1, 521–530, hier 530.
Höhepunkt des Neuen Testaments?
die Realitäten des durch Begrenztheit und Mangel charakterisierten menschlichen Lebens nur sehr distanziert thematisiert und auch seine Ethik nur wenig Konkretes für das soziale und politische Miteinander bietet. Paulus hingegen fordert von der Gemeinde die Befolgung einer endzeitlichen Ethik in allen Lebensbereichen und erwartet den Herrschaftsantritt Gottes, durch den die Schöpfung auch in ihrer politischen Verfassung neu konstituiert werden wird.45 Im Verhältnis zu den Synoptikern und zur synoptischen Jesusüberlieferung rückt die johanneische Theologie weit von der konkreten historischen Gestalt des Jesus von Nazareth ab, etwa wenn durchweg der Eindruck erweckt wird, dass Jesus alles über die vergangenen und zukünftigen Geschehnisse wisse und keinerlei Zweifel an seiner Sendung erkennen lasse. Räisänen formuliert diese Kritik mit leichter Ironie: „Der johanneische Jesus mag ein ‚wahrer Gott‘ sein, sogar in einem menschlichen Körper existieren, aber er ist definitiv nicht ein ‚wahrer Mensch‘.“46 Trotz dieser problematischen Vergeistigung der Realitäten der Welt, dem Mangel an ethischer Bestimmtheit und der zwar an die Relation von Vater und Sohn gebundenen, aber dennoch massiven Vergöttlichung Jesu wird nur im Falle des Johannesevangeliums die Frage erörtert, ob mit ihm ein „Höhepunkt“ der Theologie des Neuen Testaments erreicht ist.47 Worin genau dieser „Höhepunkt“ besteht, wird durchaus unterschiedlich begründet. Bultmann behandelt diese Frage, indem er Paulus und Johannes vergleicht. Er lehnt die seit Ferdinand Christian Baur in der älteren Exegese oft vertretene Ansicht ab, nach der es von Paulus zu Johannes eine aufsteigende Entwicklung gebe, die vor allem in der endgültigen Lösung von der Bindung an das Gesetz bei Johannes liege, die Paulus in dieser Weise noch nicht erreicht habe.48 Bultmann sieht hingegen eine sachliche Verwandtschaft zwischen Paulus und Johannes: Beide bezögen das eschatologische Geschehen und seine Bedeutung vor allem auf die Gegenwart der Glaubenden. Johannes sei in dieser Hinsicht tatsächlich einen Schritt weiter als Paulus gegangen, indem er die futurischen Aussagen „radikal“ zurückgenommen habe.49 Nach Bultmann sind somit die konsequent präsentische Eschatologie und der Verzicht auf jegliche zukünftigen Heilsaussagen das Kriterium, nach dem das Johannesevangelium als Höhepunkt der Theologie des 45 S. o. 346 (Politische Dimension der Eschatologie); vgl. Bormann, Ethik und Politik, 330–336. 46 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 220. 47 Bultmann, Theologie, 352; Theißen, Religion der ersten Christen, 280; Schnelle, Theologie, 707; Frey/Poplutz, Narrativität und Theologie, 17. 48 Bultmann, Theologie, 352. 49 Bultmann, Theologie, 356.
Gesetz
351
352
Johannesevangelium Eschatologie
Paulus
Neuen Testaments zu gelten habe. Bultmanns Betonung der präsentischen Eschatologie kommt der modernen Rationalität sehr entgegen, indem sie die Bedeutung der theologischen Aussagen ganz auf das menschliche Leben in den Grenzen zwischen Geburt und biologischem Tod beschränkt. Dieses Urteil Bultmanns beruht allerdings auf zahlreichen theologisch motivierten literarkritischen Entscheidungen, die z. B. die futurischen Aussagen des Johannesevangeliums einem kirchlichen Redaktor zuweisen und den Evangelisten Johannes von diesen befreien. So unterschiedlich die eschatologischen Konzepte bei Johannes und Paulus sind, so wenig kann man auf dem Stand der gegenwärtigen Exegese, die den literarkritischen Urteilen Bultmanns eher skeptisch gegenübersteht, das eine als dem anderen überlegen betrachten. Vielmehr wird man die jeweiligen Stärken hervorheben. Paulus hält an seiner Überzeugung vom Rechtsanspruch Gottes gegenüber der Welt fest und sieht diesen erst in der Erlösung der „ganzen Schöpfung“ (Röm 8,19) und im endzeitlichen Herrschaftsantritt Gottes wieder vollständig ins Recht gesetzt (1Kor 15,28). Das Johannesevangelium hingegen entwickelt seine Argumentation aus dem fast unversöhnlich vorgestellten Gegenüber von „Welt“ und „Gott“ und vertritt eine Vorstellung vom eschatologischen Heil, das nicht die gesamte Schöpfungswirklichkeit umfasst, sondern auf die Gemeinde beschränkt bleibt und zudem eher kognitiv-geistigen Charakter hat. Der biblische Schöpfungsgedanke ist demnach bei Paulus klarer zum Ausdruck gebracht. Bultmann verweist aber auf eine weitere bedeutsame Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums: „Für Johannes steht nicht wie für Paulus die Frage nach dem Heilsweg zur Diskussion, sondern die Frage nach dem Heil selbst; […] er wendet sich an das Verlangen des Menschen nach Leben und bekämpft ein falsches Verständnis von Leben.“50
Gottesbeziehung
Dem Johannesevangelium gelingt es, die Glaubenden ganz in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu stellen. Es zielt deutlich auf den Einzelnen als Leser und Hörer des Evangeliums und gibt ihm Anteil an der in Jesus präsenten Erfahrung des Heils. Es wendet sich gegen die Orientierung an Kriterien, die einem erfüllten Leben im Weg stehen. Diese Überlegung Bultmanns zum „falschen Verständnis vom Leben“ lässt sich mit dem für das Johannesevangelium tragenden Begriff der Doxa noch einmal textnäher formulieren. Das vierte Evangelium vermittelt eine Qualität der Beziehung zwischen Gott und 50 Bultmann Theologie, 421.
Höhepunkt des Neuen Testaments?
Mensch, die als Doxa-Qualität im Mittelpunkt der Schrift steht und die in dieser Weise in den Paulusbriefen nur unter dem sogenannten eschatologischen Vorbehalt des „Noch-nicht“ ausgesprochen wird und letztlich der Zukunft in Parusie und Auferstehung vorbehalten bleibt (Röm 6,5; 1Kor 13,12; 1Thess 1,9 f. u. ö.). Diese besondere Qualität der Gottesbeziehung ist sicher der eindrucksvollste Beitrag des Johannesevangeliums zur neutestamentlichen Theologie. Es überrascht angesichts der von Theißen gewählten religionstheoretischen Konzeption, dass auch er das Johannesevangelium einen Höhepunkt der urchristlichen Religion nennt. Theißen knüpft an Überlegungen des einflussreichen Ethnologen Clifford Geertz (1926–2006) an und versteht Religion als ein Zeichensystem, wobei er anders als Geertz den Charakter als System, also der wechselseitigen Relationalität aller Teile, betont. Unter diesen systemtheoretischen Gesichtspunkten erscheint ihm die johanneische Fassung der Religion der Christen als selbstreflexiv und autonom und dadurch als gleichermaßen flexibel wie stabil: „Dies Evangelium ist nach der hier vorgetragenen Sicht ein Höhepunkt in der Entstehungsgeschichte der urchristlichen Religion. Hier organisiert sich diese neue Religion nicht nur faktisch um ihr christologisches Zentrum, sondern sie wird sich dessen auch bewusst.“51 Die Kriterien für die Beurteilung als Höhepunkt sind der Systemtheorie entnommen. Sind sie auch theologisch relevant? Das wird man kaum sagen können, denn die genannten Eigenschaften der Stabilität, Flexibilität, Autonomie und Selbstreflexivität sind Bedingungen für die funktionale Selbsterhaltung eines Systems, nicht aber Aussagen über die theologische Bedeutung und die ethische Qualität seiner Funktionen. Dass sich eine solche religionstheoretische Untersuchung dennoch am jahrhundertealten theologischen Diskurs um den „Höhepunkt“ der Theolgie des Neuen Testaments beteiligt, verwundert und weist darauf hin, dass hier religionstheoretische Überlegungen zum Ausdruck einer theologischen Sichtweise genutzt werden. Schnelle hingegen wird dem besonderen Charakter der Schrift dadurch gerecht, dass er deren narrative Geschlossenheit und identitätsbildende Kraft als Erzählung in den Mittelpunkt stellt. Er will allerdings im Evangelium sogar eine Meistererzählung erkennen und greift damit einen Begriff auf, der in der kulturwissenschaftlichen Forschung seit der Kritik durch Jean-François Lyotard nicht unumstritten ist.52 Eine „Meistererzählung“ (grand narrative oder meta-narrative) kann unter Rückgriff auf Lyotard als eine Wissenserzählung bezeichnet 51 Theißen, Religion der ersten Christen, 280. 52 S. o. 37 (Lyotard).
353
autonomes System
Meistererzählung
354
Johannesevangelium
werden, der es zu gelingen scheint, alle Aspekte einer historischen Epoche umfassend unter einem Deutungsparadigma, z. B. Fortschritt oder Säkularisierung, zu erfassen und deren Rezeption zu dominieren. Diesen Begriff greift Schnelle unkritisch auf und bezieht ihn auf das Johannesevangelium, das den „Höhepunkt frühchristlicher Theoriebildung“ darstelle.53 Das Evangelium sei sowohl eine Einführung in das Christentum wie auch eine Glaubenslehre. Es beantworte alle Fragen, die durch das neue Sinnangebot entstünden, und erreiche eine geschlossene Argumentation.54 Das dominante Deutungsparadigma dieser Meistererzählung bestimmt Schnelle in der „Liebe Gottes“: „Insgesamt erweist sich Johannes als Meister der interpretativen Integration, indem er die sehr verschiedenen Traditionsströme unter der Leiterkenntnis der Liebe Gottes zu den Menschen in Jesus Christus in seinem Evangelium zusammenführt.“55
Problematik der Geschlossenheit
Der Begriff „Liebe“ ist zweifellos wichtig, kommt aber letztlich als Syntagma „Liebe Gottes“ (gr. agape tou theou; ἀγάπη τοῦ θεοῦ) nur einmal (5,42) und mit pronominalem Bezug auf Gott nur an zwei weiteren Stellen vor (15,9 f.; 17,26). Er bleibt damit weit hinter dem Wortfeld „Herrlichkeit“ zurück und kann nicht als „Leiterkenntnis“ des Johannesevangeliums gelten. Die „Liebe“ ist dem theologischen Interesse an der Explikation der Doxa-Qualität der Gottesbeziehung zu- und untergeordnet, d. h. sie bestimmt sie nicht alleine. Auch Frey und Poplutz setzen sich mit dem Etikett des Höhepunkts auseinander.56 Das Evangelium vertrete den Anspruch, grundlegende und gültige Aussagen über Christus, Gott, den Glauben und das Leben zu machen. Es fordere eine hohe Verbindlichkeit ein. Es sei aber nicht aufgrund seiner Geschlossenheit überlegen, sondern diese habe auch problematische Folgen: „Das Johannesevangelium bringt – wohl auch aufgrund seines historischen Ortes – eine Reihe neutestamentlicher Diskurslinien zu einem Höhepunkt und führt andere zumindest entscheidend weiter. Dabei muss nicht verschwiegen werden, dass dieser Text an anderen Stellen – etwa in der Frage des Antijudaismus oder der Prädestination – ungelöste Probleme hinterlässt.“57
53 Schnelle, Theologie, 707; s. o. 17 (vollständiges Zitat). 54 Schnelle, Theologie, 707 u. 709 f. 55 Schnelle, Theologie, 710. 56 Frey/Poplutz, Narrativität und Theologie, 17. 57 Frey/Poplutz, Narrativität und Theologie, 17.
Höhepunkt des Neuen Testaments?
Eine Differenzierung des theologischen Gewichts der Schrift nach Themen oder „Diskurslinien“ ist durchaus angemessen. Die Geschlossenheit der Darstellung ermöglicht jedenfalls eine problematische stereotypisierende Interpretation des Judentums und erweckt tatsächlich den Eindruck einer deterministischen Prädestination, indem der über Leben und Tod entscheidende Glauben geradezu schicksalshaft zugewiesen wird und sich einem willentlichen oder erkenntnishaften Zugang entzieht. Ein Vergleich zwischen Johannes und Paulus macht deutlich, dass sich die Aussageformen und die Implikationen des christologischen Bekenntnisses innerhalb des Neuen Testaments deutlich unterscheiden.58 Johannes fragt nach dem Wesen des Seins und seinen Ursachen, während Paulus das Ziel der Schöpfung im Blick hat. Paulus hebt die Überwindung der Macht- und Herrschaftsstrukturen der Welt, die er mit dem Begriff „Sünde“ bezeichnet, durch den gekreuzigten und erhöhten Herrn hervor. Johannes wendet sich der Wahrnehmung der Welt zu, die in ihrer vorfindlichen Gestalt unangetastet bleibt, aber durch das Wissen um die wahre Wirklichkeit, die im Sohn Gottes präsent war und durch den Parakleten der Gemeinde vermittelt wird, überwunden ist. Ob es Johannes aber damit tatsächlich gelingt, ein Zeichensystem zu entwerfen, das allen Anfragen gegenüber gewachsen ist, wie Theißen meint, ist doch sehr fraglich. Die systemische Abgrenzung bewirkt auch eine Isolation, die eine Vielzahl von Erfahrungen ausschließen muss, um eine vermeintliche Stabilität zu erhalten. Eine ähnliche Anfrage ist an das kulturwissenschaftliche Paradigma des Evangeliums als Meistererzählung zu richten. Das Evangelium als eine integrierende, synthetische und zugleich definitive und damit exklusive Sinnbildung zu interpretieren, wird seiner Einbindung in die gesamtbiblische Überlieferung nicht gerecht. Wright sieht richtig, dass das Evangelium als Teil einer größeren story von den biblischen Voraussetzungen abhängig bleibt, obwohl es diese eindringlich christologisch ausrichtet. Die vom Johannesevangelium geleistete Integration der biblischen Erzählung von der Schöpfung über Abraham, Moses, Jesaja bis Jesus und den höchsten Institutionen des jüdischen Volkes wie den Tempel, den Sabbat, die Beschneidung und die Tora ist eindrucksvoll. Werden diese aber so eng und konzentriert auf eine von ihnen unabhängige Christologie ausgerichtet, wie es das Johannesevangelium an einigen Stellen tatsächlich vorschlägt, dann geht damit unweigerlich eine Verengung des gesamtbiblischen Zeugnisses einher, die in Gefahr steht von einer Hochachtung der biblisch-jüdischen Tradition in eine Abwertung des Judentums umzuschlagen. Eine theologische Interpretation des Johannesevangeliums sollte deswegen den gesamt58 Schwindt, Gesichte der Herrlichkeit, 492–495.
Johannes und Paulus
Isolation
Verengung
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356
Johannesevangelium
Zuwendung Gottes
biblischen Doxa-Begriff in den Mittelpunkt stellen. Der barmherzige, wahre und einzige Gott hat seinem Volk zugesagt, durch seine „Herrlichkeit“ präsent zu sein. Das Johannesevangelium führt aus, dass nach der langen Geschichte der Zuwendung Gottes zur Welt und zu seinem Volk Israel nun in der Sendung des Sohnes die relationale Präsenz Gottes erneut erfahrbar geworden ist.
Der Anspruch, den das Johannesevangelium ausdrückt, provoziert die Frage, ob es den Höhepunkt der neutestamentlichen Theologie darstellt. Die Einbeziehung der Doxa-Konzeptionen der Hebräischen Bibel und des antiken Judentums sowie deren Ausrichtung auf die Explikation des christologischen Monotheismus stellen in christlicher Perspektive eine besondere Stärke des Evangeliums dar. Mit dieser christologischen Konzentration sind allerdings einerseits problematische Überbietungsaussagen verbunden und andererseits werden die ethischen und politischen Realitäten, die über den kleinen Kreis der Gemeinde hinausgehen, ausgeblendet.
Determinismus
Ein theologizing/Theologisieren mit dem Johannesevangelium hat diese Einschränkungen zu beachten. Es muss zudem die Frage stellen, ob das Menschenbild und die Schöpfungsvorstellung angemessen sind. Die johanneische Anthropologie bleibt besonders in Bezug auf den menschlichen Willen merkwürdig unbestimmt. Die Haltung der Menschen gegenüber der Sendung des Sohnes (Glaube/Unglaube) wirkt festgelegt, sodass der Eindruck eines soteriologischen Determinismus entsteht. Trotz dieser Einschränkungen ist festzuhalten, dass es keiner anderen Schrift des Neuen Testaments in gleicher Weise gelingt, seine Jesuserzählung so zu gestalten, dass deren Lektüre nicht nur über die Evangeliumsverkündigung berichtet, sondern diese selbst vollständig an deren Stelle treten kann. Literatur Asiedu-Peprah, Martin: Johannine Sabbath Conflicts as Juridical Controversy, Tübingen 2001 (WUNT 2/132). Augenstein, Jörg: Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, Stuttgart 1993 (BWANT 134). Bal, Mieke: Kulturanalyse, Frankfurt 2002. Bormann, Lukas: Ethik und Politik, in: ders. (Hg.), Neues Testament: Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 315–336. Brendsel, Daniel J.: „Isaiah saw his glory“. The Use of Isaiah 52–53 in John 12, Berlin 2014 (BZNW 208).
Literatur
Bultmann, Rudolf: Das Evangelium des Johannes, Göttingen ²¹1986. Ders.: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953. Chibici-Revneanu, Nicole: Die Herrlichkeit des Verherrlichten. Das Verständnis der δόξa im Johannesevangelium, Tübingen 2007 (WUNT 2/231). Culpepper, R. Alan: Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983. Esler, Philip F./Piper, Ronald A.: Lazarus, Mary and Martha. A Social-Scientific and Theological Reading of John, London 2006. Felsch, Dorit: Die Feste im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung, Tübingen 2011 (WUNT 2/308). Frey, Jörg: Die johanneische Eschatologie 2. Das johanneische Zeitverständnis, Tübingen 1998 (WUNT 110). Ders.: Between Torah und Stoa. How Could Readers Have Understood the Johannine Logos, in: Jan G. van der Watt/R. Alan Culpepper/Udo Schnelle (Hg.), The Prologue of the Gospel of John, Tübingen 2016 (WUNT 359), 189–234. Ders./Poplutz, Uta (Hg.): Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, Neukirchen-Vluyn 2012 (BThSt 130). Kügler, Joachim: Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte, Würzburg 1988 (SBB 16). Morgenthaler, Robert: Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich/ Frankfurt 1958. Nielsen, Jesper T.: Die kognitive Dimension des Kreuzes. Zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, Tübingen 2009 (WUNT 2/263). Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010. Ruschmann, Susanne: Maria von Magdala im Johannesevangelium. Jüngerin – Zeugin – Lebensbotin, Münster 2002 (NTA NF 40). Schnelle, Udo: Das Evangelium nach Johannes, Leipzig ⁵2016 (THKNT 4). Ders.: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014. Schwindt, Rainer: Gesichte der Herrlichkeit. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, Freiburg 2007 (HBS 50). Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh ³2003. Thyen, Hartwig: Das Johannesevangelium, Tübingen ²2015 (HNT 6). Waetjen, Hermann: The Gospel of the Beloved Disciple, New York/London 2005. Watt, Jan G. van der/Culpepper, R. Alan/Schnelle, Udo (Hg.): The Prologue of the Gospel of John, Tübingen 2016 (WUNT 359). Wengst, Klaus: Das Johannesevangelium, 2 Bd., Stuttgart ²2004 u. ²2007. Wright, Nicholas T.: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott 1. Das Neue Testament und das Volk Gottes, Marburg 2011. Zumstein, Jean: Das Johannesevangelium, Göttingen 2016 (KEK 2).
357
12 Hebräerbrief und katholische Briefe
Abb. 12: Opferung eines Stiers am römischen Kapitol, Silbertasse von Boscoreale vor 79 n. Chr.
360
Hebräerbrief und katholische Briefe
12.1 Einführung
Macht und Opfer
Briefe an alle?
Antike Gesellschaftsformationen wie die griechische Stadt oder das römische Imperium inszenierten die soziale Hierarchie und die Macht, mit der sie die gesellschaftliche Ordnung nach innen und außen bestimmten, in öffentlichen religiösen Festen. Deswegen stellen die berühmten Silbertassen von Boscoreale, die aus augusteischer Zeit stammen, nicht nur den herrscherlich thronenden Augustus, seine Militärmacht und die besiegten Völker dar, sondern auch die religiöse Praxis des Imperators und Pontifex Maximus, indem sie die eindrucksvoll gestaltete Opferung eines Stieres in ihr Bildprogramm von der Weltherrschaft des Augustus und dem Triumphzug des Tiberius aufnehmen. Ein Helfer der Opfergruppe hat den Stier am Kopf gepackt, ein zweiter unterstützt ihn dabei und hält ein Behältnis bereit, während ein dritter eine Axt schwingt, die das Tier töten oder zumindest zunächst betäuben soll. Ein vierter steht im Hintergrund mit einem Dolch, vermutlich um dem sterbenden Tier die Halsschlagader durchzuschneiden. Mit diesen und anderen öffentlichen Selbstinszenierungen der römischen Mehrheitsgesellschaft waren die Autoren und Leser des Hebräerbriefs und der katholischen Briefe konfrontiert. Der Hebräerbrief übermittelt Grüße „von denen in Italien“ (13,24) und der erste Petrusbrief thematisiert eindringlich die Situation der Christen als Fremdlinge in einer heidnischen Umgebung (2,11 f.). Diese Herausforderung der christlichen Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft führte auch zu Auseinandersetzungen mit Gegnern innerhalb der Gemeinden, die als „falsche Lehrer“ und „falsche Propheten“ bezeichnet werden (2Petr 2,1; vgl. 1Joh 4,1). Der Hebräerbrief wurde wegen seines paulinisch anmutenden Briefschlusses (13,22–25) dem Corpus Paulinum zugeschlagen, ohne dass er ein Paulusbrief ist oder auch nur in die Rezeptionsgeschichte des Paulus gehört. Als „katholisch“ (allgemein) werden die neutestamentlichen Schriften bezeichnet, die als an die gesamte Christenheit gerichtet gelten. Tatsächlich handelt es sich aber um sehr unterschiedliche Texte, unter denen die kürzeste Schrift (3Joh) wie auch die vermutlich späteste (2Petr) des Neuen Testaments zu finden sind. An „alle“ richten sich nur der zweite Petrusbrief und wohl auch der Judasbrief. Der Jakobusbrief und der erste Petrusbrief nennen Sammeladressaten, nämlich die „zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (Jak 1,1) und „die auserwählten Fremden in der Zerstreuung von Pontus, Galatien, Kappadokien, Asien und Bithynien“ (1Petr 1,1). Der zweite Johannesbrief wendet sich an eine Gemeinde, die er „Herrin“ nennt. Der dritte Johannesbrief hingegen ist ein Privatbrief an einen Gaius. Der Hebräer- und der erste Johannesbrief nennen dagegen gar keine Adressaten.
Hebräerbrief
Da Theologie immer auch an eine Kommunikationssituation gebunden ist, in der sich das theologizing/Theologie treiben entfaltet, ist mit der Vielfalt der Adressaten auch darauf hingewiesen, dass sich die Aussagen dieser Schriften nicht zu einer einzigen Theologie der katholischen Briefe zusammenfassen lassen. Auch als Einzelschriften betrachtet wird man zwar dem Hebräerbrief zugestehen, dass er eine eigenständige Theologie bietet, die übrigen in diesem Kapitel behandelten Schriften setzen hingegen jeweils umfassendere theologische Konzeptionen voraus, die sie selbst nicht eigens entfalten. Der Jakobusbrief steht mit dem Matthäusevangelium in einem Traditionszusammenhang, der ausdrücklich am Gesetz festhält, dieses aber unter dem Eindruck des Christusgeschehens neu fasst, Matthäus als Tora Jesu, Jakobus als „Gesetz der Freiheit“. Der erste Petrusbrief knüpft an die christologischen und soteriologischen Grundüberzeugungen der paulinischen Theologie an und führt sie im Blick auf Gemeinden, die als christliche Minderheiten in heidnischer Umgebung wie als „Fremde“, d. h. als geduldete Bewohner mit minderem Rechtsstatus, leben, weiter. Die Johannesbriefe stehen in Beziehung zu den Grundentscheidungen, die im Johannesevangelium getroffen wurden: Das Christusgeschehen ist die Wahrheit, in der die Liebe Gottes zu seinem Sohn so zu erkennen ist, dass daraus die Liebe der Geschwister untereinander folgt. Der zweite Petrusbrief und der Judasbrief hingegen stimmen darin überein, dass diejenigen innerhalb der Jesusanhängerschaft, die den hergebrachten Glauben infrage stellen, dem strafenden Gericht anheimfallen werden. 12.2 Hebräerbrief 12.2.1 Einführung Theologie bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Sie ist als theologizing/Theologisieren auf Menschen angewiesen, die sich mit dem Verhältnis von Gott, Welt und Mensch auseinandersetzen. Eine Theologie zu verstehen, ohne die historische Kommunikation, aus der sie hervorgegangen ist, näher bestimmen zu können, ist ein gewagtes Unternehmen. Der Hebräerbrief fordert dazu heraus.1 Die Bezeichnung der Schrift geht wohl auf das 2. Jh. zurück und ist zudem irreführend. Sie richtet sich nicht an „Hebräer“, sondern an eine Gemeinde unbekannter Herkunft, für die das Christusbekenntnis bereits zentral ist. Dieses wird vom Autor nun allerdings in detail- und 1 Gelardini, Hebrews in Context, 1–10.
eigenständige Theologie
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Hebräerbrief und katholische Briefe biblisches Kultnarrativ
Verfasser
Lehrer der Gemeinde
kenntnisreichen Auseinandersetzungen mit den kultischen Traditionen Israels zur Sprache gebracht. Der Autor konstruiert ein literarisch vermitteltes biblisches Kultnarrativ, das vor allem auf der Exegese ausgewählter Stellen der Bücher Genesis bis Josua beruht und sich von der Begegnung Abrahams mit dem Priester Melchizedek (Gen 14,18–24) bis zur Landnahme durch Josua erstreckt. Seine breite Schriftkenntnis zeigt sich zudem in seinen Ausführungen zur „Wolke der Zeugen“, die er bei Abel beginnt und etwa bei den Königen mit dem Ausruf abbricht: „Was soll ich noch sagen – mir fehlt die Zeit!“ (Hebr 11,32). Der sekundäre Titel verdankt sich demnach einer oberflächlichen Reflexion des Inhalts der Schrift, der von der Beschäftigung mit alttestamentlich-jüdischen Themen und Vorstellungen geprägt ist. Über den Verfasser ist nichts bekannt. Obwohl diese neutestamentliche Schrift als „Brief “ bezeichnet wird, tritt sein Autor erst am Schluss in der gattungsüblichen ersten Person in Erscheinung (13,22): „Ich mahne euch aber, Geschwister, nehmt diese Mahnrede an“.2 Die Schrift ist demnach eher eine Rede als ein Brief. Da die erste Person Singular ganz überwiegend Gott selbst vorbehalten ist, der durch seine Schriftworte spricht, kann man sie auch als „Gottesrede“ bezeichnen. Der Autor erscheint dann als ein Theologe, „der nachdenklich auf den ‚sprechenden Gott‘“ blickt.3 An einigen Stellen wird die erste Person Plural verwendet, sodass man etwa aus 6,11 f. schließen kann, dass der Verfasser sich gemeinsam mit anderen als Lehrer der Gemeinde versteht, der durch sein mahnendes Wort die Zuversicht und das Engagement stärken möchte. Damit sind wir bei den Adressaten. Der paulinisch wirkende Briefschluss in 13,22–25 nennt Timotheus, der gerade abgereist sei, und überbringt Grüße derer aus „Italien“. Diesem Briefschluss korrespondiert kein Briefeingang. Er hängt sozusagen in der Luft, sodass die Vermutung, es handele sich um eine Ergänzung, naheliegt. Die weitergehende Annahme, dieser Briefschluss sei bei der Zusammenstellung einer Paulusbriefsammlung angefügt worden, um auch den Hebräerbrief in diese Sammlung integrieren zu können, ist plausibel, aber nicht direkt zu belegen. Über die Adressaten erfahren wir aus dem Schreiben, dass sie der tröstenden Mahnung bedürfen, da ihre Festigkeit im Glauben nachlasse. Für den heutigen Leser ist es überraschend, auf welche Weise diese Ermutigung vorgenommen wird: Durch eine grundlegende Neuinterpretation des Christusereignisses als Teil eines himmlischen Kultgeschehens, das zugleich jeglichen irdischen Kult überflüssig macht. 2 Vgl. die erste Person Sg. in der Floskel Hebr 11,32. 3 Backhaus, Der sprechende Gott, 7.
Hebräerbrief
Der Hebräerbrief ist demnach ein Text, entstanden gegen Ende des 1. Jh., der eine Gemeinschaft von Jesusanhängern dazu befähigen soll, an den bereits gewonnenen und konsolidierten Überzeugungen festzuhalten. Er thematisiert nicht die Evangeliumsverkündigung an alle Völker, sondern zielt auf die Darstellung des Evangeliums nach innen. Weiß urteilt deswegen, dass ein „pastoral-seelsorgerliches Grundanliegen“ den Kommunikationszusammenhang bestimme, aus dem der Brief stammt.4 Die Überzeugungen der adressierten Gemeinde befinden sich demnach in Auflösung, der lehrhafte Autor wirkt dem durch ein umfassendes theologisches Traktat, in dem er Gott selbst ausführlich zu Wort kommen lässt, entgegen.
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lehrhafter Autor
12.2.2 Schrifthermeneutik Der Hebräerbrief zitiert häufig und umfangreich das Alte Testament in der Fassung der Septuaginta, besonders den Pentateuch und den Psalter. Im Mittelpunkt stehen die christologisch bedeutsamen Psalmen 2 (V. 7: „Mein Sohn bist du […]“) und 110 (Erhöhung zur Rechten Gottes, Melchizedek), wobei Ps 110 aufgrund zahlreicher weiterer Anspielungen die Funktion eines „Leitfadens“ durch den gesamten Brief zukommt.5 Karrer zählt 35 Zitate, 22 von ihnen sind als direkte Gottesrede gestaltet, und Hermann gibt zusätzlich einen Überblick über die mehr als 65 Anspielungen auf biblische Texte.6 In Hebr 8,8–12 ist mit der Septuagintafassung von Jer 31,31–34 (LXX Jer 38,31–34), dem Wort vom neuen Bund (gr. kaine diatheke; καινὴ διαθήκη), das umfangreichste Zitat im Neuen Testament überhaupt enthalten. Dieser Schlüsseltext steht wohl auch hinter der Wendung vom „neuen Bund“ in den Einsetzungsworten zum Abendmahl.7 Die Mehrzahl der Schriftzitate wird als Gottesrede eingeleitet, in der Regel mit „er sagt“ (z. B. 1,5 f.). Es ist Gott selbst, der in diesen Worten spricht. Diese Rede Gottes durch die Schrift klärt zunächst die Rangordnung in der himmlischen Welt: Der Sohn ist den Engeln übergeordnet (1,4; 2,5 u. ö.), nur in seiner irdischen Existenz war er „kurz“ unter diese erniedrigt (2,9). Auch das Heilsgeschehen ist nicht um der Engel willen, sondern wegen der „Nachkommen Abrahams“ von Gott initiiert (2,16).
4 Weiß, Brief an die Hebräer, 52. 5 Attrige, Epistle to the Hebrews, 23. 6 Karrer, Brief an die Hebräer 1, 60; Hermann, „Hermeneutische Stunde“ des Hebräerbriefs, 56–65 u. 70–74. 7 S. o. 112 (Bund).
Schriftgebrauch
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Hebräerbrief und katholische Briefe
Hohepriester
Diese Klarstellung der himmlischen Verhältnisse, d. h. die Degradie rung der Engel, war wohl nötig, um die himmlische Welt für das neue Kultnarrativ, in dessen Mittelpunkt Jesus steht, analogiefähig zu machen. Die erstaunliche These des Hebräers ist es nämlich, dass Christus als Hohepriester in einem himmlischen Heiligtum durch ein einziges Opfer, seine Selbsthingabe, endgültig für die Seinen Sühne gewirkt und sich danach auf ewig zur Rechten Gottes niedergesetzt hat (10,12–14). Der Titel eines Hohepriesters wird Jesus im Neuen Testament sonst niemals beigelegt, vielmehr ist dessen Träger in den Evangelien und in der Apostelgeschichte einer der wichtigsten Gegenspieler Jesu, der Jerusalemer Gemeinde und des Paulus (Mk 14,60–63; Apg 5,17 f.; 23,2). Ein himmlisches Heiligtum gehört ebenfalls nicht zu den bevorzugten Themen der Evangelienüberlieferung. Im positiven Sinn wird die Vorstellung von einem Heiligtum bzw. dem Tempel vielmehr metaphorisch verwendet, um die ethische Bedeutung der leiblichen Existenz zum Ausdruck zu bringen (1Kor 3,16 f.). Demgegenüber finden die Aussagen des Hebräers zur Sühne, zur Selbsthingabe und zur Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes breiten Widerhall im übrigen Neuen Testament, besonders in der Paulustradition.8 Diese erste Reflexion verweist auf die zentrale Problematik dieser Schrift: Sie kombiniert vertraute Aussagen der neutestamentlichen Überlieferung (Sühne, Selbsthingabe und Erhöhung) mit der Vorstellungwelt einer Kultpraxis, zu der die meisten neutestamentlichen Texte ein distanziertes Verhältnis haben.
Der Hebräerbrief stellt Christus als Hohepriester dar, der in Analogie zum empirisch beschränkten Kultgeschehen im Jerusalemer Tempel einen ewigen und himmlischen Kult vollzieht. Diese Aussage wird in ein vom Autor gebildetes biblisches Narrativ eingebettet, für das Ps 110 und die dort geschilderte Inthronisation des Sohnes Gottes zentrale Bedeutung haben. Als Sprecher der zahlreichen Schriftzitate wird Gott vorgestellt.
Abstraktion
Die Zusammenführung dieser sonst eher weit auseinander liegenden Vorstellungszusammenhänge gelingt dem Hebräerbrief dadurch, dass er diese auf einer Metaebene vermittelt. Der Text ist aus einer Perspektive geschrieben und gedacht, in der die Praktiken antiker Kulte, hier des jüdischen Tempelkults, und das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes Gemeinsamkeiten zeigen. Diese Perspektive oder Metaebene schafft eine Distanz, die intellektuelle Operationen am Traditionsbestand der Jesusbewegung ermöglicht. Die Ergebnisse leiden dadurch aber auch an einer gewissen Abstraktion. Jesus, der nach Ausweis der 8 S. o. 153 (Erhöhung in Phil 2,9).
Hebräerbrief
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Evangelienüberlieferung niemals von sich als Hohepriester gesprochen hat, wird zu einem solchen erklärt. Um also die Theologie des Hebräers zu verstehen, ist diese Perspektive oder die Metaebene zu beschreiben, von der her es ihm möglich wird, in dieser Weise überzeugend von Jesus als dem Hohepriester zu sprechen. Bereits die Einleitung nennt Unterscheidungen, die Aufschluss geben: Hebr 1,1–3: Nachdem Gott viele Male und auf vielerlei Weise einst zu den Vätern durch die Propheten gesprochen hatte, (2) sprach er am letzten dieser unserer Tage zu uns durch den Sohn, den er eingesetzt hat als Erben des Alls, durch den er auch die Äonen gemacht hat. (3) Er ist ein Abglanz der Herrlichkeit und ein Abbild seiner Gestalt, er trägt auch das All durch das Wort seiner Macht, er vollzog die Reinigung von den Sünden und setzte sich zur Rechten der Majestät in der Höhe.9
Es werden demnach gegenübergestellt: 1. auf vielerlei Weise durch die Propheten versus einmalig durch den Sohn, 2. die Zeit der Väter versus unsere Tage als Endzeit, 3. Abglanz und Abbild versus Herrlichkeit und Gestalt. In allen drei Gegenüberstellungen ist zudem die Tendenz deutlich, dass sie als über- bzw. unterlegen zu verstehen sind: Das Wort der Propheten ist dem des Sohnes, die Zeit der Väter ist unseren Tagen und das Abbild ist der Herrlichkeit unterlegen. Dennoch stehen sie zueinander in Beziehung. Zieht man noch weitere Gegenüberstellungen hinzu, die im Hebräerbrief begegnen, wie etwa irdisch versus himmlisch, sichtbar versus unsichtbar, irdisches Abbild versus himmlisches Original, „Schatten“ versus himmlische Dinge, dann wird zunehmend deutlich, dass die Metaebene, auf der sich die Argumentation des Hebräerbriefs bewegt, die hellenistische Philosophie, genauer der Mittelplatonismus ist. Die Gegenbegriffe sind keine Gegensätze, sie bilden keine „dualistische Seinsordnung“, wie Schnelle behauptet, sondern sie sind miteinander durch die platonische Denkfigur der Teilhabe (gr. methexis; μέθεξις) verbunden.10 In 11,3 ist das klar zu fassen, wenn dort die Schöpfung als der Akt beschrieben wird, in dem „aus dem, was keine (äußere) Erscheinung hat, das geworden ist, was sichtbar ist“. Das Sichtbare beruht auf dem Unsichtbaren. Wie in der Schöpfungsvorstellung des Hebräers hat in der Lehre Platos die empirische Wirklichkeit („das, was sichtbar ist“) an der ideellen und damit ewigen, unsichtbaren und wahren Wirklichkeit („das, was keine äußere Erscheinung hat“) Anteil, um überhaupt empirisch, zeitlich und sicht9 Hebr 1,3 kann wegen der relativischen Anschlüsse und des Partizipialstils auch als Teil eines Hymnus verstanden werden, so Weiß, Brief an die Hebräer, 144–151. 10 Schnelle, Theologie, 611.
himmlische Welt
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Hebräerbrief und katholische Briefe
biblisches Narrativ
bar existieren zu können. Der Hebräer folgt dieser philosophischen Denkweise und steht darin dem Kolosser- und dem Epheserbrief nahe. Der Kolosser ist das einzige Schreiben im Neuen Testament, das den Begriff Philosophie verwendet (Kol 2,8). Er bezeichnet damit jedoch eine abzulehnende Haltung, die durch menschliche Überredungskunst und Verführung gekennzeichnet ist. Dennoch werden die beiden deuteropaulinischen Schriften von den populären philosophischen Vorstellungen ihrer Zeit beeinflusst. Der Hebräerbrief wendet seine philosophische Kompetenz allerdings weit kenntnisreicher, konsequenter und kreativer an, als dies im Kolosser- und im Epheserbrief geschieht. Er reflektiert in seinem mittelplatonischen Koordinatensystem, nach dem die irdische vergängliche Welt an der ideellen himmlischen Welt Anteil hat, das Verhältnis des Sinaibundes und seines Kultes zum Christusgeschehen. Er setzt ein alttestamentliches Geschichts- und Kultnarrativ, das er aus den Stoffen von Genesis bis Josua bildet, in Beziehung zu einer Christologie, die bereits Präexistenz, Erniedrigung und Erhöhung umfasst (Dreistufenchristologie). Sein Koordinatensystem enthält die Pole himmlisch–irdisch, ewig–zeitlich, unsichtbar– sichtbar, intelligibel–empirisch, einmalig–vielfach usw. Das alttestamentliche Narrativ gilt ihm als eine geschichtliche und vergängliche empirische Wirklichkeit, die durch die Teilhabe an der himmlischen und ewigen ideellen und damit wahren Wirklichkeit existiert, aber in einem verminderten Status, nämlich als „Schatten“ (8,5; 10,1). Zugleich eröffnet dieses alttestamentliche Narrativ aber auch den epistemo logischen Zugang zum Verständnis des Christusgeschehens. Das irdische Geschehen des Kultes Israels ist der Ausgangspunkt, um das ewige himmlische Geschehen des Hohepriesters Jesus zu verstehen.
Der Hebräerbrief vertritt eine Dreistufenchristologie, die Präexistenz, Erniederigung und Erhöhung umfasst. Dieser Vorgang wird nach Vorgaben des Mittelplatonismus interpretiert und expliziert. Das himmlische Geschehen um den Hohepriester Jesus Christus ist das ewige, einmalige und unwiederholbare ideale Original, die biblische Heils- und Kultgeschichte ist der „Schatten“ dieses ewigen Geschehens und hat als solcher Anteil an diesem.
Argumentation
Die Argumentationsweise soll im Folgenden am Beispiel der Begrün dung des Hohepriestertums Jesu gezeigt werden. In 6,13–7,24 interpretiert der Hebräerbrief die Begegnung Abrahams mit Melchizedek, dem Priester und König von Salem, auf der Basis von Gen 14,18–24 und Ps 110,4. Der Hebräerbrief greift dabei folgende Elemente des biblischen Berichts heraus: Melchizedek wird als König und Priester ohne Stamm-
Hebräerbrief
baum vorgestellt. Abraham habe diesem Melchizedek vom „Besten der Beute“ den Zehnten entrichtet und sich ihm damit untergeordnet. Diese Konstellation wird nun den levitischen Priestern gegenübergestellt. Diese stammten von Abraham ab und hätten den Zehnten von den Nachkommen Abrahams, ihren Geschwistern, eingefordert und sich dadurch diesen übergeordnet, obwohl sie sterbliche Menschen gewesen seien. Diese beiden Interpretationen, die des Melchizedek und die der Leviten, werden über eine christologische Exegese von Gen 14 miteinander wertend und hierarchisierend verbunden: Melchizedek sei Abbild des Sohnes Gottes und stamme demnach gemäß der AbbildUrbild-Vorstellung nicht leiblich und damit nicht zeitlich begrenzt vom Sohn Gottes ab, sondern habe ideell und damit ewig Anteil an ihm. Abraham, der auch der Stammvater der Leviten sei, habe den Zehnten an diesen Melchizedek, der keinen menschlichen Stammbaum habe, gezahlt, bevor das levitische Priestertum überhaupt existiert habe. Abraham habe damit die zeitlos-ewige und himmlische priesterliche Stellung des Melchizedek anerkannt und sich ihm untergeordnet. Die Unterordnung Abrahams unter Melchizedek gelte somit ebenfalls für seine Nachkommen, die Leviten. Auch diese seien in Abraham dem Melchizedek untergeordnet. Da sich die Leviten diesem Priester Melchizedek in Abraham unterworfen hätten, so folge nun: Wenn Abraham und seine Nachkommen bereits das Abbild des Sohnes (d. i. Melchizedek) als Priester anerkannt und sich ihm untergeordnet haben, dann ist es nur vernünftig, wenn alle Menschen den Sohn selbst (d. i. Jesus) als himmlischen Hohepriester anerkennen und sich ihm unterordnen. Dies hat Folgen für die Bedeutung des Gesetzes. Die Leviten, deren befristetes Priesteramt auf dem Gesetz beruhte, hätten ihr Ziel, die Vollendung und die Nähe zu Gott, nicht erreicht. Jesus aber, dessen ewiges Hohepriesteramt bereits vor der Übergabe des Gesetzes am Sinai in Melchizedek, dem Abbild Jesu, erkennbar gewesen sei, sei von Gott selbst in sein unvergängliches Priesteramt eingesetzt worden.11 In der Argumentation spielt zwar eine gewisse historische Sichtweise eine Rolle, nach der das, was in der Frühzeit geschehen ist, zunächst als bedeutsamer wahrgenommen wird.12 Allerdings ist es nicht die Anciennität, die das Alte bedeutsam macht, sondern seine Teilhabe an der himmlischen Welt, sodass auch spätere Ereignisse ohne weiteres als bedeutsamer interpretiert werden können, wenn sie denn die Bedingung der Teilhabe an der himmlischen Welt erfüllen. 11 Die Vorstellung einer ewig-zeitlosen Existenz des Melchizedek findet sich auch in 11QMelch, Philo Leg. All. 3,79–82 und im Nag Hammadi Traktat Melchizedek (NHC 9,1). Vgl. Attridge, Epistle to the Hebrews, 192–195. 12 Sargent, David Being a Prophet, 32 u. 39–43.
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Abraham und Melchizedek
ewiger Hohepriester
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Hebräerbrief und katholische Briefe
Schriftinterpretation
Diese Form der Schriftinterpretation steht methodisch derjenigen nahe, die Philo von Alexandrien in seinem umfangreichen Werk zum Dekalog und zu den Einzelgesetzen anwendet. Auch Philo geht philosophisch vor. Er lehnt sich allerdings im Unterschied zum Hebräerbrief stark an die Stoa an. Er will zeigen, dass die konkrete Gebotserfüllung mit dem Naturgesetz, das auf dem göttlichen Logos beruht, übereinstimme und somit vernünftig sei.13 Der Hebräer hingegen wendet platonische Denkfiguren an, da es ihm darum geht, den irdischen Kult und damit seine konkrete Ausführung als „Schatten“ gegenüber einem himmlischen Urbild darzustellen, um so schließlich alle Aufmerksamkeit auf das himmlische Geschehen lenken zu können. Philo argumentiert für die tatsächliche Erfüllung der Gebote im Wissen um ihre Verbindung mit dem Naturgesetz. Der Hebräerbrief interpretiert die in der Schrift geschilderte Kultpraxis, um Zugang zum Verständnis der wahren Wirklichkeit zu erlangen. Schließlich verbindet der Hebräerbrief im Gegensatz zu Philo seine theologisch-philosophische Weltsicht mit einer ausgeprägten Endzeiterwartung, während Philo in dieser Hinsicht schweigt.14 12.2.3 Das neue christologische Narrativ: Jesus, der Hohepriester
Dynamik
Der Hebräer erläutert vor dem Hintergrund seiner Rekonstruktion des irdischen Kultorts, des Zeltes der Begegnung, und der Kultpraktiken des Versöhnungstags (Lev 16), dass Jesus als himmlischer Hohepriester in das Allerheiligste des himmlischen Tempels getreten sei. Die von ihm dort vollzogenen Kultpraktiken werden nun durchweg in Analogie zu denjenigen des irdischen Hohepriesters geschildert. Dabei geht es zunächst darum, die irdisch-biblischen Kultpraktiken im Zelt der Begegnung als zwar untergeordnet, aber doch auch bestätigend für die vom Hebräerbriefautor behaupteten himmlisch-christologischen Kultpraktiken im himmlischen Heiligtum zu lesen. Dem Briefautor zu attestieren, er versuche „exegetisch die Überlegenheit des Priestertums Jesu gegenüber dem levitischen Priestertum nachzuweisen“, wird seinem Vorgehen nicht gerecht und bleibt unkritisch in traditionellen Interpretationslinien gefangen.15 Karrer beschreibt die Argumentationsrichtung richtig als eine „Dynamik […] als einen Weg von irdischer Kultsymbolik zu himmlischer Realität“.16 Es geht demnach nicht um 13 Weber, „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 68–78. 14 Attridge, Epistle to the Hebrews, 29. 15 Hermann, „Hermeneutische Stunde“ des Hebräerbriefs, 296. 16 Karrer, Brief an die Hebräer 2, 173.
Hebräerbrief
eine Polemik gegen den alttestamentlich-jüdischen Kult, sondern um den Kontrast im Vergleich zum himmlischen Kult.17 Die levitischen Priester opferten täglich bzw. jährlich, Jesus nur ein einziges Mal. Diese mussten zunächst für ihre eigenen Sünden opfern, Jesus sei ohne Sünde gewesen. Diese hätten das Blut von Böcken und Stieren vergossen, Jesus seine eigenes. Diese hätten nur äußerliche Sühne und leibliche Reinigung gewirkt, Jesus aber ewige Sühne und die Reinigung der Gewissen. Das Handeln des Hohepriesters Jesus ist das entscheidende Heilsereignis. Durch ihn wird nun auf neue Weise das Gottesvolk am göttlichen Heilswillen teilhaben und in das „verheißene Land“, die „Stadt des Bau- und Werkmeisters Gott“, die „Vaterstadt“, die „himmlische Stadt“ einziehen (11,9 f.15 f.). Die erste Voraussetzung für den Eintritt in die verheißene Welt ist der Glaube im Sinne des Festhaltens „an dem, was man nicht sieht“ (11,1), d. h. an der Überzeugung, dass Christus in dieser Weise als Hohepriester gehandelt hat. Der Glaube der vielen vom Hebräerbrief aufgezählten biblischen Helden (12,1: die „Wolke der Zeugen“) hatte gute, sichtbare Folgen und doch haben sie das Verheißene noch nicht erlangt und sollen es erst zusammen mit der Gemeinde erlangen (11,8–40). Die zweite Voraussetzung ist der Widerstand gegen die Sünde (12,4–29). Eine zweite Umkehr („Buße“) lässt der Hebräerbrief nicht zu (6,4–8; 10,26–31). Dieser Rigorismus unterstreicht die Dringlichkeit der Situation. Nun stellt sich die Frage, was es theologisch bedeutet, das Christusgeschehen in dieser kultischen Vorstellungswelt als himmlisches Urbild des biblischen Kultnarrativs unter platonischen Vorzeichen zu entfalten. Der Autor selbst verspricht sich davon eine Stärkung des Glaubens, ein selbstbewusstes Festhalten am Bekenntnis und die Zuversicht, in diese himmlische Welt, die für den Hebräer zugleich die zukünftige Welt ist (1,14; 2,5; 6,5; 13,14), einzutreten. Das im Hebräer geschilderte himmlische Geschehen hat somit eine soteriologische und eine eschatologische Bedeutung. In der Forschung ist es umstritten, wie diese zueinander in Beziehung zu setzen sind. Liegt der Akzent auf dem soteriologischen Effekt der Sühnehandlung oder auf der Ermöglichung der eschatologischen Existenz derjenigen, die in kreativer Nachahmung des biblischen Vorbilds der Wüstenwanderung als wanderndes Gottesvolk dem Eintritt in die zukünftige Welt entgegenstreben (3,7–4,13)? Man wird beide Sinnlinien zusammen denken müssen. Das sühnende Geschehen in der himmlischen Welt ist zwar „unsichtbar“, aber aufgrund des platonistischen Grundansatzes umso wirklicher, umso wahrer und zeitlos ewig gültig. Da es dem Hebräerbrief gelingt, das biblische Grundnarrativ als „sichtbares“ und erfahrbares Abbild dieses himmlischen 17 Backhaus, Hebräerbrief, 278.
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Soteriologie und Eschatologie
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Hebräerbrief und katholische Briefe
Geschehens zu interpretieren, kann er die Zuverlässigkeit seiner Aussagen noch plausibler machen: Wie bereits in vielerlei Formen und Ereignissen der Geschichte Israels immer wieder, hat Gott nun in seinem Sohn „ein für alle mal“ (gr. ephapax; ἐφάπαξ) zugunsten seines Volkes gehandelt (7,27; 9,12; 10,10). Dieses Gottesvolk geht aus der zeitlos ewigen Selbsthingabe Christi als Hohepriester im himmlischen Heiligtum allererst hervor und strebt zugleich diesem himmlischen Heiligtum als wanderndes Gottesvolk in dieser Zeit entgegen.18 Der argumentative Aufweis öffnet die Möglichkeit, einerseits dieser Welt mit all ihren Anforderungen mit Distanz entgegenzutreten und andererseits allen Formen von Religion, die Opfer fordern, mit Verweis auf das eine, einzige und ewige Opfer Christi eine Absage zu erteilen. Literatur Attridge, Harold W.: The Epistle to the Hebrews, Philadelphia 1989 (Hermeneia). Backhaus, Knut: Der Hebräerbrief, Regensburg 2009 (RNT). Backhaus, Knut: Der sprechende Gott: Gesammelte Studien zum Hebräerbrief, Tübingen 2009 (WUNT 240). Gelardini, Gabriella/Attridge, Harold W. (Hg.): Hebrews in Contexts, Leiden 2016 (AGJU 91). Hermann, Markus-Liborius: Die „hermeneutische Stunde“ des Hebräerbriefs: Schriftauslegung in Spannungsfeldern, Freiburg 2013 (HBS 72). Käsemann, Ernst: Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, Göttingen ⁴1961 (FRLANT 55). Karrer, Martin: Der Brief an die Hebräer, 2 Bd., Gütersloh 2002 + 2008 (ÖTK 20). Sargent, Benjamin: David Being a Prophet. The Contingency of Scripture Upon History in the New Testament, Berlin 2014 (BZNW 207). Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014. Weber, Reinhard: Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, Frankfurt 2001 (ARGU 11). Weiß, Hans-Friedrich: Der Brief an die Hebräer, Göttingen 1991 (KEK 13).
12.3 Der Jakobusbrief Das Schreiben nennt als Verfasser den Namen des im Jahr 62 n. Chr. als Märtyrer hingerichteten Bruders Jesu.19 Da es an die „zwölf Stämme der Diaspora“ adressiert ist, spielt der Verfassername zugleich auf 18 Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, 30. 19 Jos. Ant. 20,200.
Der Jakobusbrief
den Erzvater Jakob/Israel und die aus seinen Söhnen hervorgegangen zwölf Stämme Israels an (1,1). Die in sehr gewandtem Griechisch abgefasste pseudepigraphe Schrift wird nach der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr., aber vor 100 n. Chr. entstanden sein und ist an Gemeinden von Jesusanhängern gerichtet, die am ehesten im Einflussbereich von Antiochien, also in Syrien, zu suchen sind.20 Der Jakobusbrief stellt die Frage nach dem richtigen Handeln angesichts von Versuchungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen (1,2–4). Er behandelt dabei zahlreiche Bereiche menschlichen Lebens, die von der Individualethik über die Gruppenethik der Gemeinde bis zur Sozialethik reichen. Er weiß um die Verführungen zur Lüge und Unehrlichkeit, denen der Einzelne ausgesetzt ist, mahnt zu einem angemessenen Verhalten der Geschwister untereinander und thematisiert energisch den Einfluss der Besitzverhältnisse auf den sozialen Umgang. Die Lösungen, die er anbietet, knüpfen an die Tradition der jüdischen Weisheit an, wie sie vor allem in den Büchern Hiob (vgl. 5,11), Sprüche Salomos, Jesus Sirach und der Weisheit Salomos überliefert ist, und stehen zugleich in deutlicher Nähe zum Matthäusevangelium, zur Logienquelle und damit auch zur ethischen Verkündigung Jesu. Der Jakobusbrief steht in einer Tradition des ethischen Diskurses, die von der Überzeugung ausgeht, dass die materielle und soziale Welt, die Schöpfung, in einer Weise durch den Schöpfer geordnet und strukturiert ist, die es dem Menschen ermöglicht durch ein Verhalten, das diese Ordnung der Welt berücksichtigt, Gutes zu bewirken.21 Das Tun des Guten ist demnach nicht nur ethischer Imperativ oder, modern gesprochen, „Gesinnungsethik“ (Weber), sondern klug, angemessen und in seiner Wirkung für den Täter wie den Empfänger eines solchen Handelns erfolgreich. Die ethische Orientierung an der Weisheit rechnet damit, dass sie gute Folgen bewirkt, und ist im Sinne ihrer eigenen Voraussetzungen „Verantwortungsethik“. Weisheitlichem Denken liegt demnach eine grundsätzliche Zuversicht zugrunde. Im Falle des Jakobusbriefs wird diese Zuversicht in die Vorstellung gefasst: Die Weisheit ist zugänglich, wer um sie bittet, dem wird Gott sie gerne geben (1,5). Nimmt man diesen Optimismus als Hintergrund wahr, dann verlieren die bisweilen öde und blutleer wirkenden ethischen Anweisungen, die einen Teil ihrer Überzeugungskraft zudem aus fragwürdigen Schilderungen der Folgen des Fehlverhaltens gewinnen, zumindest teilweise ihre Antiquiertheit. Zugleich stellt sich aber auch die drängende Frage, ob die weisheitliche Grundannahme einer gut geordneten Verfasstheit der materiellen und sozialen Welt zutrifft. 20 Burchard, Jakobusbrief, 3–7. 21 Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 42–54.
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Israelfiktion
Ethik und Weisheit
gute Ordnung
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Hebräerbrief und katholische Briefe
Krise
Christologie
Parusie
Die ethischen Mahnungen des Jakobusbriefs setzen demnach ein Verhältnis von Gott, Welt und Mensch voraus, in dem der Mensch durch sein Tun an der guten Ordnung Gottes mitwirken und damit Erfolg in der Welt haben kann. Die Grenzen dieser Vorstellung liegen auf der Hand, werden in der biblischen Tradition im Topos des „leidenden Gerechten“ ausführlich thematisiert und in der Forschung unter dem Stichwort „Krise der Weisheit“ behandelt.22 Die Spekulationen über die tatsächliche Unerreichbarkeit der Weisheit (Hiob 28), ihre besondere Verbindung mit Israel (Sir 24) oder ihre charismatische und unverfügbare Präsenz (Weish 6–9) werden im Jakobusbrief nicht aufgenommen. Vielmehr steht dieser den Schriften nahe, die die Lösung der Krise der Weisheit in der Überzeugung sehen, dass die von Gott gegebene Tora selbst diese Weisheit sei, die die Grundordnung der Welt bestimme und alles notwendige Wissen enthalte. An dieser Lösung knüpft der Autor des Jakobusbriefs an. Er proklamiert deswegen das Tun des Gesetzes und zwar des „Gesetzes der Freiheit“ (1,25; 2,12). Ehe dieses näher betrachtet wird, muss nun allerdings die Frage gestellt werden, welche Rolle die Christologie in diesem Konzept einnimmt. Paulus bezeichnet Jesus als die „Weisheit Gottes“ (1Kor 1,24 u. ö.) und das Johannesevangelium geht einen ähnlichen Weg, wenn es ihn als den Logos identifiziert (Joh 1,1–18). Paulus und Johannes sehen im Kreuzesgeschehen die Krise der Weisheit repräsentiert und provozieren kontrastreiche und theologisch herausfordernde Reflexionen über die Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu, der „Weisheit Gottes“, für das Verständnis der von Gott geschaffenen Welt und der „Weisheit der Welt“ (1Kor 1,20). Eine solche Identifikation oder auch nur Inbeziehungsetzung zwischen Weisheit und Kreuzesgeschehen findet sich im Jakobusbrief nicht. Das Kreuz Christi findet keine Erwähnung. Die Weisheit bleibt von Christus unabhängig. Sie wird vielmehr von Gott gegeben (Jak 1,5) und als eine „Weisheit von oben“ bezeichnet (3,15.17). Auf der anderen Seite fällt nun aber doch auf, dass der Jakobusbrief ein erhebliches christologisches Interesse hat. Jesus Christus ist zwar nur an zwei Stellen namentlich genannt (1,1; 2,1), aber die Aussagen zur „Ankunft des Herrn“ (gr. parousia tou kyriou; παρουσία τοῦ κυριοῦ) und zu seiner Richterfunktion in den Schlussmahnungen sind von grundsätzlicher Bedeutung für das Selbstverständnis der glaubenden Existenz nach Jakobus (5,7–9). Die neuere Forschung versucht nun den Gehalt des Schreibens und diese knappen christologischen Aussagen so zueinander in Beziehung zu setzen, dass eine eigenständige (judenchristliche) Christologie des Jakobusbriefs herausgearbeitet werden kann. Die Argumentation setzt an der bereits oben genannten 22 Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 460–478.
Der Jakobusbrief
Beobachtung an, dass einige Aussagen des Briefes eine Nähe zum Matthäusevangelium und zur Logienquelle, letztlich zur ältesten Jesusüberlieferung verraten.23 Eine der auffälligsten Übereinstimmung findet sich im Schwurverbot nach Mt 5,34 f.37 zu Jak 5,12: Jak 5,12: Vor allem aber, Geschwister, schwört nicht! Weder beim Himmel noch bei der Erde noch irgendeinen anderen Schwur. Es sei vielmehr euer Ja ein Ja und das Nein ein Nein, damit ihr nicht dem Gericht verfallt. Mt 5,34 f.37: Ich aber sage euch: Schwört gar nicht, weder beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, (35) noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße […]. (37) Eure Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein. Was darüber hinausgeht, ist vom Bösen.
Diese und weitere Übereinstimmungen, etwa die Aussage, dass „die Armen die Königsherrschaft besitzen werden“ (Jak 2,5; Mt 5,3.5), oder die Kritik des Reichtums (Jak 1,10; 2,5–7; 5,1–6), lassen sich so interpretieren, dass der Jakobusbrief mit der Jesusüberlieferung vertraut ist und diese nutzt. Das Schreiben würde demnach eine christologische Rahmung, nach der das Kommen des erhöhten Herrn erwartet wird, mit der Lehre Jesu, der die Glaubenden in dieser Zwischenzeit folgen sollen, verbinden. Gegen diese Deutung ist allerdings einzuwenden, dass sich die Ethik des Jakobusbriefs nie ausdrücklich auf Jesus beruft.24 Die Nähe zur Jesusüberlieferung entsteht demnach nur über den gemeinsamen Inhalt der ethischen Forderungen und nicht über deren Verkündiger.25 Als Garanten der ethischen Lehre des Jakobusbriefs gelten vielmehr die Weisheit, das Gesetz und letztlich Gott selbst. Der Jakobusbrief bleibt somit in Hinsicht auf eine christologische Fundierung seiner ethischen Forderung weit hinter der Logienquelle und dem Matthäusevangelium zurück.26 Die in ihm verarbeiteten Materialien, die der Jesusüberlieferung nahe stehen, lassen sich zudem teilweise auch auf die ethischen Überzeugungen des antiken Judentums zurückführen. Dennoch gehört der Jakobusbrief vor allem gemeinsam mit dem Matthäusevangelium in einen „Diskursstrang“, ohne dass dieser historisch genauer zu fassen ist.27 23 Vgl. Jak 1,5/Mt 7,7; Jak 1,17/Mt 7,11; Jak 1,22/Mt 7,24; Jak 1,23/Mt 7,26; Jak 2,5/ Mt 5,3.5; Jak 2,13/Mt 5,7; Jak 3,12/Mt 7,16; Jak 3,18/Mt 5,9; Jak 4,9/Lk 6,25b; Jak 4,10/ Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14; Jak 4,17/Lk 12,47; Jak 5,1/Lk 6,24; Jak 5,9a/Mk 13,29 u. a. Umfangreiche Übersicht bei Popkes, Brief des Jakobus, 32–34. 24 Schnelle, Theologie, 582. 25 Popkes, Brief des Jakobus, 35. 26 S. o. 280 (Tora Jesu). 27 Luther, Sprachethik im Neuen Testament, 430–437.
Lehre Jesu
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Hebräerbrief und katholische Briefe
Der Jakobusbrief teilt den ethischen Optimismus der Weisheitstradition: Die Erkenntnis des Guten ist die wichtigste Voraussetzung für das Tun des Guten. Komplexe anthropologische Überlegungen zu den Einschränkungen und Beeinflussungen, denen der menschliche Wille ausgesetzt ist, etwa über die Macht der Sünde wie in Röm 7,7–23, werden nicht angestellt. Vielmehr vertraut der Autor auf die Überzeugungskraft der ethischen Forderungen, die auch in der Jesusüberlieferung begegnen. Eine direkte Bezugnahme auf die Ethik Jesu erfolgt allerdings nicht.
Gesetz der Freiheit
Werke
In Übereinstimmung mit der synoptischen Tradition und Paulus stellt der Jakobusbrief den Dekalog und das Gebot der Nächstenliebe in den Mittelpunkt seiner ethischen Überlegungen. Letzteres gilt ihm als die „summarische Formulierung des sozialen Willens Gottes“, sodass er ihm die Bezeichnung das „königliche Gesetz“ verleiht (2,8).28 Der vom Gebot der Nächstenliebe her gedeutete Dekalog und weitere ethische Regelungen, die sich im antiken Judentum, etwa bei Philo und Josephus, um die zweite Tafel des Dekalogs entwickelt haben, machen für Jakobus das „Gesetz der Freiheit“ aus.29 Es beinhaltet offensichtlich keine Regelungen der Reinheits- und der Speisetora und schweigt auch über den Sabbat, den Tempel und den Festkalender. Jakobus hält allerdings am Beispiel der Dekaloggebote fest, dass der Verstoß gegen ein Einzelgebot das „ganze Gesetz“ bricht (Jak 2,10 f.). Diese ethische Orientierung und die an diese geknüpfte soteriologische Erwartung stehen nun in einer deutlichen Spannung zur paulinischen Theologie, die die Rechtfertigung des Sünders „ohne Werke des Gesetzes“ lehrt (Röm 3,28). Der Jakobusbrief scheint auf dieses konfliktträchtige Thema in 2,14–26 einzugehen. Er greift wie Philo in Virt. 216–219 und Paulus in Röm 4,3 und Gal 3,6 auf Gen 15,6 zurück. Dabei diskutiert er aber anders als Paulus die Frage der Gerechtigkeit aus Glauben nicht in Opposition zur Beschneidung Abrahams in Gen 17, sondern wie Philo und wie die Hauptlinie der jüdischen Tradition in positiver Anknüpfung an die Bindung Isaaks in Gen 22, in der Abraham seinen Gehorsam in Glaube und Werk vorbildlich zum Ausdruck gebracht habe.30 Jakobus kommt dann im Verweis auf Abrahams Vorbild zu der profilierten Aussage: Jak 2,24: Seht, dass der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht aus Glauben allein. 28 Konradt, Christliche Existenz, 184, vgl. 206. 29 Jos. Ap. 2,190–219; Ant. 3,90–138; Philo Decal. 1–19.32–51.106–120. 30 Foster, Significance of Exemplars, 80–103.
Der Jakobusbrief
Er meint damit: Aufgrund von Taten, die dem „Gesetz der Freiheit“ entsprechen, wird der Glaubende von Gott als gerecht anerkannt, nicht aber reicht es aus, auf seinen Status als Glaubender zu verweisen. Paulus setzt sich mit der Frage der Beschneidung auseinander, wenn er die Werke des Gesetzes diskutiert und deren Relevanz für die Gottesbeziehung zurückweist, Jakobus hingegen denkt an ethische Forderungen des „Gesetzes der Freiheit“, d. h. seine Interpretation von Nächstenliebe bzw. des Liebesgebots. Die Befolgung des Liebesgebots wiederum versteht Paulus nicht als ein „Werk“, das dem Glauben entgegensteht, und achtet es dementsprechend hoch (Röm 13,8–10; Gal 5,14). Es handelt sich demnach in Jak 2,24 nicht um eine direkte Pauluskritik. Jakobus und Paulus meinen mit „Glaube“, „Werke“ und „als gerecht anerkannt werden“ nicht dasselbe.31
Pauluskritik?
Die Frage, ob in Jak 2,20–26 die paulinische Überzeugung von der Gerechtigkeit aus Glauben ohne Werke kritisiert wird, galt lange als die zentrale theologische Problematik der Schrift. Da Paulus unter „Werke“ vor allem die Beachtung von Beschneidung, Speise- und Reinheitsgeboten sowie Festzeiten versteht, Jakobus hingegen die Erfüllung der ethischen Forderungen der Tora, liegt keine direkte Pauluskritik vor, denn Paulus fordert auch die Einhaltung der Ethik der Tora und sieht das Liebesgebot als Erfüllung des Gesetzes an.
Inwiefern Jakobus aber doch eine von Paulus abweichende Bewertung des Verhältnisses von Glaube und Werken vertritt, hängt wiederum an der Interpretation der spannungsvollen Aussagen des Paulus zum Gesetz. Die ethische Forderung des Dekalogs und das Liebesgebot gelten für Paulus uneingeschränkt, ihre Erfüllung wird aber als eine Folge der Transformation des Glaubenden durch den Geist verstanden. Der Unterschied zwischen Paulus und Jakobus liegt deswegen eher in der Anthropologie. Während Paulus mit der unnachgiebigen und lebensfeindlichen Herrschaft der Sünde über den Menschen rechnet (Röm 7,7–23), vertritt der Jakobusbrief in der Tradition der Weisheit eine optimistischere Anthropologie: Der Mensch hat die Möglichkeit der Versuchung zu widerstehen, kann ethische Vollkommenheit erreichen und wird so von Gott gerechtfertigt (Jak 1,4.12–15; 2,24). Der Jakobusbrief denkt vor allem an das Verhalten innerhalb der Gemeinde und reduziert dadurch die Komplexität ethischer Herausforderungen, denen Menschen in dieser Welt ausgesetzt sind. Nur so gewinnt sein ethischer und anthropologischer Optimismus die 31 Burchard, Jakobusbrief, 131.
Ethik der Tora
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Hebräerbrief und katholische Briefe
nötige Plausibilität. Für die Situation jenseits der Gemeinde findet man angesichts der Verfasstheit von Gott, Welt und Mensch eher bei Paulus angemessene Antworten auf ethische Fragen. Literatur Burchard, Christoph: Der Jakobusbrief, Tübingen 2000 (HNT 15,1). Foster, Robert J.: The Significance of Exemplars for the Interpretation of the Letter of James, Tübingen 2014 (WUNT 2/376). Jeremias, Jörg: Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015. Konradt, Matthias: Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, Göttingen 1998 (StUNT 22). Luther, Susanne: Sprachethik im Neuen Testament. Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief, Tübingen 2015 (WUNT 2/394). Popkes, Wiard: Der Brief des Jakobus, Leipzig 2001 (THKNT 14). Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014.
12.4 Der erste Petrusbrief
Petrustradition
als Fremde
Der erste Petrusbrief beruft sich auf die Lehrautorität des Jüngers Jesu und Apostels, der gegen Ende des 1. Jh. das größte Ansehen erreicht hat: Petrus (1,1). Die Ansichten, die sich in dem Schreiben finden, lassen sich aber nicht einer spezifisch petrinischen Jesustradition zuordnen. Sie sind traditionell paulinisch, knüpfen an den unumstritten echten Paulusbriefen an und rezipieren die paulinische Theologie auf eine Art, die den Pastoralbriefen nahe steht. Das Schreiben thematisiert die Situation der Gemeinden, die verstreut über Kleinasien in einer Minderheitensituation der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen. Sie werden vom Verfasser einerseits traditionell paulinisch als „Auserwählte“ (1,1) angesprochen, andererseits werden sie aber auch metaphorisch als „Fremde“ mit Gaststatus (1,1) oder als Fremde, die auf Dauer mit minderem Recht in einer fremden Gesellschaft leben (gr. paroikos bzw. paroikia; πάροικος, παροικία; 1,17; 2,11), bezeichnet.32 Das Wortfeld „Fremder“ ist aus dem Rechtssystem antiker Gesellschaften übernommen und bezieht sich auf diejenigen Bewohner einer Stadt oder einer Landschaft, die zwar kein Bürgerrecht haben, aber als fremde 32 Goppelt, Der erste Petrusbrief, 79 f.
Der erste Petrusbrief
Freie geduldet sind.33 In der Regel sind diese Paroiken oder Metoiken („Beisassen“) zugewandert oder gehören indigenen Minderheiten an, die in die Rechtsgemeinschaft der Bürger einer Polis oder eines Bezirks (gr. chora; χώρα) nicht aufgenommen worden sind. Die Übertragung der Begrifflichkeit, die ursprünglich eine besondere rechtliche und soziale Situation bezeichnet, auf die Gemeinschaft der Jesusanhänger weist darauf hin, dass diese sich auf eine Weise in einem Gegenüber zur Mehrheitsgesellschaft erfahren, die nicht nur religiöse Implikationen hat, sondern auch als soziale und rechtliche Sonderstellung empfunden wird. Bedeutsam ist zudem, dass die Stellung der Jesusanhänger nicht mehr gegenüber dem Judentum wie sonst in den meisten neutestamentlichen Schriften definiert wird, sondern gegenüber der paganen Mehrheitsgesellschaft (4,3 f.). Dabei fällt auf, dass das Schreiben den paulinischen Begriff „Gemeinde“ vermeidet und die Adressaten mit dem Gottesvolk, d. h. Israel, identifiziert (2,4–10).34 Religionsgeschichtlich gesehen reflektiert der erste Petrusbrief den Übergang von einer religiösen Sondergruppe innerhalb der weiten Grenzen des antiken Judentums ohne auffälliges gesellschaftliches Profil und mit multiplen Zugehörigkeiten ihrer Mitglieder hin zu einer gesellschaftlichen Minderheit, die bereits als eigenständiges Gegenüber, in der Begrifflichkeit der Antike als eigenes Geschlecht (gr. genos; γένος), d. h. als eigene Ethnie, wahrgenommen wurde.35 Das zeigt sich im selbstbewussten Gebrauch der Selbstbezeichnung „Christ“ (4,16), die im Neuen Testament sonst nur noch in Apg 11,26 und 26,28 vorkommt. In der neueren Forschung wird der erste Petrusbrief deswegen vor allem unter sozialwissenschaftlichen Fragestellungen behandelt: Wie definiert er Identität, welche sozialen Funktionen erfüllt diese Identitätskonstruktion und welchen Beitrag leisten die in ihm festgehaltenen Erfahrungen zu den gegenwärtigen Diskussionen um Ethnizität, Rasse und Minderheiten bzw. zur Frage nach der Stellung der christlichen Kirchen in der säkularen Gesellschaft?36
Christen
Der erste Petrusbrief setzt sich mit der Situation der Gemeinden als religiöse Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft auseinander. Er nutzt dazu die Vorstellung von der „Fremdlingschaft“ und entfaltet die Überzeugung, dass die Christen ein eigenständiges „auserwähltes Geschlecht“ und „heiliges Volk“ sind (1Petr 2,9).
33 Zur „schmale(n) alttestamentlich-jüdische(n) Tradition“ des Wortfelds s. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus, 10 u. 34 f. 34 Döring, Gottes Volk, 93–101. 35 Horrell, Ethnic Identity-Construction in 1 Peter, 135–140. 36 Vgl. die Beiträge in: du Toit, Bedrängnis und Identität; Ebner, Der erste Petrusbrief.
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Hebräerbrief und katholische Briefe
paulinische Theologie
Grundstruktur
Leiden Christi
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die skizzierte Situation auf das theologizing/Theologisieren des ersten Petrusbriefs auswirkt. Der Eingangsteil der Schrift (1,3–12) dokumentiert zunächst, dass das Schreiben eine konsolidierte Fassung der paulinischen Theologie vertritt. Die Situation der Adressaten ist durch das Christusgeschehen, seine Passion, Lebenshingabe und Auferstehung, bestimmt. Sie erwarten die „Offenbarung Christi“ und mit dieser die „Rettung“ (gr. soteria; σωτηρία; 1,5.9 f.; 2,2), die von den Propheten für die Gemeinde angekündigt worden ist. Die Gemeinde verlässt sich auf einen Gott, der in der traditionellen Spannung zwischen Barmherzigkeit und machtvoller Majestät dargestellt wird (1,3.5; vgl. 5,5 f.10 f.). Ihre Situation wird in Anlehnung an die paulinische Trias dargestellt (1Kor 13,13; 1Thess 1,3). Ihr „Glaube“, ihre „Hoffnung“ und ihre „Liebe“ zu Christus bestärken sie in der freudigen Erwartung ihrer „Rettung“, der auch die himmlische Welt bereits mit Freuden entgegensieht (1,3–9). Dieser positiven Glaubensüberzeugung steht nun aber die Erfahrung der „Versuchung“ der Gemeinde gegenüber, die im weiteren Verlauf des Briefs näher behandelt werden wird. Als eine erste Bilanz zur Frage der Theologie des ersten Petrusbriefs kann demnach festgehalten werden, dass die Grundstruktur der paulinischen Theologie, ihr Gottesverständnis, ihre Christologie und ihre Eschatologie, beibehalten wird und diese sich nach Meinung des Verfassers angesichts der im ersten Petrusbrief verhandelten Situation der Gemeinde bewährt hat. Die Anrede der Gemeinde als „Auserwählte“ oder die Beschreibung ihrer Situation mit Hilfe der paulinischen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung unterstreichen, dass der Autor mit der Sprach- und Denkwelt des Paulus vertraut ist und sie eigenständig zu vertreten weiß. Zu den besonderen Stärken der theologischen Reflexion des Briefes gehört es, dass er an vielen Stellen seine Ansichten aus einer christologischen Argumentation entwickelt. Die überwiegend heidenchristlichen Gemeindemitglieder (vgl. 1,14.18.21; 4,3 f.) sollen ihre eigenen Bedrängnisse in Beziehung zu den Leiden Christi setzen. Es wird zwar nicht ausdrücklich der Gedanke geäußert, dass die Leiden der Gemeinde am endzeitlichen Geschehen mitwirken wie die des Paulus nach Kol 1,24, aber es wird doch festgehalten, dass die Gemeinde „gemeinschaftlich an den Leiden Christi Anteil“ hat (4,13). Die ethischen Ausführungen zum Gehorsam gegenüber den staatlichen Institutionen (2,13–17) und die gruppenbezogenen Anweisungen an Sklaven, Frauen und Männer (2,18–3,7) werden ebenfalls christologisch begründet (2,21–25): Auch der leidende und geschmähte Christus verzichtete auf Vergeltung. In der Gemeinde sollen sich die Jüngeren den Ältesten unterordnen, um so die Prü-
Der erste Petrusbrief
fungen dieser Zeit bestehen zu können (5,1–11). Die Gemeinde wird aufgefordert, eine altruistische Ethik einzuhalten (3,8–12), die sich deutlich von der Willkür, die unter den nichtjüdischen Völkern zu beobachten sei (4,3), unterscheidet. Die Minderheitssituation der Gemeinde wird erneut christologisch reflektiert. Genau bei diesem Thema geht der Autor dann auch etwas über den Rahmen der paulinischen Christologie hinaus und verwendet ein Motiv, das sonst ohne Parallele ist: Die Gemeinde solle sich in der heidnischen Mehrheitsgesellschaft bewähren, so wie ja auch Christus in das „Gefängnis der Geister“ gegangen sei, um zu predigen. Es ist undeutlich, welche Vorstellungen der Autor hier aufruft.37 Vermutlich ist an eine Interpretation von Gen 6,1–4 zu denken. Die „Geister“ wären dann die gefallenen Göttersöhne. Die Aussage ist theologiegeschichtlich als „Höllenfahrt Christi“ oder descensus ad inferos bedeutsam geworden und bis ins Apostolikum gelangt. Der erste Petrusbrief belegt die Vitalität paulinischer Theologiebildung. Ihre Grundstrukturen, insbesondere ihre Christologie und Soteriologie, bewähren sich angesichts der Herausforderungen, denen sich die kleinasiatischen Gemeinden ausgesetzt sehen. Gemeinsam mit den Deuteropaulinen und den Pastoralbriefen zeigt der erste Petrusbrief, dass man mit Paulus situationsbezogene und kreative Theologie treiben kann, die sich auch in der „Fremde“ bewährt. Literatur Döring, Lutz: Gottes Volk. Die Adressaten als „Israel“ im Ersten Petrusbrief, in: David S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes, Berlin 2013 (BZNW 200), 81–113. du Toit, David S. (Hg.): Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes, Berlin 2013 (BZNW 200). Ebner, Martin/Häfner, Gerd/Huber, Konrad (Hg.): Der erste Petrusbrief. Frühchristliche Identität im Wandel, Freiburg 2015 (QD 269). Feldmeier, Reinhard: Der erste Brief des Petrus, Leipzig 2005 (THKNT 15,1). Goppelt, Leonhard: Der erste Petrusbrief, Göttingen 1978 (KEK 12,1). Horrell, David G.: „Race“, „Nation“, „People“. Ethnic Identity-Construction in 1 Peter 2:9, in: NTS 58 (2011), 123–143.
37 Feldmeier, Der erste Brief des Petrus, 135–137.
Ordnung der Gemeinde
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Hebräerbrief und katholische Briefe
12.5 Die drei Johannesbriefe
wir – ihr
Evangelium und Briefe
Konflikte
Dem ersten Johannesbrief fehlen die Gattungsmerkmale eines Briefes wie Praeskript und Grüße. Er macht keine Angaben zum Verfasser und zu den Adressaten. Es spricht aus ihm aber doch ein „Wir“, das sich wie in einem Brief an Adressaten in der 2. Pers. Pl. wendet („ihr“). Die hinter dem „Wir“ stehende Gruppe behauptet von sich, das „Leben“ (gr. zoe; ζωή), d. h. den Sohn Gottes Jesus Christus, gesehen, gehört und berührt zu haben (1,1–3). Der Absender des zweiten und dritten Johannesbriefs stellt sich als „Ältester“ (gr. presbyteros; πρεσβύτερος) vor, eine Bezeichnung, die hier als Ehrenname zu verstehen ist und nicht als Bezeichnung eines Gemeindeamtes wie etwa in Apg 15,22. Er richtet sein Schreiben an eine geschwisterlich verbundene Gemeinde (2Joh 1.13) und an einen nicht weiter bekannten „Gaius“, einen „geliebten Freund“ (3Joh 1 f.). Die Johannesbriefe stehen in einer engen Verbindung zu den Kreisen, aus denen das Johannesevangelium hervorgegangen ist. Auffällige textliche Übereinstimmungen (z. B. 1Joh 1,1–5 zu Joh 1,1–18), gemeinsame Schlüsselbegriffe (z. B. Liebe, Wahrheit) und die Ethik der Geschwisterliebe verweisen darauf, dass das Evangelium und die Briefe einem johanneischen Kreis angehören, den manche auch etwas konkreter als johanneische Schule mit Sitz in Ephesus bestimmen.38 Die Entstehung der Johannesbriefe ist womöglich vor der Endredaktion des Evangeliums und parallel zu seinem Entstehungsprozess zu datieren. Kügler schlägt die Reihenfolge vor: „vorredaktionelle Fassung des JohEv – 2Joh/3Joh – 1Joh – Endfassung des JohEv“, wobei er der Endredaktion die Einfügung der Lieblingsjüngertexte und des Abschlusskapitels (Joh 21) zuweist.39 Schnelle nennt als Entstehungsort der johanneischen Schriften Ephesus und sieht Abfolge und Entstehungszeit der Briefe so: 2Joh – 3Joh (kurz nach 90 n. Chr.) – 1Joh (ca. 95 n. Chr.) – JohEv (100–110 n. Chr.): „Die Briefe markieren literarisch und theologisch den Ausgangspunkt der johanneischen Theologiebildung, die im Johannesevangelium mit seiner profilierten Christologie ihren Höhepunkt erreicht.“40 Beutler stimmt bezüglich Entstehungsort mit diesen Positionen überein, hält aber an der Abfassung analog zur kanonischen Abfolge fest.41 Theologisch ist das Johannesevangelium tatsächlich die reifere und geschlossenere Darstellung. Es musste allerdings auch nicht in konkreten Konflikten Position beziehen. Die Briefe hingegen befassten sich jeweils 38 Schnelle, Johannesbriefe, 188–196. 39 Kügler, Der erste Johannesbrief, 536 u. 550. 40 Schnelle, Johannesbriefe, 9–19, Zitat 19. 41 Beutler, Johannesbriefe, 25–33 u. 144 f.
Die drei Johannesbriefe
mit Gegnern, die in der Christologie, der Ethik und der Anthropologie abweichende Vorstellungen vertraten. Daraus erklären sich die Unterschiede zwischen Evangelium und Briefen, etwa die weniger zentrale Stellung der Christologie in den Johannesbriefen, hinreichend, sodass man nicht zwingend auf eine frühere Abfassung schließen muss. Im Folgenden werden die drei Schreiben gemeinsam behandelt. Die Johannesbriefe beruhen auf der Unterscheidung zwischen einer legitimen, ja einzig akzeptablen Sichtweise des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch und anderen Sichtweisen, die ihnen alle als absolut illegitim gelten. Der Mensch ist dadurch bestimmt, ob er der einen („aus Gott“) oder anderen („aus der Welt“) zugehört (vgl. 1Joh 3,9 f.; 4,5 f. u. ö.; 3Joh 11). Dieses Gegenüber wird, wie im Evangelium, durch zwei sich binär gegenüberstehende Begriffsreihen entfaltet: Entweder ist der Mensch aus Gott oder vom Teufel (1Joh 3,8 f.), in der Wahrheit oder in der Lüge, in der Liebe oder im Hass, folgt den Geboten oder vollzieht Böses, usw. Als grundsätzliche weltanschauliche Ablehnung der Vielfalt und Diversität von Lebensweisen und Kulturen wäre eine solche kontrastierende Sichtweise nicht zu verantworten. Sie ist aber dann nachvollziehbar, wenn man sie auf ihren begrenzten Kommunikationszusammenhang bezieht.42 Die Johannesbriefe führen Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinschaft der Christusanhänger über die Fragen, wer Jesus ist und welche Bedeutung er hat, welches Verhalten seine Anhänger an den Tag legen sollen und unter welchen Voraussetzungen der Mensch überhaupt dazu in der Lage ist, Christus in dieser Weise zu erkennen und seine Mitmenschen zu lieben. Der in der johanneischen Theologie angelegte Dualismus, der zum Determinismus neigt, ist demnach konsequent auf die Fragestellungen zu beziehen, auf die er eine Antwort geben möchte: Was sollen die Geschwister, die sich in der Gemeinschaft mit Gott wähnen, glauben und tun, um in dieser Gemeinschaft zu „bleiben“ (1Joh 2,24; 4,12 f.; 2Joh 9)? Dieses Anliegen des „Bleibens“ wird vom Johannesevangelium ebenfalls ausführlich behandelt.43 Ausgangspunkt der johanneischen Reflexionen ist die grundlegende Beziehung zwischen Vater und Sohn, die die Qualität der „Liebe“ (gr. agape; ἀγάπη) hat (1Joh 4,15 f.). An die Sendung des Sohnes vom Vater zu glauben, heißt für den ersten Johannesbrief die Inkarnation, die irdische Existenz Jesu bis zu seinem Kreuzestod als Lebenshingabe für die Sünden der Menschen realistisch aufzufassen. Daraus resultiert zugleich der theologisch wichtige Gedanke, dass die Welt als Schöpfung Gottes in all ihrer Zeitlichkeit und Begrenztheit in den Heils42 Frey, Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, 477. 43 S. o. 349 („Bleiben“ in Joh 15).
Gott oder Welt
agape/Liebe
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Hebräerbrief und katholische Briefe
willen des Vaters miteinbezogen ist, obwohl sie, die Welt, nach der Meinung des johanneischen Kreises beständig die Glaubenden von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit Gott entfremden will. Wer sich dieser Entfremdung widersetzt und in „Wahrheit“ und „Liebe“ bleibt, der gehört zu den „Kindern Gottes“ und nicht zu den „Kindern des Teufels“ (1Joh 3,1 f.10). Die polemische Rhetorik hat einerseits die Funktion, Repräsentanten abweichender Ansichten auszugrenzen, und trägt andererseits zur Ausbildung der Identität einer Gruppe bei, die im religionswissenschaftlichen Sinn als Sekte zu bestimmen ist.44 Die innere Dynamik der Sendung vom Vater ist die Liebe, die überhaupt eine zentrale Stellung einnimmt (1Joh 3,16; 4,7–16): 1Joh 4,9: Darin ist die Liebe Gottes unter uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.
Liebesgebot
Diese Liebe, d. h. die wechselseitige Bevorzugung, soll auch unter den Kindern Gottes, den Geschwistern in der Gemeinde, gelten. Sie ist Kennzeichen der Gemeinde und zugleich Zeichen für den richtigen Glauben im Sinne des johanneischen Kreises (1Joh 3,14 f.). Die tätige Liebe bekommt eine entscheidende Bedeutung für das Sein oder Nichtsein von Gemeinde als Gemeinschaft mit Gott: 1Joh 4,20 f.: Wenn einer sagt: „Ich liebe Gott“, und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner. Denn, wer seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, kann Gott, den er nicht sieht, nicht lieben. (21) Dieses Gebot haben wir von ihm, dass derjenige, der Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll.
Die Vertiefung des Liebesgedankens als die prägende Eigenschaft der Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen Gott und den Kindern Gottes sowie der Kinder Gottes als Geschwister untereinander ist der theologisch gewichtigste Gedanke der johanneischen Schule.45 Diese Vertiefung des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in der inneren Qualität der wechselseitigen Beziehung, die als uneingeschränkte wechselseitige Bevorzugung und tätige Hingabe vorgestellt wird, ist im Gebot der Feindesliebe Jesu (Q 6,27–30), in der paulinischen Soteriologie (Röm 8,31–39) und im lukanischen Wortschatz des Heils (z. B. Lk 19,9) präsent, aber nur bei Johannes in dieser Weise in der Relationalität Gottes verankert und zum Ausdruck gebracht. 44 S. o. 71 (Religiöse Sondergruppen im Judentum); vgl. Rusam, Gemeinschaft der Kinder Gottes, 192–199 u. 228–232. 45 Schmid, Gegner im 1. Johannesbrief?, 242–254.
Literatur
Die Gemeinschaft Gottes, die Gemeinde, ist offen für jeden, der diese Sichtweise teilt. Die innere Struktur dieser Gemeinde kennt nur Geschwister und Freunde, keine Hierarchien. Auch der „Älteste“, der als der Verfasser der zwei kurzen Johannesbriefe auftritt (2Joh 1; 3Joh 1), ist kein Herr über die Gemeinde. Ämter und Hierarchien, Haustafeln und statusbezogene Ethiken sowie Mahnungen an Frauen, Kinder und Sklaven finden sich nicht, nur die eine Forderung der Geschwisterliebe als existentielle Realisierung der Gottesliebe. In den johanneischen Reflexionen, besonders in den Briefen, wird dann aber auch die Notwendigkeit empfunden, sich von jedem klar abzugrenzen, der diese innere Qualität der Relationalität Gottes infrage stellt. Es werden Jesusanhänger genannt, die zumindest drei Bekenntnisaussagen, die dem johanneischen Kreis wichtig sind, abstreiten: a) dass Jesus der Messias ist, b) dass Gott und Jesus wie Vater und Sohn zueinander stehen, und c) dass der Sohn „im Fleisch“, d. h. unter vollen Bedingungen des Menschseins, gekommen sei (1Joh 2,22 f.4,2 f.; 2Joh 7). Diejenigen, die diese Anfragen stellen, gelten den Johannesbriefen als „Antichriste“, d. h. als endzeitliche Widersacher des Heilswillens Gottes (1Joh 2,18.22; 4,3). Es spricht einiges dafür, dass bei diesen Gegnern Vorstellungen, die als Doketismus bezeichnet werden, vorliegen. Diese Antichristen sind der Ansicht, dass das Göttliche keine Verbindung mit dem materiell Irdischen eingeht, sodass Christus nicht „im Fleisch“ gekommen sein kann.46 Die weiteren Anschuldigungen des ersten Johannesbriefs, nämlich der Mangel an tätiger Liebe, die Freiheit, Sünden zu begehen, und die Ablehnung sakramentaler Praktiken, sind wohl doch eher Verzerrungen in polemischer Absicht und geben kaum die Gegnerposition wieder (1Joh 2,18–27; vgl. 2Joh 11; 3Joh 10).47 Literatur Beutler, Johannes: Die Johannesbriefe, Regensburg 2000 (RNT). Frey, Jörg: Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: ders. (Hg.), Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, Tübingen 2013 (WUNT307), 409–482. Kügler, Joachim: Der erste Johannesbrief, in: Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 530–542. Rusam, Dietrich: Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Gotteskindschaft und die Gemeinden der johanneischen Briefe, Stuttgart 1993 (BWANT 133). 46 Uebele, Viele Verführer, 147. 47 Schmid, Gegner im 1. Johannesbrief?, 282.
Gemeinde
Bekenntnisse
Antichrist
383
384
Hebräerbrief und katholische Briefe
Schmid, Hansjörg: Gegner im 1. Johannesbrief? Zu Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem, Stuttgart 2002 (BWANT 159, F. 8,19). Schnelle, Udo: Die Johannesbriefe, Leipzig 2010 (THKNT 17). Uebele, Wolfram: „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von Antiochien und in den Johannesbriefen, Stuttgart/Berlin/Köln 2001 (BWANT 151, F. 8,11).
12.6 Zweiter Petrusbrief und Judasbrief
konventionelle Theologie
Parusie und Gericht
Der zweite Petrusbrief ist das Produkt einer fortgeschrittenen Traditionsentwicklung. Er nimmt Bezug auf den 1Petr (3,1), kennt schon so etwas wie eine Paulusbriefsammlung sowie eine entwickelte und kontroverse Paulusrezeption und stellt schließlich Petrus und den von ihm „geliebten Bruder Paulus“ gemeinsam als Garanten der kirchlichen Tradition dar (3,15 f.).48 Das pseudonyme Schreiben gehört demnach in die erste Hälfte des 2. Jh. (ca. 120 n. Chr.). Diese Stellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, die durch die Verbindung der großen Traditionslinien und -träger bestimmt ist, bringt es mit sich, dass im zweiten Petrusbrief im Wesentlichen der katholisch-orthodoxe Glaube zu fassen ist, wie er sich dann in der Traditionsentwicklung zur regula fidei (apostolische Glaubensregel) durchsetzen wird.49 Dies gilt ähnlich für den Judasbrief, sodass sich die folgenden Ausführungen auf die Besonderheiten dieser Schriften beschränken können. Im zweiten Petrusbrief umfasst das vorausgesetzte Glaubensverständnis die Wiederkunft Christi als rettender Herrscher und Richter, der im Gericht die Gerechten belohnen und die Übeltäter bestrafen wird. Christus ist als majestätischer „Retter“ (gr. soter; σωτήρ; 1,1.11; 2,20; 3,2.18), ja als „Gott und Retter“ (1,1) vorgestellt. Der richtende Christus nimmt einen zentralen Platz ein, sodass es einleuchtet, dass diejenigen, die seine Wiederkunft bestreiten, an den Grundüberzeugungen des Autors rütteln. Genau dies geschieht, wenn einige die Parole in Umlauf bringen: 2Petr 3,4: Wo bleibt die Verheißung seiner Wiederkunft?
Dem Autor gelingt es nun aber nicht, diese nachvollziehbare Frage sachlich aufzugreifen und zu klären. Vielmehr attackiert er diejenigen, die diese Thematik aufwerfen. Sie stammen selbst aus der Gemeinde (2,1). 48 S. o. 179 (Wortlaut von 2Petr 3,15 f.). 49 Irenäus Haer. 1,9,4; 2,27,1: regula veritatis, Richtschnur der Wahrheit.
Literatur
Ihre Infragestellung der Parusie macht sie aber in den Augen des Autors zu Irrlehrern, denen er mit schärfsten sprachlichen Mitteln das Gericht androht (2,1–3,7). Dazu greift er auf eine umfangreiche Passage des Judasbriefs zurück, in der Gottes Strafhandeln, das sogar sündige Engel betroffen hat (2,4), und das Wirken von Engeln und Himmelsmächten als strafende und vernichtende Kräfte seit der Sintflut dargestellt werden (2Petr 2,1–22, vgl. Jud 4–13). Diese Unheils- und Vernichtungsgenealogie wird auf die Bestreiter der Parusie ausgerichtet, um allen Lesern deutlich zu machen, dass diese Irrlehrer mit den Gottlosen am Tag des Gerichts zugrunde gehen werden. Die vollständige Abwertung und Dämonisierung der Andersdenkenden, die sich in den üblen Polemiken findet (bes. 2,12–14), ist nur schwer zu ertragen. Dennoch sollte auch die Stärke des Schreibens gewürdigt werden, die im kenntnisreichen und kreativen Umgang mit alttestamentlichen und jüdischen Traditionen liegt. Der Autor verankert seine Darlegungen in der Tiefe der biblischen Tradition. Die Parusie Christi könnte so als der folgerichtige Abschluss der mit der Schöpfung beginnenden Heilsgeschichte dargestellt werden. Allerdings vermag der Autor die Heilsgeschichte nur in ihrer dunklen Gestalt als beständiges Strafhandeln Gottes und der himmlischen Mächte an den Parusieleugnern zu formulieren. Die so entwickelte biblische Argumentationslinie wird ausschließlich als Drohung mit Strafe und zur Bekämpfung des Gegners eingesetzt, geradezu missbraucht. Der Judasbrief lieferte dem zweiten Petrusbrief den alttestamentlich-jüdischen heilsgeschichtlichen Rahmen. Auch dieses Schreiben leidet unter der teilweise maßlosen Polemik gegen Irrlehrer. Ihm gelingt es aber, die Traditionsbezüge deutlicher als der zweite Petrusbrief, wenn auch in der Reihenfolge eher ungeordnet, zur Geltung kommen zu lassen. Auch ihm dienen sie dazu, die Gegner zu diffamieren. Gleichzeitig bietet er aber auch eine Art Bibelkunde göttlichen Strafhandelns, die von den gefallenen Engeln über Adam, Kain, Henoch, Sodom und Gomorrha, den Exodus, Korach, Bileam bis zu apokryphen Traditionen, wie dem Streit zwischen dem Teufel und dem Erzengel Michael um den Leichnam des Moses, oder einem Zitat aus dem apokryphen Henochbuch (1Hen 1,9 f.), reicht. Wir wissen leider nicht, ob die Gegner des Judas- und des zweiten Petrusbriefs mit einer ähnlichen alttestamentlich-frühjüdischen Argumentationslinie aufwarten konnten. Jedenfalls scheint sich der theologische Diskurs, aus dem diese Briefe stammen, in der polemischen Konstruktion biblischer Strafnarrative zu erschöpfen. In den Pastoralbriefen werden die kontroversen Lehren zumindest in Stichworten charakterisiert: Sie beruhen auf „Geschlechtsregistern“, „Lehren von Dämonen“ und „jüdischen Geschichten“ (1Tim 1,4.6;
385
Irrlehrer
Polemik
Schrifthermeneutik
386
Hebräerbrief und katholische Briefe
biblische Gegenerzählung
2Tim 1,14; 3,9). Vielleicht waren die Autoren des zweiten Petrus- und des Judasbriefes gleichsam in einem Traditionswettstreit genötigt, eine biblische Gegenerzählung zu präsentieren. Man kann jedenfalls so viel sagen, dass die Autoren der beiden Schreiben das Ziel verfolgten, ihre Leser durch kreative Inanspruchnahmen der alttestamentlich-jüdischen Tradition so zu beeindrucken, dass sie an ihren herkömmlichen Glaubensüberzeugungen festhalten würden. Literatur Blumenthal, Christian: Prophetie und Gericht. Der Judasbrief als Zeugnis urchristlicher Prophetie, Göttingen 2008 (BBB 156). Frey, Jörg: Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus, Leipzig 2015 (THKNT 15,2). Heiligenthal, Roman: Zwischen Henoch und Paulus: Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes, Tübingen 1992 (TANZ 6). Reese, Ruth Anne: Writing Jude. The Reader, the Text, and the Author in Con�structs of Power and Desire, Leiden 2000.
13 Offenbarung des Johannes
Abb. 13: Albrecht Dürer, Michaels Kampf mit dem Drachen, 1498.
388
Offenbarung des Johannes
13.1 Einführung
Kampfszene
Luther
Im Jahr 1498 stellte Albrecht Dürer seinen Zyklus aus 14 Holzschnitten zur Apokalypse unter dem Titel „heimlich offenbarung iohannis“ zusammen. Unter ihnen ragt die Darstellung des Kampfes zwischen dem Erzengel Michael und dem Drachen nach Apk 12,7–12 heraus. Dürer entschied sich dafür, die dramatische himmlische Kampfszene mit einem friedlich, geradezu idyllisch gezeichneten irdischen Landschaftsbild zu kontrastieren. Den Gedanken der Johannesoffenbarung, dass gerade diese Erde ein Ort des Unglücks, des Martyriums und vor allem des Unrechts sei, wollte er nicht darstellen. Stattdessen führte er die visuelle Kommunikation, die ihm diese Schrift Vers für Vers anbot, in eine andere Richtung künstlerisch aus: Die friedvolle und unter dem Schutz der päpstlichen Kirche stehende Welt steht einer leidenschaftlich kämpfenden himmlischen Welt gegenüber. Während Dürer die Visualität der Johannesoffenbarung künstlerisch frei aufgreift, äußert sich Martin Luther unter dem theologischen Gesichtspunkt der Klarheit der Schrift (lat. claritas scripturae) kritisch zur visuellen Kommunikation, die dieses biblische Buch anbietet. In seiner Vorrede zur Johannesoffenbarung schreibt er: „Die Apostel gehen nicht mit Gesichten um, sondern weissagen mit klaren und dürren Worten, wie es Petrus, Paulus, Christus im Evangelium auch tun. Denn es gebührt dem apostolischen Amt, klar verständlich und ohne Bild oder Gesicht von Christus und seinem Tun zu reden.“1
Zusagen Gottes
Luthers Überzeugung, dass die Heilige Schrift in ihren zentralen Anliegen klar und nur bei Nebenthemen schwer verständlich sei, führte ihn zu dem Urteil, dass die in der Johannesoffenbarung formulierten Ansichten über die zukünftige Stadt Gottes eher in den Bereich der Nebenthemen gehörten. Allerdings setzte sich diese Einschätzung Luthers nicht bei allen Theologen durch. Die Johannesoffenbarung wurde auch nach der Reformation immer wieder von denjenigen in Anspruch genommen, die eine Kluft zwischen dem bedrückenden Zustand der Welt und den uneingelösten Verheißungen Gottes empfanden. So berief sich Martin Luther King in seiner Rede „I have a dream“ vom 28. August 1963 in Washington auf die Johannesoffenbarung. Seine Vision einer gerechten, vom Rassismus befreiten Gesellschaft formulierte er in Anknüpfung an die Vision des endzeitlichen Jerusalems. Die durch die Bilder der Offenbarung angeregten Schilderungen einer befreiten Welt öffneten zugleich die Augen für die 1 WA DB 7, 404.
Einführung
Unterdrückung in der Gegenwart und verwiesen zudem darauf, dass der Kampf gegen die Unterdrücker unausweichlich sei. Die Johannesoffenbarung steht in der Tradition der jüdischen Apokalyptik, die ab dem 2. vorchistlichen Jahrhundert entstanden ist. Die Visionen des Danielbuchs (Dan 7–12), der äthiopische Henoch, der syrische Baruch, das Jubiläenbuch, der vierte Esra und schließlich auch die Johannesoffenbarung fragen: Wann werden die Verheißungen Gottes für Israel endlich Wirklichkeit? Die jüdische Apokalyptik führt eine theologische Auseinandersetzung mit dem Ist-Zustand der Welt im Lichte der Zusagen Gottes an sein Volk. Sie verknüpft demnach Theologie und politische Analyse auf das engste. Dieser intellektuelle Kern der Apokalyptik setzt die Wirkkräfte frei, die dazu führen, dass eine Vielzahl literarischer Gattungen und biblischer Traditionen im Sog dieser geistigen und politischen Denkbewegung umgestaltet und kreativ neu konzipiert werden. Die prophetischen Verheißungen für das geschichtliche Israel und die weisheitlichen Ansichten über die Beschaffenheit der Welt werden so transformiert („eschatologisiert“), dass sie zu Ankündigungen für eine Wirklichkeit jenseits der Geschichte und jenseits der vorfindlichen Schöpfung werden, d. h. für eine neue Wirklichkeit, die noch von Gott und seinen transzendenten Beauftragten, z. B. dem Messias, zu errichten ist. Die Apokalyptik ist demnach vor allem ein Vorgang der Sprachwerdung und des Zugehörbringens des Gegensatzes zwischen dem Zustand der Welt und den Zusagen Gottes für diese Welt. Diese neue Stimme in der biblischen Überlieferung ist bewegt von der inneren Dramatik der biblischen Narration. Sie thematisiert die Spannung, die zwischen der guten Schöpfung und der paradiesischen Urzeit einerseits und den Gewaltverhältnissen in der Gegenwart andererseits besteht. Diese Gegenwart entfernt sich immer weiter von den Zusagen Gottes für Israel. Die Apokalyptik ist eine eminent theologische Denkbewegung, die danach fragt, warum Gott nicht eingreift, wenn diejenigen, die seine Gebote beachten, dennoch in der Welt geschmäht und missachtet werden. Sie fragt auch, wann er eingreifen wird und auf welche Weise er es tun wird, um endlich seine Zusagen an die Gerechten und Treuen im Gottesvolk zu verwirklichen. Die Apokalyptik hat für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen spezifische literarische Formen und Vorstellungszusammenhänge ausgebildet, die man in ihren Grundstrukturen kennen muss, um bei der Lektüre apokalyptischer Texte nicht die Orientierung zu verlieren. Zu deren Verständnis ist eine religionswissenschaftliche Definition, wie die von Collins, hilfreich, die auf die apokalyptischen Sprachbilder verzichtet und statt von „Gott“ von einem „jenseitigen Wesen“ und statt vom „Himmel“ von einer „supranaturalen Welt“ spricht:
389
jüdische Apokalyptik
politische Analyse
Schöpfung – Endzeit
390
Offenbarung des Johannes
„Eine Apokalypse ist eine Gattung der Offenbarungsliteratur mit einem narrativen Rahmen, innerhalb dessen Offenbarung von einem jenseitigen Wesen an einen Menschen mitgeteilt wird, indem eine transzendente Realität eröffnet wird, die sowohl zeitlich ist, insofern sie endzeitliches Heil betrachtet, als auch räumlich, insofern sie eine andere, supranaturale Welt miteinbezieht. Sie möchte die gegenwärtigen irdischen Zustände im Licht einer supranaturalen Welt und im Licht der Zukunft interpretieren; sie möchte sowohl das Selbstverständnis als auch das Verhalten der Hörerschaft mittels göttlicher Autorität beeinflussen.“2
Umschwung
himmlische Figuren
apokalyptisches Wissen
Collins stellt zu Recht die Wirkungen der Schilderung der supranaturalen Welt heraus: Diese stellt die irdischen Verhältnisse in ein neues Licht und möchte das Selbstverständnis und das Verhalten der Adressaten beeinflussen. Apokalyptik ist eine Form religiöser Kommunikation, die einen Umschwung von Passivität und Verzweiflung hin zu aktiver Lebensgestaltung und Selbstbehauptung bewirken möchte. Dies geschieht in den jüdischen Apokalypsen durch die Anknüpfung an die prophetische Tradition Israels, besonders an die Berufungsvision in Jes 6, das Ezechielbuch, Sach 9–14, und Jes 56–66. Die jüdische Apokalyptik geht davon aus, dass in der supranaturalen Welt („im Himmel“) die zukünftigen irdischen Zustände bereits verwirklicht sind. Die Schilderungen der transzendenten Realität kommunizieren demnach verschlüsselt das, was mit Sicherheit für die Erde zu erwarten ist. Die Apokalyptik bedient sich dabei einer mythologischen Bildersprache. In ihr treten Figuren in wechselnden Gestalten auf, die in der biblischen Tradition bestenfalls am Rand vorkommen, wie etwa der Menschensohngleiche, die Schlange, der Satan, die Erzengel oder der Drache. In der Apokalyptik aber werden sie zu zentralen Handlungsträgern. Im Neuen Testament sind neben der Johannesoffenbarung besonders Texte, die das endzeitliche Geschehen mit Totenauferstehung, Gericht und Erscheinen des Richters und Retters schildern, von der Apokalyptik beeinflusst, wie Mk 13; Lk 17,22–37; 1Thess 4,13–17 oder 1Kor 15,12–58. Die Ereignisfolge wird durch schematische Ordnungen und Zahlenspekulationen als festgelegt und determiniert dargestellt. Die Johannesoffenbarung benutzt dazu besonders häufig die symbolischen Zahlen Sieben (ca. 54 Mal gr. hepta; ἑπτά) und Zwölf (ca. 23 Mal gr. dodeka; δώδεκα). Der Zugang zum apokalyptischen Wissen wird einer besonderen Figur der Vorzeit, z. B. Henoch, Esra oder Baruch, bekannt gemacht und oft durch einen himmlischen Interpreten (lat. angelus interpres) erläutert. Die apokalyptische Schrift schildert dann in der Regel zunächst aus der Perspektive eben dieser Figur zukünftige, aber aus der Perspektive der Leser bereits ver2 Collins, Cosmology and Eschatology, 7.
Einführung
gangene geschichtliche Ereignisse als Prophezeiungen (lat. vaticinium ex eventu). Am Anfang stehen demnach Voraussagen, die die Figur der Vorzeit über die für die Rezipienten z. B. des 1. Jh. n. Chr. bereits vergangene Geschichte zutreffend formuliert hat. Der Leser wird von der Zuverlässigkeit der Visionen, die bis in seine Gegenwart führen, beeindruckt und entwickelt die Erwartung, dass auch die prophezeiten Ereignisse, die für ihn selbst noch in der Zukunft liegen, sicher eintreten werden. Ab dem 2. Jh. v. Chr. werden Texte verfasst, die mit Schilderungen von Ereignissen in einer supranaturalen Welt die Bewertung der irdischen Gegenwart beeinflussen wollen. Die jüdische Apokalyptik berichtet von der himmlischen Welt, in deren Mitte sich der Thron Gottes befindet, um die in der Gegenwart Israels noch verborgenen, für die Zukunft aber sicher zu erwartenden Wirkkräfte offen zu legen. Der jüdischen Apokalyptik liegt die theologische Überzeugung zugrunde, dass die Zusagen Gottes an Israel angesichts des katastrophalen Zustands der Welt nur durch ein erneutes Eingreifen Gottes in die Geschichte und in die Schöpfung verwirklicht werden können.
In dieser Tradition der Apokalyptik steht auch die Offenbarung des Johannes, die sich selbst in 1,1 ausdrücklich als „Offenbarung“ (gr. apokalypsis; ἀποκάλυψις) bezeichnet: Apk 1,1: Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, um seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen muss, und die er mitgeteilt hat, indem er sie durch seinen Engel seinem Knecht Johannes gesandt hat.
Anders aber als in der apokalyptischen Tradition wird die Schau der himmlischen Geschehnisse nicht auf eine Figur der Vorzeit zurückgeführt, sondern auf eine konkrete historische Person. Die Identität dieses Johannes wurde auf verschiedene Personen des frühen Christentums zurückgeführt, die mit diesem Namen in Verbindung gebracht wurden, etwa den Lieblingsjünger und Autor des Johannesevangeliums, den Jünger Jesu und Sohn des Zebedäus oder den Presbyter aus Ephesus.3 Allerdings kann keine dieser Identifikationen insgesamt überzeugen. Trotz einer gewissen sprachlichen Nähe zum Johannesevangelium und den Johannesbriefen unterscheidet sich die Offenbarung des Johannes in der Christologie und in den Zeitvorstellungen, d. h. in ihrer eindeutig futurischen Eschatologie, grundlegend von diesen Schriften. Für den Zebedaiden spricht, dass einige Stoffe und semitisch geprägte Wen3 Lichtenberger, Apokalypse, 47 f.
Verfasser
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Offenbarung des Johannes
Anpassungsdruck
Brief
dungen gut zu einer judäisch-galiläischen Herkunft des Autors passen würden. Die außerordentlich detaillierte und differenzierte Aufnahme alttestamentlicher Texte und deren apokalyptischer Interpretationstraditionen weist darauf hin, dass der Autor eine Schulung in diesen Texten und deren Auslegung erfahren hat. Satake sieht deswegen in Johannes einen ausgebildeten „jüdischen Apokalyptiker“ aus Palästina, der sich erst nach seiner Flucht nach Kleinasien den christlichen Gemeinden angeschlossen hat.4 Allerdings kann die Kenntnis der aramäischen und hebräischen religiösen Schriften des Judentums und ihrer apokalyptischen Fortschreibungen auch über die Diasporasynagogen Kleinasiens erfolgt sein, wie etwa die sibyllinischen Orakel belegen.5 Die Polemiken in den Sendschreiben nach Smyrna und Philadelphia gegen diejenigen, die „sich Juden nennen und es nicht sind“ (Apk 2,9; 3,9), sind nur vor dem Hintergrund einer gewissen Nähe zum kleinasiatischen Judentum erklärlich. So muss der Autor zwar eine bekannte Figur des kleinasiatischen Christentums gewesen sein, da er so lapidar auf seinen Namen verweist, aber das Fehlen eines Titels wie „Jünger“, „Apostel“ oder „Presbyter“ steht einer weiteren Identifikation entgegen. Die Offenbarung, die der „Knecht Johannes“ und „Bruder“ empfangen hat, ereignete sich nach Apk 1,9 auf der Insel Patmos, ca. 75 km von Ephesus entfernt.6 Die Aussage, Johannes sei „Mitteilhaber an der Bedrängnis“, bringt zunächst zum Ausdruck, wie er seine Lage und die der von ihm genannten sieben kleinasiatischen Gemeinden einschätzt. Die Gemeinden stehen unter dem Anpassungsdruck ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Umgebung und empfinden diesen als „Bedrängnis“ (gr. thlipsis; θλῖψις). Die ältere Forschung ging aufgrund der Erwähnung der „Bedrängnis“ und der Trennung des Autors von den Gemeinden des Festlandes davon aus, dass Johannes auf die Insel verbannt worden sei. Da es sich bei der Verbannung in römischer Zeit allerdings um eine Strafe handelte, die der Oberschicht vorbehalten war, ist eher mit einer selbstorganisierten Flucht oder einem Rückzug auf die Insel zu rechnen. Von dort sendet Johannes nun die empfangene Offenbarung in Form eines Briefes, wie die Anlehnung an das paulinische Briefformular mit dem Signalwort „Gnade“ (gr. charis; χάρις) in 1,4 und 22,21 verdeutlicht, an die kleinasiatischen Gemeinden.7 Die Gattungsbezeichnungen als Brief, Briefrolle, Offenbarungsbrief oder 4 Satake, Offenbarung des Johannes, 34; Ähnlich Aune, Revelation, L: „a Palestinian Jew“. 5 Sibyll. Orakel 3, 350–355. 6 S. Abb. 6, 152: Städte und Regionen Kleinasiens im 1. Jh. Auf der Karte sind auch die Insel Patmos und die sieben Städte der Apokalypse (Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodikeia) eingetragen. 7 Holtz, Offenbarung des Johannes, 11 f.; Karrer, Johannesoffenbarung als Brief, 282–284.
Einführung
apokalyptisches Rundschreiben erschließen zwar nicht die Struktur der Schrift, da diese letztlich insgesamt nicht als Brief formuliert ist, sie verweisen aber immerhin auf die Lesererwartungen, die der Autor auslösen möchte. Die Johannesoffenbarung ist eben keine gelehrte uroder vorzeitliche Offenbarungsschrift wie die Henoch- oder Esraapokalypse, sondern eine aktuelle Information über die himmlischen und irdischen Verhältnisse und über die umstürzenden Veränderungen, die „in Kürze“ geschehen werden (1,1; 22,7). Sie steht in dieser Hinsicht der biblischen Prophetie nahe, die aus der Analyse der Gegenwart Schlüsse auf das zukünftige Handeln Gottes zieht und diese in Form einer prophetischen Gottesrede über das, was bald geschehen wird, mitteilt. Die Adressaten sind zunächst in jenen sieben kleinasiatischen Gemeinden zu suchen, die in den Sendschreiben genannt werden (2,1–3,22): Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodikeia. Die Siebenzahl ist eher symbolisch zu verstehen und soll die Gesamtheit der Gemeinden Kleinasiens umschreiben. Demnach ist die Schrift z. B. nicht nur an Laodikeia, sondern auch an die benachbarten Gemeinden des Lykostals, namentlich an Kolossai und Hierapolis gerichtet gewesen.
Gemeinden Kleinasiens
Die Johannesoffenbarung steht zwar in apokalyptischer Tradition, weicht aber aufgrund des Briefcharakters und der realen Verfasserangabe auch signifkant von dieser ab. Sie ist eine aktuelle Stellungnahme eines geschulten Theologen und Schriftinterpreten zur Situation der Gemeinden Kleinasiens, in der deren Bedrängnisse als befristet und das Eingreifen Christi als sicher dargestellt werden.
Die Abfassungszeit wird aufgrund einer Notiz des Irenäus am ehesten in die letzten Regierungsjahre Domitians zu datieren sein, d. h. um 95 n. Chr.8 In der Schrift selbst lassen sich keine deutlichen Hinweise auf die Entstehungszeit finden. Andere Datierungen, etwa in die Zeit Trajans (98–117) oder gar Hadrians (117–138), werden damit begründet, dass sich manche bildlichen und symbolischen Aussagen auf bestimmte zeitgeschichtliche Verhältnisse und Ereignisse beziehen ließen. Allerdings sind Datierungen über Identifikationen des Bildgehalts, etwa der beiden Tiere in Apk 13 mit bestimmten römischen Provinzialbeamten, angesichts der Lücken unseres Wissens über die Geschichte der römischen Provinz Asia Minor von zahlreichen Unsicherheiten belastet, so dass es sich empfiehlt, bei der Datierung weiterhin Irenäus zu folgen.9 8 Irenäus Haer. 5, 30, 3: ad finem Domitiani imperii; „am Ende der Herrschaft Domitians“. 9 Lichtenberger, Apokalypse, 48–52; Satake, Offenbarung des Johannes, 57.
Zeit Domitians
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Offenbarung des Johannes
13.2 Inhalt und Aufbau
Visionen
Hymnen
Inhalt und Aufbau der Schrift sind scheinbar leicht zu skizzieren. Legt man die verschiedenen Siebenerreihen (Sendschreiben, Siegel, Posaunen, Zornesschalen) zugrunde, dann kann man die Rahmung (1,1–20; 22,6–21), die sieben Sendschreiben (2,1–3,22) und den Visionsteil (4,1–22,5) unterscheiden. Dabei ist aber zu beachten, dass sich auch die Sendschreiben als Visionen präsentieren, sodass im strengen Sinn der Visionsteil, eingeleitet mit „Ich sah …“ (gr. eidon; εἶδον: 1,12.17; 4,1 u. ö.; insgesamt 45 Mal in Apk), bereits in 1,12 beginnt. Andererseits werden diese strukturierten Zusammenhänge immer wieder durch den überbordenden Bildgehalt in Unordnung oder besser gesagt aus den Proportionen gebracht. Die Öffnung der ersten fünf Siegel wird in elf Versen geschildert (6,1–11), die Ereignisse bei der Öffnung des sechsten hingegen in 23 Versen (6,12–7,17). Auch in den anderen Siebenerreihungen werden nach einer eher knapp gehaltenen Schilderung der ersten vier Symbole in den Symbolen 5 und 6 umfangreichere Texte integriert, die sich geradezu als eigenständige Zwischenstücke erweisen (z. B. 10,1–11: „Büchlein“; 11,1–13: Die zwei Zeugen und der Tempel). Zudem durchbrechen immer wieder hymnenartige Texte, die Gott oder Christus huldigen oder das geschilderte Geschehen kommentieren, den Zusammenhang.10 In der Abfolge der sieben Siegel, Posaunen und Zornesschalen sind auch gewisse Wiederholungen bzw. Variationen des gleichen Themas zu erkennen, etwa bei den Beschreibungen des „Tieres“ und der „Hure Babylon“ in Apk 13,1 und 17,3, die jeweils die widergöttliche Macht des römischen Imperiums veranschaulichen sollen. Die durch Sprache hervorgerufene komplexe und semantisch übercodierte visuelle Imagination der vielfältigen Bilder, die in der Offenbarung begegnen, lassen sich allerdings nicht direkt einem grundlegenden Thema zuordnen. Schüssler Fiorenza verweist auf diese Problematik: „Apokalyptische Sprache ist weniger vorhersagende, beschreibende, sondern eher mythologisch phantasiereiche Sprache. Sie ist nicht wie ein Mantel, der ausgezogen werden könnte, um zu den theologischen Prinzipien oder der Substanz zu gelangen.“11
10 Hymnenartige Texte (z. B. Würdigrufe, Doxologien, Siegesrufe, Gebete): 1,5b–6; 4,8.11; 5,9 f.12 f.; 7,10b.12; 11,15.17 f.; 19,1–8a. Zur Deutung des Erzählten: 12,10–12; 15,3 f.; 16,5–7. 11 Schüssler Fiorenza, Buch der Offenbarung, 45.
Inhalt und Aufbau
Dennoch lässt sich exegetisch begründet ein Anliegen herausstellen, das von der Gesamtstruktur der Schrift und den hymnenartigen Texten in den Mittelpunkt gestellt wird: die gerechte Herrschaft über die Erde. Im Folgenden wird deswegen der Inhalt der Offenbarung orientiert am Wortfeld Königsherrschaft, König/in, wie ein König herrschen (gr. basil-; βασιλ-) skizziert.12 Das Wortfeld wird gleich am Anfang der Johannesoffenbarung aufgerufen und thematisiert wie eine Überschrift den Gesichtspunkt, der die Gesamtaussage dieser bildreichen Schrift ordnet und dominiert. In Apk 1,5 f. wird Jesus Christus der „Herrscher über die Könige der Erde“ genannt und festgestellt, dass dieser die Adressaten der Schrift („uns“) zu „einer Königsherrschaft und zu Priestern“ gemacht hat (1,6; vgl. 5,10; 20,6; 22,5). Der Autor nimmt hier wie so oft in seiner Schrift alttestamentliche Wendungen auf und verschmilzt sie ungekennzeichnet mit seinem eigenen Text. Hier steht wohl Ex 19,6 LXX im Hintergrund: „Ihr sollt mir ein königliches Priesterstaatswesen und ein heiliges Volk sein“. Über den biblischen Text hinaus fügt er in 5,10 und 22,5 mit Blick auf die Priester bzw. Erlösten die wichtige Wendung „und sie werden königlich herrschen“ ein. Das Ziel der Johannesoffenbarung ist damit nicht allein die Herrschaft Gottes und Christi, sondern auch die Mitherrschaft der Gemeinde, die die Vorstellung der Priesterherrschaft aufnimmt. Diese bereits existierende, aber auf die Gemeinde beschränkte Königsherrschaft der Christusgläubigen, die als Priester dieser Gottesherrschaft eingesetzt sind, hat ein ermutigendes Äquivalent in der himmlischen Herrschaft Gottes. Dort sind die ersehnten und verheißenen Zustände bereits unverrückbare Wirklichkeit. Auf Erden aber steht ihrer Verwirklichung noch die Herrschaft der widergöttlichen Mächte, die zudem von den „Königen der Erde“ (6,15; 17,2.18; 18,3.9; 19,19; vgl. 16,14) unterstützt werden, entgegen. Die Idee, dass die für das Gottesvolk charakteristische Regierungsform eine Herrschaft der Priester sei, findet sich bereits bei Flavius Josephus: Jos. Ap. 2,165: Die einen vertrauten die Macht über die Staatswesen Alleinherrschern, die anderen den Oligarchen, wiederum andere den Volksmassen an. Unser Gesetzgeber aber war von keiner dieser (Herrschaftsformen) überzeugt, sondern überantwortete das Staatswesen – mag man den etwas gezwungenen Ausdruck verwenden – einer Gottesherrschaft (gr. theokratia; θεοκρατία), indem er Gott die Herrschaft und die Macht überantwortete.
12 Vgl. dazu Schabow, Gemacht zu einem Königreich, 225–227.
395
Wortfeld basileus/ König
Priester
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Offenbarung des Johannes Theokratie
Diese Theokratie war nach dem Verständnis des Josephus in ihrer konkreten irdischen Gestalt eine Priesterherrschaft, denn Moses, der Gesetzgeber Israels, schuf mit ihr eine Verfassung, „die Gott als den Herrscher über alle Dinge stellte, den Priestern die Verwaltung der höchsten Angelegenheiten im Gemeinwesen anvertraute, den Hohepriester aber wiederum betraute sie mit der Leitung aller anderer Priester.“13 Diese Vorstellung, dass Gott seine Herrschaft durch Priester verwirklicht, prägt auch die Johannesoffenbarung, nur dass diese keine traditionelle und privilegierte Priesterklasse, etwa die Zadokiden, sondern alle Christusgläubigen als ein Volk von Priestern für die Mitherrschaft bestimmt sieht (5,10; 20,6, 22,5).14 Nicht erst die Kritik an der religiösen Verabsolutierung Roms (13), sondern bereits die Propagierung der Gottesherrschaft, verbunden mit der Mitherrschaft durch die Gemeinde, bringt die grundsätzliche politische Opposition der Johannesoffenbarung zum römischen Staat zum Ausdruck. Sie führt mit der Vorstellung der durch Priester realisierten Königsherrschaft Gottes die politische Konzeption weiter, die Israel von den anderen Völkern, insbesondere von Rom und den hellenistischen Königreichen, unterscheidet.15 Die Offenbarung des Johannes ist demnach von der Frage dominiert: Wann dehnen Gott und Christus endlich ihre himmlische Königsherrschaft auf die Erde aus? Wann entmachten sie die widergöttlichen Mächte, denen vor allem die „Könige der Erde“ und die „Mächtigen“, aber auch die übrigen Menschen (6,15: „jeder Sklave und Freie“), Gefolgschaft leisten?
Die Sprache und der Stil der Johannesoffenbarung stellen den Interpreten vor eine große Herausforderung. Die bild- und anspielungsreiche Ausdrucksweise lässt sich nicht einfach auf einige theologische Grundüberzeugungen reduzieren, ohne dass andere wichtige Gehalte verloren gehen. Allerdings will die Schrift auch nicht einfach nur ästhetisch wahrgenommen, sondern auf die Wirklichkeit der Welt angewendet werden. Als ein roter Faden bietet sich das Thema der politischen Macht an, wie es mit dem Wortfeld „Könige/Königsherrschaft“ zum Ausdruck gebracht wird. Unter diesem Aspekt wird deutlich, dass die Johannesoffenbarung eine eigene Version der Vorstellung einer jüdischen Staatsverfassung, der Theokratie, entwickelt.
13 Jos. Ap. 2,185; Vgl. Cancik, Theokratie und Priesterherrschaft, 73–75. 14 Schüssler Fiorenza, Priester für Gott, 76–78; Karrer, Johannesoffenbarung als Brief, 113–115. 15 S. o. 86–91 (Königsherrschaft Gottes im antiken Judentum).
Inhalt und Aufbau
Die Apokalypse gibt darauf eine zweiteilige Antwort. Im Himmel herrschen und regieren Gott und Christus. Auf der Erde ist die Macht in den Händen widergöttlicher Mächte, die vielfältig miteinander vernetzt sind und die die irdische Menschheit gewaltsam beherrschen. Selbst die höchsten Repräsentanten der Menschheit, die „Könige der Erde“, haben sich trotz ihres königlichen Status diesen machtvollen Figuren unterworfen. Diese Figuren sind die „Königin“, die zugleich als „Hure Babylon“ die große Stadt, nämlich Rom, symbolisiert, dann das „Tier aus dem Abgrund“ und das „Tier aus dem Meer“. Hinter ihnen steht zudem der „Satan“ bzw. „Teufel“, der selbst in den Gestalten eines „Drachen“ bzw. einer „Schlange“ auftritt (12,9; 20,2). Die „Könige der Erde“ unterwerfen sich den Mächten, profitieren aber auch von der Beziehung zu ihnen und können „im Luxus leben“ (18,9). Die Offenbarung bezeichnet diesen Sachverhalt wiederum metaphorisch abwertend mit der Wendung „Unzucht treiben“ (17,2; 18,3.9). Diese Formulierung wird im antiken Judentum traditionell auch für diejenigen gebraucht, die sich von dem einen und einzigen Gott zu den Götzen gewendet haben, d. h. für den Götzendienst. Die politische Unterordnung der Könige unter die große Stadt wird somit mit einer kultischen Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht. Diese Metaphorik verfolgt das Ziel, politisches Fehlverhalten in einer polarisierenden Schärfe zu verurteilen und die Rezipienten vor eine unausweichliche Alternative zu stellen: Gott oder die Götzen. Dazwischen gibt es keine weitere Wahlmöglichkeit. Im Verlauf der Apokalypse wird nun in Visionen geschildert, wie sich die himmlische Herrschaft Gottes und Christi auf die Erde ausweiten wird. In diesem Geschehen stellen sich die Engel und Erzengel der himmlischen Welt sowie das „Lamm“ (d. i. der Messias) gegen die Repräsentanten der Unterdrückung der Menschheit, die „Hure Babylon“, das „Tier“, den „Drachen“, und deren Gefolgsleute, zu denen neben den bereits genannten „Königen der Erde“ nun auch „Kaufleute“ und „Völker“ treten. Die irdischen Gegner der Königsherrschaft Gottes werden zudem in Verbindung mit widergöttlichen Zwischenwesen wie dem Satan gebracht. Die Etablierung der Herrschaft Gottes und Christi auf Erden erfolgt gegen den Widerstand derjenigen, die die politische und wirtschaftliche Macht auf der Erde innehaben. Wenn dies eintritt, werden die Gläubigen, die bereits jetzt als Priester zur Mitherrschaft qualifiziert sind, endlich in einem vollen Sinne als Mitherrschende an der Königsherrschaft Gottes und Christi Anteil haben. Der Weg von der Aussage in 1,5 f., dass Jesus Christus der „Herrscher über die Könige der Erde“ sei und den Seinen die Mitherrschaft ermöglichen wird, bis zur Verwirklichung dieser Ankündigung im Schlussvers der Narration des visionären Hauptteils der Johannesoffenbarung in 22,5,
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Herrschaft über die Erde
Christus, das Lamm
Mitherrschaft
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Offenbarung des Johannes
visuelle Kommunikation
Thronvision
führt durch zahlreiche Bildwelten, die jeweils in einer eigenen Tradition stehen. Sie lösen Dynamiken aus und rufen Sinndimensionen auf, die den argumentativen Fortschritt der Schrift bisweilen geradezu unkenntlich machen. Zudem scheint der Autor bemüht, möglichst umfassend prophetische und apokalyptische Traditionen aufzugreifen und in seine Erzählung von der Machtergreifung Gottes, Christi und ihrer priesterlichen Mitherrscher einzufügen, um mit seiner Schrift eine abschließende und überzeugende Gesamtkonzeption der Endereignisse vorzulegen. Diese visuelle Narration von der Herrschaftsübernahme Gottes und Christi soll zumindest an einigen Stationen nachgezeichnet werden, um die Bildwelt der Johannesoffenbarung auch eigenständig zu Wort kommen zu lassen. Die Fülle der visuellen Kommunikation lässt sich nicht vollständig in einer begrifflichen Analyse darstellen, aber als roter Faden eines zentralen Themas kann, wie gesagt, das Wortfeld Königsherrschaft dienen. Es steht nicht nur am Anfang und Ende der Schrift (1,5 f.; 22,5), sondern mit ihm sind auch entscheidende Etappen des angestrebten Herrschaftswechsels verbunden. Der nachfolgende, an diesem Wortfeld orientierte Durchgang durch den Text gibt zumindest einen gewissen Eindruck von der Komplexität der Bildwelt, die die Apokalypse anbietet. Die Thronvision in 4,1–5,14 schließt mit dem hymnischen Preis des Lammes, das allein „würdig“ sei, die sieben Siegel des Buches zu öffnen, und seiner Anbetung (5,12–14). Nach dem Öffnen des ersten Siegels durch das einzig dazu fähige „Lamm“ (6,1 f.) tritt als erster von vier Reitern einer auf einem „weißen“ Pferd auf, der als Sieger dargestellt wird. Nach dem Öffnen des fünften Siegels werden in 6,9–11 die Seelen der Dahingeschlachteten unter dem Altar genannt. Sie rufen nach Vergeltung: Apk 6,10: Und sie schrien mit lauter Stimme: „Bis wann, heiliger und wahrhafter Herrscher, verurteilst und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“
Märtyrer
Zu den Märtyrern werden jedoch noch weitere „Brüder“, deren Tod noch aussteht, hinzukommen. Sie, die Opfer der widergöttlichen irdischen Verhältnisse, sind die Beobachter dieses Geschehens zwischen Himmel und Erde, aber auch diejenigen, die die Ausweitung der himmlischen Herrschaft Gottes und Christi auf die Erde sehnlichst erwarten. Anstatt einer sprachlichen Antwort wird den klagenden Märtyrern, die ihr Leben dahingegeben haben, eine visuell-symbolische gegeben: Sie erhalten „weiße“ Kleider, und damit Kleider, deren Farbe bereits die Zugehörigkeit zur himmlischen Welt, die mit der Farbe Weiß assoziiert wird, zum Ausdruck bringt (6,11). Im Visionsteil erscheint demnach die Gemeinde als eine Gemeinschaft von Märtyrern.
Inhalt und Aufbau
Nach dem Öffnen des sechsten Siegels verbergen sich die Gegner, darunter auch die Könige der Erde, in den Klüften vor dem Zorn des Lammes (6,15–17). Nun werden die 144.000 Gesiegelten, je 12.000 aus jedem der zwölf Stämme Israels, und eine weitere große Schar der Erlösten aus „allen Ethnien und Stämmen, Völkern und Sprachen“ (7,9) um den Thron und das Lamm gesammelt (7,1–17). Nachdem Johannes der Anweisung, eine Buchrolle zu essen, nachgekommen ist, wird er aufgefordert erneut über „Völker und Könige“ zu prophezeien (10,11). Der wahre König der Völker ist aber Gott, der Allmächtige (15,3). Die fünfte von sieben Schalen verdunkelt dann die Herrschaft des Tieres (16,10) und die sechste Schale lässt den Euphrat austrocknen und gibt so den Weg frei für die Könige des Südens (16,12). Nun versammeln sich die Könige der ganzen Welt (16,14), um in einer endgültigen Schlacht am Ort Harmagedon gegen Gott anzutreten (16,16). In Apk 17 wird daraufhin das Gericht über die Hure Babylon geschildert, das auch die „Könige der Erde“ betrifft, welche mit ihr Unzucht getrieben haben (17,2; 18,3.9). Das Lamm aber ist der „König der Könige“ (17,14). Dennoch übergeben die Könige der Erde dem Tier und der Frau die Herrschaft (17,17 f.). Diese „Hure“ versteht sich als „Königin“ (18,7). Die Könige der Erde betrauern schließlich ihr Ende (18,9). Es tritt nun erneut der „König der Könige“ auf, diesmal als „einer“, der auf einem „weißen“ Pferd sitzt (19,11–16). Ihm stellen sich das Tier und die Könige entgegen (19,18 f.), sie werden aber geschlagen. Im darauf folgenden tausendjährigen Friedensreich werden die Priester zum ersten Mal mit Gott und Christus herrschen (20,6); nach diesen tausend Jahren aber wird der Satan wieder aus seinem Gefängnis entlassen (20,7). Er sammelt um sich die Völker und führt sie und sich in den Untergang (20,8–10). Ihre Niederlage ermöglicht sodann die Herabkunft der himmlischen Stadt Jerusalem. Die „Könige der Erde“ bringen ihre Gaben in diese endzeitliche Stadt (21,24), während die Herrschaft nun auf Gott und das „Lamm“ sowie auf ihre Knechte übergegangen ist, die als Könige in Ewigkeit herrschen werden (22,5). Mit diesem Wort vollendet sich die bereits in 1,6 und 5,10 angekündigte Bevollmächtigung der Christusgläubigen als endzeitlich Erlöste, die keiner Herrschaft mehr unterworfen, sondern im Gegenteil selbst an der Königsherrschaft beteiligt sind.
Harmagedon
Die Analyse des Wortfelds „König/Königsherrschaft“ zeigt, dass die Schrift den Gemeinden eine neue Verfassung der Welt vorstellt. In dieser wird die Herrschaft Roms beendet sein. An deren Stelle tritt eine Theokratie, in der Gott und Christus im Zentrum stehen, aber auch die Glaubenden mitherrschen.
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Offenbarung des Johannes
13.3 Der souveräne Gott
statischer Gott
Macht Gottes
pantokrator/ Allherrscher
Die Johannesoffenbarung berichtet zwar außerordentlich dramatische Geschehnisse, Gott selbst aber bleibt merkwürdig statisch im Zentrum der himmlischen Welt positioniert. Die widergöttlichen Mächte, die Hure Babylon und der Satan bzw. seine Erscheinungsweisen, das Tier und der Drache, erreichen ihn nicht. Sie werden auch nicht von Gott selbst niedergekämpft, sondern von seinen Beauftragten, zu denen neben Engeln und Erzengeln auch das „Lamm“, der von ihm beauftragte Christus-Messias, gehört. Gott selbst aber wird in einer absoluten Transzendenz dargestellt. Dies wird auch durch die verschiedenen Gottesattribute verdeutlicht, die die Johannesoffenbarung im Unterschied zu den übrigen neutestamentlichen Schriften für Gott verwendet. Es handelt sich dabei um Umschreibungen, die wie oft in neutestamentlichen Hymnen in einem Relativsatz ausgedrückt werden: „der auf dem Thron sitzt“ (4,9 f.; 5,13; 6,16; 7,10.15; 19,4), „der ist und der war (und der kommt)“ (1,4.8; 4,8; 11,17; 16,5), „der in alle Ewigkeit lebt“ (4,9 f.; 10,6; 15,7) oder „das Alpha und das Omega“ (1,8; 21,6; 22,13). Die letztgenannte Wendung wird noch weiter umschrieben mit „der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (22,13; vgl. 21,6). Sie alle unterstreichen die fraglose Souveränität Gottes über alles Seiende. Der thronende Gott bildet so den Fixpunkt der sinnkonstituierenden Raumkonfiguration der Schrift. Bauckham fasst diesen Sachverhalt in die Worte: „Die Theologie der Offenbarung ist außerordentlich theozentrisch. […] Ihre Darstellung beginnt mit Gott und kommt beständig und endgültig auf Gott zurück.“16 Der majestätische und souveräne Gott thront alle Zeit geradezu unbeweglich und ist doch auch als Anfang und Ende omnipräsent. Seine Macht umfasst alle geschichtlichen Ereignisse, ohne aber selbst direkt in diese hineingezogen zu sein. Er wirkt vielmehr durch seine Beauftragten, die sich wiederum in die Dramatik des Geschehens verwickeln lassen, dabei aber doch immer siegreich bleiben. Die Macht der widergöttlichen Kräfte, die beständig „Unrecht tun“ (11 Mal gr. adikein; ἀδικεῖν), beruht somit einzig auf der Zurückhaltung Gottes und wird begünstigt durch die Willfährigkeit der Menschen. Die Gegenwart ist die Zeit der Ungerechtigkeit, während das zukünftige Handeln Gottes und Christi gerecht ist und Gerechtigkeit bringt. Gott und Christus sind „gerecht“, kämpfen „in Gerechtigkeit“ und vollziehen „gerechte Gerichte“ (Apk 15,3; 16,5.7; 19,2.11). So ist es für die Johannesoffenbarung kein Widerspruch, dass Gott in Anknüpfung an ein Gottesprädikat der Septuaginta, das im Neuen Testament aber nur noch in 2Kor 6,18 vorkommt, „Allmächtiger“ oder 16 Bauckham, Theology of Revelation, 23, vgl. 143 u. 164.
Der souveräne Gott
besser „Allherrscher“ (gr. pantokrator; παντοκράτωρ) genannt wird.17 Diese Gottesbezeichnung enthält in sich die Botschaft der Schrift: Der im Himmel majestätisch thronende Gott wird seine Herrschaft auf die Erde ausweiten. Seine Stadt und sein Thron kommen herab auf die Erde und in der Mitte des neuen Jerusalems thronend erweist er sich endgültig als endzeitlicher Allherrscher. Die Herstellung der Gerechtigkeit setzt den „eschatologischen Machtentscheid“ des Pantokrators voraus.18 Apk 21,22: Und ich sah keinen Tempel in ihr, denn der Herr, Gott der Allherrscher, ist ihr Tempel und das Lamm.
Gott selbst wird demnach statisch und souverän vorgestellt. Die Verwirklichung seiner Souveränität als majestätische Herrschaft über die Erde ist hingegen zeitlich wie räumlich voller Konflikte und Spannungen, die erst im endzeitlichen, dem neuen Jerusalem eine stabile und zeitlose Form finden wird. Die von den widergöttlichen Mächten gewaltsam und absolut dominierte Erde soll wieder zu einem Ort werden, an dem Gerechtigkeit herrscht. Dieser unermesslich großen Herausforderung entspricht eine Gottesvorstellung, die die Allmacht Gottes herausstellt. Deswegen greift die Schrift auf die Gottesbezeichnung des Pantokrators zurück.
In der damit beschriebenen Zwischenzeit sind alle Menschen, auch diejenigen, die zu Gott gehören und als „Knechte Gottes“ bezeichnet werden, dem zerstörerischen und gewalttätigen Wirken der widergöttlichen Mächte ausgeliefert. 144.000 von ihnen werden zwar als zu Gott gehörig gekennzeichnet, „versiegelt“ (7,4), und eine unübersehbare große Menge aus allen Völkern schließt sich ihnen an (7,9). Das schützt sie aber nicht vor Verfolgung und Gewalttaten. Sie haben ihre Treue zu Gott zu erweisen, indem sie am Bekenntnis zu Christus und am Wort Gottes festhalten (20,4). Die Glaubenden sollen demnach durch das Wissen um das künftige Geschehen in ihrer Identität als Christen und in ihrem Festhalten an ihrem Glauben bestärkt werden. Ihnen wird aber keine gegenwärtige Macht übereignet, die sie zu einem aktiven Kampf befähigen würde. So gewalthaltig die Bilder der Offenbarung sind, so gewaltfrei werden die Glaubenden vorgestellt. 17 In der Septuaginta meist als Übersetzung von hebr. zebaot; ( צבאותz. B. Am 3,13; Mal 1,4). Apk 1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14;19,6.15; 21,22. 18 Bachmann, Göttliche Allmacht, 183–195, hier 188.
Festhalten am Glauben
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Offenbarung des Johannes
Sie erleben zumindest in den Gemeinden bereits die Königsherrschaft Gottes und ihre priesterliche Mitherrschaft, in der Welt sind sie aber den Ereignissen schutzlos ausgeliefert und haben sich im Martyrium zu bewähren (6,9–11). 13.4 Christus, das Lamm
Christus/Messias
Nähe zum Thron
Die tragende messianische Figur der Visionen und nach 1,1 („Offenbarung Jesu Christi“) sowohl Offenbarer wie auch zentraler Inhalt der Offenbarung ist Jesus Christus. Es werden in diesem Zusammenhang Aussagen über Christus formuliert, die den christologischen Konzepten anderer neutestamentlicher Texte nahe stehen, etwa „Gnade Jesu Christi“ (Apk 1,4 f.; 22,21; vgl. 1Kor 1,3; 16,23 u. ö.), „Erstgeborener aus den Toten“ (Apk 1,5; vgl. Kol 1,18) oder der Gebetsruf „Amen, komm Herr Jesus!“ (Apk 22,20; vgl. 1Kor 16,22: dort aram. maranatha). In diesem Sinn liegt der Offenbarung eine christliche Konzeption zugrunde. Die messianischen Visionen greifen dann auch Vorstellungen und Erwartungen auf, die das Judentum mit dem endzeitlichen Messias verbindet. Es besteht kein Zweifel, dass die Johannesoffenbarung den in den Vorstellungen der jüdischen Apokalyptik gezeichneten Messias insgesamt gesehen mit der historischen Person Jesus von Nazareth identifiziert, wie z. B. das häufige einfache „Jesus“ belegt (1,9; 12,17 u. ö.). Zumindest an einer Stelle wird er, vermutlich in Anlehnung an Ps 2, wie die Anspielung in Apk 2,27 f. auf Ps 2,9 wahrscheinlich macht, „Sohn Gottes“ genannt (2,18).19 Es fehlen allerdings weitere wichtige christologische Interpretamente wie „Weisheit Gottes“ und „Ebenbild Gottes“. Die häufigste messianisch-christologische Bezeichnung in der Johannesoffenbarung ist das „Lamm“ (gr. arnion; ἀρνίον). Die Offenbarung knüpft damit an prophetische und apokalyptische Texte, etwa die Tierapokalypse in äthHen 85–90, an, die das himmlische Geschehen verschlüsselt als die Begegnung und die Konflikte unter Tieren wie Schafen, Widdern, Lämmern, Stieren u. ä. darstellt. Etwa 28 Aussagen über das „Lamm“ stellen es sowohl als Opfer, nämlich „geschlachtet“ (5,6.9; 13,8), als auch mächtig und majestätisch (5,6–13) dar. Nur das „Lamm“ ist in der Lage, die Siegel zu öffnen (6,1). Es wird in der Nähe zum „Thron“ und damit zu Gott positioniert (5,6; 22,1). Diese in einer Tiervorstellung verschlüsselte messianische Figur wird zudem explizit als „Christus“ bezeichnet, womit hier kein Eigenname, sondern ein Titel, nämlich „der Messias“, gemeint ist (11,15; 12,10; 19 Holtz, Offenbarung des Johannes, 42 f.
Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit
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20,4.6).20 Auch der Reiter des „weißen Pferdes“ in 19,11–16 stellt eine Messiasfigur dar (anders in 6,2). Die Farbe Weiß steht für die Zugehörigkeit zur himmlischen Welt und doch ist dieser Reiter mit einem „in Blut getauchten Gewand“ bekleidet und dadurch als Jesus Christus identifiziert (19,13).21 Das Lamm und die anderen messianischen Symbolisierungen stehen somit für Jesus, dessen Name auch explizit genannt wird: „Komm, Herr Jesus!” (22,20). Er wird zudem wie Gott mit „Herr“ (11,8; 14,13) und sogar mit „Herr der Herren“ (17,14; 19,16) angesprochen. Schließlich wird er in zwei Visionen in Anlehnung an Dan 7,13 als der „gleich einem Menschensohn“ bezeichnet (1,13; 14,14). Insgesamt ist Jesus Christus einerseits „geschlachtet“, hat sein „Blut/Leben“ hingegeben (1,5; 5,9; 7,14; 12,11; vgl. 19,13) und wurde „gekreuzigt“ (11,8), andererseits aber ist er ohne Zweifel vor allem mit herausragender Hoheit und herrscherlicher Majestät ausgestattet. Er ist es, der die widergöttlichen Mächte besiegt, um Gerechtigkeit herzustellen, und der auf ewig mit Gott in Herrlichkeit in der Mitte des endzeitlichen Jerusalems residieren wird. Die Glaubenden bewähren sich in der Treue zu ihm, „im Halten der Gebote Gottes und im Zeugnis Jesu“ (12,17). Die Stellung des Christus, d. h. des Lammes, ist herausgehoben. Er steht mit Sicherheit über allen Engeln und Erzengeln und auch über den Ältesten im himmlischen Thronsaal. Das endzeitliche Jerusalem ist die „Braut des Lammes“ (21,9). Das „Buch des Lebens“, das im Endgericht entscheidend sein wird, erhält auch die Bezeichnung „Buch des Lammes“ (21,27). Christus wird Gott zugeordnet, bleibt aber diesem doch eher bei- bzw. untergeordnet (21,22), denn die Stadt kommt von „Gott“ und ist die „Wohnung Gottes“ (21,2–7; vgl. 22,5). 13.5 Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit Am Wortfeld „Königsherrschaft“ wurde bereits deutlich, dass die Verwirklichung der Gottesherrschaft das dringlichste Anliegen der Johannesoffenbarung ist.22 Die von Gott geschaffene Welt ist in die Hände widergöttlicher Mächte gefallen. Diese beherrschen die politischen und ökonomischen Verhältnisse in einer Weise, der sich auch die einfachen Menschen nicht entziehen können. In der bildhaften Sprache der Apokalyptik wird diese umfassende Willkürherrschaft über alle Menschen in folgenden Worten ausgedrückt: 20 Satake, Offenbarung des Johannes, 81. 21 Lohse, Offenbarung des Johannes, 102–104. 22 S. o. 395 (Wortfeld Königsherrschaft in der Apk).
Willkürherrschaft
404
Offenbarung des Johannes
Apk 13,16 f.: Und es (das Tier) bewirkt bei den Kleinen und Großen, den Reichen und den Armen, den Freien und den Sklaven, dass sie sich ein Malzeichen auf ihre rechte Hand oder auf ihre Stirn geben, (17) damit keiner kaufen oder verkaufen kann, wenn er nicht das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.
Könige und Kaufleute
Sendschreiben
Die widergöttliche Macht („das Tier“) unterwirft zwar alle Menschen seiner Herrschaft, ermöglicht einigen aber auch Profit und Luxus, zumindest den „Kaufleuten“ (18,3.11.15.23) und „Königen der Erde“ (18,3.9). Sie stehen an der Spitze der Gesamtheit der Bevölkerung, die in dieses System von Herrschaft und Privilegierung miteinbezogen wird.23 Am Rande stehen nur diejenigen, die sich an die „Gebote Gottes und das Zeugnis Jesu“ halten (12,17; vgl. 14,12). Sie werden durch ihre Verweigerung zu Opfern dieser Verhältnisse. Die Sendschreiben (2,1–3,22) zeichnen allerdings ein vielfältigeres Bild der Situation der Gemeinden als der Visionsteil, der im Grunde nur Profiteure und Märtyrer kennt. Die sieben Gemeinden werden dort an ihren „Werken“ gemessen, die unterschiedlich bewertet werden. Sie müssen die Herausforderungen durch falsche Propheten und Irrlehrer meistern, wie auch dem Anpassungsdruck ihrer sozialen und kulturellen Umgebung widerstehen, indem sie etwa Götzenopferfleisch weiterhin zurückweisen (2,14.20). Beide im Text genannten Gruppierungen, die sieben Gemeinden Kleinasiens und die Märtyrer im Visionsteil, erwarten das endzeitliche Handeln Gottes. Während die Märtyrer ihrer Teilhabe an der himmlischen Herrschaft gewiss sein können (6,9–11), haben sich die Mitglieder der Gemeinden noch zu bewähren. Sie sollen „überwinden“ bzw. „besiegen“ (gr. nikao; νικάω; 2,7.11.17.26; 3,5.12.21), indem sie gegen den Anpassungsdruck der Mehrheitsgesellschaft und trotz der Verführungen durch Irrlehrer und falsche Propheten an der Gemeinde und am Zeugnis Jesu festhalten. Die Vollendung besteht aus zwei Sachverhalten: dem Endgericht und der Herabkunft des endzeitlichen Jerusalems. Im allgemeinen Endgericht geben die Taten, die in den Büchern verzeichnet sind, und die Namen, die im Buch des Lebens stehen, den Ausschlag (20,11–15; vgl. 3,5; 13,8; 17,8; 21,27). Das eigentliche Ziel aber und damit „nicht Anhang, sondern Höhepunkt des Buches“ ist das „neue Jerusalem“ (3,12; 21,1–22,5).24 Die Johannesoffenbarung greift dabei einen biblischen und nachbiblischen Diskurs über den für Israel angemessenen Zustand auf, wie er in Ez 40–48, in Sach 12–14, Jes 65,17–66,24 oder auch in der 23 Mathews, Riches, 197–204. 24 Lichtenberger, Apokalypse, 259.
Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit
qumranischen Tempelrolle (11QT) geführt wird. Im Mittelpunkt dieses Diskurses steht Jerusalem, die Stadt Gottes. Die Ausführungen zu den Größenverhältnissen der neuen Stadt sind als sinnbildende Raumkonfigurationen zu verstehen und geben Antworten auf die folgenden Fragen: Wie stehen Gott und Israel zueinander und in welchem Verhältnis sind die nichtjüdischen Völker zur heiligen Stadt Gottes zu sehen? Auf welche Weise wird eine ideale Herrschaft errichtet werden und welche Eigenschaften wird diese Herrschaft haben? In diesen Vorstellungen und weniger in der überzogenen und verzeichnenden Kritik der römischen Herrschaft, wie sie in Apk 13 formuliert wird, sind die politischen und ethischen Imperative zu fassen, für die die Johannesoffenbarung eintritt. Während Ezechiel in seinem Verfassungsentwurf als Außenlänge der Stadt 4.500 Ellen nennt, was etwa 2.025 m und damit ungefähr zwölf Stadien entspricht (Ez 48,16), gibt die Johannesoffenbarung „zwölftausend Stadien; ihre Länge und Breite“ (21,16) an. Das neue Jerusalem wird demnach eine Stadt von ungeheurer Größe sein. Natürlich lässt die Zahl Zwölf an eine symbolische Bedeutung denken, dennoch wird man zugleich die reale Imagination berücksichtigen müssen. Johannes hätte sich ja an Ezechiel anschließen und die Länge der Stadt mit zwölf Stadien bemessen können. Er bricht aber mit allen biblischen und zwischentestamentlichen Vorgaben und wählt als Seitenlänge der quadratischen Stadt 12.000 Stadien, ca. 2.280 km.25 Nach antiken Vorstellungen betrug etwa die Entfernung zwischen Euphrat und Nil 5.000 Stadien.26 Das neue Jerusalem wird demnach als eine Stadt von gigantischer Größe präsentiert. In ihr versammeln sich alle Völker und Nationen mit ihren Königen, um sie mit Leben zu füllen (21,24). Diese integrative und umfassend universale Ausweitung der Bevölkerung der endzeitlichen Stadt über die Schar der Gläubigen und Märtyrer bzw. über Israel hinaus verwundert auch deshalb, weil zuvor doch im Gericht alle diese Völker und Könige vernichtet wurden.27 Um der universalen und inklusiven Perspektive willen nimmt die Johannesoffenbarung, inspiriert von der alttestamentlichen Tradition der Völkerwallfahrt, diese Spannung in Kauf.28 Die weitere Ausmalung der Stadt unterstreicht, dass die Endzeitvision der Johannesoffenbarung potentiell alle Menschen einschließt. In der Mitte der Stadt steht nicht nur wie im Garten Eden ein einziger „Baum des Lebens“ (Gen 2,9), sondern „Holz des Lebens“ säumt die Straße, 25 Frey, Was erwartet die Johannesapokalypse?, 543. 26 Strabo 1,4,5. 27 Lichtenberger, Apokalypse, 267–269. 28 Bauckham, Theology of Revelation, 138 f.
Jerusalem
Weltmetropole
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Offenbarung des Johannes
heilvolle Stadt
die vom Thron Gottes ausgeht, und die Blätter dieser Bäume des Lebens dienen zur „Heilung der Völker“ (22,2). Gott und das Lamm erleuchten diese Stadt mit ihrer Herrlichkeit. Deswegen wird sie keinen Tempel mehr enthalten (21,22 f.). Ihre Tore werden nie geschlossen, da die Stadt keines weiteren Schutzes bedarf. In der Forschung ist umstritten, inwiefern die Johannesoffenbarung hier das hellenistische Stadtideal utopisch verwirklicht sieht oder aber an Jerusalem als jüdischer Stadt festhält. Die Betonung der Zwölfzahl und der Verweis auf die zwölf Stämme Israels knüpfen an den biblischen Vorstellungen an (21,12). Der Verzicht auf den Tempel und die Konzentration auf die Stadt und ihre zentrale Straße (gr. plateia; πλατεῖα) bricht allerdings mit den jüdischbiblischen Traditionen (21,21; 22,2). Diese breite Hauptstraße von reinem Gold geht vom Thron aus und verläuft parallel zur wiederum traditionellen Paradies- bzw. Tempelquelle. Sie ist gesäumt von den Bäumen des Lebens. In diesem neuen Jerusalem ist nicht nur das „verlorene Paradies“ wiedergekehrt, sondern in ihm sind auch die hellenistischrömischen Ideale der inklusiven Stadt repräsentiert.29 Das neue Jerusalem überschreitet somit nicht nur in seinen Größendimensionen die traditionellen Vorgaben, sondern spiegelt mit der Aufnahme kultureller Erwartungen, die die hellenistische Welt an eine Stadt stellt, die universale Perspektive der endzeitlichen heilvollen Ordnung Gottes.30
Die Vision des neuen Jerusalem stellt den Höhepunkt der Schrift dar. Die Vorstellung einer riesigen, inklusiven Weltmetropole orientiert sich in Grundzügen an biblischen Vorgaben und spielt auf Tempel- und Paradiesvorstellungen an (z. B. Ez 40–48). Die Endzeit wird wieder die Urzeit sein, Eschatologie und Protologie werden verschränkt. Diese Vorgaben werden aber auch beständig überschritten, ausgeweitet und angereichert mit Vorstellungen, die sich nicht der biblischen Tradition verdanken. Die Vision von der endzeitlichen Weltmetropole nimmt auch Erwartungen der hellenistischen Welt an eine heilvolle und paradiesische Stadt auf.
In ihrer visuell und räumlich orientierten Kommunikation bringt die Johannesoffenbarung zum Ausdruck, was Aristoteles rational-analytisch in seiner Definition der Stadt formulierte: Arist, resp. 1261a: Eine Stadt besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die sich der Art nach unterscheiden. Denn keine Stadt entsteht aus Gleichen. 29 Lohse, Offenbarung des Johannes, 113. 30 Georgi, John’s Jerusalem, 181–186; Schüssler Fiorenza, Buch der Offenbarung, 137 f.
Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit
Die Vision des neuen Jerusalem als universale und inklusive Stadt des Verschiedenen bildet ein angemessenes Gegengewicht gegen die sonst die Johannesoffenbarung prägende Vorstellung von der gewaltsamen Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch Plagen, Vernichtung, Krieg und Gericht.31 Die Diskussion um die theologischen, ethischen und politischen Implikationen der Johannesoffenbarung geht von folgenden Überlegungen aus: Das gewählte paulinische Briefformular und die Inhalte der sieben Sendschreiben weisen darauf hin, dass der Seher Johannes auf Patmos und die sieben kleinasiatischen Gemeinden in paulinischer Tradition stehen. Einige Gemeinden haben Bedrückung und Verfolgung erfahren (2,3.10.13), andere ringen eher mit inneren und äußeren Herausforderungen durch das Nachlassen der eigenen Glaubensüberzeugungen und durch konkurrierende religiöse Gruppen (2,20; 3,4.9.16). Im Visionsteil tritt hingegen mit den Märtyrern eine Personengruppe auf, die in großer Zahl einen gewaltsamen Tod durch Verfolgung aufgrund ihres Bekenntnisses zu Jesus erfahren haben (6,9–11; 19,2; 20,4). Zu diesen werden noch weitere Märtyrer hinzukommen und zwar diejenigen, die sich nicht der Forderung beugen, sich durch ein Loyalitäts- und Identitätsmerkmal dem römischen Imperium („Tier“) zu unterwerfen, weil dies den „Geboten Gottes und dem Glauben an Jesus“ widerspricht (13,15; 14,11 f.). Die Personengruppe des Visionsteils steht vor der scharfen Alternative zwischen dem Festhalten an Gott und Christus einerseits und den religiös-politischen Loyalitätserwartungen des römischen Imperiums andererseits. Diejenigen, die sich in dieser Herausforderung bewähren, werden bereits nach der „ersten Auferstehung“ zum Tausendjährigen Reich an der Herrschaft Christi mitwirken (20,6). In der zweiten allgemeinen Totenauferstehung zum Gericht werden hingegen alle Menschen nach ihren Taten gerichtet werden (20,12). Diese in sich einigermaßen plausible Narration wird in der Darstellung des himmlischen Jerusalems nicht konsequent weitergeführt. In diese Stadt ziehen zwar keine Übeltäter ein (21,8.27), aber doch die zuvor so negativ dargestellten „Könige der Erde“ und überhaupt die „Völker“ (21,24). Die Schilderung des endzeitlichen Jerusalem nimmt Paradiesvorstellungen auf, orientiert sich aber auch an den Idealen der hellenistischen Stadt. In der theologischen und religionswissenschaftlichen Interpretation der Schrift werden verschiedene Gesichtspunkte näher erörtert. Die eher religionswissenschaftlich orientierten Zugänge von Räisänen und Zeller verweisen auf die Logik der Reziprozität, die dem Text zugrunde liege. Nach Räisänen begründet die Schrift ihre Mahnungen, am Glauben 31 Bormann, Gerechtigkeit, 91–93.
407
universale und inklusive Stadt
Visionsteil
Paradies vorstellungen
Rationalität der Visionen?
408
Offenbarung des Johannes
Ressentiment?
Befreiung der Unterdrückten
festzuhalten, mit der Behauptung: „Wenn der Preis für das Bekenntnis zu Christus hoch ist (und das Martyrium miteinschließt), dann gilt das auch für die Belohnung.“32 Um dies glaubhaft zu machen, insistiere Johannes auf der zentralen Vorstellung der jüdischen Apokalyptik: Es werde eine dramatische Wende in der Zukunft geben, die die Erde vollständig verändern, wenn nicht gar zerstören werde. Zeller stellt heraus, dass die Märtyrer von einem „bitteren Ressentiment“ beseelt seien, auf den „Vollzug der Rache“ warteten, und auch die angesprochenen Gemeinden auf Belohnung aus seien: „Frustriert schauen die unterdrückten Gläubigen nach dem ‚Lohn‘ aus.“33 Beide Autoren verweisen zudem auf die Spannungen und Widersprüche zwischen den einzelnen Visionsteilen und der Gesamtkonzeption, erklären diese aber mit der richtigen Beobachtung, dass im antiken Judentum die eschatologischen Vorstellungen selten systematisiert worden seien.34 Auch Dunn meint, dass jeglicher Versuch, ein einheitliches und kohärentes Bild der „letzten Dinge“ herzustellen, scheitern müsse.35 Die religionswissenschaftlichen Interpretationen von Räisänen und Zeller heben die Reziprozität hervor und betonen, dass die von der Johannesoffenbarung angesprochenen Gruppen eine Antwort auf die Frage nach dem Gewinn, der ihren Leiden entpräche, suchten. Das greift deutlich zu kurz. Demgegenüber fordern die sozialgeschichtlichen und befreiungstheologischen Interpretationen von Schüssler Fiorenza und Wengst eine Lektüre der Schrift, die davon ausgeht, dass diese „eine Perspektive von unten und vom Rande her“ zum Ausdruck bringt.36 Die Phantasien über Gericht, Strafe und Allmacht seien als Schrei der Unterdrückten und Marginalisierten zu verstehen, die um die Bewahrung ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identität fürchten. Die Schrift spreche die Adressaten an und möchte „ihre Angst eindämmen, ihre Hingabe erneuern und ihre Visionen erhalten.“37 Der wichtige Gedanke ist hier, dass die Stimmen und Sichtweisen derjenigen, die unter Unrecht leiden, ernst zu nehmen sind. Ihre Forderung nach Rache ist weder als sinnlose Vernichtungsphantasie noch als einseitiger Anspruch auf Statusgewinn abzutun. Diese Überlegung wird auch dadurch unterstützt, dass die biblische Rachevorstellung eine Variante der Gerechtigkeitsforderung ist, wie der in der Johannesoffenbarung verwendete griechische Begriff ekdikeo; ἐκδικέω, der dem Wortfeld „gerecht“ (gr. dikaios; 32 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 94. 33 Zeller, Entstehung des Christentums, 163 f. 34 Räisänen, Rise of Christian Beliefs, 93–95; Zeller, Entstehung des Christentums, 163–166. 35 Dunn, New Testament Theology, 95. 36 Wengst, Wie lange noch?, 270. 37 Schüssler Fiorenza, Buch der Offenbarung, 58.
Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit
δίκαιος) angehört, deutlich macht (Apk 6,10; 19,2). Diese „Rache“ zielt nicht auf maßlose Vergeltung, sondern auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit.38 Die Johannesoffenbarung nimmt damit eine zentrale biblische Konzeption auf und hält an der Orientierung an Gerechtigkeit sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft fest. Dennoch ist mit Collins auch die Frage zu stellen, ob die in der Johannesoffenbarung entfaltete visuelle Kommunikation eine gewaltsame Dynamik freisetzt, die letztlich nichts zur Humanisierung der Welt beiträgt.39 Bauckham erklärt diese Tendenz zur Maßlosigkeit damit, dass auch die alttestamentliche Prophetie Heilserwartungen formuliert habe, die weit über das für Israel geschichtlich Erwartbare und über die Erfüllung ihrer Befreiungshoffnungen hinausgegangen seien.40 Dieser prophetische Überschwang oder „eschatologische Exzess“ sei der Johannesoffenbarung in der prophetischen Tradition vorgegeben gewesen und von ihr übernommen worden. Eine solche traditionsgeschichtliche Erklärung löst aber nicht die Problematik, die in der Formulierung solch radikaler und exzessiver Vorstellungen liegt. Gegen die Gefahr einer Enthumanisierung, die sich auf die Johannesoffenbarung berufen könnte, bilden jedenfalls zwei Sachverhalte ein wesentliches Gegengewicht: 1. Die angesprochene Personengruppe selbst wird nicht zur Gewaltausübung aufgefordert. 2. Die Schlussvision des neuen Jerusalem, die den Höhepunkt und Zielpunkt der Schrift darstellt, ist religiös wie kulturell für antike Verhältnisse erstaunlich integrativ und inklusiv angelegt. Sie verwirklicht nicht nur die Träume und Phantasien einer kleinen Minderheit, sondern schafft Raum für eine universale Weltmetropole. Diesen konkret geschichtlichen wie politischen Aussagen, die an der Vorstellung des neuen Jerusalem anknüpfen, steht Wright hingegen mit Skepsis gegenüber. Das Neue Testament habe die „Erzählung“ (engl. story) der jüdischen Apokalyptik signifikant neu durchdacht.41 Es konzentriere sich auf das, was die Schöpfung wirklich bedrohe, und das seien „Sünde und Tod“. Nur so überwinde das Neue Testament tatsächlich ethnische und geographische Beschränkungen. Gott habe immer die Erlösung der ganzen Welt im Blick gehabt und habe „eine transnationale und transkulturelle Gemeinschaft […] ins Leben gerufen.“42 Auch die Vision des neuen Jerusalem muss für ihn deswegen jeder zeitlichen und räumlichen Konkretion entkleidet werden, um Teil der einen entscheidenden Erzählung des Neuen Testaments sein zu können. 38 Lichtenberger, Apokalypse, 141. 39 Collins, Crisis, 171. 40 Bauckham, Theology of Revelation, 153–156. 41 Wright, Ursprünge des Christentums 2, 262–264. 42 Wright, Ursprünge des Christentums 2, 264.
409
Rache oder Gerechtigkeit?
eschatologischer Exzess?
Gewalt und Phantasie
Verzicht auf Konkretion?
410
Offenbarung des Johannes
Kultgeschehen im Himmel
demokratisierte Gottesherrschaft
Von den an den politischen Handlungsimpulsen, die von der Johannesoffenbarung ausgehen, orientierten Interpretationen grenzt sich neben Wright auch eine Sichtweise ab, die die Bedeutung des himmlischen Kultes für die Theologie der Schrift in den Mittelpunkt rückt. Schilderungen des Geschehens im himmlischen Tempel wie auch die hymnenartigen und kommentierenden Texte vermitteln tatsächlich den Eindruck, dass die Perspektive „von oben“, ausgehend vom himmlischen Thron und dem ihn umgebenden Kultgeschehen bedeutsam sei. Dieses Geschehen im Himmel ist als Antizipation der irdischen Ereignisse gedacht. Insofern unterstreicht das Kultgeschehen im Himmel die determinierte Faktizität der wahren Wirklichkeit rund um den Thronraum Gottes. Sie wird im himmlischen Kult und in den himmlischen Lobgesängen beständig inszeniert und repräsentiert. Schnelle stellt zu Recht diesen Gesichtspunkt heraus, wird ihm aber nur teilweise gerecht, wenn er ihn einseitig auf Gott konzentriert und formuliert: „Das theologische Hauptthema der Offb ist das Kommen Gottes.“43 Gott ist vielmehr der Ermöglichungsgrund für die Herabkunft der Stadt, des neuen Jerusalems. Der „erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“ (21,1) und damit auch die dort praktizierten Kultformen. Sowohl der himmlische Kult als auch der Kult des Tieres sind Vergangenheit. Während aber der widergöttliche Kult des Tieres vernichtet ist, wird der himmlische Kult Gottes transformiert in die Lebenspraxis des neuen Jerusalems. In dieser Stadt, dem Ziel und Höhepunkt der Schrift, wird es keinen Tempel geben: „Die neue Erde hat den Himmel absorbiert.“44 Die Erlösten, die sich zuvor dem Mitwirken am widergöttlichen Kult verweigert haben, werden nun Gott „dienen“ (22,3). Vor allem aber werden sie „in Ewigkeit als Könige herrschen“ (22,5). Das neue Jerusalem realisiert in den Grenzen der antiken Vorstellungswelt eine demokratisierte Form der fürsorglichen und rettenden Königsherrschaft Gottes. Literatur Aune, David E.: Revelation, 3 Bd., Dallas 1997 f. Bachmann, Michael: Göttliche Allmacht und theologische Vorsicht. Zu Rezeption, Funktion und Konnotationen des biblisch-frühchristlichen Gottesepithetons pantokrator, Stuttgart 2002 (SBS 188). Bauckham, Richard: The Theology of the Book of Revelation, Cambridge 2010.
43 Schnelle, Theologie, 715. 44 Georgi, John’s „heavenly“ Jerusalem, 180.
Literatur
Bormann, Lukas: Gerechtigkeit im Neuen Testament, in: Markus Witte (Hg.), Gerechtigkeit, Tübingen 2012 (TdT 6), 69–97. Cancik, Hubert: Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavius Josephus, c. Apionem 2,157–198, in: Jacob Taubes (Hg.), Theokratie. Religionstheorie und Politische Theologie 3, München 1987, 65–77. Collins, Adela Yarbro: Cosmology and Eschatology in Jewish and Christian Apocalyptic, Leiden 1996 (JSJ.S 50). Dies.: Crisis and Catharsis. The Power of the Apocalypse, Philadelphia 1984. Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009 (Library of Biblical Theology 4). Frey, Jörg: Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur Eschatologie des letzten Buches der Bibel, in: ders. (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Wirkungen, Tübingen 2010 (WUNT 287), 473–551. Georgi, Dieter: John’s „heavenly“ Jerusalem, in: ders., The City in the Valley. Biblical Interpretation and Urban Theology, Leiden 2005, 161–186. Holtz, Traugott: Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 2008 (NTD). Karrer, Martin: Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986 (FRLANT 140). Lichtenberger, Hermann: Die Apokalypse, Stuttgart 2014 (ThKNT 23). Lohse, Eduard: Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 1993 (NTD 11). Mathews, Mark D.: Riches, Poverty, and the Faithful. Perspectives on Wealth in the Second Temple Period and the Apocalypse of John, Cambridge 2013 (SNTSMS 154). Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010. Satake, Akira: Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 2008 (KEK16). Schabow, Stephanie: Gemacht zu einem Königreich und Priestern für Gott. Eine Auslegung der basileia-/basileuō-Aussagen in Offb 1,6; 5; 10; 20,4.6 und 22,5, Neukirchen-Vluyn 2016 (WMANT 147). Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014. Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt, Stuttgart 1994. Dies.: Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse, Münster 1972 (NTA NF 7). Wengst, Klaus: „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010. Wright, Nicholas T.: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott 2. Jesus und der Sieg Gottes, Marburg 2013. Zeller, Dieter: Die Entstehung des Christentums, Konsolidierung in der 2./3. Generation, in: ders. (Hg.), Christentum I. Von den Anfängen bis zur konstantinischen Wende, Stuttgart 2002, 15–222.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 (S. 17): Titelblatt der Antrittsvorlesung von Johann Philipp Gabler vom 30. März 1787 in Altdorf bei Nürnberg, aus: Johann Philipp Gabler, De iusto discrimine biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus, in: D. Johann Philipp Gabler’s kleinere theologische Schriften, hg. v. Theodor August Gabler und Johann Gottfried Gabler, Ulm 1831, S. 179–198. Abb. 2 (S. 41): Die religiöse Topographie Palästinas um 66 v. Chr., aus: Nicole Belayche, Iudaea – Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Tübingen 2001 (Religion der römischen Provinzen 1), S. 52. © Monique Morales/Nicole Belayche Abb. 3 (S. 81): Grundriss des Gehöfts eines wohlhabenden Landbewohners mit Wirtschafts- und Wohnräumen, Hoffläche, Olivenpressen, Weinpresse und Zisternen aus dem südlichen judäischen Bergland (Anab al-Kabir), aus: Ze’ev Safrai, The Economy of Roman Palestine, London 1994, S. 98, fig. 29. © Ze’ev Safrai Abb. 4 (S. 117): Propylon des Augustusheiligtums von Antiochien ad Pisidiam mit den Inschriftentafeln des Tatenberichts des Göttlichen Augustus (res gestae divi Augusti), aus: David M. Robinson, The Deeds of Augustus as Recorded on the Monumentum Antiochenum, American Journal of Philology XLVII (1926) S. 1–54, fig. VII B. Abb. 5 (S. 145): Gerichtliches Verhör unter Folter auf dem Forum von Pompeji, Pompeji 1. Jh. n. Chr., aus: Otto Jahn, Über Darstellungen des Handwerks und Handelsverkehrs auf antiken Wandgemälden, in: Abhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft derWissenschaften Bd. XII, 1870, Tafel I. Abb. 6 (S. 177): Städte und Regionen Kleinasiens im 1. Jh., Kartenausschnitt aus: Der östliche Mittelmeerraum zur Zeit des Apostels Paulus, Beilage zu H. Conzelmann, Apostelgeschichte, Tübingen ²1972. © Vandenhoeck & Ruprecht
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 7 (S. 207): Subscriptio des Thomasevangeliums, Nag Hammadi Codex II,2 (fol. 32) mit den Worten: koptisch peuaggelion pkata Thomas; „Das Evangelium des Thomas”, aus: Shafik Farid (Hg.): The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Codex II, Leiden 1974, S. 63. Abb. 8 (S. 229): V. Carpaccio (1425–1525): Der Löwe des Markus (1516), mit der Inschrift: pax tibi Marce evangelista meus (Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist). © Bildarchiv Foto Marburg Abb. 9 (S. 259): Rekonstruktion der Synagoge von Kiryat Sefer, verm. 1. Jh. n. Chr., aus: Y. Magen/Y. Zionit/E. Sirkis: Kiryat Sefer – A Jewish Village and Synagogue of the Second Temple Period, Qadmoniot 33/117 (1999), 25–32, p. 29. © Israel Exploration Society Abb. 10 (S. 293): Die Provinzen des Imperium Romanum im östlichen Mittelmeerraum (27 v. Chr.–211 n. Chr.), Kartenausschnitt aus: Die Provinzen des Imperium Romanum von Augustus bis Septimius Severus (27 v. Chr.–211 n. Chr.), Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart/Weimar 2012, S. 177. © J. B. Metzler Verlag Abb. 11 (S. 325): Die möglichen Entstehungsorte des Johannesevangeliums: Ephesus, Antiochien und die Region Batanäa. Kartengrundlage aus: William R. Shepherd, Historical Atlas, New York 1929, S. 20. Abb. 12 (S. 359): Opferung eines Stiers am römischen Kapitol, Silbertasse von Boscoreale vor 79 n. Chr. © Musée de Louvre, Fotographie: bpk/RMN – Grand Palais/Hervé Lewandowski. Abb. 13 (S. 387): Albrecht Dürer, Michaels Kampf mit dem Drachen, 1498, Bildarchiv Foto Marburg. © Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig
Register (in Auswahl)
1) Stellenregister a) Altes Testament Genesis 1,27–30 105, 132, 305 2,4a 265 2,9 405 2,24 105, 185, 193, 255 6,1–4 379 14,18–24 362, 366 f. 15,6 147, 151, 156, 374 22 147, 374 Exodus 3,6 246 20,8–12 193, 343 23,4 f. 100 f. 24,8 132 34,6 11, 37, 50, 101, 185, 218, 256, 274, 275, 304, 346 Leviticus 16,1–32 133 f., 233, 368 19,12 51, 279 19,18 100, 246, 256, 279, 348 19,33 f. 100 Numeri 15,32–36 343 28,3–38 65 Deuteronomium 6,4 123, 246, 256 18,15 109, 310
1. Samuel 1–3 317 2. Samuel 7,14 278 2. Könige 17,7–13 216 Nehemia 9,17–31 51, 109, 216 Hiob 28 188, 345 Psalmen 2 89, 233 f., 278, 363, 402 22 136, 247 f. 31,6 311 89 89, 136, 183 103 51, 87 110 77, 246, 363 f., 366 118,15–25 126, 246, 309 145,8 11, 50, 101, 113, 135, 185, 218, 256, 274 f., 304 145,11–13 88, 95 145,14–20 90, 113 145,21 246 146–150 76, 87–89, 136, 317 Sprüche 8,22–31 188, 215, 345
Jesaja 6,1–10 251, 314, 334 f., 339, 390 52,13–53,12 112, 130, 132, 134, 224, 310 61,1 224, 233, 235 66,1 87, 273 f. Jeremia 7,5–25 216 31,31–34 112, 132, 363 Ezechiel 1,10 230 10,4.18 f. 334 f. 11,22 334 f. 40–48 404–406 43,4 f. 334 f. Daniel 7,13 108, 111, 239, 254, 403 11,36 188, 191 12,1 246 Hosea 6,6 270 Sacharja 9,9 278, 281 12–14 404 Maleachi 3,23 f. 281
416
Register
b) Neues Testament Matthäus 1,1–17 263, 265, 276, 278 1,18–2,23 271 1,20–23 267, 271, 275 3,13–15 270, 285 5–7 260, 264 5,3–12 95, 98, 272, 373 5,17–20 261, 263, 280, 284, 279 5,21–48 84, 87, 99 f., 269, 272 f., 275, 279, 282, 348, 373 6,1–6 102, 260, 272, 275, 282, 287 6,16–18 102, 274, 282 7,12 52, 100, 285 8,12 282, 289 9,9 261 9,27 277 10,5 f. 268, 288 11,14 109 11,25 f. 272 f. 12,9–14 270, 287 13,52 262 15,22–24 268, 277, 288 16,13–19 118, 260, 270, 277 f., 286 f. 21,12–16 270, 280 21,28–22,14 99, 274, 289 22,7–13 274, 282 23,1–36 260, 261, 263, 276, 283, 287, 290 24,32–25,46 260, 281 f., 286, 290 26,52–56 266 f. 27,3–10 267, 271 27,19 271, 275 27,24 f. 271, 289 27,51–54 271, 309 27,62–66 271 28,11–15 271 28,18–20 264, 266, 288 Markus 1,1 233, 250, 255 1,9–11 85, 239, 247, 249 f., 256 1,12 f. 240
1,14 f. 85, 92 f., 233 2,27 105 3,1–6 270 3,11 f. 250 f. 3,13–19 85, 111, 214, 261 3,35 103 4,10–12 244, 250 f. 4,33 f. 250 4,40 250 4,41 241, 249 7,15 85, 105 8,27–30 232, 236, 239, 249, 278 8,31 110, 231, 250 8,34–37 254–256 8,38 110, 246, 255 9,2–13 109, 239, 247, 250, 256 9,31 110, 231, 250 10,1–45 83 f., 100, 103, 105, 110, 112, 245, 255 10,33 f. 231, 250 11,15–17 67, 85, 112, 280 11,25 f. 246 12,28–34 256 12,35–37 277 13,5–37 246 f., 252–256, 321, 390 14,8 f. 243, 252 14,36 246, 247, 304 14,50–52 243 f. 14,53–65 85, 108, 239, 247, 364 14,66–72 244 15,34 247, 248 15,39 232, 234, 236, 239, 244, 248–250, 257, 309 15,40 f. 243, 300 16,1–8 231, 239, 242 f., 248, 250 Lukas 1,1–4 294, 299 f., 309, 326 1,46–55 89, 317, 319 1,68–79 89, 307, 309, 317 2,1 f. 300 2,11 304, 308, 317 2,22–40 89, 300, 307, 310, 314 f., 317
3,1 f. 300 3,10–14 318 f. 3,19 f. 319 4,16–30 315 5,1–11 308 6,6–11 270 6,20–49 98–100, 319, 348 7,11–17 308 f. 7,29 f. 300, 306 f. 7,36–50 308 10,25–37 299 10,38–42 299, 308 11,13 304, 315 12,11 f. 321 12,16–21 297, 320 f. 13,10–17 305, 308 14,1–6 308 15,11–32 297, 299, 305 16,16–18 99 f., 131, 306, 312 16,19–31 320 f. 17,22–37 321 f., 390 19,6–9 305, 320, 382 19,38 309 21,5–36 321 f. 21,28 310, 317, 322 23,6–12 300 24,13–35 53, 129 f., 298–300, 310, 317 24,44–53 53, 311, 316 Logienquelle (Zählung nach Lk) 3,7–17 108, 211, 223 4,1–13 211, 223 f. 6,20–23 95 f., 98, 211, 217, 221 6,27–30 100 f. 103, 382 6,35 f. 101, 218, 224 7,1–9 85, 211 7,18–35 96, 108 f., 111, 212 f., 215, 223–225 9,59 f. 95, 103 11,2–4 93, 102, 218 11,14–20 85, 93, 215 11,29–32 213, 220, 225 11,39–48 102, 213, 217, 221 11,49–51 213, 215, 217, 220
Stellenregister 12,8 f. 110, 214 f., 221 13,18–21 82, 95, 213 13,28 f. 96, 112, 220 16,16–18 96, 213 17,20 f. 96, 213 17,26–30 220 f. 22,28–30 85, 111 f., 214 Johannes 1,1–18 107, 336, 339, 342, 345 f., 372, 380 1,14 326, 340 1,45 f. 329 f. 2,1–11 332, 336, 341 3,3–6 328, 331 4,21–23 333, 339, 344 5,1–9 332 5,18 338, 341, 343 6,22–71 230, 329 f., 332 f. 7,13 f. 330, 341 7,53–8,11 348 8,20 330, 336 8,44 f. 328, 338 8,48 338, 341 10,33 338, 341, 343 11,1–44 330, 332 f., 341, 348 12,42 f. 339, 341 f. 13,1 337, 341 f. 13,34 f. 341, 349 14,16 f. 347 14,26 347 15,1–11 333, 349, 354 15,12–17 341, 349 f. 15,18–25 328, 338, 349 15,26 f. 347 16,2 341 16,7–15 342, 347 17,14–16 328, 338 17,22–26 341 f., 354 18,1–14 329 f. 19,7 338, 341, 343 20,19 341 20,28 107, 330, 342 20,30 f. 332 21,24 326 Apostelgeschichte 1,1 f. 294 f. 300
2,1–5 314, 316 3,21–26 310 4,18–21 318 4,32–35 320 5,31 306, 308 7,56 311 11,26 125, 128, 377 14,15–17 123, 303 15,4–29 125, 128, 314, 380 16,10–40 146 f., 295, 318 17,22–31 87, 303 21,25 125, 314 23,11 294 f. 26,28 125, 377 28,16 f. 294 f., 314 28,20 309, 314 f., 318 28,26 f. 314 28,31 306 Römer 1,1–6 119 f., 122, 125 1,16 f. 150, 163 1,18–32 50, 122 f., 171 2,13–15 123, 159 2,28 f. 123 3,20 159 3,21–31 52, 133, 135, 152, 158 3,24–26 133–135, 154, 158 f., 240, 374 4,4 f. 158, 163 4,12.16 151 f. 4,23 f. 120, 129, 154 5,6–8 135, 163 5,9–11 121, 135 5,18 f. 135 6,3–8 139 f., 190, 353 7,7–25 122–124, 159 f., 374 f. 8,2 f. 135, 159 8,11 120, 129, 154 8,31–39 382 9,1–5 122 f. 10,8–17 153 f., 156 11,25 180 12,2 150 12,4–8 136 f., 184, 195 13,1–7 173 f. 13,8–10 160, 171, 375 13,11–14 132, 171
417
15,4 120, 195 15,25–28 128, 161 16,1–4 119, 122, 138 1. Korinther 1,8 132, 167 1,18–26 118, 163, 188, 345, 372 2,6 f. 180, 188, 345 3,16 f. 170, 364 5,5 132, 170 5,10 f. 170 f., 192 6,9 f. 170 f., 192 7,10–16 128, 131, 139 11,2–16 128, 137 11,17–34 128, 131, 178 12,12–31 136 12,13 138 f., 147, 150, 156 12,27–29 136 f., 184 f., 201 14,26 137 14,34 f. 137 15,3–5 120, 128–130, 153, 214 15,20–28 77, 127, 135, 140, 166 f., 346 15,51 f. 167 f., 180 16,22 120, 402 2. Korinther 3,17 135, 141 4,4 188, 345 4,14 120, 129, 154 5,15–20 135, 139, 173 11,22–25a 122, 146 12,2–5 165, 180 12,9 142 12,20 f. 171 13,4 164 Galater 1,1 120, 129, 154 1,6 161, 179 1,11–18 46, 119, 122, 126, 128 2,1–10 122, 128 2,11–21 128, 152 f., 159 3,1 163 3,13 f. 126 f., 155 3,23 f. 158 3,26–28 135, 138 f., 147, 156 4,4–7 135, 346
418
Register
4,30 170 5,1 135 5,3 62 5,11 164 5,13 f. 160, 171, 375 5,19–25 141, 170–172 6,2 159, 172 6,12 f. 161, 164 6,14 142, 154, 163 f. 6,15 139, 173 6,17 142, 164 Epheser 1,20–23 77, 183 f., 187–189, 287 2,2 185, 187 2,11–13 187, 189 3,1 187, 194 3,10 f. 183 f., 187, 189 4,12 183, 187 5,3–6 186, 192 f. 5,22–32 183–185, 187, 193 6,10–17 185–187, 190 6,18–23 183, 194 Philipper 1,19–26 168 f. 2,6–11 153, 155, 164, 240 3,2 f. 161, 178 3,4b–6 119, 122 3,9 152, 159 3,20 308 Kolosser 1,12 f. 189 1,18–23 183 f. 186–189, 287, 402 1,24 187, 194, 378 2,11–14 184, 186, 189 f. 3,1 77, 188 3,9–11 138 f., 147, 187 3,12–14 186, 193 3,24 f. 186, 190 4,15 f. 178, 183 1. Thessalonicher 1,6 f. 142, 192 1,9 f. 122, 123, 188, 191, 353 2,19 140, 167, 191
3,13 140, 167 4,13–18 128 f., 140, 148, 167 f., 188, 191, 390 5,2 132, 192 2. Thessalonicher 1,1–4 183 2,1–12 179 f., 187 f., 191 f. 3,6–17 179, 192 1. Timotheus 1,1 f. 198, 308 1,3 f. 178, 200, 385 1,10 195, 200 1,20 196, 200 2,2–7 195–197, 201, 203, 308 2,9–15 197, 201–203 3,1 f. 181, 202 3,16 195, 197 6,1 f. 197, 203 2. Timotheus 1,9 f. 195, 197 f., 203 3,2–5 195–197 3,6 f. 201 f. 4,1–4 196, 198, 200 f., 203 Titus 1,1 195 f., 199 1,7 181, 202 1,9 195, 200 2,9 f. 203 2,11–14 196, 198 3,1 f. 203 3,4–7 195, 197 f., 203 Philemon 16 139 Hebräer 1,1–3 365 6,13–7,24 366 f. 9,12 370 10,26–31 369 11,32 362 12,4–29 369 13,22–25 360, 362
Jakobus 1,1–5 360, 371 f. 2,10 f. 62, 374 2,14–26 374 f. 5,12 100, 373 1. Petrus 1,1 360, 376 1,3–12 378 2,11 f. 360, 376 4,3 f. 377 f. 4,16 125, 377 2. Petrus 2,1–3,7 360, 384 f. 3,15 f. 179 f., 384 1. Johannes 1,1–5 326, 380 2,18–27 191, 381, 383 3,9 f. 381 f. 3,14 f. 382 4,20 f. 382 2. Johannes 7 191, 383 3. Johannes 10 f. 381, 383 Judas 4–13 385 Apokalypse 1,1 391, 393 f. 1,4–6 392, 395, 397 f., 400, 402 2,1–3,22 392 f., 394, 402, 404 5,10 395 f. 6,1–11 187, 394, 398, 402, 409 7,1–17 399, 401 19,11–16 403 19,18 f. 399 20,6 395, 396, 399 21,1–22,5 399–401, 403–407, 410 22,5 395–398, 410 22,6–21 393 f. 22,20 402 f.
Schlagwortregister
419
2) Schlagwortregister Abendmahl 131, 178, 363 Abendmahlsparadosis (s. auch Einsetzungsworte) 131 f. Abraham 26, 49, 96, 112, 120, 127, 147–149, 151 f., 154, 156–158, 219, 266, 276–278, 289, 305, 307, 335, 339, 341, 355, 362 f., 366 f., 374 Adam 26, 124, 203, 385 Altes Testament (s. auch Hebräische Bibel, „Schrift“) 11, 106, 120 Amt, Funktion in der Gemeinde 137, 181, 199, 201 f., 388 Anthropologie, anthropologisch 21, 32, 119, 123, 153, 196, 275, 337, 339, 341, 356, 374 f., 381 Antithesen 99 f., 105, 157, 269, 279 f., 284 f. Apokalyptik, apokalyptisch 60, 165, 188, 191 f., 210, 219, 246 f., 253–257, 266, 321, 389–394, 398, 402 f., 408 f. Apostel 19, 46, 49, 72, 119, 121 f., 126, 128, 137 f., 164, 179 f., 194 f., 201, 230, 296, 301, 314, 376, 388, 392 Aposteldekret 314 Auferstehung der Toten 131, 166–169, 189, 390, 407 Auferstehung Jesu 22, 25, 36, 74, 110, 128–131, 134, 138, 140, 142, 148 f., 153–155, 165 f., 182, 188–190, 208, 225, 231, 240 f., 250, 268, 290, 300, 311, 333, 353, 378 Befreiung, befreiend 68, 135, 141, 198, 307–310, 314, 317 f., 322, 408 f. Bekenntnis 23, 29, 49, 85 f., 107 f., 123, 128, 138, 153 f., 185, 218, 222, 239, 240 f., 244, 246, 248 f., 256 f., 263, 296, 364, 369, 401, 408 Bekenntnisses 355 Bergpredigt 98, 105, 230, 260, 264, 273, 284–286 Beschneidung 46, 58, 62, 64, 123, 125, 128, 138 f., 151, 156, 160 f., 178, 261, 263, 335, 337, 341, 344, 355, 374 f. Bibel, Hebräische (s. auch Altes Testament, „Schrift“) 27, 54, 56, 61, 89, 100, 148, 165, 183, 191, 233, 266 f., 269, 335, 356 Bund 33, 50 f., 58, 112, 124, 131 f., 138, 161, 363 Charisma, charismatisch 86, 137 f. Christologie, christologisch 22 f., 25, 32 f., 74, 76, 107 f., 110, 123, 136, 181 f., 188–190, 193, 197 f.,
223, 232 f., 239, 242, 249, 251 f., 264 f., 269, 278, 288 f., 307–310, 327, 343, 345–347, 350, 353, 355 f., 361, 363, 366, 368, 372 f., 378–381, 391, 402 Einsetzungsworte (s. auch Abendmahls paradosis) 112, 131, 134, 363 Ekklesiologie, ekklesiologisch (s. auch Kirche, Sekte, religiöse Sondergruppe) 11, 29, 32 f., 161, 170, 182 f., 193, 196, 200, 202 Elia 109, 219, 239, 249 Engel 76, 110, 183, 187, 197, 199, 215, 221, 230, 234, 239, 254, 256, 271, 275, 301, 304, 308, 363 f., 385, 397, 400, 403 Erhöhung 129, 153–155, 166, 241, 308, 311, 316, 319, 347, 363 f., 366 Erscheinungen (des Auferstandenen) 129, 130 f., 195–198, 231, 242, 263 Erwählung 25, 50–52, 124 f. Erzählung (s. auch Narration) 11, 23, 26, 32 f., 35, 37, 241, 294, 296, 298, 300, 328 f., 353, 409 Eschatologie, eschatologisch 14, 21 f., 25, 30, 32, 36, 68, 83, 111–113, 120, 132, 140, 142, 155 f., 165–170, 179, 182, 185, 189 f., 193, 213, 260, 280 f., 318, 321 f., 334, 340, 346, 351–353, 369, 378, 391, 401, 406, 408 f. Ethik, ethisch 32, 43, 73, 75, 86, 97–101, 103–106, 113, 121, 143, 160, 162, 169–174, 182, 192–194, 197–200, 203 f., 212, 218, 221 f., 255–257, 260, 263, 270, 279, 282 f., 285 f., 317–321, 348, 349– 351, 356, 364, 371–376, 378–381, 405, 407 Eva 203 Evangeliumsverkündigung 92, 126–128, 150, 154, 162 f., 178, 196, 254 f., 257, 315, 356, 363 Feindesliebe 100 f., 103, 105 f., 172, 209, 212, 224, 280, 283, 285 f., 319, 348, 350, 382 Frauen 82, 85, 95, 97, 100, 106, 113, 137–139, 142, 147, 156, 184, 193, 200–204, 240, 242–244, 255, 265–267, 276, 300, 305, 308, 317, 346, 348, 378, 383, 399 Freiheit 37, 105, 121, 135, 141, 247, 361, 372, 374 f., 383 Gebet 70 f., 93, 102, 218, 273, 275, 304, 328, 342, 344, 347, 402
420
Register
Geist, Heiliger 127 f., 136, 138–141, 150, 160, 170–173, 189, 197, 201, 215, 221, 254 f., 301, 311, 315 f., 320 f., 342, 347, 375 Gemeinde 29, 46, 67, 69, 72–75, 85 f., 98, 102, 108, 111 f., 119 f., 122, 125, 127–133, 136–140, 142, 146–149, 156, 160 f., 163–165, 167–171, 178, 182–187, 189, 192 f., 195, 197–203, 239, 241, 244, 252–255, 257, 262, 264, 267, 270, 280, 286–288, 290, 296, 299, 301, 312 f., 320, 322, 334 f., 339–344, 347–352, 355 f., 360–364, 369, 371, 375–380, 382–384, 392 f., 395 f., 398 f., 402, 404, 407 f. Gemeindeversammlung 137, 178 Gerechtigkeit 11, 22, 36 f., 50, 83, 89, 91, 101, 106, 155–159, 161–163, 178, 186, 196, 198, 274, 279– 281, 284–286, 309, 318, 349, 374 f., 400 f., 403, 407–409 Gericht 33, 36, 90, 100, 110, 112, 123, 125, 135, 158, 162, 165–167, 183, 186 f., 189, 196, 198, 203, 213–222, 225 f., 239, 247, 254, 260, 263– 266, 281–283, 286, 290, 298, 320 f., 334, 361, 373, 384 f., 390, 399 f., 403–405, 407 f. Geschichte, geschichtlich 13, 18–20, 25–27, 30, 32–37, 43 f., 56–60, 74, 90 f., 95, 118 f., 123, 130, 132, 165, 173, 193 f., 199, 209, 211, 215–223, 225 f., 231, 234, 240 f., 245, 261, 265 f.,271, 275– 277, 283, 289, 294, 296 f., 300–303, 306 f., 311– 314, 316, 320 f., 330, 335, 340, 344, 353, 356, 360, 366, 389, 391, 393, 400, 408 f. Geschlechterverhältnis 137 Gesetz (s. auch Tora) 44–46, 48, 50, 52–54, 56 f., 60–64, 69, 86, 121, 124, 149, 153, 156–163, 172 f., 198, 213, 238, 261, 263, 278, 285, 304, 312, 314 f., 337, 351, 361, 367 f., 372–375, 395 f. Glaube 18 f., 21 f., 25–30, 32–34, 120 f., 127, 135, 140 f., 146–159, 161–163, 169–173, 183, 185–187, 189, 195 f., 198, 203, 245, 260 f., 263, 276, 289, 296, 328, 334, 338 f., 342, 344, 346, 351 f., 354– 356, 361 f., 369, 373–375, 378, 382, 384, 386, 399, 401, 403, 407 Gleichnis 12, 82, 95 f., 99 f., 113, 213, 246, 251 f., 263–265, 269, 274, 283, 286, 289, 297, 305, 320 f. Gnade 37, 51 f., 101, 104, 113, 135, 137 f., 141, 158, 161, 163, 186, 195, 197–199, 201, 203, 246, 252, 336, 340, 346, 392, 402 Gnadenformel (s. auch Wesensdefintion Gottes) 50, 52, 274 f., 346 Gottesdienst 70, 76, 136 f., 184, 303
Gottesherrschaft, Reich Gottes, Königsherrschaft Gottes 22, 82 f., 86–97, 101–105, 107 f., 111–113, 119, 126, 170, 203, 213, 217, 222 f., 225, 233, 237, 246, 250–253, 255, 257, 260, 262, 266–268, 272, 289, 306, 331, 395–397, 402 f., 410 Grab, leeres 142, 168, 239 f., 242–244, 271 Güte 141, 274 f. Halacha, halachisch 265, 268–270, 272, 284 Haustafel 193 f., 200, 383 Heilsgeschichte, heilsgeschichtlich 25 f., 32, 33, 35, 147, 156, 160, 162, 218, 220, 289 f., 312, 314 f., 385 Heilung 85, 96 f., 111, 211 f., 250 f., 256, 269, 277 f., 280, 308, 332, 337, 341, 343, 406 Hermeneutik, hermeneutisch 11, 29, 120, 240, 265 f., 313, 339, 363, 385 Hierarchie, hierarchisch 95, 97, 136 f., 184 f., 200– 202, 360, 367, 383 Himmel 87, 92, 94, 123, 165, 180, 184, 188, 230, 239, 242, 247, 253, 256, 272, 274 f., 281 f., 303 f., 316, 385, 389, 390, 397 f., 401, 410 Himmelfahrt 311 Hoffnung 25 f., 214, 219, 300, 309 f., 313, 315, 317 f., 335, 378, 409 Hymnus 198, 302 f. Ich-bin-Wort 332–334, 349 Inkarnation 346, 381 Israel 25 f., 33, 35, 44, 47 f., 50–52, 54, 57–60, 66, 75–77, 88–92, 104 f., 109, 112 f., 121–126, 128, 130, 132, 147, 149, 151–154, 157, 185, 189, 199, 210 f., 213 f., 216–220, 222, 226, 233 f., 239, 246, 249, 256, 264–268, 270, 276–278, 281, 286–290, 300 f., 303 f., 307–310, 312–315, 317 f., 320, 330, 335, 337, 339 f., 344, 356, 362, 366, 370–372, 377, 389–391, 396, 399, 404–406, 409 Jesuserzählung 14, 25, 82, 231–233, 240, 245, 249 f., 252 f., 256, 264 f., 267 f., 277 f., 280, 288, 290, 295 f., 326, 329, 333–335, 356 Johannes der Täufer 96, 211 Judenchristentum 262 Judentum, antikes 11, 13, 23, 25, 29 f., 35, 41–49, 52 f., 56–58, 60, 63, 67 f., 70–77, 82, 84, 86, 90, 93, 97, 102, 106, 109 f., 121–125, 129, 132, 136, 138, 147–149, 151, 156, 159–162, 165 f., 169, 174, 185, 187 f., 199, 216, 218–222, 234 f., 241,
Schlagwortregister 257, 260 f., 263, 265, 268–270, 272–274, 276, 279, 280, 282, 287, 295, 301, 303, 311, 313–317, 328, 335, 339, 343 f., 355 f., 373 f., 377, 392, 397, 402, 408 Kaiser, Kaiserpropaganda (röm.) 104, 118, 174, 192, 232, 235 f., 256, 294 Kanon, kanonisch 33, 52–55, 61, 89, 181, 194, 212, 265, 294–296, 380 Kinder 103, 123, 126, 141, 193, 203 f., 212, 214 f., 255, 272 f., 275, 278, 280, 289 f., 305, 336, 339, 382 f. Kirche (s. auch Ekklesiologie, Sekte, religiöse Sondergruppe) 11, 24, 27, 37, 181–185, 187, 189, 190, 193 f., 200, 204, 260–262, 264, 286 f., 299– 301, 306, 311–313, 316, 322, 377, 388 Kollekte 128 Konversion 42, 73, 126, 129, 138 f. Kreuz 22, 25, 36, 67, 74, 76, 77, 110, 128, 133, 140, 148, 154 f., 163–166, 182, 188 f., 196, 199, 203, 231 f., 239–241, 243 f., 247–251, 255–257, 271, 278, 301, 309–311, 336 f., 342 f., 347, 372, 381 Kreuzestheologie 163 f., 198 Kyrios 51, 107, 133, 136, 138, 240 f., 246, 272, 302, 304, 307 f. Lehre 29, 53, 137, 141, 183, 195–200, 213, 276, 281–285, 288, 303, 314, 341, 373 Lehre Jesu 212 f., 222, 260, 262–265, 276, 280– 282, 308, 322, 373 Leib Christi 136, 138, 182, 184 f., 196, 200 Leiden 110, 134, 194, 231, 240, 244, 248, 250–252, 255–257, 309 f., 372, 378, 408 Liebe 11 f., 25 f., 34, 37, 51 f., 83, 100 f., 104–106, 113, 137, 150 f., 171 f., 174, 186, 193, 196, 198, 203, 212, 246, 252, 256, 273, 279 f., 285–287, 304, 341–343, 346, 348–350, 354, 361, 374 f., 378, 380–383 Liebesgebot 100, 104 f., 160, 171 f., 174, 348–350, 375, 382 master narrative/Meistererzählung 11, 26, 32–35, 37, 353–355 Menschensohn 84, 107–111, 209, 211–215, 219, 220–224, 226, 232, 238 f., 242, 250, 252, 254– 256, 281, 307, 321 f., 390, 403 Messias 22, 33, 59, 74, 84, 89–92, 107–110, 112, 123, 130, 153, 157, 187 f., 191, 208, 231–235,
421
237–239, 242, 247–253, 256 f., 262–264, 266, 269, 276–278, 280 f., 288, 307–310, 330, 343, 383, 389, 397, 400, 402 f. Messiasgeheimnis 231, 248 f., 252, 256, 264 Metapher 37, 68, 95, 119, 126, 129, 134, 136, 184, 218, 273 f. Mission 44, 70, 118, 122, 161, 195, 212, 264, 281, 286, 288 Moses 53, 57, 62, 109, 120, 239, 249, 301, 310, 335, 337, 339, 355, 385, 396 Nachfolge 103, 142, 211–214, 221, 224, 233, 243 f., 252, 255–257, 261, 318 Nachfolgegemeinschaft 103–106, 136, 212, 214, 217–219, 222, 224, 226, 243 f., 255–257, 264, 300 Naherwartung 167, 179, 182, 191, 198 Narration, narrativ (s. auch Erzählung) 12, 14, 34, 37, 55–57, 59, 67, 119, 208, 210 f., 214, 232, 237, 239, 240–242, 245, 247–253, 255–257, 270, 277, 287, 294, 296, 299, 306, 307, 309 f., 318, 328– 331, 333, 342, 347 f., 350, 353, 362, 364, 366, 368 f., 385, 389 f., 397 f., 407 Narratologie 299 Offenbarung 12, 14, 27, 29, 34, 75, 119, 126–128, 184, 191, 196, 198, 230, 246, 271, 329, 331 f., 336 f., 339 f., 342, 378, 387–398, 400–410 Parusie 166–171, 182, 188 f., 191 f., 198, 253, 321 f., 353, 372, 384 f. Passah 66–68, 132, 329 Passion 208, 225, 231, 242–244, 252 f., 263, 267, 301, 310, 336, 342, 378 Patriarchat, patriarchal 200, 202–204, 243 Politik, politisch 37, 44 f., 56, 68, 72, 76, 86 f., 104, 136, 146, 149, 225, 236 f., 241, 260, 283, 287, 289, 294, 297, 308 f., 317–319, 346, 351, 356, 389, 396 f., 403, 405, 407, 409 f. Prädestination 354 f. Präexistenz 188–190, 215, 222, 339, 345 f., 350, 366 Prophetie, prophetisch 22, 53 f., 56, 131, 191, 210, 220, 261, 310, 316, 319, 335, 389 f., 393, 398, 402, 409 Proselyten 62, 138, 147, 266, 276–278 Qumran (s. auch yahad) 47, 51, 54 f., 67, 71, 89, 103, 158, 183, 225, 234, 267, 328, 405
422
Register
Religionsgeschichte, religionsgeschichtlich 20, 23, 28–31, 33, 35–37, 120, 201, 210, 215, 232, 241, 328, 377 Rezeption 13 f., 28, 36, 43, 54, 77, 156, 173, 179, 182, 208, 232, 236 f., 246, 261, 283, 354, 360, 384 Schöpfung 26, 33, 35, 52, 57, 60, 63, 84, 87, 90–92, 94, 113, 122 f., 139, 150, 152, 158, 165, 173, 182, 188–190, 193, 215, 221–223, 225, 246 f., 254 f., 265 f., 273, 303, 340, 345, 347, 350–352, 355 f., 365, 371, 381, 385, 389, 391, 409 Schrift (s. auch Altes Testament, Hebräische Bibel) 11, 12, 52, 55, 120, 300, 314, 342 Sekte (s. auch Ekklesiologie, Kirche, religiöse Sondergruppe) 71, 124, 382 Sexualität 140 Sklaven 82, 103, 135, 138 f., 146 f., 155 f., 164, 193, 200, 203 f., 213, 378, 383, 396 Sohn Abrahams 265, 276, 281 Sohn Davids 90, 107 f., 232, 250, 265 f., 276–278, 280 f., 307, 309 Sohn Gottes 84–86, 107 f., 119, 121, 126, 155, 198, 223 f., 231–240, 242, 245, 248–250, 252, 256 f., 276–278, 281, 307, 309 f., 327, 329–331, 334 f., 343 f., 355, 364, 367, 380, 402 Sondergruppe, religiöse (s. auch Ekklesiologie, Kirche, Sekte) 43, 63, 71–73, 75, 89, 125, 138, 221 f., 261, 263, 280, 377 Soteriologie, soteriologisch 12, 14, 32, 152, 155, 160, 185, 188, 196, 198 f., 310, 356, 361, 369, 374, 379, 382 Sühne, Sühnopfer 66 f., 112, 129, 132–135, 154, 217, 222, 311, 364, 369 Sünde 30, 36 f., 43, 96, 104, 110, 112, 120, 124, 130 f., 134, 151, 157 f., 162 f., 171–174, 188, 198, 203, 215, 261, 304–308, 311, 355, 369, 374 f., 381, 383, 409 Symbol, symbolisch 22, 29, 37, 50, 61, 87, 107, 111 f., 119 f., 128, 138 f., 149, 151, 220, 230, 250, 277, 315, 348 f., 368, 390, 393 f., 397 f., 403, 405 Synagoge 70 f., 147, 172 f., 193, 260, 264, 287, 290, 300, 303, 313–315, 341, 392 Taufe 85, 136, 138–140, 142, 150, 156, 170, 172, 184, 189 f., 211 f., 223, 239 f., 247, 249, 278, 281, 316, 331
Tempel 43 f., 46, 55, 64–68, 71, 73, 75–77, 84 f., 105, 109, 112, 125, 133 f., 170, 188, 191, 216–221, 253, 268, 280 f., 294, 296, 304, 310, 317, 322, 329 f., 335, 337–340, 344, 348, 355, 364, 368, 371, 374, 394, 406, 410 Theologiegeschichte, theologiegeschichtlich 28 f., 264, 379, 384 Tod Jesu 67, 112, 130–133, 135, 140, 142, 153 f., 163 f., 217, 231, 242, 271, 311, 326, 337 Tod, allgemein 30, 49, 51, 57, 74, 95, 107, 109, 112, 120, 122 f., 125, 130 f., 133 f., 140, 142, 153, 155 f., 163 f., 168 f., 180, 189 f., 195, 203, 217, 240, 244 f., 248, 271, 311 f., 321, 328, 337 f., 342, 344, 352, 355, 398, 407, 409 Tora (s. auch Gesetz) 43, 44, 46, 51, 53–56, 59–63, 70, 72 f., 77, 84, 92, 99, 102 f., 105 f., 122–125, 134, 153, 155–157, 159–162, 171 f., 201, 261– 265, 268 f., 275 f., 278–287, 290, 296, 335, 337, 340, 343 f., 355, 361, 372, 374 f. Tugend- und Lasterkataloge 171 f., 187, 192, 197, 203 Unterdrücker, Unterdrückung 193, 203, 318, 389, 397 Vater (Gott), Vateranrede 93, 96, 101–103, 106, 120, 126, 141, 153, 198, 218 f., 246, 272–276, 282, 302, 304 f., 311, 327–330, 333 f., 336–343, 346 f., 349–351, 381–383 Verheißung 123, 125, 130, 134, 147, 151, 160, 266, 310, 333, 369, 388 f., 395 Versöhnung 99, 129, 133–135, 187, 189 f., 194, 368 Verstockung 249, 251, 339 Volk Gottes 185, 189, 216, 301, 330, 335, 340, 344 Weisheit, weisheitlich 49, 60, 83, 122, 154, 163, 184, 188 f., 210, 212, 214 f., 217, 219, 224, 345, 347, 371–375, 389, 402 Wesensdefintion Gottes (s. auch Gnadenformel) 11, 52, 101, 274, 346 Wunder, Wundererzählung 64, 82, 85, 212, 318, 332, 336, 340 yahad (s. auch Qumran) 47, 67, 71 f., 124, 138, 158 Zorn Gottes 123 Zwölf, die 85, 112, 130, 214, 244, 405
Schlagwortregister
423
3) Autorenregister Assmann 101, 114 Bal 329, 356 Barth 20, 27 Barthes 295 Bauckham 400, 405, 409 f. Baur 19 f., 38, 351 Berger 28, 38, 55 Beutler 380, 383 Bornkamm 23, 84 Bovon 94, 114, 308 f., 318, 323 Buber 21, 74, 78 Bultmann 20–22, 23, 25, 31, 34, 36, 38, 84, 119 f., 143, 155, 175, 240, 257, 328, 339, 343, 351 f., 357 Chibici-Revneanu 335, 357 Childs 26, 31, 35, 38 Cohen 45, 73, 78 Collins 85, 114, 233, 254, 257, 389 f., 409, 411 Conzelmann 24, 38, 312, 323, 413 Cullmann 25 f., 38 Culpepper 327, 357 Dalferth 27, 39, 241, 257 Daube 268 f., 290 Dechow 245, 258 Doole 263 Du Toit 237, 253, 258, 377, 379 Dunn 18, 32, 33–35, 39, 76, 78, 82, 84, 95 f., 104, 106, 112, 114, 119, 121, 143, 149, 151, 153 f., 161 f., 169, 175, 181, 204, 208, 210, 226, 269, 291, 408, 411
Gabler 17–19, 34, 38, 40, 413 Geertz 29, 353 Gehrke 86, 114 Georgi 49, 406, 410 f. Gese 66, 78 Gnilka 32, 39 Goppelt 24, 38, 376, 379 Green 306, 323 Guttenberger 245, 258 Hahn 26, 35, 39, 245, 258 Harnack 297, 323 Hegel 20 Heidegger 20 f. Heil 101, 114, 211, 213, 221, 226 Heininger 297, 323 Hengel 108, 114, 209 f., 226 Hoffmann 101, 114, 211, 213, 226 Hübenthal 237, 258 Hübner 27, 39 Jaspers 21 Jeremias, Joachim 23, 25, 38, 101 f., 114, 218, 226 Jeremias, Jörg 11, 51, 78, 274, 291, 371 f., 376 Jervell 301, 312, 323
Elliott 174 f.
Kaiser 67 Karrer 363, 368, 370, 392, 396, 411 Käsemann 23, 83 f., 114, 370 Kirk 99, 108, 114, 212, 227 Kloppenborg 215, 223, 227 Konradt 40, 99 f., 114, 264, 266, 277, 279 f., 283 f., 288 f., 291, 374, 376 Kügler 327, 357, 380, 383 Kümmel 24, 38
Freedman 57–59, 78 Frey 39, 180, 204, 327, 345, 351, 354, 357, 381, 383, 386, 405, 411
Ladd 24, 38 Lauster 28, 40 Levine 70, 78, 260, 291 Lim 73, 78
Lohse 24, 38, 54, 121, 133, 143, 174 f., 234, 403, 406, 411 Lührmann 104, 114, 147, 175, 233, 258 Luther 57, 86, 94, 158, 175, 373, 376, 388 Luz 94, 99, 114, 186, 204, 264, 266, 272, 279, 283, 285, 288, 291 Lyotard 26, 37, 353 Marx 66, 78 Neusner 59, 72 f., 78, 115, 279, 287, 291 Niederwimmer 24, 39 Pervo 298, 323 Pokorný 320, 323 Poplutz 351, 354, 357 Radl 297, 323 Räisänen 28 f., 31, 35, 39, 40, 75, 79, 94, 112, 115, 120, 149–151, 159, 165, 175, 210, 223, 227, 245, 258, 262, 279, 283, 291, 345 f., 351, 357, 407 f., 411 Rose 237, 258 Rüsen 32 Sanders, Ed P. 85, 115, 124, 143 Sartre 21 Satake 392 f., 403, 411 Scheliha 28, 40 Schmid 295, 299, 323 Schnelle 11, 32, 34 f., 37, 39, 74, 79, 94, 99, 104–106, 109, 115, 119, 121, 124, 143, 149–151, 153, 175, 208, 220, 223 f., 227, 236, 258, 269, 291, 327, 339, 344, 348, 351, 353 f., 357, 365, 370, 373, 376, 380, 384, 410 f. Schottroff 242, 258 Schröter 104–106, 115, 204
424
Register
Schüssler Fiorenza 242 f., 258, 394, 396, 406, 408, 411 Sennett 113, 115 Spieckermann 11, 51, 79, 101, 115 Sterling 57 f., 79, 301, 323 Strecker 24, 39 Stuhlmacher 26, 35, 39, 83, 115, 133 Theißen 28 f., 32, 35, 39, 75, 79, 84, 115, 351, 353, 355, 357
Theobald 194, 199, 205 Thüsing 26, 38 Thyen 333, 342, 357 Vielhauer 249 f., 258 Weber, Max 371 Weiß 363, 365, 370 Wellhausen 22 Wengst 269, 291, 349, 357, 408, 411 Wilckens 26, 35, 39, 208, 227
Wolter 119, 124, 134, 144, 149– 151, 153, 173, 175, 201, 205, 305, 310, 313, 323 Wrede 231, 248 f., 258 Wright 11, 32–35, 37, 39 f., 77, 79, 209, 227, 236, 258, 269, 291, 350, 355, 357, 409–411 Zeller 28, 35, 39, 129, 137, 144, 168, 175, 227, 407 f., 411 Zumstein 327, 335, 339, 343, 357 Zwick 237 f., 258
Die Theologie des Neuen Testaments hat die Aufgabe, die Gedanken, Begriffe und Überzeugungen, die in den neutestamentlichen Schriften ausgedrückt werden, in ihrem sachlichen und historischen Zusammenhang darzustellen. Im 21. Jahrhundert hat ein solches Vorhaben eine Vielfalt von Forschungsperspektiven zu berücksichtigen. Der Gegenstand einer Theologie des Neuen Testaments wird längst nicht mehr allein als die systematische Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch, sondern auch als religiöses Symbolsystem des frühen Christentums definiert. In Auseinandersetzung mit herausragenden Beiträgen der internationalen Forschung stellt Bormann in diesem Buch die Grund linien der Theologie des Neuen Testaments und die wichtigsten Ergebnisse seiner Erforschung dar.
Theologie des Neuen Testaments
Theologie | Religionswissenschaft
Lukas Bormann
Theologie des Neuen Testaments
ISBN 978-3-8252-4838-3
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Bormann
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
02.08.17 10:18